Berge zur Selbsterkenntnis
 
Schrecksekunden am Liskamm (Juli 1980)
 
ans ist am Morgen mit der BVZ- Bahn von Grengiols eingetroffen. Es muss wichtig gewesen sein, dass er nach unserer ersten Tour noch einmal nach Hause fuhr. Nun aber ist er wieder da und wir können unsere heiß ersehnte Liskammtour starten. Mein Ehrgeiz richtet sich fixiert auf diesen weißen Riesen, den ich in den letzten Tagen bereits mit dem Feldstecher bestiegen habe. Das Wetter spielte jedoch nicht so recht mit und ich durfte halt nur hinaufsehen zu den blanken Firnen. Solche Frustration ebnet mir zuweilen den Weg zu der Einsicht, dass es eben nicht immer glatt hinaufgehen kann.
Gern hätte ich in den Stunden des langen Wartens Janine bei mir gehabt, aber sie hat wieder Schule und muss außerdem die Therapie wegen Ihrer Krankheit fortsetzen. Viel zu kurz waren mir die zwei Wochen erschienen, an denen wir zusammen sein konnten. Im Übrigen zieht sie das Liegen in der Sonne dem Bergsteigen vor. Ich habe mir vorgenommen, meinen Bergen im nächsten Jahr den Laufpass zu geben, um mit ihr nach Ibiza zu fliegen.
Nun muss ich mich jedoch erst einmal auf die Gletscherwanderung zur Bétempshütte konzentrieren. Hans ist guter Dinge. Kunststück, seine Angela wartet unten im Hotel Breithorn auf seine Rückkehr.
Die Coloirs und Hängegletscher glänzen angetaut, nur im unteren Wandteil erkenne ich scheinbar gut begehbares Eis. Beruhigend, dass wir nicht durch diese Nord- Eiswand steigen brauchen. Trotzdem wird es kein Spiel werden. Jeder Bergführer, ob diplomiert oder nicht, rät bei den vorherrschenden Verhältnissen, auf eine Besteigung über die NW- Route zu verzichten. Ein herrliches Alpenglühen, das einen ebenso herrlichen morgigen Tag verspricht, ermuntert uns gerade dazu.
Einige Stunden Schlaf. Kurz nach Mitternacht aus den Decken. Das Mondlicht verwandelt den Gletscher in eine Märchenwelt. Zuerst spure ich, Hans dicht hinter mir. Bleiche Firnhänge, bizarre Grate, als riesengroße Silhouette und ein klirrender Sternenhimmel dominieren. Ohne Lampen wandern wir, geheimnisvoll anmutend, über den knarrenden Firn. Leises Klirren und Klingeln der Haken und Eisschrauben wecken weihnachtliche Gefühle, obwohl erst Sommer ist.
Nach dem ersten aufsteilenden Gletscherbruch spurt Hans weiter, er kennt die Führe schon vom Vorjahr. Die Route führt über einen Lawinenkegel, darüber jäh der Bergschrund, fast zehn Meter hoch! Hans kratzt sich hinauf und meldet Stand. Einen richtigen Schreck bekomme ich, als ich mir der Steilheit dieses Schrunds bewußt werde. Die winzigen Spuren von Hans, der dort oben so quälend langsam höher kommt, sprechen Bände.
Etwas unsicher erreiche ich dann ebenfalls den Standplatz, beäuge mißtrauisch den einsam in den Firn gerammten Eispickel. Ob der hält? So lange der Firn fest ist, mag es ja gehen. Wehe aber, wenn es der Sonne erst einfällt, den harten Firn in Schneematsch zu verwandeln...
Einmal knackt es laut in der ganzen Eisfläche. Erschrocken sehe ich hinauf, doch alles bleibt still. Allmählich dämmert es. Das Eis ist noch hart. Wir müssen Schrauben sparen, nur hin und wieder eine, das muss genügen. Die Wand ist noch hoch und es wird noch viele Standplätze geben. Eine Seillänge ist in dieser NW- Wand ein Nichts. Das Bild beim Blick hinauf verändert sich nicht erkennbar. Nur an den Felsen gemessen, welche die Eisflucht im Westen begrenzen, lässt sich der Fortschritt erahnen.
Hans spurt verdammt langsam. Und jedes Verweilen erhöht das Risiko. Risiko? Bin ich mir des Risikos überhaupt bewußt? Hatte ich nicht immer nur alles mit dem althergebrachten Spruch "Wen der Berg liebt, den behält er" abgetan? Habe ich es mir damit nicht viel zu oft allzu leicht gemacht? Habe ich in der Vergangenheit mein Risiko eigentlich jemals richtig durchkalkuliert? Dabei geht es ja nicht nur mich an. Möglicherweise sollte ich dabei auch vermehrt an Janine denken? Hat sie vielleicht abgelehnt mitzufahren, aus Angst vor der Möglichkeit, die Nachricht von einem verunglückten Freund zu bekommen? Bei dem Gedanken daran, was Janine in der Zeit empfindet, in der ich am Berg bin, erschrecke ich über mein eigenes Tun.
"Nachkommen!" ruft Hans von oben. Also weiter. Die ganze Wand liegt jetzt im Licht. Oben in den Hängegletschern, die schon vor Stunden von der Sonne erreicht wurden, hängt eingefroren ein riesiger Eisblock, wie eine Kirsche auf einem Speiseeis, bereit, uns jederzeit mit in die Tiefe zu reißen. Der Gedanke, er könnte die Firnrinne herabbrummen, beruhigt nicht gerade. Ich überlege, wie Janine es aufnehmen würde, sollte ich einmal nicht zurückkehren. Würde sie damit fertig werden? Ich bin im Zweifel, ob ich die Bergsteigerei nicht endlich, ein für allemal an den Nagel hängen sollte. Ihre Liebe ist mir letztlich doch wichtiger. Unser Glück ist doch mehr wert, als alle Gipfelsiege dieser Erde, oder? Ich nehme mir vor, nach einem ernsthaften Kompromiß zwischen Alpinismus und menschlicher Zuneigung zu suchen.
Hans lässt jetzt öfter die Zwischensicherung aus, um schneller aus der Gefahrenzone zu kommen. Es gefällt mir nicht, weil ich das Problem habe, der einen einsamen Eisschraube hin und wieder wirklich zu vertrauen. Das Bewältigen solcher Situationen macht mir mehr zu schaffen, als die physischen Anstrengungen. Habe ich zu viel Phantasie? Dann und wann trübt mir das schon den Blick für die überwältigende Schönheit der Umgebung. Aber dann fasziniert sie doch wieder: Die Wucht der Linien, die nach unten scheinbar zusammenlaufenden Felsrippen und Blankeisstreifen, dieses suggestive Bild eines gewaltigen Trichters, der einen Sog zu erzeugen scheint und mich unweigerlich hinab zu ziehen droht.
Oben dagegen, über der schir endlosen Eisfläche: Klares Blau! Das Zählen der Meter von Eisschraube zu Eisschraube habe ich bereits aufgegeben. Rhytmische Monotonie beherrscht die Stille. Hörbar erfassen lässt sich nur das Klirren der Steigeisen gegen das glasige Eis, das trotz der Sonne, die bereits seit drei Stunden auf uns scheint, noch relativ hart ist. Nur allmählich zeigen sich schon kleine Auswirkungen der intensiven Sonneneinstrahlung. Hans schimpft nicht mehr lästerlich über die schwer beweglichen Eisschrauben, meine Jeanshose wird ständig nasser und die Steigeisen greifen nur noch im Moment des Antritts und rutschen dann teilweise nach. Immer öfter hüpfen Steine und Eisgriesel an uns vorbei in die Tiefe. Ich sehe ihnen mit gemischten Gefühlen nach. Wenn nur wir nicht beginnen zu hüpfen...
Vermehrt zeigen sich jetzt Querrisse im Eis. Sie sehen beunruhigend aus. Unwillkürlich muss ich an das Knacken im Eis von heute morgen denken. Hans steht mittlerweile auf dem Firngrat. Als ich auch endlich dort oben anlange, ist der Schnee patschig. Das hatte ich fast befürchtet.
Kurze Rast. Nur noch fünfhundert Meter bis zum Gipfel, ungewöhnlich weit überwächtet. Kapuzen wachsen weit hinaus, unberechenbar haltbare Schneebalkone! Ich spure jetzt, knietief. Die Gamaschen über den Jeans sind aufgeweicht, gleichen einem Scheuertuch nach dem Frühjahrsputz. Weit oben sehen wir den Gipfelfirn. Doch er glänzt nicht so, wie das Eis hier. Ich erkenne bald den Grund: Plötzlich etwas höher, jenseits des Windschattens der Einsattelung, pfeift ein eiskalter NW- Wind über unseren Grat. Die Firnflächen sind hart gefroren und unsere Gesichter erleichtert. Ich blicke über die Firnkante in die gewaltige Tiefe zur Grenzgletscherseite. Weite Eisdünen erstrecken sich hinüber zur italienischen Seite der pennischen Alpen.
Jetzt nur noch den letzten, stark überwächteten Firnanstieg empor... "Peng!" Der ganze Grat kracht dumpf. Wir bleiben stehen, starr vor Schreck und Entsetzen. Ist es nun soweit? Werde ich Janine nie wiedersehen? Ist unser Glück schon zu Ende?
Wahrscheinlich eine labile Wächte oder ein loses Schneebrett unter uns! Still stehen, jetzt ja nicht rühren! Noch einmal kracht es. Mein einziger Gedanke: Jetzt ist alles aus! Am liebsten würde ich jetzt fliegen können. Wir warten, schwitzen. Der Firnhang liegt unverändert im Sonnenglanz. Wir wagen kaum zu atmen, gehen elfengleich, fast auf Zehenspitzen weiter. Bloß langsam und behutsam! Der Grat neigt sich etwas nach Norden.
Eine Ewigkeit später, nach unendlich lang scheinenden Schrecksekunden atme ich wieder auf. Auch Hans wird wieder gelöster. Dann, nach mühsamen Strapazen, gönnen wir uns den verdienten Schritt auf den 4527,2 m hohen Ostgipfel. Das überwältigende Panorama springt uns an. Wir blicken uns um und träumen in der Erinnerung an diesen Gipfel da, den Grat dort drüben und diese Flanke dort hinten. So, wie diese Eisflanke, auf der wir gerade stehen, auch schon wieder Erinnerung ist.
 
 
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