Berge zur Selbsterkenntnis
 
Angeschlagen in die Nordwand (Juni 1983)
 
éte de Valpelline, Téte Blanche und eine Woche harte Arbeit an der Verputzmaschine in den Knochen, bin ich wieder einmal dankbarer Kunde der Apotheke. Meine schlecht verheilten Rippen rufen sich in Erinnerung. Bei einem Ausrutscher über die Randkluft des Tiefmattengletschers hatten diese einen heftigen Schlag mitbekommen. Anschließend den ganzen langen Weg über den Gletscher, durch wild aufgeworfene Eisbrüche auf den Stockjigletscher und zuletzt noch auf beide fastviertausender Gipfel. Das war eine Tortour gewesen!
Und wenn wir uns unter dem Sternengefunkel wieder einmal erschöpft zu einer Kurzrast in den Schnee hatten fallen lassen, wäre keinem von uns beiden auch nur der Gedanke an weitere Touren gekommen...
Das Barometer in meiner Braunschweiger Wohnung zeichnet jetzt seit Tagen konstantes Hochdruckwetter auf. Meine heftige Migräne bestätigt das. Jetzt ist also die Zeit für große Touren! Doch mein Freund Siegfried hat Dienst, kann also nicht mitkommen.
Mit Peter jedoch klappt es, er ist froh, dem Volkswagenwerk wenigstens am Wochenende entfliehen zu können und sagt zu. Außerdem hat er noch seinen freien "Waschtag" zu beanspruchen. Ich muss den Kopf schütteln. Ich habe nicht einmal Zeit, meinen Körper zu pflegen, und die Arbeiter im Werk bekommen noch einen freien Tag, um ihre Wäsche zu reinigen. Irgend etwas passt da schon grundsätzlich nicht mehr.
Peter schwärmt vom Gletscherhorn. Fast tausendzweihundert Meter Nordwand, Eis und Fels! Das ist doch unüberbietbar schön!
Mir fällt dazu erneut ein, dass meine angeschlagenen Rippen Sitz- und Brustgurt gar nicht mögen, dass sie anstelle von Felsrouten so richtig handfeste Firntouren über alles lieben. Dennoch stimme ich Peters Vorschlag zu. Wohl aber mehr, um aus dem stressigen Braunschweig herauszukommen, als in Erwartung auf eine schöne, erbauliche Felsnordwanddtour. So hat Peter gegen meine Idee, ins Wallis zu fahren, denn doch gewonnen.
"Ist denn die Gletscherhorn Nordwand zumindest eine klassische Tour?"
Peter überhört den ironischen Ton meiner Frage. Bierernst bestätigt er, das ist sie bestimmt, technisch schwieriger als manche Stellen in der Eigernordwand. Ich zweifle ein wenig an seiner Aussage, lasse es aber erst einmal auf mich zukommen.
Schließlich freue ich mich doch auf die Tour, es geht dabei immerhin ums Bergsteigen, nicht ums Hinauftanzen. Dabei vergesse ich ganz, dass ich natürlich wieder mein Klettergeschirr anlegen muss, welches mir bei einer sanften, wohlgeneigten Walliser Firntour erspart geblieben wäre...

Gegen Mittag reisen wir an. Es geht hinauf ins Berner Oberland, über grüne Matten, durch heimelige Dorfstraßen, gesäumt von bunter Blütenpracht in Vorgärten und an Balkonen. Wir tuckern über kristallklare, schäumende Wildwasser. Die schmale Fahrstraße schlängelt sich hinauf nach Grindelwald und scheint kein Ende nehmen zu wollen. Das Touristengetummel der Eigernordwand wartet schon.
Den Rest des herrlichen Frühsommertages verbringen wir mit dem Aufbauen unseres Nachtbiwaks auf dem Campingplatz "Weiße Spinne", benannt nach dem oberen Eisfeld in der Eigerwand. Das Kuppelzelt sichern wir angesichts des schönen Wetters nur oberflächlich. Es soll doch morgen früh recht fix gehen, mit dem Abbau in ungemütlicher Morgenfrische.
Der Tag verabschiedet sich mit dem blaßfahlen Alpenglühen, das für hiesige Gebirgsverhältnisse in der frühen Jahreszeit typisch ist. Andächtig sitzen wir vor unserem Zelt, schauen hinauf zur im letzten Fließlicht stehende Eigerwand un kalauern. Peter fragt mit verkniffenem Grinsen, wann wir denn diese Wand dort oben angehen wollen. Ich verstehe seinen bissigen Humor und gebe trocken zur Antwort:
"Wenn wir vom Everest zurückkommen, ist noch reichlich Zeit dafür."
Wir amysieren uns köstlich über die erstaunten Blicke unserer Zeltnachbarn, die sich wahrscheinlich fragen, welch große Profi- Alpinisten sie da vor sich haben.
Allerdings wundere ich mich ein klein wenig über Peters schwarzhumoristischen Beigeschmack in seiner Frage, neigt er doch sonst locker dazu, auch eine Tour vom Format der Eigerwand ernsthaft in Betracht zu ziehen. Sicher, das wäre schon etwas, diese Wand dort oben, geliebt und gefürchtet zugleich von unzähligen Bergsteigern. Aber nur ganz wenigen der allerbesten Alpinisten ist diese Führe vorbehalten. Alles andere ist fast schon eine Anmaßung, die in der Vergangenheit auch schon viele allzu Mutige mit ihrem Leben bezahlt haben. Doch dem gewaltigen Ausblick in diese höchste und berühmteste Alpenwand können auch wir uns nicht entziehen, und so schauen wir, mit heimlicher Sehnsucht, aber auch mit Vernunft!
Noch vor allen anderen Wandschauern kriechen wir in unsere Schlafsäcke...

In tiefer Nacht, um zwei Uhr, ist Tagwache. Heimlich, auf schleichenden Sohlen, wie entlaufene Sträflinge auf der Flucht, brechen wir unser Nachtlager ab, verstauen alles in Peters "Bully" und fahren los. Durchs nächtliche Grindelwald führt uns unser Weg, in Richtung Lauterbrunnen- Stechelberg. Eine Weile noch begleitet uns der Blick auf die schemenhafte, riesige Silhouette der Eigerwand, dann verdecken Wald und Bergstock des Männlichen die Sicht für eine knappe halbe Stunde, um dann einen neuen Ausblick auf die grandiose Kulisse von Mönch und Jungfrau freizugeben. Mattsilbern glänzen die hohen Firne im fahlen Licht der Gestirne.
Wir marschieren los, entlang der weißen Lütschine, deren von den Gletschern herabstürzende Wasser mit ihrem Rauschen und Tosen das nächtliche Steigen geheimnisvoll erscheinen lässt. Erst bei Trachsellauenen, einem verlorenen Häuflein von kleinen Châlets und Speichern, wo wir gegen den Rottalgletscher aufwärts steigen, wird es ruhiger, das Tosen weicht erhabener, weiter Stille.
Zum Sonnenaufgang sind wir am Gletschereinstieg. Wir folgen der Führe über das schneefreie Eis und sind endgültig den Zwängen der vielen, bald erwachenden Menschen entlaufen. Eine kühle Briese weht vom Gletscher herab, lässt uns anfangs frösteln und macht später das immer anstrengender werdende Steigen trotz der jungen Sonne noch zum Vergnügen. Unsere Wand, der wir heute den Kampf ansagen wollen, kommt von Minute zu Minute deutlicher in Sicht, wird im Laufe des Morgens allmählich größer, wenn auch gewaltig überragt von der nebenan aufwuchtenden Jungfrau- Südflanke.
Im Firnbereich seilen wir uns an und erreichen kurz darauf den Fuß, nebst Bergschrund dieser Nordwand. Ich führe die erste Seillänge, die sich gleich schwierig anlässt. Anfänglich versuche ich mit dem Eispickel auszukommen, greife dann aber doch zu den Eisschrauben, ebenso wie Peter in der folgenden Länge. Die Schrauben- und Hakenspuren im Eis zeigen mir, dass wir nicht ängstlicher sind, als unsere Vorgänger. Es ist dennoch keine dieser mit Haken voll vernagelten Modetouren.
Das Hinaufstemmen und Klettern schmerzt gemein und hinterhältig in meinen Rippen, besonders in einem Eiskamin, den wir der nebenan senkrecht verlaufenden, aber vereisten Felsrippe vorziehen. Doch mehr noch als die Schmerzen selbst, beschäftigt mich die Frage, wieviel schlimmer es noch werden wird, weiter oben. Für solche Gedanken wird bald noch mehr Zeit sein, da wir uns vor dem Quergang in die Felsrippen hinüber noch eine Pause gönnen wollen.
Fast zum Greifen nahe ragt die Riesenmauer der Jungfrau- Südwestwand auf, sehr schwarz, mit nur wenig Eis in der Flucht. Diese Wand muss ausgezeichnete Verhältnisse bieten. Von unserem Platz aus wirkt sie gar nicht so steil, aber da ist wohl auch eine perspektivische Verkürzung im Spiel.
Irgendwann sichte ich eine Zirrenbank. Als Dent Blanche geschädigter Alpinist beginne ich am Erfolg unserer Tour zu zweifeln. Später wird die Zirrenschaar im Westen massiger und breiter und ich würde Peter gern eine etwas vergrößernde Brille verpassen, damit auch er sie erkennen kann. Doch er scheint eher eine verkleinernde Optik im Kopf zu haben. Sein dominanter Auftrieb ist mir unangenehm, weil er mich in eine ganz ungewohnte Bremserrolle drängt, zumal ich auch wegen meiner defekten Rippen mit Bedenken ringe. Andererseits ist das Argument, notfalls abseilen zu können, tatsächlich nicht von der Hand zu weisen, denn die Wand ist so nett, solchen Ausflüchten keine unüberwindlichen Hindernisse entgegen zu setzen.
Wir steigen nun im Fels weiter und tasten uns über kurze Verschneidungen und delikate Quergänge nach rechts durch die senkrechten Felsrippen, direkt unter die Gipfelfallinie. Das kräfteaufraubende Tasten, Halten und Hochziehen macht meiner alten Verletzung rasch wieder zu schaffen und ich falle bald auf das Angebot von Peter herein, ihn jetzt alles vorsteigen zu lassen. Das verschafft mir zwar ein Seil von oben, wenn nicht gerade wieder ein kurzer Quergang angesagt ist, aber auch einen schwereren Rucksack. Und so, wie der leichtere Rucksack Peters Aufstieg erleichtert, vergrößert mir das Zusatzgewicht bei jedem Schritt die Zuglast auf meinem Brustkorb. Außerdem schlägt mir das fortwährende Nachsteigen aufs Gemüt, weil es als Vorsteiger gegenüber dem Nachsteigen die interessantere, anspruchsvollere Leistung ist.
Trotz dieser Hinderlichkeiten können wir uns dieser Wandkletterei nicht enziehen. Zu allem Überfluss entscheidet sich das Wetter erfreulich schnell für die Wiederauflösung der unansehnlichen Zirrusbank und für die Aufspannung eines makellosen Himmels, der nur noch die Kondensstreifen der Flugzeuge eine Zeit lang zulässt.
Wir klettern im Schatten. Erst weiter oben wird die Sonne, wenn überhaupt, wieder in die Wand leuchten. Wenn nur meine Rippen sich nicht ständig schmerzhafter bemerkbar machen würden.
Einmal löst sich ein Helikopter aus dem Dunst des Tales, wummert herauf über das Rottal zum Lauihorn und setzt dort Leute ab. Faules Pack!
Immer langsamer kommen wir nun aufwärts. Der intervallmäßige Auftritt stechenden Schmerzes in meinem Brustkorb hemmt meinen Steigrhytmus und nimmt mir zuweilen den Atem. Hätte ich doch vor drei Jahren nach unserem Unfall am Dent Blanche meine Knochen nur richtig auskuriert! Doch dazu war ich zu stolz. Das straft mich jetzt.
Ich versuche den Druck des Brustklettergurts auszugleichen, indem ich ihn etwas lockere. Beim Halten, Sichern und Griffetasten jedoch beginnt das lästige Pieksen von neuem.
Die Firnrinnen zwischen den Felsen sind immer noch hart gefroren. Tauen die überhaupt jemals an? Doch! Die Spuren irgendwelcher Vorgänger zeigen, dass diese sich schon mit Tauschnee und Patschfirn herumgeärgert haben.
Die nächste Felsinsel auf der Wandrippe: Zuerst verblüffend leicht, ein Stück weit an einer Leiste geöffneter Bergkristalldrusen entlang. Der Inhalt wäre im Tal unten wohl so seine 5.000,- Franken wert. Hier oben jedoch gilt das nicht viel, wer mag auch diese schweren Steine durch eine senkrechte Wand hinunterschleppen?
Jetzt, gegen Ende dieser kurzen Felspartie wieder anstrengende Hangelei: Gift für meine Brustknochen, die auch gleich wieder zur Bestätigung protestieren.
Irgendwann beginne ich schließlich, trotz dieser unverschämt guten Wandverhältnisse, das Ende dieser Tour herbeizusehnen.
Es ist Nachmittag. Der Gipfelgrat der Jungfrau, an dem wir seit geraumer Zeit unser Höherkommen messen, steht immer noch hoch über uns und läd ein, zu Betrachtungen, wie viel länger als unsere gar nicht so kurze Gletschertour, die Kletterei dort drüben in der Südwestwand erst sein muss.
Aber jetzt ist eine andere Betrachtung in Bezug auf die schon ermahnend fortgeschrittene Zeit, und meine schlechte körperliche Verfassung aktueller: Nämlich die der Umkehr!
Auch Peter sieht jetzt ein, dass wir heute hier nicht mehr viel ausrichten können. Also Rückzug - am leichtesten via dem Äbni Flue Nordpfeiler. Es tut weh, so viel mühselig aufgewendete Investition in den Wind zu schießen. Und unsere Stimmung sinkt rapide ab. Ob wir noch einmal die Möglichkeit zur Ersteigung des Gletscherhorns über seine Nordwand haben?
Aber nachhaltiger als solche Mutmaßungen beschäftigt uns der schwindelnde Tiefblick über die Felsen und senkrecht hinab zum Rottalgletscher. Denn dort müssen wir hinunter!
Der Pfeiler indes erscheint uns steiler als die Wand, der wir gerade entstiegen sind und der Gletscher ist unverschämt zerrissen. Obendrein wissen wir beide nur zu gut, dass die Sonne den ganzen langen Tag Zeit gehabt hat dort unten die Spaltenbrücken anzutauen, und den Firn schön aufzuweichen.
Die beste Methode solche Gedanken zu verdrängen, ist natürlich, den Abstieg augenblicklich in Angriff zu nehmen.
Abseilen und Abklettern über einen windigen Pfeiler: Immer im Zickzack tiefer, ganz passabel zu einer Steilstufe, links ein Kamin, darunter Abseilhaken, dann wieder gut kletterbarer Fels. Nun Schrägabseilmanöver; wir erreichen den steilen Firnhang am Pfeilerfuß.
Unter einer teilweise dünnen Schicht von weichem Schnee ist Eis. Aber die Steigeisen helfen nicht viel, sie stollen! Wir wühlen uns zur Randkluft durch und springen auf den Gletscher. Der ist genauso erbärmlich aufgeweicht, wie wir es oben bereits befürchtet hatten. Der Eispickel lässt sich einfach durch den weißen Matsch ziehen; er ist pure Dekoration.Wir finden auch Spuren, aber was besagt das schon? Die Spaltenbrücken, die unsere Vorgänger noch getragen haben, brauchen unser Gewicht längst nicht mehr auszuhalten.
Wir kriechen demütig auf dem Bauch über die Schneebrücken, die unter uns versacken, und uns weiterscheuchen auf den nächsten labilen Übergang, der wiederum... Ständig auf der Hut, zwischen Gletschertürmen hindurch, über Spalten, deren Tiefe nur zu ahnen ist, weiter, nur voran, vor Dunkelheit zurück sein! Meine Rippen finden das besonders lustig!
Nach Passieren der letzten Spalten ist das schlimmste überstanden. Glauben wir! Mir bleibt immer noch die Schikane der seit einiger Zeit wieder bei jedem Tritt neu schmerzenden Rippenknochen. Lawinenschnee, Gletscherschliffe, Eistrümmer, Blockhalden, schier endlos! Die hereinbrechende Dunkelheit tut ein übriges, auch diesen Teil des Abstiegs noch sehr unfreundlich zu gestalten.
Und wenn ich irgendwann vorher schon gedacht hatte, dass es meinen Rippen nicht gut geht, so lerne ich nun noch einiges über Steigerungsmöglichkeiten. Natürlich erwischen wir bei nachlassendem Tageslicht auch noch die falsche Seite des Rotbachs und es bleibt uns nicht erspart, ihn bei Stufenstein noch knietief zu durchwaten, besonders amysant auf den glitschigen Felsköpfen des eiskalten Wildbachs!
Schließlich finden wir die Brücke über die weiße Lütschine. Nun nur noch den befestigten Wanderweg hinab bis Stechelberg. Es ist ein stinklangweiliger und klotzharter Weg. Und die vertraute Silhouette der Jungfrau überdeckt mit ihrer Zeitlosigkeit unter der unglaublichen Sternenpracht die Monotonie dieses Weges. Meter für Meter latschen wir dahin. Die nassen Socken lassen Blasen wachsen, die mit ihrem Brennen den Schmerz der Rippen zeitweilig begleiten, bevor sie sich wieder beruhigen.
Die Nacht nach dem Marsch verbringen wir in Peters Auto. Dieses Nachtlager gestaltet sich zwar als reichlich unbequem, doch die Anstrengung des Tages läßt uns sicher entschlummern.
Im Morgengrauen dann, angesichts einer rosig angeleuchteten Jungfraukette fahren wir mit Vollgas einer neuen Arbeitswoche entgegen.
"Lebt wohl, Ihr Berge, bis zum nächsten Mal!"
 
 
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