Berge zur Selbsterkenntnis
 
Am Schicksalsberg (August 1983)
 
ange schon bin ich gespannt darauf, wie sich der Berg in der Realität von der anderen Seite, respektive von Nordwesten her präsentiert. Vielleicht ist er von dieser Seite aus leichter zu ersteigen? Vielleicht war das Opfer unserer Kameraden vor drei Jahren ganz umsonst? Von allen anderen Seiten hatte ich seither versucht, den Gipfel zu erreichen. Über den Nordgrat, via dem Ostgrat, selbst über die Ostwand von Schönbiel aus. Aber jedes Mal war der Berg Sieger geblieben.
Flotten Schrittes marschiere ich am Ferpéclebach entlang. Les Haudéres liegt schon geraume Zeit hinter mir. In der Luftlienie kann es nicht mehr weit sein, eigentlich müsste...
Ahnungslos bin ich um eine Wegbiegung herumgekommen, die wievielte schon an diesem Tag? Und schon einige Male hat der Berg mir zugezwinkert, aus einer Lücke zwischen Vorbergen heraus, oder über den Wipfeln duftiger Lärchen und Arven, doch stets aus der scheinbaren Kleinheit der sicheren Entfernung.
Nun aber steht er plötzlich zum Anfassen nahe vor mir! Direkt aus dem Talboden wuchtet die Riesenpyramide auf. Das ist er! Kein "Traumberg" mehr! Was ich da vor mir sehe, ist härteste Wirklichkeit, atemberaubender, abweisender, erdrückender, als ich ihn mir in Gedanken jemals hätte ausmalen können.
Ich stehe der Nordwestflanke, also der Wetterseite des Berges gegenüber, wo er in ungebrochener Flucht fast 1200 Meter hoch schir senkrecht aufsteigt, sich zum Gipfel hin in ein Chaos von kleineren Flanken, Türmen, Pfeilern, Kaminen und Coloirs verliert. So steil sind diese Felsmauern, dass sich kaum Schnee auf ihnen zu halten vermag. Erst weit oben hat sich der Gigant einen Firnmantel umgeworfen, und von der höchsten Spitze weht eine weiße Standarte weithin in das dunkle Blau des Himmels: Der Schnee, vom scharfen Höhenwind aufgewirbelt, davongeweht, das majestätische Zeichen der Viertausender unserer Alpen.
Ich kann nur stehen und schauen. Unwahrscheinlich hoch oben glitzert ein Schneefeld im Sonnenlicht. Nach Westen, vom Gipfel, führt es sanft geneigt hinab, doch ich erkenne gleich, welch gute Kondition ein Berggänger haben muss, um diesen endlos langen Grat in der Sonne des Tages zu bezwingen.
Es ist wahr, der Dent Blanche ist nicht der höchste Berg der Alpen, bei weitem nicht! Doch kaum in anderen Massiven gibt es eine Bergflanke, vergleichbar mit seinen Abstürzen vom Gipfel nach Nordwesten zum zerrissenen Bett des Glaciér de la Dt. Blanche hinab, das beinahe 1300 Meter tiefer liegt.
Monte Rosa, Mischabel Dom, Weißhorn, Jungfrau oder Bernina erheben sich aus mächtigen Gebirgsketten oder Plateaus. Ihre höchsten Zinnen sind von unten her kaum einsehbar. Dent Blanche, dieser unvergleichliche Berg aber zeigt unverhüllt seine ganze Majestät und Schönheit, aufstrebend vom Gletscherbecken, das wenig mehr als zweitausend Meter über dem Meeresspiegel liegt, bis in die Nähe des Himmels.
Und er erhebt sich allein, ein Fürst im Kreise der größten Alpenberge, höher als irgendein Berg im Umkreis von zehntausend Metern, abgesehen vom Walliser Weißhorn und dem Matterhorn, das mit seinen 4477 Metern der "Berg der Berge" genannt wird.
Die Südflanke des Dent Blanche , von den Gletscherfeldern des Plateau d' Hérens aus betrachtet, wird wohl in ihrer Ausdehnung von anderen Gebirgsansichten der Alpen nicht oft übertroffen. Der Nordwestflanke seltene und erlesene Schönheit aber liegt in dem Eindruck des Überirdischen und Entrückten, den sie erweckt. In klaren Morgenstunden und bei Sonnenuntergang nach Regen wirkt sie, über das Tal von Ferpécle herüber, wie eine Erscheinung aus einer anderen Welt, schwebend zwischen Erde und Himmel, ihren Fuß in Wolken gehüllt, völlig losgelöst von den niederen Bergen. Dieser Berg gehört ohne Zweifel zu den alpinen Fürsten, die kleineren Berge ringsum sind aus geringerem Geschlecht. Ich habe bislang keinen anderen Berg gesehen, der auf mich eine so unwiderstehliche Anziehungskraft ausgeübt hätte, trotz der Tragik, die mich mit ihm verbindet. Ein Großer inmitten der zweitgrößten alpinen Gletscherregion, unbestrittener Herrscher in seinem eigenen Reich, steht er allein, weit und breit keine Nachbarn, die ihm höher als bestenfalls zur Schulter gereichen. Keine Stufen leiten zu ihm hin, dass ich mich an seine Höhe langsam gewöhnen könnte. Als Abschluss des Ferpécletales steht er plötzlich da, ohne den geringsten Übergang, in einer einzigen, ununterbrochenen Flucht, mehr als viertausend Höhenmeter emporgeworfen.
Seine Wände sind mit die höchsten der Alpen. Allein der Abbruch vom Gipfel gegen Norden in das Tal ist von einer einzigen Wand gebildet, die noch um einiges höher ist, als die Eiswand des Walliser Weißhorns. 1200 Meter eine einzige Steilmauer, eine der höchsten und schauerlichsten Abstürze, die ich bislang sah. Der Eindruck, den die aus dem Tal aufwuchtende Fels- und Eispyramide macht, ist fast unbeschreiblich und kaum vorstellbar.
Aber nicht nur die absolute Höhe macht diesen Berg aus. Es kommt noch hinzu, was man den Charakter des Berges nennen könnte. Er ist eine Welt der Überdimensionen, eine Welt aus hartem Fels, abgeschirmt von Schneehängen und Eiswänden. Eine Welt hoch über den Wolken, ohne Leben, ohne Wärme, ohne Mitleid gegenüber dem, der sich nur allzu mutig unter ihre Grate wagt.
Dent Blanche, der "Weiße Berg", in ihm sehen die heimischen alten Walliser die Heimat und den Sitz der Becca, wenn die Glut des scheidenden Tageslichts auf silbernen Firnen loht. Dieses goldene Licht suggestierte den Talbewohnern bis ins 17. Jahrhundert hinein riesige Goldvorkommen auf diesen höchsten Gipfeln, von Wetter und Eis bewacht. Diese Gipfel waren ihnen die Berge des Schreckens, wenn die Lawinen dröhnten, der Sturm über die Grate brauste und die grauen Schmelzwasser tosend nach Les Haudéres hinabstürzten.
Ein Berg, verschleiert hinter Rätseln, gefürchtet, aber dennoch sehr begehrt! Und neben meinem Gefühl staunender Ehrfurcht regt sich der Drang in mir, zur Überwindung aller Hindernisse, zur Eroberung dieses Gipfels! Wie gewaltig dieser Berg wirklich ist, bekomme ich zu spüren, als ich an seinem Fuß raste: Ein par Steinwurf von meinem Biwakplatz entfernt, stürzen sich die Eismassen des Glaviér de la Dent Blanche talab. Bis zu meinem Lager her höre ich es krachen, wenn neue Spalten aufreißen, oder einer der mächtigen Eistürme schmetternd in sich zusammenfällt. Die Stimme des urweltlichen Chaos dröhnt und tönt.
Aber hier, an meinem Lagerplatz steht noch duftendes Almgras, Edelweiß mit fünffrankenstück großen Sternen, rechts Enzian, links Akelei, im Paradies kann es keinen schöneren Garten geben, als diese Matten. Ich bin in meine Gedanken versunken, da erhebt sich plötzlich aus der Nordwand ein Getöse, als rasten ein Dutzend Schnellzüge ineinander. Dort drüben wankt eine ganze Bergwand! Tausende Tonnen Eis und Schnee müssen da in Bewegung geraten sein. Sausend, pfeifend und gröhlend rumort es zu Tal. Über meinem Lager erhebt sich eine ungerheure, alles verdunkelnde Wolke zum Himmel. Wie die Flut durch einen geborstenen Damm schäumt die Lawine herab.
Ich bin starr vor Schreck. Die Bilder von vor drei Jahren schießen mir wieder durch den Kopf, weil mir das Unglück von damals immer noch in den Knochen steckt. Dann kommt ein Sturm gefahren, ebenso wie damals, der mich ins Gras wirft, wie ein welkes Blatt, während die Lawine über dem Gletscher ausläuft.
Als der Spuk vorüber ist, muss ich mich unter feinen Decke aus Schneestaub hervorschütteln. Der Segen, den der Luftdruck über fast vierhundert Meter bis zu meinem Lager getragen hat, ist mehr als reichlich! Dennoch ist es vergleichsweise glimpflich abgegangen. Mich schaudert vor der Überlegung, dass die Lawine ebensogut hätte über den Moränenwall springen können und dann...
Es ist, als wollte der Berg mich warnen, ihm nicht schon wieder zu nahe zu treten.

Am nächsten Morgen beginne ich den Aufstieg. Auf der mir noch unbekannten Route komme ich verhältnismäßig gut voran. Doch schon beim Einstieg in den Westgrat habe ich irgendwie ein ungutes Gefühl. Was ist das, was mich so negativ bewegt? Ist es die Lawine von gestern, die so geheimnisvoll abging, wie die vor drei Jahren? Ist es die schreckliche Erinnerung von damals? Oder ist es nur eine Einbildung von mir, dass dieser Berg stets dann seine größte, unbeherrschte Gewalt entfesselt, wenn ich in seine Nähe komme? Und kann ich, sollte dieses Geheimnisvolle zutreffen, an dieser unnahbaren Seite überhaupt etwas ausrichten? Kann ich von hier aus den Gipfel erreichen, nachdem ich an den anderen, viel leichteren Seiten des Berges gescheitert war?
Dennoch, für eine unbekannt Führe finde ich die Traversierung auf Anhieb und ziemlich sicher. Aber schon, dass der Gipfelaufbau zum Greifen nahe scheint, lässt sich mein Schicksalsberg neue Schikanen einfallen: Wegen schwieriger Passagen, die direkt zu überklettern ich nicht die physischen und technischen Möglichkeiten habe, steige ich ein beträchtliches Stück in die Südwestwand hinein, um das unüberwindliche Hindernis zu umgehen. Das Wetter zeigte sich schon im Voraus nicht sehr beständig und als ich den Westgrat wieder erreiche, bekomme ich es ganz dick! Dunkle Cumulus- Wolken mit strahlend weißen Rändern wallen vom Fuß des Dent Blanche an der Nordwand empor. Von den Gletschern und vom Grateinstieg kann ich schon nichts mehr erkennen. Auch nimmt der Wind, der schon die ganze Zeit leicht über den Grat zog, von Minute zu Minute an Heftigkeit zu. Unaufhaltsam jagt er die Wolkenmassen die Nordwand hinauf, bis zum 4356 Meter hohen Gipfel, an dem sie als riesige, unheilverkündende Wetterfahne in das Blau des Himmels hinauswehen.
Und schon quellt es auch über den Grat. Von einer Sekunde zur anderen stehe ich in einer einzigen Waschküche. Wettersturz! Mein erster Gedanke: Nur ja schnell zurück jetzt! Eigentlich hätte ich nach der Querung in die Wand hinaus erst einmal eine Pause einlegen müssen, denn kräfteaufraubend war diese Aktion allemal. Doch schleunigst beginne ich, auf meiner Führe den Abstieg. Da spüre ich es plötzlich naß im Gesicht: Schnee! So unvermutet aufgetreten wird das Gestöber von Viertelstunde zu Viertelstunde dichter. Und dann faucht gar ein Sturm daher, der sich binnen Minuten zum Orkan steigert. Nur zurück jetzt!
Von den Spuren meines Aufstiegs ist nichts mehr zu sehen, wie in einer dichten Suppe tappe ich in mühevoller Kleinarbeit abwärts: Wieder in die Südwestwand, zurück auf den Grat, durch die Blockhalden auf demselben, dem zweiten Felsaufschwung entgegen, dessen Einstieg ich wohl gleich finden werde...
Doch plötzlich kann ich nicht mehr weiter. Mauersteil und glatt unter mir der Abgrund, gerade, dass ich mich noch zurückwerfen kann. Ich habe mich verstiegen! Also quäle ich mich noch einmal auf den Grat hinauf und dann nochmals den Abstieg versucht. Wiederum versteige ich mich in dem höllischen Gebräu aus Schnee, Nebel und der nun langsam hereinbrechenden Abenddämmerung. Noch einmal muss ich mich diese beschwerlichen Meter emporschinden. Dann versuche ich es ein drittes Mal. Dass ich ja nicht noch das Schneebrett lostrete, auf dem ich stehe!
Halt! Wieder verliert sich mein Blick in der unendlichen, dunkelgrauen Tiefe. Mein Gott, wieder verstiegen! Wieder hinauf! Ich bin fast an der Grenze zur Resignation, meine physische Kraft schwindet zusehens und die hohen Anforderungen der Situation lassen meinen Körper erschreckend schnell auskühlen.
Wieder diese 105 Meter hinauf, aber 105 Meter auf einem tausenddreihundert Meter langen Grat, über den eisig kalt der Schneesturm peitscht und den es zu beiden Seiten tausend Meter, beinahe ohne aufzuschlagen abwärts geht, wenn ich auch nur ein einziges Mal daneben trete.
Es ist ein Höllentrip, aber ich muss wieder hinauf! Ob ich es heute noch schaffe? Komme ich noch hinunter? Nicht grübeln, auf den Weg achten und weitergehen! Die Vereisung der Felsen und die Masse des Schnees nehmen ständig zu. Mit aller Kraft muss ich die Steigeisen in den Grat rammen, soll es mich nicht aus dem Tritt wehen. Schritt um Schritt kämpfe ich mich erneut aufwärts. Jedoch wieder auf dem Grat angelangt, von der großen Anstrengung fast am Ende meiner Kräfte, greift der Sturm mit immer größer werdender Heftigkeit nach mir, zerrt an meiner Jacke, die bereits zu nässen beginnt. Hätte ich doch bei der letzten Reinigung etwas mehr Geld für eine zusätzliche Imprägnierung investiert!
Es wird dunkel. Noch einen weiteren Abstiegsversuch zu unternehmen, wäre glatter Wahnsinn. Vielmehr muss ich für die kommende Nacht Schutz suchen.
Eine ein mal einen Meter große Niesche unter einem Felsblock finde ich zwar, auch wäre sie geeignet Schutz zu bieten, doch zwei Meter davor gähnt der Abgrund in die Südwestwand. Dennoch, mit diesem scheinbar einzig geschützten Punkt auf diesem Grat nehme ich dankbar vorlieb. Mit steifgefrorenen Gliedern zwänge ich mich in die Niesche, den Rucksack vor die kalten Füße und den Schlafsack als Windschutz davor geklemmt, so gut es eben geht. Jetzt heißt es, den neuen Tag abwarten. Aber nur nicht einschlafen, es würde mein letzter Schlaf werden! Einschlafen wäre fatal: Nur einmal vornüberkippen und es geht hinunter, wieviele hundert Meter, das weiß ich nicht einmal genau.
Nacht. Der Sturm tobt noch immer unvermindert. Ich höre ihm zu. Ich lausche dem monotonen Heulen und Pfeifen. Dann verwandelt es sich in Musik, die immer sanfter, immer lieblicher zu klingen beginnt. Die Augen werden unsagbar schwer und ich fühle mich leicht, als würde ich frei schweben. Was ist das? Durch das Schneegestöber hindurch sehe ich eine grüne, saftige Wiese, betupft mit Blumen in den schönsten Farben. Ein kleines Châlet im Sonnenschein mit Janine in der Tür. In einem weißen Kleid und mit Blumen im Haar steht sie da, winkt mir zu, ruft irgend etwas, das ich aber nicht verstehen kann. Ich will zurückrufen, bringe aber kein Wort hervor. Dann läuft sie auf mich zu, mit flatterndem Kleid und wehenden Haaren, springt umher und rudert übermütig mit den Armen. Das Almgras scheint sich vor ihrer Engelhaftigkeit zu verneigen. Mein Himmel, wie schön sie doch ist, wenn sie so ausgelassen lacht, so voller Lebensfreude und Überschwänglichkeit! Janine springt, fliegt zu mir heran, das dünne Kleid löst sich in fließender Bewegung von ihrem samtweichen Körper, flattert davon und gibt ihre nackte Eleganz frei. Zärtlich gleitet sie in meine Arme, ich drücke sie fest an mich, spüre ihren Atem, ihren sinnlichen Kuss... "Janine!"
Verdammt noch mal, eingenickt! Mit dem Gesicht war ich schon auf meine feuchtwarmen Handschuhe gesunken, noch etwas weiter nach vorn, und... Ich darf nicht noch einmal einschlafen! Also versuche ich mich wach zu halten. Erst mit Singen, dann wieder mit alleinigen Gedanken an Janine, bemüht, nicht wieder in Träume hinüberzugleiten. Es fröstelt mich. Die Kälte dringt langsam durch meine Daunenjacke. Ja nicht bewegen, Nässe und Kälte werden sonst an meinem Körper nur wieder neue Angriffsfläche finden.
Die Füße! Meine Füße haben kein Gefühl mehr! Ich ziehe die steifgefrorenen Bergschuhe aus, oder besser, ich versuche es nur, ich hatte ganz vergessen, dass ich ja Handschuhe trage. Also erst diese, dann die Stiefel! Doch die Knoten sind gefroren, ich bekomme sie nicht auf. Ich habe auch keine Kraft mehr in den steifen Fingern. Aber die Schuhe müssen herunter und meine Füße müssen wieder warm werden, denn ihre Aufgabe ist es, mich wieder in das Leben zurück zu tragen.
Leben? Was denn für ein Leben? Was habe ich denn bisher für ein Leben gelebt? Bislang habe ich so ziemlich alles falsch gemacht, habe nichts erreicht, weder materiell, noch ideell, immer nur gearbeitet für irgendwelche fiktiven Ziele, die so bar jeglicher Realität waren. Diese Berge hier, ihre Gipfel, sie waren stets eines dieser Ziele, wo nichts wächst, wo es öde ist, wüst und leer, nur Fels, Eis und Schnee, wo niemand sonst hin will. Einige bezwungene Viertausender, eine wahrhaft grandiose Leitung! Ist das wirklich das einzige, was ich vom Leben erwarte? Oder ist und war es vielmehr immer nur eine Flucht? War ich nicht mein ganzes Leben lang davongelaufen vor den Verantwortungen, Schwierigkeiten und Entscheidungen meines Lebens? Fliehe ich nicht immer noch, hier und jetzt, in diesem Augenblick? Flüchte ich nicht vor der Wahrheit, vor meinen eigenen Fehlern, vor mir selbst, in die Ablenkung der Extreme? Ich denke über Vieles nach, während ich versuche, die Schuhe aus zu bekommen. Dann die Füße in den wärmenden Schlafsack!
Der Schneesturm tobt mit unverminderter Gewalt. Hoffentlich wird das Toben und Sausen bald nachlassen, denn eine zweite Nacht werde ich bei diesen Temperaturen kaum überleben. Gewiss ist es um die -15° kalt. Aber wenn schon, so oft schon war ich entschlossen, mit Allem Schluss zu machen, besonders, nachdem Janine von mir gegangen war. Seither hatte mein Leben keinen rechten Sinn mehr. Die Gelegenheit, alles zu beenden, war nie so nahe, wie jetzt, hier in dieser Einsamkeit. Ich würde so gehen, wie ich gelebt habe. Und es wäre ein schöner Tod, wenn die Kälte keine Schmerzen mehr bereitet, ich werde müde, nicke ein, versinke in einen tiefen Schlaf, aus dem es kein Erwachen mehr gibt. Kein Schmerz, weder physisch, noch psychisch, einfach träumen, einschlafen, aus. Wen würde mein Tod schon berühren? Meine Familie, würde sie wirklich um mich trauern? Mein Chef und Vater, der mich seit meiner Handwerkerlehre an die dreckigste und knochenbrechendste Arbeit an der Verputzmaschine stellt und mich der kontinuierlichen Willkür seines Meisters und Partners aussetzt? Meine Geschwister, die mich ohnehin bereits als "Grufti" abstempeln? Wofür soll ich eigentlich noch kämpfen? Nur für meinen Job? Vielleicht gibt es ja doch eine andere Welt, in der man sich nach dem Tod wieder sieht. Ich würde meine Janine wiedersehen, ohne die mein Leben bedeutungslos geworden ist. Wenn ich noch ein echtes irdisches Ziel hätte, einen Menschen, ein Mädchen, wie Janine, für die ich dies alles lohnenswert finden könnte, für Jemanden, der auch im Tief zu mir hält, so wie ich es von Janine erfahren habe, dafür würde ich gegen alle Naturgewalten kämpfen! Doch nur dafür, irgendwelchen fremden Menschen ihr Heim zu bauen, dafür, jeden Tag vom Partner meines Vaters willkürlich zusammengebrüllt zu werden, wo liegt da des Lebens Sinn? Bei diesem Gedanken fällt mir wie zufällig die berühmte Frage ein: Leben um zu arbeiten, oder arbeiten, um zu leben?
Ich finde keine Antwort. Statt dessen muss ich wieder an Janine denken, an meine große Liebe und an das herrliche Jahr, dass wir zusammen sein durften und das mir jetzt leider nur noch wie ein schöner Traum in Erinnerung ist. Viel zu früh hat sie mir das Schicksal entrissen. Für meine Janine hätte ich Gewaltiges vollbracht. Doch ohne sie fehlt mir der Sinn des Lebens. Aber es war ein wunderbares Jahr, so voller Hoffnung trotz aller Widrigkeiten, so voll Freude und Liebe! Schon muss ich wieder an sie denken, selbst, oder gerade in dieser lebensbedrohenden Situation. Ich sehe Janine wieder ganz deutlich vor mir, als bildliches Andenken an die schönste Zeit meines Lebens. Im Brausen des Schneesturms höre ich ihr übermütiges Lachen, sehe ihre schwarzen wehenden Haare im Wind, wie in dem Sommer, als wir oft an den Wochenenden im Polstertal am Badesee zum Campen waren. Wie damals sehe ich Janine wieder durch die Wiesen am See laufen, sehe sie Eiscreme essen, sehe ihre Lebensfreude, ihre fröhliche Unbekümmertheit und Ausgelassenheit. Ganz deutlich sehe ich sie wieder vor mir, wie an jenem ganz besonders schönen Wochenende Anfang August, an dem unsere Liebe so stark und selbstverständlich für uns war, obwohl wir wussten, dass wir uns bald würden trennen müssen. Wir wanderten an diesem Sommertag von der Romkerhalle über den Ahrendsberg, am großen Steffenstal vorbei, über einsame Waldschneisen und verträumten Wegen zwischen Tannen und Fichten. Entlang des Ahrendsberger Weges und über den Papenberg erreichten wir Bad Harzburg. Nachdem wir uns den Bauch mit Softeis vollgeschlagen hatten, gingen wir zurück. Janine trug ihr knallgelbes, weit ausgeschnittenes leichtes Minikleid und mir schwanden fast die Sinne, wie ich sie den ganzen Tag lang so vor mir sah, in dem knappen, wehenden Kleid, unter dem sie auch noch wie zufällig nur ein fast Nichts trug. Irgendwie gelang es mir jedoch, mich den ganzen Tag zu beherrschen und mir nichts anmerken zu lassen. Ich hielt diese Passivität durch, bis wir auf dem Rückweg querfeldein über die Romkerschneise stiegen. Auf dieser einsamen, weltvergessenen Schneise, in frühabendlicher Windstille verloren wir beide die Beherrschung.
Lediglich das hohe Steilhanggras, die dunklen, uns umgebenden Tannen und die friedlich singenden Vögel wurden Zeuge, wie wir unsere Hemmungen verloren, uns unseren Gefühlen hingaben und unseren Wünschen freien Lauf ließen. Unser Rucksack blieb liegen, wo er hinfiel und wir schwebten in unbeschwerter Selbstvergessenheit. Raschelnd floß Janines Kleid wie ausgegossenes Wachs in das Gras. Dann hörten wir nur noch unseren lauten Atem, der sich rasch zum Orkan steigerte und uns plötzlich umtobte und mich entsetzlich frieren ließ...
Himmel nochmal, wieder eingenickt! Beinahe wäre der Rucksack in die Tiefe gerutscht. Ich ziehe ihn aphatisch wieder zu mir heran, und klemme ihn diesmal fester. Fast wären die Erinnerungen an den schönsten Tag meines Lebens mein Ende geworden! Die Hände schmerzen vor Kälte! Die Handschuhe, wo sind sie? Ach ja, die hatte ich ausgezogen, aber wo sind sie geblieben? In der Jackentasche? Nein, ich hatte sie doch neben mich gelegt... Sie sind davongeweht!
In dieser infernalischen Nacht gebe ich mir selbst ein Versprechen: Sollte ich diese weiße Hölle hier jemals überleben, sollte ich jemals wieder einen lieben Menschen finden, eine Frau, die mich liebt, werde ich Alles, wirklich alles tun, um sie glücklich zu machen! Dann werde ich meinen Eispickel für immer an den berühmten Nagel hängen!
Es wird etwas heller und die Uhr sagt mir, dass beireits der Morgen graut. Es wird auch Zeit, denn ich war schon das dritte Mal eingeschlafen, gerade, dass ich mich noch halten konnte. Ich muss jetzt sehen, dass ich wieder hinunter komme. Irgendwo hoch über diesem gnadenlosen Toben der Naturgewalten geht jetzt die Sonne auf. Los jetzt! Oder ich werde nie wieder von diesem Berg herunter kommen.
Fast eine Stunde und undenkbare Überwindung kostet es, mich für den Abstieg vorzubereiten. Der Sturm orgelt und johlt wieder stärker. Ich muss von diesem Grat herunter! Ich tappe abwärts, mehr meinem Instinkt folgend, als klarer Überlegung. Diese Nacht in der eisigen Kälte ging echt an die Substanz, sie hat mich unglaubliche Kraft und Energie gekostet. Und ich bin froh, nun in neuer Helligkeit endlich die Abstiegsführe zu finden, nach der ich gestern abend so verzweifelt gesucht hatte.
Doch, als wolle mir der Berg aufs Neue seine Macht demonstrieren, wirft er mir Unmengen von Neuschnee entgegen. Allein für die hundert Meter bis hinunter zum zweiten Aufschwung brauche ich Stunden. Dann wieder hinauf zum Grat. Der Sturm greift erneut nach mir, als wolle er mich in die Nordwand hinab schleudern. Mit allen Reserven stemme ich mich gegen den Druck des Windes. Hundemüde, aber ja nicht beim Gehen schläfrig werden! Beinahe hätte ich das Gleichgewicht verloren, denn meine Füße sind noch gefühllos. Zwei bis drei Schritte erfordern zehn bis zwanzig Atemzüge, man könnte meinen, ich steige bergan, statt berab. Total erledigt! Nur nicht rasten!
Einmal rutscht mir der Eispickel aus der Hand. Er schlägt nur zwei Meter zur Seite, eine unüberwindbare Entfernung, denke ich, denn diese zwei Meter bringen mich an den Rand der Verzweiflung. Plötzlich ist mein rechtes Steigeisen weg. Der Binderiemen ist gerissen. Macht nichts! In Trance, von Resignation umklammert, steige ich abwärts, ohne weiter darüber nachzudenken. Scheißegalphase! Es ist mir jetzt gleichgültig, wohin mein instinktives Gehen mich führt. Wie, das weiß ich nicht, aber irgendwie, mit einer gehörigen Portion Glück erreiche ich schließlich, es mag wohl Nachmittag sein, den Ausstieg am Gletscher.
Nun beginnt der Kampf von Neuem: Nur Schnee gibt es hier, Schnee, Schnee, nichts als Schnee und keine Orientierung mehr! Ich glaube, ich habe keine Kraft mehr! Noch nie war ich so nahe an der Todeszone, wie jetzt! Paradox, die gibt es doch nur im Himalaya! Oder doch nicht? Die letzten Meter Grat, dann der Bergschrund. Ich wühle mich durch den Schnee. Wenn ich den Wind im Rücken habe, geht es leidlich. Doch wenn er von vorne bläst, heißt es liegen bleiben, bis er sich wieder dreht.
Achthundert Meter tiefer bin ich bereits, das erzählt mir mein Höhenmesser, doch hundertfünfzig Höhenmeter liegen noch vor mir, dazu den kilometerlangen Weg über den Gletscher, der jetzt eine Flut von Neuschnee birgt. Nur weiter, mich nur jetzt nicht aufhalten, sonst kommt erneut die Nacht, nur diesmal auf dem schutzlosen Gletscher. Mühsam stapfe ich die letzten auslaufenden Felsen des Grates entlang. Ich sehe keinen Anfang und kein Ende dieses Weges durch das Grauen. Kälte, Müdigkeit und Erschöpfung greifen nach mir. Aber immer ist da eine Stimme, die mich weitertreibt, wenn ich mich teilnahmslos in den Schnee fallen lassen will:
"Auf! Nicht hinsetzen! Nicht einschlafen, es wäre der letzte Schlaf, Frank!"
Dann geht es schon wieder. Müde. Zum Umfallen müde! Weiter, nicht ausruhen, es muss gehen! Bis zu den Hüften versinke ich teilweise im Neuschnee. Das ist kein Gehen mehr, auch kein Sichdurchschieben. Was ich hier leisten soll, kann man nur mit dem Umsichschlagen eines Ertrinkenden vergleichen. Und wenn es nicht bergab ginge, würde ich es wohl nicht mehr schaffen. Ich fühle mich verlassen und in die tiefste Hölle versetzt. "Hilfe!" Ich rufe, schreie Janines Namen in den Wind, doch es hört mich niemand. Zu laut orgelt der Sturm in den Wänden und Eisbrüchen. Was ist schon eine Menschenstimme, wenn die Becca in den ewigen Eisschlünden des Dent Blanche brüllt?
Nur noch irgendein letzter Selbsterhaltungstrieb reißt mich immer wieder hoch. Mit beinahe letzter Kraft schleppe ich mich über den Moränenwall auf die tief verschneite Almwiese, auf der mein schützendes Biwakzelt steht. Gleichzeitig greifen Fieber und Schüttelfrost nach mir. Aus. Ich bin am Ende! Ich kann nicht mehr und will auch nicht mehr! Da taucht unverhofft mein Kuppelzelt schemenhaft aus dem grauen Treiben auf. Angesichts dieser kleinen Sicherheit lasse ich mich vollends gehen. Die letzten Meter rutsche ich auf Händen und Knien, aufrecht zu gehen, dazu habe ich nun keine Kraft mehr. Aber da ist das Zelt, keine Hallizunation, sondern wahrhaft mein geliebtes, kleines Zelt! Fast reiße ich die Eingangsplane entzwei, so falle ich in mein rettendes Biwak.
Wie ich bin, mit Eis überkrustet, die Haare gefroren, Hände und Gesicht aufgerissen, so krieche ich in den Schlafsack. Jeder einzelne Knochen in mir schmerzt und trotz des sehr guten Schlafsacks friere ich erbärmlich. Draußen fällt der Sturm wie ein wildes Tier über mein kleines Zelt her. Hitzewllen wechseln mit Schüttelfrost. Die Augen brennen, mein Körper im Schlafsack aber ist vor Kälte starr. Wenn Janine jetzt bei mir wäre, wenn ich nur jetzt nicht allein wäre! Doch nur Schnee und Eis sind bei mir, kein Leben!

Morgen. Ich stecke den Kopf aus dem Zelt und bin erstaunt über das, was ich erblicke: Ein Teppich sattgrüner Matten liegt vor mir, kleine bunte Blumen lugen unter vereinzelten Schneeflecken hervor, die in der grellen Sonne lustig funkeln, als hätte ich das Eiszeitszenario nur geträumt. Dazwischen ziehen glitzernde Schmelzwasserrinnsale hindurch, akustisch begleitet vom Krächzen einiger vorwitziger Alpendohlen. Über allem steht gleißend weiß und überwältigend schön die stolze Flanke des Dent Blanche im frischen Schneekleid. Er hat sich wieder beruhigt, mein Schicksalsberg, wohl, weil er auch diesen Kampf als Sieger bestritten hat.
 
 
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