Berge zur Selbsterkenntnis
 
Im Sog des Viertausender- Rauschs (Oktober 1983)
 
inen prächtigen Alpensommer habe ich in diesem Jahr hinter mich bringen, respektive erleben dürfen: Zehn Viertausender und fünf Dreitausender! Und das mit nur einem Sommerurlaub, dazu noch die meisten Gipfel im Alleingang, meine Rekordleistung! Niemals hätte ich das zu Jahresbeginn auch nur für möglich gehalten. Eigentlich war ich gar nicht genug konditioniert für eine solche Leistung. Die Erinnerungen an Janine hatten mich so ziemlich an den Rand meines eigenen Zerfalls gebracht. Depressionen, Selbstvernichtungsgedanken und Unmengen von Alkohol hatten mich fast besiegt.
Aber kaum wieder mit Peter in meine Berge zurückgekehrt, hatte ich mich selbst einer harten Prüfung unterzogen. Die Aussicht auf die hohen bergsteigerischen Anforderungen hatten als Notwendigkeit genügt. MeineKondition war vor unserem Aufbruch in die abenteuerliche Ursprünglichkeit fast auf dem Nullpunkt angelangt, ebenso, wie mein seelischer Zustand. Da ist eben immer noch Janine. Vergessen kann ich sie einfach nicht, wenngleich auch Peter seit Wochen ständig bemüht ist, mich zu fordern und abzulenken. Doch ich weiß genau, dass selbst die härtesten Touren nicht das Feuer löschen können, das so tief und heiß in mir brennt. Es ist für Andere einfach zu sagen: Sie ist tot, fange nun ein neues Leben an! So einfach ist das nicht. So lange Janines Erinnerung immer noch derart stark in mir wohnt, fällt es mir schwer, mich überhaupt wieder auf eine andere Frau einzulassen, selbst wenn sie sich mir an den Hals werfen würde. Janine hat etwas in mir hinterlassen, das ich nicht mehr los werde und ich weiß auch gar nicht, ob ich das überhaupt will. Irgendwo läuft mir ein schönes Mädchen über den Weg, das mir mit seiner vielleicht auch nur entfernten Ähnlichkeit zu Janine einen neuen Erinnerungsschock versetzt. In irgendeiner Zeitschrift lese ich das Wort "Janine" und schon schlägt meine Stimmung schlagartig in Depression um. Irgendetwas wird mich immer an sie erinnern, jeden Tag, jede Stunde, in vielzähligen Situationen. Mein Inneres kann sich dem nicht wiedersetzen, mein Geist kann sich Janines immer lebendigem Bild nicht entziehen, nicht einmal durch eine Tour auf einen Viertausender mit meinem Freund. Peter glaubt, mich durch seine angeregten Hochtouren kuriert zu haben. Er kann ja nicht sehen, wie es in mir ausschaut.
Vielleicht hatten unsere Ausbrüche in die Extreme, in die Einsamkeit, in Schnee, Fels und Eis sogar gegenteilige Wirkung. Vielleicht haben all diese Touren mein Sehnsuchtsgefühl zu Janine noch verstärkt? Und unsere diesjährig wahrscheinlich letzte Bergtour wird an meinem derzeitigen psychischen Ungleichgewicht wohl auch nicht mehr viel ändern, allenfalls wird mich die Route für ein par Stunden ablenken, wie die vorangegangenen Viertausender- Trips in diesem Jahr auch.
Diese letzte, von uns geplante Tour für diesen Sommer, für die diesjährige Saison, soll uns über den Nordostgrat, einem heiklen Firngrat auf das 4195 Meter hohe Aletschhorn entführen, und sollte uns das Wetter freundlich gesinnt sein, in Verbindung mit dem 3810,7 Meter hohen Dreieckhorn- Gipfel.
Das Aletschhorn hatte mich schon 1979 bei der Betrachtung vom Eggishorn aus stark fasziniert. Und vieles hatte ich seither über disen Softie- Viertausender erfahren: Der weiße Riese, so betiteln Viele diesen Berg, obgleich ich persönlich der Ansicht bin, dass diese Bezeichnung wohl eher einem Liskamm, Mont Blanc oder Dent Hérens zukommt, als dem zahmen Aletschhorn. Ich will die Erscheinung dieses Berges aber auch nicht schmälern. Es gibt sicher größere und höhere Berge als ihn, dennoch, immerhin ist das Aletschhorn, seine Umgebung sichtlich überspielend, der zweithöchste Hauptgipfel der Berner Alpen. In vier Ansichten läßt dieser Berg seine plastische Betrachtung zu: Einer gigantischen Insel gleich erhebt sich der majestätische Berg über seine riesigen Gletscherbecken. Er nährt drei Eisströme, die zu den mächtigsten der Alpen gehören und seinen Namen tragen: Ober- und Mittelaletschgletscher, sowie großer Aletschfirn, ab dem Konkordiaplatz Großer Aletschgletscher genannt. Diese Gletscher werden getrennt durch drei Gratarme, welche der Gipfel des Aletschhorns sternförmig aussendet.
Nordseitig bedeckt ein Eismantel den Berg bis zur Spitze, während der felsige Unterbau naturgemäß an der Südseite mehr zu Tage tritt. Vom Vorgipfel, dem Ende des Nordostgrates, blickt man leicht erschaudernd in die Eis zerborstene Nordwand. Von Norden also präsentiert sich der Berg zwischen Lötschenlücke und Konkordiaplatz in voll ausladender Schwere, dunkle Schatten über die strenge Polarszenerie des großen Aletschfirns werfend: Eintausend Meter hoch aufgetürmte Eismassen, gestützt von düsteren Felspfeilern.
Auf der Südseite bietet sich eine ähnliche Landschaft dar, doch nicht ganz so beeindruckend. Dort greifen Mittelaletsch- und Oberaletschgletscher hinauf, bis hoch zu den Ausläufern felsiger Grate. Ob es nun die eisgepanzerte Nordwand ist, oder die felsige Südostflanke, von jeder Seite ist das Aletschhorn ein imposanter und durchaus ernst zu nehmender Berg. Wer ihn besteigen will, muss die Bequemlichkeiten und Sicherheiten der Zivilisation weit hinter sich lassen und einen je nach Wetterlage und Verhältnissen mehrere Stunden langen Gletscheranstieg in Kauf nehmen. Für eine Durchsteigung der Nordeisflanke bietet sich als relativ sichere Route die sogenannte Haslerrippe an. Wer auf dem gut gestuften Fels der Rippe diese siebenhundert Meter in teilweise beachtlicher Luftigkeit zwischen den Séraczonen gerade hinaufsteigt zum Gratdach und zum Gipfelgrat, der spürt etwas vom Hauch der alpinen Giganten. Weil man hier tunlichst schon früh unterwegs sein sollte, findet man gewöhnlich festen Firn vor, anders als beim Abstieg über die Südwestseite. Nämlicher Abstieg vollzieht sich zumeist in der Nachmittagssonne, am Gipfelaufbau in brüchigem Gneis.

Peter meint: "Es ist eine kaputte Welt, aus der wir aufbrechen. Lärm, Hetze und Abgase!"
Zuletzt wird uns dies an der Dorfstraße in Fiesch bewusst, wo der gesamte Verkehr von Brig und Visp über die Pässe und ins benachbarte Bündner Land durchrollt. Wir hetzen auch schon wieder, Märjelen entgegen, wo es hoffentlich keine Hetzerei mehr geben wird, keine Autos, keine Menschen außer uns, nur noch bewusstes, ruhiges Steigen. Aber kann Ruhe mich von meinen Gedanken an Janine trennen? Ist die freidliche Stille dort oben genug Ablenkung?
Peter hat mich wohl eine Weile beobachtet und fragt fast vorwurfsvoll: "Denkst du schon wieder an sie?"
Wir sind schnell auf der Seitenmoräne. Dort führt der Pfad zum Einstieg auf fast tausend Meter dickes Eis! Nun sieht es tatsächlich so aus, als hätten wir diese kaputte Welt aus stressiger Arbeit und depressiver Erinnerung an das, was mir das Wertvollste im Leben war, endgültig verlassen. Wir steigen jetzt auf die große, aus der Ferne lockenden, gleichmäßig abgedachte, schmutziggraue Eismasse zu, die unter schmutziggrau lastenden Wolkenbänken das weite Haupttal füllt. Wie soll ich hier, im ewigen Weiß, das heute wie das ewige Grau aussieht, meine Erinnerungen an Sonnentage und ein fröhliches Frauenlachen verdrängen? Mit Taten? Mit Wahnsinns- Aufstiegen? Mit Viertausender- Räuschen? Es ist eben eine rauhe, kalte Welt, in der die Horizontale vorherrscht, mit einem Hauch von Antarktis und Eiszeitalter. Aber brauche ich momentan nicht viel mehr Wärme, Geselligkeit und Liebe, als das Sammeln von Viertausender- Bergen?
Wir betreten den Gletscher an einer Stelle, an der die Eismassen zerrissen sind und ihre Oberflächen wie die Wogen eines aufgewühlten und plötzlich erstarrten Ozeans, Kämme und Täler zeigen. Das ist der Aletschgletscher! Verkörperung fiktiver Urwelt schlechthin: Vierundzwanzig Kilometer lang, von der Stufe oberhalb der Massaschlucht, in Höhe des berühmten Aletschwaldes, 1520 Meter, hinauf zum obersten Jungfraufirn. Größte Breite 3800 Meter. Flächenausmaß 86.000 Quadratmeter! Genährt aus dem großen Aletschfirn, dem Jungfraufirn, dem Ewigschneefeld und dem Grüneggfirn. Treffpunkt der Eisströme ist der Konkordiaplatz, in 2800 Meter Höhe konkordiert zu Europas längstem, breitestem und dickstem Gletscher, seine Panzerung fast neunhundert Meter stark im Maximum und fünfhundert Meter an den Randklüften. Fünfundfünfzig Zentimeter am Tag fließend, zweihundert Meter im Jahr! Vier bis fünf Meter Firnzuwachs pro Jahr, doch in den letzten fünfzig Jahren fünfhundert Meter an Länge verloren. Ist auch hier die Welt schon kaputt?
Wir balancieren über Eisgrate, überspringen Spalten und Rinnsale, die hier und da gluckernd im Eis verschwinden und vermeiden Altschneereste zugunsten des körnigen Gletschereises, bei dem wir wissen, wo die Spaltenränder beginnen, wie tief die Klüfte sind und welche Form sie besitzen. Wieder voll drin, im Viertausender- Rausch! Wir haben unsere Steigeisen angelegt, können präzise ehen, wo wir hintreten, dürfen und können präzise hintreten, wo das feste Eis ist. Die genau erkennbare Gefahr sollte keine mehr sein! Und selbst, wenn wir unsere Führe einmal ein wenig riskanter wählen, über einen schmalen Eisgrat zwischen zwei Spalten etwa, oder auch, wenn wir später gelegentlich Spaltenbrücken aus Altschnee überschreiten, so wissen wir doch sofort nach dem heiklen Moment, dass die Gefahr vorüber ist und wir wieder aufatmen können.
Ob Janine mir jetzt wohl zusehen kann, von dort, wo sie jetzt ist? Sie sagte mir zum Abschied, der der längste meines Lebens geworden war, wir sehen uns wieder, drüben! Ob sie von diesem Drüben erkennen kann, dass meine Liebe immer noch nur für sie brennt? Es lässt mich aber auch der Gedanke nicht mehr in Ruhe, dass sie vielleicht meine Hilfe braucht, dort, wo sie jetzt ist. In die Brüder Löwenherz, ein Märchen, das ich als Kind liebte, heißt Drüben Nangijala. Dort war auch nicht alles nur schön und perfekt. Oft hege ich den Gedanken, Janine einfach in diese Welt Drüben zu folgen. Die Vernunft aber läßt mich hier in dieser kalten, einsamen Welt ohne Liebe zurück. Ich lerne, dass eine Liebe nicht einfach aufhört, obwohl der Partner nicht mehr unter den Lebenden weilt. Solche Gedanken beschäftigen mich augenblicklich intensiver, als gut für mich ist.
Wir steigen über den sich sanft aufwärts neigenden Gletscher und haben viel Zeit für Gedanken. Zu viel Zeit! Was mag Peter denken? Wie ist wohl seine wahre Meinung über seinen Kameraden, der sich selbst das Leben zur Hölle macht, weil er immer noch um seine Liebe trauert?
Nur gelegentlich wird unsere Aufmerksamkeit gefordert, durch eine Spalte, oder einen Gletscherbach, oder einen Eissumpf. Nach der ersten Spaltenzone haben wir die Steigeisen wieder abgelegt. Das körnige, von Taulöchern zerfressene Eis knirscht unter unseren Sohlen. Wir folgen einer Mittelmoräne, wenig ausgeprägt, einem flachen Wall von Gesteinstrümmern, der nach den Seiten hin ausfasert in eine lockere Steinstreu und erst aus der Ferne betrachtet, die elegant geschwungenen Längsstreifen des Eisstroms ergibt. Auch die hauchdünn und grazil wirkenden Ringe des Saturns beispielsweise, werden sich, aus der Nähe gesehen, in eine Schar von unzähligen Trümmern und Asteroiden auflösen.
Wir steigen ganz bequem, fast trödelig und gegen Abend klettern wir die einzementierten Eisenleitern zu den Konkordiahütten empor. Wir beraten uns über das Wetter und beschießen, morgen zwar das Aletschhorn zu versuchen, allerdings nur über den Nordnordwestgrat. Den Abstieg über das Dreieckhorn schminken wir uns wegen des Neuschnees oberhalb der 3200 Meter- Grenze ab. Das ist realistischer. Zehn Viertausender- Gipfel in einem Sommer sind schon Ehrgeiz genug, noch zusätzlich außergewöhnliche Gefahren zu riskieren, wäre Dummheit und glatter Selbstmord, Viertausender- Rausch hin, Viertausender- Rausch her!

Morgen. Als mein Taschenwecker uns hochscheucht, ist der Himmel verhangen, doch gelegentlich schimmert ein Stern durch die Wolkendecke und ermuntert uns zu einem Versuch. Etwas verspätet steigen wir schließlich los, zunächst flott im Gipfelrausch, später langsamer. Irgendwann bricht die Morgensonne durch und weckt die Firnkristalle zu atemberaubendem Geglitzer.
Wir haben allerhand Mühe, uns im steilen Firn höher zu schaffen. Am Firnsattel zwischen dem Klein Aletschhorn und seinem großen Bruder enden die Spuren der Berggänger, die vor uns da waren und wir beginnen die Wühlerei des Spurens über den Nordnordwest- Firnpfeiler, später, in noch tieferem Schnee, teils windverblasen, am Westnordwestgrat.
Das Aletschhorn steht nun gewaltig vor einem tiefblauen Himmel und überragt die meisten der herumwirbelnden Wolken mit seinem gleißenden Gipfel. Er sieht ungemein majestätisch und verlockend aus. Wir sind sichtlich überwältigt vom Viertausender- Rausch, hasten in heroischem Überschwang aufwärts, als gäbe es den Berg eine Stunde später schon nicht mehr. Mitreißende Gefühle ziehen uns hinauf...
Als wir schließlich gegen Mittag auf dem Gipfel des Aletschhorns sitzen, überkommt mich wieder das flaue Gefühl im Magen, das das gelebte Abenteuer hinterläßt. Gesättigte Zufriedenheit, das Gefühl, es geschafft zu haben, daraus geborene Sehnsucht nach Wärme, Geborgenheit, eben nach Unten! Nichts bleibt mehr vom Viertausender- Rausch. Bis morgen!?
Ich sehe auf die Uhr und denke an den jetzt zum Matsch angetauten Oberflächenfirn. Also wieder hinunter! Das Absteigen im Patschfirn ist heikel und in der prallen Sonne nicht gerade angenehm und der Abstieg ist noch lang. Erst in der sich verabschiedenden Sonne, die diese ausgesetzte Eislandschaft mit flüssigem Gold übergießt, erreichen wir wieder die Hütten.
In der Nacht brechen zwei Seilschaften auf, um den einstweilen wohl letzten Schönwettertag für eine Besteigung des Groß Grünhorns zu nutzen. Ich täte das gern auch noch, doch Peter hat sich von seinen neuen Bergschuhen eine dicke Marschblase unter die Fußsohlen gelaufen und will nach Fiesch absteigen. In kameradschaftlicher Solidarität entscheide ich mich auch dafür. Außerdem ist der von uns geplante Rückweg über die Grünhornlücke auch noch eine beachtliche Tour nach der Tour und so richtig geht uns diese Tatsache erst auf, als wir den in der Hütte ausliegenden SAC- Clubführer etwas genauer studieren... Nach der noch recht beschaulichen Wanderung über den längsten Gletscher der Alpen, werden am Zweitlängsten jetzt ganz andere Saiten aufgezogen!
Wir nehmen Abschied vom blauen Himmel und vom diesjährigen, herrlichen Sommer und tauchen in Erinnerung schwelgend ein, in das Wolkenmeer. Es ist, als verlasse ich die glückliche Seite des Lebens und tauche hinab in eine depressive, nüchterne, düstere und hoffnungslose Welt. Obwohl erst Oktober ist, glaube ich Abschied zu nehmen, schon vom ganzen Jahr.
Beim Queren des im dichten Nebel liegenden Eisstroms erleben wir seine Breite eindringlicher, als wenn es klar wäre. Wir orientieren uns an den Schmelzwasserrinnsalen und der sehr selten schemenhaft durch das Grau schimmernden Sonne und gelangen so an das andere Gletscherufer, ohne mit der Tiefe einer der vielen Spalten unfreundliche Bekanntschaft zu machen. Doch schon sehr schnell sehnen wir uns zurück auf die noch in der goldenen Oktobersonne liegenden Gipfel der Viertausender. Aber unser Zwischenurlaub geht unaufhaltsam zu Ende. Die bergsteigerische Motivation, der Viertausender- Rausch, auch sie verfliegen damit langsam und machen einem Gefühl der bohrenden Wehmut platz.
Nach dem Durchstieg der Wolkenuntergrenze dehnt sich vor uns im trüben Grau ein Labyrinth von schmutzigen Eistürmen. Wollte man diesen Gletscher nur auf dem Eis absteigen, so würde das Vorhaben Tage in Anspruch nehmen. Wir halten uns daher am Rand, weichen ab und zu auf das felsige Ufer aus, gehen dann wieder mit Steigeisen über das feste Eis.
Einmal eine Sensation im eintönigen Grau: Menschen. Andere Beggänger in dieser Gletscherwildnis! Gibt es also tatsächlich noch andere Verrückte außer uns!? Zwei Seilschaften kommen uns entgegen, und auch sie sind schon sichtlich seit vielen Stunden unterwegs. Bald werden sie wieder kleiner, geraten außer Sicht. Und weiter latschen wir über knirschendes Eis und Schutt und schimmernde Rinnsale. Die Schuttauflage wird immer dichter, richtig unappetitlicher, grauer Matsch ist es oft. Nur gut, dass sich Peters Marschblasen mit der eintönigen Bewegung abfinden.
Von einer Steilstufenwand werden wir in eine steile Gletscherschlucht gedrängt. Da hängen mit Eisschrauben befestigte Fixseile als Hilfe und wir benutzen sie mit Dankbarkeit. Unter unseren schweren Rucksäcken gestaltet sich die windige Sache noch kiebig genug, obwohl die ganze Anlage intakt erscheint. Doch wer will ihre Zuverlässigkeit schon gerne austesten? Wir sind heilfroh, als wir die begraste Steilwiese hinter dem Gletschereis erreichen. An verblühten Alpenrosen vorbei folgen wir schütteren Steigspuren, nun hoch über dem Eistrümmerchaos des Gletschers, aber im klaren Bewusstsein, dass das Ausbrechen eines Graspolsters oder ein Stolpern auch hier noch einen tödlichen Sturz bedeuten können, ebenso wie beim Abstieg über den steilen Moränenhang, als wir die Steigspuren wieder verloren haben.
Nochmal auf den Gletscher. Begraben unter Schutt liegt er da und es braucht schon viel Phantasie, um zu glauben, dass unter uns Eis ist. Nur hier und dort wird an einer Spalte etwas kalt Glitzerndes sichtbar. Und der Schutt ist labil. Durch die Schmelzvorgänge sackt er immer wieder in sich zusammen, ächzt auch mal, wie ein leidendes Riesenmonster.
Es ist schon Nachmittag, als wir die Gletscherzunge passieren und einen Schwarm von Strahlgängern beobachten, der sich drüben am Risihorn die Fingernägel aufarbeitet, mit Hingabe! Ein ganz anderes Spiel und sicher erträglicher als das unsere. Unter dem nachhaltigen Eindruck unserer bewältigten Rundtour, unseres gemachten Viertausenders und den beiden gewaltigsten Gletschern der Alpen, habe ich nur ein bedauerndes Lächeln für die im Fels Pickenden übrig. Wir haben die Sonne gesehen! So gutes Wetter mit solchem Pedantenkram zu vertun! Aber wer sagt eigentlich, dass sie immer nur im Gestein herumhacken?
Abends, zwischen Wachen und Schlafen, freue ich mich noch einmal über diese sonnenbeschienene, urzeitliche Landschaft, die wir erleben durften, obwohl vielleicht, gerade zu dieser Stunde Janine drüben auf mich wartet. Es fällt mir schwer, mit solchen Gedanken ruhig einzuschlafen. Andererseits... Wäre es denn so heldenhaft, darüber wirklich ruhig einschlafen zu können und sie einfach zu vergessen?
Jede Tour setzt sich aus einer Aneinanderreihung von vielen Details zusammen, die erst in ihrem gegenseitigen Verhältnis wieder einen Gesamteindruck vermitteln. Das ist eigentlich nichts Außergewöhnliches, etwas, das sich im täglichen Leben immer wieder abspielt, sich tausendfach wiederholt. Eine Tour kann aus grandiosen Eindrücken bestehen, aber es kann auch genauso gut sein, dass Einzelheiten eine derart große Bedeutung gewinnen, dass sie alles andere verdunkeln, wie zum Beispiel eine Lawine, die Kameraden tötet, ein Schneesturm, der mich an den Rand meiner Selbstaufgabe treibt, oder ständige Gedanken an meine von der Leukämie besiegten Janine.
 
 
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