Berge zur Selbsterkenntnis
 
Eine lächerlich leichte Eistour (Juli 1985)
 
iegfried kommt erst am Abend vom Dienst seiner Heliflugbasis, aber das Wetter strahlt und ich platze fast vor Auftrieb. Da gehen wir morgen früh hinüber nach Schönbiel und machen gleich die Dent Hérens Nordflanke! Irgendwann muss ich meine diesjährige Eroberung der Walliser Berge ja mal angehen lassen! Schließlich ist es ja nur eine lächerlich leichte Eiswand. Das glaube ich jedenfalls. Oder sollte an meiner Einschätzung etwas falsch sein?
Schon etwas ernüchtert und kurzatmig schnaufen wir am nächsten Morgen die rohe Steinplattentreppe zur Schönbielhütte hinauf. Wir deponieren unsere Schlafsäcke und zotteln gleich wieder weiter, jedoch nicht ohne etwas abwertende Seitenblicke auf zwei diplomierte Führer aus dem Glarus samt Klienten zu werfen, die sich erst einmal den hier feil gebotenen Flüssigkeiten widmen. Das sind wohl mehr Kneipenbergsteiger!
Meine Erwartungen von der hehren Landschaft Zermatts werden erst einmal von der Wirklichkeit enttäuscht. Der Gletscher unterhalb der Hütte bietet sich als Müllkippe dar. Der auf den Postkarten in Zermatts Souvenierboutiquen doch recht ansehnliche, unberührt daliegende Zmuttgletscher ist durch diverse Abfälle zu einem bunten Dreckhaufen degradiert. Schotterbedeckt liegt er da, dazwischen Staniol hier, etwas Plastik und Karton dort, leere Dosen und Flaschen reichlich.
Wir flüchten auf den Tiefmattengletscher, wo die Zivilisationserscheinungen allmählich abnehmen. Als ich dann die Eiswandführe zum ersten Mal aus der Nähe erblicke, verrät mir die Kleinheit einiger staubähnlicher Figuren auf dem Gletscher, dass diese Wand so lächerlich leicht gar nicht sein kann. Der Gedanke an "und was machen wir hinterher, heute Nachmittag?" verflüchtigt sich rasch. Unverdrossen gehen wir jedoch weiter, um das gute Wetter und unsere bereits erklommene Investition in den Aufstieg zu nutzen. Und um dem gar nicht so lächerlichen Eiswändchen auf den Pelz zu rücken, bis hinauf auf den Gipfel des Dent Hérens. Ein Gipfel mit fürstlicher Aussicht, als markannteste Figur in der Szenerie das Matterhorn in ungewohnter Perspektive. Gegenüber dem "Hörnli" schlummert der Dent Hérens im Dornröschenschlaf. Er kommt einfach nicht gegen das Matterhorn in seiner Nachbarschaft an. Ich habe allerdings noch niemanden gehört, der sein Vorhaben bereut hätte, wenn er oben hockte auf dem schmalen Gipfelgrat, unter sich die schaurige Nordeiswand.
Der Dent d' Hérens hat sich Stille bewahrt. Kein Anstehen, Warten und Drängeln am Einstieg und an schwierigen Passagen, weder Unruhe, noch hetzende Eile, wie am Allerweltsberg, am Non plus Ultra der Alpen, dem Monte Cervino, wie die Italiener ihn nennen. Dafür hier am Dent Hérens einsames Erleben auf scheinbar himmelsnaher Bühne. Wir erwischen auch gleich eine Führe, die uns ohne Komplikationen über den noch hart gefrorenen Gletscher zum Wandfuß leitet. Das Anlegen unserer Steigeisen nach schweißtreibendem Spurt kühlt dann zumindest unsere Finger etwas ab. Von hier unten sieht die Wand wieder ganz klein, niedlich und lächerlich leicht aus. Neben der Erinnerung an den Anblick aus der Ferne gibt mir jedoch jetzt zusätzlich die graue Farbschattierung in der Flanke zu denken:
"Ist das alles richtiges, festes Eis?" Ich sehe Siegfried fragend an.
Die beiden Führergruppen haben uns fast eingeholt, trotz oder gerade wegen der konsumierten Getränke? Wir steigen ein. Die Randkluft bereitet keine Schwierigkeiten, aber das graue Zeug, vorhin aus der Entfernung erahnt, ist Eis! Blankeis, gleich vom ersten Meter an! Oberflächig ist es morsch und splittrig, aber nur wenig tiefer elend hart. Unsere für das "lächerlich leichte Wändchen" nicht extra nachgeschliffenen Steigeisen fassen nur schlecht. Also schlagen wir Kerben und Standstufen. Und am Stand versuchen wir lehrbuchmäßig unsere Eisschrauben, entsprungen aus neuester Entwicklungsforschung, in das Eis zu drehen, was aber durch die entstehende Sprengwirkung nur zur Herstellung konischer Löcher im Eis führt. Zum Glück haben wir auch noch einige von Siegfrieds alten, herkömmlichen Eishaken mit, die sich reinwuchten lassen, und die der jeweilig Zweite am Seil dann wieder mühsam herauspickeln muss. Diese mit Ungeduld betriebene Tätigkeit bietet den nachkommenden Führerpartien bald Gelegenheit zum Aufholen. Sie sparen sich Eishaken und hacken dafür behende eine Klettertreppe. Ob nun wegen ihrer sechszackigen Steigeisen, oder wegen ihrer Klienten, oder der gesparten Eishaken wegen, oder aus allen drei Gründen, ist uns nicht so recht klar. Klar dagegen ist, dass wir uns daran zu gewöhnen haben, von jetzt an von einem kontinuierlichen Strom aus Eisstückchen überschüttet zu werden.
Inzwischen büße ich mit Kopfschmerzen für die Hast unseres Aufbruchs und die fehlende Akklimatisation. So lassen wir die beiden Führergruppen kampflos vorbei, allerdings nicht ohne den spitzfindigen Hintergedanken, uns ja dann ihrer Kerbentreppe bedienen zu können. Aber dafür den Beschuss mit Eisgrieseln hinnehmen? Schließlich trage ich nur meinen alten Lederhut.
Nun ereilt mich halt die zwangsläufige Strafe, denn eigentlich geht man nicht ungestraft erst am Vormittag durch eine Nordeisflanke auf einen Viertausender, als hätte man den Firnrücken eines Zweieinhalbtausenders vor sich. Unter der obersten Eisschicht beginnen Wässerchen zu rinnen. Die ohnehin zerlatschten und mit herabgerieselten Eisstücken gefüllten Stufen der Vorgänger füllen sich zudem noch mit Schneepatsch und Wasser. Zuerst werden Handschuhe und Stiefel nass, bald auch Gamaschen, Strümpfe, Ärmel, Hosenbeine... Einfach alles!
Im Hängegletscherband auf den Séracbalkonen schließen wir zu den rastenden Vorgängern auf. Sie bieten Siegfried eine überzählige Eishaue an, weil sein Gehacke mit dem langstieligen Pickel wohl ihr Mitleid erregt. Oder wollen sie uns mit diesem Gerät indirekt zu noch mehr Hacken animieren? Das Beil ist nämlich kurz und ohne Zahnspitzen und scheint eben ausnahmslos zum Hacken geeignet. Aber ohne Stufen trauen wir uns ohnehin nicht höher hinauf über die jetzt so monumental anmutende Eiswand. Dumm ist allerdings, dass wir im Hacken nicht so geübt sind, wie offensichtlich die diplomierten Bergführer. Auch ist die Haue des angebotenen Geräts nicht angebunden, weil ein Sicherungsloch nicht vorhanden ist. Und wir wollen doch nicht so unhöflich sein, es zu verlieren, obwohl das bei einem Sturz eigentlich auch den Vorteil bieten müsste, dass es über die Séracs saust, anstatt vielleicht in meinen Bauch.
So beginnt Siegfried denn wieder zu hacken, wie gehabt mit seinem Eispickel, was aber immerhin die Annehmlichkeit in sich birgt, die Stufen gleich frisch benutzen zu können, bevor sie von oben wieder verschüttet sind. Beim Nachsteigen überschüttet mich aus einer seitlich mündenden Rinne ein Schneerutsch mit feinem Pulver. Die Sonnenbrille verstopft und die Stufen sind wieder weg. Von oben versucht mir Siegfried zu erzählen, er hätte gerade eine kleine Lawine gesehen...
Und so geht es mit Mühe weiter. Der Eispickel rutscht auf dem harten, mit Tauwasser überspülten Eis, die Stufen verschütten fast schneller, als Siegfried sie schlägt und das alles macht unser Höherkommen nicht flotter, was wiederum dem Tag Zeit gibt, zu vergehen.
Regen und Sonne haben in den letzten Tagen im oberen Gletscherbandteil einige Spalten auf den Séracbalkonen sichtbar werden lassen. Wir kümmern uns nicht darum, haben mehr damit zu tun, die Stufen zu schlagen und Eissplitter aus ihnen zu kratzen, um sie begehen zu können. Bislang spurte Siegfried über die Eisbalkone der Wand, nun ist die Reihe an mir. Das Gelände wird wieder etwas steiler und ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass Siegfried mich nun die Schwerstarbeit machen lässt. Gelegentlich auftretende Spalten sind jedoch leicht zu übersteigen, da sie nicht sehr breit klaffen. Wieder will ich eine übergehen. Die Spaltenränder erscheinen mir indes plötzlich zu brüchig und nach kurzer Überlegung entscheide ich mich, weiter links zu gehen, wo alles mehr eben ist. Siegfried hat inzwischen zu mir aufgeholt und wartet. Ich mache einen großen Schritt und registriere erstaunt, dass ich mich abrutschend in eine noch verdeckte Gletscherspalte begebe. Wie in Zeitlupe, jedoch immer schneller werdend, gleitet grünblaues Eis an mir vorüber nach oben, während ich vorne und hinten anschlage. Ich fühle mich in eine andere Welt gerissen, hebe instinktiv die Arme vors Gesicht und denke nur noch an das Ende...
Als ich begreife, dass ich noch lebe, liege ich, Güte der Natur, auf einem schmalen Eisblock, rechts und links geht es noch weiter hinab in die Finsternis. Es muss wohl doch so etwas, wie einen Schutzengel geben, dass ich hier auf einem riesigen Klemmblock von eineinhalb Metern gelandet bin. Und das in einer Spalte, deren Tiefe ich nicht einmal abschätzen, geschweige denn sehen kann.
Ein Anflug von Panik erfasst mich, doch im wiederkehrenden Bewusstsein über das Geschehene begreife ich, dass mir jetzt nur nüchternes, wohlüberlegtes Handeln weiterhelfen kann. Das zerrupfte Seilende baumelt an mir herab, es muss an den scharfen Eiskanten beim Sturz aufgerissen sein. Unversehens sehe ich mich jedenfalls wieder aufs neue in das schon bekannte Spiel ums Überleben versetzt. Schmerzgefühl stellt sich ein, auch ein Triumphgefühl, eine winzige Chance genutzt zu haben. Ich hege wieder Wünsche und Hoffnungen und versuche mich darauf zu konzentrieren, wie ich hier wieder heraus komme. Seltsam. Oft hatte ich mir gewünscht, ein solches Ende zu finden. Doch nun, da ich am tiefsten unten bin, ist der Überlebenswunsch stärker als die Resignation.
Da ruft Siegfried nach mir. So laut ich kann, schreie ich meine Antwort hinauf und weiß, dass ich nicht mehr allein bin. Siegfried wird alles versuchen, um mich hier heraus zu holen. Glücklicherweise habe ich meine gesamte Ausrüstung behalten, wenn auch die Rucksackriemen arg aufgeschrammt sind. Es tropft von oben. Stärker, als bei einem Gewitterguß. Mit hallendem, klatschendem Geräusch wird die düstere Kulisse akustiert. Also ziehe ich erst einmal meinen Wollponcho über, doch selbst der ist bereits nach Sekunden durchnässt. Er wird schwer und lästig. Ein par Blutstropfen aus einer kleinen Platzwunde an meiner Stirn fallen auf meine hellblaue Jeans- Jacke und meine linke Hand schwillt etwas an. Sicher nur verstaucht, nichts Weltbewegendes. Weitere Versehrtheiten habe ich nicht, trotzdem brauche ich Ewigkeiten, bis ich Steigeisen und Klettergeschirr überprüft, nachgezurrt, gesichert und das Seil klariert habe. Hin und wieder prasseln kleine Eisbröckchen auf mich herab. Aber die stören mich nicht mehr, da ich weiß, dass sie von dort kommen, wo ich hin will.
Habe ich sie vorhin im monotonen Aufstieg noch lästerlich verflucht, so sind sie mir jetzt Boten aus der Welt des Lichts, nach dem ich mich aus der Dämmerung der Spalte sehne. Als Siegfried endlich ein neues Seil herunter lässt, bin ich auch gerade fertig und binde mich mit klammen Fingern ein. Den Rucksack binde ich ebenfalls am Seil fest. Siegfried scheint Hilfe gefunden zu haben, denn plötzlich werde ich von oben mit einer fremden Stimme angerufen. Während ich unten steifkalt klettere, wird oben kräftig gezogen und so erreiche ich relativ schnell wieder das Tageslicht. Ich erkenne auch sogleich die hilfreichen Mitretter: Die Kneipenbergsteiger!
Mit zittrigen Knien erfahre ich, dass ich etwa dreißig Meter tief gefallen bin, aber die Erkenntnis dessen wird mir erst viel später bewusst. Wieder einmal mehr hatte ich unverschämtes Glück gehabt. Langsam fange ich mich wieder. Und weiter gehts! Siegfried hält es für wichtig, jetzt nicht umzukehren und aufzugeben. Die bewusste Auseinandersetzung mit dieser negativen Erfahrung, indem ich dem Berg weiter die Stirn biete, hält er für das beste Rrezept. Ein Weglaufen würde sich sonst bei ähnlichen Situationen stets wiederholen und wäre nicht nur sehr unsportlich, sondern auch gefährlich.
Nach gut acht Stunden entsteigen wir schließlich vor Kälte schlotternd und um einige Erfahrungen über den Wert frühen Einsteigens in Eisnordwände reicher, dem lächerlich leichten Wändchen, das als Ziel zu erwägen ich mich am Abend zuvor fast geschämt hätte. Für den Rückweg zur Schönbielhütte benötigen wir zuletzt noch die Gürtellampen. Die wenigen Hüttengäste starren mich verstört an. Offenbar beeinträchtigt der Anblick meiner Lädiertheit ihre Vorfreude auf den Viereselgrat am Dent Blanche oder den Zmuttgrat am Matterhorn.
Wir haben Fehler gemacht. Fehler, die ich in Zukunft vermeiden will. Eines jedoch steht fest: Erfolg und glückliche Rückkehr sind uns niemals absolut sicher!
 
 
Zurück
Navigation

Home

                             
Startseite     Der Autor     Gedichte     Texte     Das Geheimnis     Kontakt
      Lebenslauf     Vorwort     Märchen     von Val Mentiér     Gästebuch
      Familie     Alte Literatur     Satire     Bildergalerie     E-Mail
      Treffen                 Burg Falméra     Impressum
      Ahnengalerie           Interview 1            
      Alte Karten           Interview 2