Berge zur Selbsterkenntnis
 
Zivilisations- Invasion (Juli 1985)
 
igentlich wollte ich nie wieder auf den "Berg der Berge" steigen, nachdem ich diese Tour über die Normalführe den Nordost- oder Hörnligrat, im Sommer 1980 mit Hans geklettert war. Viel zu hoch waren damals meine Erwartungen, die ich an das Matterhorn gestellt hatte, die es aber nicht erfüllte. Diese scheinbar heroisch- romantische Tour war damals, wie heute, eine Tortour gewesen. Weniger wegen der bergsteigertechnischen Schwierigkeiten, als denn wegen des Massenansturms auf diesen Berg. Dennoch bin ich noch zwei mal dort hinauf gestiegen, auf den Gipfel dieser eigenwillig geformten Pyramide: Einmal mit Peter und Siegfried und das andere Mal als Tourenleiter für ein kleines Zubrot zu meiner Urlaubskasse.
Wer bei Laien mit alpinen heldentaten Eindruck schinden will, muss auf das Horn steigen. Dessen Publizität ist kaum noch zu überbieten. Schließlich haben schon Generationen daran gearbeitet, sie zu verbreiten, angefangen bei Napoleon Bonaparte, über Horace Bénedict Sassure und Eduard Whymper, bis hin zu Luis Trencker und Walther Bonatti. Ganz zu schweigen von all den namenlosen Postkarten- Reiseprospekt- und Verpackungsproduzenten.
Aber was kann diese Riesenmase Stein schon dafür? Wir Menschen sind es, die ihr Bedeutung geben! Wer sich einmal auf das Bergsteigen eingelassen hat, aus welchem Grund auch immer, der wird sich früher oder später der Faszination dieser mäjestätischen Felsenpyramide nicht entziehen können. Spätestens, wenn er ihr gegenüber steht. Auch wer das Gedränge an einem so berühmten Berg verabscheut oder fürchtet, irgendwann wird ihm dieser Gipfel dennoch zum Ziel.
Nun steht dieser Berg in dem Ruf, durch brüchigen Fels unangenehm kletterbar zu sein. Dies gilt nach meiner Erfahrung von drei Aufstiegen aber nur teilweise am viel begangenen Hörnligrat. Denn hier ist die Route angenehm geschliffen und Risiken erwachsen eher aus einem Wettersturz, oder aus der Länge des Anstiegs und der daraus folgenden Ermüdung und Unachtsamkeit der Berggänger, als aus einer herausgebrochenen Sicherung.
Bei Schnee und Vereisung, verbunden mit schlechter Sicht auf den Führenverlauf, kann diese exponiert liegende Riesentreppe von Berg, einen Bergsteiger rasch an seine Grenze bringen. Und deshalb hat die oberhalb der Gratschulter an die Felsen geklebte Solvayhütte schon vielen Kameraden das Leben gerettet...
Nun stehe ich in diesem Jahr wieder einmal, diesmal mit zwei Tourengästen aus Deutschland, an dem Obelisken. Gestern in Zermatt angekommen, hatten wir uns sogleich auf den wenig erbaulichen Weg zum Horn gemacht...
Ausgemachter Treffpunkt war der Bahnhofskiosk in Täsch um 12.00 Uhr mittags. Ich stand bereits um 10.00 Uhr im Dunst des Massenparkplatzes am Bahnhof, ein Umstand, der meine Freude auf die geplante Tour nicht gerade ins Unermessliche steigerte. Dafür war aber die Fahrverbindung mit dem BVZ- Bus recht günstig: Eine Direktfahrt von Grächen nach Täsch, die mir das Umsteigen von Bus auf die Bahn mit Zahnstangenbetrieb in St. Niklaus erübrigte. Obwohl ich gerne mit der beinahe schon nostalgischen BVZ- Bahn fahre, nahm ich diese Variante dankbar an. In Voraussicht auf die Anstrengungen unserer geplanten Tour wählte ich den bequemeren Weg. Und so stand ich nun mit meinem schweren Rucksack und dem von meiner Pensionswirtin Madame Anthamatten liebevoll zusammengestellten Proviantbeutel inmitten der stinkenden, bummelnden Autoschlangen und war ziemlich ratlos, was ich mit den zwei freien Stunden anfangen sollte.
Nach einer Weile unentschlossenem Zögern deponierte ich meinen Rucksack in einem der schmuddeligen Schließfächer der Bahnhofshalle und ging ziellos in Richtung Dorfmitte und weiter, einem Wegweiser nach, der nach Täschberg wies. Irgendwie flüchtete ich vor den Menschenmassen, die hier in Täsch nur erahnen ließen, was mich in Zermatt erst erwarten würde. Auf schmalem Pfad über Serpentinen, durch würzig duftendes Gras, erreichte ich in glühender Vormittagssonne binnen einer halben Stunde Täschberg. Das stellte sich nicht etwa als Berg dar, sondern als ein an den Hang geheftetes Dörflein von nicht mehr als gerade mal sechs Hütten und einer kleinen, schneeweißen Kapelle. Kaum mehr als eine halbe Gehstunde vom Bahnhofstrubel Täschs entfernt, strahlte dieses einsame Dörfchen eine Ruhe aus, die mich angenehm überraschte. Nichts war mehr zu spüren von der Hektik des Tales.
Träumerische Stille. Lediglich unterbrochen vom leisen Plätschern des kleinen Dorfbrunnens an einem der rotbraunen Holzchâlets, dem Summen und Zirpen der Insekten und dem Singen der Vögel. Als Begleitmusik ein kaum merkliches Raunen des leichten Sommerwinds. Dies alles beruhigte mich irgendwie. Gegenüber dieser heimeligen Dorfromantik wuchtete das Weißhorn aus dem Talgrund auf, in dieser Perspektive noch eleganter und grandioser scheinend, als ich es in Erinnerung hatte. Weiter südlich, im flimmernden, diesigen Licht der Sonne das Matterhorn, mein Ziel, das von hier aus unnatürlich schlank, geradezu zierlich wirkte.
Gern hätte ich mich in diesem Hangdorf zum Träumen hinreißen lassen, doch ein Blick auf die Uhr befahl mich wieder hinuter in das Menschengewühl nach Täsch, um meine Tourengäste zu empfangen. Etwas verspätet traf ich wieder am Bahnhof ein und wurde von meinen beiden Touristen schon ungeduldig erwartet. In Anbetracht der Menschenschlange am Billetschalter musste ich mir nicht erst die Mühe machen, meine beiden Kameraden zu einem Fußmarsch nach Zermatt zu überreden. Sie kamen von selbst auf die Idee.
Ein wunderschöner, schmaler Pfad führt da am Nordufer der Mattervispa entlang zum Mekka des Bergsteigens schlechthin, nach Zermatt. Hatten wir uns schon auf eine schöne, beschauliche Wanderung nach Zermatt gefreut, so wurden wir bald enttäuscht. Eine wahre Völkerwanderung bewegte sich da in Richtung Zermatt und rasch liefen wir auf. Vor uns eine ganze Familie mit Kind und Kegel. Übertrieben langsam. An einer steilen, etwas mühsamen Stelle, ungefähr auf halber Länge des Weges, geriet gar alles ins Stocken. Die Ursache für die Verstopfung entpuppte sich als eine mehr als reichlich behäbige Frau, die erfolglos versuchte, auf dem etwas feuchten Pfad höher zu kommen. Wir wohnten dem Abenteuer bei, einer Dickmadam über den Berg zu helfen und es kostete uns enorme Körperbeherrschung, nicht lauthals zu protestieren.
Der erste Eindruck von Zermatt ernüchterte meine beiden Begleiter auf der Stelle, als wir um eine Wegkehre bogen und sich uns die erste Aussicht auf die Stadt bot. Das hatten sie sich nun doch nicht so vorgestellt. Und schaut man in den gängigen Werbeprospekt des Bergortes, so könnte man wahrlich annehmen, sich zu einem falschen Ort verlaufen zu haben. Nichts ist da mehr übrig von dem versprochenem heimeligen Bergdorf mit alter Tradition. Das Typische eines Walliser Bergdorfes ist untergegangen zwischen Betonbauten, Riesenhotels und Bergbahnstationen. Die im Châletstil erbauten Hotels erinnerten auch nicht im entferntesten an dörfliche Idylle. Und wie aus einer anderen Welt darüber gesetzt, thronte das Matterhorn über dieser Zivilisationsbastion, scheinbar unnahbar wie eh und je.
Den nächsten bemerkenserten Eindruck vermittelten die Menschen selbst. In ihrer Eigenschaft als Touristen. Wir gelangten zum Heliport, der Zermatter Helikopterrettungsbasis, an deren Geländezaun der Pfad vorüber führt. An diesem Zaun hingen Trauben. Menschentrauben! In Erwartung auf das Schauspiel, wenn verletzte Berggänger eingeflogen werden, traten sie sich gegenseitig auf die Füße und ränkten ihre Hälse, als gelte es ein historisches Jahrhundertereignis nicht zu verpassen. Eine lechzende Masse, die auf zerschmetterte Glieder wartete und die erschrocken Platz machte, als ich mit drohendem Unterton bat: "Wenn die Herrschaften genug Leichen betrachtet haben, dürfen wir dann einmal vorbei?"
Dann Zermatt. Die Dorfstraße. Das Geschiebe und Gedränge, das sich hier abspielte, erinnerte mich nur allzu deutlich an meine Stadt, der ich gerade entflohen war: Auf dem Bohlweg oder dem Damm in Braunschweig könnte zu keiner Zeit mehr Betrieb herrschen, als an einem Sonnentag auf dieser Walliser Dorfstraße. Und waren wir schon geneigt zu glauben, dies sei der Höhepunkt des internationalen Flair Zermatts, so durften wir noch eine weitere Übertreibung des Touristenrummels erleben. Da haben sie an der Mattervispabrücke, am Ende des Dorfes bergseits, von wo aus das Matterhorn besonders gut zu sehen ist, einen kleinen Platz mit Sitzbänken angelegt. Wir wurden mit der breiten Angebotspalette an Foto- und Videotechnologie konfrontiert. Da summten Panasonics, Konicas und Canons, klickten Pentax, Fujikas und Minoltas um die Wette.
Dem größten Rummel entfliehend, marschierten wir weiter in Richtung Zmutt, das ich als gepflegtes, denkmalgeschütztes Dorf in Erinnerung hatte. Doch mit Wehmut musste ich feststellen, dass auch hier bereits die Großstadtzivilisation unbedenklich Einzug gehalten hat. Da gab es Kioske und Imbissbuden, die vor einem Jahr noch nicht da waren und es duftete an allen Ecken und Nieschen nach Urin. Auch ein neues Aroma zwischen den Lärchenholzhäusern.
Erst im Aufstieg zur Hörnli- oder Matterhornhütte lichtete sich die Zivilisations- Invasion etwas, doch das auch nur bis zur besagten Clubhüte des SAC. Dort regten uns die hüttenumlagernden Menschenmassen zu Spekulationen an, ob für uns noch ein Schlafplatz übrig bleiben würde. Als Mitglied im Schweizer Alpenclub wurde mir sogar noch ein Bett im Schlafraum offeriert. Meine Begleiter allerdings sollten im völlig überfüllten Aufenthaltsraum nächtigen. Ein Hoch auf kameradschaftliche Solidarität! Ich erniedrigte mich zum gemeinen Seilbahntouristen und zog es vor, mit meinen Gästen gemeinsam mein Lager in der Beengtheit des Aufenthaltsraumes aufzuschlagen. Das würde aber auch den Vorteil haben, dass wir uns beim Aufbruch nicht verlieren würden.
Schlaf indes hatte es in der hoffnungslos überfüllten Clubhütte kaum gegeben. Massenbewegungen im Hüttenraum waren Voraussetzung für jeden Gang an den Ort gewisser Verrichtungen. Fluchen und ärgerliches Gemurmel in allen nur erdenklichen Sprachen hob an, wenn wieder jemand versuchte, im Dunkeln und unter dem Druck des vorabendlichen Weins oder Menüs, sich einen Weg zur Hüttentür zu bahnen, in der wehen Hoffnung, sich draußen des Drucks erleichtern und entledigen zu können. Wehe aber denen, die sich aus Bequemlichkeit, oder aus Rücksicht auf die Schlafenden die Druckwehen verkniffen und von einem anonymen Abortgänger in der Finsternis auf das Zentrum ihrer Blähungen, respektive auf ihren druckgeprüften Leib getreten wurden. Dann setzte es Tritte und Püffe aus der Dunkelheit. Zuweilen war auch ein gequältes Gestöhne und Gequieke zu vernehmen. Diese Nacht hatte so wenig von Hüttenzauber und Hüttenromantik, die man leider immer seltener erleben darf. Um so glücklicher und befreiter waren wir, als die Nacht endlich vorüber war und wir den nächtlichen Nahkampf unbeschadet überstanden hatten.

Nächtlicher Morgen. Noch weit vor Sonnenaufgang. Es herrscht eisiger, kräftiger Wind, der noch gestern eine Seilschaft aus der Nordwand zurückgetrieben hatte. Ringsum die Hektik vieler Menschen in der Finsternis, die sich zum Aufbruch rüsten. Lampen blinken, werfen ihre Strahlen unkontrolliert in die Dunkelheit. Was da so alles die Geräuschkulisse beherrscht: Klicken und Klirren von Steigeisen, Haken und Karabinern, ab und an auch aufbrausendes Gefluche und Gezänk, wenn wieder einmal ein Teleskopstock unfreiwillig den Besitzer gewechselt hat, oder ein Eispickel vertauscht wurde, ob nun aus Versehen, weil der des Nachbarn gerade daneben stand, oder auch aus Bosheit, weil der Andere auch lieber mit einem neuen K2-Reinhold Messner-Pickel mit moderner, auswechselbarer Eishaue steigen möchte, als mit seinem alten, holzschaftigem Führerpickel. Dann ist es jeweils der donnernde Bass des Hüttenwarts, der für einen Augenblick alle verstummen lässt und versucht, die Streithähne zu trennen.
Aufbruch. Der Einstieg ist besetzt mit einer Reihe von Lichtern, wie auf einem alten Stich vom Einzug der Steiger ins Bergwerk einer Zeche. Meine Begleiter kalauern: "Da wollen wir rauf? Na hoffentlich bekommts Hörnli da keine Schlagseite und wirft und allesamt vom Grat..."
Irgendwie kann ich darüber nicht lachen. Vielleicht deshalb, weil ich ein futuristisches Bild vor Augen habe: Das Matterhorn neigt sich unter den vielen hundert Menschen, kentert und wirft den ganzen Ameisenpulk auf den Gletscher. Ich konzentriere mich auf unseren Aufstieg. Vorn, an der ersten Plattenstufe stehen sie schon Schlange und die Schnelleren würden wohl nur allzu gern dem ganzen Haufen einen Tritt in den Hintern verpassen, damit es zügiger voran geht.
Die Seilschaften, die von den meist ortsansässigen Führern begleitet werden, sind früher geweckt worden und schon weiter oben unterwegs. Ich versuche mit meinen Touristen bald ein Überholmanöver, verpasse dadurch jedoch die Route, hole trotzdem rasch wieder auf. Wir dampfen vor Schweiß, hetzen über die großblockigen Stufen. Ja nicht die Letzten sein, sonst bekommen wir oben auf dem Gipfel keinen Platz mehr!
Wir steigen hinter fremden Schuhsohlen her, von unter uns auftauchenden Helmen, Lampen und greifenden Händen verfolgt, bedrängt. Immer schneller. Viele halten mit der aufwärtsstrebenden, keuchenden und brabbelnden Schlange nicht mit, werden überholt. Andere sind schneller, gehen an uns vorbei. Eigentlich ein wahnsinniges Wagnis, dieses steile, teilweise geröllige Gelände im Dunkeln in einer unendlichen, kurz aufeinander folgenden Linie von Menschen gleichzeitig zu überklettern, denn Zacken oder Risse zur eventuellen Sicherung sind sehr rar, ebenso, wie die Zeit, denn von unten wird ungeduldig nachgedrängt.
Weiterlaufen, der Grat ist noch lang, weiter, immer den abgegriffenen, verpekten und manchmal schon blankpolierten Stellen nach, meist auf der Gratkante, die sich aber stets in ein Gewirr von Blöcken und Platten verliert. Es ist schwer einzuschätzen, wo diese Gratkante sich denn eigentlich befindet. Mehr links, oder doch weiter rechts? Tempo! Die Zeit ist wichtig! Mich wundert eigentlich immer weniger die Unfallstatistik dieses Berges. Erst recht nicht, als an den Moseleyplatten ein Alleingänger direkt über mir rutscht, den Halt verliert und mir beinahe ein Loch in den Kopf tritt. Zu meinem Glück hat sein panischer Griff noch rechtzeitig Fels zu fassen bekommen. Und ich habe nur den erschreckenden Gedanken daran hinunter zu kauen, dass ich vorhin kaum Zeit für eine ausreichende Sicherung hatte. Andererseits muss ich daran zurückdenken, als ich selbst vor fünf Jahren auf der gleichen Route, genau wie dieser Sologänger, unerfahren und übermütig hinaufstolperte, einem unbestimmten Höhepunkt entgegen. Heute weiß ich, dass es alles andere, als ein Höhepunkt war. Mein verrückter Alleingang damals war erst der Anfang eines Weges, von dem ich nur vermuten kann, wo er einmal endet.
Nach zweieinhalb Stunden, die Sonne ist bereits aufgegangen, erreichen wir die Solvayhütte, ein ziemlich heruntergekommenes Biwak, das aber schon manches Leben in manch eiskalter Nacht am Berg erhalten hat. Trotz des steten Nordwestwindes besticht die ganze Umgebung der Hütte durch den beißenden Duft menschlicher Hinterlassenschaften, denn eine Toilette gibt es in dieser Höhe von 4003 Metern und in dieser exponierten Lage freilich nicht. Wer sich erleichtern muss, tut dies in der Regel über die Gratkante, direkt in die Nordwand hinein, eine Tatsache, die einen Nordwandbesteiger mehr schrecken dürfte, als Bruchfels, Steinschlag und Wettersturz. Hier besticht auch die Exklusivität: Die einzige Alpenwand mit Scheißschlag! Der penetrante Duft in Hüttennähe hindert allerdings nicht die Schaaren von Bergsteigern, hier ihren Proviant auszupacken. Alle, in der Nähe liegenden möglichen Plätze zum pausieren sind bereits belegt. In den phantasievollsten Stellungen kleben die Touristen am Fels und verschlingen mit Genuss das mitgeführte Picknick, ungeachtet des Umstandes, dass sich die Falltoilette der Nothütte nur zehn Meter entfernt befindet.
Ich für meinen Teil bin weiß Gott nicht empfindlich, aber Ästhetik ist etwas anderes. Nichtsdestotrotz rastet man halt immer bei der Hütte, ganz gleich, wie zivilisiert das Aroma dort auch sein mag! Mein nüchterner Hinweis auf die geografische Lage der Grattoilette genügt völlig, um bei meinen beiden Tourengästen Lust und Verlangen nach Schinkenbaghuette und Tee zunächst gründlich vergehen zu lassen. Statt dessen ziehen wir uns etwas wärmer an und eilen weiter. Mit kalten Fingern über eine unangenehme Platte, danach der luftige, abgestufte Grat aus festem, griffigem Gneis, auch ohne Handschuhe zu überklettern noch ein rechter Genuss. Allerdings nur bis dahin, wo ich beim Haltsuchen in den ausgesetzten Achtpfünder irgendeines Vorauskletternden greife. Noch warm!
Es gibt nicht viel, dass mich aus der Ruhe zu bringen vermag. Solch ein Ekelpaket gehört in jedem Fall dazu. Ich fluche, wie selten zuvor, um meine Verzweiflung und Wut aus mir heraus zu lassen. Ich könnte vor Wut zerplatzen und brülle nach oben, dass ich diesen Schmierfink eigenhändig vom Grat in die Wand befördern werde, wenn ich ihn erwische. Mein Getobe bleibt freilich nicht ungehört. Der ergriffene Schiss pflanzt sich mündlich in Aufstiegslinie nach unten fort, denn ein jeder will den Grund für den plötzlichen Halt wissen. Bei dieser Gelegenheit lerne ich, wie man Scheiße auf französisch, englisch, japanisch, italienisch und flämisch nennt. Dazu beschleicht mich die unappetitliche Vorstellung, dass womöglich noch so mancher weiter unten gar nichts von der geografischen Lage der inoffiziellen Toilette weiß. Dafür weiß ich, dass ich das Haltsuchen künftig etwas argwöhnischer angehen lasse. Zumindest an diesem Berg!
Weiter gehts! Tiefblicke in die Nordwand eröffnen sich bis hinunter auf den zerklüfteten Matterhorngletscher. Die Firnflecken werden häufiger und der Fels schwieriger und steiler. Meine beiden Begleiter klettern zügig und gut. Sie hatten also nicht übertrieben, als sie gestern von ihren Trainingstouren berichteten. Dennoch muss ich zuweilen ihren Elan zugunsten ihrer eigenen Sicherheit etwas bremsen, wenn sie allzu gewagt höher balancieren.
Jetzt gelangen wir an Passagen, die durch fixe Stahlseile gesichert sind. Ich setze anfangs meinen Ehrgeiz dahinein, sie zu ignorieren und an einer Aufstiegsrisse geht das auch noch leidlich. Wenn nur der Wind nicht so scharf ginge und ich die Handschuhe wieder ausziehen könnte. Aber die platt getrampelten Firnfelder sind ohne Seil zu ersteigen keiner Diskussion wert. Es würde nur unnötig Zeit kosten, und das können wir uns nicht leisten. Aber auch das Hangeln an den Fixseilen ist keine Spielerei und die Höhe lässt die Luft verdammt dünn werden. Nebenbei muss ich darauf achten, dass ich mir keinen von den Fixseilen abstehenden, rostigen Draht in die Hand befördere.
Jetzt über eine Stufe, heikel, wenn es hier einen Ausrutscher gibt... Ich sichere meine beiden Gäste extra im Stand, denn wenn einer hier stürzt, geht es hinab bis auf den Gletscher. Meine Begleiter nehmen die Sicherung dankbar an. Die nachfolgenden Berggänger halten sie wohl für übertrieben und strafen mich mit entsprechenden Blicken. Dann immer öfter und stärkr Eis. Also die Steigeisen an. Allgemeines Gekratsche und Geklingel, dann wieder Halt auf dem glatten Grund.
Eine ganze Weile danach stehen wir endlich auf dem Gipfeldach! Hier liegt von tausenden Füßen zu Eis gestampfter Schnee. Sicherungspunkte gibt es keine mehr, es sei denn man zieht das schmiedeeiserne Gipfelkreuz weiter drüben in Betracht. Also warne ich meine beiden Begleiter eindringlich und weise auf die Fallstrecke von 1100 Metern durch die Nordwand hin. Außerdem wird es eng auf dem First. Menschenmassen haften entlang des fast hundert Meter langen geneigten Gipfelgrates und es wird für uns ein Akt von seiltänzerischer Akrobatik, uns den Weg zum ersehnten Gipfelkreuz zu erkämpfen. Ich vermute, dass ein Sturz von diesem Gipfelfirst eher auf die Enge hier oben zurückzuführen sein dürfte, als auf eigene Unachtsamkeit. Fast wird man schon hinunter gestoßen! Die diplomierten Führer, die mit ihren Gruppen bereits wieder den Abstieg angehen und uns entgegen kommen, erleichtern uns den Gipfelgang keineswegs. Bisweilen wird es haarig eng auf dem Gipfeldach und hätte ich nicht zwei gipfelkreuzhungrige Begleiter in meinem Kielwasser, so hätte ich mir den windigen Gang zum Kreuz ohnehin verkniffen. So aber hampeln wir hinüber und greifen dann erleichtert an das abgegriffene, schmiedeeiserne Kunstwerk. Anschließend reiche ich meinen Tourengästen die Hände. Eigentlich lächerlich, inmitten der Zivilisations- Invasion, doch die Bergsteigerehre verlangt nOch beinahe rituelle Gebärden!
Wieder stehe ich auf dem Matterhorn. Zum vierten Mal! Aber dreimal zu viel! Viermal derselbe Berg! Warum? Nur wegen der Vreneli-Goldmünzen, die ich als ausgemachten kleinen Dank bekomme, oder wegen der Erinnerung, oder aus beiden Gründen? Warum überhaupt in die Extreme? Vielleicht, weil ein Berg dem Menschen Erkenntnisse, auch über sich selbst, und Dimensionen eröffnen kann, in die er sich sonst ein Vordringen niemals auch nur erträumen würde?
Aber hier, am Berg der Berge, den an Schönwettertagen Hunderte besteigen? Matterhorn, ich lasse mir den Namen auf der Zunge zergehen... Monumentale, gewaltige Pracht und doch abschreckende Realität. Mal in Wolken gehüllt, mal die Wolken absorbierend, anziehend, oder ausspeiend. Wohlstand Popularität und Geschäft bringend dem Dorf, den Menschen, die von ihm leben. Abenteuer, Spaß und Freiheitsgefühl vorgaukelnd dem Touristen, nichtsahnend der Folgen: Vermarktung, Verbauung, Ausblutung!
Was an ihm Berg war, das haben wir geschliffen, seine Hänge gespickt mit Lift- und Seilbahnstützen, geebnet zu Skipisten. Seine Wände vernagelt mit Haken und Schrauben, ausgebaut zur Leiterfassade. Ein stolzer Berg, vergewaltigt und gebrochen! Matterhorn! Und ich genau zwischen dem Drang, ihn zu bezwingen, weil es jeder tut und dem Verlangen, ihn endlich in Frieden zu lassen, seine natürliche Würde zu schützen, bereit, zu lernen, dass ich hierher nicht gehöre!
 
 
 
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