Berge zur Selbsterkenntnis
 
Gipfel im sechsten Anlauf (August 1985)
 
as knapp zwei Meter hohe schmiedeeiserne Gipfelkreuz auf dem höchsten Punkt des Dent Blanche steht für die Erfüllung vieler Bergsteigerwünsche. Mit diesen Hoffnungen und Wünschen war auch ich im Sommer 1980 mit zwei Dreierseilschaften aufgebrochen, um dieses Gipfelkreuz zu erobern. Über den Nordnordwestgrat wollten wir uns im Aufstieg beweisen. Doch der Berg hatte unsere Wunschträume schnell zerschlagen: Ein par tausend Tonnen Schnee und Eis aus den Séracs der steilen Nordostwand hatten genügt, Allem ein Ende zu setzen und aus einem herrlichen Aufstieg eine für mich lebensprägende Katastrophe werden zu lassen. Das Resultat: Zwei Mann tot, zwei schwer verletzt und ich mit einem Schrecken und einem Rippenbruch davongekommen.
Aber losgelassen hatte mich dieser Berg nie mehr. Fünf mal war ich bislang gegen seine Grate und Wände angerannt und immer wieder hatte der weiße Riese meine Beharrlichkeit abgeschüttelt, gerde, dass ich mich einmal nur noch mit knapper Not aus seinem eisigen Griff hatte befreien können. Jedes mal, wenn ich auch nur in die Nähe seines Gipfelaufbaus kam, hatte mich seine weiße Faust erbarmungslos zurückgeschlagen. Wie ein Erstbesteiger hatte ich Jahr für Jahr um seine Gunst gerungen, hatte versucht, über alle nur erdenklichen Routen auf sein eisgepanzertes Haupt zu gelangen.
Heute, im Rückblick, vermag ich nicht mehr zu sagen, welches Verlangen mich immer wieder an diesen Berg trieb, den ich eigentlich meinen Unglücksberg nennen müsste. War nicht auch er Ursache dafür, dass viele Fehlschläge mein Leben prägten? War nicht auch er schuld daran, dass ich mich verändert hatte, mich in mich zurück zog? Und ist nicht auch dieser Berg für meine immer wiederkehrenden schrecklichen Visionen des Nachts verantwortlich?
Doch trotz alledem: Irgendetwas an diesem Berg lässt mich nicht mehr los. Sind es die verunglückten Kameraden, die nach Vergeltung schreien? Vergeltung von einem Haufen Stein? Oder habe ich das Bedürfnis, den Märtyrer zu spielen und posthum die Namen der Kameraden auf den Gipfel, unser damaliges gemeinsames Ziel zu tragen? Aber sie haben nichts mehr davon! Oder ist es vielmehr mein ganz persönlicher Stolz, den ich angekratzt sehe, weil ich damals vor fünf Jahren versagt habe? Will ich mir wieder einmal nur selbst etwas beweisen?
Zwiespältiger Kampf meiner Seele. Ein Teil in mir muss unbedingt hinauf auf diesen Berg, muss ihn bezwingen. Doch eine Tat der Genugtuung? Macht das die toten Freunde wieder lebendig, ihre Frau, oder Freundin, ihr Kind wieder glücklich? Befriedigt oder beruhigt es mich? Nein! Denn da ist der andere Teil in mir, der die düsteren Grate und Wände verabscheut, der immer noch, selbst nach fünf Jahren, die Entsetzensschreie der Kameraden wieder in Erinnerung ruft und sie mir in nächtlicher Einsamkeit als Ballade präsentiert.
Oder tue ich es etwa nur, weil ich es noch nicht gemacht habe, das Besteigen dieses Berges und weil ich gerade nichts Besseres vorhabe? Werde ich jemals eine Antwort auf diese Fragen finden? Vor ein par Wochen war ich vom Engadin ins Wallis herüber gekommen. War auch das ein ruheloses Hin- und Herwandern zwischen den Bergen, auf der Suche nach dieser Antwort?

Heute scheint die Sonne, nach den massiven Wolken der letzten zwei Tage. Mein Entschluss steht fest: Einer ist heute fällig, der Südgrat mit dem Gipfel des Dent Blanche, oder ich! Dem makellosen Morgen mag ich kaum trauen, nach dreißig Stunden Schneetreiben um die Dent Blanche Hütte. Zwei Tage und Nächte klebte der Nebel an den Hüttenfenstern. Ich hörte nur das Heulen des Sturms und das Klopfen irgendeines Fensterladenhakens im pfeifenden Wind: Klack, klack.., klack, klack! Es war unerträglich, mit welcher Aufdringlichkeit es der Haken verstand, mich an die kaum zerrinnende Zeit zu erinnern und an meinen Nerven zu zerren. Geradezu drohend wuchs sich das Klacken aus. Gleichmäßig, gleichgültig, gelangweilt, eben aufreizend!
In der zweiten Nacht immer noch Sturm. Er rüttelte gehässig an allem, das nicht niet und nagelfest war. Diese klackenden, knallenden Laute verstanden es aufs Beste, meine Phantasie aus der Reserve zu locken und Purzelbäume schlagen zu lassen. Bei jedem neuen Geräusch glaubte ich bereits an einen Gletschersturz, der die Hütte einfach hinwefegen würde. Kälte, Dunkelheit, Leere.
Aber jetzt, da die Sonne im Kampf der Elemente endlich gesiegt hat, freue ich mich, dass ich vorgestern nicht mit den anderen Seilschaften ins Tal hinabgeflüchtet bin. Am Grat ist der Schnee verblasen, dort komme ich gut voran, zu Beginn jedenfalls besser, als 1983 am Westgrat. Mit Schaudern muss ich daran zurück denken, mit welch urweltlichen Kräften ich damals kämpfen musste, um mich wieder aus den Klauen dieses Berges zu befreien. Ein zweifelhaftes Gefühl kriecht durch meinen Magen. Hat der Dent Blanche mich nicht oft genug gewarnt? Muss ich ihn schon wieder angehen? Und wird er wieder so gnädig und nachsichtig mit mir sein, oder schlägt er diesmal noch härter zu?
Zweifelnd sehe ich nach oben, wo unendlich aneinander gefügt Felsklippen mit strahlenden Schneekapuzen gen Himmel ragen, als würde ich dort jetzt schon eine Antwort finden. Spuren von vorherigen Aufsteigern sind keine mehr zu sehen, nach diesem Sturm auch kaum verwunderlich. Ich habe erlebt, wie gewaltig die Kräfte der Natur hier oben herrschen können.
Die Steigeisen müssen von Anfang an her. Alles ist verharscht, oder am Fels vereist. Sie helfen auf dem kleinen Firnsattel, wo als überwältigender Anblick das Matterhorn emporwächst und sie helfen an dem Blockgrat, der immer steiler werdend, irgendwann auf den Gipfelaufbau des Berges führt. Sie helfen bis vor den Grand Gendarme, wo ich auflaufe, weil ich mich mit den verschneiten und vereisten Felsen, direkt hinüber über den Steilaufschwung herumbalgen muss. Mit Unbehagen denke ich daran zurück, wie ich vor zwei Jahren an diesem Berg mein rechtes Steigeisen eingebüßt hatte. Damals fast mein Todesurteil! Also vorsichtshalber öfter die Riemen kontrollieren!
Eisiger Wind bläst Triebschnee in langen Fahnen über den Grat und baut an frischen, trügerischen Wächten. Augenblicklich friere ich, mit blind werdender Sonnenbrille und beim Brilleputzen mit erstarrenden Fingern. Meine kalten Griffel sind ebenso unerbaulich, wie der Gedanke, dort hinauf zu klettern, auf diese Felsspitze, einer Nadel gleich, wo ich mich doch so leicht festbeißen kann. Wenn ich erst einmal auf diesem Gratturm fest sitze, ist es mehr als fragwürdig, ob ich dann den Gipfel heute noch erreiche. Und wieder einmal eine Nacht im Ungewissen an diesem Berg kleben? Mit diesem Gedanken will ich mich nicht unbedingt anfreunden. Dann würde ich meinem Schicksal ein geradezu fatales, unvernünftiges Angebot machen. Unwillkürlich schleichen sich Gedanken an Janine wieder ein. Ironie! Da versuche ich hier oben zu vergessen, von solchen Erinnerungen Abstand zu gewinnen, doch statt dessen wirken meine Wünsche und Sehnsüchte hier oben noch stärker und erdrückender. Ein ewiges Feuer. Und das einzige, das hier oben, in immerwährendem Eis stärker brennt, als im Tal.
Ich probiere die Umgebung des Gendarms. Die Felsen in der Flanke sind so tief verschneit, wie es überhaupt geht. Und bis zum Grat zurück, verliert sich alles in lockerem Pulverschnee und jeder Schritt kann einen Freiflug durch die Westflanke bedeuten, mit anschließendem Himmelflug, bei dem die kleinen weißen Flügelchen an den Schulterblättern auf dem Kulanzwege mitgeliefert werden. Alle Haltepunkte muss ich erst ausgraben und frielegen, weil die Steigeisen auf dem lockeren Pulverschnee nicht fassen und auf dem plattigen, vereisten Fels darunter rutschen, wenn ich nicht gezielt und konzentriert auf Vorsprünge oder Firneis trete. Also wühlen, Schnee räumen, wie ein Winterdienstarbeiter. Kubikmeterweise allein am Berg. Oft balanciere ich nur auf Verdacht auf den Frontzacken, freue mich ab und zu auf einen kleinen Tritt, oder über ein schmales Band und frage mich, ob ich nicht vielleicht gerade nur zwei Meter neben einer, bei freiem Fels, harmlosen Leiste oder Trittfolge herumkrebse.
Der Schnee fließt überall, füllt gleich wieder meine Spuren, blendet mich. Und obgleich ich eigentlich gut akklimatisiert bin, brauche ich für zehn Meter mittlere Ewigkeiten, bis ich sie ausgegangen bin. Zu hilfreichem Glück finde ich hier und dort einige wenige Sicherungspunkte. Langsam kommt der Grat wieder näher und das spornt mich erneut etwas an. Das wäre ja gelacht, dieser Südgrat, dieser bessere Dreitausender wird mich doch nicht schon wieder klein kriegen. Am Piz Roseg vor ein par Wochen hatte ich mich auch mit Neuschnee herumschlagen müssen, also bin ich doch ganz gut in Übung!
Ich arbeite mich ein kleines Coloir hinauf zu einem unscheinbaren Grätchen, hinter dem sich der Tiefblick in die ganz weiße Westflanke offenbart. Wie von Zauberhand in den Fels gesteckt, finde ich hier mit Erstaunen einige Eisenstangen installiert. Sie ragen nur knapp aus dem Schnee hervor, aber sie fallen mir gleich ins Auge. Sie passen eben nicht hier in diese Welt. In dieser lebensfeindlichen, hohen Eiswüste sehen sie recht kurios aus. Aber sie sind im Moment die einzig verfügbare Sicherung, die ich ohne falschen Stolz dankbar annehme, jedoch nicht, ohne vorher ihre Festigkeit auszuprobieren.
Doch das Höherkommen bleibt trotzdem ein heikles Grabbeln, Tasten und Kratzen. Ich stehe windig einen Meter vor weiteren Blöcken und traue mich nicht, den nächsten Schritt zu machen, weil ich fürchte, dass dann der andere Fuß abrutscht. Mit dem Eispickel versuche ich nach der nächsten Eisenstange zu angeln. So geht es doch!
Nach zweieinhalb Stunden wühle ich mich aus einer Scharte weit oberhalb des großen Gendarmen. Die Sonne scheint vom Vormittagshimmel, wärmt jedoch immer noch nicht bei dem scharfen, schneidenden Wind. Zudem hat sie dort oben schon einige Gesellschaft in Form von flockigen Wolkenfetzen bekommen. Das Panorama strahlt nur noch vom Weißhorn und Monte Rosa bis zum Matterhorn und Dent d' Hérens in seiner kristallenen Pracht.
Ich buddele mich hinauf, zu einer weiteren Gratspitze, um den Weiterweg zu besichtigen. Und dann fange ich an zu rechnen, wie lange ich wohl noch brauchen werde, für Auf- und Abstieg, laut, damit es mir auch recht bewusst wird. Mittlerweile zweifle ich auch daran, dass sich das gute Wetter noch so lange halten wird. Aber umkehren? Nein! Zu oft habe ich mich an diesem Berg schon geschlagen gegeben, diesmal geht es hinauf! Sieg oder Untergang, mit fliegenden Fahnen! Eine plötzliche, heroische Welle reißt mich mit. Hinauf! Es ist niemand mehr da, der auf mich wartet, also, warum es nicht riskieren? Weiter! Mit neuem Elan, der allerdings bald gebremst wird durch immer häufiger auftretende, gefährliche Verwächtung.
Dann endlich, nach ewiger, schweißtreibender Hick- hack- Steigerei, gelange ich auf den ständig schneereicher werdenden Gipfelgrat. Ein par Schritte noch... Endlich vollbracht! Das hohe Ziel, um das ich fünf Jahre lang gerungen hatte, dem ich fünf Jahre lang entgegen geklettert war, das nie wieder gut zu machende Opfer forderte, es ist jetzt erreicht! Tiefe Ergriffenheit befällt mich, als ich darüber nachdenke, wie lang und hart der Weg auf diesen Gipfel gewesen war. Dieser Weg veränderte mein Leben, veränderte meine Persönlichkeit. Und dieser Weg hat meinem Leben einen neuen Sinn verliehen!
Das Panorama beschränkt sich jetzt nur noch auf das Matterhorn. Allem anderen haben die sich immer dichter zusammenziehenden Wolken ihren weißen Schleier vors Antlitz geschoben. Der Wind jagt eisig durch meine Kleidung, als stünde ich nur noch in Unterwäsche auf dem Gipfel. Unfähig, bei dieser Kälte über den Sieg an diesem Berg Freude zu zeigen, beginne ich halb durchgefroren den Abstieg. Was für eine Groteske! Fünf Jahre lang bemühte ich mich unter großem persönlichen Einsatz und hohen Opfern um den Versuch, hier herauf zu gelangen, um dann, nach kaum fünfzehn Minuten Genuss des schließlich Erreichten, einfach wieder zu gehen!
Schneller, als ich berechnet hatte, holen mich die Wolken ein, leise von hinten heranpirschend, huschend, mich gierig umzingelnd. Den letzten Teil des Abstiegs suche ich schon im Nebel, den spärlichen Relikten meiner verwehten Aufstiegsspur folgend.
Durchgefroren, aber lebendig und von Erfüllung beseelt, erreiche ich die Dent Blanche Hütte. Angenehme Wärme und Ruhe umgeben mich. Das Johlen des Windes und die graue Kälte sind ausgesperrt. Selbst der nervige Fensterriegel klackt nicht mehr, eine Tatsache, die mir erzählt, dass der Wind nun aus einer anderen Richtung gegen die Hütte bläst.
Ruhe und Nachdenken. Warum habe ich nun all die Jahre so verbissen um diesen Gipfel gerungen? Was ist jetzt anders, nachdem ich auf seiner Spitze stand? Hat sich tatsächlich etwas in mir geändert? Und weshalb hatten mich die Rückzüge bei vergangenen Aufstiegsversuchen derart deprimiert? Aus welchem Grund wollte ich eigentlich immer mehr, warum musste es immer der Gipfel sein? Waren nicht auch die Rückzüge all der Jahre immer vollwertige Bergtouren gewesen, auch ohne Gipfel? Hatte ich dabei nicht wesentliche Erfahrungen mit dem Berg und mit mir selbst gemacht? Kenne ich die Abstürze des Dent Blanche, seinen Fels, seine Gletscher und seine Gefahren nach fünf Versuchen und Rückzügen nicht besser, als manche ausschöpfend bis zum Gipfel durchstiegene Route? Kenne ich etwa das Gletscherhorn nicht, nur weil mir mit Peter vor zwei Jahren hundert Höhenmeter bis zum Gipfel fehlten? Kenne ich nicht eigentlich auch den Westgrat des Dent Blanche, nachdem ich vor vierundzwanzig Monaten bis kurz unter das Gipfeldach hinauf gestiegen war und die größten Schwierigkeiten bereits hinter mich gelassen hatte, noch dazu unter ungünstigen Bedingungen?
Gehört es nicht eigentlich zu der Freiheit des Bergsteigens, dass man nicht nur die Ziele wählt und die Aufstiegsführe, sondern zugleich auch die individuellen Regeln und die Zeit, wie lange man sie befolgen will, ebenso, wie es zur elementaren Erfahrung mit dem Berg gehört, mit einer großen Tour nicht beliebig aufhören zu können? Ist es deshalb vielleicht ratsam, Regel und Zeit rechtzeitig zu ändern? Und sind die damit verbundenen Erfahrungen, Erkenntnisse und Opfer in mancher Hinsicht nicht wertvoller für meine Zukunft gewesen, als es ein bequem erreichtes Gipfelkreuz es je hätte sein können? Waren die Opfer der Kameraden damals nicht ganz sinnlos?
 
 
 
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