Berge zur Selbsterkenntnis
 
Auf Willo Welzenbachs eisigen Spuren (September 1985)
 
achdem unser Bergsommer in diesem Jahr nicht so gipfelreich verlaufen war und sich unsere Portmoneys auch nicht allzu großer Fülle erfreuten, kam es uns sehr gelegen, dass Siegfried uns einlud, zu einer der »ganz großen Touren der Alpen«.
"Es geht ins Berner Wallis", mehr wollte er uns am Telefon nicht verraten. Als Treffpunkt wurde für den Dienstag der Bahnhof in Brig abgemacht...

Es ist zehn Uhr Vormittag und wir haben schon eine halbe Stunde ausdauernden Wartens hinter uns gebracht, was für Peters ungeduldigen Geist fast schon zur Folter wird. Und weitere zehn Minuten harren wir aus, bis Siegfrieds Rover endlich mit Gehupe um die Ecke biegt.
Herzliche Begrüßung. Einladen der Rucksäcke und der Ausrüstung. Mit einem verschmitzten Blick auf unsere Bergausstattung meint Siegfried geheimnisvoll: "Die braucht ihr eh nicht, nur die Pickel."
Nun wollen wir aber doch wissen, wo es denn eigentlich hin geht und beknien ihn, endlich das Geheimnis zu lüften. Und als Siegfried seinen Rover kunstvoll die Serpentinen nach Blatten hinauf manövriert, wird er dann auch geprächiger: "Sagt mal, ihr beiden Flachlandtiroler, was wisst ihr eigentlich über Willo Welzenbach?"
"Nicht viel", muss ich kleinlaut zugeben, "er war wohl bei den Erstbesteigungsversuchen am Nanga Parbat maßgeblich beteiligt..." Das weiß ich gerade noch.
Siegfried schmunzelt: "Nun, über eine seiner Erstbegehungsrouten gehen wir morgen hinauf", eröffnet uns unser Freund. Jetzt dämmert es mir! Zu einer seiner alpinen Aufstiegsrouten gehört unter anderem die Welzenbach- Führe durch die Nesthorn- Nordwand. Und nämliches Nesthorn ist von hier aus am bequemsten zu erreichen. Daher auch Siegfrieds Bemerkung vorhin am Bahnhof bezüglich unserer Ausrüstung. Für eine Eisnordwand benötigt man freilich eine ganz andere, speziell ausgesuchte Schlosserei nebst einigen weiteren Utensilien, auf die man bei einer normalen Besteigung getrost verzichten kann. Dafür darf das eine oder andere Gerät, bei einer Normaltour unentbehrlich, zu Hause bleiben.
Meine Vermutung bestätigt sich, als Siegfried beim Ausladen in Blatten für jeden neue Steigeisen dabei hat. Zwölfzacker! Ferner entzaubert er seiner Ladefläche jede Menge Eisschrauben, Karabiner, Seile und für jeden eine kurzstielige Eishaue. Ich grinse Siegfried an und wir verstehen uns. Beiden stecken uns noch die Erfahrungen vom Dent d' Hérens in den Gliedern, wo wir diese speziellen Eishauen entbehren mussten.
Dann geht es los. Die erste Stunde steigen wir durch Wald. Die Zweite über Matten und Moränen, die dritte über das schmutziggraue, körnige Eis des Oberaletschgletschers mit seinem festen, oberflächig feuchten Altschnee und um die fünfte Stunde stehen wir im knietiefen Letztenachtneuschnee der Oberaletschhütten auf 2640 Meter. Ohne ein par Stunden der Akklimatisation schon eine ganz passable Leistung. Das meint auch Siegfried.
Die Hütte ist leer. Sie wirkt verlassen und vergessen. Siegfried macht Feuer und Peter schmilzt Wasser aus dem vor zwölf Stunden frisch gefallenen Schnee. Später löse ich Peters Tütensuppen auf und wir vertrödeln den Rest des von der blendenden Sonne beherrschten Tages im erholsamen Müßiggang zwischen Schlafen, Essen und Sachensortieren. Wer eine der höchsten und steilsten Nordwände inmitten des größten Eisvorrats der Alpen durchsteigen will, pflegt tunlichst seine Reserven...

Um 03.00 Uhr piepsen unsere in Reihe geschalteten Armbanduhren und um viertel vor Vier gehen wir los. Noch leicht fröstelnd. Der Höhenmesser zeigt nochmals gestiegenen Luftdruck und bestätigt uns die am Vortag gehörte Prognose von TRS I, Schwyzerradio. Die Sterne stehen in wilder Pracht. Hier oben kann man Galaxien und ferne Sterne sehen, die den Menschen in den Städten verborgen bleiben. Der gestern nachmittag noch weiche und angetaute Schnee ist beinhart gefroren. Wir haben ideale Verhältnisse und steigen auf knirschendem Harsch schnell und gut. Siegfried führt, dann Peter und ich als Nachhut.
Nachdem wir den Oberaletschgletscher gequert haben, schreiten wir flott aus, auf dem sanft ansteigenden Gletscherrücken des Beichgletschers. Aber die gewaltige Eisostflanke des Nesthorns verändert ihre Konturen nur langsam und die dunkle Masse des Nordostpfeilers, den wir noch zu umrunden haben, nähert sich nur allmählich. Peter glaubt zu sehen, wie sich der Himmel langsam von Schwarz auf Blau verfärbt und seine Dunkelheit verliert, als wir auf dem Basisfirn der Nordflanke aufsteigen, der Wand entgegen.
Im ersten Morgengrauen dann, stehen wir am Fuß der felsdurchsetzten Eiswand. Ich stelle desillusioniert fest: Die Führe, die wir anfassen wollen, ist hoch und lang! Der Fels ist nur teilweise aper und der Bergschrund arg von Eis und Neuschnee verkittet. Wir machen uns gemütlich und ohne Hektik für den Einstieg fertig. Hinreichend bekanntes, fast schon routiniertes Tun. Alte Erinnerungen werden wach: "Weißt Du noch, Peter, vor zwei Jahren, die Gletscherhorn- Nordwand, die hatten wir nicht geschafft."
Und: "Weißt Du noch, Siegfried, unsere große Weißgratbegehung am Schluss meines Urlaubs bei Dir? Da hätte ich fast vor die Bétempshütte geko...." Kalauern, oder Mut machen? Mut für die große Herausforderung! Aber mit Siegfried und seiner Erfahrung? Kein Problem!
Wir klettern gleich zu Anfang mit Steigeisen, Pickel und Eishaue. Siegfried spurt, dann Peter und ich am Ende des langen Seils. Die erste Länge ist überraschend unangenehm. Lockere Neuschneeschichten liegen auf dem Firneis und rieseln in ganzen Bächen auf unsere Häupter, wenn Siegfried sie lostritt. Haben wir im diffusen Dämmerlicht etwa nicht die beste Linie erwischt?
Aber dann, wo der Wind in die Wand greifen konnte, geht es wieder. Hier ist der Firn aufgeräumt, das Eis vom Sturm freigehalten. Ab und zu über eine Eisrinne, oder durch eine Schneerutsche klettern wir gleichzeitig und gewinnen zügig an Höhe. Am Bergschrund haben wir das Hochgefühl, bereits die Hälfte der Wand überrannt zu haben. Der Höhenmesser und ein Blick zum Beichgrat hinüber belehren uns allerdings rasch, dass dieses Gefühl trügt. Der Gipfel scheint zwar zum Greifen nahe, aber unsere Firnwand sehen wir schließlich nur in der Verkürzung und ohne jede Größenvergleiche. Ist jene Eisrippe dort drei, oder nur einen Meter hoch, diese Eiswulst dort drüben manns- oder haushoch? Erst wenn wir dort sind, werden wir es wissen.
Als eine in die zerklüfteten, riesentreppenartigen Felsen eingebettete, übergroße Rutschbahn zieht sich die Eiswand empor und mit Beruhigung sehe ich, dass sie nur selten von kurzen Felsabschnitten unterbrochen ist. Im Eis gehe ich seit je her besser und sicherer, als auf Fels. Meine frühe und spontane Zuneigung zu den Alpenviertausendern haben mich alpinistisch so seltsam geprägt. Zu einem großen Teil mag das auch darin begründet liegen, dass ich nie jemals zuvor an niederen Felsbergen gestiegen war. Meine bergsteigerische Geburtsstunde schlug gleich unvorbereitet in hochausgesetzten Firnen, an die sich sonst Alpinisten erst heranwagen, wenn sie beispielsweise bereits in den Dolomiten lange vorher in sonnigen Wänden, an handwarmem Fels geübt und trainiert haben. Nun, mein besonderer Werdegang in dieser Hinsicht, ermutigte Siegfried dazu, mir vor einiger Zeit den Beinamen »Westalpeneremit« anzudichten.
Trotz der felsarmen Wand können wir immer irgendwo an einem Felsköpfchen, oder an einem aus dem Eis ragenden Steinblock, oder Felsfinger einen Sicherungspunkt anbringen. Und weil sich die Führe stellenweise steil aufbaut, oder über enge Coloirs verläuft, empfinden wir diese Möglichkeit in Anbetracht der vorherrschenden Schwierigkeiten durchaus als wohltuend.
Die Sonne erreicht uns mit rosigem Licht, das schnell weiß und grell wird. Aber die Kälte einer Nordwand bleibt. Vom Antritt gelöste Schnee- und Eiskristalle werden vom Wind als Glitzerstaub, vergleichbar mit tausenden von funkelnden Diamanten, davongewirbelt. Mal mitten in der Firnbahn, mal dicht an Felsrippen arbeiten wir uns höher. Um Siegfrieds neue, leuchtend rote Steigeisen zu schonen, legen wir sie an Felsberührungspunkten ab, was nicht gerade komisch ist, da wir mit kalten Fingern die Riemenbindungen fädeln und zurren müssen.
Bei einer dieser Gelegenheiten bietet mir Siegfried die Rolle des Vorsteigers an, weil ihn meine Dreistigkeit, ohne Helm zu steigen, immer mehr ängstlich beschäftigt. Doch die Tatsache, dass ich stets beim Tragen jeglicher Helmarten von Migräne geplagt werde, lässt mich eben als geringeres Übel mein ungeschütztes Haupt den Séracgrüßen von oben als Zielscheibe darbieten. Siegfried ist der Meinung, dass ich mich aber nicht noch zusätzlich seinen losgeschlagenen Eisstücken aussetzen muss.
Beim Neuanseilen klemme ich meine Handschuhe versehentlich in den Brustgurt ein. Ein unbedachter Zupfer gibt einem von ihnen die Freiheit. Er hüpft lustig davo, kollert nach unten und weiter, immer weiter, immer tiefer. Er zeigt eine ganz leise Demonstration dessen, wie eine von Firn und Eis verputzte Wand im steilen Winkel der Schwerkraft enormen Raum zum Wirken gibt. Mit einer Mischung aus Ärger und Faszination sehe ich zu. Als der Ausreißer dreihundert Meter tiefer immer noch nicht liegen bleibt, verabschiede ich mich von ihm und ziehe wohl oder übel meine ungefütterten Autohandschuhe an. Besser als gar keine!
Nachdem wir die Wand und ihre Länge immer wieder unterschätzt haben, erreichen wir dann überraschend plötzlich die ersten Séracs und damit auch den Felsriegel. Mit dem Schritt auf einen aus der Eiswand ragenden Felsabsatz eröffnet sich uns das Panorama auf neunzig Grad. Weite Gipfelkulisse dehnt sich nach Norden. Die Lauterbrunner Jungfraukette liegt wolkenlos unter blaßblaugrauer Dunstschicht, Flugzeuge ziehen über uns im tiefen Blau mit nur kurzen Kondensstreifen ihre Bahn. Selbst ich als wettergeschädigter Alpinist kann heute kein beunruhigendes meteorologisches Detail ausmachen. Bergsteigen ohne Wetterstress. Das ist ein Fest!
"Ein irrsinnig schoner Tag", gibt Peter überwältigt von sich. So genießen wir beschauliche Rast, bevor wir uns wieder dem Gipfeldach zuwenden. Dass diese Eiswand uns bei unserer fehlenden Akklimatisation nicht leicht fallen wird, wussten wir schon vorher... Es klebt wieder windverblasener Neuschnee auf dem Firn. Und die Höhe macht sich allmählich bemerkbar. 3.500 Höhenmeter in nur fünfzehn Stunden!
Wir schieben uns in Zeitlupe hinauf, schlagen alle zwei Schritt mit dem Pickel den Pappschnee aus den stollenden Steigeisen und versuchen darüber den Rhytmus nicht zu verlieren. Etwas steiler wird es jetzt wieder. Die makkellose Sicht auf die weißen, schattenlosen Firnbecken des Beichgletschers unter dem augenblicklich klaren Himmel verleiht dem Steigen etwas Feierliches. Ich bin frei von Kopfschmerzen und fühle mich wohl und stark. Jedenfalls, solange ich verschnaufe! Es wird wieder anstrengend, sobald ich mich höher bewege. Sofort breitet sich eine schon bekannte Schlaffheit und Müdigkeit im ganzen Körper aus. So muss man sich fühlen, wenn man sehr alt ist, denke ich und ist es nicht idiotisch, sich so etwas vorzeitig mit solchen Touren anzutun? Verräterische Gedanken! Die werden aber gleich wieder hinweggewischt von der majestätischen Erhabenheit der Landschaft ringsum. Dies ist doch ein großartiger Tag!
Die Pausen werden häufiger, doch der Weg zum Gipfel ist noch weit. Gewaltige Tiefe liegt schon unter uns. Immer weiter wird der Grad der Fernblicke. Langsam steigen wir aus der Eisarena heraus. Einige luftige Eiswülste folgen, die wir überklettern, wenn auch in den dicken Stiefeln nur mit mäßiger Eleganz. Die verhältnismäßig kleinen Séracs, denen wir schon recht nahe gekommen sind, werfen jetzt lange, blaue Schatten in der Mittagssonne und erinnern uns daran, wie die Zeit verrinnt.
Dann, urplötzlich stehen wir auf dem Gipfel! Er ist überraschend geräumig, gewährt Ausblick auf viele bekannte Berge und knüpft Erinnerung, an die im Laufe der Jahre bestandenen alpinen Abenteuer. Erinnerungspanorama 360° Grad: Monte Leone, Monte Rosa, Mischabel-Dom, Liskamm, Matterhorn, Weißhorn, Dent Blanche, Grand Combin, Grandes Jorasses, Mont Blanc, Blümlisalp, Jungfraukette, das Aletschhorn ganz nah gegenüber und wieder Monte Leone. Meine letzten sechs Jahre auf einem Blick. Sechs Jahre Fels, Schnee und Eis. Wofür das alles bloß?
Der bevorstehende Abstieg via dem Normalweg, den Westgrat bis zum Gredetschjoch und durch das Gredetschtal über Birgisch nach Blatten- Belalp sieht saumäßig lang aus. Allein schon die Strecke vom Gredetschjoch nach Birgisch verlangt einem Wanderer Vieles ab. Die Führe zu finden ist allerdings einfach, weil uns schon dicht unter dem Gipfel eine andere Seilschaft auf unserer Abstiegsroute von unten herauf entgegen kommt. Sie sind augenmerklich seit Stunden unterwegs und wir wissen nicht, ob wir mehr ihren Mut, oder mehr ihre Ahnungslosigkeit bewundern sollen, wie sie da so in beängstigend kurzen Abständen angeseilt, mehr oder weniger gleichzeitig das absturzträchtige, mit angetautem Schnee behaftete, steile Firngelände heraufzockeln.
Der Abstieg erweist sich im antauenden Neuschnee als ziemlich kiebige Übung. Die Steigeisen stollen gewaltig in dem Pappschnee, sind jedoch unverzichtbar, um auf diesem labilen Untergrund überhaupt Halt zu finden. Siegfried besteht darauf, dass wir jede Möglichkeit zur Sicherung nutzen. Er hat ja recht und mich beruhigt seine pedantische Vorsicht. Denn dass schlimmstenfalls ein Rutscher von einigen Metern drin ist, will ich schon hinnehmen. Dagegen bereitet mir die Aussicht, bei einem solchen Ereignis allesamt erst drei- bis vierhundert Meter tiefer auf dem Gletscher zum Halten zu kommen, außerordentliches Missbehagen. Es finden sich allerding nur hin und wieder wirklich solide Sicherungspunkte und dieser Abstieg bleibt ein windiges Unternehmen.
Am heikelsten zu begehen sind die Platten und Stufen am Gredetschjoch. Sie sind unter dem zusammengesackten Tauschnee der Südseite nur zu erahnen. Über solchem Hinabschwindeln eilen die Stunden dahin und es ist ein schwacher Trost, dass die oben wieder aufgetauchte Seilschaft noch tiefer kommt.
Der Gredetschgletscher präsentiert uns beunruhigend angetaute Spaltenbrücken und -grate. Aber elfengleich, wenn dies auch nach einer solchen Tour etwas übertrieben klingt, bemühen wir uns, sie schonungsvoll zu begehen, damit die Anderen sie auch noch benutzen können. Dann wechselt Gletschereis mit Geröll, doch immer noch mächtig bergab, was unsere Zehen empfindlich an die Stiefelspitzen stoßen lässt. In der Karstlandschaft des Moränenbereichs etwas später, lässt unsere Konzentration gefährlich nach, wohl in dem Glauben, die Tour bereits vollständig bewältigt zu haben. Es kostet viel Kraft und Selbstdisziplin auch jetzt noch auf jeden Schritt zu achten und jeden Tritt zu prüfen. Denn selbst hier kann noch ein Ausrutscher das Ende der Bergsteigerkarriere bedeuten!
Es wir dunkel, als wir Birgisch erreichen. Und es ist dunkel, als wir den schikanös steilen Gegenanstieg über Moos nach Bell hinaufkriechen. Stockfinster ist es, als wir schließlich den Abkürzer von Bell nach Blatten-Täschen auf einem halsbrecherischen Zickzackweg durch den Wald wählen und unseren gestressten Füßen den Rest geben.
Ein irrsinnig schöner Tag! Hingeschwunden sind die Stunden unserer Freundschaft, wie Sekunden. Euch vergessen, Kameraden? nein! Unser Bund wird ewig sein!
 
 
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