Berge zur Selbsterkenntnis
 
Lang gehegter Bergtraum (Juni 1986)
 
eter war in vergangenen Jahren schon mehrere Male mit anderen Kameraden im Berner Oberland, um die Route durch die Finsteraarhorn Ostflanke zu begehen. Aber immer hatten sie bei diesen Gelegenheiten schlechte Wandverhältnisse vorgefunden und waren nicht weit eingestiegen.
Vor fünf Jahren stieg Peter im Wallis zum ersten Mal mit mir zusammen. Da kannte ich schon einige interesannte Berge in den Westalpen und hatte dort bereits so mancherlei schöne Tour gemacht. Und natürlich hatte ich noch Wünsche. Der dunkle Finsteraarhorn Ostpfeiler war nicht darunter. Mein Bild von ihm war von Düsternheit geprägt und vom Erzählen Hans Metry's, von dessen schweizer Freunden dort 1976 zwei tödlich abgestürzt waren. Zu gefährlich, kein Ziel für mich, sagte ich damals...
Ich sah die schattige, unheilverkündende und eisverkrustete Flanke erstmals im Oktober 1983 aus der Nähe. Während ich höher kam, wurde sie immer länger, gigantischer und abweisender. Ich betrachtete sie, fast ohne die Details zu sehen, als stünde sie außerhalb meiner Welt: Bloße felsige, eisige Kulisse inmitten der größten Eisströme Europas. Fast verständnislos kroch mein Blick hinauf in die schattigen, winterlichen Felsen. Vergessen war dieser gewaltige Pfeiler wieder, als ich mit Peter auf dem Eiger, , später auf Altels, Balmhorn und Aletschhorn stand.
Zwei Jahre später war ich mit Peter und Siegfried an einem schönen Herbsttag am Nesthorn. Bevor wir zurück nach braunschweig fuhren, schauten wir mit dem Fernglas auch in die Finsterarhorn Ostflanke. Drei Monate zuvor hatte ich mit Peter das Silberschloß Piz Palü erstiegen: Eis, dann Fels, dann Eis und wieder Fels. Und nun verstand ich auch die schlichte Logik dieses Ostpfeilers: Gletscher, Firn, Eis, Fels,Eis, Fels, Firngrat, Felsrippe und wieder Firngrat. Aber jeder Aufstieg im Berninagebiet hatte uns bald in die Sonne geführt. Diese immer schattige Wand jedoch, reizte mich nicht! Weit mehr schon das Lauterbrunner Breithorn, oder eher das leuchtende Obergabelhorn bei Zermatt, oder die Nordflankenführe des Liskamm...
Erst in diesem Jahr sehe ich das Finsteraarhorn wieder. Peter hatte mich immer wieder einmal darauf angesprochen, doch hatte ich stets, wenngleich auch jedes Mal etwas schwächer, abgelehnt, dorthin mit zu gehen. Ich habe auch jetzt noch allerlei Bedenken, aber: "Wir können uns das ja mal ansehen..."
Kurz vor dem Grimselpass, nahe beim Grimselsee, halten wir an, schauen mit dem Feldstecher hinüber. Abendsonnenschein liegt auf dem Gipfelfirn. Geradezu freundlich, ganz anders als in meiner Erinnerung, steht der Berg dort über dem Oberaarhorn. Peter ist begeistert: "Schau nur, wie wenig Schnee es dort oben hat!" Und: "Fast eisfrei! Und das schöne Wetter, das muss doch gehen!"
Auch meine Bedenken haben vor dem freundlichen Bild etwas an Kraft verloren. Die Eisfelder glänzen allerdings im seitlichen Licht verdächtig blank. Aber das will Peter nicht hören. Schließlich kommen wir ja gerade von Grindelwald und Fiesch, von den Fiescherhörnern, die uns auch in einigen steilen Seillängen mit splittrig- scholligem Blankeis Mühe bereitet haben. Doch Dank moderner Eisschrauben ist uns dieses Unternehmen dennoch sicher gelungen.
Nichtsdestotrotz können wir schon noch etwas körperliche Kondition gebrauchen, zumal für das Steigen mit schwerem Biwakgepäck. Es ist sicher gut, erst noch andere Touren zu gehen. Aber ich muss eingestehen: Langsam bekomme auch ich Lust, zu dieser Herausforderung. Habe ich mich wieder einmal von Peters Elan anstecken lassen?
Auf dem Campingplatz von Fiesch stehen dann auch unsere beiden Kuppelzelte. Radio TRS I hat Gewitter gemeldet. Das wollen wir erst noch vorüberziehen lassen. Doch entgegen allen Erwartungen und Vorhersagen trainieren wir bei herrlichstem Wetter am Wasuhorn und kommen uns ziemlich genarrt vor. Als wir uns dann kurzerhand entschließen, den, wie uns scheint, doch nicht zutreffenden Wetterbericht zu ignorieren, und zur Grimselpasshöhe hinauf fahren, hüllt sich das Finsteraarhorn binnen Stundenfrist völlig in Wolken und wir haben keine Chance mehr, Einzelheiten der Wandverhältnisse auszumachen. Also gehen wir zurück, um eine weitere Erfahrung über die Plötzlichkeit von Wetterstürzen reicher.
Abends gewittert es und wetterleuchtet noch um Mitternacht. Im Morgendämmern stolpern wir talwärts, statt zum Einstieg. Peter ist frustriert, ich eher erleichtert. Wir müssen auch wieder zurück in unser flaches, graues Land, ich nach Braunschweig, Peter nach Wolfsburg. Also fahren wir wieder zurück zu unserer Arbeit...

Peter ruft am folgenden Donnerstagabend an. Er hat Hoffnung. Und so fahren wir am Freitag wieder los, den leuchtenden Gletschern entgegen. Obwohl es erst Mai ist und der Tag kaum mehr als zwölf Stunden Helligkeit hat. Obwohl wiederum die Eisfelder sicher noch härter und verschneiter sind. Aber seit ein par Tagen liegt ein stabiles Hoch über den Alpen, es herrscht ruhiges, mäßig warmes Frühsommerwetter.
Diesmal wissen wir, was uns erwartet! Wir wissen jetzt, wann die bessere Zeit ist. Zwar ist im Herbst jeder Tag beinahe drei Stunden länger, aber auch heiß und gewittrig. Diesmal müsste es eigentlich auch weniger Stein- und Eisschlag geben. Vor einer Woche zögerte ich noch. Doch jetzt bin ich zu dieser Tour schon entschlossener. Peter holt mich also erneut zu einer Fahrt zum Grimselpass ab. Die Sache mit meinem Urlaub habe ich mit sehr viel diplomatischem Fingerspitzengefühl regeln müssen. Etwas Schwindeln war wohl auch dabei. Trotzdem finde ich die verfügbare Zeit eigentlich zu knapp. Meine Ausrüstung füllt den Kofferraum von Peters neuem Golf mehr als reichlich.
"Die Wand und der Pfeiler sahen doch so gut aus", meint Peter beim Einladen. Und Siegfried, den hatte ich in Zermatt noch rasch angerufen, war der Meinung, da sich das Wetter im Grunde gehalten hat, ist es noch genauso mit den Wandverhältnissen. Peter hat mich ohnehin schon halbwegs überzeugt. Ich genieße es allein schon, wieder einmal mit einem Freund zu den weißen Bergen unterwegs zu sein. Obgleich es hier in Braunschweig noch aus Kübeln regnet...
Dass wir später auch von Thun aus, wo doch schon der Azorenhochkeil wirken sollte, keinen Berg sehen können, stört uns schon mehr. Doch in dem Restaurant, in dem wir zu Mittag essen, wird erzählt, dass es oben am Grimselsee bereits sonnig ist. Also bauen wir auf diese guten Wetterprognosen. Die Begeisterung meines Freundes reißt nun auch mich mit.
Die Anfahrt mit Peters neuer Blechmühle über Guttannen zum Pass hinauf führt durch nässenden Nebel. Wir erreichen die Passhöhe und das Gasthaus am Totesee. Karstlandschaft unter bedrückendem Nebel.
"So zu ist es hier schon den ganzen Tag", erklärt uns ein Tourist. Zweifel und lange Gesichter. Aber dann kommen Absteigende, die auf der Oberaarjochhütte genächtigt hatten und berichten von herrlichen Sonnentagen über den Wolken. Also brechen wir auf! Eine gemütliche Gletschertour zur Lauteraarhütte...

In der Nacht wird es sternenklar. Meine Weckuhr knarrt drei Stunden vor Sonnenaufgang. Wortloses Frühstück. Trotzdem bemerke ich Peters Ungeduld. Mein Freund hat die Führe bereits vor Jahren einmal erkundet. Unserem Vorhaben steht nichts mehr im Wege. Als es hell zu werden beginnt, haben wir schon sechs Kilometer spaltenfreien, fast ebenen Gletscher hinter uns und stehen nun vor der Nordostflanke. Aber es muss geschneit haben, irgendwann zwischendurch. Unannehmbare, absolut winterliche Verhältnisse! Doch Peter kann sich nicht mehr trennen von seinem Traumberg Finsteraarhorn. Ich mache den Vorschlag zu Güte und Kompromiss, es erst einmal von der Südwestseite her zu versuchen. Vielleicht bietet ja der Blick vom Gipfel in die Nordostwand die Erkenntnis über neue Chancen oder andere Varianten am Wandpfeiler. Kurz entschlossen marschieren wir im Wahnsinnstempo zurück zum Auto, das wir gegen halb elf schon erreichen. Dann gibr Peter derart Gas, dass ich ihn zwischendurch frage, ob er auch ja seinen Fluglizenzschein nicht vergessen hat.
Um zwölf Uhr Mittag stehen wir auf dem Schotterparkplatz von Fieschertal und schultern erneut unsere schweren Rucksäcke. Der Fieschergletscher ist trotz der argen Zerklüftung durch Spalten und Eistürme gut begehbar. Ein Zeichen für bessere verhältnisse auf der Südseite?
Am Abend, total erledigt, erreichen wir die Finsteraarhornhütten und sehen gleich: Die Verhältnisse sind besser! Sie sind sogar ausgesprochen gut! Außerdem beginnt die Aufstiegsführe direkt hinter der Hütte, so dass uns ein langer Anmarsch über Gletscher und Firn erspart bleibt. Wir können also morgen bis kurz vor Sonnenaufgang schlafen...
Im noch fahlen Licht der aufgehenden Sonne steigen wir los. Zunächst den steilen, hartgefrorenen Südfirn hinauf bis zum Südwest-Felsgrat, den wir bald bei ca. 3620 Meter überklettern müssen. Um eine geeignete Stelle zu finden beschließen wir, erst einmal auf dem Felsengrat weiter zu klettern. Doch dieser zeigt mir gleich: Der Fels ist unangenehm zerborsten. An einer Steilstufe sind wir unachtsam. Mit den Gedanken noch auf der Nordostseite, eine kleine Steinplatte in der Hand, an sich ungefährlich... Aber sie hat ein meterhohes Bruchfelstürmchen gestürzt, dessen Teile mich gleich unsanft auf unsere Südseite zurüholen, indem sie auf mich herabprasseln, mich hinausdrängen, dann vorbeipoltern. Ein heftiger Schreck und eine kurze, heiße Angstwelle durchzucken mich und wecken mich zur vollen Aufmerksamkeit.
Wenig später hat es dünne Eislasuren auf dem Fels und eine weitere Steilstufe. Höher oben zeigt sich eine Scharte über einem überhängenden Gratteil. Wir halten auf sie zu, ohne den eigentlichen Überhang anzugehen. Vor einer glatten Platte, noch unter der Scharte, nehmen wir das Seil etwas kürzer. Peter führt, schließlich ist es sein Wunschberg, wenn auch nicht die dazugehörige Wunschseite mit dem gewünschten Pfeiler.
Es geht jetzt nur noch ganz langsam weiter, dennfast jeder Griff und Trittist von einer millimeterdicken Eisschicht überzogen und noch scheuen wir uns, wahllos in den brüchigen Fels zu greifen, ohne vorher seine Festigkeit zu prüfen. Wir tun es vielleicht in der Scharte, die abhängend beginnt und sich zu einem gewagten Eiertanz gestaltet. Dort jedoch geht es links außerhalb auf einen guten, aber steilen und zerrissenen Firn zum Hugisattel hinauf. Nach zwanzig Metern führt es wieder über festgefrorenen Harsch. Hier auf dieser Höhe sind seinerzeit Hans Metry's Kameraden abgestürzt. Das beruhigt mich nicht gerade! Ich bin immer noch mit dem Schreck von vorhin beschäftigt und auch Peter scheint sich in der unwirtlichen Exponente noch nicht recht wohl zu fühlen. Ansonsten würden wir hier auf dem Firn nicht übertrieben sichern, sondern gleichzeitig steigen.
Es ist bereits neun Uhr durch. Werden wir, wie geplant, an einem Tag durchkommen? Über uns sitzen große, ausladende, fast in Fallinie angeordnete Séracs. Ich habe das Gefühl, dass sie auf uns zielen. Wir queren schnell aus der Gefahrenzone unter die Nordwand, die sich beinahe bis nach Westen herumzieht. Aber gerade, dass ich von dort die erste Seillänge ausgehe, merke ich, dass ich falsch ausgerüstet bin. Auf dem hier derart harten, schollig brechenden, steilen Eis müsste ich einen steiferen Schuh und ein starres Steigeisen tragen; nicht die normalen Bergstiefel und die Zwölfzacker mit Gelenk, die ich anhabe.
Schon nach den ersten zwei Seillängen bade ich im Schweiß. Es ist ungleich anstrengender, als meine bisherigen Touren. Die Eisscharte zum Hugisattel hinauf, ist ein Bächlein aus blankem, glatten Eis. Wir weichen aus, steigen drei Seillängen weit über den Fels links daneben an. Er hat als Oberfläche eine dünne Wasserschicht, also ebenfalls kein sonderliches Vergnügen.
Als wir uns auf den Hugisattel hieven, geht es bereits extrem auf Mittag zu. Das Wetter ist gut, aber nicht die Stimmung. Ich plädiere dafür, umzukehren. Unser Zeitplan ist kaum noch einhaltbar, wir stehen unter permanentem Zeitdruck. Ich fühle nicht die gewohnte Sicherheit, weil die Steigeisen im harten Blankeis schlecht packen. Peter steigt nur mit der kurzstieligen Eishaue, die wir eigentlich an der geplanten Nordwestflanke einsetzen wollten. Das Einrichten von Standplätzen und Sicherungen hält auf. Peter ist trotz allem optimistisch:
"In den Gratfelsen kommen wir sicher schneller voran!"
Hoffentlich! Aber ich verstehe ihn. Wieviel Aufwand haben wir schon betrieben, für diesen Gipfel, und nun sollen wir einfach umkehren - für ihn kaum diskutabel.
Nach und nach gelangen wir höher. Der Fels ist gefährlich brüchig! Oder sind wir einfach nur verwöhnt von vorangegangenen Touren? Von Umkehren wird nicht mehr gesprochen. Es gilt, wieder auf festen Fels zu gelangen. Doch die fünf Seillängen zum ersten Grataufschwung werden uns noch leidlich lang. Alte Haken m Fels, von weiß der Himmel wem, die wir zum Standmachen benutzen können, beruhigen wieder etwas. Auch winzige, zwischengelagerte Gipfelfirnfelder, im Blankeis vorher eher unbeliebt, bieten nun willkommene Abwechslung. Dann, ohne Steigeisen, mehr als ein Seilgang in gutem Fels, zwei weitere durch leichte, kleine Schneehänge und über eine eingelagerte Schrofenkante.
Unser mühsames Höherkraspeln zieht sich bis in den Nachmittag hinein. Die Sonne wärmt. Leider nicht lange, denn dunkle Wolken sind im Westen aufgezogen. Jetzt aber los! Doch auch die Höhe macht uns langsam zu schaffen, mittlerweile befinden wir uns auf über 4000 Metern.
Die nächsten achzig Höhenmeter: Gleich zwei Scharten gefüllt mit Schnee und Eis. Dann die restlichen zehn Meter auf ganz gutem Gneis und... Überraschend plötzlich auf den Gipfel! Endlich oben! Tiefes Ein- und Ausatmen. Ringsum das großartigePanorama vom höchsten Punkt über Eiswüsten. Bei noch schlechteren Verhältnissen wäre diese Tour wohl kaum zu packen gewesen.
Nachdenkliches Schweigen und erhabenes Hinabschauen. Wieder ein Gipfel, der wievielte? Ob sich Peter damit zufrieden gibt und diesen Berg abhakt? Ich bemühe mich, ihn von seinem Pfeiler abzulenken:
"Siehst du all die Touren da unten, der vergangenen Jahre?"
Schließlich stehen wir auf dem höchsten Berner Gipfel! Und Peter hat auch einen Blick für »da unten«, allerdings über steilerer Perspektive: Er schaut hinunter auf »seinen« Pfeiler:
"Vielleicht schaffen wir den später, wenn es mal länger schön ist."
"Ganz schön schroffig und gezackt schaut er aus, von hier oben, anstrengende Felskletterei, denke ich." Damit versuche ich, seine heroischen Träume etwas auf das reale Maß zurechtzustutzen. Ich weiß aber, dass dieser Versuch bei Peter auf wenig fruchtbaren Boden fällt. Wenn der sich erst einmal etwas in den Kopf gesetzt hat... Und wie zur bestätigung wirft er mir dann auch gleich vor: "Du immer mit Deinem Pessimismus!" Und ich weiß nun, dass ich ihm diese Tour nicht mehr ausreden kann.
Aber jetzt der Abstieg, bevor wir müde und träge werden! Über schwarz glänzende Felsen und silbern schimmernde Eisfeder, durchsetzt von schmaler, seitlich einfallender Sonneneinstrahlung, über die jetzt immer öfter Stein- und Eisschlag poltert, zurück? Wären wir doch vorher umgekehrt! Jetzt sitzen wir an einem denkbar exponierten und verlassenen Platz. Immerhin aber auf dem Dach des Berner Oberlandes relativ sicher. Die übliche Wurstelei mit Seil und Schloserei bei der Vorbereitung zum Abseilen. Also los, konzentrieren!
Wir seilen ab, queren ein gutes Stück nach Südosten, bis wir den Südwestgrat wieder erreichen. Auf dem Südfirn beginnt das Geprassel kleiner Steine und Eisstücke, das wir aber zu ignorieren trachten. Nur jetzt in der Mattigkeit, die dem Glücksgefühl eines Gipfelsieges folgt, nicht nervös und unbedacht handeln! Folglich vergeht einige Zeit in dem mittlerweile angetauten Firn. So gelangen wir bedächtig und sicher tiefer.
Zwölf Stunden nach unserem Fortgang aus der Hütte sitzen wir wieder dort. Erleichtert. Etwas aufwärmen, dann packen wir unsere Siebensachen zusammen. Der Azorenhochkeil kämpft noch verbissen, auch wenn das Grünhorn schon von vorwitzigen Wolken umspielt wird...

Anderntags, gegen halb elf Uhr, sind wir wieder auf dem Schotterparkplatz beim Auto, per Rekordabstieg. Dann übertrieben eilige Rückfahrt ins frühlingshafte Braunschweig. Unser Job wartet auf uns. Wieder einmal nehmen wir Abschied von unseren Bergn. Ich zufrieden, Peter hingegen etwas geknickt. Es war eben nicht sein lang erträumter Nordostpfeiler, auf den er sich so gefreut hatte.

Am folgenden Wochenende, beim gemeinsamen Klettern im Granitfels der Adlerklippen im Okertal, fachsimple ich mit Peter noch einmal über unsere falschen Annahmen, die wir von der Finsterraarhorn-Nordostflanke hatten. Wir sehen jetzt ein, dass wir keinen einfachen Felspfeiler, sondern eine Eistour mit außerordentlich schwierigen Felspassagen vor uns hatten. Nun wollen wir die ursprünglich geplante Tour, Peters Traumroute, wenn möglich noch an einem der nächsten Wochenenden erneut angehen. Allerdings mit besseren, starren Steigeisen. Für zusätzlich neue Stiefel langt der Lohn eines Stuckateurs aber nicht mehr. Hundertfünfzig Mark hatte ich Peter schon für das Benzin gegeben und dann auch noch das neue Kletterseil in der letzten Woche, ein echtes "Edelried" musste es ja sein. Und die alljährliche Lohnerhöhung war schließlich auch nicht mehr, als gerade mal eine Lohnangleichung!
Im Château d' If lese ich indes im Clubführer: "Die fast tausendeinhundert Meter hohe Finsteraarhorn- Nordostwand ist die imposanteste Seite des höchsten Berner Berges. Der Norost-Pfeiler zieht sich parallel zum Ostsporn vom Finsteraargletscher als kühne Felssäule zum Gipfel. Luftig, exponiert, steil und gefährlich..."

Ende des Monats gibt es Neuschnee in den Bergen und lässt unsere Herausforderung in weite Ferne rücken. Anfang Juni, das Wetter ist stabil und schön, kann Peter nicht, er hat nochmal Nacht- und Sonntagsschicht. Aber Mitte Juni klappt es, Peter muss seinen alten Resturlaub vor den großen Werksferien herausnehmen, da er sonst verfällt. Ich kläre meinerseits für mich zwei Tage Urlaub unter anderem Vorwand und es stört mich nicht, dass ich dabei vor meinem Chef das Blaue vom Himmel herunterschwindele. Dann telefoniere ich mit Peter und er holt mich am Freitag ab.
Diesmal wissen wir wirklich, was uns erwartet. Das glauben wir zumindest. Jedenfalls verbirgt sich die Flanke diesmal nicht, als wir den Grimselpass mittags erreichen, nach neun Stunden Autobahn, Unfallstau, Umleitung und Kaffeepause. Aber es liegt mehr Schnee, als wir erwartet haben, mehr, als wir im Mai vorfanden. Im Führer steht: "Die Rippe ist nur schneefrei und eisfrei zu begehen. Sollen wir es dennoch probieren?
Wir sehen das Ernüchternde: Ganz deutlich, der Gletscher, der Finsteraarfirn, sie sind alles andere, als aper. Und Peters Pfeiler leuchtet in strahlendem Weiß. Ich versuche meinen sichtlich enttäuschten Kameraden zu beruhigen: "Wir gehen mal rauf und schauen uns das dort oben an, notfalls kehren wir wieder um."
Aber das wollen wir beide nicht noch einmal und mit der gegenseitig vorgespielten Vorsicht lügen wir uns nur selbst in die Tasche. Denn wir wollen unser Vorhaben endlich zum Abschluss bringen. Eine Stunde lang sitzen wir dann vor den Lauteraarhütten, schauen und beraten: "Sonne linke am Pfeiler, da ist er schneefrei, jedenfalls soweit, wie wir nicht in die Scharte hinein ausweichen müssen."
"Aber oben glänzt er, s'ist sicher alles Eis, was da so schimmert." "Aber links, weiter auf der Pfeilerkante, da siehts doch recht annehmlich aus, auch weniger weiß ist's da."
Später, die Sonne liegt weiter oben, in der Gipfelstufe, stark gebrochen von den Felszacken: "Da oben ist's angeschneit, vermutlich sogar vereist." Trotzdem, wir bleiben! Morgen geht's an! Wenigstens versuchen!

Wieder knarrende Weckuhr, wieder drei Stunden vor Sonnenaufgang. Diesmal wollen wir ganz über den Pfeiler! Aber der Neuschnee auf den Bändern stört. Wir seilen ein. Die Querung unter einem Felsaufschwung gleich am beginn ist heikel. Doch dann sind wir rasch darüber. Auch über die folgenden, schneebedeckten Schrofen geht es leidlich. Nun auf die erste Felsstufe und Gratschulter. Dass auf ihren Platten jetzt Eisschilde sitzen, stört uns nur wenig. Wir haben uns in den letzten eineinhalb Monaten genug mit Eis herumgeschlagen, um ausreichend geübt zu sein.
Jetzt ein kleiner, breiter Eisgrat, fast schon ein Schneefeld. Erwartungsgemäß ist der Firn noch schlechter, als vor sechs Wochen, aber mit starren Steigeisen fühle ich mich relativ wohl. Auch Peter hat gelernt. Er hat seine kurzstielige Eishaue gegen einen modernen Pickel mit auswechselbarer Ramme eingetauscht.
Aufwärts über Felskanten geht es weiter. Das herrliche Wetter bringt uns bald zum transpirieren. Peter ersteigt die steilen Felsmeter links vom Unterende des kleinen Firngrates, heute ein zu Eis erstarrter Wasserfall. Er lässt sich von einem höher oben sichtbaren Tritt zu weit auf den vereisten Felsrücken emporlocken und wird in recht labiler Stellung von einer Serie von Schneerutschen überschüttet. Diese halten mit kurzen Unterbrechungen eine ganze Weile an, bringen auch Eisstückchen und kleine Steine mit sich und drohen Peter hinunterzuspülen. Ich, durch die Felsen ganz gut gedeckt, warte besorgt, ohne die Möglichkeit, meinem Kameraden zu helfen. Als er sich bei einer Unterbrechung des Beschusses endlich an den angestrebten Standplatz rettet, folge ich gleich mit Erleichterung. Ich steige so, dass ich nach einer Steilstufenrippe sofort rechts von Peter im guten Eis weitersteigen kann. Allmählich hören auch die Schneerutsche auf.
Nach zwei Seillängen geraten wir wieder auf hartes Eis. Die Oberkante dieser Eisscholle ist durch neues Eis der letzten Tage lückenlos it dem Fels verbunden. Tritte brechen splitterig aus und das Steigen ist deutlich schwieriger geworden. Immer öfter bringen wir Zwischensicherungen an.
Einmal, nach einer kurzen Querung, setze ich eine Eisschraube, die aber auf Felsgrund stößt. Von den Problemen des Pfeilers schon genug genervt, sichere ich trotzdem an ihr. Ich klettere weiter, um ein Felsstück herum, eine Eiszunge hinauf, in einer flachen Rinne. Ein paar Meter unter einem neuerlichen Felsaufwurf halte ich, um Stand zu machen. Bei dem Versuch, eine weitere Sicherungsschraube anzubringen, bricht eine große Eisscholle unter meinen Füßen aus, der schlecht geschlagene Eispickel hält nicht und ab geht's! Über das Eis, über ein paar kleine Felsinselchen. Ich komme wohl schon mit ziemlicher Fahrt in Peters Sichtfeld, sehe, wie er sich zu Fels und Haken hin verstemmt. Aber die Eisschraube hält und Peter auch! Noch mal gut gegangen! Pickel und Steigeisen kontrollieren und wütend über meine Unachtsamkeit steige ich wieder hinauf.
Dann endlich der "Graue Turm". Von ihm hatten wir den einen oder anderen schon erzählen hören und dort kommt er nun in Sicht. Auf einer Trittstufe verschnaufen wir erst einmal. Es ist windstill und warm. Schönwetterdunst liegt über dem Tal. Bis hinauf zum Turm geht es auf mit kleinen Steinen gespicktes Eis. Ein Kamin führt links, schräg hinauf, und vielleicht am Gendarmen vorbei. Eisgefüllt ist er, dieser Kamin. Und am Ende der Seillänge versperrt ein blanker Eisnollen den Weiterweg durch den Kamin. Ohne die Steigeisen könnte ich wohl an der trockenen Kaminwand hochspreizen. Aber wie soll ich dann am Nollen weiterkommen? So ein Akrobat bin ich nicht, dass ich mir dort oben, ohne Halt, die abgenommenen Steigeisen wieder anziehen könnte. Ergo, ich versuche es mit Steighilfe! Es geht auch ganz gut. Bis über den Eisnollen helfen mir dann ein Paar schon reichlich angetaute und wieder gefrorene Eisstalagmiten hinauf. Dann schmale, felsige, aber eisüberzogene Tritte, bei denen ich wiederum für meine Steigeisen dankbar bin und an denen ich mich dann hochziehe und -drücke. Direkt oberhalb mache ich Stand, am Felsrand des hier trichterförmig aufgeweiteten Kamins.
Bevor ich weitersteige, warte ich geduldig, bis Peter nachgekommen ist. Bei dieser Gelegenheit wird mir bewusst, dass ich ganz ungewollt die Führerrolle an Peters "Traumberg" übernommen habe. Am rechten Felsrand geht es weiter, dann über Bruchschrofen empor. Von oberhalb tropft Schmelzwasser, rieseln kleine Steinchen, teilweise in meinen Jackenkragen, was ich irgendwo gar nicht mehr lustig finde.
Weit drüben wird endlich der Blick zu den Lauteraarhörnern frei und zu den besonnten, grünen Vorbergen und Hügeln im Tal. Direkt unter uns winden sich die drei Ströme von Studerfirn, Strahlegggletscher und Finsteraargletscher gen Osten. Jetzt ist Peter wieder gefordert. Er steigt in schöner gratkletterei wieder vor. Heute die erste Seillänge ganz ohne Steigeisen! Doch nämliche müssen wir dann auch gleich wieder anlegen. Schräg rechts hinauf lenkt uns die Führe in einen großen Eisschlauch, wieder mit Schnee gefüllt. Teilweise ist es aber auch schon etwas firnig. Eisschollen hüpfen von oben an mir vorbei, um tiefer, beim "Grauen Turm" wie von einem katapult abgeschossen, davonzufliegen.
Noch zwei Seilgänge durch die nach links ziehende, zunehmend schneefreier werdende Rinne, dann gelangen wir erneut auf Felsrippen. Rechts von uns jetzt aufsteilende Felsrippen und Eiscoloirs, bis zum Gipfel hinauf. Ich schlage vor, lieber durch einen hier nach rechts ziehenden, weiteren Eisschlauch zu steigen. Peter ist nach einigem Hin und Her einverstanden. Eigentlich hat er die Nase voll von Eisschläuchen und -rinnen. In dem linken Schlauch kämen wir zwar erheblich näher an den Gipfel, doch hat es dort oben wieder viel Schnee. Also nehmen wir den rechten.
Obwohl ich gut trainiert bin, macht sich bald die Höhe bemerkbar. Dies äußert sich in kleinen Unkoordiniertheiten. Die Sonnenbrille beschlägt, eigentlich nichts besonderes. Doch beim Putzen bin ich nicht achtsam genug, sie entgleitet meinen Händen und verschwindet geradezu höhnisch über die nächsten Felsmeter der schir endlosen Klippen des Pfeilers. Ich bin zu enttäuscht, um zu schimpfen. Oder zu müde? Aber ich hatte nur diese eine hier mit! Erstaunlicherweise bleibt auch Peter, sonst leicht zu ein paar kräftigen Worten geneigt, ruhig. Mehr noch, er ergreift die Initiative und seilt zwanzig Meter ab, wo wir einen Eisabsatz vermuten. "Vielleicht ist sie dort unten stecken geblieben", meint er hoffnungsvoll. Natürlich nicht, stellen wir fest.
Von oben lösen sich wieder einmal Steine und hageln durch die Eisrinne herab. Dann erreichen wir ein kleines Eiscoloir, das sich bis auf einen sonnenbeleuchteten Firngrat hinaufzieht. Der Gipfelgrat? Kurz darauf treten wir über die Gratkante ins volle Sonnenlicht. Es eröffnet sich uns ein grandioser Blick zum halbbesonnten Lauterraarhorn. Als wir über den Firngrat zum Gipfel queren, überfällt mich jäh die Freude des Erfolgs und die Schönheit des Augenblicks. Der höchste Gipfel des Berner Oberlandes, wir stehen auf ihm, bezwungen an seiner unnahbarsten Stelle!
Wir sitzen in der Sonne, von Schichtwolken umgeben, mit freiem Blick zu den benachbarten Viertausendern. Dahinter aber ziehen von Westen her gestaffelt ballige Cumuluswolken heran. Die Schönwetterlage scheint abzubauen. Es ist Mittag. Peter macht ein so glückliches Gesicht, als hätte er gerade seine Traumfrau geheiratet. Und nach seiner Verlobung mit diesem Pfeiler im Mai, kann man es durchaus so sehen. Mir liegt wieder ein bisiger Spruch auf der Zunge, doch diesmal halte ich den Mund. Soll er seinen Traumberg ruhig noch eine Weile genießen. Immerhin war er es, der von Anfang an für dieses Ziel schwärmte und an eine Besteigung dieses Berges von uns "Flachlandtirolern" geglaubt hatte.
Noch schauen wir zu den besonnten niederen Bergen hinüber, möchten insgeheim die Zeit anhalten. Aber übermorgen sind wir wieder zivilisationsgerechte Städter in Braunschweig und Wolfsburg. Doch erst einmal beansprucht uns noch der Fünfhundertmeterabstieg zum Agassizjoch. Da hat es nur ganz oben Schnee. Unten dominieren unangenehm abwärts geplattete Felsstufen.
Beim Schrägabwärtsqueren finden wir ein paar Mal in den Eisbrüchen nicht gleich die beste Möglichkeit, was noch einmal aufhält. Auf dem letzten Hang, wo noch Firn ist, schauen wir noch einmal erfolgszufrieden, sehnsüchtig und abschiednehmend hinauf in die Südwestflanke, wo Passagen unserer Route von vor ein Paar Wochen gut einzusehen sind. Unser Finsteraarhorn leuchtet schon leicht in Rot der Abendsonne, als wir auf dem Fieschergletscher unter dem Triftgrat einen letzten Blick zu seiner Linienkonkodiation ganz oben hinaufwerfen. Elegant schaut er aus, unser Traumberg, so im rotgoldenen Streiflicht der Sonne.
Dann, im Schatten der Wannenhörner, schreiten wir hinab mit traurig gestimmten Gefühlen. War mir dieser Berg anfangs nicht ganz geheuer, so fällt es mir jetzt schwer, mich wieder von ihm zu trennen, sein eisig- romantisches Reich zu verlassen. Ich spüre, dass auch an diesem Berg etwas von mir zurückbleibt. Er ist zu einem weiteren Stück von meinem Leben geworden. Peters Schweigsamkeit während des Abstiegs über den Gletscher bestätigt mir, dass unsere Gedanken Parallelität besitzen.
Nachdem wir mit viel Glück per Anhalter zum Grimselpaß zurückkehren, sehen wir unseren Berg nochmal im schemenhaften Mondlicht in der Ferne schimmern. Genächtigt wird, wie so oft schon, in Peters Auto.
Anderntags fahren wir mit Vollgas zurück in die nächste, graue, ernüchternde, freudlose und monotone Arbeitswoche...

...Amicus certus in re incerta cernitur.
 
 
 
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