Berge zur Selbsterkenntnis
 
Erinnerung an Janine (September 1985)
 
o viele schöne Touren war ich in diesem Sommer allein, oder mit Peter und Siegfried gegangen. Nun ist Herbst. Die Tage meiner Arbeit an der ratternden Verputzmaschine werden düsterer, nasser und kälter. Obwohl wir für September verhältnismäßig schönes Wetter haben. Vielleicht gerade deshalb und weil meine Berge auch jetzt, nach einem herrlichen Bergsommer, immer noch locken und stille Sehnsüchte wachrufen, beschließe ich, noch einmal ins Wallis zu fahren. Wie in einer letzten Flucht vor dem langen, kalten Winter stehle ich mich, meinen letzten Urlaub hergebend, von meiner Baustelle und packe meinen Rucksack. Wenn das goldene Wallis ruft, gibt es im öden, grauen Braunschweig kein Halten mehr!

Und so sitze ich in der Brig-Visp-Zermatt-Bahn, die quietschend und schaukelnd das Mattervispatal hinaufkriecht. An steilen Stellen setzt der Zahnstangenbetrieb ein. Ein gleichmäßiges Rattern ertönt und die Bahn wird noch langsamer, als sie ohnehin schon ist. Aber jedes Mal, wenn ich wieder dieses Geräusch höre, wenn ich in dieser Bahn sitze, weiß ich, ich komme wieder nach Hause. In Staldenried tauche ich dann wieder ein in meine Welt, die mich aus der Einöde des grauen Alltags herausreißt. Und wenn ich in St. Niklaus aus dem Zug steige und hinaufschaue zu den Grächer Hausbergen, dann fühle ich mich befreit von allen Zwängen. Dann weiß ich, dass mich die nächsten Tage alles vergesen lassen, was mich bedrückt und belastet. Ich bin zu Hause.
Als ich im Hotel Sonne eintreffe, muss ich warten. Madame Anthamatten ist in die Kirche gegangen und ihre französische Angestellte kann entweder nicht verstehen, was ich möchte, oder sie weiß nicht, welches Zimmer ich bekommen soll. Jedenfalls kann ich sie definitiv nicht verstehen. Später bekomme ich mein Zimmer, das ich immer bekomme, wenn ich Gast in Grächen bin. Südbalkon mit Blick auf das Weißhorn.
Dieses Zimmer hatte ich auch mit Janine, als wir unsere letzten gemeinsamen Stunden im Wallis verbrachten. Wir hatten dieses Zimmer nicht viel genutzt. Tatsächlich diente es uns nur als Basis für unsere Wanderung über die Berge, die Janines letzte Wanderung in ihrem Leben sein sollte. Als klar wurde, dass die Ärzte Janines Leukämie nicht würden heilen können, und Janine mich mit der Bitte bedrängte, ihr meine Bergwelt zu zeigen, fasste ich eine letzte Hoffnung. Ich redete mir ein, so wie Klara in Heidi, dem gleichnamigen Kinderfilm, so können die Berge auch meine große Liebe heilen und unsere gemeinsame Zukunft retten. Ich glaubte ganz fest daran, dass die Macht dieser hohen Welt, die ich bereits erfahren hatte, mir etwas schuldig war und mir das Leben meiner geliebten Janine zurückgeben kann. Wir erlebten die wundervollsten Wochen, die ich bis dahin in meinem Dasein erfahren durfte. Die abgebrochene Chemotherapie ließ Janine aufblühen, wie eine Rose im Sommerregen. Nie zuvor war sie so lieblich und schön, nie zuvor war unsere Beziehung inniger, tiefer und leidenschaftlicher. Aber es war das Aufblühen einer Rose vor dem Winter. Wie das Aufflackern einer Glühbirne, bevor sie sich für immer in Dunkelheit hüllt, so strahlte auch Janine, um dann plötzlich in meinen Armen für immer von mir zu gehen...
Ich warte nicht auf Madame Anthamattens Rückkehr vom Gottesdienst, sondern genieße den Rest des angebrochenen Tages, um durch das Dorf zu schlendern. Obwohl die Sonne schon lange Schatten in die Gassen wirft, ist es warm. Für September zu warm! Mir kommt es sehr gelegen, denn der Winter wird noch lang und kalt genug. Gegenüber dem Dorfplatz bleibe ich vor der Boutique stehen und sehe ins Schaufenster. Hier hatte ich Janine das knallgelbe Minikleid gekauft, in dem sie so zauberhaft aussah. In diesem Kleid erregte sie derart meine Sinne, als wir ausgelassen über die Harzschneisen am Okerstausee liefen, dass ich mich kaum auf den Weg konzentrieren konnte. Und oft lagen wir uns an einsamen, sonnigen Plätzen in den Armen, das gelbe Minikleid floss wie eine Butterblume in das Gras und meine Hände ertasteten das, was ich zuvor durch den hauchdünnen, gelben Stoff nur erahnen durfte. Wie damals, als wir oft an den Wochenenden im Polstertal am Badesee campierten, sehe ich Janine wieder in ihrem gelben Kleid durch die Wiesen am See laufen, sehe sie Eis essen, sehe ihre Lebensfreude, ihre fröhliche Unbekümmertheit und Ausgelassenheit. Ganz deutlich sehe ich sie in der Erinnerung vor mir, als wäre es erst gestern gewesen, wie an jenem besonders herrlichen Wochenende Anfang August, an dem unsere Liebe noch unbeschwert sein durfte.
Wir wanderten von der Romkerhalle über den Ahrendsberg, am großen Steffenstal vorbei, über einsame Waldschneisen und verträumten Wegen zwischen Tannen und Fichten vorbei, entlang der Brocken-Schneise und dem Ahrendsberger Weg und über den Papenberg nach Bad Harzburg. Gegen Mittag , nach dem Besuch von vier Eiscafés wanderten wir zurück. Janine trug ihr knallgelbes, weit ausgeschnittenes, leichtes Minikleid mit Spaghettiträgern, das ich ihr aus dieser Boutique in Grächen mitgebracht hatte. Mir schwanden fast die Sinne, wie ich sie den ganzen Tag lang so vor mir sah, in dem knappen, wehenden Kleidchen, an dem sie auch noch wie zufällig einige der oberen Knöpfe offen ließ. Irgendwie gelang es mir, mich den ganzen Tag zu beherrschen, mich von ihrem verführerischen Blick nicht anmachen zu lassen. Jedenfalls hielt ich diese Passivität durch, bis wir auf dem Rückweg querfeldein über die Romkerschneise stiegen. Auf dieser einsamen, weltvergessenen Schneise, in frühabendlicher Windstille verloren wir beide die Beherrschung. Lediglich das hohe Steilhanggras, die dunklen, uns umgebenden Fichten und die friedlich singenden Vögel wurden Zeugen, wie wir die Gewalt über uns verloren und uns einfach unseren Gefühlen hingaben, unseren geheimsten Wünschen freien Lauf ließen. Unser Rucksack blieb liegen, wo er hinfiel und wir schwebten in unbeschwerter Selbstvergessenheit...
 
Plötzlich wird es kühl. Ich wische mir meine Tränen aus den Augen und sehe in der Spiegelung der Schaufensterscheibe, dass die ersten Lichter angehen. Ist die Kirche schon aus, habe ich sie überhaupt Läuten hören? Ich war so tief in der Vergangenheit versunken, dass ich die Gegenwart überhaupt nicht mehr wahrgenommen habe. Ich beschließe, einmal um den Dorfplatz zu gehen, nach Veränderungen Ausschau zu halten und dann ins Hotel zurückzukehren. Verändert hat sich nicht viel, wie es ohnehin den Anschein hat, dass die Zeit in Grächen seit jeher stehen geblieben ist. Als wäre ich erst gestern mit Janine hier gewesen...
Alle Pensionsgäste scheinen schon beim Abendessen zu sitzen, als ich Madame Anthamattens Hotel wieder betrete. In der Halle, unverändert seit Jahren im Stil der siebziger eingerichtet, empfängt mich Emma Anthamatten fast vorwurfsvoll:
"Wo waren Sie gewesen, Herr Adlung, die Marie hat gesagt, dass sie schon da sind..." Bevor ich antworten kann, fährt sie fort: "...Sie waren aus, haben die Berge vermisst, ja? Ich habe Ihnen ein Gedeck am Fenster gegeben, wenn Sie mögen."
Und ob ich mag! Einen Bärenhunger habe ich inzwischen. Ich nehme im Speisesaal platz und alles ist wie immer, als wäre ich nie fort gewesen. Durch das Fenster kann ich das Weißhorn erkennen, das im zaghaften letzten Sonnenlicht rosa glüht. Wie immer, an meinem ersten Abend im Hotel Sonne, bekomme ich Raclette. Das gefällt mir. Und es ist fast schon Tradition, geboren aus einer Situation heraus. Als ich das erste Mal nach Grächen und ins Hotel Sonne kam, traf ich so spät ein, dass alle anderen Gäste bereits geschmaust hatten. Der Einfachheit halber bot mir Frau Anthamatten Raclette an, weil es einfach herzurichten war, und rasch ging. Mit Käse überbackene Pellkartoffeln kannte ich bis dahin nicht. Doch ich war angenehm überrascht. Von diesem Tag an, ob ich früh oder spät im Hotel Sonne eintreffe, bekomme ich mein geliebtes Raclette mit Trockenfleisch, Fendant oder Visperterminer und Zitroneneis.
Nach dem Essen bekomme ich den Zimmerschlüssel. Zweiter Stock, mit Blick aufs Weißhorn. Auch wie immer! Aber dieses "wie immer" ist das, was mich empfinden lässt, dass ich von langer Irrfahrt endlich wieder nach Hause komme. Dieses Gefühl, etwas wieder so vorzufinden, wie man es verlassen hat, wie es einem gefallen hat und wo man sich wohl fühlt und gerne in Erinnerungen schwelgt. So richtig bewusst wird mir das, als ich die knarrende Treppe in den dunklen Flur hinaufsteige. Alles ist hier aus Holz und ich glaube, jedes einzelne Knarren der Dielen wieder zu erkennen. Ich bleibe stehen. Hatte ich damals mit Janine nicht das gleiche Zimmer? Ich weiß es nicht mehr genau. Was ich noch weiß, ist, dass wir es nicht bis ins Zimmer schafften, so sehr zogen wir uns gegenseitig in unseren Bann. Ich habe das Gefühl, Janine steht unsichtbar neben mir und versucht die Erinnerung in mir wach zu rufen. Eine prickelnde Stimmung lag damals zwischen uns und eigentlich wollten wir schlafen gehen...
 
Ich werde aus meiner Erinnerung gerissen, als andere Gäste von unten heraufkommen. Ich ziehe mich in mein Zimmer zurück und versuche zu schlafen. Eigentlich fällt das hier in Grächen nicht schwer, denn störende Geräusche sind hier spät abends selten. Es sind Gedanken an Janine, die mich noch wach halten. Hier im Wallis durfte sie ihre letzten schönen Tage genießen, bevor sie den Kampf gegen die Leukämie verlor. Und selbst Frau Anthamatten sah ihr damals nicht an, welch schwere Last Janine zu tragen hatte. Wie eine Blüte, die noch ganz rasch einen Sommer vor dem Winter sehen möchte, blühte Janine in den letzten Wochen auf. Um so plötzlicher musste sie dann von mir gehen. Wir wussten beide, dass sie nur von geborgter Zeit lebte, aber ich hatte Hoffnung. Wie naiv! Ich glaubte an das Märchen von Heidi, wo Clara auch in den Bergen gesundete. Dass Janine hier ihre letzte Kraft gab, um noch ein wenig Lebensfreude zu erfahren, darauf war ich nicht gefasst. Immer noch sehe ich sie froh in ihrem gelben Kleid über die Harzschneise laufen...

Am Morgen genieße ich erst einmal das Frühstück. Wie gewohnt bin ich der erste im Speisesaal. Frau Anthamatten bringt Kaffee und Brötchen, erkundigt sich wie ganz nebenbei, wohin ich zu gehen gedenke. Eigentlich wusste ich es selbst nicht recht. Wie kann ich ihr den sagen, dass ich alle Plätze und Wege besuchen möchte, an denen ich mit Janine zusammen war? Sie würde es wohl nicht verstehen.
"Nach Saas Fee, via dem Höhenweg, vielleicht", sagte ich ihr, als mir einfällt, das ich dort mit Janine zuerst gewandert war, weil ich ihr das Adlerpaar und die Steinböcke zeigen wollte. Nun, warum nicht, das Wetter ist super, es ist noch früh und falls ich mich vertrödele, fährt immer noch ein Bus nach Grächen zurück. Also der Höhenweg nach Saas Fee, lege ich noch mal für mich fest. Da benötige ich nicht viel Ausrüstung und kann den Tag und die Herbstsonne genießen. Rasch bitte ich Frau Anthamatten mir ein Lunch-Paket für den Weg fertig zu machen. Zu Trinken habe ich noch C-Frisch, Ein Orangengetränk in Pulverform, dass sich in der Feldflasche gut mit Gebirgswasser ansetzen lässt. Ich erinnere mich, dass Peter jeweils nicht so begeistert davon war. Und das wohl deshalb, weil es zwar hervorragend schmeckt, aber mehr Durst verursacht, als es löscht.
Ich beginne meine Wanderung, als die anderen Gäste zum Frühstück erscheinen. Ein kurzes Stück durch das Dorf, zur Seilbahn Seetalhorn hinauf, dann folge ich dem Weg zum See, der mich gleich hoch über das morgendliche Grächen führt. Der See ist nur ein besserer Tümpel und diente früher wohl den Almkühen als Tränke. Heute steht hier das Hotel Zum See, wo man, wie ich meine, immer noch das beste Speiseeis Grächens bekommen kann. Ab hier bin ich dann endlich wieder in meinen Bergen. Eine breite Skischneise führt ermüdend langsam höher zur Hannigalp. Der über dem Mattervispatal liegende Taldunst verspricht einen sonnigen Tag. Als ich die Bergstation der Seilbahn erreiche, hat es mein Hemd mühelos erreicht, den Schweiß auf die Außenseite meiner Kleidung zu transpirieren.
Ich weiß noch, wie unbeschwert Janine hier herauflief, in der Erwartung die ganz großen Berge mit den weißen Häuptern als Gipfelmeer zu sehen. Für sie als Neuling im Hochgebirge war es sicher ein unbekanntes Abenteuer. Sommer, Sonne, Berge, grüne, saubere Wiesen, verborgene Hänge, einsame Bergseen. All das war ihr in ihrer Situation damals sicher wie das Paradies vorgekommen. Stille und Frieden nach dem endlosen, aufreibenden Kampf gegen eine Krankheit, die zu bezwingen ihr die Ärzte wenig Hoffnung machten.
Gedankenverloren, fast mechanisch schlage ich den Weg ins Saastal ein, wähle automatisch die höhere Wegvariante, die ich vor Jahren auch mit Janine ging. Erst als ich über eine Wurzel stolpere, wird mir bewusst, dass ich mit träumenden Augen gehe. Hin und her gerissen zwischen den Zeiten, so fühle ich mich. War ich nicht auch damals über die gleiche Wurzel gefallen? Man redet sich Manches schön, wenn es die Seele beruhigt. Damit beruhige ich mich. Doch unkonzentriert war ich auch damals, allerdings aus anderem Grund. Es war nicht Janines Anwesenheit, die mich unkonzentriert steigen ließ. Eher schon die Tatsache, dass sie es für die selbstverständlichste Sache der Welt hielt, in luftiger, aufreizender Kleidung die Bergwelt zu entdecken. Ihre viel zu knappen Shorts regten mich damals zu fantasievollen Betrachtungen an, die abenteuerliche Gedanken zuließen. Janine war eine Frau, die es in jeder Situation verstand, meinen Verstand um den Verstand zu bringen.
Am Schweibbach, der einzigen Trinkwasserstelle des Höhenweges machten wir Rast um die Feldflaschen aufzufüllen. Heute ziert ein kümmerlicher Rest einer im Winter abgegangenen Lawine die Stelle, wo Janine auf einem Felsen versuchte, so auszusehen, wie das Wahrzeichen Kopenhagens. Aber meine Feldflasche fülle ich trotzdem auf. Mit ungesundem Orangenpulver!
Damals war es Mittag und wir stiegen ein paar Meter in den Hang hinauf, um unser Picknick zu genießen. Freilich nicht nur das essbare. In einer Mulde war das Picknick unwichtig geworden und wir lagen uns in den Armen. Ich versuche die Stelle wieder zu finden, doch es gelingt mir nicht. Meine Augen waren damals wohl zu sehr auf Janines Kurven fixiert, so dass ich mir den Platz nicht einprägen konnte. Etwas enttäuscht wandere ich weiter.
Irgendwie mag ich mich gar nicht vorwärts bewegen. Ich möchte die Zeit anhalten. Nein anders, ich möchte sie zurückdrehen! Außer, dass Janine an meiner Seite fehlt, ist dieser Tag heute identisch mit dem, als ich mit ihr hier entlangwanderte. Wie heute wurde der Tag auf dem Höhenweg für uns beide zum einmaligen Erlebnis. Und wenn ich die Augen schließe, tief einatme und auf die Geräusche lausche, dann weiß ich nicht, was heute anders ist. Doch! Die schönste aller Blumen auf diesen Alpweiden ist nicht mehr da! Sie ist vorzeitig verblüht.
Allmählich bekomme ich wieder einen Blick für daneben: Die Alpenfora entlang des Höhenweges ist ebenso selten, wie vielfältig und bietet dem botanischen Experten so manche Überraschung, wie Edelweiß, den stengellosen Enzian, das Kohlröslein, das, wenn man an ihm reibt, nach Vanille duftet, Alpenaurikel und noch viele andere. Janine mochte diese bunte Blumenpracht ebenso wie ich und wir hatten unsere Freude daran. Oft waren und sind die farbenfrohen Blüten von Blutströpfen-Schmetterlingen, oder Steinbeißerchen bevölkert, die es hier noch sehr reichlich gibt.
Ich weiß nicht, ob ich mich selbst für verrückt halten soll, doch irgendwie spüre ich auf dem ganzen Weg Janines Anwesenheit. Obwohl ich weiß, dass es nicht sein kann, fühle ich sie neben mir, als wäre sie als unsichtbare Begleiterin bei mir. Ich habe nicht den Mut auf eine Ameise zu treten oder eine Blume zu knicken, weil ich glaube, Janine damit zu verletzen. Hier oben ist sie mir immer noch so nah, als wäre sie nie von mir gegangen. Es ist kaum zu beschreiben, aber ich fühle sie hier oben als etwas Unsichtbares, nicht Greifbares, wohl aber als etwas Spürbares in mich eindringen. Es ist eine Empfindung, als würde ein leichtes, belebendes Gas in mich eindringen, das eine bittersüße Wehmut auslöst, die mich lähmt und mich nur schauen lässt...
Am späten Nachmittag erreiche ich Saas Fee. Bevor ich zur Bushaltestelle am Parkplatz gehe, suche ich noch einmal das Hotel, in dem ich mit Janine eine Nacht gewohnt hatte. Das kleine hübsche Hotel außerhalb des Dorfkerns bei den Sportanlagen finde ich rasch wieder. Doch hier hat sich einiges verändert. Einige Häuser sind neu gebaut worden und haben die freien Plätze belegt, die das Hotel damals etwas abgeschieden wirken ließen. Ich bleibe eine Weile stehen und schaue zu dem Fenster auf, hinter dem wir eine wundervolle Nacht mit wenig Schlaf verbracht hatten.
 
An dieses Abenteuer denke ich noch, als ich später im BVZ-Bus sitze, der mich zurück nach Grächen bringt. Ich glaube, erst in diesen Tagen, nach so vielen Jahren, wird mir bewusst, was ich mit Janine verloren habe. Nicht nur eine Frau, die ich über alles geliebt habe, vielmehr einen Teil von mir, ein Teil meiner tiefsten Empfindungen. Es ist, als wäre mir ein großes Stück aus meiner Selbst herausgerissen worden. Gerade jetzt, wo der Bus durch die enge Schlucht der Saaser Vispa kriecht und gelegentlich noch ein Stück Abendsonne erhascht, spüre ich den tiefen Schmerz des Verlustes.
Eine halbe Stunde später quält sich der Bus über die Hänge von Rittinen, der Blick wird frei auf das Grächer Seetalhorn und drüben auf der anderen Talseite auf Jungen und Sparru. Alles liegt im goldenen Licht der untergehenden Sonne. Alles duftet nach vertrocknetem Gras. Und all diese Eindrücke in ihrer gesamten Komposition erlauben eine Erinnerung, die um so vieles wirklicher scheint und schmerzlicher wirkt, als das Empfinden, das ich heute Morgen beim Aufbruch verspürte. Irgendwie weiß ich, dass Janine noch hier ist, unsichtbar, in den Hängen, den Wäldern, in den Wiesen und in jedem der vertrauten, sonnenverbrannten Holzchalets. Tränen schießen mir in die Augen, da mir das alles noch so nah ist.
Der Bus fährt um das Postgebäude auf seinen Parkplatz und entlässt einen einsamen, nachdenklichen Wanderer. Ich bin dieser Wanderer. Doch ich weiß nicht, wohin diese Wanderung mich noch führen wird, oder wie lange sie noch dauern wird. Diese Wanderung auf dem Grat des Berges zur Selbsterkenntnis ist so komplex, dass ich nicht einmal zu sagen vermag, ob ich mich noch auf dem Gletscher befinde, oder schon über dem Bergschrund, oder kurz vor dem Gipfel. Werde ich diesen Gipfel überhaupt jemals erreichen?
Die Sonne hat sich hinter das Weißhorn verkrochen und es wird merklich kühler. Freilich empfinde ich das auch wegen der Müdigkeit, die plötzlich in mir wohnt. Müdigkeit vom Höhenweg. Aber nicht nur... Plötzlich freue ich mich auf Frau Anthamattens Essen und auf mein dickes Bett.
Am Abend stelle ich meine Bergschuhe auf den Balkon zum lüften, bleibe an der Brüstung stehen und sehe hinüber zu den Walliser Viertausendern, die allmählich eins werden mit dem sternenbesäten Himmel. So ruhig und friedlich ist das... Ich sehe noch etwas anderes. Ich sehe meine Janine, blass, ausgezehrt, ohne ihre langen schwarzen Haare. Aber ich liebe sie und möchte mein Leben geben für das ihre. Doch manches ist nicht möglich, auch wenn man alles dafür tun würde. Janine lächelte und es wurde der längste Abschied meines Lebens. Ich wusste, dass ich ihr nicht würde folgen können, doch ich hielt ihre kleine, zierliche Hand, wollte sie nicht loslassen, als könnte sie mich mitziehen in die andere Welt dort drüben, wo angeblich alles schöner ist. Janine sagte mir in dieser Stunde so viel, doch ich verstand es nicht. Mein Empfinden war einfach nicht mehr in der Lage etwas aufzunehmen. Erst Jahre später erinnerte ich mich an ihre Worte, als hätte sie gerade eben zu mir gesprochen. Ihre letzten Worte höre ich noch: "...vielleicht denkst Du mal an mich, vielleicht werden wir uns wiedersehen, ...drüben, ...Ich liebe Dich!". Danach war ich allein und lief eine ganze Nacht lang ziellos in unserer häßlichen Stadt umher, bis irgendwann die Sonne aufging. Aber ich sah ihr Licht nicht mehr. Die Vögel begannen zu singen, doch ich hörte sie nicht mehr. Ich ging über die Ampel irgendeiner Hauptverkehrsstraße, die Autos aber hörte ich nicht. Als ich in meine Wohnung kam, hörte ich wieder etwas: Die Decke und die Wände. Sie schrien mich an, so laut, dass ich mir die Ohren zu hielt. Brüllende Stille und schreiende Einsamkeit empfing mich, denen ich nicht entfliehen konnte. Ich stellte Janines schönstes Abbild auf, stellte eine brennende Kerze davor und schwor mir, bis an mein eigenes Lebensende an dieser Stelle eine Kerze brennen zu lassen. Nie wieder im Leben wollte ich lachen, nie wieder auf eine Feier gehen, nie wieder einen Film ansehen oder Musik hören...
Ich wische mir die Tränen aus dem Gesicht, schließe die Balkontür und lege mich in das eiskalte Bett. Ich friere erbärmlich. Janine, ich vermisse Dich so sehr! Habe ich das jetzt laut gesagt? Trotz des anstrengenden Tages kann ich lange nicht einschlafen. Ich weiß, was mir fehlt...

Der Morgen empfängt mich so glasklar, wie man es oft im Spätsommer oder Frühherbst in den Westalpen erleben kann. Ich bin der erste im Frühstücksraum. Heute morgen mag ich keine Menschen. Mochte ich überhaupt noch welche, seit Janine nicht mehr da ist?
"Herr Adlung, sie sind noch müde, oder? War schon anstrengend der Höhenweg, sagen Sie, wie weit sind sie gegangen..." Frau Anthamattens Begrüßung, seltsam, unverhofft, gedankenverloren, wie immer. Aber sieht man mir meine eigene Gedankenverlorenheit so sehr an? Madame staunt nicht schlecht über meine Wanderleistung von gestern, was wiederum mich wundert, weil sie mir gar nicht so verwegen und großartig vorkam, diese Wanderung.
Nach dem Frühstück sitze ich wieder im Bus nach Saas Fee. Irgendeine innere Macht zieht mich. Etwas Unbestimmbares lässt nicht los und treibt mich wieder ins Saastal. Suche ich? Ja, ich suche Janine! Ich weiß, dass sie jetzt in einer Welt ist, die für mich unzugänglich ist, aber ich weiß auch, dass sie dennoch irgendwie überall dort ist, wo wir zusammen glücklich waren. Es mag verrückt und paradox klingen, und wer so etwas nie empfunden hat, wird sich schwer damit tun, es zu verstehen. Aber ich fühle, dass Janine immer noch hier ist, als gäbe es hier oben in den Bergen irgendwo ein Tor zu ihr in ihre Welt.
In Saas Balen steige ich aus. Die hübsche Kirche hatte Janine besonders gefallen. Über Serpentinen steige ich bis über die Baumgrenze, ohne nachzudenken, wohin ich eigentlich will. Über einen schmalen Bergpfad in Richtung Nordwesten steige ich der Mattwaldalpe zu. Jetzt weiß ich, wohin ich will.
Mit Janine war ich hier herufgestiegen. Wie damals quere ich die Wasserleitungen auf den Weiden und weiter über Schutthänge auf das 3100 Meter hohe Galenhorn. Auf den letzten Metern stören die klappernden Steinschuppen die Ruhe. An die kann ich mich nicht mehr erinnern. Dafür entschädigt jedoch die herrliche Aussicht von Visp, ganz tief unten im Taldunst, über die Visperterminen und Staldenried das ganze Tal hinauf bis nach Saas Fee und seiner Mauer aus weißen Viertausendern. Besonders der Balfrin hat es mir angetan. Aus dieser Perspektive bietet er ungewohnte Aussichten. Auf dem Saaser Höhenweg wird man dieses Berges nur mittelbar gewahr, während er von hier aus gebührende Aufmerksamkeit auf sich zieht. Indes auf den Gipfeln vom Fletschhorn bis zum Weißmies das Panorama von den Saaser Viertausendern, der Mischabelkette, beherrscht wird, bekommen hier auch die niederen Vasallen etwas mehr Bedeutung.
Es ist noch früh und so folge ich dem Verbindungsgrat hinüber zum Mattwaldhorn. Ich wähle eine Führe, die mich zumeist vermehrt auf der weniger steil geneigten Südseite aufnimmt. Am frühen Nachmittag erreiche ich den Gipfel des 3245,5 Meter hohen Mattwaldhorns. An dem aufgeschichteten Steinmännchen finde ich ein Relikt aus meiner schönsten Zeit: Eine grobe Felsplatte, deren flache Seite ich damals mit meinem Geologenhammer eine Stunde lang bearbeitet hatte. Die Inschrift ist mit Mühe noch zu lesen: "Unsere Liebe wird immer weiterbrennen, wie ein Feuer im ewigen Eis. Janine M."
Wie über ein zartes, zerbrechliches Wesen lasse ich meine Finger über die grob behauene Felsschuppe gleiten. Ich dachte immer, wir hätten noch zwei Herzen darunter geritzt. Manches an Erinnerungen ist wohl auch Einbildung, unverwirklichter Wunsch. Oder das Wetter hat sich die Herzen geholt, wer weiß das schon. Aber der Moment, als wir diese Felsschuppe gravierten, ist fest in meinem Herzen eingeschlossen. Ihn werde ich in Gedanken noch wie einen Film sehen, wenn ich schon nicht mehr in der Lage bin, hier herauf zu kraxeln. Ein fürchterlicher Schmerz entsteht in meinem Bauch, als ich daran denke, wie Janine hier oben auf den Steinen saß. Verloren sah sie aus, in dieser Wüste aus Stein. Verloren und verletzlich, wie eine Butterblume inmitten einer Felsenwand. Die Erinnerung brennt sich so tief in mir ein, dass ich das Gefühl habe, jemand sticht mir mit einem Krummschwert in die Brust und dreht es darin herum. Je größer der Schmerz sich in mir breit macht, desto deutlicher sehe ich Janine vor mir, so klar, in allen Einzelheiten, dass ich die Hand ausstrecke, wie zur Bestätigung, wie, um zu fühlen, ob das, was ich sehe, real ist, oder nicht.
Lange bleibe ich hier oben, träume und schaue, mag mich nicht trennen, von meinen Erinnerungen. Ein unbestechlicher Ausblick auf das Nanxtal beschert sich mir. Dieser Gipfel bietet mir reichlich Rundumsicht, auch, oder gerade in die Vergangenheit. Ich kenne jetzt meinen Weg. Ich werde dort gehen, wo ich mit Janine ging. Ich will genau die gleichen Wege gehen, an genau den gleichen Stellen rasten und mein Biwak dort aufschlagen, wo es auch damals stand. Ich überlege nicht weiter, dass mir etwas Ausrüstung fehlt, weil ich weiß, das ich alles, was ich für diese Wanderung brauche, in meinem Herzen trage.
Erst als die Sonne unter geht, steige ich ab. Über Felsen und Blockhänge gelange ich ins Findletälli und an den kleinen See, an dem ich mit Janine campierte. Diese Nacht wird einsamer. Und kälter! Damals hatten wir mein kleines Kuppelzelt, heute trage ich nur meinen Schlafsack und das auch nur, weil ich der Möglichkeit vorbeugen wollte, dass ich vielleicht in einer SAC-Hütte nächtigen würde.
An diesem kleinen See stand unser Biwak zwei Tage lang und ich erinnere mich, dass wir darin nicht nur geschlafen hatten. Wir waren auf das 3267 Meter hohe Böshorn gestiegen und saßen am Abend mit einem leichten Sonnenbrand vor unserem einsamen Zelt...
 
Die Erinnerung macht mich traurig. Ich friere. Das Lagerfeuer lasse ich glimmen und krieche in meinen Schlafsack, decke meinen Regenponcho darüber und hoffe, dass die Wetterlage hält. Lange noch lausche ich den Geräuschen. Irgendwo aus der Ferne weht das leise klingeln einer Schafglocke herüber, und ganz weit weg glaube ich einen Hund bellen gehört zu haben. In der Nacht werden die Berge gesprächig. Sie lassen den Lauten Raum, die man am Tage nicht wahrnimmt, weil sie von anderen überdeckt werden. Ich blicke in den Himmel und erhasche gerade noch eine Sternschnuppe, die ihre Bahn quer über den Himmel zieht. Ich wünsche mir etwas. Obgleich ich nie an so etwas glaubte und weiß, dass dieser Wunsch unrealistisch ist, hoffe ich in diesem Augenblick, dass ich wieder mit Janine zusammen sein kann. Ich wünsche es mir, wie ein Gebet!

Am Morgen wandere ich hinauf zum Saaser Höhenweg und über das Seetalhorn zurück nach Grächen. Am Nachmittag schlendere ich durch das Dorf und an den Geschäften vorüber.
Manchmal tut man etwas, das keinen Sinn macht. Aber man tut es, weil einem einfach danach ist, weil man durch irgend einen inneren Antrieb das Bedürfnis hat, es zu tun. In einer Boutique kaufe ich ein weißes Sommerkleid für Janine. Ich weiß, dass sie es nie tragen wird, aber ich kaufe es. Ob das schon der erste Weg zum verrückt werden ist? Ich fühle den weichen Stoff durch die dünne Plastiktüte in meiner Hand und bin plötzlich ein wenig glücklich, als halte ich Janine selbst an der Hand. Freilich frage ich mich, wie ein Gegenstand Erinnerung an jemanden sein kann, der diesen nie kannte. Es lässt sich nur so erklären, dass dieses neu gekaufte Kleid meine Erinnerung aufs Neue auslöst. Ich nehme mir vor, das Kleid oben auf der Gratalm zu lassen, dort, hoch über Grächen, wo ich die letzten schönen Stunden mit Janine verbracht habe.

Anderntags fahre ich nach Simplon. Mit Janine war ich allerdings vom Nanxtal aus herübergewandert. Augenblicklich aber trage ich nicht diesen Elan in mir, die Strecke allein zu Fuß zu bewältigen. So kürze ich mit Bahn und Bus ab. Ich steige schon vor Simplon aus und gehe über die Wiesen. Sie sind in diesem Gebiet voll der schönsten und seltensten Gebirgsblumen. Ich erinnere mich, dass auch Janine ein offenes Herz für diese verborgenen Schönheiten hatte. Ebenso wie mir, ging es ihr nicht nur um das beeindruckende Panorama, sondern auch um das bewusste Wahrnehmen der kleinen Details am Rande der großen Szenerie. Dabei hatte ich anfangs nie für möglich gehalten, dass Janine sich für die Gebirgswelt begeistern könnte. Als ich sie kennenlernte, sah ich in ihr nicht mehr, als eine der vielen Disco-Mäuschen, die Abenteuer wollen. Doch schon nach unserem zweiten Treffen wurde mir klar, dass sie Tiefe besaß, dass sie etwas ganz Besonderes war. Etwas, das einem Mann wohl nur einmal im Leben passiert!
In einer in den Bannwald gelegenen Almschneise liegt das alte Dorf Simplon vor mir. Dieser Weiler besitzt nicht, wie andere Walliser Bergdörfer den Charakter des Châletbaus in Arvenholz. Statt dessen beherrschen hier gediegen und urtümlich wirkende Steinhäuser das Bild. Doch nicht etwa vergleichbar mit Dörfern im Engadin, sondern eher schlichter Natur mit weiß getünchtem Mauerwerk, zuweilen auch ohne Anstrich belassenes Natursteinmauerwerk. Irgendwie erinnert mich dieser dörfliche Charakter an Ligurien. Vergeblich sucht man hier nach einem Hotel oder Gasthof. Der Tourismus hat hier noch nicht Fuß gefasst. Damals, mit Janine, fragte ich bei der Gendarmerie nach einer Nächtigungsmöglichkeit und erfuhr, dass es auf einem Drittel des Weges nach Gondo, oberhalb der Gondoschlucht einen Zeltplatz gab. Ich hoffe, er existiert noch. Ziemlich heruntergekommen habe ich diesen Ort in Erinnerung. Und geblieben waren wir damals wohl nur, weil ich durch Janine wie durch eine rosarote Brille sah.
Der Zeltplatz existiert noch, aber seit damals scheint hier auch nichts mehr gemacht worden zu sein. Gemütlich ist etwas anderes. Doch er hat noch genau den einsamen Charakter, den er schon damals besaß. Ich benutze noch die fürchterlich unhygienischen Duschen und verabschiede mich vom Tag. Bei dem Versuch einzuschlafen, ist Janine wieder da. Deutlich steht mir die Erinnerung vor Augen. Der schlechte Campingplatz hielt uns seinerzeit nicht davon ab, im Zelt heiße Zärtlichkeiten auszutauschen. Die Tatsache, dass unser Kuppelzelt auf fast leerem Wiesenstück recht verloren und einsam dastand, begünstigte unsere Liebesaktivitäten geradezu...
 
Der Morgen erwacht mit dem Gesang hunderter Vögel und dem Bühnenlicht der Sonne, dass Regie Natur mit klarer Lampe angeschaltet hat. Die Kuppe des Monte Leone winkt mit dem Glanz seiner strahlenden Kuppe herab und ermutigt mich, ihn heute anzugehen. Ich weiß, dass mich diese Tour traurig machen wird, denn im Gegensatz zu den Tagen mit Janine, steige ich heute allein. Da die Landschaft sich aber nicht verändert hat, ist es, als würde ich mit Janine hinaufsteigen, nur, dass ich sie nicht sehen kann. Auf romantischen Wiesenflecken, umrahmt vom Arvenwald und überragt von bizarren Felsformationen gelange ich nach Alpje, auf ca. 1650 Meter.
Das Alpje ist eine romantisch gelegene Hochalpe, eingerahmt im Osten und Süden von tiefem Wald, im Westen von den steilen Felsbastionen der Wammischhörner und im Norden von mit Felsbändern durchzogenen Almhängen und einer engen Felsschlucht, in die sich ein kleiner Wasserfall hinabstürzt. Darüber erhebt sich die gleißende Fläche des Alpjergletschers und als Krönung auf dieser reizvollen Landschaft, der verkürzte Felsrücken des Monte Leone.
Links des Wasserfalls steige ich weiter, auf außerordentlich schwach ausgeprägtem Bergpfad dem Alpjergletscher zu. Über von Felsbänken durchzogene Gras- und Geröllhänge erreiche ich zwei übereinander gelagerte Seen, die in grauen Fels und Schutt eingebettet sind. Zwischen einer Vielzahl von über die Felsen sprühenden Bachläufen erklettere ich die Führe bis auf einen Geröllabsatz auf ca. 3000 Meter Höhe.
Dann betrete ich den Alpjergletscher und mein Ziel liegt klar vor mir. Zwischen dem Stichelgrat und den Spaltenzonen steige ich auf der orogr. linken Seite den Gletscher an. Bei einem Felssattel, wo sich der Grat weit auf den Gletscher herabsenkt, erklettere ich den Südgrat. Anschließend noch über feste, gut griffige Gneisplatten in abwechslungsreicher Anordnung und endlich stehe ich auf dem 3553,4 Meter hohen Gipfel des Monte Leone.
Damals hatte ich die anfängliche Befürchtung, der Aufstieg über die Felsplatte könnte Janine langweilen. Doch diese Angst zerstreute sich rasch. Behende, wie eine Berggeis kletterte sie begeistert darüber hinweg. Ob sie es nur meinetwegen so leicht ertrug, oder tatsächlich ihre Freude an dieser Tour hatte, darüber hatten wir nie gesprochen. Ich weiß es bis heute nicht.
Der Gipfel bietet mir heute, wie damals, einen ganz eigenen Ausblick: Nach Westen zu, auf mäßig geneigte Gras- und Schutthänge nach Norden in die wilde Nordflanke und Südfelsflanke des gegenüberliegenden Wasenhorns. Im Osten liegt verträumt zwischen gediegener Almlandschaft der tükisfarbene Lago d' Avino und im Süden eröffnen sich die wilden, ursprünglichen, bewaldeten Schluchten zwischen Simplon und Gondo.
Am Abend sitze ich vor dem Zelt und überlege, wie der Abend nach dem Aufstieg mit Janine gewesen war. Sie hatte sich die Hacken wund gelaufen und bekam noch einen tüchtigen Wadenkrampf. Ich verarztete sie und massierte ihre Beine, damit ihr ein großer Muskelkater erspart blieb. Lange saßen wir noch Arm in Arm aneinandergekuschelt vor dem Zelt und schauten zu, wie sich die Felsen im Licht der Abendsonne von Gelb bis Purpurrot verfärbten, bis nur noch sihouettenhaftes Schwarz blieb und wir dem Raunen des milden Windes mehr Beachtung schenkten. Damals glaubte ich, der Tag hätte Janine neue Kraft geschenkt um mit ihrer Krankheit fertigzuwerden. Ich erinnere mich noch, an den Vers, den ich an diesem Abend für Janine in mein Tagebuch schrieb:

Trotz am Berg gelassener Kraft,
trotz zufriedenem, stillem Schweigen...
Ein Hauch von Liebe und Leidenschaft
rührt mich dennoch so tief und eingen!

Der Morgen erwacht so strahlend und schön, wie der vorige. Am liebsten würde ich diesen Ort nie wieder verlassen. Doch mein Kurzurlaub geht langsam zu Ende und ich will noch auf die Grächer Gratalp steigen, wo ich die letzten Tage mit Janine verbrachte, als sie allmählich ihre Kraft verließ.
Ich folge dem Wanderweg durch den Wald nach Süden. Die Alpendohlen krächzen vertraut und die Vögel des Waldes singen dazu. Zusammen klingen die Stimmen wie eine vereinte Musik, die mich beruhigen möchte, die mir sagen will, Janine ist heute in einer Welt, wo ich mir um sie keine Sorgen mehr zu machen brauche. Wenn ich das nur glauben könnte...
Ich überquere die Brück der Loggina und folge der Fahrstraße nach Gondo bis zur ersten Lawinenschutzgalerie. Der hier beginnende Wanderweg führt mich auf eine kleine Brücke über die Doveria und über steile Alpweiden hinauf in die schwindelnden Hänge über der Gondoschlucht. In engen Serpentinen schlängelt sich der Pfad über Felsrinnen, steile Grasgesellschaften und wetterzerzausten Wald. Eine Stunde später steige ich schon hoch über den wilden Felsabstürzen der Gondoschlucht auf unsicherem Pfad durch den Arvenwald und erreiche auf einem 1764 Meter hochgelegenen Mattflecken das Alpdörfchen Figina. Erwähnenswerterweise besitzen die wenigen Hütten und die kleine, weiß getünchte Kapelle wieder pennischen Charakter.
Über eine Wiesenschneise runde ich allmählich den bewaldeten Nordostrücken des Seehorns. An der nordöstlichen Wegkehre erlaubt die exponierte Stelle einen steilen, windigen Blick hinab aufs achthundert Meter tiefer gelegenere Gondo. Fast könnte man von hier aus auf das Dorf spucken. Der Tiefblich jedenfalls ist einmalig!
Ich folge nun der Gebirgsroute teils über Matten, teils über Felsschrofen bis auf ca. 2000 Meter, direkt unter den felsigen Gipfelaufbau des Seehorns. Damals war ich mit Janine hinaufgestiegen. Heute lasse ich mich nicht dazu hinreißen. Ich habe einfach nicht die Stimmung dazu. Ich umrunde den Berg und erreiche nach Stunden das kleine, sanft geneigte Hochtal, das dem wesentlich steileren, bewaldeten Laggintal übergelagert ist. Am oberen Ende des Talkessels schimmert ein kleiner, blauer See, aus dem zwei Wasserarme gen Tal fließen. Hier steht am Abend, ebenso, wie damals mit Janine, mein Biwakzelt.
Einen wunderschönen, romantischen Abend habe ich hier mit Janine in Erinnerung. Nach dem kargen Essen genossen wir beide den Sonnenuntergang. Es war ein unvergesslicher Abend und Janine war keineswegs abgeneigt, ihn noch zusätzlich zu verzaubern...
 
Morgen. Undefinierbares Wetter. Es mag weder regnen, noch kann sich die Sonne den Himmel erobern. Es ist auch nicht neblig. Es ist eigentlich gar nichts. Ich stehe unschlüssig vor meinem Zelt und überlege, was ich tun soll. Vielleicht erst einmal den Traum der Nacht verarbeiten? Natürlich spielte Janine darin die Hauptrolle.
Ich entschließe mich, nach Grächen zurückzukehren, zumal mein Zwischenurlaub sich langsam dem Ende neigt. Also packe ich meine Sachen zusammen und mache mich auf den Weg über die Almwiesen nach Saas Grund, um von dort aus mit dem Bus zu fahren.
In Grächen angekommen, erfahre ich aus Madame Anthamattens Fernseher, dass das Wetter wieder schön zu werden verspricht. Ich nehme mir vor, noch zwei bis drei Tage zu bleiben und auf die Gratalm hinaufzusteigen. Am Abend nach dem Essen packe ich meinen Rucksack. Ich möchte morgen so früh wie möglich losziehen. Vielleicht habe ich auch Angst, die schöne Zeit hier oben vertan zu haben, wenn ich mir zu viel Müßiggang gönne.
Abends sitze ich auf Frau Athamattens Balkon, in eine Decke eingehüllt, nach dem Weißhorn hinüber schauend. In der Dunkelheit schimmert es in seinem weißen Kleid wie ein Gespenst herüber. Neuschnee überzuckert seine stolzen Flanken. Es ist September und durchaus nicht ungewöhnlich, dass es schneit. Bald ist der Winter da. Ich denke nach:
Weihnachten wieder allein, eine graue Zeit. Ob ich im nächsten Sommer etwas anderes erleben werde, als wieder nur soundsoviele Viertausender? Ich liebe diese Welt hier oben mit ihren Bergen und stillen Dörfern, aber heimlich denke ich manchmal daran, Liebe nicht mehr nur in der Erinnerung im Herzen zu tragen. Doch von Janine lösen, kann ich mich auch nicht. Ich nehme mir selbst vor, erst einmal den Winter zu genießen. Vielleicht gibt es einige kalte Tage, die mir Schlechtwetterregelung auf dem Bau bescheren und mich gemütlich in meiner Wohnung sitzen lassen. Es war diese Schlechtwetterregelung, die es mir mit Janine einmal für sehr kurze Zeit ermöglichte, Ski zu fahren. Damals herrschte in der Gegend von Arolla tiefster Winter. Jedoch nicht in unseren Herzen. Unsere Liebe vermochte auch den tiefsten Winter zum Schmelzen zu bringen. Ich erinnere mich noch genau, wie wir vor dem Hotel de la Poste in Arolla standen und erstaunt feststellen mussten, dass ein Großteil des Dorfes wegen akuter Lawinengefahr evakuiert und gesperrt war.
Um die Kürze eines Wintertages dennoch effektiv nutzen zu können, machten wir uns sogleich an den Aufstieg. Wir wählten die normale Führe, die ich bereits von einigen Sommertouren her kannte. Janine vornweg, im knallengen, lachsfarbenen Skianzug, der durch sein seidenglänzendes Material im Spiel mit dem Sonnenlicht ihre weiblichen Konturen bis ins Detail enthüllte und hervorhob. Meine Phantasie schlug Purzelbäume und meine Konzentration auf die verschneite Route war gefährlich beeinträchtigt. Obwohl Janine es mit keiner Geste zeigte, war ich davon überzeugt, dass sie ganz genau wusste, wie sehr sie meine Gefühle wieder einmal in Brand gesteckt hatte. So stiegen wir im pulvrigen Neuschnee einem neuen Abenteuer entgegen.
Dabei ließen wir uns reichlich Zeit für den Aufstieg. Knisternde Kälte lag noch am Morgen über dem Glaciér de Piéce, drang langsam und unmerklich durch jede Faser unserer Kleidung. Am Anfang zogen wir gut durch, nicht aber um Rekordaufstiegszeit zu gehen, sondern einzig und allein, um endlich warm zu werden und in die Flut der Sonne zu gelangen. Nicht lange und wir bekamen unsere Sonne!
Bald stiegen wir im T-Shirt über den Gletscher, eingerahmt von Felsflanken und -riegel und rechts voraus die riesige, steil aufragende Nordwand des Pigne d' Arolla. Die ganze Wand unseres Ziels lag im Streiflicht der Morgensonne und verriet uns die Schwachstellen, sowie die kleinen Highlights, die den Alpinisten erwarten, der mutig genug ist, einen Winteraufstieg durch diese Eiswand zu wagen.
Der Aufstieg vom Firnkessel des Piècegletschers auf den Col des Vignettes war Anstrengung pur. Lediglich faszinierende Ausblicke verwöhnten hin und wieder und boten Ablenkung. Einige Meter von uns entfernt wurde im Gletscherbruch eine Eisgalerie bizarr beleuchtet, die Sonne als Spot. Eiskristalle glitzerten wie Sterne in einer klaren Winternacht. Das war noch davor. Mittlerweile standen wir auf dem Col, sonnenumflutet. Trotzdem wurde es jäh eiskalt und zugig. Zwar war die Ostflanke hinauf zum Gipfel des Pigne harmlos, doch eisigen Winden ausgesetzt. Trotz dicker Überbekleidung froren wir plötzlich. Lange Schneefahnen hingen am südlichen Gipfelgrat, wehten herrlich anzusehen in weiten, weißen Schleiern in den tiefblauen Himmel hinaus.
Für den steilen Aufstieg über die Ostflanke deponierten wir unsere Ski auf dem Rucksack und vertrauten statt dessen lieber auf unsere Steigeisen. Der eiskalte Wind machte den Aufstieg zu einem angenehmen Hinaufwandern. Trotz der willkommenen Kühlung hatte ich glühende Ohren und ein seltsames Gefühl im Magen. Das war schon Merkwürdiges. Viele Jahre ging ich bis dahin ins Gebirge, Sommer, wie Winter, zahllos waren die Hochtouren, die ich allein, oder mit Freunden bewältigt hatte und trotzdem war ich diesmal aufgeregt, fast wie eine Art Prüfungsangst. Vielleicht lag es ja auch daran, dass ich dem Augenblick entgegenfieberte, da Janine sich ihres Skianzugs entledigte...
Nachdenklich sah ich einige Meter vorraus, dort, wo Janine die Spur vorlegte. Bewusst hatte ich ihr die Führung überlassen, um im Notfall besser und rascher eingreifen zu können. Sie legte ein ruhiges Tempo vor, vergewisserte sich ständig mit Hilfe der Skistöcke, dass nicht etwa eine verborgene Spalte unsere Tour vorzeitig beendete. Bis zum Col gab es gelegentlich noch Reste von alten Spuren, doch jetzt hieß es: Eine eigene Spur legen!
Allmählich wurde der Hang geneigter und gegen Nachmittag standen wir auf dem höchsten Punkt einer Eishaube, die mit dem Namen "Zapfen" nicht auch das Geringste gemein hatte. Berauscht genossen wir das Panorama, den Ausblick auf Arolla, dass wir im durchgehenden Weiß erst erspähen mussten. Aus dieser Perspektive und Entfernung gingen die wenigen Häuser des Dorfes im Gesamtbild der Winterlandschaft unter. Lediglich mit dem Feldstecher ließen sich Einzelheiten dieser winterlichen Gebirgslandschaft bestimmen. Etwas einfacher fiel da die Zuordnung der Berge. Drüben, im Westen, erhob sich die Nordostflanke des Mont Blanc de Cheilon, düster, gewaltig. Die schwarze Kante der Nordwandrippe wirkte im Gegenlicht wie mit einem Lineal gezogen, schnurgerade stüzte sie in die Tiefe. Gegenüber im Osten, stand die teils sonnenbeleuchtete Felspyramide des Matterhorns, von der Form her ein eher ungewohnter Anblick, eben lange nicht mehr so elegant, wie das weltberühmte Postkartenmotiv aus Zermatts Souvenierläden.
Dann lockte ein anderes Vergnügen: Der Osthang unseres Berges, über den wir uns gerade erst heraufgequält hatten, bot uns jetzt eine rassige Abfahrt an. Er versprach herrliche Tiefschneefreuden. Ein letzter Blick auf das sagenhafte Panorama führte uns noch einmal die Vielfalt und Schönheit dieser winterstillen Landschaft vor Augen.
Und dann die Firnabfahrt! Wir legten unsere Spur in weiten Schwüngen an den jungfräulichen Hang und kamen uns vor, wie Erstbesteiger in einem fremden Land, unendlich weit entfernt von anderen Menschen und der Zivilisation. Wie in einem Rausch schwebten wir den wunderbaren Hang hinunter und kamen erst am Bergschrund südlich der Vignetteshütte zum stehen. Die Abfahrt machte uns damals so viel Spaß, dass wir schlichtweg zu tief gerieten. Und mit dem Wiederanstieg zur Hütte absolvierten wir letztendlich ein volles Tagespensum.
Am Nachmittag, in bereits orangegelbem Licht der Sonne erreichten wir das SAC-Haus. Während im Sommer die Vignetteshütte bewirtschaftet ist, wo man es sich natürlich bequemer machen kann und man auch nicht so viel heraufzuschleppen braucht und wo man Gleichgesinnte findet, deren Spuren man folgen kann, erlebten wir an diesem Tag glücklicherweise den Hauch von Romantik und das Abenteuer der Einsamkeit. Die Hütte empfing uns zunächst abweisend. An allen beweglichen Einrichtungen, wie Türen und Fenster fanden wir Sicherheitsschlösser. Doch wider Erwarten ließ sich nach mehrmaliger, forschender Hüttenumrundung eine Tür öffnen. Sie schaffte Zutritt zu einem sauberen Winterraum mit zwanzig Schlafstellen, reichlich Decken und einem hervorragenden Ofen mit ausreichend Holzvorrat.
Das ununterbrochene Weiß vor der Hütte und in deren steinernem Laubengang verriet uns, dass wir seit langem die einzigen Besucher waren. Und es stand kaum zu erwarten, dass unsere Zweisamkeit in dieser Nacht noch gestört wurde. Janines weibliche Intuition und ihr offensichtlicher Sinn für Ästhetik schaffte eine geradezu heimelige Atmosphäre. Während ich dem Ofen kräftig einheizte, verstand es Janine aufs Beste, den mitgebrachten Proviant, das Einfachste, in ein Luxusmahl zu verwandeln, in einen verdienten Hochgenuss. Wegen des ausgiebigen Abendessens bemerkten wir gar nicht, dass es draußen bereits dunkel geworden war. Wir hatten ganz vergessen, dass dies im Winter sehr rasch geschieht.
Der Gedanke an Holz nachlegen, erinnert mich daran, dass ich auf dem Balkon des Hotels Sonne sitze und eigentlich schlafen gehen sollte, wenn ich morgen auf die Gratalm steigen will. Aber ich mache mir nichts vor, die Erinnerungen werden mir nicht viel Schlaf gönnen.

Am Morgen frühstücke ich kurz und steige dann los. Ich bin unterwegs auf einem Pfad, den ich so genau kenne, dass ich ihn auch blind finden würde. Ich kann nicht mehr zählen, wie oft ich diesen Weg in der Vergangenheit gegangen bin. Viele Touren, auch auf Viertausender, begannen mit diesem Weg entlang der Wasserleitungen Eggeri und Bieneri. Über den Ritigraben, der in jedem Jahr größer zu werden scheint, vorbei an der Bank, von wo aus man diesen besonderen Blick auf Grächens Plateau genießen kann, weiter, den steinigen Weg hinauf, bis der Ritibach mit seinen tosenden Wassern jedes andere Geräusch sterben lässt, immer weiter, bis es wieder flacher wird, der Baumbestand lichter und der Gletschergrund mit riesigen Findlingen bedeckt ist. Bis hierher war der Riedgletscher einst vorgestoßen, zu einer Zeit, wo die Welt zwar politisch im Chaos versank, sich aber noch einer gesunden Natur erfreute. An der alten Holzbrücke über den Riedbach halte ich. Ich bin jetzt in der Sonne, die mir beweist, welche Kraft sie auch im Herbst noch besitzt. Auf einem Felsen im Bach, von milchigen Fluten umtost, schaue ich zum Moränenwall hinauf, der durch Erosion von Jahr zu Jahr an Höhe verliert. Das vermögen auch die wenigen Lärchen an seinem Hang nicht zu verhindern. Allzu rasch ziehen sich die Gletscher in den letzten Jahren zurück und lassen Wind und Wetter freie Hand, um an der Gletscherarchitektur zu wirken, sie abzutragen, bis zur nächsten Eiszeit, wo Kälte, Eis und Permafrost wieder siegen werden.
Bis zum Scheidepunkt, wo es hinauf ins Alpja geht und weiter zum Riedgletscher und zur Bordierhütte, schwitze ich noch, dann geht es bergab, bis zum Waldpfad, der sich hinaufwindet, bis zum Grathorn. Ich mag diesen Weg. Wild ist er und seine Ausgesetztheit bietet überraschende Tiefblicke nach Grächen und Rittinen. Ich gehe still und vorsichtig, denn aus Erfahrung weiß ich, dass sich mancher Steinbock in diesen kurz bewaldeten Hängen beobachten lässt, wenn man seinen Lebensraum nicht stört. Ich habe Glück und sehe gleich drei männliche Jungtiere, die sich spielerisch im Kampf üben. Eine Weile verfolge ich ihr Imponiergehabe und steige dann weiter, bis mir leises Läuten verrät, dass sich eine Herde Schwarzhalsziegen auf dem Grathorn tummelt. Erstaunlicherweise stört das die Steinböcke nicht im Geringsten. Sie haben sich daran gewöhnt, ihre Weideplätze mit diesen zottigen Genossen zu teilen.
Die leichte Wanderung über die karg bewachsenen Hänge des Grathorns vollzieht sich wieder in der Sonne des Tages. Doch spüre ich jetzt deutlich den kühlenden Wind, der vom Riedgletscher herüberzieht und angenehmes Klima schafft. Auf der Gratalm, einem dorfplatzgroßen Rasenflecken, habe ich dann das Panorama für mich allein. Bis hier hinauf verirren sich selten Touristen. Allenfalls Jäger oder Ziegenhirten statten diesem hochgelegenen Plätzchen hin und wieder einen Besuch ab. Das allerdings meist an den Wochenenden. Diese Tatsache erlaubt mir, mich mit meinem Zelt häuslich nieder zu lassen. Das Zelt steht dann auf festem Rasenstück und ich benötige nicht einmal eine Isoliermatte. Wasser jedoch ist hier rar. Die einzige, spärliche Quelle befindet sich gut hunderfünfzig Meter tiefer, nahe dem unwegsamen Abstiegspfad nach St. Niklaus.
Als erstes suche ich mir Felsschuppen zusammen, um meinen Grill zu reparieren, den ich irgendwann einmal begonnen, aber nie wirklich fertiggestellt habe. Gewöhnlich setze ich ihn nur so weit wieder in Stand, dass ich meine mitgebrachten Landjäger auf ihm rösten kann. Und ebenso sicher finde ich ihn ein Jahr später wieder zusammengefallen vor, weil irgendjemand eine Felsschuppe aus der Konstruktion entfernt hat, um sich was weiß Gott daraus zu machen. Als Brennmaterial dienen abgestorbene Wurzeln, die es hier reichlich gibt.
Zufrieden lehne ich mich in den letzten Sonnenstrahlen zurück, mit dem Rücken an den großen Felsen gelehnt, der mir seit Jahren hier oben Schutz vor dem Wind bietet. Neben mir auf meinem Steingrill dampfen die Landjäger und Steaks vor sich hin. Unter einem bestimmten Stein halte ich eine beonders dünne Granitschuppe verborgen, die als Herdplatte dient. Die Tatsache, dass ich sie in jedem Jahr wiederfinde, zeigt mir, wie gut mein Versteck ist.
Beim Anblick meiner brutzelnden Spezialitäten muss ich schmunzeln. Der "heiße Stein" ist seit ein paar Wochen der große Renner der Grillsaison. Irgendwer ist auf den glorreichen Gedanken gekommen, auf einer erhitzten Natursteinplatte Fleisch schonender und gesünder zu garen. Alle kauften in diesem Sommer für teures Geld diesen Heißen Stein. Die neueste Erfindung! Nur, dass ich mit dieser neuen Idee bereits seit sechs Jahren meinen stillen Erfolg feiern kann.
Nach dem Essen beobachte ich, wie der rote Sonnenball im Nordwesten die Viertausender erglühen lässt und sich allmählich hinter ihre eisgepanzerten Rücken schiebt. Augenblicklich wird es kühl. Die Windstille, die sich gewöhnlich zu diesem feierlichen Moment auf die Bergwelt senkt, macht einem leisen Wispern und Säuseln platz.
Janine hatte damals diese Momente sichtlich genossen. Sie waren ihr Offenbarung. Ich glaube, ich verstand es damals nicht so recht. Doch heute um so mehr. Es ist dieser absolute Frieden, der sich nach des Tages Kampf herabsenkt, zur Besinnung ruft und einem Gefühl Raum lässt, einer Empfindung, die einem bewußt werden lässt, dass man diesen Tag gelebt hat. Wie ein stilles Gebet schweigt dieser Moment, um für diesen Tag zu danken. Auch, um zu ergründen, was dieser Tag nachhaltig für einen Jeden selbst bedeutet. Wer viel einsam in den Bergen unterwegs war, kennt diesen Augenblick und schätzt ihn heilig. Niemals wird so Jemand auf den Einfall kommen, diese Minuten mit lautem Geplapper oder hektischem Tun zu stören. Leider sind es nur wenige, die diese Erfahrung im Herzen tragen.
Zweimal war ich mit Janine hier oben gewesen. Jedesmal war es etwas Besonderes, hier zu biwakieren. Warum dieser Ort für mich beinahe mystischen Charakter besitzt, weiß ich nicht. Es ist eine Empfindung, die sich in mir im Laufe der Jahre eingeprägt hat. So etwas entsteht einfach, ohne dass man eine Erklärung dafür hat. Es ist etwas, das in einem wohnt, Bestand über die Zeit hinweg hat und niemandem sonst zugänglich ist. Es ist wie eine Verbindung zwischen dem Ort und dem Herzen, die man spüren kann, nicht jedoch sehen oder hören.
Drüben am Weißhorn, ungefähr dort, wo sich die Bertolhütte befinden müsste, glimmt noch ein letzter Schein. Wie ein Funken der Erinnerung! Die zwei Winternächte mit Janine in der Bertolhütte werden mir ebenso unvergesslich bleiben, wie die Sommertage hier auf der Gratalm. Ich weiß noch, wie wir engumschlungen und verträumt in der leeren Bergwelt standen, bis uns allmählich bewusst wurde, dass es bereits Abend war. Die friedlich lastende Stille, der etwas abflauende, wärmende Wind, sowie das schattenwerfende, goldene Licht, ließen auf baldige Nacht schließen. Obgleich ich wusste, dass inzwischen Eile Not tat, wäre ich dennoch am liebsten dort stehen geblieben, hätte die warme Nachmittagssonne genossen, um dem verwehten Rauschen der Schmelzwasser in den umliegenden Bergflanken und Schluchten zu lauschen. Nur wiederwillig machten wir damals unsere Ski klar, für den Aufstieg zur Bertolhütte. Dann war es meine, nicht ganz einfache Aufgabe, eine sichere Führe über Gletscherschliffe und die Plans de Bertol zu finden.
Im Winterkleid schaute alles ziemlich gleich aus. Da gab es kaum einen Unterschied mehr zwischen Matte, Geröll und Gletscher. Wenn es nur wenig Schnee hatte, erkannten wir die verschiedenen Untergründe wohl, wenn wir auf ihnen standen. Doch bei knapp sechs Meter Schnee sollte das mal einer versuchen! Nur die Orientierung an den umliegenden Bergspitzen, die ich allesamt kannte, gewährleistete einen einigermaßen zielsicheren Anstieg. Dennoch hatte ich zuweilen Angst, dass sich gerade zum Nachmittag hin eine Lawine aus den höher gelegenen Hängen lösen könnte. Janine verschwieg ich tunlichst meine Furcht vor der unsichtbaren Gefahr. Was wäre damit auch gewonnen gewesen, wenn ich sie nervös gemacht hätte?
Aber die Gefahr war da: Tagelange, ausgiebige Schneefälle auf Altharsch, danach der plötzliche Temperaturanstieg, hatten die meterhoch mit Schnee bedeckten Steilhänge labil werden lassen. Dass bis dahin noch kein Schneebrett abgegangen war, erkannte ich an den ebenmäßig weißen, ununterbrochenen Flanken um uns herum. Ich stieg mehr mit der Angst, vor eventuellen Niedergängen, als vor der Möglichkeit, dass ich im einheitlichen Weiß vielleicht die Route verpassen würde und es dunkel wurde, bevor wir die Hütte erreicht hätten. Doch trotz meiner anfänglichen Unsicherheit erwischte ich gleich die optimalste Linie, zwischen zwei Felsinseln hindurch, die mir der Karte nach erzählten, dass wir uns auf dem kleinen Bertolgletscher befanden.
Janine entdeckte die Hütte zuerst. Sie thronte wie eine Burgfeste auf einem großen Felsgendarmen über dem Col de Bertol in 3311 Metern und entpuppte sich als das, was ich für einen Felsblock hielt. Gleich einer Raubritterburg, die eine Straße bewachte, dominierte die Hütte über der engen, vergletscherten Einsattelung zwischen zwei Dreitausendergipfeln in der Dents de Bertol-Gruppe. Die letzten Meter fielen angesichts des erkennbaren Ziels konditionell nicht mehr schwer, wenngleich wir uns auch ab der 2700 Meter-Marke ohne Ski emporschinden mussten. Der Gedanke an eine romantische Nacht bei Ofenfeuer und Jägertee beflügelte unsere Reserven.
Nichtsahnend wurde unser Eifer noch einmal gebremst: Der kantige, dunkle und glatte Fels bis zum Hüttenaufgang war böse verschneit und unter der Schneeschicht sogar vereist. Es wurde ein Hinaufkratzen allerersten Grades. Zuletzt half noch der Fahnenmast an der Hüttentreppe, an dem wir uns auf den Treppengang hinaufhangelten. Über der Hütte erhob sich drohend ein Felsfinger, welcher früheren Darstellungen des Matterhorns nicht unähnlich war und grinste uns an. Dieser Gendarm ließ beim Anblick der Hütte noch eindringlicher das Bild einer perfekten Gralsburg zu.
Aber wir hatten auch Glück: Durch die exponierte Lage des Baus waren Treppenveranda und Eingang fast schneefrei. Der Gipfelwind hatte hier das Schneeräumen übernommen. Zudem überraschte die Hütte mit einem noch geräumigeren Winterraum als die Cab. des Vignettes. Lediglich der Ofen benötigte etwas mehr Anlaufzeit, bis er angenehme Wärme spendete. Aber er funktionierte und somit war auch bei dieser Nächtigung die Reinlichkeitsfrage geklärt.
Kaum verbreitete der Ofen wohlige Atmosphäre im Raum, nahm ich Janine zärtlich in die Arme. Wir küssten uns und sanft strich ich ihr über ihren süßen Po, der sich herrlich durch ihren enganliegenden Skianzug abzeichnete. Janine kuschelte sich verführerisch an mich. Und damit hatte sie es wieder einmal geschafft, dass ich ganz wild auf sie war und alles andere um uns herum einfach vergaß. Träumerisch und weltvergessen streichelten wir uns anschließend in einen tiefen, wohligen Schlaf...
 
In dieser Nacht finde ich nur unruhigen Schlaf. Die ganze Nacht hindurch hatte ich das Gefühl, dass mir Janine aus dem Jenseits, durch unsichtbare Mauern hindurch, etwas wichtiges sagen wollte. Doch ihre Botschaft konnte nicht zu mir dringen. Nur böse Träume, in der ich Janine immer wieder auf verschiedenste Weise verlor, quälten mich im Laufe dieser Nacht.
Am Morgen fühlte ich mich, als wäre eine Büffelherde über mich hinweggerast. Auch mein kleines Frühstück konnte daran nichts ändern. Nachdem ich den umständlichen Pfad zur Wasserstelle bewältigt habe, beschließe ich, dort vorn, wo ein kleiner felsiger Aussichtspunkt den Blick nach Westen frei gibt, ein Holzkreuz für Janine zu errichten. Ich nehme mir vor, es so groß anzufertigen, dass man es von Grächen aus sehen kann.
Ich mache mich daran, zwei geeignete Holzstücke zu suchen, was sich als wesentlich schwieriger entwickelt, als die Suche nach Brennholz. Ich muss bis zum Kreuz am Grathorn hinunter laufen. Hier finde ich ein paar brauchbare Bretter, die irgend jemand unter einen Felsvorsprung geschoben hat. Eine Säge habe ich freilich nicht, doch ich schlage mit einem scharfen Stein von beiden Seiten eine Perforationslinie in das Holz und breche die Stelle dann einfach durch. Die Mittagssonne lässt mich dabei gnadenlos schwitzen und erinnert mich daran, meinen heißen Stein für das Mittagsessen anzuheizen.
Später liege ich in der Sonne, warte darauf, dass meine Landjäger braun und knusprig werden und überlege mir, wie ich die entwendeten Latten zu einem Kreuz zusammenfügen soll. Meine Gedanken schweifen ab. Wieder sehe ich mich mit Janine in der einsamen, winterlichen Bertolhütte. Der Ofen verbreitete wohlige Wärme und ich sah Janine halbnackt und aufreizend vor mir durch den Winterraum wandern...
Ein Zischen neben mir weckt mich. Ich war eingeschlafen und habe geträumt. Die eine Seite meiner Landjäger ist inzwischen sehr kross angegart. Ich ärgere mich, dass ich so nachlässig war, bin aber dankbar für diesen schönen Traum, der mir die schönsten Erinnerungen an Janine zurückbrachte.
Nach dem Essen brenne ich Janines Namen in das Querholz und binde es dann mit einer Reepschnur an die Ständerlatte. Das fertige Lattenkreuz verkeile ich so in dem Felsen, dass es Wind und Wetter trotzen sollte. Vor das Kreuz schichte ich einen kleinen Steinmann auf. Ich nehme mir vor, bei jedem Besuch hier oben, einen Stein hinzuzulegen.
Am Nachmittag packe ich meine Sachen zusammen. Die Sonne scheint immer noch warm vom wolkenlosen Himmel. Ich beschließe noch so lange zu bleiben, bis sie hinter den Zermatter Bergen verschwindet. Ich sitze an den alten Stein gelehnt, blicke in den blauen Himmel und auf den Gletscher, der in der Hitze zu flimmern scheint und lasse die ganze Zeit mit Janine noch einmal an mir vorüberziehen. Als ob ein wunderbares, vergangenes Leben als Film vor meinem inneren Auge abläuft, so deutlich sehe ich im Geiste unsere schöne Zeit, bis das Schicksal uns trennte. Ich erlebe noch einmal die letzten Tage, die ich mit Janine hier oben verbrachte und sehe die letzten Stunden, die ich bei Ihr war, als sie aufbrach, zu ihrem letzten Gang in eine andere Welt, dorthin, wohin ich ihr nicht folgen konnte. Seit dieser Stunde, als ich Janines Hand hielt und sie mich für immer verließ, lebe ich nicht mehr. Ich arbeite, esse, trinke, schlafe und steige auf das Dach Europas, aber ich lebe nicht mehr. Ich friste ein Dasein in Einsamkeit und warte auf meine Janine, die doch nie zurückkommen wird. Ich sollte mich den Menschen wieder öffnen, nach einer neuen Zweisamkeit suchen, doch die Liebe, die immer noch so tief in mir wohnt und sich in mir festgesetzt hat, kann ich nicht löschen. Sie ist so tief in mir eingebrannt, dass sie oft schmerzt, weil ich sie nur noch in der Erinnerung erleben darf.
Oft habe ich darüber nachgedacht, ob ich Janine in dieses unbekannte Reich folgen soll, in dem sie sich jetzt befindet. Dann erinnere ich mich wieder daran, dass sie mir in der letzten Stunde das Versprechen abnahm, zu bleiben, um die erfahrene Liebe weiter zu geben. Aber jedesmal, wenn die Schmerzen der Sehnsucht unerträglich werden, suche ich die Gefahr in den Bergen, suche die Hoffnung, dass eine Lawine, oder ein Steinschlag, oder nur eine schlichte Gletscherspalte mich auf die lange Reise in die andere Welt schickt, in die Welt, in der Janine ist. Doch stets habe ich überlebt, als ob eine fremde Macht verhindern will, dass ich meine Janine wiedersehen darf. Wie lange noch muss ich warten, bis ich Janine wieder in die Arme schließen darf?
Als ich plötzlich wieder zu mir komme, stehe ich am Rand der Gratalm. Vor mir nur noch die in die Erde gesteckten Steinschuppen und der Abgrund zum vierhundert Meter tiefer gelegenen Alpja. Ein Schritt und ich bin bei meiner Janine, dann hat diese endlos lange, düstere, freudlose und verzweifelte Reise ein Ende. Doch ich zögere. Ein Schritt! Aber wohin führt dieser Schritt? Ich habe keine Garantie, dass mich dieser eine, verzweifelte Schritt zu Janine bringt. Was, wenn ich künftig in einem Rollstuhl um Janine trauern muss? Vielleicht gibt mir ein Kopfsprung die Sicherheit, zu Janine zu gelangen? Ich stehe an der Kante und warte auf eine Antwort. Sie kommt nicht.
Hier an dieser Stelle stand ich mit Janine Hand in Hand. Ich versprach ihr immer wieder hier heraufzukommen, um an sie zu denken. Doch sie wollte es nicht und sagte, ich solle mir eine neue Liebe suchen...
"Janine, so einfach geht das nicht.., Du bist noch so tief in mir und doch so weit weg..." Ich bemerke plötzlich, dass ich laut spreche und damit die Stille der Bergwelt zerstöre. Ein Schritt nur und ich bin bei Dir, Janine! Warum habe ich bisher nie den Mut aufgebracht, diesen einfachen Schritt zu tun? Heute bin ich an einem Punkt angelangt, wo mir bewusst wird, wie sinnlos mein Leben ohne Dich gworden ist! Gib mir ein Zeichen und ich mache diesen einen Schritt. Ich weiß, dass ich Dir etwas anderes versprechen musste, doch ich wusste schon damals, dass ich ohne Dich nie wieder unbeschwert leben kann. Dein Kopf lag zwischen den Geräten, aber Du warst wach. Du hattest Schmerzen, aber Du hast sie nicht gezeigt, hattest sie nie gezeigt, während der ganzen Zeit Deiner Krankheit! So lieblich und zerbrechlich sahst Du aus. Du warst blass, Deine Augen waren gerötet und Deine Haare, die ich so liebte, waren kurz. Aber das habe ich nicht gesehen! Ich hielt Deine Hand wie einen zerbrechlichen Schatz, wie etwas Heiliges, das ich beschützen müsste. Ich sah in die tiefen Seen Deiner Augen, die noch nichts von ihrem Glanz eingebüßt hatten. Ich wollte Dich am liebsten auf meine Arme nehmen und Dich forttragen, irgendwohin, wo kein Schicksal uns erreicht hätte, doch diesen Ort gab es nicht. Ich wünschte mir, Dir von meiner Kraft geben zu können, ich wünschte mir, irgend etwas tun zu können, damit wir zusammen bleiben könnten. Die Verzweiflung und Hilflosigkeit drückte mir den Hals zu, dass es mir schwer fiel zu Dir zu sprechen. Ich streichelte Deine Hand, anstelle von Worten, die meine verkrampfte Brust zurückhielt und Du vertandst es. Selbst in dieser Stunde hoffte ich noch auf ein Wunder, bat Gott, er möge ein winziges Bischen Gnade zeigen und uns eine kleine Chance geben. Er hörte mich nicht, er gab mir auch kein Zeichen, er ignorierte mich! Er bestrafte uns wofür?
Wieviele Stunden hatte ich an Deinem Bett gesessen? Hatte ich Dir Blumen mitgebracht? Kam zwischendurch ein Arzt oder eine Schwester und störte unsere Zweisamkeit? Was hatte ich Dir alles gesagt? War es Morgen, Nachmittag oder Abends? Du hattest mich angelächelt und ich küsste Deine trockenen Lippen, das weiß ich noch! Dein Lächeln traf mich wie eine Schockwelle und riss mein Herz von den Füßen. Dieses Lächeln, dass ich so an Dir liebte, dass die kleinen Grübchen an Deinem Mund zauberte, dieses Lächeln zu dieser Stunde, die mir vor Verzweiflung die Sinne raubte! Verzweiflung, Wut, Angst und eine kleine Hoffnung, an der ich mich festhielt, wie an einem Schilfhalm vor dem Wasserfall. Mit diesem Lächeln sagtest Du mir, dass wir uns wiedersehen, drüben, irgendwann. Mit diesem Lächeln sagtest Du mir, dass Du mich liebst... Dann warst Du gegangen. Deine Hand hatte plötzlich keine Kraft mehr. Ich saß neben Dir und weinte. Ich weiß nicht, ob ein Arzt kam, ob eine Krankenschwester kam, wie lange ich an Deiner Seite saß... Irgendwann ging ich durch die Nacht und ich ging und ging, immer weiter, einen Schritt vor den anderen, bis die Sonne den Horizont erhellte. Ich sah Vögel in den Gärten, aber ich hörte sie nicht. Ich sah Autos fahren, doch ihr Motor war still. Ich sah Menschen sich unterhalten, stimmlos. Wohin ging ich? Wie lange war ich unterwegs?
Die Sonne ging unter, ich legte mich in meiner Wohnung auf mein Bett, drückte mein Gesicht in das Kissen. Ich konnte nicht mehr weinen. Alles aus mir war ausgegossen, mein Körper war leer, kalt, nur noch eine lebende, schmerzende Hülle ohne Sinn und Sein. Ich hatte das Telefon herausgezogen und die Klingel abgestellt, das weiß ich. Ich lag nur da und wollte sterben, wollte bei Dir sein, wollte mit Dir gemeinsam Deinen Weg gehen, hatte Angst, dass Du mir davonläufst...
Stille. Kein Laut drang mehr in mein Bewusstsein. Nur in meinem Körper hörte ich etwas. Die Stille brüllte mich an und die Sehnsucht schie in mir. Aber um mich herum war Schweigen. Als wäre die Welt gestorben und hätte den letzten Atemzug getan. Die Stille wurde mir bewusst als etwas, das es nicht geben konnte. Ich sehe in die Tiefe, sehe ins Alpja, hinüber zum Riedgletscher und auf meine Füße an der Kante zum Abgrund. Auf dem Riedgletscher liegt ein roter Schimmer, als sei er an emporragenden Eistürmen mit Blut bestrichen. Ich sehe keinen Vogel, keine Bewegung unten in den Arven des Alpja. Hat die Welt meinen Schmerz erhört und aufgehört Luft zu holen? Ich sehe zurück, über die Alpwiese, hinüber zu Janines Kreuz. Das Kreuz und der Stein, an dem mein Rucksack lehnt, sie scheinen zu brennen! Sie glühen in blutroter Farbe! Dieser Stein, er leuchtet so intensiv, dass ich nicht wage, ihn zu berühren. Kein Windhauch regt sich und kein Laut dringt aus dem Tal herauf, als hätte die Schöpfung die Leere in mir auf die ganze Welt gegossen. Der Stein pulsiert im intensiven Abendrot, als wolle er mir etwas mitteilen, als würde Janine durch ihn zu mir sprechen. "Lebe für mich!" Es sieht aus, als sende er diese Worte an mich. "Lebe für mich!" So eine intensive Farbe habe ich noch nie bei einem Abendrot erlebt. Die Sonne klebt wie ein glühender Ball am Matterhorn, rubinrot. "Lebe für mich!" prägt sich in mir ein. Ich stehe lange stumm da und staune. Dann geht ein kaum merkliches, leises Lüftchen. Der rote Schein auf Stein und Kreuz verblasst allmählich. Irgendwo höre ich ein Glöcklein klingen, weit entfernt, wie aus einer anderen Welt. Der Pfiff eines Murmeltiers ist weit entfernt zu hören. Ich nehme das Kleid, das ich Janine in Grächen gekauft habe und grabe es an der Steinplatte ein. Dann pflanze ich die mitgebrachte Rose darauf, und weiß, dass ich irgendwann vielleicht einmal wieder eine andere Frau lieben kann, dass ich die Liebe zu Janine aber niemals vergessen werde!
Es wird dunkel, als ich meinen Rucksack aufnehme und beinahe feierlich über die Wiese schreite, dem Tal entgegen. Ich habe fast den ganzen Weg Tränen in den Augen und stolpere oft, weil ich nicht richtig sehen kann. Aber ich weiß jetzt, dass ich wieder bei Janine sein kann, jederzeit, wann immer mir danach ist! Ich weiß, dass ich ihr hier oben auf der Gratalm immer nahe sein kann. Egal, wohin mich das Schicksal in meinem Leben noch führen mag, hier oben werde ich für immer zu Hause sein!

Am nächsten Morgen stehe ich im Hotel Sonne auf dem Balkon. Es ist ein klarer, kühler Morgen. Ich sehe zum Abschied hinauf zum Grathorn und noch ein Stückchen weiter hinauf und erkenne mit bloßem Auge diesen winzigen Punkt, der sich gegen den blauen Morgenhimmel abhebt - Janines Kreuz!
 
 
 
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