Berge zur Selbsterkenntnis
 
Ein Berg, ein Freund und Erkenntnisse (Juli 1987)
 
ein bisheriges Leben lang war ich meinen Bergen treu gewesen. Sie bergen eine heimliche Magie. Ich habe versucht, die Grundsätze der Natur nachzuleben und sie hat mir bei meinen Problemen geholfen. Ich habe stets versucht, die Begegnungen mit den Bergen zu verdienen. Doch ich weiß, dass ich nicht würdig bin, mit der Schöpfung Initiator zu sprechen. Darum spreche ich zu den Bergen und sie flüstern mit mir. Sie bieten sich als Vermittler...

Unser Ziel heißt: Bishorn Nordwand. 11.00 Uhr. Wir reisen von Grächen über St. Niklaus an. Wir passieren den Gleistunnel, nahe dem Bahnhof nach Norden. Über uns türmen sich die Felsflühen auf. Wir steigen auf dem beschilderten Wanderweg in Richtung Jungu auf. Das Wetter ist heiter, nur ab und an verdunkelt eine einzelne, weiße Wolke die Sonne. Beim Steigen auf dem mäßig steilen Wanderweg wird es uns bald warm. Der Pfad führt uns in Serpentinen durch karg bewachsenes Gelände, beherrscht von kräftigem Gras, niederem Buschwerk und hier und dort mit ein paar Arven aufgelockert, unter deren Schattenspende wir gelegentlich halten, um die Ausblick aufs Grächerplateau im Süden zu genießen.
Mein Ärger darüber, dass wir nur wegen Peter für einen Tag nach Braunschweig zurückreisen mussten, hat sich etwas gelegt. Aber wir waren ja so schlau, mit Peters Auto zu fahren, obwohl wir wussten, dass er mit Monatsbeginn wieder seine Schicht im Volkswagenwerk beginnen musste, während wir Glücklichen eventuell einen längeren Aufenthalt in den sonnigen Bergen in Betracht ziehen konnten.
Nun sind wir aber mit Warrens Golf GTI zurück gekommen und haben uns bis auf weiteres bei Madame Anthamatten eingenistet. Einige steile Eiswände sollen unser Abenteuer für die nächsten Tage darstellen. Zunächst aber äußert sich unser Abenteuer in einem schweißtreibenden Aufstieg, nachdem wir die gleiche Höhe heute morgen bereits von Grächen nach St. Niklaus heruntergehetzt waren. Wieder einmal bin ich an dem Punkt, wo ich mich frage, warum das sein muss. Wahrscheinlich brauche ich das Gefühl der Freiheit, dieses über Allem stehen, nachdem ich zwei harte Wochen lang im Hof der Helmstedter Stadtverwaltung und in glühender Mittagshitze die stinkende, ratternde Verputzmaschine bedienen musste. Der große Neubau, der mit seinen riesigen Kratzputzflächen kein Ende nehmen wollte, forderte seinen Tribut: Jeden Abend ein lahmes Kreuz, schwielige Hände und singende Ellenbogengelenke. Wie froh war ich da, mit meinen Freunden wieder auf Tour gehen zu können.
Wir queren das Sprühwasser des Jungbachs und beim Anblick der spritzenden, frischen und klaren Flüssigkeit weiß ich, wofür ich die letzten Wochen so geknüppelt habe. Ein Stück weit geht es durch lichten Arvenwald, dann über Alpweiden ziemlich steil die letzten Meter nach Jungu hinauf. Die braunen Holzchâlets des Dorfes liegen scheinbar verlassen und träge in der glühenden Mittagshitze. Würde nicht da und dort ein verhaltenes Herdengeläut erklingen, könnte man annehmen, das Dorf sei ausgestorben. Vieles jedoch deutet auf fleißige Betriebsamkeit hin: An einigen Châlets ruht die Bautätigkeit offensichtlich nur im Rahmen der Mittagspause und auch etwas oberhalb des Dorfes, in Almwiesen eingebettet, ist die Arbeit an einem kleinen Teich nur vorübergehend eingestellt worden, weil die Sonne allzu intensiv auf dem weiten Südhang lastet.
Kurz genießen wir den Ausblick auf 120° Grad, vom Grächerplateu mit dem Dom-Massiv im Hintergrund, bis zu den Zermatter Viertausendern. Sie lugen drüben, über dem an den Hang gehefteten Weiler "Sparru" hervor, als gehörten sie nicht zu dieser friedlichen Welt aus grünen Matten und heimeligen Dörfern. Zu der sengenden Hitze gibt es passende Geräuschkulisse: Die Grillen zirpen mit einer Aufdringlichkeit, welche die Phantasie zulässt, diese Insekten beherrschen die Welt.
Wir steigen weiter auf dem Bergpfad zum Augstbordpass höher, auch, um aus der drückenden Südflanke heraus zu kommen, in der Hoffnung, auf dem Steitalgrat oben, oder wenigstens an seiner Nordflanke ein kühles Lüftchen anzutreffen. Solches würde den Anstieg ungleich angenehmer machen. Über kurzgrasige Matten, immer weiter ausholenden Kehren, über Schutt- und Rasenhalden und zwischen Lawinenverbauungen hindurch erreichen wir schließlich die keineswegs ausgeprägte Gratkante, die eher einer Umrundung des Grashanges gleicht und auch keinen kühlenden Wind zulässt. Überhaupt scheint es heute windstill zu sein. Selbst auf einer inzwischen bezwungenen Höhe von 2500 Metern flimmert die Mittagshitze stehend in der Luft.
16.00 Uhr. Mittlerweile steigen wir in der Nordflanke über Geröllfelder und grobes Blockgelände. Lose Felsschuppen und Steinblöcke klappern und poltern ich Echos, wenn wir sie mit unserem Gewicht belasten. Im Norden unter uns liegt in weitem, grünen Tal die Augstbordstafel, in der Mitte vom Embdbach durchzogen, der augenscheinlich in einem im oberen Kar gebetteten Seeli entspringt. Ein Blick auf die Uhr lässt uns die Überlegung anstellen, ob wir nicht auf der Matte, nahe dem einladenden See biwakieren sollen. Bis zur Turtmannhütte werden wir es heute ohnehin nicht mehr schaffen. Und ein gutes Biwakzelt nebst Schlafsäcken haben wir ja dabei. Weshalb sollten wir die sonst die lieben langen Tag durch die brütende Hitze geschleppt haben? Unsere Behausung lastet gerecht verteilt auf unseren Schultern. Warren trägt das Innenzelt und die Haken, während ich mich mit Außenzelt und dem Gestänge abmühe.
Am Seeli angelangt stellen wir zwar fest, dass der Boden in Wassernähe recht feucht ist, doch weiter oben, in einiger Entfernung des Feuchtbiotops ist die Alpwiese kurzgrasig und trocken, ideal zum Biwakieren. In naturverbundener Abgeschiedenheit dieses Hochtals errichten wir rasch unser Zelt und frönen danach den Annehmlichkeiten solchen Vagabundenlebens. Mit dem kristallklaren Wasser des Embdbachs und diverser Maggi-Tüten zaubere ich eine kräftige Rindsbuillon, die unser Landjägermenü begleitet.
Der Tag begibt sich allmählich zur Ruhe. Der Sonnenuntergang lässt die Blockhänge des Schwarzhorns und des Augstbordgrates rosig leuchten und die nun rasch einfallende Abendkühle regt noch zu einem kleinen, erkundenden Gang über die Matten an, die teils im letzten Goldlicht der Sonne, teils bereits im Schatten liegen. Wieder einmal wundere ich mich über die Vielfalt der geschützten Alpenblumen, die hier oben dicht bei dicht in voller Blütenpracht stehen: Edelweiß überall, in kurzgrasigen Zonen Enzian und Kohlröschen, sowie Anemonen, Eisenhut, Akelei, Berghauswurz, näher am Seeli dann Steinbrech und Wollgras. Etwas oberhalb im Kar finde ich Gesellschaften von Gänseblümli, Silberdisteln, Vergißmeinnicht, roten Enzian und Brechnelkenwurz. Gelber Huflattich und Schlüsselblumen setzen zusätzlich ihren Akzent mit leuchtenden Tupfern in die abendliche Wiesenlandschaft.
Kälte und Dunkelheit treiben uns dann bald in unsere Schlafsäcke und die angestaute Erschöpfung, sowie die viele gute frische Luft lassen uns in einen tiefen Schlaf gleiten...

Um 07.30 Uhr ist Tagwache. Vorwitzige Sonnenstrahlen in frostiger Stunde kitzeln uns aus dem Schlaf. Sie schießen über die wilden, schattigen Zacken des Augstbordgrats und beleuchten bald unseren Biwakplatz. Der morgendliche Gang an den eiskalten See endet in wahrhafter Katzenwäsche und lässt kaum vermuten, wie heiß es hier in dem Kar werden kann, wenn um Mittag die Sonne ihre Strahlenlanzen entsendet. Das Rasieren entfällt daher. Dafür zieht uns mein Kaffee vom Primuskocher die Socken aus. Als Wegzehr gibt es allerdings nur die trockenen Semmeln vom Vortag. Sie sind in dieser wilden Umgebung aber auch lecker.
Morgendlicher Aufbruch. Wir steigen uns gleich warm. Erst geht es noch über trümmerbesäte Rasengesellschaften, bald darauf über Schutterrassen und labiles Moränengeröll. Verschiedentlich lügen wir uns zwischen Schneefelder das Tällikar hinauf, zweihundert Höhenmeter bis zur Blockeinsattelung des 2894 Meter hohen Augstbordpasses.
Der Morgen ist auffallend klarer als der gestrige. Es ist frisch, aber windstill. Keine Wolke ziert den tiefblauen Zenit. Das verspricht erneut einen heißen Tag. Wir genießen die Aussicht auf das Almgelände des Grüobtälli, nach Westen und freuen uns, dass es jetzt erst einmal seicht bergab geht. Allerdings ist der Fastfünfhundertmeterabstieg vom Pass auf die Wiesen zunächst auf leicht vereistem Geröll zu bewältigen.
Ein schmaler, aber gut ausgeprägter Wanderpfad führt uns tiefer, hinein in die Blumenpracht der Alpweiden, die im Glanze der jungen Sonne erstrahlt. Wieder bin ich fasziniert von der Vielzahl unbekannter, farbenfroher Pflanzen. Etliche Male überspringen wir verschiedene Bachläufe, gelangen so tiefer und haben stets den Anblick des unter uns liegenden Turtmanntals vor Augen. Der tief liegende Taleinschnitt mit beidseitigem Bannwaldgürtel vermittelt die Ahnung, dass die Natur in diesem Teil noch verhältnismäßig in Ordnung ist. Dass dies aber etwas täuscht, zeigen uns später die weit in den Wald hineinreichenden Lawinenschneisen. Auch die weit herabziehenden Geröllfelder sprechen für sich. Das alles sagt uns, dass unser Öko-System Almlandschaft auch nicht mehr so ist, wie es sein sollte.
Allmählich runden wir den Grataufbau des Furggwanghorns nach Süden, verlassen den bequemen Wanderpfad und suchen uns eine Passage nach eigener Intuition. Doch bereits nach einer Stunde erreichen wir Vorboten der Zivilisation und somit erneut einen gangbaren, ausgebauten Weg. Vorüber an den Hütten des Almweilers Mittelstafel auf 2235 Metern Höhe leitet uns der Weg auf paralleler Höhe zu einer weiteren, kleinen Ansammlung alter Châlets: Brädji Oberstafel auf 2297 Metern. Hier ist bereits unser Ziel, die Turtmannhütte auf hölzernem Wegweiser bezeichnet. Noch drei Kilometer, erklärt uns das Schild. Wir können uns also getrost Zeit lassen!
Als wir den Brändjibach queren, wittern wir Abenteuer: Über uns, nach Südosten hin tut sich ein kleines Hochtal auf, in der Landeskarte mit "verlorenes Tal" bezeichnet. Der Entdeckertrieb gewinnt Oberhand und lässt uns etwas hinaufsteigen. Eine malerische Almlandschaft mit eingelagertem Seeli tut sich vor uns auf. Warren ist dafür, hier erneut ein Biwak zu errichten, anstatt zur Hütte weiter zu wandern. Ich überzeuge ihn schließlich mit dem Argument von zwei Kilometer gesparten Wegs am Aufstiegsmorgen für die Hütte. Dennoch lohnt sich unser kleiner Ausflug: Eine Gemsherde von ca. dreißig Tieren zieht am Ende des kleinen Tälchens durch das Kar. Sie lassen sich auch von den beiden neugierigen Wanderern nicht im geringsten beeindrucken.
Die Sonne steht schon tief, als es uns endlich einfällt, unseren Wanderweg wieder zu suchen und die letzten zweitausend Meter Weg zur Hütte in Angriff zu nehmen. Entlang steiler Gras- und Geröllhänge, sowie einige Sprühwasser querend, erreichen wir die kleine, heimelige Turtmannhütte auf 2519 Metern. Auf einem begrasten Felssockel am Fuße des Üssers Barrhorn Westgrat thronend, bietet sich die Hütte zudem als Aussichtspunkt zur Gletscherzunge des Bruneggletschers nach Süden, sowie ins Turtmanntal hinab, nach Norden. Die kleine Hütte in der Größe eines einfachen Einfamilienhauses, im unteren Teil aus grobbehauenen Felssteinen gemauert, oben mit weißgetünchtem Rapputz versehen, vor grandioser Bergkulisse, wirkt aus der Entfernung wie ein geheimnisvolles Hexenhäuschen.
Auf diesen Steinterrassen sitzen wir dann in der Atmosphäre der untergehenden Sonne und betrachten den gegenüberliegenden Abbruch des Bruneggletschers. Steil und massig erscheinen die Felsen, über die sich das Abbrucheis in Kaskaden in die Tiefe wälzt. Die obere Abbruchkante, ein chaotisches Band aus herausgebrochenen, hausgroßen Eistrümmern, kann sich nicht so recht für eine Farbe entscheiden. Auf ihr liegt die letzte Strahlenkanonade der Sonne und das Eis schimmert in Konturen von Tiefrosa bis Türkis. Links vom herabstrebenden Eisbruch schießt ein großer Wasserstrahl aus dem Fels, stürzt über die steile Felswand, zerstäubt und verschwindet irgendwo zwischen Fels und Randkluft des Eisabbruchs. Wie ein Strang aus glitzernden Seidenfäden zieht sich der Wasserfall am rotbeleuchteten Fels in den Gletscherschlund. Die untere Gletscherstufe schillert in warmen Farbtönen, als ob Gold und Rubine auf ihr liegen. Entferntes Rauschen von tausenden Wassern im und unter dem Eis wird von Weitem herngetragen, dazu das Kollern losgelöster Steine in der Felswand, und das Donnern und Krachen zerberstender Eistürme, das in dröhnenden Echos verhallt.
Je intensiver das rote Licht über die Steilheit dort drüben flutet, desto frischer wird die Luft. Die bevorstehende Nacht haucht uns mit ihrem eisigen Atem an. Mich fröstelt. Dennoch wage ich nicht, mein Auge von diesem herrlichen Anblick abzuwenden und mich ins Hütteninnere zurück zu ziehen. Erst als sich nur noch der Gletscher als weißes Band von dem düsteren Rest der Landschaft abhebt und ich den Duft verbrannten Arvenholzes aus dem Hüttenschornstein erschnuppere, zieht es mich hinein.
Dort am Hüttenofen findet sich dann noch eine gesellige Runde bei Jägertee zusammen. Neben uns hocken da der Hüttenwart und sein Gehilfe, ein Engländer, der hier in den Ferien jobbt. Dann ist da noch die österreichische Seilschaft aus Salzburg, die morgen aufs Brunegghorn steigen will. Daneben sitzen drei Franzosen, die sich an einer Weitwanderung durch Walliser Täler erfreut. Es ist stinkgemütlich, dennoch verkriecht sich bald ein Jeder unter seine Decken. Die dünne Höhenluft, die Hitze am Tag und die anstrengende Bewältigung von Höhe und Entfernung lassen die Augen rasch schwer werden...

Um 05.30 Uhr ist Tagwache. Kurz vor Sonnenaufgang verlassen wir die Hütte. Mit uns die Österreicher. Im Tal liegt Frühdunst. Er verspricht uns einen herrlichen Sommertag. Noch liegt die Felswand des Barrwäng, die gestern Abend im Rot erstrahlte, düster im Schatten. Einem Einschnitt rechts der Felswand, links vom Gletscherabbruch, steigen wir entgegen. Wir halten uns nach Südosten auf einem großen Trümmerhang, parallel zum Bruneggbach, der brausend unter dem Wasserfall aus dem Eis tritt. Das eigentliche Gletschertor befindet sich in einer tiefen, schmalen Felsschlucht, in die wir nicht ganz hineinschauen können.
Kurz hinter einem Quellbach der Einstieg in "Gässi", dem Durchstieg in der Felswand. Warren grinst zähneklappernd und meint, dass uns nun wohl endlich warm wird. In Voraussicht auf das Superbergwetter bemerke ich nur bissig dazu, dass ihm heute noch anständig heiß werden wird. Die Österreicher lassen uns beim Durchstieg den Vortritt und wir warten oben, auf einem kurzgrasigen Hang auf ihr Nachkommen. Dann geht es gemeinsam über den Ost-Moränenwall des Bruneggletschers. Wir runden noch einen kurzen Felsriegel, dann stehen wir am Gletschereinsteig, sicher über dem Abbruch und eher unsicher vor ziemlich beachtlichen Gletscherspalten. Nach kurzer Beratung übernehme ich die Führung, weil ich die Route ja bereits kenne.
Zunächst steigen wir auf einen kleinen Gletscherrücken zwischen zwei Spaltengalerien hindurch, anschließend folgen wir der relativ spaltenarmen Gletschermulde, die weit hinaufzieht. Warren erfreut sich an dem faszinierenden Anblick eines gefrorenen Gletscherbachs.
Bei ca. 3000 Metern stehen wir plötzlich vor einer unüberwindbaren Galerie riesiger Gletscherspalten. Gerade, als die Sonne ihre ersten goldenen Strahlen über das Brunegghorn schießen lässt und das Bishorn in ein lichtüberflutetes Chaos von Séracs verwandelt. Dieser gewaltige Anblick von Eis im Licht schreckt sogar die berggewohnten Österreicher:
"Jesus und Maria.., da wollt's Ihr rauf?"
Warren grinst dazu: "Und auch wieder runter!"
Nach Nordosten, dicht an den Felsen des Schöllihorns umgehen wir die Gletscherschlünde und erreichen schließlich einen schmalen Gletscherrücken auf 3260 Metern. Hier verabschieden wir uns teilweise von den Salzburgern. Teilweise deshalb, weil wir an gegenüberliegenden Bergflanken aufsteigen und uns während der gesamten Zeit mit dem Fernglas beobachten können.
Wir folgen nach Süden einem wenig ausgeprägten Gletscherrücken, der bis unter unsere Eiswand hinauf reicht. Die Anderen ziehen ihre Spur auf einem breiten Firncoloir auf das Bruneggjoch. Um neun Uhr stehen wir vor der Steilheit der jetzt im Schatten liegenden Bishorn Nordostwand, deren glatte, blanke Flanke lediglich von Eisschründen und Séracs unterbrochen wird. Mauersteil zieht sich das Eis in den Himmel. Vom rechten Zipfel einer wahrhaft riesigen Gletscherspalte steigen wir zum Bergschrund empor, der relativ einfach überwunden ist, weil Lawinenabgänge von den weiter östlich liegenden Séracs ihn nahezu verschüttet haben. Allerdings ist das Steigen auf den Lawinentrümmern recht schweißtreibend.
Dann wird es richtig steil! 45° bis 50° Grad, teilweise noch auf Lawinenmaterial. Die Route führt jetzt weiter schnurgerade hinauf, bis unter die gewaltige Séracbatterie, die sich V-förmig über die gesamte Eisflanke erstreckt. Es bleibt uns keine andere Alternative, als in diesem Wirrwar aus übereinandergeschichteten Eistürmen und Eisblöcken eine Schwachstelle nahe der Gipfelfallinie zu finden, die durchsteigbar ist.
Das Glück ist mit uns! Wir erhaschen gleich eine relativ einfache Passage. Ein coloirähnlicher, breiter Eiskamin stößt bis weit indie Séracbänder hinauf. Ihn streben wir an. Ein Blick nach rückwärts zeigt uns, dass auch unsere Hüttengefährten drüben am niederen Gipfel nicht faul waren. Die drei kleinen Pünktchen haben das Bruneggjoch bereits unter sich gelassen und streben wacker und gleichmäßig auf dem Nordwestgrat des Brunegghorns höher.
Wir spuren wieder kräftig los. Es kann ja wohl nicht angehen, dass die da drüben eher wieder auf der Hütte sind, als wir! Das Konkurrenzdenken lässt uns hinaufjachtern und bald kleben wir am vorhin ausgespähten Eiskamin. Ein Eiswall von 15 Metern versperrt uns den Weg. Wir weichen nach rechts aus, in die bläulich schimmernde Flanke eines hausgroßen Eisturms, steigen dann in das Coloir zurück, um an einer weiteren Eiskante erneut aufzulaufen. Die kostet uns drei gute Eishaken und zwei Eisschrauben. Die Haken pickelt Warren wieder heraus, sie sind noch von Siegfried und es gibt diese Art nicht mehr zu kaufen. Die Eisschrauben aber sitzen für die Ewigkeit fest. In meiner Pedanterie habe ich sie derart ins Eis geprügelt, dass man einen zappelnden Saurier hätte daran aufhängen können. Warren steht zu exponiert, er bekommt sie nicht wieder heraus. Also rechne ich im Geiste mit: Das waren 14,- Franken! Ich überlege, wie teuer diese Eiswand hier noch werden wird.
Über eine weitere Abbruchfläche gelangen wir wieder auf die ununterbrochene Flanke. Die Neigung nimmt nun stetig zu und ich schätze sie auf nunmehr fast 60° Grad. Wir folgen jetzt kontinuierlich der Gipfelfallinie, lassen ein paar Eisschründe und einzelne Séracs im Osten liegen, spuren teilweise in frischer Firnauflage und geraten mächtig unter Dampf. Die geschätzte Höhe von inzwischen 3800 Metern setzt uns wohl mehr zu, als wir uns eingestehen wollen. Hin und wieder erleichtern Schneerinnen und wenig ausgeprägte Eisrippen das Halten des Kurses in der Fallinie.
Hundert Meter höher dann, etwa am Beginn der letzten Drittelhöhe, gibt es noch mal Abwechslung: Ein verschneiter Eisschrund fordert unsere Aufmerksamkeit. Keine riesige Spalte, doch in dieser Höhe und Exponiertheit auch nicht einfach. Ich schiebe mich durch und hinauf, es geht ja ganz gut, mit Zurückrutschen und Schneefrühstücken!
"Wie eine tonnenschwere Schildkröte auf einer Sanddüne", bemerkt Warren giftig.
Ich sichere und erwarte seinen graziösen Durchstieg, der aber ebenfalls wenig von Eleganz besitzt, weil auch ein Warren nicht fliegen kann.
Wieder im steilen Firn machen wir Pause und spähen nach Nordosten zu den Kameraden am anderen Berg hinüber: Himmel noch mal, die sind ja schon am Gipfel! Die drei Pünktchen haben sich an der höchsten Spitze versammelt und bewegen sich nicht mehr. Offensichtlich halten sie unter tiefblauem Himmel Mittagspause. Der Gedanke, dass sie fixer sind als wir trügt. Denn die 3800 Meter-Marke, die Höhe des Brunegghorns drüben, hatten wir ja bereits vor einer halben Stunde passiert.
13.00 Uhr. Wir steigen weiter. Monotones Hinaufkratzen im Kampf mit der Höhe und der eigenen Kondition. So geht das noch eine gute Stunde, bis der Hang aus Eis sich sichtlich neigt und zum Konkordiationspunkt von NE, SW und NW-Grat hinaufleitet. Der Rest ist leicht: Hundert Meter kombinierter Schnee- und Felsgrat zum Gipfel des Bishorns auf 4153 Metern.
Eineinhalb Stunden später sitzen wir auf dem umfirnten Felsgipfel in der Sonne und lassen die sommerliche Gletscherszenerie auf uns wirken. Argus gleich verliert sich der Blick in der Ferne, schweift, wie die Gedanken verloren über die in der Weite schimmernden Gipfel. Mir kommt so in den Sinn, dass es keinen besseren Ort zum Träumen gibt, als den Gipfel eines einsamen, wenig frequentierten Viertausenders.
Mein Blick trifft das Brunegghorn und ich registriere zufrieden, dass die Salzburger drüben auch noch träumen und die Hochsommersonne genießen. Was mag wohl denen dort drüben durch den Kopf gehen? Was fühlen andere Berggänger überhaupt, die hier herauffinden? Ich sehe Warren an. Der hat die Hände unter dem Kopf gefaltet, liegt im Schnee und döst. Nur das gelegentliche Blinzeln seiner Augen erzählt mir, dass er nicht fest schläft.
In der Erinnerung flieht mein Blick durch Zeit und Raum hinüber zur Ostflanke des Weißhorns und ich spüre die tiefe Gnade der natur, dass ich heute hier träumen darf. Dass ich dieses Abenteuer dort drüben vor drei Jahren überlebte, stellt ein kleines Wunder für sich selbst dar. Anschließend schaue ich hinüber zum Dent Blanche, der sich aus der gezackten Linie des Horizonts erhebt und weiß: Ich hatte schon weit mehr als Gnade hier oben erfahren! Ich hatte bislang zuweilen unerhörtes Glück! Aber diese herrlichen Stunden in Himmelsnähe aufgeben, nur um das Glück nicht zu überreizen? Nein, ich fühle, dass es einfach zu meinem Leben dazu gehört! Diese Stunden hier oben sind der Grundstein für meine immer wiederkehrende Ausgeglichenheit.
Als in die österreichische Seilschaft drüben Bewegung kommt, entschließen auch wir uns zum Abstieg. Wir wollen unseren Heimweg über die Normalführe, also über die Nordwest-Firnflanke machen. Die Zeit ist mittlerweile ein ernst zu nehmender Faktor geworden. Wie schnell überrascht einen hier oben die Dunkelheit! Und gerade die Schlüsselstelle des "Gässi" nahe der Hütte birgt noch einmal eine potentielle Gefahr.
Wir verlassen den Gipfel und steigen auf einem kaum merklichen Firnrücken ab. Es ist einfach. Fast zu einfach! Das lässige Hinabstiefeln auf dem relativ festen Nordwestfirn nach einem herrlichen Sonnentag lässt die Konzentration zur oberflächlichen Aufmerksamkeit werden. Das ist nicht gut! Allzu leicht wird man dabei dazu verleitet, übermütig zu werden. Aber nur auf ca. 4000 Meter, am kaum ernst zu nehmenden Bergschrund wird unser Gedanke an die permanente Gefahr erinnert.
Dann wird es wieder heikel: Wir steigen vom Turtmanngletscher über das Felsband "Über dem Mergasch" ca. dreihundert Meter auf den Bruneggletscher ab. Der Fels ist glatt und teilweise nass. Wir kommen nicht umhin, einige Passagen mit ernsthafter Sicherung zu begehen. Es wird mehr ein reiner Abseilakt, als bloßes Abstiegsvergnügen. Trotzdem stehen wir eine dreiviertel Stunde später auf dem ausgesulzten Gletscher. Ungefähr gleichzeitig erreichen unsere Parallelkameraden das Bruneggjoch. Und an der gleichen Stelle, wo wir uns heute morgen getrennt hatten, treffen wir wieder zusammen. Nach gegenseitiger Gratulation zum jeweiligen guten Tourenverlauf, beenden wir unsere Bergfahrt gemeinsam.
Gegen 18.00 Uhr und bereits bei heimelig einfallendem Sonnenlicht steigen wir durchs Gässi ab und legen den letzten haben Kilometer bis zur Hütte forschen Schrittes zurück. Die dort auf der Veranda beobachtenden fremden Seilschaften sollen doch eine gestandene Alpinistengruppe souverän einmarschieren sehen. Zuletzt legen wir unseren Ehrgeiz noch in die Mühe, unsere übermüdeten Füße sicher und ohne Patzer auftreten zu lassen.
Die Müdigkeit ist verschwunden. Die Gladiatoren halten Einzug! Respektvolle Blicke empfangen uns und anerkennende Stimmen bestätigen unsere Leistung. Man weiß also, wohin sich unser Aufbruch heute morgen richtete. Wir haben das bewältigt, was der eine oder andere der anwesenden Hüttenbesucher morgen noch vor sich hat. Erfahrungen werden kurz ausgetauscht und Ratschläge gegeben, bevor wir Ruhe finden und uns dem Hüttentee und unserem Proviant widmen.
Am Abend sitzen wir ebenso vor der Hütte wie gestern und sind ebenso verliebt in das Lichterspiel des Sonnenuntergangs wie am Vortag, nur mit dem feinen Unterschied der sich heute vor Stolz wölbenden Heldenbrust.
Warren kalauert: "Na ja, wieder so'n Hügel!"
Ich sehe ihn nachdenklich von der Seite an und denke bei mir: Was weißt Du genau genommen schon? Du beginnst ja gerade erst, die Berge zu entdecken. Was weißt Du schon von der Ernsthaftigkeit eines Wettersturzes, von dem Kampf gegen die Labilität des eigenen Willens, der oft genug über Leben oder Tod entscheidet. Was weißt Du von dem himmelschreienden Gefühl, wenn ein Mensch in Deinem Arm den Kampf gegen den Tod verliert und wie bewusst ist Dir eigentlich die gnädige Tatsache, dass Du jetzt wieder heil und wohlbehalten vor der schützenden Hütte sitzen darfst?
Erst wenn Du den letzten roten Schimmer an der Felswand dort drüben bewusst in Dir aufnimmst, wenn Du Dich nach einer harten Tour im ewigen Eis über ein einzelnes Grasbüschel freuen kannst, wenn Du es Dir verkneifst, lächerliche Gedichte ins Hüttenbuch zu schreiben, wenn Du eine Bergtour nur fünfzig Meter unter dem Gipfel abbrichst, weil eine Wolke zuviel am Horizont aufgezogen ist, wenn Du selbst die alte, Blumen suchende Kräuterfrau auf der Alpe freundlich grüßt und wenn es Dir nicht mehr einfällt, den runzligen, alten Schafhirten mitleidig zu belächeln, dann, aber auch wirklich erst dann gehörst Du zur Elite der Alpinisten!
 
 
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