Berge zur Selbsterkenntnis
 
Touren am Dreigestirn (September 1987)
 
ir sind wieder im Berner Oberland. Nur wiederwillig folgte ich Peter in sein Kletterparadies. Eigentlich wollte ich zu Carola fahren. Ich habe mich in sie verliebt. Doch die Entfernung zwischen Braunschweig und Bottrop lässt uns nur an den Wochenenden zusammen sein. Seit einiger Zeit sagt Carola unsere Treffen immer wieder ab. Ich bezweifle mittlerweile, ob das Gefühl, dass uns zusammenbringt, auch von ihrer Seite Liebe ist. Ich habe noch Schwierigkeiten, Janine geistig los zu lassen, aber ich weiß auch, dass ich für Carola meinen Job in Braunschweig aufgeben würde, um in einem Stuckbetrieb in Gelsenkirchen zu arbeiten. Ich weiß, dass ich mit Carola etwas aufbauen könnte. Trotzdem kann ich mich nicht entscheiden, solange ich von Carola kein eindeutiges Zeichen bekomme, dass sie es ebenfalls möchte. In dieses Chaos hinein platzte Peter mit der Idee, die drei bekanntesten Berner Gipfel zu besteigen: Eiger, Mönch und Jungfrau. Da Carola unser Wochenendtreffen abgesagt hat, stehe ich meinem Freund gern zur Verfügung. Doch ich bezweifle, dass mein persönliches Durcheinander geung Konzentration und Kondition zulässt...
Um 09.30 Uhr ziehen wir vom Campingplatz Stechelberg los. Einen halben Kilometer wandern wir nach Süden zum linken Pfadzweig gegen die Jungfrau-Westflanke in Richtung Rottal. Es ist ein schweigsamer Marsch. Ich kann mich nicht auf unseren Weg oder auf meinen Freund konzentrieren, weil meine Gedanken bei Carola sind. Viel lieber wäre ich bei ihr, als hier auf diesem klotzharten Weg in morgendlicher Kälte. Peter bemerkt meine Unzulänglichkeit:
"Mensch Frank, vergiss sie! Die hat Dich nur gebraucht, als sie Probleme hatte und Du willst der sogar noch ein Edelweiß aus der Wand holen! Das tut niemand mehr, überleg Dir, ob sie das wert ist!"
Das hätte mein Freund nicht sagen sollen.
"Wäre Deine Monika das wert?" frage ich ihn bissig. Peter sagt nichts weiter und wir marschieren schweigend auf unser eisiges Ziel zu. Doch meine Gedanken können sich nicht richtig darauf einlassen. Eigentlich will ich ins deutsche Ruhrgebiet, als auf diese Gipfel des schweizer Bernerlandes. Seit vielen Jahren empfinde ich wieder Liebe und ich soll meine Gefühle einfrieren. Ich bezweifle, dass ich damit klar komme.
Auf steilem Pfad geht es zunächst über Matten bis unter die Felsbandgalerien »Dählen«. Hinter einer Kehre windet sich der Pfad unter den Felsriegeln nach Südsüdosten, wo wir bei einer Reihe alter Hütten den Weg zur Rottalhütte erreichen. Ihm folgen wir über steile Matten bis unter »Bärenfluh«, wo ein wenig ausgeprägter Pfad nach Nordosten gegen den großen Pfeiler des Silberhorns, respektive den Westgrat führt. Die Aussicht ist phantastisch, doch ich habe keinen Blick dafür. Mein geistiger Blick sieht woanders hin. Mein Herz ist jetzt nicht bei dieser Tour, sondern bei einer wunderbaren, hübschen jungen Frau, in die ich mich verliebt habe. Ich sollte bei ihr sein!
Wir queren zwei Bacharme, die vom verschneiten Lawinenkegel der Silberlauischlucht herabsprühen. Direkt über uns befindet sich das große Eiscoloir, dass sich bis auf den Hochfirn hinaufzieht. Über diese direkte Führe wären wir binnen einiger Stunden am Gipfel. Jedoch wären wir beinahe die gesamte Aufstiegszeit den Eislawinen der Hochfirn-Abbruchkante ausgesetzt. Es lockt uns zwar der steile, kurze Aufstieg in Linie, doch wissen wir wohl den feinen Unterschied zwischen Mut und Größenwahn zu definieren. Wir verkneifen es uns mutig zu sein und steigen weiter im Felsbruch unter den roten Felsriegel, die Flanke des Silberhorn-Westpfeilers, durch einen »liegenden« Kamin in eine Gratmulde.
Es folgt wechselndes Gelände bis zu einer Felskante eines eingelagerten Gneisriegels, der zunächst klein ist, sich dann aber zu einem hohen Absatz vergrößert. Die Kante des Gneisriegels soll laut Führer in wenig ansteigender Linie zum Felsvorsprung der Silberhornhütte hinüber leiten. Wir stellen jedoch sehr bald fest, dass die Felsschuppen und -platten recht heikel sind, weil sie verschneit, teilweise unter der Schneeauflage sogar vereist sind. Wir weichen aus und gelangen wieder auf den sichtbaren Hüttenpfad. Am Nachmittag erreichen wir die Silberhornhütte auf 2663 Meter.
Das Clubhaus finden wir unbewartet vor und auch sonst sind wir etwas enttäuscht von der kleinen, ärmlich anmutenden Hütte. Das kleine Hexenhäuschen von ca. sechs mal fünf Metern in Leichtbauweise errichtet, bietet gerade mal zehn bis fünfzehn Personen Platz. Und allmählich komme ich zu dem Gedanken, dass diese Hütte auf sehr unzugänglicher Exponiertheit liegt und dass Material und Proviant extra mit dem Helikopter herauf geflogen werden muss.
Plötzlich frage ich mich, ob ich vielleicht schon zu verwöhnt bin, um in der wilden Naturlandschaft ohne die Accessoires der Zivilisation auszukommen. Jedenfalls müssen wir den Hüttenschlüssel nicht erst lange suchen, er hängt hinter der Verkleidung des Eingangs. Wir bewohnen die Hütte für diese Nacht allein und verschwinden früh in den Schlafsäcken, um für die große Tour morgen ausgeruht zu sein.

03.00 Uhr. Tagwache. Bei herrlichstem Wetter, zwar kalt, jedoch unter dem Mantel stahlblauen Himmels schultern wir unsere Rucksäcke und ziehen dem Berg entgegen. Über Geröll- und Schneebänder stapfen wir mit noch eiskalten Gliedmaßen unter den Nordwest und Nord-Felskaskaden des Silberhorns hindurch und queren die Lawinenrinne der nordwestlichen Gletscherséracs. Noch vor Sonnenaufgang erreichen wir das lang im Bogen hinaufziehende Firnband, das wir unter dem großen Felsriegel des Silberhornpfeilers betreten.
Das Wetter ist beständig und bleibt es vorraussichtlich auch. Der Schnee ist bestens aufgefirnt, lediglich von einer hauchdünnen Schneedecke überzogen, doch er lässt sich einwandfrei begehen. Ansteigend runden wir den Pfeilerfuß nach Nordosten und erspähen die im Führer beschriebene »Eissichel« im westlichen Eisbruch des Giessengletschers. Routiniert ersteigen wir diesen markanten Abbruch, in dem wir den steil ansteigenden Firn bis unter das Westende der Sichel begehen, wo wir einige Seillängen Steileis vom Feinsten bewältigen müssen.
Die permanente Eisschlaggefahr vom Gipfelaufbau des Silberhorns treibt uns ohne Pause weiter hinauf. Allmählich begreifen wir, dass wir uns auf einer ausgedehnten und gefährlichen Führe befinden. Noch dazu auf einer Route, die so gar nicht nach Peters Geschmack sein kann, der ja das Felsklettern über alles liebt.
Schweißtreibender lässt es sich jetzt an, die von Abbruchkanten und gewaltigen Gletscherschründen durchzogenen Firnhänge zwischen Chli Silberhorn und Silberhorn zu ersteigen. Dabei halten wir uns stets nach Osten zur großen Abbruchkante nach dem Giessengletscher hin, um seinerseits von den Séracs des Silberhorns Abstand zu halten.
Über einen großen Absatz im Eisbruch erreichen wir die obere, durchgehende Eiswand des obersten Gletscherschrunds. Hier zahlt sich unsere vorsichtige Routenwahl zur Ostkante aus: Der Schrund, der sich über vierhundert Meter horizontal in die Silberhornflanke hineinzieht, ist hier mit dem geringsten Aufwand zu bewältigen. Dennoch lernen wir, dass an einem Berg wie diesem auch der geringste Aufwand schon einiges abverlangt.
Ein Stück weit müssen wir in eine riesige Gletscherspalte hinabsteigen, um den oberen Absatz zu erreichen, der wiederum einen riesigen Eisschrund für uns bereit hält, den wir aber leicht zum kleinen Silberhorn (3542 m) nach Osten hin umgehen können. Anschließend steigen wir in der sogenannten Silbermulde gegen die Silberlücke an und genehmigen uns eine Rast.
Wir genießen die Sonne und den Ausblick in das grüne Tal. Mein Blick und meine Gedanken schweifen noch weiter fort. Sie sind bei Carola. Was ich nie wieder für möglich gehalten hätte, ist offenbar eingetreten: Dass mir eine Frau noch einmal wichtiger sein kann, als meine Berge. Dennoch ist diese Frau für mich nicht richtig erreichbar, was mich durcheinander bringt, mich lähmt, mir meine Überlegenheit nimmt. Peter merkt es mir zweifelsohne an, sagt aber nichts mehr dazu. Doch auch er macht sich seine Gedanken, denn meine Unkonzentriertheit kann unser Leben kosten.
Über außerordentlich steilen Firnhang mühen wir uns dann zur Silberlücke hinauf, die den Charakter einer Schlüsselstelle an diesem Berg einnimmt. Noch ein paar leichte Felsen und wir stehen auf dem Hochfirn, in einer ganz eigenen, anderen Welt. Hier gibt es nur noch Sonne, Eis und Schnee. Das Tal schein weit entrückt. Auf diesem Firn, der hohen Eiskanzel über der Welt, legen wir noch einmal kräftig vor, lassen die Wengen-Jungfrau wortwörtlich links liegen, queren unter die südlichen Felsen und steigen über diese und über einen sehr steilen, vorgelagerten Firnhang auf den Gipfel der 4158,2 Meter hohen Jungfrau. Ein Gipfel mit gemischten Gefühlen, weil ich eigentlich nicht auf der Jungfrau sein will, sondern bei der Frau, die ich liebe!
Dennoch ist der Ausblick von diesem Gipfel seit langem das Höchste, das ich in den Bergen erleben durfte. Nach Südwesten adlergleich, vertikal auf den Rottalgletscher, im Westen über Felskaskaden ins tiefe Stechelbergtal und nach Norden mäßig geneigt ins grüne Berner Oberland bis ins Mittelland. Von Nordosten bis nach Süden verliet sich der Blick in unendlich weiter Wüste aus Gipfeln und ewigem Eis, eben in den Weiten meiner Abenteuer ...

Tagwache 06.00 Uhr. Es hat aufgeklart. Das Wetter ist spitze und wir fühlen uns prädistiniert für große Taten. Wir verlassen die Silberhornhütte und steigen auf unserer gestrigen Führe bis unter das Felsbollwerk des Silberhorn-Nordpfeilers. Von hier aus wollen wir einen Durchstieg zur Guggihütte versuchen. Im Führer ist keine solche Führe verzeichnet, was uns sagt, dass wir ein gewagtes Unternehmen starten. Wir hatten aber gestern beim Aufstieg die hilfreiche Möglichkeit, das gesamte Gelände vom Giessengletscher bis zum Guggigletscher einzusehen. Auf die dabei gewonnenen optischen Erkenntnisse bauen wir jetzt. Zunächst steigen wir zwischen den beiden im Gletscher eingelagerten Felsbollwerken der Silberhorn-Nordflanke auf mäßig gutem Firn und unterhalb der »Sichel« auf ca. 2800 Meter hindurch, queren den Gletscher ab der Südostspitze des unteren Bollwerks bis nahe an den Schneehorn Nordwestgrat.
Hier finden wir einen geeigneten Durchstieg durch den Eisbruch nach Südosten gegen das Schneehorn. Kurz entschließen wir uns dazu, den Gipfel des Schneehorns »mitzunehmen«, um uns anhand seiner Gipfelrundschau neu zu orientieren. Über sehr steilen Firn gelangen wir auf die befirnte Gipfelhaube auf 3408 Meter. Es ist erst zehn Uhr, doch die Sonne wärmt bereits so intensiv, dass ich es wagen kann, meine Jacke auszuziehen. Der Platz läd zum Träumen ein und für kurze Zeit vergesse ich, weshalb wir eigentlich hier sind. Doch die friedliche weiße Weite zu genießen, fehlt mir die Ruhe. Die Unruhe, die einen beschleicht, wenn man neu verliebt ist, aber nicht bei seiner großen Liebe sein darf. Diese Unrast zerstört Konzentration und ist gefährlich. Doch hier auf diesem Platz darf ich getrost an Carola denken. Kein Lawinengang bedroht uns, keine Gletscherspalte möchte uns zum Frühstück verschlingen und kein Wetter versucht uns vom Berg zu blasen. Ich überlege, ob Carola bereits in ihrem kleinen Laden unter der Rolltreppe der Gruga Blumen verkauft, oder noch schläft. Ich spüre eine tiefe Sehnsucht nach ihr und habe gleich ein schlechtes Gewissen, weil ich doch weiß, dass dieser Trip hier ein ganz anderer ist: Die Realität. Das gegenseitige Verlassen zweier Freunde aufeinander, das entscheidend sein kann zwischen Leben oder Sterben, wenn man sich nicht voll einsetzt. Ohne Carola wirklich loszulassen, zwinge ich mich aufzustehen und unsere weitere Route in Augenschein zu nehmen. Grausame Wirklichkeit: Im Herzen Carolas sanfte, weiche Wärme und außerhalb meines Körpers und meiner Seele die kalte, unerbittliche Eiswüste, in die ich mich nach Janines Tod selbst katapultiert hatte. Jetzt möchte ich sie aufgeben, diese Welt hier oben, die mir lange Zeit Trost auf meinem einsamen Weg war. Ich möchte sie aufgegben für Carola, für ein neues Leben, für die Liebe, für ein Zuhause, jetzt, sofort! Ich träume davon, sie ganz fest in meine Arme zu schließen, ihre Wärme zu spüren und sie nie wieder loszulassen. Eine Sehnsucht brennt in mir, die ich seit Janine nicht mehr verspürte, eine Sehnsucht, die mir erzählt, dass die Liebe wieder in meinem Herzen Einzug gehalten hat, dass ich bereit bin, für einen neuen Aufbruch...
..."Frank! Hey träumst Du? Weißt Du was ich meine? Sag mal, hast Du mir überhaupt zugehört?"
Peter reißt mich aus meinen Gedanken an eine schönere, heilere Welt und ich habe Mühe, ihm geistig zu folgen:
"Also ich meine, wir haben zwei Möglichkeiten: Entweder via der Ostflanke vom Schneehorn direkt auf die obere Firnmulde vom Kühlauenengletscher absteigen, wobei wir durch den steilen Eisbruch da müssen, oder wir seilen in der Schneehorn Südostwand auf den unteren Kühlauenengletscher ab, aber das wird wohl Kraft kosten, andererseits brauchen wir dann nicht mehr über den unübersichtlichen Gletscherbruch zu kraspeln."
"Was, welcher Gletscherbruch...?" Ich frage wohl ziemlich dämlich. Peter sieht mich an, als wäre ich ein Monster von einem fremden Planeten und sein Kommentar fällt dementsprechend aus:
"Mann, die hat Dir ja mächtig den Kopf verdreht. Ich wünsche Dir ehrlich, dass sie es wert ist, meinen besten Kumpel zu kriegen..!"
Ich weiß, dass Peter es genau so meint. Und ich gebe mir jetzt Mühe, unserer Sache zu folgen. Ein Tiefblick in die sechshundert Meter hohe Nordostwand kuriert mich jedoch sehr schnell von meinem Mut.
"Das sieht aber stark nach Schwierigkeitsgrad IV oder V aus", bemerke ich nur. Wir seilen also in das obere Firnbecken ab. Anstrengung und Angst vor der ungewissen Führe vernebeln mir den Blick für die großartige Gletscherwelt im Sonnenlicht. War ich auch so ängstlich, als ich mich noch nicht in Carola verliebt hatte? Ist es die Angst, sie jetzt allein zu lassen?
Wir seilen ein und beginnen ein schräges Abseilmanöver auf die Gletschermulde zu Füßen des Jungfrau Nordgrats. Das lehrbuchmäßige Abseilen geht relativ gut von Statten. Ebenso rasch steigen wir ab zum Eissturz des Kühlauenengletschers, der uns dann schon mehr Probleme bereitet. Hart an der westlichen Bruchkante versuchen wir den Durchstieg. Was uns vom Schneehorngipfel aus so ermutigte, erweist sich jetzt als ein weiterer Abseilakt in heiklem, blankem Gletschereis. Eishaue und Steigeisen erfahren höchste Belastung. Dann stehen wir auf einer kleinen Eisrampe, die schräg nach Nordosten hinableitet, auf eine querverlaufende Rampe führt, die dann jäh über einem gewaltigen Schrund endet, den wir oben als »kleine Spalte« klassifiziert hatten. Mit akrobatischer Seitensteigtechnik und ebensolcher Seilhandhabung, die man gar nicht erst erwähnen sollte, gelangen wir auf einen unbequemen Hang mit Gletschertrümmern. Zwischen unübersichtlichen Blöcken ahnen wir uns tiefer, bis wir über eine relativ bequeme, bogenförmige, schmale Firnrampe den Gletscherrücken erreichen.
Kurze Rast. Es ist bereits nach Mittag. Meine Gedanken sind nicht auf dem Dach der Schweiz, sondern im Ruhrgebiet Deutschlands. Dort gibt es ein Wesen, das ich für das zauberhafteste der Welt halte und wonach ich Sehnsucht habe. Doch dazwischen liegt viel Himmel und eine halbe Arktis. Ich konzentriere mich wieder auf unser Vorhaben, weil ich allmählich glaube, dass mein Freund Gedanken lesen kann. Peter genießt Weißbrot und Raclette-Käse, was mir in anderer Zeit sicher ebenfalls Appettit gemacht hätte. Doch in meinen Magen passt momentan nur das Gefühl für Carola. Und das fühlt sich an, als würde ein Helikopter Loopings darin fliegen. Doch die Zeit lässt nicht viel Gedankenraum. Wir müssen weiter!
Vor der Kulisse gigantisch aufgeworfener Eistrümmer geht es via bequemer, spaltenarmer Gletscherroute auf ca. 2800 Meter über einen Firnrücken in die Mulde des Guggigletschers. In gerader Linie nach Norden steigen wir ab; der Gletscher ist hier nahezu spaltenfrei und zudem gut aufgefirnt im Schnee. An der Flanke des markannten unteren Pfeilers in der Westflanke des Mönch, finden wir den farblich markierten Hüttenweg. Felsbänder und steile Blockhänge führen uns dann am Nachmittag auf die Guggihütte in 2791 Meter Höhe. Diese Hütte im Plattenfels des Möchspfeilers errichtet, ist schon komfortabler. Bei ihrem Bau hat man wenigstens im Sockelbereich auf naturgegebene Materialien zurückgegriffen. Wir finden auch diese Hütte nicht mehr bewartet vor, teilen sie jedoch mit drei Belgiern, die am Mönch für einen nächstjährig geplanten Eigernordwandversuch trainieren wollen. Heimlich spiele auch ich mit dem Gedanken an diese höchste Alpennordwand. Vielleicht, wenn diese Tour vorüber und Peter wieder zurückgefahren ist...

Bei Sonnenaufgang seilen wir ein. Das Wetter ist ebenso gut, wie am Vortag und der Fels ist von einer dünnen Schicht Schneegraupel bedeckt, der stellenweise aber schon wieder weggetaut ist. Wir folgen der Pfadspur in die coloirähnliche Flanke des Nordwestgrates bis nahe an die eigentliche Gratkante, an der wir auf gut gestuftem Fels rasch höher kommen, weil wir ja die Führe vom letzten Monat noch gut in den Händen haben. In strahlender Morgensonne erreichen wir das Mönchsplateau auf 3112 Meter, das »Plateau« heißt, weil es sich hierbei um eine breite Firneinsattelung auf einem Grat mit schneidiger Kante handelt.
Die obere Hälfte der Felsstufen zum Mönchsplateau hin ist ziemlich verschneit. Wir folgen der Gratkante über schneeige Felsen und Blockgeröll, dann über guten Firngrat, den wir an den West-Firnhängen begehen. Nach Nordosten hin ist der Grat stark verwächtet und meine Erfahrung mit diesem Phänomen kommt uns hier zugute.
Um 08.00 Uhr stehen wir unter dem sogenannten »Nollen«, einer Eiswulst mit Abbruchkante, die am frischen Bruch türkis schimmert. Das Eis hier gibt sich körnig bis splitterig und ist von Schnee- und Wassereisrinnen durchzogen. Wir müssen alle Register lehrbuchmäßiger Eistechnik ziehen und haben unsere liebe Not mit den Eisschrauben, die pardout nicht in das glasharte Eis wollen. Nur mit dem alten Trick des Anwärmens gelingt uns das. Mich quälen dazu zwischenzeitlich noch herrliche Wadenkrämpfe. Wir hätten uns nach den letzten Touren eine Pause gönnen sollen, statt dessen hatten wir das Empfinden, etwas zu verpassen!
Der Nollen hat ausgesprochen ungünstige Verhältnisse und kostet uns viel Kraft. Das hatten wir uns wesentlich einfacher vorgestellt. Als wir auf ihm stehen, ist eine weitere Rast fällig.
Anschließend geht es ungleich besser hinauf. Über dem Nollen erwartet uns zunächst ein eher flach geneigter Hang, mäßig verschneit, der sich dann aber zum steilen, eisdurchsetzten Firnhang emporzieht. Gegen ihn keuchen wir jetzt an. Der Bergschrund, im Führer sehr deutlich zu erkennen, ist tatsächlich ziemlich versackt und einfach zu übergehen. Wir steigen nahe an die westlichen Begrenzungsfelsen, die gratähnlich zum Firnhang stehen. Teils auf verschneitem Gneis, teils auf Firn erreichen wir den bequemen, breiten Firn- und Schneegrat. Verwehter Pulverschnee lässt nur erahnen, wo die Gratkante wirklich verläuft. Ihre tatsächliche Begrenzug möchte ich gar nicht feststellen. In gemäßigtem Tempo steigen wir, bis wir auf der Kuppe des Mönch stehen. 4099 Meter hoch!
Ein unvergesslicher und eindrücklicher Ausblick bietet sich von unserem Gipfel über Eigergletscher zur Wengenalp. Sofort tritt mir ins Bewusstsein, dass so ein Anblick für die Quälerei des Aufstiegs mehr als entschädigt. Dieses Bild wird sich in mir einprägen, so, wie sich schon viele schöne und gewaltige Bilder in meinem Album der Erinnerung verewigt haben. Der stahlblaue Himmel präsentiert in reiner Klarheit aufragende Berge. Hier bieten sich Farbkontraste, die ich niemals fähig wäre, mit Ölfarbe auf die Leinwand zu bringen. Dies ist die absolute Reinheit eines Anblicks!
Eisiger Wind umpfeift unsere Nasen hier auf diesem Aussichtsplatz. Trotzdem verweilen wir kurz. Dieses ergreifende Szenario der Starre und Stille, dieses Amphitheater aus Eis, Schnee und Fels, aus Licht und Schatten inszeniert sich in meinem Kopf zu einer Musik, die Brutalität, Ehrlichkeit, aber auch Schönheit und Frieden vermittelt. Mir wird klar, das Musiken, wie beispielsweise die Alpensynphonie von Richard Strauß, nicht erdacht, sondern erlebt worden sind.
So herrlich der Geist auf so einem Aussichtspunkt auch relaxen kann, der Leib friert sich hier schlichtweg den Hintern ab. Wir stehlen uns noch einen letzten Blick und machen uns dann für den Abstieg fertig, klarieren das Seil, zurren die Steigeisen nach und weiter gehts. Auf leicht überwächtetem Firngrat, der sich steil anlässt, geht es nicht einfach hinab, bis der Grat, weiter unten felsig, flacher geneigt wird. Die Felsen sind hier stark verschneit. Ein Umgehen in die Nordostflanke unterbleibt aber, weil die Wächten drohen und auch die Flanke enorme Schneemengen aufweist. Wir rutschen also über die Felsen hinab, wobei unsere Steigeisen wohl erheblich leiden.
Zuletzt wieder über Schneegrat gelangen wir auf das südliche Eigerjoch auf 3795,3 Meter. Über den schwierigen Firn- und Gneisgrat klettern wir bis kurz vor das nödliche Eigerjoch, wo noch ein kurzes Abseilmanöver in eine Art Scharte Anspruch zollt. Auf der westlichen, linken Firnseite steigen wir weiter, später über leichte, verschneite Felsen und ein kleines Eiscoloir bis zur Gratkonkordiation mit dem Südwestgrat. In anschließend schöner Gratkletterei, die Peter führt, die jedoch lästig verschneit ist, steigen wir auf den Eigergipfel, 3970 Meter hoch. Ein Gipfel, der nicht mehr schwer fällt.
Noch einmal genießen wir die Aussicht. Eben nur aus etwas veränderter Perspektive. Ich für meinen Teil empfinde ganz neu. Hin und her gerissen zwischen der grandiosen, erhabenen Welt hier oben, in der ich ein König bin, in der ich mich auskenne, und der Welt dort unten, wo sich in mir eine Liebe entfacht, die nach einem Zuhause schreit und das Ende eines Vagabundendaseins herbeisehnt. Ich weiß, dass die Liebe stärker sein und siegen wird. Aber genau das habe ich mir all die Jahre gewünscht! Nun ärgere ich mich, dass ich nicht konsequenter war und einfach zu Carola gefahren bin, ihre Ausladung ignorierend.
Peter kann hellsehen: "...besser, Du konzentrierst Dich noch etwas auf die Route. Deine Flamme siehst Du doch nächstes Wochenende wieder!"
Na ja, er hat ja Recht, wenngleich er wohl doch nicht ahnen kann, wie es in mir aussieht.
Nach kurzer Verschnaufpause steigen wir zurück zum nördlichen Eigerjoch. Der erneute Anstieg auf das südliche Eigerjoch vollzieht sich in permanentem Zeitdruck und bei Erreichen des Jochs setzt bereits die Dämmerung ein. Zunächst parallel zu den Spalten der Mönch Nordostflanke, dann über den nördlichen Ostgratrücken und zum Schluss in beinaher Dunkelheit auf dem Hochfirn des Ewigschneefelds erreichen wir die einsame, leere Mönchshütte auf 3629 Metern Höhe. Zugang finden wir dort lediglich zu einer Art Winterraum, doch sind wir zu müde, um uns darüber zu ärgern.

Am Morgen um acht Uhr steigen wir ab. Wir verlassen die Hütte und queren das Ewigschneefeld nach Nordosten zum unteren Mönchsjoch. Das Wetter hält sich noch, gestaltet sich jedoch ungleich diesiger, was auf längerfristigen Wetterwechsel schließen lässt. Vom unteren Mönchsjoch folgen wir der wenig ausgeprägten Firnrippe nach Norden, bis an die »Berglifelsen«, einem Felsriegel auf der Pfeilerkante in den oberen Firnhängen des Fieschergletschers. Bald gelangen wir zu der hier auf die Felsen gesetzte Berglihütte und sehen ein, dass wir die Nacht in der falschen Hütte verbracht haben. Erstens hätten wir einen bequemeren Abstieg gehabt, zweitens ist der angenehme Gesichtspunkt, in einer clubeigenen Hütte zu nächtigen, wesentlich annehmbarer. Hier hätten wir nicht nur den Winterraum zur Verfügung gehabt.
Über steile, spaltendurchsetzte Frinhänge steigen wir zunächst nach Nordosten und Osten auf den Grindelwalder Fieschergletscher ab. In der Gletschermulde zwischen den Spaltengalerien queren wir den Eisstrom nach Nordosten in Richtung zum Unders Challiband, einem großen Felsriegel, der sich parallel zum Eiger-Mittellegigrat erstreckt und im Osten in einer Fels- und Grasflanke über dem unteren Grindelwaldgletscher endigt. Oberhalb des großen Eisbruchs bei ca. 2400 Meter betreten wir das »Challi«, nahe dem Kotierungspunkt 2489.
Über Moränenschutt, Geröll und einen Grashang erreichen wir einen markierten Kletterpfad, der über einen Felsvorsprung auf weitere Geröll- und Grashänge führt. Wir folgen einem Pfad nach Nordnordost über Rasenhänge und anschließende Felsen auf die Schutthänge des Challifirn- Lawinenkegels. Am Fuß der Lawinenrinne, die vom »Wildschloss« herabzieht, queren wir den schuttbedeckten Unteren Grindelwaldgletscher gegen Stieregg am Fuße des Bräntlershorn- Westgrats.
Gegen Mittag erreichen wir den Hüttenweg zu den Schreckhornhütten und folgen diesem im Abstieg nach Grindelwald. Die Tatsache, dass mein Körper seit fünf Tagen keinen Kontakt mehr zu einer Dusche hatte, lässt mich meinen Abstieg mit Peter noch beschleunigen. Obgleich wir herrliche Tourentage erleben durften, fühle ich mich verschwitzt und dreckig. Es ist das Gefühl, das ein Obdachloser haben muss, wenn er eine feine Stadt betritt.
Peter reist morgen wieder nach Deutschland zurück. Das mächtige Volkswagenwerk ruft nach seiner Arbeitskraft! Er kann nicht zu meinem Geburtstag bleiben, ohne mit Ärger seines Vorgesetzten, oder der Werksleitung zu rechnen. So werde ich meinen Geburtstag auf den einsamen Almen unter der Eigernordwand feiern. Eigentlich sollte ich in diesen Tagen bei Carola sein. Doch ich muss ihren Wunsch akzeptieren, lieber nach Leese zu ihrer Tante zu fahren. Angst habe ich nur vor der möglichen Erkenntnis, dass in Leese nicht nur ihre Tante auf sie wartet...
Im Grunde hatte ich mir gewünscht, in diesen Tagen hier oben mit Carola zusammen sein zu können, ihr meine Welt zu zeigen, mit ihr meinen Geburtstag bei Anthamattens zu feiern... Die Gründe, die sie daran hindern, haben den Charakter fadenscheiniger Ausflüchte. Doch ich akzeptiere es, denn ich möchte Carola nicht verlieren. Schon zu viele Menschen habe ich verloren, die ich sehr gern hatte. Carola lebt schon in meinem Herzen und sie möchte ich nicht auch wieder verlieren. Doch ständig bohrt eine Frage in meinem Magen: Ist es Liebe, was sie für mich empfindet, oder nur Freundschaft? Bin ich für sie nur so etwas, wie ein willkommener Pausenfüller zwischen zwei Beziehungen, oder oder kann sie sich ernsthaft vorstellen, ein Leben mit mir zu gehen? Ich weiß, dass Carola für mich die Erfüllung aller Wünsche und Träume ist, habe aber Angst, den letzten Schritt zu tun, solange ich nicht genau weiß, welchen Status ich in ihren Augen besitze. Meine innere Unruhe und diese Ungewissheit verschlagen mir seit Tagen den Appetit. Ich esse kaum noch, beginne sogar schon Nachts von Carola zu träumen. Ich möchte zu ihr, kann dies aber nicht, weil sie sich irgendwo im Raum Leese aufhält. Die Angst, dass sich ihre angebliche Tante als ein Mann entpuppt, in den sie sich ihrerseits verliebt, lähmt alle meine Kräfte, nimmt mir meine Stärke und gewohnte Überlegenheit.
Am Abend tauchen wir wieder in die belebte Stadt Grindelwald ein, marschieren durch die Galerie der Exquisit-Läden paradieren die Straße entlang, wie siegreiche Ritter nach einem Kreuzzug. Der Gedanke an Carola lässt mich nicht zögern, verdreckt und abgerissen ein edles Geschäft zu betreten. Der vor ein paar Tagen gefundene rote Kristall entpuppt sich als Granat, den es hier nach einschlägiger Literatur eigentlich nicht geben soll. Ihn tausche ich bei Juwelier Ambühl gegen ein goldenes Granatarmband. Ich bete, dass es Carola gefällt. Doch vielleicht erwarte ich zu viel? Was meinte Peter damit: "Das tut heute niemand mehr..." So intensiv lieben, dass es einem den Atem nimmt? Dass man etwas völlig Verrücktes tut, um seiner Angebeteten seine Liebe zu beweisen? Mag sein, aber ich glaube, dass man nie zu stolz sein sollte, eine große Liebe des Herzens mit einer romantischen Geste zu beweisen, egal, was gerade In oder Out ist!
In der Vorfreude, Carola das Geschenk um das Handgelenk zu legen, verabschiede ich meinen Freund in etwas besserer Laune. Als sein Auto am Ortsrand in den Matten verschwindet, drehe ich mich um. Vor mir die grandiose Kulisse der Eigernordwand. Sie blickt schattig auf mich herab, als wolle sie mir sagen: "Dein Platz ist nicht mehr hier, sondern an der Seite einer zauberhaften Frau!" Doch Carola ist nicht bei mir, obwohl es mein größter Wunsch gewesen wäre. Auch mein Freund Peter ist nicht mehr an meiner Seite. Plötzlich fühle ich mich allein, obgleich mich meine vertrauten, mächtigen Berge dazu einladen, in ihre Welt zu steigen, die mir in den letzten Jahren so viel Trost gaben. Die plötzliche Einsamkeit und Leere lässt mich frösteln. Nur die Sehnsucht nach Carola ist stärker als die geheimnisvolle Welt hier oben.
Wiederwillig wende ich mich den eisigen Gipfeln zu, dieser Welt aus Schnee, Eis und Fels, die mir niemals Ersatz sein kann für die Liebe, die ich für eine wunderschöne Frau empfinde, die in diesen Tagen aber nicht bei mir sein kann...
 
 
 
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