Berge zur Selbsterkenntnis
 
Eigernordwand (September 1987)
 
ch weiß nicht, was es ist, das mich dazu bewegt, mich auf diese Führe locken zu lassen, mich auf sie einzulassen. Morgen habe ich Geburtstag und ich bin allein. Nicht, dass es niemanden in Braunschweig geben würde, der nicht mit mir diesen Anlass feiern würde... Aber ich hatte mir diesen Tag anders vorgestellt. Insgeheim hatte ich gehofft, Carola würde meinen Geburtstag mit mir gemeinsam in dieser Bergwelt hier oben verbringen. Doch sie zieht es vor, nach Leese zu fahren, um dem dortigen Schützenfest beizuwohnen. Ich bin sehr enttäuscht. Doch schließlich hat sie das Recht, selbst zu entscheiden, was ihr wichtig ist.
Die Tatsache, dass wir in der Woche 307 Kilometer voneinander entfernt sind, und uns nur an den Wochenenden sehen können, ist schon keine glückliche Konstellation. Und so stimmt es mich trotz aller Einsicht sehr traurig, den morgigen Tag allein hier zu verbringen. Allerdings wäre in Braunschweig ebenfalls keine rechte Geburtstagsstimmung aufgekommen. Nach einem Achteinhalbstundentag auf meiner derzeitigen Baustelle am Helmstedter Rathaus neben der ratternden Verputzmaschine, wäre es mir keinesfalls mehr zum Feiern zumute.
Mit der drittletzten Bahn bin ich vorhin auf die kleine Scheidegg heraufgekommen. Eher lustlos, als vom Gipfelrausch gepackt, warf ich mich meinem Biwakgepäck hinterher aus der Jungfraujochbahn und begann meinen abendlich einsamen Marsch zu den Matten der Alpiglen-Alp am Fuße der höchsten und gefährlichsten Alpennordwand.
Ich lasse mir Zeit bei der Suche nach einem geeigneten Biwakplatz. Ich wünsche mir ein einsam gelegenes Fleckchen, möglichst am Waldrand, jedoch nicht zu weit vom Einstieg entfernt, um einen denkbar kürzesten Anweg zu haben. Im Übrigen bin ich keinesfalls scharf auf neugierige Beobachter, die dumme Fragen stellen. Durch den sogenannten »Arvengarten«, der aus vereinzelt in den Himmel ragenden Arven in grüner Mattkultur besteht, wandere ich über den Almrücken des Salzegg. Die abendliche, warme Sonne hat den Tagesdunst vertrieben, ebenso, wie die kühlen Lüfte, die noch am Vormittag Grindelwald durchzogen. Zwischen einzelnen, goldgelben Arven ob Mettla, auf ca. 1800 Meter Höhe, raste ich an einem einladenden Felsblock und schaue zur mächtigsten Alpenwand hinauf. Als himmelhohe Mauer steht sie vor ultramarinblauem Abendhimmel. Die mittlerweile rötliche Sonne lässt ihre Strahlen an den Felsflühen entlangstreifen, was dieser Nordwand ein noch wilderes Aussehen verleiht.
Seltsamerweise beruhigt mich der Anblick dieser sonst so abweisend wirkenden Wand, auf der jetzt rotes Licht schimmert. Es lockt auf Pfeilern, in Coloirs und Wandteilen, es glüht noch intensiver auf Schneebändern und Eisfeldern. Wie ein roter Diamant leuchtet das oberste Eisfeld und hebt sich mit seinem intensiven Glanz seltsam unwirklich vom tiefen Himmel ab. Am liebsten würde ich jetzt die Augen schließen und träumen und schlafen und ganz weit weg sein. Nur mit meinem Geist das Land erkunden und meinen Körper in Frieden ruhen lassen.
Allmählich schleichen Schatten heran, werden länger, größer, schließen sich zur Dämmerung zusammen und drängen die Nordwand des Eiger hinauf. Ganz langsam, doch unaufhaltsam schieben sie das Rot auf der Wand nach oben, wo es intensiver wird, sich in der obersten Spitze zusammendrängt, sich schließlich vom Gipfel löst und sich im violetten Himmel verliert.
Ich steige gegen den Einstieg der Eigerwandflühe an und baue schließlich in einer Alpmulde zwischen »Chräjenbiel« und »Im glatten Wang« mein Biwakzelt auf. Unter düster drohender Dominanz krieche ich im letzten Dämmerlicht in meinen Schlafsack, ziehe die Zeltplane herunter und lausche den Geräuschen der Berge, bis mich die Müdigkeit in erlösende Träume entführt.

Ziemlich unausgeschlafen fühle ich mich noch, als mein Taschenwecker mich um fünf Uhr morgens daran erinnert, dass ich ja heute Geburtstag habe und dass ich mir etwas ganz Besonderes schenken will: Die berühmt- berüchtigte Eigernordwand!
Als düstere, erdrückende Silhouette steht sie unter Sternengefunkel, als ich die Eingangsplane meines Biwaks zurückschlage. Es ist ganz erbärmlich und saukalt und was ich erst für lautstarken Steinschlag aus der Eigerwand halte, stellt sich als höchsteigenes Zähneklappern heraus. In der Nacht habe ich nicht viel Schlaf gefunden. Unter dieser Wand war es mir fast die ganze Nacht hindurch unmöglich, ein Auge zu schließen. Die Anspannung war zu groß. Ich spürte die Leere in meinem Bauch, die allen großen Touren voranzugehen scheint. Ich fühlte die Zeit still stehen und hatte Angst vor dem Morgen meines Geburtstags. Was wird er wohl bringen? Was wird mir das neue Lebensjahr bringen? Erst das Knarren meiner Weckuhr erlöste mich aus meiner Spannung.
07.00 Uhr. Wolken ziehen auf, schleichen als unheimlicher Nebel über die Graswellen der Alpiglenalpe, huschen als graue Schatten vor mir her, rauben mir die Sicht auf meinen Geburtstagsberg. Ich frage mich, ob ich wirklich unter dem Eiger bin, denn ich sehe jetzt keine zehn Meter weit. Dennoch weiß ich, dass ich ins Heiligtum dieses Felsriesen eintrete. Was Peter wohl dazu sagen wird, wenn er erfährt, dass ich die Eigerwand gemacht habe - ohne ihn! Nun, er musste ja zurück nach Wolfsburg und kann kaum erwarten, dass ich hier eineinhalb Wochen im Hotel sitze und Wände anstarre, nur damit er nichts verpasst...
Plötzlich erzittert der Almboden unter meinen Sohlen, ein gewaltiges Getöse lässt mich innehalten. Steinschlag! Ein erster Gruß des Eiger! Oder eine Warnung? Ist dies der sprichwörtliche »Wink mit dem Zaunpfahl«, mich nicht allzu gewagt und unkoordiniert auf diese gefährliche Führe zu wagen?
Durch puren Zufall entdecke ich plötzlich an einem Geröllhang mit Firn- und Altschneeauflage ein paar Steinmännli. Ich muss mich in der Nähe des Einstiegs befinden! Nahe einer Schmelzrinne spure ich den Firnhang hinauf und gelange bald an einen unbequemen, ausgeaperten Bergschrung. Ich umgehe ihn nach Westen, wo brüchiger Fels ist. Über einen Schutthang, der zweifelsohne zu einem ausgedehnten, großen Geröllband gehört, gelange ich erneut auf einen mäßig steilen Altschneehang. Ein paar wahllos in den Fels gesetzte Haken, verziert mit Geschenkbändern und Reepschnüren weisen mir den Einstieg.
Im nasskalten Nebel zu klettern, ist nicht gerade angenehm und ich hoffe, dass sich das Wetter noch besinnen möge, was es mir an meinem Ehrentage beschert. Als hätte mich eine himmlische Macht erhört, reißt der Nebel plötzlich auf. Drüben, in dunstiger Ferne erkenne ich das Faulhorn, weiter östlich den First, der sich wie ein Alphügel ausnimmt.
Über gestuften Fels, über brüchige Bänder und in Rinnen klettere ich auf den markanten Pfeiler, was bei den zum Teil arg vereisten Wandstufen ausgesprochen heikel ist, weil ich außer mit dem Fels auch noch mit meinem schweren Biwakrucksack kämpfen muss. Später am Pfeiler entdecke ich dann erst einmal, auf was ich mich da eingelassen habe. Überall gibt sich der Fels schwarz glänzend. Kleine gefrorene Bäche aus Wassereis ziehen sich über die Felsabsätze. Nach nur kurzem Aufwärtsklimmen muss ich gleich wieder rasten. Dabei blicke ich hinab auf die Alpweiden, über die noch vereinzelte Nebelfetzen ziehen. Leises Herdengeläut dringt von unten herauf und der Tag wird schön. Glaube ich. Einige sich bereits auflösende Wolken hängen noch über mir an der Wand, doch darüber inszeniert die Sonne einen neuen, herrlichen Tag. Meinen 26. Geburtstag!
Plötzlich erhebt sich über mir ein Krachen, Poltern und Dröhnen, als stürze ein Hochhaus in sich zusammen. Steinschlag! Ich drücke mich an den Fels und erwarte zitternd das Ende. Das meiste des steinigen Materials fliegt jedoch rechts an mir vorbei, aber einige Brocken zupfen unsanft an meinem Rucksack. Danach kommt alles zusammen: Der Schreck, die Kälte, die Müdigkeit durch die Anstrengungen der letzten Tage und plötzliche Lustlosigkeit! Vielleicht auch Angst? Der Steinschlag eben, er hat mir wohl den Rest gegeben. Ich steige ab!

Ich sitze bei einem Eis auf der kleinen Scheidegg und genieße die großzügige Herbstsonne. Es ist Nachmittag und ich weiß noch nicht recht, ob ich in Grindelwald erneut mein Zelt aufbauen soll, oder ob ich mir anlässlich meines Geburtstags ein Hotelzimmer nehmen soll. Ich erinnere mich alter Werte. Kurzentschlossen bezahle ich mein Eis, nehme den Rucksack auf und gehe hinüber zur Bahnstation. Mein neues Ziel: Grächen! Heute ist mein Geburtstag und ich weiß, dass ich zu später Stunde im Hotel Sonne ankommend, von Frau Anthamatten garantiert noch ein Raclette bekomme. Zu lange habe ich die pennische Sonne vermisst. Jetzt gönne ich sie mir!
Während ich auf die Bahn warte, schaue ich noch einmal hinauf in die Felsfassade der Eigernordwand. Ich weiß jetzt, dass ich sie niemals durchsteigen werde. Auch mit Peter nicht. Mir wird klar, dass ich so etwas nicht haben muss. Es gibt Schöneres! Weshalb soll ich mir diesen patschnassen, schwarzen und kalten Felsen dort drüben antun? Nur, um sagen zu können, ich bin da durch? Paradox! Mag sie ruhig mein Wetterorakel bleiben, diese mächtige Wand dort oben, aber bitteschön aus der Entfernung! Ich bin kuriert und muss wie ganz nebenbei über die beiden Alpinisten lächeln, die sich auf die Wand zeigend angeregt unterhalten. Die haben meine Erfahrung noch vor sich! Hoffentlich haben sie ebenso viel Glück, wie ich und hoffentlich ist die Wand ebenso gnädig zu ihnen, wie sie es zu mir war.
Peter werde ich von meinem Ausflug in den Eigerpfeiler nichts erzählen. Er mag ruhig glauben, dass ich nur gefaulenzt habe. Als ich in den Zug steige, wird mir noch etwas klar: Ich wollte gar nicht wirklich da oben hinauf. Eigentlich war es nur die Trotzreaktion eines zu alt gewordenen Kindes, dass sich an seinem Genurtstag alleingelassen gefühlt hat. Ich weiß jetzt, was mir weitaus wichtiger ist: Carola!
Ein letztes Mal steht sie hoch über mir, nicht mehr drohend, sondern erhaben grüßend, aber nicht mehr lockend, als meine Gedanken schon wieder in Bottrop sind und ich sie schon gar nicht mehr wahrnehme: Die Eigernordwand!
 
 
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