Berge zur Selbsterkenntnis
 
Routenführe 247 (Oktober 1987)
 
eter ruft überraschend am Donnerstagabend an und reißt mich aus meiner Vorbereitung für ein neues Bild. Er möchte mal wieder so einen "richtigen Berg" machen. Ich überlege, wie ich diese Aussage einordnen soll. Ich komme gerade aus dem Wallis und Peter weiß das. Wir hatten die Eiger-Mönch-Jungfrau- Begehung gewagt. Einen Tag vor meinem Geburtstag musste Peter wieder abreisen. Das hatte ich ihm schon ein wenig krumm genommen. Eiger, Mönch und Jungfrau. Und nun möchte er auf einen richtigen Berg? Was bitte schön, soll denn das für einer sein?
Ein wenig verärgert über die plötzliche Ruhestörung frage ich eine Nuance barscher, als gewollt: "Ja, welchen Berg meinst Du denn?"
Peter weiß es noch nicht genau, einen konkreten Plan hat er noch nicht. Das ist etwas ganz Neues, denn für gewöhnlich überfällt er mich mit fertigen Ideen. Seine Einfallspalette ist diesmal breit: "Ich dachte da so an die Jungfrau vom Rottal aus, oder das Gspaltenhorn von der Mutthornhütte aus. Oder vielleicht versuchen wir einmal die Bietschhorn- Südwand. Was meinst Du?"
Nun, was soll ich meinen, von der Jungfrau kommen wir ja gerade... Außerdem kenne ich meinen Freund Peter. Ich hätte darauf wetten können, dass sich seine Einfälle auf reine Felstouren beschränken. In der Vergangenheit war ich mit ihm viele Touren gegangen und kann mir kaum einen verlässlicheren Seilpartner vorstellen. Doch stets hatten wir beide versucht, den jeweils anderen von der Grandiosität des eigenen Wunschberges zu überzeugen. Peter ist meist bemüht, mich für Felstouren zu begeistern, während ich ihm lieber langgezogene Gletscherfahrten schmackhaft machen möchte.
"Ja, Peter, das klingt gut, das mit dem Bietschhorn. Allerdings wäre ich mehr für die Nordflanke..."
"Du immer mit Deiner Eislatscherei! Jedes Mal titschen wir da nachmittags durch Tauschnee. Eigentlich habe ich nicht schon wieder Bock auf nasse Füße. Sag mal, was hältst Du von der Gspaltenhorn Westwand? Da haben wir den denkbar kürzesten Anweg von der Gspaltenhornhütte aus, gerade mal knapp fünfhundert Meter von der Hütte zum Wandfuß."
Ich überlege, dass Peter mit Sicherheit eine Topokarte vor sich liegen hat. Mit der Gspaltenhorn- Westwand weiß ich aus dem Stehgreif nicht viel anzufangen. Ich entschuldige mich einen Augenblick und krame meinerseits im Kartenregal: Aha! Gspaltenhorn von Westen, wieder alles Fels, dachte ich es doch! Mit der Karte vor der Nase kann ich nun ebenfalls interessante Varianten vorschlagen: "Angebot zum Kompromiss: Wäre seine durchlauchtigste Hoheit geneigt, die Bietschhorn- Nordwestflanke in Betracht zu ziehen?"
Peter kennt meinen Sarkasmus und er liebt ihn nicht gerade. Deshalb muss ich mich zusätzlich auf die Informationen des Clubführers stützen, um ihm die Sache so recht schmackhaft zu machen: "Peter, Du magst doch recht handliche Felstouren! Dort hat es ausnahmslos Aaregranit, das ist doch etwas, oder?"
"Granit hat auch die Südwand und da müssen wir schließlich nicht frieren!" Peter lässt sich nicht beirren und ich vermute, dass auch er seinen Führer vor sich liegen hat.
Ich locke weiter: "Welche Route würde Dich denn an Deiner Südwand interessieren?"
Peters Antwort kommt wie aus der Pistole geschossen, was meine Meinung hinsichtlich des Clubführers bestätigt: "Ich denke, wir könnten über eine der drei großen Südwandrippen aufsteigen, schön in der Sonne, also beispielsweise über die Route 247 im Clubführer. Hast Du einen Führer da?"
Peters scheinheilige Frage überhöre ich. Er weiß ganz genau, dass er vor mir liegt, ebenso, wie ich weiß, dass auch er auf die Skizze der Seite 169 starrt. Des Katz- und Mausspiels überdrüssig, erspare ich mir weitere Wortspleißereien und sage schließlich "Ja" zur Führe 247. Lediglich der Termin für die Tour bleibt noch abzustimmen. Eigentlich wollte ich ja die nächsten Wochenenden zu Carola fahren. Doch sie hat wieder einmal abgesagt. In der Hoffnung, sie würde sich kurzfristig noch umentscheiden, wollte ich die nächste Zeit am Telefon verbringen und malen. Andererseits... Meine Sehnsucht nach ihr ablenken mit einer kurzen Tour... Nach wiederum einigem Hin und Her einigen wir uns auf das Wochenende in vierzehn Tagen. Peter hat noch einige Tage Resturlaub und ich werde mal wieder mit diplomatischer Spitzfindigkeit drei Blautage herauslügen. Also in zwei Wochen geht's los!

Wir treffen uns Mittwochnachmittag am Kiosk an der Hamburger Straße. Das Wetter kann sich nicht richtig entscheiden, ob es regnen will, oder seine Wolken zugunsten der Sonne abziehen soll. Peter meint, wir fahren erst einmal los und schauen, wie sich die Witterung in unserem Zielgebiet entwickelt. Um 16.00 Uhr fahren wir im Schichtverkehr der Salzgitter Stahl AG, um 16.30 Uhr stehen wir im Stau bei Seesen, um dann um 02.00 Uhr auf einem Parkplatz bei Karlsruhe etwas zu schlafen.
Zwei Stunden nach Sonnenaufgang sehen wir im Süden schemenhaft die Jungfraukette und vier Stunden nach Sonnenaufgang düsen wir von Thun her das Frutigtal hinauf nach Kandersteg. Ein Mittagessen in diesem malerischen Dorf können wir uns beide nicht leisten, diese Fahrt kostet schon genug. Weitere zwei Stunden später holpern wir vom Autoverladezug in Goppenstein und sausen ins Rhonetal hinab, um gleich darauf wieder bergwärts zu fahren, nach Raron, wo wir das Problem haben, einen Parkplatz zu finden.
Auf einem ungeschützten Wiesenstück steht dann Peters Golf. Wir steigen aus und schauen in den Himmel, um Wetterlaunen zu ergründen. "Es hat Brise, da müsst' es eigentlich putzen", bemerke ich schlau.
Peter lästert: "Wie, heute gar keine Schwarzseherei...?"
Wir grinsen uns an und verstehen uns. Wie immer. Also Aufstieg! Wollte ich mich zuerst gar nicht recht für diese Tour begeistern, so bin ich nun doch erleichtert, meine Entscheidung geändert zu haben. In erster Linie geht es mir ja auch um den Aspekt des draußen seins. Natürlich wäre ich viel lieber bei Carola, doch sie sagt immer öfter unsere Treffen ab. Was ich davon halten soll, weiß ich nicht. Empfindet sie gar nichts für mich? Ich versuche alles für sie zu tun, um ihr zu zeigen, dass ich es sehr ernst meine. Bin ich für sie nur ein Pausenfüller, eine Ablenkung, wenn sie mal eine braucht? Meine Sehnsucht nach ihr scheint mich innerlich aufzuzehren und Ablenkungen, wie diese Tour hier, können eigentlich rein gar nichts daran ändern. Meine Gedanken sind ständig bei ihr und ich muss mich immer wieder zwingen, mich auf unser Vorhaben zu konzentrieren.
Die Sonne brennt, die Biwaksäcke sind schwer und der Weg durch das Bietschtal hinauf unendlich mühsam. Doch immer wieder führt mein Blick nach oben, zu dieser phantastischen Felspyramide und lässt mir den Aufstieg erträglicher werden. Meine Gedanken an Carola begleiten mich auf diesem langen Marsch und lenken von der Monotonie ab. Ich träume von einem Zuhause mit ihr. Von einem schönen Heim und Kindern...
Meine Gedanken werden immer wieder unterbrochen, von einem Stein etwa, der mich zum stolpern bringt, oder von meinem Freund: "Ja, das ist ein Berg!" Peter schwärmt, als wir endlich auf der Rämistafel, unterhalb der Südflanke unsere Lasten fallen lassen. Ehrfurchtsvoll blicken wir zum parallelen Südwestpfeiler des Bietschhorns und zum nicht minder eindrucksvollen WSW-Grat, über den die Normalführe empor leitet. Jetzt weiß ich, dass diese Südwand eine herausfordernde Tour werden wird.
Doch zunächst einmal brauchen wir etwas zum "Einklettern", zum akklimatisieren sozusagen. Der Ostgrat des Jägihorns zeigt uns, dass wir körperlich und klettertechnisch noch fit genug sind. Kunststück! Eiger, Mönch und Jungfrau waren wohl auch keine Sonntagnachmittagspatziergänge, oder? Auf einer kleinen, schwer zugänglichen Aussichtskanzel träumen wir dann schon von unserer großen Route, die wir morgen angehen wollen. Doch ich träume auch von etwas anderem: Eine Zukunft mit Carola. Diese wunderbare Frau hat sich so in meinem Herzen und in meinem Kopf festgesetzt, dass sie schon mein Denken und Handeln steuert, obwohl wir uns schon drei Wochen nicht gesehen haben. Ich sitze in der Sonne und denke einige Wochen zurück. Da kam ihr Brief, indem sie schrieb, dass ihr leben keinen Sinn mehr hat und dass sie von ihrem Freund verlassen wurde. Endzeitig klangen diese Zeilen. Ich mochte Carola schon vorher sehr gern, doch nun war ich aufgewühlt, berührt und wollte ihr unbedingt helfen. Am nächsten Morgen fuhr ich nach Bottrop, einfach so... Einen halben Tag wartete ich in meinem klapprigen VW-Bus auf sie. Als sie endlich vor ihrer Wohnung aufkreuzte, hatte es mich voll erwischt! Das erste Mal nach Janines Tod vor sieben Jahren verspürte ich wieder Liebe, echte, wahre Liebe. Seither zerfressen mich die Zweifel, ob Carola ihrerseits bereit ist, sich auf mich einzulassen. Anstelle eines eindeutigen Zeichens dafür, eröffnete sie mir, dass sie lieber mit einem Freund zum Nürburgring fahren würde, als sich mit mir zu treffen. Vielleicht war ich auch nicht konsequent genug, möglicherweise haben die sieben Jahre Trauer um Janine mein Offensivverhalten geschwächt. Ich weiß es nicht. Was ich weiß, ist, dass ich Carola liebe und lieber bei ihr sein möchte, als auf diesem dämlichen Berg!
Als könnte Peter Gedanken lesen und als wolle er mich von diesen erlösen, höre ich ihn lobsingen: "Siehst Du diesen dominanten Pfeiler dort, fast in Gipfelfallinie, der so ziemlich in der Wandmitte entspringt..?" Er ist begeistert. Und er wird ungeduldig, als ich seinen Gedanken nicht gleich folgen kann: "Obwohl der Pfeiler rechts daneben noch wilder und zerklüfteter ausschaut, der ist sicher noch interessanter!"
"Sicher ist er das", gebe ich gedankenverloren zu und bemühe mich gleichzeitig, mich wieder auf die Berge zu konzentrieren. Dieser Pfeiler, den Peter sich als zweiten ausgeguckt hat, das erkenne ich, je länger ich ihn betrachte, fordert gewiß auch einiges mehr an Leistung und Material. Er ist nicht so schön regelmäßig gegliedert, wie der erste. Ausgiebig schauen wir uns diese Wand an und ich finde sie im Detail trist und karst. Das Gesamtbild dieses Berges jedoch erhebt sich spektakulär über dem Talboden.
Der Gedanke an das Zeltaufbauen lässt uns dann recht schnell wieder ernüchtern. Lust dazu haben wir beide keine und der Abstieg von unserem Ausblickgrat zum Rämiboden kommt mir vor, wie der Gang nach Canossa. Ich tröste mich wie so oft damit, anschließend noch ein herrliches Alpenglühen erleben zu können. Das baut mich innerlich auf und unser Kuppelzelt steht bald in einsamer Almlandschaft.
Später macht sich geschäftiges Treiben rund um unser kleines Zelt breit. Die Rucksäcke werden neu gepackt, Ausrüstung und Schlosserei überprüft und Routenbeschreibungen aus dem Tourenführer abgeschrieben, mit der Wand aus der Ferne verglichen und um mögliche Varianten bereichert. Langsam beginnen die Felsen an unserem Berg rot zu glimmen. Noch majestätischer sieht sie jetzt aus, diese Felsenburg. An ihr werden wir uns morgen die Finger aufreiben! Doch unser Entschluss steht fest: Den senkrechten Pfeiler in Falllinie des Gipfels wollen wir herausfordern! In Gedanken bei jeder einzelnen Felsnadel, die man von hier unten einsehen kann, mache ich meinen goldenen Taschenwecker scharf. Und andere Gedanken entführen mich nach Bottrop, als ich noch kurz in mein Tourenbuch schreibe. Mittlerweile habe ich Angst. Es ist diese im Bauch vor sich hinbrummende Furcht, Carola könnte mich gerade jetzt brauchen und ich bin telefonisch nicht erreichbar. Und es ist die Angst, sie könnte gerade jetzt mit ihrem früheren Freund, oder einem anderen Mann zusammen sein und ich habe sie verloren, noch bevor ich sie richtig gewonnen habe. Ängste, die mich nicht einschlafen lassen, die mich bereits jetzt das Ende der Tour herbeisehnen lassen. Am liebsten würde ich mich aus dem Zelt stehlen, ins Tal laufen und den nächsten Zug nach Bottrop nehmen. Ich muss mir eingestehen, dass mich meine Liebe zu Carola nach und nach verzehrt, auffrisst, schlichtweg aus der Bahn wirft! Ich habe noch lange ihr wunderschönes Gesicht vor meinen Augen, ihre fast kupfernen Haare, ihr süßes Lächeln...

Meine goldene Taschenuhr reißt uns um halb drei aus tiefem Schlaf! Wir pellen uns aus unseren Schlafsäcken und krabbeln aus dem taubenetzten Zelt. Ein Blick zum Himmel lässt auf Superwetter schließen und verheißt einen erfolgreichen Tag. Während wir nochmal die im Dunkel liegende Bergflanke studieren, essen wir einen Becher Joghurt und trinken dazu Peters unmöglichen Kaffee. Er kauft stets den Billigsten, der zwar wach macht, aber keineswegs schmeckt.
Dann ist Aufbruch angesagt. Aufbruch in ein Abenteuer, dessen Ausgang wir noch nicht kennen. Wir schnappen unsere Rucksäcke und zockeln los. Bietschhorn, wir kommen! Das Kuppelzelt lassen wir stehen, in dieses abgelegene Tal kommt eh niemand, das meint auch Peter.
Als erstes Hindernis entpuppen sich einige Sturzbäche, die vom Bietschgletscher herabbrausen und sich im Talgrund treffen. Sie gilt es zu überqueren, wobei es im Dunkeln gar nicht so einfach ist, einen geeigneten Übergang zu finden. Ebenso akrobatisch stellt es sich dar, sie zielsicher zu überspringen. Doch hinüber müssen wir, um an den Einstieg unserer ausgewählten Führe zu gelangen. Das Gletscherwasser ist saumäßig kalt. Peter stellt das gleich einmal fest. Er patscht beim dritten Bach in die eiskalten Fluten. Sein ärgerliches Gefluche hallt durch die morgendliche Stille. Echo inbegriffen. Mich reizt das gleich wieder, meinen berühmten Sarkasmus anzubringen: "Irgendjemand hat mir da in Braunschweig erzählt, er habe keinen Bock auf nasse Füße..."
Peter gibt keine Antwort, ein untrügliches Zeichen dafür, dass er wirklich sauer ist. Er fürchtet wohl, durch die nassen Socken allzu früh von Marschblasen geplagt zu werden. Das Steigen auf dem taufrischen Gras ist ohnehin nicht einfach. Die glitschige Alpweide lässt den Gedanken zu, schon hier die Steigeisen aus dem Rucksack zu kramen. Doch die Eitelkeit zweier erfahrener Alpinisten lässt die Schneeeisen dort, wo sie sind. Lieber rutschen wir weiter ungelenk hinauf!
Bald erreichen wir die ersten Firnfelder auf ca. 2900 Meter Höhe. Eine kurze Pause ist angesagt. Zum Anseilen und Steigeisen anlegen. Unsere Gürtellampen verschwinden im Rucksack, denn allmählich wird es hell. Drüben, über dem Stockhorngrat legt das Firmament bereits Rouge auf.
Peter nutzt die Pause, um seinen feuchten Fuß zu trocknen und ein paar Ersatzsocken überzustreifen. Ich wage zu witzeln: "Ts, ts, ts, ts, noch weit unter'm Einstieg und schon neue Socken!" Mein Freund quittiert die Schadenfreude mit ärgerlicher Grimasse.
Endlich geht es weiter. Morgenfrische treibt uns voran. Zügig gelangen wir durch unscheinbare Spaltenzonen und stehen direkt unter der Felsflanke. Nochmal ein kritischer Blick nach oben. Peter sucht den Einstieg und meine maulwurfsblinden Augen tun so, als helfen sie ihm dabei. Ein schlichtes Coloir weist uns den Weg hinauf zwischen die beiden großen Pfeiler, wo wir unsere Führe erahnen.
Als wir dort sind, begrüßt uns die Sonne. Über den Südostgrat schießen ihre Strahlen, die unsere Wand plötzlich in Licht und Schatten aufteilen. Die Luft scheint zu vibrieren, als die Strahlenlanzen zu uns herüberzucken. Jetzt erkennen wir auch unseren Einstieg. Ein Firnband gleißt auf, das eben noch im Dunkel lag. Es führt schräg links hinauf zum Ansatz des Pfeilers. Nun geht es also richtig an!
Der erste Felsaufschwung ist gleich schwierig. Das Gestein ist vom Eis beinahe glatt geschmirgelt. Doch auch dieses Hindernis bringen wir hinter uns und erklettern leichtfüßig die kleine Barriere, bis uns unvermittelt an einer Platte ein Haken entgegen lugt. Wir wissen, dass den irgendein Vorgänger gesetzt hat und dass er dies sicher nicht zum Spaß tat. Ab hier wird es also ernst. Das anfängliche Hinauftingeln ist vorbei.
Während ich unsere Schlosserei klariere, wirft Peter einen Blick in die Tourenbeschreibung. Er möchte auch gleich die ersten Seillängen vorsteigen und macht sich auf den Weg. Es ist inzwischen fünf Uhr morgens und der Himmel ist klar. Der blasse Sonnenaufgang an den umliegenden Bergspitzen verspricht ein Hoch über den gesamten Alpen. Leise Geräusche trägt der Wind intervallmäßig vom Rhônetal herauf. Auch dort erwacht das Leben. Die dort unten auf dem Weg zur Arbeit sind, sie denken gewiss nicht an uns zwei Idioten, die gerade versuchen, einen gangbaren Weg auf einen ihrer Steinhaufen zu finden. Aber ein großer Teil von ihnen lebt von uns, von solchen Abenteurern, die der "Leidenschaft Berg" verfallen sind.
Dunst zieht herauf. Die silbrig wogenden Talnebel unter uns beginnen sich stetig aufzulösen. Ich blicke in die Ferne. Was mag Carola wohl gerade tun? Ob sie auch ein paar Gedanken an mich verschwendet? Wenn es nach mir ginge, wäre ich jetzt bei ihr! Ich frage mich, ob sie mich rasch wieder los werden will, denn die ständigen Ausladungen aus immer neuen Gründen, sprechen fast schon für sich. Die heraufziehenden Nebelschleier erinnern mich wieder an das Kleid, das ich ihr in Essen gekauft hatte. Ich habe nicht einmal gesehen, dass sie es trägt. Sie sieht darin gewiss aus, wie eine Fee, wie ein Engel aus Träumen geboren...
"Klack, klack, klack..," echot es von oben herab. Ich versuche mich wieder auf meinen Seilgefährten zu konzentrieren. Nur zögernd läuft das Seil durch meinen Sicherungskarabiner und nach einer halben Stunde kommen mir langsam gewisse Gedanken. Wenn wir so weiter machen, dann werden wir es nicht einmal im Traum schaffen, am Abend wieder bei unserem Zelt zu sein. Unvermittelt spüre ich, dass schon jetzt Zeitdruck auf uns lastet.
Nach einer weiteren halben Stunde stehe ich bei Peter am Standplatz, gerade mal vierzig Meter höher! Und es war in Gegensatz zur gesamten Wandhöhe, ein relativ leichtes Stück! Auf was für ein Spiel haben wir uns da eigentlich eingelassen? Wir diskutieren unsere Chancen. Ich bin für eine neue Routenwahl, doch Peter möchte das bereits Erarbeitete nicht aufgeben. Weiter oben geht es sicher besser, meint er. Zur Abwechslung soll ich nun vorsteigen.
Kurz entschlossen hangele ich mich eine Rinne hinauf, fast senkrecht, und erreiche einen Standplatz, der Fläche genug für ein geräumiges Biwak bietet. Noch weiß ich nicht, wie es weiter geht. Deshalb lasse ich Peter erst einmal nachkommen. Vereinzelt poltern jetzt Steine durch die nachtfrostige Bergfassade, die inzwischen kräftig zu tauen beginnt.
Als Peter mich erreicht, brennt die Sonne schon zünftig am Zenit. Unter dem Lederhut beginnt mein Kopf unangenehm zu jucken, ein Zeichen dafür, dass es sehr warm ist. Doch der Steinschlag, der uns in diesem Moment von unserem Rastplatz vertreibt, erinnert mich daran, wie sinnvoll der Hut im Grunde doch ist. Das Jucken wird also gern in Kauf genommen.
Durch einen Riss flüchten wir uns vor herabfallendem Gestein in eine Scharte. Hier wähnen wir uns vorläufig in Sicherheit, erfrischen Gaumen und Geist mit "Isostar", bevor wir den nächsten Schritt überdenken und einen weiteren Vorstoß wagen, auf unserem Pfeiler.
Peter macht danach weiter. Er folgt jetzt der Gratschneide des Pfeilers, stets in meinem Blickfeld. Das passt mir gut in den Kram. So kann ich genau beobachten, welche Handgriffe und Tritte Peter höher bringen und wo mich nachher eine Verbesserungsvariante eventuell schneller nachkommen lässt. Ich will ihm schon zeigen, dass auch mir seine heißgeliebten Felsrouten keine nennenswerten Schwierigkeiten bereiten! Zuletzt entschwindet Peter doch noch meinem kritisch verfolgenden Blick. Er hat sich doch wohl nicht auf eine falsche Linie verleiten lassen?
"Nachkommen!" echot es aus dem Felswirrwar über mir. Nein, er ist sicher noch auf der Führe. Mit etwas neuer Kraft traversiere ich zielsicher das Stück, auf dem ich Peter vorhin hatte höher klettern sehen. Oberhalb dieser Stelle gelange ich auf ein kleines Firnfeld. Hatten wir das unten eigentlich gesehen, als wir so intensiv die Felsen studierten? Ich stelle ernüchtert fest, dass ich bezüglich der Richtigkeit unserer Route noch immer unsicher bin.
Im folgenden Führenverlauf steilt sich der Pfeiler zu einem regelrechten Gendarmen auf, an dem Peter festklebt, als habe ihn eine fremde Macht dort angehängt. Aha, noch kein Stand. Aber das Seil ist ausgegangen! Wir verständigen uns darauf, dass ich weiter steige. Umständlich versuche ich mich um den Turm herumzuschieben. Sollte eine solche Exponente auf einer eingetragenen Felsführe nicht hier und dort alte Haken aufweisen? Meine Augen suchen das Umfeld ab, finden aber nicht auch nur ein einziges Relikt früherer Aufstiege.
Ich brülle zurück zu Peter, ob er sich seiner Führe auch sicher ist. Der blättert nervös in seiner Tourenbeschreibung. Er ist sich also nicht sicher! Ich warte nicht auf seine weise Antwort, sondern steige zwanzig Meter über eine Verschneidung hinaus, am Turm höher. Mal sehen, was da noch kommt. Tief unter einem breiten Riss gähnt eine Scharte, die der letzten glatt den Rang abläuft. Und der Riss, der ist eine ziemlich windige Angelegenheit. Ein gewisses Unbehagen macht sich in mir breit. Nur noch ein Stück, schauen, was drüben hinter der Scharte ist. Blind grabsche ich mich am Fels entlang, gewagt luftig. Nebenbei setze ich drei eher unzuverlässige Haken, zusammen werden sie einen Sturz wohl abfangen, ist mein vertrauensseeliger Gedanke. Ich darf eben einfach nicht aus der Wand fliegen! Mit allen Vieren verbeiße ich mich im Fels, der Rucksack zieht mich nach hinten, der Schweiß rinnt mir über das Gesicht, beißt in den Augen. Dann kann ich wieder sehen: Hinter der Scharte eröffnet sich ein glatter Felsaufbau, fast vierzig Meter vertikal in die Höhe. Daneben ist nichts. Abgrund. Schier haltlos!
Dieser Frustration folgen verräterische Gedanken. Die immer wiederkehrende Frage nach dem "Warum" meines Tun geht mir für einen Augenblick durch den Kopf. Von meinen labilen Haken gesichert trete ich den Rückzug an. Mit meinem letzten Haken am Gürtel mache ich bei Peter Stand. Die anderen habe ich in der Hosentasche.
Peter hängt immer noch verkrallt am Turm, sieht mir erwartungsvoll entgegen. Ich möchte nicht wissen, wie lange ich für diese beiden Seillängen hin und zurück gebraucht habe. Mein Ausflug war zweifelsfrei zu lang. Für Peter muss mein "Zurückkommen" wie ein Schlag ins Gesicht sein. Aber er zeigt Verständnis für den erheblichen Zeitaufwand. Er bleibt sogar noch ruhig, als ich ihm gestehe:
"Nichts! Einfach ein glatter Turm, eine tiefe Scharte, und drüben eine neue, glatte Wand ohne Haltepunkte... Sonst nichts!"
Peter hofft dennoch: "Und... Kommen wir da nicht durch?"
Ich überzeuge ihn davon, dass es mit unserer Führe 247 nichts wird, und dass es in Anbetracht der Zeit wohl klüger ist, es für heute bei einem bloßen Aufstiegsversuch zu belassen. Peter schaut auf seine Uhr und stimmt enttäuscht zu. Also an den Abstieg! Für heute hat das Bietschhorn gewonnen. Aber morgen! Wehe Dir Berg, morgen bist Du fällig!
Am Nachmittag hat uns die Rämistafel und unser Biwakzelt wieder. Strenge Hitze lastet über diesem Südtalkessel. Es ist noch früh. Peter beschließt, neben dem Zelt im Gras zu lesen. Etwas Bräune kann man ja mitnehmen, ins triste Wolfsburg.
Unentschlossen, etwas Zielstrebiges zu tun, mache ich mich auf, latsche in die Nachmittagshitze, ziellos über Alpweiden. Kein Lüftchen regt sich. Die einzigen Geräusche machen die Grillen, die mir mit ihrem aufdringlichen Zirpen unmissverständlich klar machen, dass ich ihre Ruhe störe. Nur gut, dass es hier genügend Frischwasser gibt, denke ich und fülle an geeigneter Stelle meine Feldflasche auf. Am Osthang des Tals, unter den beiden großen Augstkummen- Schuttcoloirs suche ich mir ein Plätzchen zum Dösen. Peter hat Recht. Ein wenig Sonne auf der Haut schadet nicht, wenn man in Maßen genießt.
Ich lasse meinen Gedanken freien Raum. Nein! Meine Gedanken sind bei Carola. Ob sie gerade vor dem Feierabend den letzten Blumenstrauß bindet? Dabei kommt mir der Gedanke, dass es Carola hier wohl gefallen würde. Dieser mehr als üppigen Blumenpracht müsste selbst sie Bewunderung zollen. Nur einem Bruchteil dieser vielfältigen Blütenherrlichkeit weiß ich einen Namen zuzuordnen. Ähnlich verhält es sich mit den vielzähligen Insekten, die diese Flora bevölkern. Nur eine Pflanze weiß ich unverkennbar zu identifizieren: Leontopodium. Im Volksmund auch Edelweiß genannt. Es hier in dieser großen Zahl vorzufinden, freut mich. Nicht zuletzt deshalb, weil es andernorts als beinahe ausgestorben gilt. Ich nehme mir vor, für Carola eine Blüte mitzunehmen. Insgeheim spekuliere ich schon, wann wir uns wieder sehen können. Dabei wirft sich die Frage auf, ob sie es überhaupt noch will. Zweifel, Ungewissheit und Sehnsucht machen mich unruhig.
Zwischendurch sucht mein Blick immer wieder diese massige Felswand dort drüben, die uns heute so glasklar abgewiesen hat. Wir waren voll aufgelaufen! Ich mutmaße, dass wir auch etwas unklug vorgegangen waren. Sinnvoller wäre es gewesen, das Biwak mitzuführen, so hätten wir an der Wand zumindest mehr Spielraum gehabt. Nun überlege ich, ob wir bei einem zweiten Versuch nicht eine Überschreitung riskieren sollten. Über die Südflanke hinauf, über den äußeren Baltschiedergletscher zurück und nach einer Nächtigung in der Schreckhornhütte wieder zurück ins Bietschtal. Das Zelt könnte ja ohne weiteres auf Rämi stehen bleiben. Die zusätzliche Plane würde für ein Biwak in der Wand durchaus genügen. Befriedigt stelle ich fest, dass diese Idee eine akzeptable Alternative darstellt. Allerdings bedarf es handfester Argumente, auch Peter davon zu überzeugen. Das wird nicht leicht. Denn zwangsläufig käme er dann doch noch in den Genuss des Tauschneetitschens, spätestens beim Abstieg über den Baltschiedergletscher.
Gedankenverloren streift mein Blick über den Talkessel. Unten, auf der anderen Talseite sehe ich unser Zelt stehen: Ein kleiner, verloren wirkender, olivgrüner Tupfer im gelblichen Almgras. Daneben schmort Peter noch immer in der Sonne. Er ist wohl eingeschlafen. Hoffentlich übertreibt er es nicht, sonst behandeln wir am Ende noch einen zünftigen Sonnenbrand, anstelle Fußblasen!
Erst, als die Sonne an Kraft verliert und alles in Gold taucht, runde ich bedächtig den Talkessel und spaziere zum Zelt zurück. Als ich dort eintreffe, macht Peter gerade ein Feuer, um unsere mitgebrachte Konservenwurst zu garen. Anschließend wohne ich dem Versuch bei, die Dosen zu öffnen. Peter hat den Büchsenöffner vergessen. Er greift nach dem Eispickel.
"Das ist jetzt nicht Dein Ernst, oder?" frage ich misstrauisch. Es ist ihm sehr ernst damit. Er federt in den Knien, nimmt Maß und... Mit einem dumpfen "toc" fliegt die Dose zur Seite. Eine hässliche beule prangt auf dem Deckel. Aber auf ist sie nicht.
"Wie wäre es mit einem scharfen Messer und einem Stein..." Peter hat einen Stein in der Hand, noch bevor ich meinen Vorschlag kundtun konnte. "Toc" und "puff"! Die Dose ist auf. Allerdings mehr an der Seite, als am Deckel. Aus einem gezackten Riss quillt der Inhalt. Sehr appetitlich! Ich sehe kopfschüttelnd zu, wie Peter die Büchse auseinanderbiegt und anschließend das zermanschte Essbare mit einem Löffel herauskratzt. Wenn ich nicht so einen Kohldampf hätte...
Die Wurst gart und Peters Rücken hat gegart. Nun, er zieht wohl einen Sonnenbrand nassen Füßen vor! Ich spreche meine Idee bezüglich unserer Route an. Überrascht bin ich, dass Peter sofort einwilligt, als ich ihm meinen neuen Vorschlag unterbreite. Mit dieser neuen Aufstiegsstrategie im Herzen und der Wurstmatsche im Bauch sind wir wieder zuversichtlich, noch eine schöne Bergfahrt erleben zu dürfen. Morgen früh wollen wir es diesem Berg schon zeigen!
Nach dem Verzehr unseres Wurstbreis sitzen wir noch lange vor dem Zelt, beobachten, wie sich die Ansicht unseres Berges in der untergehenden Sonne verfärbt, wie die Konturen seiner Schatten sich zunehmend vergrößern, bis nur noch die großen, ausgeprägten Pfeiler an den äußeren Gratspitzen rot glühen. Unsere Bergflanke liegt schon im tiefen Schatten, als wir den Weg in unsere Schlafsäcke finden. Wieder stelle ich den Wecker auf die gleiche Zeit.

Nächtlicher Aufbruch. Wir ahnen uns über Gras- und Schuttfelder hinauf, wie gestern, nur mit dem Unterschied, dass unser Rucksack mit der Biwakausrüstung um einiges schwerer ist und dass Peter die Bachläufe etwas vorsichtiger überspringt. Das Wetter hat sich prächtig gehalten. Lediglich an den höchsten Zinnen des Bietschhorns kleben noch ein paar Wolken. Aus ihnen ragt unser Pfeiler heraus, wie aus schmutzigem Rauch.
Die Führe nehmen wir von gestern an, denn die kennen wir ja schon. Zumindest die ersten Meter. Wieder, wie am Vortag, das ernüchternd langsame herumkrebsen an der Randkluft und am Coloir des Sockels. Wir steigen auf dem harten, dreckigen Firn und auf Lawinenresten, die uns gestern im Übereifer gar nicht aufgefallen waren. Oder waren sie etwa gestern noch nicht da? Doch! Unsere Spur von vor zwölf Stunden gleicht nur noch seichten Schmelzschalen. Die intensive Sonne hat sie gestern gut angetaut. Jetzt aber ist der Firn hart. So hart, dass ihn kaum meine stabilen Bergstiefel zu ritzen vermögen.
Ich denke daran, wie es weiter oben sein wird. War da nicht gestern ein kleines Sprühbächlein? Das ist zu dieser Stunde sicher alles Eis. Peter mag zwar meine "Schwarzseherei" ganz und gar nicht, ist aber dennoch froh, sie zu hören, weil er weiß, dass ich dann stets der "alte" bin. Allerdings flucht mein Freund schon jetzt über den glatten Untergrund. Wir legen die Steigeisen an und ich bin froh, dass ich schon in Braunschweig darauf bestanden habe, sie doch mitzunehmen.
Wir haben unsere Führe von gestern noch in den Fingern und stehen schon vor Sonnenaufgang am Turm, der uns gestern zur Umkehr gezwungen hatte. Doch heute sind wir besser gerüstet, besser vorbereitet und noch positiver motiviert. An einer denkbar exponierten Stelle tanzen wir auf Eistrümmern. Die waren gestern noch nicht da. Diese Tatsache entbehrt nicht einer gewissen Dramatik, weil ich gleich erkenne, dass wir uns genau unter einem brüchigen Coloir bewegen. Das ist wieder erwarten gnädig mit uns und sendet nur einmal ein kleines Steinchen herab. Trotzdem spurten wir schleunigst an unseren heißgeliebten Turm, der wenigstens vor diesen objektiven Gefahren einigermaßen Schutz bietet.
Auch ohne diese Erinnerung wollte ich gleich an den unfreundlich aussehenden Turm, anstatt erst dem Coloir zu folgen. Wer weiß, wie lange wir in diesem gefährlichen Schlauch zugebracht hätten. Eher balgen wir uns mit dem Problem herum, von hier aus einen Durchstieg zu suchen.
Aber diese Absicht lässt sich komplizierter in die Tat umsetzen, als erwartet. Nach rechts, um den Gendarmen herum, ist es aussichtslos. Das Thema hatten wir schon vor zwölf Stunden. Und links herum gibt es kaum Griffe und Tritte, oder Sicherungsmöglichkeiten. Jede angebrachte Sicherung bliebe hier illusorisch, weil mit dem Versuch einen Haken zu schlagen, jeder Griffpunkt zerstört würde.
Mit gewagten Klimmzügen gelangt Peter schließlich an die linke Kante des Turms, wo er zwei Klemmkeile in einem Riss anbringen kann. Diese ermuntern uns dazu, einen gewagten, luftigen Ausfallschritt zu unternehmen, mit dem wir uns auf weniger unfreundliches Gelände retten. Als ich Peters Klemmkeile im Vorüberhuschen begutachte, wird mir ganz schwindelig. Sie besitzen wohl eher dekorativen Charakter. Als ich meinen Seilpartner daraufhin ermahne, grinst der frech: "Wieso, Du bist doch am Turm vorbeigekommen, oder etwa nicht?" Das ist Peter!
Mit fünf Seillängen über relativ leichtes, aber schwindelnd steiles Terrain geht es jetzt. Die einzige Alternative, um die Scharte zu umgehen, vor der wir gestern weiter unten verzagten. Allerdings kostet uns diese Aktion fast eine Stunde. Dennoch sind wir schon wesentlich weiter, als am Vortag. Im Vergleich zu unserem gestrigen Versuch stelle ich fest, dass wir den Sonnenaufgang nur unbewusst wahrgenommen haben. Auf der Schattenseite von Turm und Scharte waren wir zu beschäftigt, um die junge Sonne mit einem würdigen Staunen zu begrüßen. Das holen wir jetzt nach, indem wir uns eine Rast gönnen.
Über uns schon das nächste Hindernis. Wir legen unsere Köpfe in den Nacken und schauen eine steile Felsstufe hinauf, vielleicht dreißig Meter.
"Die wird schwer", meint Peter trocken. Beide versuchen wir ein annehmbares Höherkommen auszuspähen. Peter lugt mit einem Auge auf seinen Handzettel, mit dem anderen taxiert er die Wand: "Siehst Du irgendwo da oben eine Verschneidung? Die soll da kommen, da müssen wir rauf!"
Ich sehe gar nichts, lediglich aufeinandergeschichteten, harten Fels. Wir gehen es erst einmal an. Peter steigt vor. Langsam schiebt er sich höher, flucht und schimpft dabei und quittiert jeden erhaschten Griff oder Tritt mit einem zufriedenen "na also...".
Eine Viertelstunde schaue ich ihm zu und eine weitere Viertelstunde harre ich aus, weil er inzwischen mein Blickfeld verlassen hat. Zweifelsohne steigt er aber stetig höher, das verraten seine hallenden Steiggeräusche. Unheimlich wirkt jeder Laut, den er verursacht, vielfach vom Fels zurückgeworfen. Da, endlich das erlösende Wort: "Nachkommen!" hallt es von oben herab.
Jetzt also ich. Zwei Haken, drei Klemmkeile, schon in besserer Manier gesetzt, als unten am Turm. Nochmal zwei Haken. Und nun sehe ich tatsächlich eine Verschneidung, nach all dem stoischen Wandgriffsuchen. Sie weist einen bequemen Handriss auf, der einlädt zu sicheren Manövern.
Peter wartet am Fuß einer neuen Scharte. Die ist aber besser, meint er. Werden sehen! Der Fels wird jetzt fest und rauh. Er ist wohl besonderen Bedingungen ausgesetzt. Mittlerweile klettern wir in der Sonne. Es ist derart warm, dass ich beim folgenden Standmachen alles außer meiner Lederweste im Rucksack verschwinden lasse. Peter ist ebenso froh, nur noch im T-Shirt steigen zu müssen. Obgleich er nichts sagt, weiß ich, dass er erheblich unter seinem Sonnenbrand leidet.
In dunstiger Ferne sehe ich meine Walliser Eisberge leuchten. Sie erinnern mich daran, dass ich mich hier auch an einem Firnberg befinde, eben nur auf der falschen Seite! Und je mehr ich darüber nachdenke, desto trockener und öder erscheint mir diese reine Felskletterei auf der Route 247. Allein der Tiefblick auf den Kessel des Rämitals und im weiteren Verlauf auf den Einschnitt zum Rhônetal bietet Freiheitsgefühl.
Gegen Mittag rasten wir an einer Besonderheit auf dieser Führe: Ein Firnfleck! Peter fragt mich bissig, ob ich mich ganz nebenbei hier noch austoben möchte. Während meine Augen dem weiteren Routenverlauf folgen, überlege ich, dass wir heute ganz sicher noch toben können. Und wer da meint, auf einer Felsführe sei man nicht so beansprucht und ausgelastet, wie bei einem Firnaufstieg, der versuche zur Abwechslung einmal die "247"!
Über einige Seillängen im fünften oder sechsten Grad erreichen wir wieder einen Pfeilerturm, den man nach Peters Skizze den "Gelben Turm" nennt. Den guten Standplatz, den wir damit erreichen, deutet Peter als den allgemein beschriebenen Biwakplatz. Wir stehen sofort im gleißenden Licht der Sonne. Der Fels ist hier überall handwarm. Trotzdem möchte ich mein Biwak nicht ohne weiteres diesem Platz anvertrauen, weil über ihm eine Felsmauer in die Höhe ragt, deren Ende ich nicht einsehen kann. Wer weiß, was von dort oben alles herunterpoltern wird.
Die Sonne scheint schon mit einem Hauch von Gelb, als wir eine weitere, kleine Einschartung erreichen. Schon reichlich abgekämpft und müde stehen wir unter einem Quergang. Darüber befindet sich nach Peters Aufzeichnung eine steile Platte, eine gute Verschneidung, eine Schuttterrasse, eine weitere Querung, ein Coloir, und schließlich der Gipfelgrat. Aber nicht mehr heute, das wissen wir beide. Wir werden biwakieren müssen, ob uns das nun passt, oder nicht. Der Gesichtspunkt, dass uns morgen vielleicht nicht mehr so gutes Wetter begrüßt, lässt mich zwar unruhig werden, doch nicht so nervös, wie bei dem Gedanken an eine Nacht an gänzlich ungeschützter Stelle inmitten einer neunhundert Meter hohen Felswand.
Ich überzeuge Peter davon, dass sich heute sicher nichts Besseres mehr findet, um eine Nacht einigermaßen geschützt zu verbringen. Also bleiben wir hier! Wir arbeiten bis zum Dunkelwerden, dann ist es uns mit viel Geschick und Phantasie gelungen, ein einigermaßen sicheres und bequemes Biwak zu errichten. Jetzt dürfen wir unsere Kräfte pflegen. Peter bereitet eine seiner berüchtigten Tütensuppen, die mit einer wohlgemeinten Portion Landjäger angereichert wird. Beim Probieren ahne ich, dass auch noch eine andere Substanz den Weg in Peters Suppe gefunden hat. Ein Mittel zur inneren Erwärmung.
Auf lutiger Kanzel, hoch im vertikalen Chaos aus Granit verkriechen wir uns dann bald in unsere Schlafsäcke. Vorher hangeln wir uns auf unserer Führe etwas abwärts, um dem Wurstgericht von gestern fliegen beizubringen. Die anschließend benutzten Papiertaschentücher segeln als kleine weiße Gespenster durch die Wand davon.
Bis mich erlösender Schlaf ins Land der Träume entführt, grüble ich darüber nach, wie viel von meinem erschwindelten Sonderurlaub schon vertan ist. Ein Tag Anreise, gestern der Aufstiegsversuch, heute... Und morgen müsste ich eigentlich absteigen. Bei der Überlegung, wie ich meinen überzogenen Wochenendausflug vor meinem väterlichen Chef rechtfertigen soll, schlafe ich ein.

Der Morgen begrüßt uns mit großen Zirrenfeldern in der Höhe. Ich beobachte sie eine Weile, stelle zufrieden fest, dass sie von Osten kommen und ducke mich wieder in meinen Schlafsack. Peter schläft noch. Ein Blick auf die Uhr klärt die Zeit: Kurz vor sechs. Eine Stunde gebe ich meinem Freund noch, dann müssen wir hoch. Wir wollen zumindest um die Mittagsstunde auf dem Gipfel stehen, um uns unangenehme Überraschungen beim Abstieg zu ersparen. Der Baltschiedergletscher wird auch ohne angetaute Spaltenbrücken heikel genug sein.
Es ist halb sieben Uhr, als ich versuche, auf dem Kocher einen Kaffee zu brühen, ohne den Schlafsack verlassen zu müssen. Ich krame im Rucksack nach der Büchse Fertigkaffee und obwohl ich mich sehr leise verhalte, rufe ich damit meinen verschlafenen Freund auf den Plan. Der räkelt sich aus seinem Cocon und ist ganz erstaunt, dass ich vor ihm wach bin. Gewöhnlich bedarf es einigen Lärms seinerseits, um mich aus den Träumen zu reißen.
Das Frühstück fällt kläglich aus: Brot, Käse, etwas Schokolade und Traubenzucker. Es dauert dann auch nicht lange und wir beginnen, unser Biwak abzubauen. Die bissige morgendliche Frische trägt sicher dazu bei, dass dies sehr rasch geschieht.
Schon sind wir wieder auf der "Route 247" unterwegs. Über einen Blockgrat geht es an den Fuß der Felsmauer, die mich am Vorabend so beeindruckte und in der Nacht unser Wächter war. Wie gehabt steigt Peter vor. Mit dem Pickel zerschlägt er die Eislasuren am ohnehin schon griffarmen Fels. Mit jedem Schlag zerstiebt das Eis im Gegenlicht der gerade aufgegangenen Sonne. Wie Funkenregen spritzen die winzigen Eisstückchen durch die Luft. Mir wird erbärmlich kalt, während ich auf Peters "Nachkommen" warte.
Einige Querungen bringen uns dann unter einen mächtigen Überhang, der in diesem wilden Winkelrührend festlich mit glitzernden Eisblumen dekoriert ist. Die Schwierigkeit dieser Barriere verhindert jedoch, dass wir uns länger daran erfreuen. Zeit spielt mittlerweile ebenfalls eine dominante Rolle auf der Führe 247. Dazu kommt die Tatsache, dass wir uns trotz eines zweiten Versuchs erheblich verschätzt haben, was die Länge der Führe anbelangt einerseits und in Punkto Material zum anderen. Die Haken werden langsam, aber sicher knapp. Ich bemerke das an der immer sparsamer werdenden Sicherung, die Peter wohl gewählt nur noch an den allernotwendigsten Punkten fixiert.
An den Standplätzen finde ich immer weniger Standhaken vor. Zwischenhaken fehlen bald an den meisten Stellen, die eigentlich derer bedürfen. Diese Situation führt dazu, dass ich mir Gedanken mache, ob wir uns mit dieser Felsroute nicht doch etwas übernommen haben. Doch solange Peter optimistisch seine Führe durch die Wand zieht, hüte ich mich, vorschnelle Kritik zu üben. Peter wird aber zuweilen schon ein klein wenig leichtsinnig, aber stets noch im gesunden Rahmen des Vertretbaren. Er ist gewiss nicht so auf Sicherheit fixiert wie ich, doch total verrückte Kapriolen kann ich ihm nicht nachsagen. Im Gegenteil bin ich zuweilen verzückt über die Art, wie Peter es immer wieder meistert, einen Durchstieg zu finden, wo es mir zunächst aussichtslos erscheint.
Auch wenn mir diese Tour körperlich alles abverlangt, so fühle ich mich keineswegs befriedigt. Diese Felskraxelei ist mir einfach zu trocken für ein echtes Bergerlebnis. Das häufige Verschnaufen und Panoramahaschen, wie bei meinen gewohnten Eistouren fehlt hier ganz. Die ständige Konzentration lebt ohne Zweifel auf Kosten des Genießens. Allerdings muss ich zugestehen, dass die Route 247 als Trainingstour nahezu perfekt gewählt ist.
Mit dieser Ansicht tröste ich mich durch das nächste schwierige Coloir, das mir so langgezogen erscheint, dass ich darüber bereits den Gipfel erhoffen möchte. Auf Peters Skizze ist dieses Coloir mit dem Schwierigkeitsgrad IV und V- bezeichnet. Diese Angaben kann ich jedoch keineswegs bestätigen. III+ wäre hier eher angemessen. Dieser Eindruck zeigt aber sehr deutlich, inwieweit eine Führe von den vorherrschenden Verhältnissen abhängt.
Plötzlich und überraschend erreichen wir den Gipfelgrat, eine unterschiedlich ausgeprägte Schneide, die uns nicht mehr schwer fällt. Den 3934,1 Meter hohen Gipfel des Bietschhorns haben wir im letzten Abschnitt so rasch in der Tasche, wie ich es mir vor noch nicht ganz einer Stunde kaum hätte träumen lassen. Freilich sind die letzten Felsmeter ausgefüllt von elegantem Balanceakt und verlangen präzises Trittnehmen auf Kanten und geneigten, teils vereisten Steinflächen und Felsschuppen. Aber es ist nicht mehr das dröge Klettern, sondern ein Tanz in fürstlicher Position, hinauf zum Ziel der Führe 247. Dieser Abschlusstanz bietet neben eigener Ungeduld, endlich auf dem höchsten Punkt zu stehen, auch griffigen Granit mit beängstigendem Tiefblick auf die Gletscherbrüche im Nordosten. Die haben wir heute noch vor uns. Sie werden uns noch tüchtig einheizen, bevor wir unsere müden Glieder in der Baltschiederklause ausstrecken dürfen. Den zusätzlichen Vierkilometermarsch zum Stockhornbiwak schminken wir uns aufgrund der fortgeschrittenen Zeit schon jetzt ab.
Wir genießen eine Stunde Gipfelglück. Diese sechzig Minuten sind erfüllt von großartigem Rundblick und der Dankbarkeit, diese gewaltige Führe unbeschadet bis hierhin bewältigt zu haben. Und eine gewisse Dankbarkeit zolle ich diesem Berg schon jetzt im Voraus. Denn der schwierigere Teil ist immer der Abstieg, nicht der Aufstieg! Zu viele Alpinisten haben das einfach nicht begriffen und sind deshalb oben geblieben. Immer wieder habe ich in der Vergangenheit festgestellt, dass ich mit erreichen des Gipfels am leichtesten verwundbar werde. Da genügt ein Wetterumschwung und ich kehre nicht mehr zurück. Dann werde ich so müde, dass ich schnell bereit bin, mich gehen zu lassen. Wenn ich bei einem Aufstieg in einen Wettersturz gerate, habe ich noch so viel Energie umzukehren. Das prägnante Ziel einer Tour ist stets der Gipfel, aber er ist nicht gleichzeitig der Sieg über einen Berg. Den darf man erst dann feiern, wenn man lebend und unversehrt das Tal erreicht.
Oft habe ich in Gipfelbüchlein und auch in diversen Hüttenbüchern eine Eintragung gefunden, wie: "...und mit letzter Kraft erreichten wir den Gipfel!" Und stets frage ich mich, wie die wohl von dort wieder herunter gekommen sind. Man sollte schon vor Antritt einer Tour wissen: Wenn der Aufstieg schon Mühe bereitet, dann wird der Abstieg noch mehr vom Berggänger fordern. Dabei frage ich mich, ob Peter und ich beim Einstieg in diese Wand daran dachten. Wohl kaum. Der Drang hinaufzukommen war gewiss stärker, als die Überlegung, dass man ja auch wieder herunter muss. Und wenn ich objektiv sein will, dann waren in der Vergangenheit die meisten meiner Bergtouren nicht unbedingt von diesem Gedanken geprägt.
Heute aber fühlen wir uns am Gipfel beide noch so fit, dass wir auch einem Wettersturz trotzen würden und diese Tour zu einem glücklichen Ausgang führen könnten. Zu Beginn war ich wohl ziemlich gereizt, weil Peter es gewagt hatte, mich aus meiner Lethargie zu reißen, doch jetzt könnte ich ihm dafür einen Orden verleihen. Ich weiß nun, dass diese Tour nötig war. Zu lange schon hatte ich unlustig in meinem Chateau d' If gehockt, unentschlossen, irgendetwas anzufangen.
Seit geraumer Zeit versuche ich verzweifelt, meine Liebe zu Carola in den Rahmen einer festen Beziehung zu setzen. Obgleich ich mir im Stillen schon fast vermute, dass an unserer missglückten Liebe nicht mehr viel zu reparieren sein wird, reibe ich mich daran auf, sie zu retten. Das Gefühl der Zuneigung ist einfach stärker, als die Vernunft. Wie dankbar müsste ich meinem Freund sein, dass er mich auf andere Gedanken bringt. Vielleicht war es gut, dass diese Route vollen Einsatz und höchste Konzentration fordert. Eine bequemere Gletschertour hätte mich wohl zu sehr zur Nachdenklichkeit verführt.
Aber dieses wunderschöne Mädchen, dass mein Herz verzaubert hat, geht mir nicht mehr aus dem Kopf. Vielleicht blieb das Wichtigste zwischen uns bislang unausgesprochen, möglicherweise war ich zu rücksichtsvoll. Und nun scheint es, als hätte ich zu lange gewartet. Nun sieht es so aus, als hätte mich meine eigene Übervorsichtigkeit, die mir Peter immer vorwirft, meine große Liebe auf dem Gewissen. Dennoch habe ich das Gefühl, dass noch etwas, oder jemand zwischen uns steht. Das mag jedoch ebenso eine Fehleinschätzung sein, wie der Glaube, dass auch Carola mich liebt. Trotzdem spüre ich, wohin ich mich im Moment am meisten hingezogen fühle. Es sind nicht die Berge, keiner von ihnen, nicht einer von diesen weißen, stolzen und mächtigen Gipfeln! Es ist eine wunderschöne Frau mit rotblonden Haaren!
Ein fremdes Geräusch reißt mich aus meiner Gedankenwelt. Peter versucht eine Fischkonserve zu öffnen. O nein, nicht schon wieder! Ehe ich eingreifen kann, rückt mein Freund der Blechhülle mit leckerem Inhalt schon wieder mit unkonventionellen Mitteln zu Leibe. Erst zaghaft mit einem übriggebliebenen Felshaken, dann, in mittlerweile bekannter Manier und mit dem Eispickel schon entschlossener. Ein hässliches Geräusch entlockt den nahen Felsen ein Echo, dann klebt der pikant gewürzte Hering, der eigentlich in unsere Mägen wandern sollte, am Gratfels. Wie zum Hohn sucht sich die rote Sauce ihren Weg in Richtung Schwerkraft. Wie der Fisch der Dose, so entfährt meinem Freund ein lästerlicher Fluch. Sein Huhngezeter nützt aber nichts, unser Abendessen können wir vom Gratfels lecken. Den in der ramponierten Büchse verbliebenen rest genießen wir mit gequetschtem, trockenem Brot und verdünntem Tee. Dennoch bieten unsere Rucksäcke ein köstlicheres Mahl, als das beste Restaurant daheim in Braunschweig. Irgendwie vermute ich, dass es am Appetit liegt, den die herbe Bergluft in unseren Bäuchen inszeniert.
Mit erfolgreich bekämpftem Hunger gewinnt dann der panoramareiche Ausblick wieder mehr Macht über mein Gemüt. Mit jedem neuen Gipfel, den ich von hier oben sehen und auf dem ich tatsächlich immer wieder aufs neue stehe, wird mir mehr klar, warum ich um ihn kämpfte und noch ringe. Viele von ihnen darf ich schon zu meinen Erinnerungen zählen. Viele meiner Wünsche haben sich mit ihnen erfüllt. Nicht wenige meiner großen Träume sind Wirklichkeit geworden. Zuweilen klettere ich wie ein Besessener, stets jedoch dann, wenn ich dabei ein gutes Gefühl gewinnen kann. Dann steige ich wie ein Wilder, ebenso in Kletterschuhen, wie mit Steigeisen. An keinem Wochenende mit schönem Wetter verzichte ich darauf, meiner Leidenschaft in meinen geliebten Bergen nachzugeben. Sie haben mir sicherlich zu meinem größten Leiden, aber auch zu meinen größten Freuden verholfen. Ich will in meinen Bergen leben, aber auch, wenn ich vielleicht einmal hundertjährig bin, dort oben sterben. Leider muss ich immer wieder daran denken, dass ich nicht weiß, was mir bestimmt ist. Und zwischen dem Heute und dem, was ich träume, steht jetzt das wieder neu entdeckte und so lang entbehrte Gefühl der Liebe, das ich ebenfalls leben möchte. Tief in meinem Innern spüre ich, dass die Liebe zu Carola möglicherweise über alle anderen Empfindungen siegen wird, weil dieses Gefühl so viel schöner, wärmer und aufregender ist. Wie der bevorstehende Schritt durch das Tor eines neuen Lebens, bringt mich die Liebe an eine zwar bekannte, aber vergessene, verdrängte Grenze zwischen Wehmut nach dem alten und Hoffnung nach einem neuen Leben.
Peter reißt mich von der Türschwelle zurück in das alte Leben, in die alte, suchende Leidenschaft. Er klariert unsere Seile und die Schlosserei. dabei veranstaltet er einen Lärm, als wolle er jahrtausende lang schlummernde Berggeister wecken. Es macht den Eindruck, als wolle er dem Berg akustisch mitteilen, dass wir winzigen Terrorkrümel auf ihm stehen. Der Berg weiß es längst! Ich frage mich, warum die Natur es zulässt, dass wir lärmenden Zwerge in ihr heiligstes, friedliches Reich eindringen. Aber vielleicht ist es gerade diese Frage und das Bewusstsein unseres Tun, das uns solche Tage, wie der heutige ungestraft überlassen werden.
Wir haben viel gewagt, erreicht und gelacht, ohne über diese Tage als Geschenk nachzudenken. Sicher waren wir heute nicht die Schnellsten, aber wir haben jeden Augenblick genossen. Geschwindigkeitswettbewerbe im Gebirge lassen uns sowieso kalt. Ich will gute Augenblicke und herrliche Fernsichten weit ab dem alltäglichen Trott erleben, mich daran erfreuen und keine rekordverdächtigen Aufstiegszeiten erzielen. Ich habe gelernt, Verhältnisse, Gefahren und eigene Möglichkeiten stets gut abzuschätzen. Vielleicht war es diese Einsicht, die zu unseren zwei Aufstiegsversuchen am Bietschhorn geführt hat. Dieser Gedanke klärt mich vollends über unsere 247-Tour auf. Möglicherweise macht es ja den Reiz der Touren in kombiniertem Gelände aus, dass man sich niemals einer Sache sicher ist.
Die Vorsicht muss an vorderster Stelle stehen, man darf nicht mit geblendeten Augen vorwärts stürmen. Doch manchmal, bei einem Wettersturz etwa, wenn einem die Zeit wirklich im Nacken sitzt, lässt die Tat den Geist im Schatten stehen; man macht sich nicht mehr genug bewusst, was man tut. Bei unserer Art Touren, die mir mehr liegen, erlebe ich die größte Freude, sobald ich den Gipfel erreicht habe und über Allem stehend in das tiefe Land blicken darf.
Bei Peter und seinen reinen Felsrouten dagegen ist die Motivation ganz anders gelagert: Die technisch richtige Bewegung, die Ausgesetztheit oder die Leere sind Faktoren, die den Gipfel auf den zweiten Rang zurückdrängen. Er bleibt lediglich ein am Rande anfallendes Ziel neben dem begeisternden Rausch der Hauptsache, der Bewältigung der Schwierigkeit in der Führe.
Meine bergsteigerische Tiefenforschung wird unterbrochen: "Unten auf dem Gletscher sind Leute. Mitten im Eisbruch. Aber die rühren sich schon seit einer halben Stunde nicht von der Stelle und zum Rasten ist das doch wohl ein falscher Ort."
Peters Feststellung lässt mich die Augen zusammenkneisten und nach unten spähen. Drei kleine Punkte befinden sich da inmitten des Gletschers, beinahe an seinem unwirtlichsten Platz, unweit des prägnant in den Gletscher hineinragenden Ostsporns.
Nachdenklich werfe ich die Stille: "Vielleicht haben die sich verstiegen?"
"Glaub ich nicht", meint Peter. "Eher ist irgendetwas passiert. Der Gletscher hat dort viel Gefälle und ist dadurch ziemlich übersichtlich. Wer sich da versteigt, hat sich ohnehin in der Landkarte vertan."
Nach langem, intensivem Beobachten der drei Pünktchen überlegen wir die besten Chancen für den Abstieg. Diesmal sind wir uns einig: Wir nehmen den Ostsporn. Er wird oft begangen, bietet eine schnelle und sichere Abseilführe und besticht durch den vorteilhaften Aspekt, dass sich Peter so wenig wie möglich mit dem prophezeiten Tauschneetitschen herumbalgen muss.
Direkt vom Hauptgipfel seilen wir ab. Es geht bemerkenswert gut. Dabei sind wir allerdings gezwungen, uns wegen unserer spärlichen Hakenreserve mit Ideenreichtum weiterzuhelfen. So sind stellenweise aus dem Firn ragende Felsnadeln willkommene Fixpunkte, die uns zur Sicherung dienen und unser teures Seil auch jedes Mal wieder unbeschadet hergeben. Meist halten wir uns an die Gratkante, die wesentlich ausgeprägter ist, als zuvor der Ausschnitt des Südostgrates.
Die ersten Seillängen sind recht steil, was aber den Vorteil hat, dass wir relativ schnell an Höhe verlieren. Eine nennenswerte Schwierigkeit bildet allenfalls ein Felsgendarm, den Peter mit seiner Findigkeit in Sachen Routenanalyse jedoch gleich ausschaltet. Wir umgehen ihn links.
Auf einem breiten Schneesattel rasten wir noch einmal. Peter schaut auf seinen Höhenmesser: Ca. 3300 Meter. Ich sehe ihn ungläubig an. Gut sechshundert Höhenmeter in nur einer Dreiviertelstunde? Das geht ja wie geschmiert!
Noch ein wenig Abseiltechnik und wir stehen am Bergschrund, der hier, anders als bei früheren Touren, keine elegant geschwungene Linie bildet. Es lässt sich dadurch auch einigermaßen mühelos eine Eisbrücke finden, die es uns erspart, den Schrund waghalsig überspringen zu müssen.
Früher, als wir noch am Morgen glaubten, stehen wir auf dem Baltschiedergletscher. Und hier fallen uns wieder die drei Punkte ein, die wir vom Gipfel aus beobachten konnten. Peter weist gletscherabwärts nach Osten: "Dort drüben sind sie ja!"
Auch ich erkenne sie gleich, gerade mal hundert Meter von unserem Stand entfernt. Noch immer weilen sie an der Stelle, an der wir sie vor ein paar Stunden schon ausgemacht hatten. Ich schaue meinen Freund an und möchte ihn dazu animieren, zu den Gesichteten hinüberzugehen: "Die sehen ganz schön verunsichert aus und ziemlich orientierungslos!"
Meine Bemerkung hat Erfolg; Peter schlägt sogleich einen Bogen in Richtung nach den fremden Berggängern. Die bemerken uns auch bald, beginnen zu gestikulieren und zu rufen. Sie vermitteln den Eindruck, dass wir uns beeilen sollen. Für meinen Seilgefährten und mich klingt diese Aufforderung ziemlich idiotisch. Das Eisgelände nimmt an Zerrissenheit erheblich zu und die vielen Gletscherspalten verlangen ein vorsichtiges Gehen. Hatz ist hier völlig fehl am Platz.
Als wir noch nicht ganz heran sind, ist uns bereits klar, dass dort etwas Ernsthaftes geschehen sein muss. Das ganze Verhalten dieser Leute dort drüben lässt deutlich darauf schließen. Noch ca. dreißig Meter sind es bis zum Standplatz der fremden Seilschaft, als einer aus der Gruppe zu uns herüberlaufen will. Peter reagiert sogleich, hebt warnend seine Hände und ruft: "Um Gottes Willen, bleibt wo ihr seid, hier sind überall Spalten!"
Der Mutige bleibt perplex stehen, wartet nervös und ungeduldig unserem Näherkommen. Was uns dort dann erwartet, erstaunt und schockiert uns zugleich: Ein Mann, etwa dreißig, zwei Kinder, verstreut umherliegende Rucksäcke, eine zusammengebrochene Spaltenbrücke und ein im finsteren Gletscherloch verschwindendes, dünnes Hanfseil, das eher einer Wäscheleine gleicht. Solche Komposition schildert uns sofort die Situation ohne nachzufragen: Ein Spaltensturz!
Erschrocken sehe ich Peter an: "Shit, wenn da einer die ganze Zeit unten liegt..."
Die Kinder hocken verängstigt neben ihren Rucksäcken, während der Mann auf uns einredet, was bei mir jedoch zwecklos ist, weil ich seiner Sprache nicht mächtig bin. Zwar hatte ich in der Schule Englischunterricht, doch außer dem "Hund von Baskerville" hatte ich nie etwas ernsthaft übersetzt. Peter beherrscht etwas Schulenglisch und versucht sich ein Bild zu machen. Die Antwort verschlägt mir schlichtweg die Sprache: Diese Familie kam zum ersten Mal ins Hochgebirge und wagte gleich eine mutige Gletscherwanderung. Dann hatten sie sich verirrt. Schließlich brach die Spaltenbrücke ein und verschlang die Mutter der apathisch dasitzenden Kinder. Das war vor fast fünf Stunden. Das ununterbrochene Rufen des Vaters in die Gletscherspalte blieb seither unbeantwortet.

Mein Freund schaut mich an und wir wissen beide, welches Wunder hier wirken muss, um die Frau noch lebend zu bergen. Dennoch machen wir uns sofort daran, eine Vorrichtung zum Abseilen zu bauen. An quer ins Eis eingebrachten Eispickeln will sich Peter zu der Frau in die Gletscherspalte hinunterlassen. Es wird eine anstrengende Hackerei im oberflächig getauten Eis. Wir haben einen Notfall. Ansonsten würde sich keine Person mit gesundem Menschenverstand auf so eine Arbeit einlassen.
Während Peter dem Mann sein Vorhaben erläutert und gleichzeitig eine Führungsrinne für das Seil schlägt, hacke ich den Spaltenrand von überhängendem Firn frei. Das ist nicht einfach, weil ich die Eisgeriesel nach hinten werfen muss, um zu verhindern, dass ich die abgestürzte Frau noch zusätzlich mit Eis bedecke. Dann seilt sich mein Kamerad ab, zusätzlich von mir gesichert, für den Fall, dass seine eigene Pickelkonstruktion nicht hält.
"Die Spalte ist verflucht tief! Da haben wir allein keine Chance!" echot seine Stimme herauf.
Mein Gemüt wird indes auf eine harte Probe gestellt. Der völlig entnervte Mann der Verunglückten packt mich am Ärmel, schüttelt mich und schreit: "Help, god, help..."
Unter dieser Anspannung bleibe ich nicht mehr ruhig und schnauze zurück: "Mensch, ihr kommt hier rauf und wisst nicht mal, wo ihr seid! So ein idiotischer Wahnsinn!"
Sogleich fangen auch noch die Kinder an zu heulen. Ich hätte mich doch besser beherrschen sollen! Plötzlich fühle ich mich hilflos, ganz der überfordernden Situation ausgeliefert. Zu meiner Beruhigung erscheint Peter bereits wieder am Spaltenrand und schüttelt prustend den Kopf, tunlichst so, dass es die Unglücksfamilie nicht mitbekommt.
Wir überdenken kurz unsere Situation und beraten uns. Eine eigene Rettungsaktion ist sinnlos. Hier ist ein größerer Einsatz und eine andere Dimenion an Menschen und Material erforderlich. Peter will bei denen bleiben, die auf dem ewigen Eis gestrandet sind. Meine Aufgabe ist es, so rasch wie möglich Hilfe zu holen. Ich weiß, dass die Baltschiederklause ein Hüttentelefon hat. Das scheint die einzige Möglichkeit zu sein. Also trabe ich los.
Zuerst etwas vorsichtig, um mich an das angetaute, gefährliche Gelände zu gewöhnen. Die Zeit drängt zwar, jedoch können wir uns einen weiteren Spaltensturz nicht leisten. Außerdem kenne ich bereits Gletscherspalten von innen und ich kann nicht sagen, dass ich mich dort jemals sonderlich geborgen fühlte. Also siegen Vorsicht und Vernunft. Auf Passagen mit kompaktem, stabilem Grund wage ich zu laufen. Ich sehe nicht zurück, weil ich weiß, dass mein Kamerad die Situation im Griff hat. Vielmehr konzentriere ich mich völlig auf meinen Weg, der in keiner Karte eingezeichnet ist.
Ich benötige die Rekordzeit von nur einer Dreiviertelstunde bis zur Baltschiederklause. Die letzten paar hundert Meter schlage ich die eindringliche Mahnung meines Freundes in den Wind, ja bedächtig zu gehen. Ich weiß aber auch, dass mein Seilpartner jetzt auf das tiefste besorgt, meinen Schnellabstieg beobachtet. Aber es geht alles glatt. In Ausnahmesituationen scheint der Mensch öfter einen Schutzengel zu haben.
Ausgepumpt und außer Atem erreiche ich die Baltschiederklause. Mit ohnmächtiger Enttäuschung muss ich allerdings feststellen, dass die Clubhütte im wahrsten Sinne der Worte verriegelt und verrammelt ist. Keine Schwachstelle lässt sich da erkennen, wo ich eventuell die Chance habe, ein Fenster zu zertrümmern. Was ist das für eine Nothütte, die im Notfall selbst mit Anstrengung nicht zugänglich ist?
Ich bin außer mir und weiß zunächst nicht, was ich tun soll. Dann zwinge ich mich erst einmal zur Ruhe und überlege, wo ich mit meinen Mitteln am erfolgreichsten einen Einbruch wagen kann. Dabei kommt mir in den Sinn, dass jede Hütte eigentlich ihren frei zugänglichen Winterraum hat. Hier scheint der Fall jedoch anders zu liegen.
Erneut besichtige ich das SAC-Haus. Als mir alles andere aussichtslos erscheint, beginne ich eines der tieferliegenden Fenster des kleineren Anbaus mit einer Steinschuppe zu bearbeiten. Wie gerne hätte ich jetzt meinen Eispickel, der oben auf dem Gletscher bei Peter geblieben ist. Mit der scharfen Kante der Eisschuppe haue ich eine Lücke in den Fensterladen, um dann dort hineinzuhebeln und die Flügel zu sprengen. Dabei stelle ich zähneknirschend fest, dass diese Steinschuppen, wenn sie bei einem Steinschlag meinen Kopf treffen, sauhart sind, hier jedoch, wo es nur etwas Holz zu zerstören gilt, splittern ständig Teile von dem Stein ab, die mir lustig in die Augen springen. Mit einer Stinkwut im Bauch prügele ich auf den armseligen Fensterladen ein, bis dieser schließlich etwas nachgibt. Dann klemme ich die Steinschuppe zwischen die Ladenflügen und spreize sie auf. Zweimal bricht der Stein, doch dann hält der Laden nicht mehr stand. Mit ohrenbetäubenden Knirschen und Bersten gibt das Holz nach und gibt das Butzenfenster frei. Das Glas zertrümmern und durch die Luke einsteigen, ist dann leicht. Doch auch die Räume, in denen ich das Telefon vermute, muss ich erst gewaltsam öffnen, was kostbare Zeit raubt. Erst in der Küche werde ich fündig.
Endlich krame ich die Nummer der Rega aus meiner Brieftasche und bin irre erleichtert, als ich am anderen Ende der Leitung eine freundliche Stimme vernehme: "Grüezi, da isch die schwyzerische Rettigsflugwacht, sie wünschet?"
So ruhig wie möglich schildere ich die Situation und verschweige nicht, wie lange sich die Frau bereits in der Gletscherspalte befinden muss. Man verspricht mir, sofort eine Rettungsaktion einzuleiten. Erleichtert verschnaufe ich einige Sekunden, trotzdem mir klar ist, dass hier nach gesundem Verstand jegliche Hilfe zu spät kommen muss. Viele Verletzte überleben einen Spaltensturz nicht einmal eine halbe Stunde, weil der bewegungslose Körper dort unten sehr rasch auskühlt. Außerdem schmilzt der Körper, bedingt durch die eigene Wärme, meist immer tiefer ins Eis ein. Verschiedentlich wurden schon Kompressor und Abbruchhammer eingesetzt, um Verletzte aus dem Eis buchstäblich aus dem Eis herauszuhauen. Das hängt freilich auch davon ab, wie tief sich der Verletzte in der Spalte befindet und wie frei zugänglich dieser ist.
Es dauert nicht ganz eine Viertelstunde, bis der Helikopter heranscheppert, die Hütte im Bogen überfliegt und dann die Unfallstelle direkt ansteuert. Durch einen Feldstecher, den ich neben dem Nottelefon finde, beobachte ich das weitere Geschehen. Gerät, das unter dem Heli am Netz hängt, wird in Empfang genommen. Peter hilft offenbar tatkräftig mit, obwohl ich ihn aus dieser Entfernung nicht erkennen kann. Ich hingegen fühle mich in der Rolle des entfernten Zuschauers gar nicht wohl. Zur Tatenlosigkeit verurteilt, versuche ich zu kombinieren, was da auf dem Gletscher geschieht.
Dann setzt der Hubschrauber Leute ab. Die eigentliche Bergung läuft wohl an. Durch Hüttenwarts Fernglas sehe ich gespannt hinauf, obwohl ich aus dieser Position nicht viel erkennen kann. Ich sehe zum Eisbruch hinauf, und kann mir nur durch die Manöver des Helikopters das Geschehen zusammenreimen. Jetzt scheint der Hubschrauber oberhalb der Unglücksspalte auf dem Gletscher gelandet zu sein. Ich kann ihn nicht mehr sehen. Die Minuten verfliegen rasch, werden zur Stunde, ohne, dass ich mir der Zeit bewusst werde, die da verstreicht. Fast bin ich versucht, noch einmal den Weg über den Gletscher anzutreten, um bei der Bergung zu helfen. Aber ich muss mir eingestehen, dass dieses Unterfangen so selbstlos gar nicht wäre. Ich würde nur meine Untätigkeit überbrücken und meiner Neugier nachgeben. Im übrigen weiß ich, dass die Helfer mich nicht brauchen. Die sind für solche Einsätze bestens ausgebildet und schaffen das auch ohne einen Bergtouristen aus Norddeutschland.
Zweimal startet der Hubschrauber, fliegt ins Tal zurück und kommt nach einer Weile mit neuer Unterlast wieder heraufgeflogen. Diese Tatsache erzählt mir, dass sich die Rettungsaktion schwierig gestaltet. Offensichtlich wird mehr Material und Personal benötigt.
Nach knapp zwei Stunden kommt Bewegung in die Szenerie. Der Helikopter startet wieder und hovert über der Unglücksstelle. Im Geiste sehe ich die Bilder von damals ablaufen, als ich mit einer Seilschaft am Dent Blanche verunglückte. Sie besitzen Parallelität zu der Aktion heute, obwohl Unfallursache und Ort andere sind.
Dort drüben scheint die Rettungsaktion beendet. Der Helikopter startet und fliegt dem Tal entgegen. Kurz darauf schwebt er wieder zwischen den Bergen herauf um das Manöver zu wiederholen. Schließlich verlässt das Fluggerät endgültig den kalten Ort und wummert zur Hütte herüber. Ich bin erstaunt, als der Heli einen über beide Ohren grinsenden Peter, samt unserer Ausrüstung in einiger Entfernung von der Hütte absetzt.
Auf meine Frage, was denn an der ganze Sache so komisch ist, erklärt er mir, dass die Frau geborgen werden konnte, zwar mit Unterkühlung, aber doch lebendig. Und Peter hat sich sein befürchtetes Tauschneetitschen erspart, indem er fliegen durfte. Fliegen statt titschen, eine Alternative, die nicht immer verfügbar ist...
Ich staune nicht schlecht! Nach fast sechs Stunden in einer Gletscherspalte noch lebend gerettet. Diese Frau hatte wohl einen besonders hartnäckigen und starken Schutzengel. Peter berichtet weiter, dass die Mutter als einzige der Familie bergtaugliche Kleidung trug, was zweifelsohne dazu beigetragen hat, dass sie dieses Dilemma überlebte. Wie schon vermutet, musste sie von der Bergungsmannschaft mit einem Kompressor regelrecht freigemeißelt werden, weil sie durch ihre eigene Körperwärme ständig tiefer in das Gletschereis einschmolz. Abwechselnd mussten sich ihre Retter in die Spalte abseilen, um sie frei zu pickeln, jeweils nur ein paar Minuten, weil die enge Lage und die Kälte diese Arbeit erschwerte. Schließlich war es dann möglich, der verunfallten einen Klettergurt anzulegen und sie mit der Hebelrätsche zu bergen. Es ist uns beiden natürlich klar, welch sagenhaftes Glück diese Mutter von zwei Kindern hatte. Eigentlich hätte sie unter den gegebenen Umständen tot sein müssen.
Peter erklärt, dass er mit dem Rettungschef ausgemacht hat, die Nacht in der Baltschiederklause zu verbringen. Der Obmann bat Peter, die Hütte danach wieder verschlossen zu verlassen.
Lakonisch stelle ich fest: "Na ja, ich hätte hier sowieso und in jedem Fall übernachtet! Ist denen eigentlich klar, dass ich den Fensterladen zu Kleinholz verarbeitet habe?"
Mein Freund verrät mir: "Die Tatsache haben die ohnehin schon vermutet. Der Hüttenwart wird wohl in der nächsten Woche heraufkommen und die aufgebrochenen Riegel erneuern. Die Kosten hierfür übernimmt der Schweizer Alpenclub."
"Jedenfalls nicht der Stuckateur aus Braunschweig", gebe ich knapp zurück. Dabei nehme ich mir vor, den Hüttenwart anzurufen, um ihm den Grad der Zerstörung zu melden. Rücksichtnahme unter Handwerkerkollegen. So weiß der Hüttenwart gleich, was er mitbringen muss, um die Relikte der Zerstörung wieder verschwinden zu lassen.
Da wir die Hütte nun offiziell benutzen dürfen, machen wir es uns in ihrem Innern so recht saugemütlich. Peter bereitet teils aus den vorgefundenen Konserven, teils aus unserem eigenen Restproviant ein Festmenü, zur Feier des Tages, so meint er. Unsere eigene Wegzehr neigt sich allerdings streng dem Ende entgegen.
Während mein Freund an unserem Essen herumköchelt, mache ich es mir vor dem Clubhaus bequem und genieße den herrlichen Sonnenuntergang. Düster und schattig erhebt sich jetzt das Bietschhorn über dem runzeligen Panzer des Gletschers. Drohend schaut der ganze Berg im Dämmerlicht aus, als wollte er sich beklagen, dass die Menschen es wagten, unter seiner Dominanz einen solchen Zirkus zu veranstalten.
Wenig später sitze ich auf der anderen Seite, vor der Eingangstür der Hütte, deren naturbehauene Steine im Abendsonnenschein ebenso rotgolden strahlen, wie das Panorama vom Gredetschhörnli bis zu den Felsspitzen des Alpjahorns. Im Grunde berauscht ein selten schöner Anblick die Besucher der Baltschiederklause und es wundert mich, dass diese Hütte nicht wesentlich mehr besucht wird.
Peter ruft zum Abendessen. Aus meiner Ruhe herausgerissen entgegne ich etwas genervt, dass ich sogleich dann zum Diner erscheinen werde, wenn die letzte Felsnadel aufgehört hat, rot zu glühen. Peter ruft noch zweimal. Da werde ich deutlicher:
"Mann, sag mal, du bist ja schlimmer, als 'ne häusliche Ehefrau..., ich werde schon noch kommen!"
Ein wenig ärgere ich mich über meinen Seilkameraden. Er weiß ganz genau, dass es für mich seit je her fast schon ein Sakrileg ist, den Sonnenuntergang zu genießen. Dennoch wagt er, mich in diesem Naturfrieden zu stören. Oft habe ich den Eindruck, mein Kamerad weiß gar nicht, was Romantik oder Ästhetik ist. Mir scheint, er hat so gar nichts übrig für solche friedlichen, beschaulichen Momente, mit denen uns die Natur beschenkt.
Als ich dann jedoch den fein gedeckten Tisch im Hüttenstübli vorfinde, weiß ich, dass auch ein Peter Kreiße sehr wohl etwas von Schönheit und gehobenem Niveau versteht. Irgendwo in der Hütte hat er Geschenkpapier entdeckt und daraus kunstgerecht Servietten gefalzt. Als Kerze dient eine kleine Petroleumlampe, die sicher schon lange keine Verwendung mehr hatte und gewiss bereits unter einem Rébuffat Dienst tat. Selbst ein Tischtuch hat Peter aufgetrieben. Als abendliches Mahl gibt es seine berühmte und berüchtigte Tütensuppe mit einer Art Mettknödel verfeinert, dazu hauchdünn geschnittenen Räucherschinken aus unserem Proviantbeutel und viel Wein. Viel Wein!
Nebenbei wird reichlich gewitzelt: "Mensch Peter, an dir ist 'ne Hausfrau verloren gegangen." Und: "Mann, die dich mal kriegt, braucht ja gar nichts weiter tun, als shoppen zu gehen!"
"Das musst du gerade sagen, gerade du mit deinem pedantischen Putzfimmel", kontert mein Freund. "Bei dir sieht's doch immer aus, wie geleckt."
"Magst schon Recht haben, mit dem "geleckt", aber nur der Weinkeller, Peter, nur der Weinkeller!"
Unter dröhnendem Gelächter beenden wir unseren Hüttenschmaus. Die ganze Anspannung aus der Situation des Tages entlädt sich. Man kann eben nicht immer alles nur schlucken! Vielleicht sind wir auch etwas überdreht, denn viel Schlaf hatten wir in der letzten Zeit auch nicht.
Der Rest des Abends wird damit verbracht, vor dem Ofen zu hocken und mittels "Talerversenken" zu klären, wer am Morgen das Geld für die Zeche hinterlegen darf. Wie immer bei solchen Gelegenheiten habe ich die Ehre!

Der Morgen begrüßt uns mit strahlend hellem Bietschhorn über düsterem Gletschergewirr. Ich genieße diese friedliche Stunde des Sonnenaufgangs, der den Gedanken zulässt, ich sei der einzige Mensch auf diesem Planeten. Noch gar nichts ist da zu spüren von den verrückten Touristen, wie wir, die schon bald die Gletscherszenerie bevölkern und dieser befreienden Stille ein Ende machen. Der Trubel der Abenteuersuchenden ist noch nicht erwacht. Noch ist Zeit zum Träumen, zum Loslassen und Insichkehren. Die Welt hier oben schwebt noch in einer klaren Friedlichkeit. So viel Ruhe und Frieden zum Träumen kann sich nur leisten, wer bereit ist, vorher einen Zehnkilometeranstieg zu bewältigen, wer keine Angst hat vor dem frühen Aufstehen in nächtlicher Kälte und wer die totale Einsamkeit nicht scheut. Nur auf diese Weise hat man die Möglichkeit, Eins zu werden mit der Natur. So kann es fast möglich sein, die Schöpfung zu verstehen.
Für mich bedeuten diese Stunden des beginnenden und vergehenden Tages höchstes Gut. Sie sind mir Korridor in die Tiefe meines Innersten und in die der Natur, die ich stets zu ergründen suche. Hier entdecke ich meine eigene Philosophie. Gut, dass es sie gibt, diese Momente, in denen ich zu mir selbst und zu meiner Ursprünglichkeit finde und dass ich gelernt habe, sie zu erkennen, zu begreifen, sinnvoll zu nutzen und zu schätzen.
So geht ein schöne Erlebnis zu Ende. Eines ist sicher: Wir werden einmal wiederkommen. In diesem so besonderen Hochtal, in einer Umgebung, die verzaubert, fühle ich mich der Welt der Menschen entrückt und so unendlich fern. Ich beglückwünsche die Bergbauern, die immer hier leben dürfen, in dieser großartigen Welt, obwohl mir klar ist, dass dieses komfortlose, einfache Leben ein hartes und entbehrungsreiches Leben ist. Dennoch scheint es in diesem Lebensraum weniger Stress zu geben. Der psychische Druck beim Bewirtschaften einer Alpe scheint nicht ganz so hoch zu sein, als der, dem ich ausgesetzt bin, wenn ich so und so viele Quadratmeter Verputz abliefern soll und die Verputzmaschine den Geist aufgibt, weil das zugelieferte Material ungeeignet ist.
Diese hohe und abgeschiedene Welt kann ich jedem Wanderer empfehlen, dem die Einsamkeit, die Länge der Wanderung und die Wildheit des Geländes keine Probleme bereiten. Mir bereitet es Freude, Ausgeglichenheit und inneren Frieden. Trotz der Anstrengungen der letzten Tage fühle ich mich besser, als vor dieser großen Route 247.
Oft gleicht die Rückkehr von einer großen Tour einem Alptraum, aber an diesem Tag ist sie reines Vergnügen. Der Abstieg ist diesmal auch Genuss. Dieser Morgen ist ebenso herrlich, wie der vorangegangene. Er regt dazu an, eine enorme Wanderung zu starten. Der Zwang, wieder nach Hause zu müssen, um unseren Job zu erledigen, regt wie ganz nebenbei auch dazu an. Wir haben den ganzen Tag Zeit, um zu unserem Biwakzelt ins Nachbartal hinüber zu wechseln.
Durch das wildromantische Baltschiedertal führt uns der Marsch über Almen der noch fernen Zivilisation entgegen. Selbstverständlich lässt dieser Müßiggang auch kleine Ausflüge zu, wie auf diesen Felsvorsprung dort vorn, oder auf dieses Rasenplateau dort hinten. Ich bin einfach zufrieden, wieder einmal hier inmitten meiner Berge weilen zu dürfen.
Über den Bannwäldern der Dörfer Raaft und Bietschi steigen wir gegen Nachmittag wieder ein, ins Bietschtal. Der Weg bis zur Rämi tut dann noch mal kräftig in den Beinen weh. Dennoch, fand ich gestern diese Tour 247 dröge und eintönig, so muss ich heute mein Urteil revedieren. ich war in der Vergangenheit wohl schon zu sehr auf der bequemen Schiene des Stadtlebens eingefahren, um noch die kleinen Schönheiten am Rande meiner Viertausender wahrzunehmen. Und jetzt, da wir zwangsläufig unserer Rückkehr ins Städterdasein entgegen marschieren, möchte ich diese schönen Momente um unbestimmte Zeit verlängern.
Am Abend erreichen wir unser bescheidenes Kuppelzelt, das unversehrt am Almhang klebt. Dankbar und überglücklich, diese irre herrlichen Tage erlebt zu haben, krieche ich recht früh in meinen Schlafsack, um zurückgezogen noch etwas in meinem Tourenbuch zu kritzeln.

Auch dieser Morgen bringt herrlichstes Walliser Wetter. Er bringt aber auch wieder einmal den Abschied von meinen Bergen. Bald werde ich wieder die knatternde, gefräßige Verputzmaschine mit Kalkmörtel füttern. Sollte es in Braunschweig regnen, werde ich wieder im knöcheltiefen Mörtelschlamm stehen, frierend, stinkend, und mich zurücksehnend zur Route 247.
Und dann ist da noch Carola. Die Frau, die ich liebe und für die ich gern knietief im Kalk stehen würde. Ich überlege, wann ich sie wiedersehen kann, nachdem sie an den Wochenenden immer weniger Zeit hat. Erst muss sie in einer schmierigen Kneipe kellnern, dann muss sie zu ihrer Verwandtschaft in ein kleines Nest irgendwo im westfälischen Mittelgebirge. Ich frage mich, ob sie mich überhaupt wiedersehen möchte. Plötzlich wird mir klar, dass meine Sorgen, dass all diese Probleme, für zwei Tage in den Hintergrund getreten waren. Unsere Tour hat mich von meinen inneren Belastungen des Alltags abgelenkt. Allmählich dringt mir ins Bewusstsein, dass ich vielleicht alles verlieren kann, meine Liebe, meine Freude, die im kalten Mörtel versinkt, meine Hoffnungen. Doch hier oben ist die Natur immer bereit, mir ein Geschenk zu machen. Hier herauf kann ich kommen, mit welchen Seelenlasten auch immer, hier werde ich wieder zu mir selbst zurückfinden. In den Wänden, auf den Graten und Gipfeln dieser Berge wird mein Weg stets wieder von Neuem beginnen, wenn er in Braunschweig, in Bottrop, oder wo auch immer in einer Sackgasse endet. Hier oben, in dieser für die meisten Menschen unzugänglichen Welt wird es immer wieder eine kleine Tür geben, durch die zu treten mir einen neuen Anfang beschert, oder den Blick in eine so andere, entrückte Welt, dass es mir anschließend viel leichter fällt, mit den irdischen Problemen fertig zu werden.
Aber gerade dieser Fluchtpunkt hier oben schürt Sehnsucht bereits, da ich ihn gerade wieder verlassen will. Diese Berge sind mir ein Traum, in den ich mich immer öfter zurückziehen möchte, wenn ich von meinen Sorgen scheinbar erdrückt werde. Laufe ich Gefahr, dauerhaft in diese fiktive Welt abzurutschen, wenn die Probleme für meine kleinen Geist zu groß werden?
Ich bin Realist und nur ein klein wenig Tagträumer. Ich weiß, dass ich meinen hier oben aufgefrischten Seelenmut für mich und Carola einsetzen werde. Ein Hersteller für Stuckteile in Gelsenkirchen wäre nicht abgeneigt, mich in seinem Betrieb als Mitarbeiter willkommen zu heißen, wenn sich Carola ein Leben mit mir dauerhaft vorstellen kann.
Mit diesen Gedanken und frischem Mut beginne ich den Abschied vom Bietschhorn. Peter hingegen scheint Kummerfrei. Er rollt fröhlich pfeifend die Zeltplane zusammen. Doch ich weiß, dass auch er manchmal mit seinen eigenen Krisen zu kämpfen hat. Heute jedoch scheint er ausgeglichener denn je, hat er doch seine Traumroute 247 mit Bravour bewältigt! Nun aber muss er, genau wie ich, Abschied nehmen von seinem Traum. Ein ausgedehnter Marsch in morgendlicher Frische bringt uns rasch an unseren Parkplatz, den wir vor nicht ganz einer Werkwoche tatendurstig verlassen hatten.
Wir leisten uns noch einen Abstecher nach Brig, wo ich noch ein Granatarmband für Carola kaufe, dann geht es auf die Piste. Zunächst jedoch müssen wir auf den Autoverlad durch den Lötschberg, der Peters ganz persönlicher Horror ist, weil er Angst hat, sein "Achtzylinder" könnte einen Kratzer abbekommen. Auf der Schweizer Bundesautobahn müssen wir uns noch ein wenig zurückhalten, hier gilt Tempolimit 120. Ab Lörrach jedoch wird Peter seinen Golf voll aufdrehen und werden einer neuen, tristen Arbeitswoche entgegen fliegen.
Mich erwartet vor allem der unangenehme Zwang, meinem väterlichen Chef mein langes Ausbleiben zu erklären. Ich nehme mir vor, wieder einmal eingeschneit gewesen zu sein, diese Ausrede zog in der Vergangenheit immer ganz gut. Ich bin froh, dass meine Chefetage so gar nichts von meinen Bergen weiß, sonst würde sie mir rasch auf die Schliche kommen und meine nächsten alpinen Vorhaben auf Wanderausflüge zurechtstutzen. Beim Rückweg auf der Autobahn ist ein willkommenes Spiel, uns mit dem Erfinden von plausiblen Ausreden wach zu halten.
Andererseits besticht der Gedanke, dass ein Arbeitgeber froh sein sollte, einen innerlich neu aufgebauten, frisch ans Werk gehenden Gesellen zurück zu bekommen, der mit seiner erneuerten Ausgeglichenheit wohl mehr Leistung bringt, als ein gefrusteter Stubenhocker.
Bei Olten schauen wir uns noch einmal um, zu den schemenhaften, im Dunst liegenden Eisriesen der Westalpen, die zu erleben wir bereit sind, tausend Kilometer zu reisen. Dort hinten, mittendrin, da liegt sie im tiefen, ungestörten F
 
 
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