Der Engel und der Zwerg

 

ieber Herr Baldrich,

Ein geheimnisvolles Erlebnis veranlaßt mich, Ihnen diesen Brief zu schreiben.
Als ich in Gedanken versunken über das Drehbuch im Wald spazieren ging, führte mich ein unsichtbares Geschick an eine Stelle des Waldes, wo es ganz still war. Aber die Sonne schien kräftig durch das frische, junge Laub, welches zu meinem Erstaunentrotz der wenigen Frühlingstage zu grünen begonnen hatte, - ja sogar schon an einigen Stellen ein lichtdurchtränktes Blättergewölbe bildete. Die Stille war so, die mich weckte und ganz erfüllte, und alle meine Gedanken waren im Nu verflogen. Ich blieb stehen und lauschte in den Wald hinein. Da war es mir, als wehe das Rauschen des Windes ein leises Schluchzen zu mir herüber. Anfangs glaubte ich, mich getäuscht zu haben. Doch dann wandte ich mich vorsichtig, um nicht die feierliche Stimmung zu stören, in die Richtung, aus der ich die verhaltene Klage vernommen hatte.
Bald hatte ich den verborgenen Ort gefunden. Ich bog die grünen Zweige der Büsche zur Seite und und sah vor mir einen Engel auf einem Stein sitzen. Sein langes, weißes Gewand hatte er straff über die Knie gezogen und die Arme darüber verschränkt; das Gesicht lag fest auf die Arme gedrückt, und so weinte er in sich hinein. Behutsam trat ich auf ihn zu und berührte sanft seine braunen Locken und strich leise über das Gefieder der schlaff herabhängenden Flügel. Da hob er den Kopf, und ich blickte in die verweinten Augen meines Tröstlings, der mich ganz erstaunt ansah und fragte: »Wer bist du?«
Ich nannte meinen Namen, da ich wußte, daß die Engel alle Menschen beim Namen rufen. Er schien mich zu kennen, denn er fragte mich sofort: »Kennst du Alfred?«
»Oh«, sagte ich, »ich kenne viele Alfreds.«
»Nein, ich meine nur einen«, erwiderte der Engel energisch, »und du hast ihn sicher schon einmal gesehen.« Ich wollte scharf nachdenken, aber in Gegenwart des Engels vermochte ich nicht, die Gedanken zusammenzuhalten. Dieser aber fuhr fort: »Recht häufig habe ich neben ihm gesessen, wenn er an der Orgel Gott zu Ehren Choräle alter Meister spielte, und ich wußte dann immer, daß er damit das aussprach, was er keinem menschen sagen konnte.«
Der Engel legte die hand auf meinen Arm, blickte mich mit hellen Augen an und sagte: »Du kennst ihn.«
Ich nickte. »Ich bin sein Schutzengel und suche ihn, denn er hat in absehbarer Zeit Geburtstag...«
»Du mußt ihn suchen?« fragte ich erstaunt. Der Engel errötete und schlug die Augen nieder.
»Nur für einen Augenblick ließ ich mich von seinen Wegen ablenken, und schon war er fort.«
»Kein Wunder«, erwiderte ich, »ein Augenblick ist für uns eine sehr kurze Zeit, , - aber für euch, wo ihr in Ewigkeiten lebt...«
»Spotte nicht«, antwortete der Engel, »ich weiß wirklich nicht mehr, wo ich ihn noch suchen soll; und ich muß ihn finden; wenn ihm etwas zustößt, bekomme ich die Vorwürfe; ach man hat es schwer, wenn der Schutzbefohlene nie rastend, immer unterwegs ist.«
Ich bedauerte den armen Engel ehrlich, aber ich konnte ihm nicht helfen, denn die Reiseanschrift Alfreds wußte ich auch nicht. Da fiel mir glücklicherweise Knorz, der Waldzwerg, mein guter Freund ein, der mir schon manchen guten Rat gegeben hatte und auf Wunsch immer zur Stelle war.
Also forderte ich den Engel auf mitzukommen, und halb laufend, halb fliegend erreichten wir schnell die Stelle, wo ich Knorz zu finden wußte. Ich kletterte flink an der Wand des verfallenen Steinbruches herab, legte die Hand an den Stein, in den der Schlüssel mit den drei Eicheln eingraviert ist und rief:
»Auf springt das Schloß,
die Eicheln purzeln,
ich rufe dich, Knorz,
hervor aus den Wurzeln!«
Da regte es sich im Gebüsch, und der Zwerg trat hervor. Er trug eine blaue Kniehose, durch die seine langen Beine besonders betont wurden, und für seine Körpergröße verhältnismäßig große Schnallenschuhe; sein Oberkörper wirkte durch einen Buckel, den selbst die weite, grüne Joppe nicht verbergen konnte, noch kürzer, als er wirklich war. Ein wenig verwundert schaute er mich an, als er den Engel erblickte, und ich stellte ihn dem Zwerg vor:
»Ein Wesen des Sternenlichtes.«
»Als allerhebender Lichtgedanke umschwebe ich das Haupt des Menschen«, fügte der Engel hinzu.
»Ein Wesen des Sternenglanzes«, sagte ich, auf den Zwerg deutend. Leise, aber bedeutungsvoll ernst ergänzte der Zwerg meine Worte:
»Unergründlich sind des Lebens Tiefen.« Dann verbeugte sich der Zwerg und zog seine rote Kappe.

Ende, oder doch nicht? Das Märchen ist so unvollständig, wie offensichtlich auch der Brief. Nach dem zweiten Teil des Briefes suche ich noch. Wer mag, kann das Märchen zuende schreiben, und es zur Veröffentlichung an meine E-Mail Adresse senden.






© Alle Rechte an diesem Teil der Geschichte bei Alfred Baldrich, Braunschweig

 
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