uf einer Burg, deren
Name hier nichts zur Sache tut, gibt es noch heute einen
wunderschönen Brauch aus uralter Zeit. Von ihm will ich
euch berichten.
Alle Jungfrauen des Landes, welche nach dem Recht im
heiratsfähigen Alter sich befinden, versammeln sich im
vollen Maienmond bei Dunkelheit auf dem Burghof. Von der
obersten Zinne des höchsten Turmes wird dann ein
Seidenschal in den Burghof geworfen, und die Mädchen,
eine jede für sich, versuchen das Tuch zu fangen.
Das Tuch ist in dieser Nacht, auf dieser Burg das Symbol
der wahren und treuen Liebe.
Die Geschichte dazu wurde mir von einem alten Greis,
einem Burgwart, wir nennen ihn Sebastian, im Kreise von
Konfirmandinnen und Konfirmanden erzählt...
»Das erste Tuch, eines von vielen weiteren, die folgten,
und welche in den Nächten von den Sternen fielen..,
dieses Tuch gehörte einer wahren Prinzessin! Glaubt
es.., oder glaubt es nicht, aber so war es einst gewesen!
Sie war eine Prinzessin zweier Völker aus der alten
Zeit, als es noch Drachen im Lande gab, der Îval und der
Oranuti gleichermaßen, denn ihr Vater war ein großer
Herrscher der Îval und ihre Mutter eine Prinzessin aus
einem alten Geschlecht der Oranuti. Das Schicksal aber
führte die Prinzessin weit von ihrer Burg und ihren
Eltern fort, in ein fernes Land...«
Der alte Sebastian räusperte sich, setzte sich etwas
bequemer hin und die jungen Leute ließen ihre Augen
nicht eine Sekunde von ihm, sahen ihn gebannt an,
lauschten und warteten auf den Rest seiner Geschichte.
»Dort in dem fernen Land wuchs sie zu einer wundervollen
Schönheit heran, doch über die Jahre vergaß sie ihre
Eltern und die Herkunft ihres hohen Standes, denn sie sah
jene nicht mehr, die ihr Mutter und Vater gewesen waren.
Statt dessen nahm sie ein Bauer an Tochters statt an und
lehrte sie Ehrlichkeit, Fleiß, Rechtschaffenheit und
alle Dinge, die eine gute, gehorsame Tochter wissen
sollte.
Ihre wahre Mutter, die Königin, ging indes vor Kummer um
ihr Kind in das Reich der Toten, während ihr Vater
allein und einsam über das Land herrschte. Denn die
beiden hatten auch noch einen zwei Jahre älteren Sohn,
der war aber jung in die weite Welt hinaus gezogen, um
seinen Mut zu beweisen, um Ruhm zu ernten und sich ein
Herz zu suchen, mit dem er sich verbinden könnte.
Eines Tages, inzwischen war die Prinzessin zu einer
wunderschönen Jungfrau herangewachsen, die den jungen
Männern schöne Augen machte, und ihnen die Köpfe rot
werden ließ, traf sie auf einen Krieger, der von hohem
Stand schien, und verliebte sich in ihn. Eines vollen
Mondes bekamen sie den Segen der Elsiren, jenen heiligen
Elfen, welche für das einfache Volk das Standesrecht
üben konnten.
Die Jungfrau und der junge Krieger liebten sich im
Mondschein an einem stillen Weiher und wussten, und
schwörten sich, dass niemals wieder etwas ihre Herzen
würde trennen können.
Jener Krieger jedoch, war der Sohn des Königs und somit
der leibliche Bruder der Prinzessin. Das aber wussten die
beiden nicht. Der junge Prinz führte nun seine Braut an
den Hof des Königs, welcher in ihr seine verlorene
Tochter erkannte.«
»Mussten die beiden nun wieder ihre Herzen voneinander
trennen?« wollte eine der Konfirmandinnen ungeduldig
wissen.
Der alte Sebastian lächelte sie geheimnisvoll an und
erzählte weiter:
»Nun, der König war sehr erzürnt darüber, dass sich
Bruder und Schwester liebten, denn es war eine Sünde vor
GOtt dem HErrn. Er sperrte seine Tochter, die Prinzessin
in seinen höchsten Turm und ließ alle Treppen dort
hinauf schwer bewachen, so dass sein Sohn nicht mehr zu
ihr gelangen konnte. Doch ihr Gefühl der Liebe
zueinander vermochte er nicht zu verhindern.
So trat der junge Prinz in der Nacht eines vollen Mondes
in den Burghof und sah wehmütig zu dem Turm hinauf, wo
er seine Geliebte gefangen wusste.
Die Prinzessin aber nahm all ihre kostbaren
Seidengewänder beisammen und zerschnitt sie allesamt in
lange, dünne, Tücher. Und jedes Mal, wenn ihr Liebster
über den Burghof schritt, öffnete sie ein winziges
Fenster im Turm und warf ihm ein Tuch hinab, um ihm zu
zeigen, dass sie niemals an ihrer beider Liebe zweifelte
und die Hoffnung niemals aufgeben wollte.
Der junge Königssohn ging fortan in jeder Nacht des
vollen Mondes heimlich in den Hof, um seiner Geliebten zu
zeigen, dass sein Herz nicht von ihrem ließ, und er sie
in ewiger Treue liebte, bis in alle Zeit. In jedem Mond,
den GOtt fortan auf die Reise schickte, empfing der Sohn
des Königs einen Schal seiner geliebten Schwester und
wusste, dass sie noch immer miteinander verbunden
waren.«
Der alte Sebastian hielt auf einem Mal ein sehr altes,
etwas zerschlissenes, aber wundervoll mit Goldgarn
verwebtes Tuch von feinstem Gespinst zwischen den Fingern
und ließ es demonstrativ im Wind wehen, bis einige dicke
Tränen aus seinem alten, runzligen Gesicht darauf
fielen, und er weiter sprach:
»Nun, wenn sie nicht in das Reich der Toten gegangen
sind, so wirft die Prinzessin noch heute bei jedem Mond
ein Tuch aus dem Turm und ihr Bruder empfängt es mit dem
Herzen der ungebrochener Liebe zu ihr.., auf irgendeiner
fernen Burg.., in irgendeinem fernen Land.., hinter
irgendeinem großen Wasser.
Die Geschichte dieser beiden rührte den Kaiser des
Reiches so sehr, dass er all seinen Königen und Fürsten
auftrug, fortan in der Nacht, eines jeden Maienmonds ein
Tuch der Liebe in die Burghöfe des Landes zu werfen.
Jene Jungfrau, die es auffing, bekam die Aussteuer und
Ausstattung ihrer Hochzeit vom Hofe geschenkt.«
Sebastian ließ das Tuch los, der Wind erfasste es,
wirbelte es durch die Luft, und eine der Konfirmandinnen
schnappte es sich und drückte es ehrfurchtsvoll an ihr
Herz.
Der alte Sebastian schmunzelte, und sagte: »Vielleicht
wird dieser alte Brauch bald auch auf unserer Burg wieder
gepflegt...«
© Alle Rechte an dieser Geschichte bei Frank Adlung,
Braunschweig
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