Das Geheimnis von Val Mentiér
 
3. Kapitel
 
Das Versteck
 
ebastian Lauknitz Gedanken flogen schleierhaft dreizehn Jahre in der Zeit zurück. Damals war er unsterblich verliebt. Sie hieß Janine. Doch die Frau seines Herzens hatte Leukämie. Gemeinsam kämpften sie gegen den Tod an. Dennoch verschlechterte sich ihr Zustand täglich. Als klar wurde, dass die Ärzte ihre Krankheit nicht würden heilen können und sie Sebastian mit der Bitte bedrängte, ihr seine Bergwelt zu zeigen, die er während seiner Bergsteigerei kennen gelernt hatte, fasste er eine letzte Hoffnung. Er redete sich ein, so wie Klara in Heidi, dem gleichnamigen Kinderfilm, so könnten die Berge auch seine große Liebe heilen und ihre gemeinsame Zukunft retten.
Ganz fest glaubte er daran, dass die Macht dieser hohen Welt, die er bereits erfahren hatte, ihm etwas schuldig war und ihm das Leben seiner geliebten Janine zurückgeben könnte.
Sie erlebten die wundervollsten Wochen, die er bis dahin in seinem Leben erfahren durfte. Das Abbrechen der Chemotherapie ließ Janine aufblühen, wie eine Rose im Sommer. Nie zuvor empfand Sebastian sie so lieblich und schön, nie zuvor war ihre Beziehung inniger, tiefer und leidenschaftlicher.
Aber es war das Aufblühen einer Rose vor dem Winter. Wie das Aufflackern einer Glühlampe, bevor sie sich für immer in Dunkel hüllt, so strahlte auch sie, um dann plötzlich all ihre Kraft zu verlieren. Dass Janine ihre letzte Energie gab, um noch ein klein wenig Lebensfreude mit ihrem Basti zu erleben, darauf war Lauknitz nicht gefasst.
Er liebte sie über alles und wollte sein Leben für das ihre geben. Aber das war nicht möglich. Als sie aufbrach zu ihrer letzten Wanderung, lächelte sie. Und für Sebastian Lauknitz wurde es der längste Abschied seines Lebens.
Janines Kopf lag zwischen medizinischen Geräten. Sie war wach. Sie hatte Schmerzen, doch sie zeigte sie nicht, hatte sie nie gezeigt, während der ganzen Zeit ihrer Krankheit. So lieblich und zerbrechlich lag sie da. Sie war blass, ihre Augen waren gerötet und ihre schwarzen Haare, die Sebastian so an ihr liebte, waren kurz. Doch das sah er nicht mehr. Er hielt ihre Hand, wie einen zerbrechlichen Schatz, wie etwas Heiliges, das er beschützen wollte. Er blickte in die tiefen Seen ihrer Augen, die noch nichts von ihrem Glanz eingebüßt hatten. Am liebsten wollte er sie auf seine Arme nehmen und sie forttragen, irgendwohin, wo kein Schicksal die beiden je würde erreichen können. Doch diesen Ort gab es nicht. Jedenfalls glaubte Lauknitz das damals.
Er wünschte sich, ihr etwas von seiner Kraft geben zu können, irgendetwas tun zu können, damit sie zusammenbleiben konnten. Die Verzweiflung und Hilflosigkeit drückte ihm den Hals zu, dass es ihm schwer fiel, zu ihr zu sprechen. Sebastian streichelte ihre Hand anstelle von Worten, die seine verkrampfte Brust zurückhielt und sie verstand es. Selbst in dieser Stunde hoffte Lauknitz noch auf ein Wunder, bat Gott, er möge doch ein winziges Quäntchen Gnade zeigen und ihnen eine Chance geben. Gott hörte ihn nicht. Er gab ihm auch kein Zeichen, er ignorierte ihn. Er bestrafte eine junge Liebe. Wofür?
Wie viele Stunden hatte Sebastian an ihrem Bett gesessen? Hatte er ihr Blumen mitgebracht? Kam zwischendurch ein Arzt, oder eine Schwester und störte ihre letzte Zweisamkeit? Was hatte er ihr alles gesagt? War es Morgen, Nachmittag oder Abend?
Sie hatte ihn angelächelt und er küsste ihre trockenen Lippen, das wusste er noch. Ihr Lächeln traf ihn wie eine Schockwelle und riss sein Herz von den Füßen. Dieses Lächeln, dass er so an ihr liebte, das die kleinen Grübchen um ihren Mund zauberte, dieses Lächeln zu dieser Stunde, das ihm vor Ausweglosigkeit die Sinne raubte. Verzweiflung, Wut, Angst und eine kleine Hoffnung, an der Sebastian festhielt, wie an einem Schilfhalm vor dem Wasserfall. Dieses Lächeln begleitete ihre letzten Worte:
»Glaube daran.., wir sehen uns wieder, Basti.., drüben.., irgendwann. Ich liebe Dich...« Ihre Hand hatte plötzlich keine Kraft mehr. Sebastian saß neben ihr und weinte. Wie lange er an ihrer Seite saß, wusste er nicht mehr.
Irgendwann ging er durch die Nacht. Und er ging und ging immer weiter, einen Schritt vor den anderen, bis die Sonne den Horizont erhellte. Er sah Vögel in den Gärten, aber er hörte sie nicht. Autos sah er umherfahren, doch ihr Motor war still. Sebastian sah Menschen sich unterhalten, stimmlos. Wohin war er gegangen, wie lange war er unterwegs?
Die Sonne ging unter, Basti legte sich in seiner Wohnung aufs Bett, drückte sein Gesicht in das Kissen. Weinen konnte er nicht mehr. Alles aus ihm war ausgegossen, sein Körper war leer, kalt, nur noch eine lebende, schmerzende Hülle ohne Sinn. Er hatte das Telefon herausgezogen und die Klingel abgestellt. Lethargisch lag er da und wollte nur noch sterben, wollte bei seiner Janine sein, wollte mit ihr gemeinsam ihren Weg gehen, hatte Angst, dass sie ihm davonlief.
Danach stieg Sebastian Lauknitz erneut auf die Berge. Weiter und höher als jemals zuvor. Wer ihn beobachtete, konnte vermuten, er sei auf der Suche nach Gott selbst. Und so falsch war das auch gar nicht. Antworten waren es schon, die er suchte. Auf der Suche nach dem Sinn solcher Schicksalsentscheidungen wurde Basti Lauknitz zum Eremit. Er ging mit einer unendlichen, inneren Leere seiner Arbeit nach und lebte nur noch für das Wochenende, an dem er in den Bergen der Westalpen oder im Granit der norddeutschen Mittelgebirge herumstieg, immer auf der Suche nach etwas, von dem er selbst nicht wusste, was es war.
Fast dreizehn Jahre lang geisterte er ruhelos über die Walliser Bergwelt. In dieser Zeit lernte er. Oder anders: Die Natur dieser Hochgebirgswelt lehrte ihn, das Leben wert zu schätzen, so einfach, bescheiden und hart es auch sein mochte.
Lernen konnte er auch etwas über Menschen. Da waren diese, die mit alpinen Heldentaten prahlten, die er aber sich nicht hundert Meter von der Seilbahnstation entfernen sah. Es gab auch jene, die er anfänglich für verschlossen und unfreundlich hielt, die aber spektakuläre Rettungseinsätze leiteten, als wäre es ganz alltäglich.
Während dieser vielen Bergtouren ergab es sich immer öfter, dass Lauknitz seine Ortskenntnis ausnutzte und sich als Hochtourenführer verdingte. Gegen Bezahlung natürlich. Und Illegal, denn in der Schweiz musste man ein diplomierter Bergführer sein, um Touren führen zu dürfen.
Basti ließ sich für diesen Dienst mit Gold bezahlen. Für eine leichte Tour gab es ein oder zwei Goldvreneli, für eine schwierigere Route verschwand schon mal ein Krügerrand oder ein amerikanischer Goldeagle in seiner Tasche. Doch diese Goldmünzen hätte er, wollte er sie aus der Schweiz nach Deutschland ausführen, verzollen, oder zumindest anmelden müssen. Nun, das war ihm zu aufwendig! Und er brauchte das Geld nicht wirklich.
So suchte er sich ein kleines Versteck irgendwo in den Felsen des Grächner Plattje und trug seinen Führerlohn jeweils dort hinauf. In Plastiktütchen eingewickelt, verbarg er seine kleinen Schätze unter einem markanten Stein.
Aber die Zeit blieb nicht stehen. Sein kleiner Schatz wurde größer und die Berge belebter. Immer mehr Wanderer kamen in die Nähe seines Verstecks, das mittlerweile Goldmünzen im Wert von über dreißigtausend Schweizer Franken beherbergte.
Lauknitz beschloss sich einen anderen Platz für seine Bergführerkasse zu suchen. Es sollte hoch und abgelegen sein. So einsam, dass es als unwahrscheinlich galt, dass ein Wanderer je in seine Nähe gelangte.
Irgendwann lud Basti das inzwischen ziemlich schwere Päckchen in seinen Rucksack und wanderte los. Von Gondo aus, hinter dem Simplonpass, an der schweizerisch- italienischen Grenze gelegen, stieg er talaufwärts. Das Zwischbergental wurde zu dieser Zeit allenfalls von ein paar Alpinisten besucht. Ein langes, urwüchsiges Tal, das der Tourismus hatte links liegen lassen. An seinem Ende wird das Tal heute noch vom 4023 Meter hohen Weismies und dem Zwischbergengletscher begrenzt. Der Gletscher hat jedoch inzwischen durch die Klimaerwärmung einiges von seiner einstigen Größe eingebüßt.
Ein unbefestigter Wanderpfad führte am Fuße des Tällihorn- Südgrates zum Zwischbergenpass hinauf. Dahinter lag der Touristenrummel von Saas Fee mit seinen Sommerskiregionen. Eine kleine Felsnische am Fuße des Tellihorngrates wurde das neue Versteck für Bastis kleinen Schatz. Das war vor einer halben Ewigkeit...
Der Gedanke, dass jetzt eine Schar von Archäologen in der Nähe seiner Goldmünzen im Berg herumstocherten, beruhigte ihn nicht gerade. Sollten die ausgerechnet über sein Versteck stolpern, würde es schwer sein, zu beweisen, dass sie sein Eigentum gefunden hätten, das er noch dazu illegal erworben hatte.
Sebastian starrte auf seine kalt gewordene Pizza und überlegte krampfhaft, was er tun konnte, um die Entdeckung seines verborgenen Goldes zu verhindern. Schnellstens musste er dort hinauf steigen und seine Bergführerkasse woanders verstecken, oder sie im Schließfach einer Schweizer Bank deponieren. Mussten die auch gerade jetzt und gerade dort oben diese bekloppten Knochen finden?
Eigentlich ärgerte er sich mehr über seine eigene Einfältigkeit, Goldmünzen in einer Felsnische zu verstecken. Wer tut so etwas Bescheuertes? Er, Sebastian Lauknitz! Schön, nun musste er die Suppe auslöffeln! Sollte er jetzt einfach nach Saas Fee fahren und über den Zwischbergenpass steigen? Was aber, wenn die Behörden den Pass wegen der Fundstelle gesperrt hatten?
Besser war es schon, von Gondo her aufzusteigen. So würde er schon von weitem erkennen können, ob sich die Fundstelle in der Nähe seines Versteckes befand. Sollten dort oben Archäologen bei der Arbeit sein, würden die sich freilich fragen, weshalb ein einsamer Wanderer auf dieser Seite des Weismies in den Felsen herumstieg. Aber er musste etwas tun...

Drei Tage später fuhr Basti Lauknitz ins Wallis. Urlaub nach dem Wochenende wurde ihm widerwillig gewährt. Hilfreich war wohl die Tatsache, dass sein Chef und sein Vater dieselbe Person verkörperten.
Bei herrlichstem Walliser Sommerwetter entstieg er in Gondo gegen Mittag dem Postbus. Gondo war ein kleines Dorf, an die Felsen der tiefen, gleichnamigen Schlucht geklebt. Damals gab es dort so gut wie kein Gästehaus. Die hellgrauen Steinhäuser und die Kirche, wie aus den steil aufragenden Felsen geschlagen, duckten sich an die zerklüftete Bergwand. Es war erstaunlich, mit welcher Phantasie die Bewohner ihr Dorf in diese enge Schlucht gesetzt hatten, stets von Steinschlag oder Bergsturz bedroht. Schier senkrecht ragten Wald und Fels darüber in die Höhe, die Bergspitzen darüber nicht mehr einsehbar.
Sebastian schulterte seinen schweren Rucksack und ging los, nur ein Ziel vor Augen: Die kleine Felsgrotte am Ende des Zwischbergentals. Gondo schien wie ausgestorben, als er zwischen den grauen Häusern zum Diveriabach hinabging. Intuitiv versuchte er beim Gehen keine Geräusche zu machen. Wovor hatte er Angst? Es war hier alltäglich, dass Bergwanderer aus dem Bus stiegen und das Tal hinauf wanderten.
Doch irgendwie hatte Basti ein ungutes Gefühl, so ein Brummen im Bauch, als würde er etwas Ungesetzliches tun. Der Fahrweg führte ihn über den Bach und auf der anderen Seite in Serpentinen wieder hinauf. Über ihm ragte eine düstere, walddurchsetzte Felsfassade auf, die sich in einem Wirrwarr von Grün und Grau verlor.
Endlich, hinter einer Biegung spuckte ihn der Wald aus und gab ihm den Blick auf das Tal frei. Vereinzelt dastehende Châlets säumten den asphaltierten Weg, der sich parallel zum Bach das Tal hinaufschlängelte. Links und rechts steile Waldhänge, gekrönt von schroffen Felsen. So hatte er das Zwischbergental in Erinnerung. Verändert hatte sich seit seinem letzten Besuch scheinbar gar nichts. An einigen Stellen wurde die Fahrstraße ausgebessert. Vermutlich hatten Lawinen oder Steinschläge ihre Zeichen hinterlassen. Hier und dort entlang des Weges zeugten Spuren von Bergstürzen und Murniedergängen, die in den letzten Jahren erschreckend zunahmen. Lauknitz fragte sich, wie weit die Menschen ihre Welt mit Treibhausgasen und anderen Umweltbelastungen bereits geschädigt hatten.
Seine Gedanken wurden abrupt unterbrochen. Ein Helikopter donnerte plötzlich über die steile Felskante hoch über ihm und wummerte das Tal hinauf. Unter der Maschine hing eine Last, die aussah, wie ein den Hubschrauber von unsichtbarer Hand begleitender Stein.
Sofort lenkte Sebastian seine Aufmerksamkeit wieder auf sein Ziel. Buddelten die dort oben immer noch an der Fundstelle herum? Krampfhaft überlegte Basti, was er tun sollte, falls ein Haufen wissbegieriger Menschen in der Nähe seines kleinen Schatzes herumstöberte. Sie würden es kaum tolerieren, dass ein Bergwanderer in ihrer Umgebung seinerseits in den Felsen herumstieg.
Bevor er weitere Überlegungen anstellen konnte, störte ein neues Geräusch. Ein Auto kam hinter ihm die Fahrstraße heraufgefahren. Ein schwarz lackierter japanischer Geländewagen brauste so eilig an Sebastian vorüber, dass ihm der Luftzug den Straßenstaub ins Gesicht schleuderte. Sandkörner knirschten in seinem Mund und Bastis Abneigung gegen Autos in den Bergen nahm in dieser Sekunde erheblich zu.
Ob das Fahrzeug ebenfalls zur Fundstelle unterwegs war? Mit dem Blick auf die Uhr legte Lauknitz einen Schritt zu. Noch vor der Dämmerung wollte er sich ein Bild davon machen, was ihn dort oben erwarten würde. Dann musste er sich noch eine geeignete Stelle für sein Biwakzelt suchen.
Auf den Matten von Zwischbergen, wo das Tal etwas weiter wurde, stand eine Familie am Hang und rechte Heu zusammen. Ein kleiner Trecker mit Anhänger stand am Wegrand. Ein Wunder, dass ihn der Geländewagen von vorhin nicht umgefahren hatte. Diese Bergbauernfamilie waren bislang die einzigen Menschen, denen Sebastian in diesem Tal begegnete. Es hatte in den letzten Jahren nichts von seiner Abgeschiedenheit und Ursprünglichkeit eingebüßt.
Am Nachmittag war der Wald offener Almlandschaft gewichen. Acht Kilometer hatte Lauknitz zurückgelegt. Immer noch bewegte er sich talaufwärts, inzwischen auf Wanderpfaden. Die Sonne brannte heiß und der Rucksack wurde ihm leidig schwer. Bunte Blumen leuchteten überall auf den kurzgrasigen, trockenen Weiden und nur vereinzelt unterbrach noch ein verkrüppeltes Arvenbäumchen das Landschaftsbild. Der Geruch von Schafkot und Latschenkiefern lag in der Luft. Dieser Duft war Basti so vertraut, dass er das Gefühl hatte, nach langer Reise nach Hause zu kommen. Wie viele hundert Male dieses Empfinden in ihm geweckt wurde und wie oft er es wieder vergessen hatte, wusste er nicht. Während vieler hundert Touren, die er in den letzten zwölf Jahren hier oben allein, oder mit Freunden gegangen war, hatte er viele Eindrücke immer wieder begrüßen und verabschieden gelernt. Sebastian Lauknitz war ein Teil dieser Berge geworden, so wie diese hohe Welt ein Stück von seinem Selbst geworden war.
Doch diesmal war etwas anders. Sein inneres Empfinden sagte ihm, dass etwas Geheimnisvolles, etwas Düsteres und Unheimliches auf ihn lauerte. Es war nicht das Gefühl, das man als lang erfahrener Berggänger vor einem Sturm oder Gewitter empfindet. Nicht einmal annähernd so, als bewegte man sich unter lawinenträchtigen Hängen. Es war mehr, tiefer, endgültiger. Es war, als spürte er, dass ihm die Hölle selbst begegnen würde. Der Tag war schön. Aber dieses dumpfe, undefinierbare Gefühl in seinem Bauch belastete ihn.
Im Trott seines Marsches folgte Lauknitz einer Wegkehre. Im nächsten Moment blieb er stehen. Vor ihm am Wegrand stand der schwarze Geländewagen. Er hatte Gesellschaft bekommen. Zwei weitere Fahrzeuge gleicher Baureihe und Farbe standen auf der anderen Wegseite. Davor konnte Basti noch zwei geländegängige Lastwagen erkennen, sowie zwei weitere Pkw. Ein ungewohnter Fuhrpark für solch eine einsame Gegend!
Die Fahrzeuge standen verlassen in der Mittagshitze. Die Grillen gaben ihr monotones Konzert zum Besten. Sonst herrschte Stille. Nicht einmal eine Alpendohle war zu hören. Eine Weile wartete Sebastian noch ab, ob sich jemand in der Nähe der Fahrzeuge zeigte. Als nichts geschah, setzte er seinen Weg fort.
In Höhe der Gmeinalp, einem kleinen verlassenen Weiler, hörte er wieder den Helikopter. Offenbar war er irgendwo gelandet und startete jetzt wieder. Mit ohrenbetäubendem Lärm tauchte die Maschine über dem Abbruch des Zwischbergengletschers auf, gewann rasch an Höhe und flog davon. Sebastian wurde das Gefühl nicht mehr los, dass die Geschichte des historischen Knochenfundes spektakulärer war, als die Presse verlauten ließ.
Der Wanderweg, mittlerweile zu einem unscheinbaren Bergpfad ausgedünnt, führte Sebastian jetzt durch Geröll. Der Moränenschutt ließ nur noch vereinzelte Grasgesellschaften gedeihen. Rechts vor ihm erhob sich der Felsgipfel des Tällihorns, dahinter die weiße Spitze des Weismies, über viertausend Meter hoch.
Eine Weile wanderte er noch parallel zum sprühenden Wildwasser des Zwischbergenbachs, dann folgte Lauknitz dem Pfad auf den Kamm der rechten Seitenmoräne. Bis hierher reichte der Gletscher schon lange nicht mehr. Einst stieß er bis in den Talkessel vor. Nun bildete ein riesiger, eineinhalbtausend Meter breiter Felsabsatz seine Abbruchgrenze. Irgendwann, in gar nicht allzu ferner Zukunft würde das Eis ganz verschwunden sein. Die allgemeine Klimaerwärmung würde dafür sorgen.
Während Sebastian auf dem First des Moränenwalls höher stieg, beobachtete er die Tällihorn Ostwand. Am Fuße des Südgrats lag sein Versteck in der Felsnische. Wenn er auch noch keine Details erkennen konnte, so sah er doch bereits die Stelle, die sein Ziel war. Erleichtert stellte Sebastian fest, dass sich keine Menschenseele dort herumtrieb. Es würde also ein Leichtes sein, seine Goldkassette aus der Nische zu holen.
Den höchsten Punkt der Moräne hatte er noch nicht erreicht, als er seinen raschen Gang abrupt stoppte. Lauknitz konnte jetzt den Zwischbergengletscher bis zum Pass hinauf einsehen. Unter dem mächtigen Felsriegel, am rechten Rand des Gletscherarms befanden sich viele Menschen. Um Genaueres zu erkennen, war er noch zu weit entfernt. Aber er konnte ausmachen, dass dort am Gletscherrand, direkt an der Route zum Zwischbergenpass, eine kleine Zeltsiedlung entstanden war. Hätte er es nicht besser gewusst, so hätte er annehmen können, auf das Basislager einer Himalaya- Expedition zu blicken.
Beruhigt stellte Sebastian fest, dass diese Stelle ungefähr achthundert Meter von seinem Versteck entfernt lag. Zudem war der Blick zwischen beiden Orten durch den Fuß des Tällihorn Südgrats unterbrochen. Was auch immer die Leute dort am Gletscher treiben mochten, er würde seine Goldkassette aus dem Versteck holen und sich einen Biwakplatz suchen. Am Morgen würde er dann über den Pass nach Saas Fee gehen.
Obwohl Basti sicher war, dass ihn niemand beobachten konnte, stieg er nicht mehr so konzentriert, wie vorher. Er stolperte den Geröllhang zur Tällihorn Ostwand hinauf und hatte den Eindruck, dabei einen Riesenlärm zu machen. Jedes Klappern einer Felsschuppe und jeder losgetretene Stein ließ ihn zusammenzucken. Unnatürlich laut empfand er die Geräusche und bildete sich ein, das Echo würde sie bis zur Ausgrabungsstätte tragen.
Wovor hatte er eigentlich Angst? Er holte sich doch nur zurück, was sowieso sein Eigentum war. Freilich hatte er die Goldmünzen nicht ganz legal erworben, dennoch gehörten sie ihm! Sollte ihn allerdings ein Polizist mit dem Gold antreffen, würde es ihm schwer fallen, zu erklären, woher er die vielen Goldmünzen hatte. Und beweisen hätte er seine Aussage erst recht nicht können, denn eine Kaufquittung existierte nicht. Auf den Gedanken, dass so viele verschiedene Goldmünzen eventuell aus Einbrüchen stammten, konnte der Phantasie eines Gesetzeshüters ohne weiteres entsprungen sein.
Erstaunlicherweise hatte Sebastian keine Mühe, die Felsnische im chaotischen Steingewirr zu finden. So gut hatte er sich die Stelle damals eingeprägt, dass er sie schon von weitem auf Anhieb erkannte. Zufrieden stellte er fest, dass sich die Kassette noch genau so unter der Felsplatte in der Nische befand, wie er sie damals zurück gelassen hatte. Lediglich die Plastiktüten, in die Basti die Holzkassette eingewickelt hatte, waren etwas spröde geworden.
Für einen Moment öffnete Lauknitz das Holzkästchen. Blitzblanke Goldmünzen und Schmuck funkelten ihm in der Nachmittagssonne entgegen. Er hatte gar nicht mehr daran gedacht, dass sich auch Schmuck in seiner Kassette befand. Die Panzerketten und Armbänder, die er noch trug, als er für immer Abschied von Janine nahm, hatten nichts von ihrem Glanz eingebüßt.
Vorsichtig verschloss Sebastian das Kästchen wieder und sicherte es zusätzlich mit kräftigen Gummibändern, bevor er es im Rucksack verstaute. Dieses kleine, handgeschnitzte Kästchen aus braunem Holz hatte einst seinem Großvater gehört. Der hatte es im zweiten Weltkrieg aus Rumänien mitgebracht. Was für eine lange aufregende Geschichte so ein Gegenstand erzählen könnte. Irgendwo in einem Kriegsgefangenenlager von einem einsamen Soldaten geschnitzt, hatte es den Weg nach Deutschland gefunden, um letztlich in einer Felsnische im einsamsten Winkel der Schweiz eine Hand voll Goldmünzen zu behüten. Lauknitz Gedanken wurden unterbrochen. Der Wind trug plötzlich Lärm von den Zelten her um den Grat herum.
Hastig setzte Sebastian seinen Rucksack auf und machte sich auf den Rückweg. Überrascht war er, dass ihm das Gewicht trotz des Goldes nicht schwerer vorkam, als zuvor. Durch das schwere Biwakgepäck hatte er sich wohl an die große Belastung gewöhnt. Wenn überhaupt würde er die Folgen am nächsten Tag zu spüren bekommen.
Als Sebastian aus dem Schatten der Felswand heraustrat, sah er den Grund für den Lärm. Eine wahre Karawane von Menschen hatte sich von der kleinen Zeltstadt her in Bewegung gesetzt. Mit großen Rucksäcken und viel Gerät beladen zogen die Männer talwärts. Auf dem Moränenwall würden sich ihre Wege kreuzen, spätestens aber würde Basti an den geparkten Autos auf diese Gesellschaft treffen. Doch gerade das wollte er vermeiden. Sebastian hatte keine Lust, vielleicht noch irgendwelche unangenehmen Fragen beantworten zu müssen.
Nach kurzer Überlegung stieg Basti in direkter Linie zur Moräne über das Geröllfeld ab. Dabei legte er ein Tempo vor, das jedem Beobachter als Flucht erscheinen musste. Lauknitz wollte jedoch unbedingt vor der Kolonne den mysteriösen Parkplatz passiert haben, um sich dann in aller Ruhe einen stillen Biwakplatz zu suchen.
  Wichtiger Hinweis: Die Texte des Autors Frank Adlung, insbesondere die des Romans "Das Geheimnis von Val Mentiér", sind durch notarielle Hinterlegung urheberrechtlich geschützt. Ein Herunterladen und Ausdrucken ist nur für den privaten Zweck des Lesens gestattet. Kommerzielle Nutzung, öffentlicher Vortrag, oder Vervielfältigung und Verfälschung des Inhalts, sowie öffentliche Verbreitung ohne Genehmigung des Autors sind untersagt und werden zur Anzeige gebracht.
 
 
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16. Kapitel     Der Holzer     Kapitel anzeigen
17. Kapitel     Der Achterrat     Kapitel anzeigen
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23. Kapitel     Im Banne des Throns     Kapitel anzeigen
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