Das Geheimnis von Val Mentiér
 
6. Kapitel
 
Der Alte
 
asti Lauknitz konnte nicht mehr genau sagen, wie lange er ohne Bewusstsein gewesen war. Es ist auch nicht wichtig, denn Zeit hatte von da an eine andere Bedeutung für ihn.
Ein wahnsinniger Kopfschmerz und Schwindelgefühl waren die ersten Empfindungen, die er spürte. Als chronischer Migränepatient waren ihm Kopfschmerzen nichts unbekanntes. Doch dieser Schmerz stand in keinem Verhältnis zu den Migräneanfällen, die er bis dahin erlebt hatte. Sein Schädel drohte beim geringsten Augenzwinkern zu explodieren und schürte eine würgende Übelkeit. Sebastian fror erbärmlich und sein Körper fühlte sich an, als hätte eine Lokomotive Billard mit ihm gespielt. Vorsichtig versuchte er sich auf die Seite zu drehen, um die hämmernde rechte Schläfe auf seine Hand zu pressen.
Sebastian spürte einen weichen, knisternden Untergrund. Gleichzeitig stieg ein fürchterlich muffiger Gestank in seine Nase. Es erinnerte ihn an den Kaninchenstall seines Großvaters, in dem er sich als Kind herumtrieb. Die Übelkeit verstärkte sich und drohte ihn zu ersticken. Zitternd rollte er sich seitlich zusammen, den pochenden Kopf auf beide Hände gelegt. Selbst das Denken verursachte Schmerzen. Aber zumindest war es dunkel und still. Lauknitz versuchte ruhiger zu atmen und irgendwann erlöste ihn tiefer Schlaf von Übelkeit und Schmerz.
Als er erneut aufwachte, spürte er ein drängendes Bedürfnis. Zögernd bewegte Sebastian seinen Kopf. Das Hämmern war verschwunden, die Migräne abgeklungen. Aber Schultern und Rücken schmerzten nach wie vor. Es war immer noch dunkel. Er überlegte krampfhaft, wo er sich befand. Sein Kopf schien wie leergefegt.
Lauknitz erinnerte sich an einen Traum. Er wurde verfolgt und traf dann auf eine Teufelsgestalt. Der Traum war sehr deutlich. Aber wo war er, bevor er träumte? Wo war er jetzt? Es fiel ihm schwer, seine Erinnerungen zurückzuholen. Da war dieser Polizist. Ach ja, Basti hatte seine Bergführerkasse geholt und wollte nach Saas Fee. Und dann war da nur noch dieser Traum mit der Teufelsgestalt.
Unter Schmerzen drehte sich Sebastian auf den Rücken. Dunkelheit. Er drehte den Kopf nach links und rechts. Dunkelheit. Augenblicklich nahm er wieder diesen unangenehmen Geruch wahr. Es stank nach Leder, nasser Erde, Fisch und noch einigen anderen widerlichen Dingen. Ein Parfum von Chanel war jedenfalls etwas ganz anderes! Wo zum Kuckuck war er?
Dem Geruch nach befand er sich in einem Stall, oder Geräteschuppen. Irgendwo im dunklen Nichts erkannte Sebastian einen Lichtschimmer, der durch einen Türspalt oder Riss hereinfiel. Wie kam er hierher und vor allem: Wo war er hier? Die wichtigste Frage, die sich ihm jedoch immer nötiger aufdrängte, war die nach einem Ort für gewisse menschliche Verrichtungen.
Zunächst brauchte er mal Licht, um sich zu orientieren. Dabei stellte sich ihm gleich die nächste Frage: Wo war sein Rucksack? Umständlich tastete Lauknitz seinen Körper ab. Verwundert stellte er fest, dass er nur noch seine Lederhose trug. Wo war seine restliche Kleidung? Sebastian griff in die Hosentasche und zog sein Feuerzeug heraus. Das war immerhin noch da!
Das flackernde Flämmchen hüllte den Raum in ein unruhiges, diffuses Licht. Ein heilloses Chaos von unbekannten Gegenständen umgab ihn plötzlich und ohne jede Vorwarnung. An einem groben Deckenbalken hingen irgendwelche unförmigen Töpfe, gebündelte Gräser und kleine Sträucher. Von einem anderen Stützbalken hingen Lebensmittel herab: Schinken, Würste, Zwiebeln, Knoblauch und an einem Faden sogar Fische, vermutlich getrocknet. Alles um Basti herum erinnerte an das Innere einer Trapperhütte aus den Lederstrumpfgeschichten. Das Feuerzeug wurde heiß, versengte seinen Daumen und ging aus.
Als nächstes versuchte er sich aufzurichten. Auf einem Mal durchfuhr ihn ein stechender Schmerz, er zuckte zusammen und rutschte von seinem Lager. Unsanft landete er auf einem harten, kalten Boden, stieß gegen irgendwelche Dinge und löste damit ein nicht enden wollendes Scheppern und Klappern aus. Irgendeine komplizierte Konstruktion schien in sich zusammenzufallen. Gleichzeitig spürte Sebastian im Rücken und in der Brust einen Schmerz, der ihn zu ersticken drohte. Auch sein linkes Bein tat fürchterlich weh und fühlte sich merkwürdig steif an. Die Schmerzen trieben ihm Tränen in die Augen. Lauknitz atmete schwer und dann bekam er einen Hustenanfall, dass ihm Hören und Sehen verging.
Plötzlich brach helles Licht in die Dunkelheit und ließ seine Umgebung sofort zu gleißendem Nebel verschwimmen. Sebastian lag am Boden und sah auf ein schemenhaftes Viereck, aus dem grelle Helligkeit hereinflutete. Im Strahlenkorridor bewegte sich umständlich eine Schattengestalt auf ihn zu.
»Ah, hat Falméras Erde euch wieder, Talris sei Dank!« Die schemenhafte Gestalt humpelte heran. »Macht es euch nur auf dem Boden bequem, wenn euch Vater Balmer’s Schlafstatt nicht gut genug ist.« Lauknitz rätselte, ob diese Stimme einem Mann oder einer Frau gehörte. Sie war hoch und krächzend und klang geradezu lächerlich, als sie ein langgezogenes, meckerndes Lachen erklingen ließ.
Die Gestalt blieb gebeugt vor Sebastian stehen und blickte auf ihn herab, wie ein Metzger ein Schwein betrachtete, das er zu schlachten gedachte. Dann wandte sie sich abrupt um. »Na, wollen mal sehen, ob wir hier nicht ein wenig Luft hereinbekommen, hi, hi, hi«, nörgelte das humpelnde Wesen vor sich hin und etwas lauter: »Habt sicher Hunger, wie ein Felsenbär, was?«
Die Stimme klang wie eine Mischung aus Schweizer Deutsch und irgendwelchen lateinischen Lauten. Doch Basti verstand sie, wenn auch nur mit einiger Mühe. Dann schwangen Fensterflügel auf und ließen genug Licht herein, um deutlicher sehen zu können.
Es war ein Mann. Nein, falsch. Es war ein kleines, gebeugtes Männlein, etwa einen Meter fünfzig groß, mit einem wenig ausgeprägten Buckel, der seinen Träger aber nicht im geringsten zu behindern schien. Ein freundliches, spitzbübisches Gesicht lachte Sebastian an. Die unzähligen Falten und Runzeln, die sein Antlitz wie tiefe Gräben durchzogen, verstärkten noch den Eindruck eines ständig grinsenden Gesichts. Eine große Knollennase saß zwischen wieselflinken, lachenden Äuglein. Die kleine verschrumpelte, zahnlose Öffnung darunter, musste dann wohl der Mund sein. Dafür erinnerten die übergroßen Ohren des Männleins an die einer Fledermaus. Bei kräftigem Wind musste er wahrscheinlich Acht geben, um nicht wie ein Drachen einfach davongetragen zu werden. Ein Kranz weißer, unordentlicher und überlanger Haare, die auf die Kopfhaut geklebt schienen, gab ihm letztlich das Aussehen eines zu groß geratenen Gnoms.
Das ganze Männchen steckte in einer laienhaft zusammengenähten, viel zu weiten Lederhose. Der schmuddelige, geflickte Umhang aus braunem Leder schien ebenfalls für eine deutlich größere Person geschneidert worden zu sein. Der Rückenteil des Mantels war mit langem, zottigem Fell besetzt, was der ganzen Gestalt ein noch skurrileres Aussehen verlieh. Kurze Beinchen steckten in Fellstiefeln, die indianischen Mokkasins nicht unähnlich waren.
Frische, warme Sommerluft strömte herein, nachdem das Männlein alle drei Fenster des Raumes aufgestoßen hatte. Eigenartigerweise schienen die Fenster keine Glasscheiben zu besitzen. Nicht einmal einen Rahmen konnte Sebastian erkennen. Irgendwie fühlte er sich in einen alten Wildwestfilm versetzt.
Der übergroße Zwerg kam zu ihm herangehumpelt, zog sich einen klobig gezimmerten, wackeligen Stuhl heran und setzte sich vor Sebastian hin. Neugierig betrachtete er ihn, wie einen soeben gefangenen, seltenen Schmetterling. Er nickte sinnend und während er ihn weiter begutachtete, murmelte er vor sich hin: »Siehst du, Balmer, du hattest Recht, das Reich der Toten ist nicht endgültig. Die Prophezeihung ist mächtiger!«
Sebastian Lauknitz verstand nichts von alledem. Es war ihm auch egal, denn ein anderes, viel dringenderes Problem rief sich wieder in Erinnerung. Trotz seiner übervollen Blase, die zu bersten drohte, wollte er aber nicht so unhöflich sein und gleich mit der Frage nach einer Toilette herausplatzen. Er versuchte den Druck zu ignorieren und fragte: »Wo bin ich?«
Das Männlein wiegte sich auf seinem Stuhl bedächtig hin und her: »Ihr könnt ganz sorglos sein, Herr, bei Väterchen Balmer seid ihr so sicher, wie im Schoße der Sonne, will ich meinen.« Ein leises, meckerndes Lachen folgte.
»Ja, das glaube ich gerne, aber ich meinte vielmehr, an welchem Ort ich mich befinde«, entgegnete Sebastian.
»Nun, das sagte ich euch bereits«, das Männchen schüttelte verständnislos seinen Kopf, »in der Obhut von Balmer’s Hütte seid ihr sicher!«
Lauknitz gab es auf, sonst würde er sich gewiss noch in die Hose machen! Den Ort konnte er später klären. Dringend notwendig wurde aber die Information über den Ort der Verrichtung menschlicher Bedürfnisse. Gezwungenermaßen wurde Basti direkter: »Darf ich mal ihre Toilette benutzen?«, fragte er peinlich berührt.
Sein Gegenüber sah ihn so verständnislos an, als hätte er den Wunsch geäußert, ihm eine heiße Kartoffel ins Gesicht zu drücken. »Was dürft ihr von wem benutzen?«, fragte der Gnom zurück.
Allmählich traten Sebastian Schweißperlen auf die Stirn, denn er befürchtete ernsthaft, dass er sich einnässen würde, bevor die Frage nach dem Abort geklärt war. »Ich meine, haben sie eine Toilette, auf die ich mal gehen kann«, versuchte er es noch einmal, etwas lauter.
Die Antwort des Männchens ließ Basti schier verzweifeln: »Welche Leute meint ihr denn, Herr, und was sollen die haben?« Der Alte sah ihn an, wie ein Kind, das auf einen Elefanten im rosa Röckchen traf.
In seiner Verzweiflung wurde Sebastian lauter, als beabsichtigt: »Mann, ich muss mal pissen!« Der alte Kauz blickte ihn aber nur mit einem verständnislosen Kopfschütteln an. Da griff sich Sebastian mit beiden Händen vor den Schritt und tat, als schüttelte er sich vor Krämpfen, was auch augenblicklich der Fall gewesen wäre, hätte sich das Verständigungsproblem weiter hingezogen. Doch diese Geste verstand sogar ein buckliges Männlein.
»Ihr müsst euch erleichtern!«, rief er aus, hörbar erfreut, dass er mich endlich verstanden hatte. »Weshalb sagt ihr das nicht gleich!« Und mehr zu sich selbst fügte er hinzu: »Sind alle seltsam, die aus dem Reich der Toten zurückkehren...« Dann sprang er auf seine Beinchen, griff Sebastian unter die Arme und half ihm hoch.
Lauknitz erwiderte nichts. Heilfroh, endlich ein dringendes Problem loszuwerden, wunderte er sich nicht einmal darüber, mit welch ungeahnter Kraft das Männchen ihn stützte. Trittsicher, als tat er nie etwas anderes, führte er ihn zur Tür hinaus. Rasch wurde Sebastian bewusst, dass er allein gar nicht hätte stehen können. Er fühlte sich schwach und sein Körper schien ein einziger Klumpen Schmerz zu sein. Nur mühsam setzte er ein Bein vor das andere.
Ein ungewöhnlich warmer Sommertag begrüßte ihn draußen. Lauknitz trat auf einen kleinen Platz aus festgetretenem Erdreich. Vor ihm wogte saftiges Gras einer bunt blühenden, weitläufigen Alpwiese, die rechts und links von dichtem Tannenwald begrenzt war. Dazwischen schien das Gelände in ein tiefes Tal abzufallen. Den Horizont füllten mächtige, weiße Berge, deren gleißende Schneegipfel hoch in den tiefblauen Himmel stießen. Augenblicklich umgab ihn das friedliche Summen von Insekten und ein Duft von Blumen und frisch gemähtem Gras.
Sein Gastgeber führte Basti um die Hütte herum. Es war eine niedrige, aus rohen Steinen und Holzstämmen zusammengefügte Alphütte, die an der Längs- und Giebelseite je einen kleinen, kaputten Anbau besaß. Ein leerer, hölzerner Trog stand in einiger Entfernung im Gras, der in besseren Zeiten wohl mit kühlem Wasser gefüllt war.
Der Alte führte ihn auf einem kleinen Pfad ein Stück den Hang hinauf. Auch hinter der Hütte sah Sebastian vergletscherte Gipfel in den Himmel wachsen. Sie schienen zum Greifen nahe. Und tatsächlich erkannte er nur einen bewaldeten Hang, der diese Almlandschaft vom Fuß der Berge trennte. Er kannte diese Berge nicht. Das wunderte ihn, denn es gab kaum einen Gipfel in den Walliser Alpen, dessen Antlitz, egal von welcher Seite aus gesehen, ihm nicht bekannt war.
Nach dreißig Metern den Hang hinauf, standen sie am Rand einer großen Senke. Riesige Felsbrocken lagen überall herum, wie die Ausläufer eines längst vergessenen Bergsturzes. In der Mitte lag in kurzes Almgras eingebettet ein kristallklarer Bergsee. Ein kleiner sprühender Bach bildete einen Zu- und Ablauf.
Zwischen zwei hausgroßen Felsblöcken stand Sebastians ersehntes Ziel: Ein unscheinbares Toilettenhäuschen aus Holz, das dennoch recht stabil aussah. Die gesamte Konstruktion stand auf einem fünfzig Zentimeter hohen Steinsockel. Ein kleines Loch in der Tür sollte offensichtlich für Belüftung sorgen. Solche urtümlichen Toiletten waren ihm von verschiedenen Alpenclubhütten her wohlbekannt. Auch der dort herrschende Duft war ihm stets in Erinnerung geblieben.
Um so mehr erstaunt war er, als er im Innern des Aborts keinen üblen Geruch wahrnahm. Ein Blick in die Öffnung des Plumpsklos zeigte gähnende, schwarze Leere. Ein Gurgeln, wie von einem tiefen Wasser war zu hören. Lauknitz vermutete einen unterirdischen Bach. Offenbar hatte man die Toilette auf einem offenen Felsspalt über dem Fließgewässer errichtet. Dafür gab es jedoch kein Toilettenpapier. So sehr Basti auch suchte, er fand keines. An dessen Stelle lag ein Haufen breiter Blätter in der Ecke. Die Pflanze, die dieses Grün gespendet hatte, war Sebastian ebenfalls nicht bekannt. Er war absolut im falschen Film! Ein Plumpsklo mit fließendem Wasser, doch am Klopapier sparten sie hier!
Während seiner Erleichterung dachte Lauknitz darüber nach, wo er da eigentlich hingeraten war. Irgendwo bei Saas Fee war er ganz sicher nicht. Dort kannte er jeden Berg. Das Laggintal konnte es auch nicht sein, denn solch hohe Berge, die einen Talkessel fast völlig umschlossen, gab es dort nicht.
Nachdem er das dringende Geschäft erledigt hatte, humpelte er mühsam und unter viehischen Schmerzen zu dem Alten hinüber, der an einen Felsen gelehnt saß, eine Pfeife rauchte und auf den kleinen See hinabblickte. Umständlich setzte sich Sebastian neben ihn. Sein Tabak stank erbärmlich, so dass Basti sich fragte, ob der Alte ihn aus Kuhmist schnitt.
Nun, nachdem ein Problem gelöst war, hatte Basti viele Fragen. Doch er wusste nicht so recht, wie er beginnen sollte. »Ich bin Sebastian Lauknitz«, begann er umständlich, »haben sie mich verarztet?«
Der Alte sah ihn erneut verwundert an, sagte dann aber freundlich: »Nein, sie haben euch nur hergebracht. Dass ihr noch lebt verdankt ihr Väterchen Balmer.«
Seine Antwort irritierte Sebastian, aber er musste endlich unter allen Umständen wissen, was eigentlich geschehen war. »Wo ist denn dieses Väterchen Balmer?«, bohrte er weiter. »Und wer hat mich eigentlich hierher gebracht und wo ist das hier?«
Das Männlein sah ihn an und schüttelte verständnislos seinen greisen Kopf. »Zu viele Fragen auf einmal habt ihr, junger Herr«, stellte er fest und fuhr nach einer Pause fort: »Väterchen Balmer sitzt genau neben euch, wenn ich nicht irre!« Sein leises meckerndes Lachen unterstrich die gewichtige Aussage.
»Also sie sind Herr Balmer...«, versuchte Sebastian es weiter. Doch bevor er nachhaken konnte, unterbrach ihn der Alte mit einer energischen Handbewegung.
»Wen meint ihr denn immer mit „Sie“? Sie haben euch nur zu mir gebracht. Hier gibt es aber nur Väterchen Balmer! Högi Balmer, das bin ich! Högi Balmer, Sohn des Forath Balmer, aus dem Leibe der Minneha Balmer, geborene Zusäntis.« Seine Erklärung kam dem Schwall aus einem Dammbruch gleich.
Allmählich begriff Lauknitz, dass der Alte, Högi Balmer, unablässig in der dritten Person sprach. Insgeheim vermutete Basti, dass er nicht mehr alle Nadeln auf der Tanne hatte und hoffte inständigst, dass er wenigstens in der Lage war, ihn darüber aufzuklären, an welchem Ort er sich befand.
»Können sie mir...« Sebastian überlegte kurz, sah den alten, wunderlichen Kauz an und begann noch einmal. »Könnt ihr mir sagen, wo wir hier sind?«
»Auf den Weiden des Högi Balmer, wenn ich nicht irre!« Nach der prompten Antwort ließ er wieder sein Meckerlachen erklingen.
Lauknitz gab sich aber nicht mehr damit zufrieden. »Ich meine, welches Tal ist das hier?«, setzte er nach.
Balmer zog seine grauen, buschigen Augenbrauen hoch und antwortete artig: »Val Mentiér, das dort unten, das ist das Val Mentiér!«
Damit konnte Sebastian nun gar nichts anfangen. Ein Tal mit diesem französisch klingenden Namen war ihm nicht bekannt, obwohl es keinen Ort zwischen dem Mont Blanc und der Eigernordwand gab, an dem er nicht schon einmal gegessen oder geschlafen hatte. Und für das Engadin oder das Bündnerland waren diese hohen Berge zu zahlreich. Plötzlich wurde ihm bewusst, was er da dachte. Absurd! Er schüttelte den Kopf über sich selbst. Wie sollte er wohl von Saas Fee ins Engadin gekommen sein? Er musste es anders versuchen!
»Hören sie..., hört einmal, Herr Balmer...«, wagte er einen neuen Versuch.
Doch der Alte unterbrach ihn sogleich wieder: »Högi Balmer ist kein Herr, Herr! Ihr seid der Herr! Nennt mich Väterchen, oder Vater Balmer, aber nicht Herr, das steht dem alten Balmer nicht an. Ihr seid der Herr und ich der alte Balmer, der eben mit Mühsal noch sein Trockengras einbringen kann.«
»Ja, schön«, sagte Sebastian ungeduldig, »hört, Vater Balmer, ich war auf dem Wege von der italienischen Grenze nach Saas Fee, das zweigt vom Mattertal ab. Dann hatte ich wohl diesen Unfall. Und jetzt würde ich gern wissen, wo ich bin. Wo liegt das Val Mentiér?«
Der alte Balmer sah ihn mit fragendem Blick an, zuckte dann mit der Schulter und sprach resignierend: »Wer aus dem Reich der Toten zurückkehrt, redet wirr.« Traurig fuhr er fort: »Ich verstehe die Dinge nicht, die ihr sagt, Herr. Aber ihr seid von den Toten zurück, da ist das wohl so. Väterchen Balmer wird euch wieder gesund machen und ist stolz darauf, dass sie euch zu ihm brachten und nicht zur alten Seherin. Die hätte euch bloß mit ihren seltsamen Tränken vergiftet.«
Lauknitz gab es auf. Weiß Gott, auf welchem Weg er bei diesem durchgeknallten, alten Kauz gelandet war! Basti wurde klar, dass dessen Geist hier oben in der Einsamkeit der Berge offenbar irreparablen Schaden genommen hatte. Der Typ hatte echt den letzten Schuss nicht mehr gehört! Angestrengt überlegte Sebastian, was er nun tun sollte. Als erstes wollte er seine Klamotten und seinen Rucksack wiederhaben. Dann brauchte er dringend ein Telefon!
»Vater Balmer«, begann er von Neuem, »habt ihr hier irgendwo in der Nähe ein Telefon?«
Am Blick des Alten erkannte er schon, dass auch diese Frage zu nichts führen würde. »Was ist Tele-fon?«
Enttäuscht winkte Lauknitz ab. »Ist schon gut, nicht so wichtig, vergesst es!« Högi Balmer sah Sebastian fragend an, doch er blickte in die entgegengesetzte Richtung und tat, als bewundere er die weißen Gipfel über dem Bannwald. Lauknitz konnte es nicht fassen. Er war verletzt, konnte sich kaum anrühren und befand sich in der Obhut eines irren, alten Einsiedlers im wahrscheinlich verborgensten, hintersten, vergessensten Winkel der Schweiz! Das musste natürlich mal wieder ihm passieren! Allmählich wurde er echt sauer!
Auf jeder noch so kleinen, bescheidenen Berghütte in der Schweiz gab es ein Telefon, oder zumindest ein Funkgerät! Aber er musste ausgerechnet bei einem alten, senilen Almöhi landen, der nicht einmal den Begriff „Telefon“ kannte! Wie zum Teufel kam er eigentlich hier her? Es war wie ein Alptraum. Trotz der Situation musste er grinsen: Es war ein „Alptraum“, ein Alpen-Trauma! Aber so einfach gab ein Basti Lauknitz nicht auf!
Abrupt wandte er sich wieder Väterchen Balmer zu und sah gerade noch, wie dieser die Tätowierungen auf Sebastians Oberarm anstarrte. Wie ein ertappter Dieb sah er rasch zur Seite. Lauknitz vermutete, dass er in dieser Einsamkeit nie ein Tattoo gesehen hatte und musste lächeln. Dabei zeigten seine Tattoos noch durchaus vertretbare Bildchen. Wo bei anderen eine nackte Frau oder ein Totenkopf die Haut zierte, trug er indianische Symbole, wie eine Sonnenkachina, einen Bären und eine Schildkröte. Aus Liebeskummer hatte er sich diese Bildchen vor Jahren stechen lassen. Den inneren Schmerz wollte er damit nach außen tragen. Doch irgendwie funktionierte das nicht!
In diesem Augenblick wurde ihm bewusst, dass er noch immer kein Hemd trug. Er fragte Vater Balmer nach seiner restlichen Kleidung und nach seinem Rucksack. Der Alte stützte ihn wieder und Sebastian schob seinen schmerzenden Körper zur Hütte zurück. Dort setzte ihn Högi auf eine roh zusammengezimmerte klobige Bank neben dem Eingang und verschwand im Innern der windschiefen, einfachen Behausung.
Während er Balmer drinnen rumoren hörte, betrachtete Sebastian die hohen Gipfel ringsum. Die Sonne brannte und er verspürte Durst, den er aber erst einmal verdrängte. Lauknitz versuchte, die Höhe der Berge abzuschätzen und kam zu dem Schluss, dass sie fast alle über der Viertausendmetergrenze liegen mussten. Nun, so viele Orte mit Viertausendern gab es in den Alpen nicht. Trotzdem konnte er nicht bestimmen, wo er war.
In Gedanken starrte er die blaue Leere des Himmels an, die lediglich ab und zu von dem fliegerischen Kunststück einer Alpendohle unterbrochen wurde. Die Leere des Himmels..! Plötzlich fiel es ihm wie Schuppen von den Augen und er bekam eine Gänsehaut! Schlagartig wurde ihm klar, was hier nicht stimmte!
Sebastian kam nicht mehr dazu, seine Überlegung zu vollenden. Vater Balmer schob sich umständlich durch die Hüttentür ins Freie. Auf dem Arm trug er Bastis restliche Kleidung. Seinen Rucksack schleifte er achtlos hinter sich her durch den Dreck. Erst wollte Lauknitz protestieren, verwarf diesen Gedanken aber sofort wieder. Er konnte ja froh sein, dass dieser Alte, so verrückt er auch sein mochte, ihn in seinem ärmlichen Heim aufnahm. Sein derzeitiger Zustand erlaubte es ihm wohl kaum, große Ansprüche zu stellen.
»Ein wunderliches Zeug führt ihr da mit euch, Herr«, stellte Högi Balmer fest. Dann sah er Lauknitz fragend an. »Welcher Schneider vermag Leder mit so feinen Stichen zu nähen und welcher Weber stellt so festen Stoff her?« Mit seiner rauen Hand strich er prüfend über das synthetische Material des Rucksacks. Sebastian wunderte sich, dass dieser Hinterwäldler nicht einmal einen handelsüblichen Rucksack kannte.
»Das ist ein künstlich hergestelltes Material«, erklärte ihm Lauknitz. »Die Nähte am Rucksack und an der Lederkleidung hat die Maschine gemacht.«
Vater Balmer’s Blick verriet ihm, dass er nichts verstanden hatte. Sebastian hatte das Gefühl mit einem zwar aufgeweckten, aber vergreisten Fünfjährigen zu sprechen. Langsam kam ihm der Verdacht, er hätte seine Alm seit siebzig Jahren nicht mehr verlassen. Dabei schätzte er Högis Alter auf ungefähr fünfundsiebzig! Vermutlich hatte der sein ganzes Leben nur hier zwischen diesen Bergen verbracht. Wenn man andererseits ihn, Basti, nach seinem Absturz extra zu diesem Kauz gebracht hatte, wieso kannte der dann keinen Rucksack? Basti erinnerte sich, dass er in der Hütte lediglich ein Tragegestell aus Holz und einen Tragekorb gesehen hatte.
Die vielen offenen Fragen machten Sebastian gereizt und müde. Er verstand nicht, weshalb ihn seine Retter hierher abschoben, anstatt ihn mit dem Helikopter in ein Krankenhaus zu fliegen. Schließlich war Sebastian Lauknitz zahlendes Gönner-Mitglied der Schweizerischen Rettungsflugwacht!
Oder hatte das alles mit den seltsamen Knochenfunden am Zwischbergenpass zu tun? Steckte etwa Bruno Ambühel hinter Alledem? Hatte der ihn womöglich an einen einsamen Ort bringen lassen, um zu verhindern, dass er seine Theorie über die Knochenfunde ausplauderte? Vielleicht wollte der Polizist sicher gehen, dass niemand von den erst kürzlich an der Pest Verstorbenen erfuhr? Aber wo hatte Ambühel ihn dann hinbringen lassen? Wo war er hier?
In diesem Augenblick fiel Sebastian wieder der Himmel ein. Er war Leer! Aber der Himmel war niemals leer! Ständig zogen Flugzeuge ihre Bahn am Zenit und hinterließen Kondensstreifen. Kurze Streifen bei klarem Wetter und mächtige, sich auffedernde Bahnen bei höherer Luftfeuchtigkeit. Über die Schweiz und die Alpen führten unzählige Flugrouten. Bei einem Wetter wie heute, musste man normalerweise die Flugzeuge in Scharen am blauen Himmel blitzen sehen!
Doch der Himmel war leer! Jungfräulich spannte sich das blausamtene Tuch über den weißen Bergen auf. So sehr er sich auch anstrengte und die blaue Kuppel absuchte, Sebastian entdeckte nichts. Nicht einmal das Geräusch eines Helikopters oder einer Maschine der Almwirtschaft hatte er seit seinem Erwachen gehört. Allmählich kam er zu einer ungeheuerlichen Vermutung! Die hatten ihn einfach in die einsamste Gegend eines Landes, vermutlich irgendwo auf dem Balkan, verschleppt, um einen unliebsamen Zeugen loszuwerden! So verlassen musste diese Gegend sein, dass nicht einmal ein Flugzeug sie überflog.
»Was habt ihr, Herr, fühlt ihr euch nicht wohl?« Den alten Balmer hatte er beinahe vergessen, so beschäftigten ihn seine Gedanken. »Ihr seid sehr blass«, stellte der Alte fest. »Väterchen Balmer wird euch Essen und Trinken bereiten, damit ihr wieder zu Kräften kommt!« Damit wandte er sich um und verschwand erneut in seiner Hütte.
Sebastian saß auf der Bank in der Sonne und überdachte seine nächsten Schritte. Viel konnte er augenblicklich nicht tun, denn er war kaum in der Lage, selbstständig zur Toilette zu gehen. Nüchtern betrachtet befand er sich in einer Situation, in der er jedem und allem hilflos ausgeliefert war. Jedes Mal, wenn er seine Lage neu überdachte, wurde sie noch befremdlicher. Seine Gedanken schienen sich zu überschlagen und sich in einem Wirrwarr von Fragen zu verlieren.
Der Alte stellte sich bewusst dumm, wenn Sebastian eine Frage an ihn richtete, die seinen Aufenthaltsort klären konnte. Lauknitz war davon überzeugt, dass Högi von irgend jemandem davon beauftragt worden war, ihn hier am Ende der Welt ohne brauchbare Informationen festzuhalten. Wahrscheinlich würde das nicht für immer sein, denn in seinem Zustand wäre es selbst einem Kindergartenkind nicht schwer gefallen, ihn irgendwo zu verscharren, wenn man ihn für immer beseitigen wollte. Nein, man hatte sich sogar die Mühe gemacht, ihn zu verbinden. Das ließ Sebastian für den Moment vermuten, dass er noch gebraucht wurde.
Väterchen Balmer klapperte mit blechernen Gegenständen in der Hütte und rumorte, dass man meinen konnte, er ringe mit einem übermächtigen Feind. Lauknitz nutzte die Gelegenheit und untersuchte seinen Rucksack. Ein Tragegurt war an seiner Befestigung angerissen. Auch sonst wies das Material deutliche Spuren eines Sturzes auf. Die Oberfläche war an vielen Stellen verschrammt und verschmutzt. Ein Steigeisen und der Eispickel hingen noch in der Verschnürung. Mehr Sorgen machte sich Basti allerdings um das, was sich im Innern befand. Er öffnete die obere Verschnürung und tastete blind nach dem Inhalt. Deutlich fühlte er das in eine Plastiktüte gewickelte Kästchen mit seinen Goldmünzen. Soweit er das ertasten konnte, war es unversehrt. Es heraus zu nehmen und genau in Augenschein zu nehmen, traute er sich nicht. Bislang schien niemand seinen Rucksack durchsucht zu haben und so sollte es auch bleiben. Wozu unnötig schlafende Drachen wecken?
In der Seitentasche befanden sich noch immer sein Höhenmesser und der Kompass. Obgleich es sinnlos war, folgte Sebastian der mechanischen Gewohnheit und sah auf die Ziffernblätter. Die himmelhohen Berge umschlossen Balmers Hütte im Norden, Westen und Süden, während das Tal sich nach Osten hin öffnete. Auf dem Höhenmesser las er zweitausendsechshundert Meter ab. Dafür, dass hier noch eine sehr üppige Flora gedieh, war das schon eine ganz enorme Höhe. Aber vielleicht hatte das Ding beim Sturz Schaden genommen und zeigte keine korrekten Werte mehr an.
Was im Widerspruch zu seiner ganzen Situation stand, war die Tatsache, dass sich offenbar niemand die Mühe gemacht hatte, seine Sachen zu durchsuchen. Das beruhigte ihn zwar einerseits, warf andererseits jedoch die Frage auf, wer derart gleichgültig sein konnte, dagegen aber sehr darauf bedacht, ihn, wenigstens für eine Weile, verschwinden zu lassen. Jedenfalls hielten es diejenigen, die ihn in diese Wildnis gebracht hatten, nicht für nötig, sein Gepäck nach Hilfsmitteln zu durchsuchen, die ihm eventuell bei einer Flucht helfen konnten. Selbst seine beiden Messer fühlte er noch im Rucksack. War man sich so sicher, ihn an einen so abgelegenen Ort gebracht zu haben, von dem eine Flucht sowieso schier aussichtslos war?
Sebastian erinnerte sich, dass er seinen Feldstecher um den Hals trug, als die Verbindung zu seinem Bewusstsein abriss. Doch das Fernglas war nicht bei den Sachen, die ihm der Alte zurückgab. Wurde ihm das Fernglas ganz bewusst entwendet, oder war es bei seinem Sturz verloren gegangen? Angestrengt versuchte er sich zu erinnern. Lauknitz wusste noch, dass er etwas kaltes spürte. Etwas, wie einen eisigen, feuchten Wind, der plötzlich nach ihm griff. Dann war da noch dieser Nebel..., und dieses Wesen! Das Bild kehrte allmählich in seinen Kopf zurück. Da war ein Tier, ein Wesen, das reif für eine Fantasiegeschichte gewesen wäre. Oder hatten ihm seine Sinne im Schreck des Sturzes etwas vorgegaukelt? Aber in seiner Erinnerung sah er es doch vor sich, wie es dastand und ihn mit erschreckten Augen ansah!
Indem er tief durchatmete, überlegte Sebastian, was realistisch sein konnte. Was er ganz deutlich in seiner Erinnerung trug, waren Hörner. Ein Kopf mit den Hörnern eines Rindviehs, die überall auf den Walliser Almen anzutreffen waren. Das war es! So ein dämliches Rindvieh hatte ihn vermutlich umgerannt und den Abhang hinunter gestoßen. Dabei waren wohl der neugierige Polizist aus Bern und seine Archäologen auf ihn aufmerksam geworden. Und nun hatten sie ihn an einen Ort verfrachtet, von dem aus er niemandem von den Aktivitäten am Zwischbergengletscher berichten konnte. Wie praktisch! Dieser Bruno Ambühel hatte von Anfang an vor gehabt, einen unliebsamen Zeugen verschwinden zu lassen, das war Sebastian jetzt klar. Und die blödeste Kreatur auf Gottes Erden, eine dumme Kuh, hatte ihm zufällig dabei geholfen!
Basti war sich sicher, den Ablauf nun rekonstruiert zu haben. Blieb nur noch die Frage: Wohin hatten sie ihn verschleppt, von welchem Flecken Erde sie so sicher sein konnten, dass eine Flucht zurück in die Zivilisation zu Fuß unmöglich war? In Gedanken überflog er die ihm bekannten Gebirgsregionen des Planeten Erde. Sie mussten hinsichtlich der Landschaftsstruktur den Alpen zumindest ähnlich sein. Viel Auswahl fiel ihm dabei nicht ein: Neuseeländische Alpen, Kyrgistan, Norwegen? Kanada und die USA schloss Sebastian aus. Die typischen schlanken und hohen Douglasfichten, die es dort gab, konnte er hier nirgends entdecken. Die Arven, Tannen und Fichten, die Balmers Hütte umgaben, waren in der Art, wie sie ihm von den Alpen her bekannt waren...
Seine Spekulationen wurden abrupt unterbrochen. Der Alte humpelte aus der Hütte, einen kleinen roh behauenen Holztisch vor seinen Bauch gedrückt. Er stellte den massiven, krummbeinigen Tisch, den Sebastian nicht einmal in seinem Bauwagen geduldet hätte, vor ihm ab. Eine solche hölzerne Krücke hätte ein Basti Lauknitz gerade noch als Brennholz akzeptiert. Der Alte verschwand erneut in seiner Behausung, um gleich darauf wiederum mit vollen Armen von Essbarem zu erscheinen. Er lud Käse, Wurst, Schinken und trockenes Brot auf den Tisch. Dazu eine undefinierbare Art von Wurzel und verschiedene grüne Blätter in einer Holzschale. Eine weitere Schale mit einer rahmartigen Substanz folgte nach einem weiteren Gang in die Hütte. Dazu unförmige Holzteller und angerostete Messer, die man mit offensichtlicher Mühe versucht hatte, wieder blank zu polieren. Ein Krug aus grobem Ton, sowie Becher aus demselben Material folgten beim dritten Hüttengang.
Anschließend wackelte Väterchen Balmer zu einem offenen Kamin hinüber, der an die Hüttenwand zum kleinen Anbau hin gemauert war. Mit einer ausgefaserten Schnur und einem kleinen Gerät, das Lauknitz noch nie zuvor gesehen hatte, entzündete er ein lustiges Feuer und legte noch etwas trockenes Holz nach. Daraufhin schob er eine dünne, genau eingepasste Steinschuppe in den Kamin über das Feuer. Zuletzt schnitt er grobe Scheiben vom Brotlaib, belegte sie mit den grünen Blättern und strich dick den weißen Rahm darüber. Die Brotscheiben schob er auf die Steinschuppe. Dann griff er nach einer größeren Steintafel, die neben dem Kamin stand und stellte sie vor die Kaminöffnung, offenbar um das Entweichen der Hitze zu verhindern. Zufrieden und mit stolzem Blick kehrte er zu Sebastian an den Tisch zurück.
Es war unzweifelhaft das romantischste, gediegenste, aber auch einfachste Abendessen, dass Basti bis dahin angeboten wurde. Der Ofen verbreitete einen wohligen Duft von verbranntem Arvenholz und garendem Essen. Vermischt mit dem Geruch von frischem Heu und geschlagenem Holz, sowie den Düften vom Käse und dem Schinken, ließ ihm die Komposition das Wasser im Munde zusammen laufen. Er hatte einen Mordshunger, das wurde ihm in diesem Augenblick bewusst.
Der Alte machte eine einladende Geste: »Esst Herr, ihr sollt rasch wieder zu Kräften kommen!« Und wie ganz nebenbei fügte er kaum hörbar hinzu: »Werdet sie noch brauchen, wenn ich nicht irre, hi, hi, hi.«
Unsicher griff Lauknitz nach dem Laib Brot und säbelte sich mit dem stumpfen Messer ungelenk eine grobe, ausgefranste Scheibe herunter. Wäre das Brot von einem wilden Tier zerrissen worden, es hätte kaum schlimmer aussehen können. Doch Väterchen Balmer schien es zu gefallen. Offensichtlich war es ganz normal für ihn, dass man Brot nicht zerschnitt, sondern in groben Stücken auseinander riss. Ebenso wurde wohl mit Schinken, Käse und allen anderen Lebensmitteln verfahren, denn der Alte freute sich wie ein Kind an Weihnachten, als Sebastian sich bemühte, ein großes Stück vom Schinken zu lösen. Dieser war jedoch so hart, dass er bei dem Versuch selbst eine Kreissäge zum Glühen gebracht hätte. Er war versucht, sein Bowiemesser aus dem Rucksack zu holen, um diesem Martyrium ein Ende zu bereiten. Doch eine innere Eingebung warnte ihn davor, seine Geheimnisse aus dem Innern seines Gepäcks allzu früh preiszugeben. Also begann Lauknitz die Schinkenkeule zu vergewaltigen, um ihr ein Stück geräucherten Fleisches abzuringen.
Inzwischen waren die Brotscheiben im Ofen fertig gegart. Balmer schob die Steintafel mit zwei Hölzern zu Seite und holte die dampfenden »Baguettes« aus dem Kamin. Der Rahm war ähnlich, wie bei einem Käse, zerlaufen und teilweise in das knusprige Brot eingezogen. Es roch wunderbar und Sebastian konnte es kaum erwarten, davon zu kosten. Beinahe verbrannte er sich den Mund. Die Brote schmeckten ausgezeichnet, ein wenig nach Schaf oder Ziege, aber sehr köstlich. Ein ganz besonderes, feines Aroma, ähnlich einer mediterranen Gewürzmischung, war wohl den eingelegten Blättern zu verdanken. So sehr abstoßend er die einfache Zubereitung zunächst empfand, um so angenehmer überrascht war er vom Ergebnis Balmers Kochkunst. Lauknitz stopfte alles in sich hinein und ihm wurde klar, dass er einige Tage ohne Essen gewesen war.
Die listigen Äuglein des Högi Balmer beobachteten jede seiner Bewegungen, während sie aßen. Sebastian wurde das Gefühl nicht los, dass der Alte irgend ein Geheimnis an ihm zu entdecken suchte. Seine Blicke wurden Basti unangenehm. Um ihm zu bedeuten, dass er satt war und um seinen bohrenden Blick zu unterbrechen, lehnte sich Sebastian demonstrativ zurück. Mit einem verschmitzten Lächeln tat Högi es ihm nach, allerdings nicht ohne einen heftigen Rülpser auszustoßen, der einer Fehlzündung im V-Twin- Motor einer Harley Davidson nicht unähnlich war.
Väterchen Balmer gewahrte sofort seinen missbilligenden Blick, obwohl Sebastian bemüht war, seine Abscheu nicht zu zeigen: »Was schaut ihr, hat es euch nicht geschmeckt?«
Dann sah er Lauknitz schuldbewusst an und fragte fast reumütig: »Könnt ihr nicht die Luft aus dem Bauch lassen.., war das Essen nicht nach eurem Munde?«
»Doch, doch, das Essen war vorzüglich«, versuchte Sebastian einzulenken, »aber...«
»Es war zu schwer, ja? Bekommt es eurem Magen nicht?« Basti merkte deutlich, dass Balmer verzweifelt bemüht war, sein Befinden zu analysieren. Offenbar war er sehr darauf bedacht, dass es seinem Gast gut ging.
»Na ja...«, erklärte Sebastian ihm zögernd, »...dort, wo ich her komme, gilt es als nicht schön, die Luft so geräuschvoll aus dem Bauch zu lassen.«
Balmer sah ihn an, wie ein Frosch, der seine eigene Zunge verschluckt hatte. »Was tut ihr dann, damit ihr nicht entzwei reißt?« Er schüttelte seinen struppigen Kopf und sagte verständnislos: »Sind alle seltsam, die aus dem Reich der Toten zurückkehren!«
»Was meint ihr mit dem Reich der Toten«, fragte Sebastian und sah nun seinerseits aus, wie der würgende Frosch. »Ihr sprecht ständig vom ›Reich der Toten‹. Heißt das, ihr habt mich wieder zum Leben erweckt?«
Väterchen Balmer schüttelte sein greises Haupt jetzt entschlossener: »Nein, das kann Vater Balmer nicht, das kann nur die alte Waldlerin. Ihr wart nicht mehr tot, als sie euch zu mir brachten, Herr, aber sie sagten, ihr seid aus dem Reich der Toten zurückgekehrt.«
»Also hat mich die alte Waldlerin ins Leben zurück geholt?« Beharrlich versuchte Lauknitz weiter, dem Alten genauere Informationen zu entlocken. Doch Väterchen Balmers Antworten wurden immer dubioser:
»Nein Herr, ihr wart nicht bei der Waldlerin, ihr seid lebend aus dem Reich der Toten zurück gekommen. Danach haben sie euch zu mir gebracht.«
Allmählich wurde Basti ungeduldig: »Aber wie kann jemand erst tot sein und dann plötzlich wieder leben, ohne dass ihn ein Arzt behandelt? Schaut einmal, Vater Balmer«, bohrte er weiter, »wenn einer richtig tot ist, dann wird er nicht einfach wieder von selbst lebendig...«
»Das denken die Leute von Volossoda auch«, versuchte Balmer sich zu erklären, »aber manchmal ist es so, dass einer aus dem Reich der Toten zurückkehrt, auch wenn lange Zeit ins Land gezogen ist, seit die Wächter seinen Leichnam ins Totenreich schickten«.
Lauknitz sah den Alten eine Weile an. Der hatte doch nun wirklich nicht mehr alle Latten am Zaun! Aber was sollte er tun? Im Augenblick seines lädierten Zustands war er ihm hilflos ausgeliefert. Vor allem wusste er nicht einmal, wo er sich eigentlich befand.
Langsam wurde Sebastian müde, horchte aber dennoch weiter in den Alten hinein, denn er wollte endlich wissen, was mit ihm geschehen war:
»Vater Balmer.., was ist denn nun schon wieder Volossoda und wer bitteschön sind diese Wächter, könnt ihr mir das bitte sagen? Versteht mich nicht falsch, ich möchte nicht unhöflich sein, aber ich weiß nicht, was mit mir passiert ist. Ich wache plötzlich in eurer Hütte auf und ihr erzählt mir von irgendwelchen mir unbekannten Orten, von denen ich nie im Leben gehört habe und von irgendwelchen Wächtern...«
»Ja, Vater Balmer weiß, dass die Gedanken derer, die das Totenreich wieder verlassen haben, wirr sind und dass sie alles vergessen haben, wer sie waren, woher sie kamen und was sie vor dem Totenreich taten.« Der Alte sprach mit freundlichem, aber bestimmten Tonfall, als sei seine Erklärung das Normalste der Welt. Versöhnlich fuhr er fort:
»Seht mal, Volossoda ist ja unser Land, das Land in dem wir leben, das uns unser täglich Brot gibt, das Land am Rande des ewigen Eises, habt ihr das alles vergessen?« Bevor Basti antworten konnte, sprach er weiter:
»An die Wächter am Tor zum Reich der Toten erinnert ihr euch auch nicht? Sie bringen ja die Gestorbenen an das Tor zum Totenreich und geleiten sie hinüber!«
Für Sebastian Lauknitz hatte der Alte eine totale Vollklatsche, das war sonnenklar! Es war ihm unheimlich, sich diesem Spinner auszuliefern, oder zumindest im Moment auf ihn angewiesen zu sein. Doch er konnte sich so gut wie gar nicht selbstständig und nur unter viehischen Schmerzen bewegen. Wenn hier niemand anderer aufkreuzte und so sah es augenblicklich aus, dann brauchte er Högi. Und so verrückt alles aus Balmers Munde klang, so hatte er doch etwas Beruhigendes, wenn auch nicht viel davon. Aus seinen ehrlichen, fröhlichen Augen sprach nicht offensichtlich der Wahnsinn. Er hatte Basti bisher höflich und mit sehr viel Respekt und Gastfreundschaft behandelt und wenn er ihm hätte ein Leid zufügen wollen, so hatte er sicherlich genug Gelegenheit dazu. Dennoch musste Sebastian rasch feststellen, wo er war, wo noch andere Menschen in der Nähe lebten und wie er sie erreichen konnte.
Verzweifelt begann er noch einen letzten Versuch: »Sagt einmal, Vater Balmer, könnt ihr mich nicht zu anderen Leuten bringen, die mir helfen können, oder zu einem Arzt?«
Balmer sah ihn enttäuscht und traurig an: »Vater Balmer ist nicht gut zu euch, was, ihr seid etwas Besseres gewohnt, als Högi Balmers Hütte, so ist es doch, nicht wahr?« Verzweifelt suchte der Alte nach Worten und er tat Sebastian fast leid:
»Ihr könnt nirgendwo anders hin, Herr, es ist zu gefährlich für euch. Aber Vater Balmer wird alles für euch tun, damit ihr euch hier wohl fühlt und wieder Kraft bekommt. In Högi Balmers Hütte seid ihr in Sicherheit, Herr! Wenn ihr einen Wunsch habt, so sagt es nur, Vater Balmer wird ihn euch erfüllen, wenn ich nicht irre...«
Bastis Geduld war am Ende. Er wurde entschlossener:
»Ja, ich habe einen Wunsch. Ich möchte zu einem Arzt gebracht werden!« Der Klang seiner Stimme wurde barsch und er sah, dass der Alte erst erschrocken aufsah, dann aber betreten auf seine Füße blickte. Unterwürfig fragte er:
»Was ist das, Herr, ein Arzt?«
Lauknitz saß Högi Balmer gegenüber und wusste nicht mehr was er sagen sollte. Wollte ihm der Alte tatsächlich einreden, er wüsste nicht, was ein Arzt ist? Wollte der ihn verschaukeln? Oder war sein Kopf bereits so vernebelt, dass er schlicht vergessen hatte, dass es Ärzte auf dieser Welt gab? Die Art, wie er danach fragte, was ein Arzt sei, ließ zwar nichts von Irrsinn erkennen, aber das bedeutete nichts. Sebastian hatte schon davon gehört, dass Menschen wirklich ernsthaft an die aus ihrem eigenen Irrsinn entstandenen vermeintlichen Wahrheiten glaubten. Immer mehr kam er zu dem Schluss, dass der Alte hier oben in der Einsamkeit allmählich seinen Verstand verloren hatte und in seiner kleinen Welt einsam dahinvegetierte. Freilich, er war exzellent in der Lage, sich selbst zu versorgen, doch Lauknitz fragte sich, wer so bescheuert gewesen war, ihn ausgerechnet zu diesem Eremiten zu bringen, denn alles, was über den Horizont seiner Berghütte hinausging, schien auch aus seinem Gedankengut gelöscht.
Obwohl es Sebastian sinnlos vorkam, antwortete er ihm:
»Vater Balmer, ihr wollt mir allen Ernstes weismachen, dass ihr nicht einmal wisst, was ein Arzt ist, ein Mediziner, ein studierter Mensch, der sich mit Heilkunde auskennt?«
Plötzlich hellten sich Balmers Gesichtszüge auf, als hätte er etwas lang Vermisstes wieder gefunden. Gerade hatte Sebastian daran gedacht, er würde jetzt unweigerlich in seinem Irrsinn versacken, fragte er ihn erwartungsvoll:
»Herr, meint ihr am Ende einen Medicus?«
»Ja, ein Medicus«, entgegnete Basti voller Hoffnung, »einer, der mit Medizin heilt, nicht nur mit Kräutern; jemand der einem in den Bauch sehen kann, ein Doctus Medicus!«
In seinem Leben hatte Sebastian nur hin und wieder mal ein paar lateinische Begriffe aufgeschnappt und er hatte nicht gedacht, dass die ihm in dieser Situation helfen würden. Aber sie schienen Wunder zu wirken! Der Alte wusste plötzlich, wovon Lauknitz sprach.
»Vater Balmer hat schon nach dem Medicus geschickt. Die Sonne wird zweimal erwachen, dann werdet ihr ihn sehen, Herr!« Erleichtert, seinem Gast einen Wunsch erfüllt zu haben, plapperte Balmer los, wie ein aufgescheuchter Truthahn:
»Der Medicus von Falméra ist ein kluger Mann. Er wird rasch kommen, sobald er Vater Balmers Nachricht bekommen hat. Dann könnt ihr den Medicus fragen, Herr, der weiß vieles, das euch Vater Balmer nicht sagen kann. Die Leute im Val Mentiér vertrauen dem Medicus, er ist gut zu allen Menschen. Er hat schon viele Menschen gesund gemacht, auch einige, die von der Waldlerin nicht geheilt werden konnten. Dem Holzer hat er sogar das Laufen wiedergegeben. Der ist jetzt besser zu Fuß, als Högi Balmer, wenn ich nicht irre, hi, hi, hi.«
Das Laufen wiedergegeben... Sebastian kann nicht sagen, dass er alles verstanden hätte, was aus Balmer in diesem Augenblick heraussprudelte. Doch anscheinend hatte der Alte noch so viel Grips im Kopf, dass er jemanden geschickt hatte, Hilfe zu holen. Das beruhigte Basti. Er befand sich nicht in unmittelbarer Lebensgefahr, also konnte er getrost auf die angekündigte Hilfe warten, sofern das nicht wieder ein Flop war. In der Zwischenzeit würde er versuchen, noch mehr von dem irren, alten Zwerg zu erfahren. Natürlich konnte Sebastian nicht zwischen dem unterscheiden, was die Wahrheit war und dem, was Högi Balmers eigenem Wahn entsprang.
Balmer bemerkte seine Nachdenklichkeit und begann, das klobige Holzgeschirr und die Reste ihrer Mahlzeit fort zu räumen. Den Krug mit dem Getränk, eine süßsäuerliche, weinartige Flüssigkeit, die nach vergorenem Obst schmeckte, ließ er stehen. Vorsichtig probierte Sebastian das Gesöff und kam zu dem Schluss, dass es nicht mehr Prozent Alkohol haben dürfte, als ein normales Bier.
Nachdem der Alte den Tisch leergeräumt hatte, setzte er sich kurz neben Sebastian auf die Bank. Dabei bemerkte Basti etwas, das ihm zuvor nicht aufgefallen war. Högi Balmer roch. Nein, er stank! In Wahrheit dünstete er eine gigantische, bestialische Wolke aus Schweißgeruch, Käseduft und dem Gestank nach Vieh aus, dass ihm beinahe schlecht wurde. Vermutlich sah Högi reinigendes Wasser nur einmal im Monat kurz an seinem Körper vorbeihuschen. Sebastian bemühte sich nicht zu zeigen, dass ihn Högis Aroma zu ersticken drohte. Vor ein paar Stunden, als dieser ihn zur Toilette brachte, war ihm dessen Duft dank Bastis zum Bersten gefüllter Blase nicht aufgefallen. Jetzt raubte er ihm den Atem! Balmer schien zu erraten, dass er eine unangenehme Wirkung auf seinen Gast hatte und stand wieder auf.
»Högi Balmer bringt jetzt sein Vieh ein«, erklärte er, während er sich entfernte, »er ist in einer Stunde zurück, erfreut euch einstweilen noch an der Sonne!« Mit diesen Worten verschwand er hinter der Hütte.
Müde lehnte sich Sebastian Lauknitz gegen die Hüttenwand. Einen Augenblick lang schloss er die Augen und lauschte. Er hörte den Wind, wie er durch die Wipfel der Tannen und Fichten fuhr, nahm verschiedene Vögel wahr und vernahm das Konzert vieler hundert Insekten. Es war der friedlichste Klang, der ihm bis dahin zu Ohren gekommen war. Einen Moment lang vergaß er seine Schmerzen, vergaß den verrückten Alten und seine eigene, ausgesetzte Situation.
Dann sammelte sich in seinem Kopf neue Energie, die Fragen stellte. Welcher Tag war heute eigentlich? Müsste er heute nicht schon wieder arbeiten? Was war, wenn er nicht rechtzeitig auf seiner Baustelle erschien? Man würde doch nachforschen, wo er verblieben war? Seine Leidenschaft für das Bergsteigen war allgemein bekannt. Aber wo würde man suchen? Und wann würde man aufhören zu suchen? Niemand wusste, dass Sebastian im Zwischbergental unterwegs war. Irgendwann würde er einfach als verschollen gelten!
Lauknitz fragte sich inwieweit Bruno Ambühel, der Schweizer Polizist, mit seinem Hiersein zu tun hatte. War er von der Felskante den Abhang hinunter gestürzt, direkt vor dessen Füße? Ließ er den unliebsamen Zeugen Sebastian Lauknitz verschwinden, indem er ihn an das Ende der Welt deportierte? Alle Fragen blieben offen.
Mit einem Mal wurde Sebastian klar, dass er die Antworten nur selbst finden konnte. Dazu musste er so rasch wie möglich wieder beweglich werden, denn irgendwie glaubte er nicht so recht an die Geschichte des Alten, dass dieser nach Hilfe geschickt hatte. Die müsste ja längst da sein! Überall auf der Welt gab es Hubschrauber, die fast jeden Ort und sei er noch so abgelegen, innerhalb von ein paar Stunden erreichen konnten. Wieso sollte ein Arzt zu ihm hier herauf kommen?
Je mehr Sebastian darüber nachdachte, gewann er den Eindruck, dass man ihn hier oben für eine Weile isolieren wollte. Aber weshalb betrieb man einen solchen Aufwand mit ihm? Welches Geheimnis war so wertvoll zu schützen, dass man einen Menschen verschwinden lässt? Eine Geheimsache von nationalem oder internationalem Interesse? Das war eher unwahrscheinlich, denn die Weltgeschichte hatte gezeigt, dass unbequeme Zeitzeugen in der Regel einfach liquidiert wurden.
Lauknitz kam zu dem Schluss, dass er zunächst die Ankunft des geheimnisvollen Arztes abwarten wollte. Trotzdem wollte er sich darauf vorbereiten, sich selbst helfen zu müssen. Irgendwie vermutete er, dass es genau darauf hinauslaufen würde.
Da Högi Balmer vermutlich noch eine Weile fort sein würde, beschloss er, seinen Rucksack durchzusehen. Einige Dinge, die ihm vielleicht noch sehr wertvoll werden könnten, wollte er vorsichtshalber den neugierigen Blicken des Alten entziehen. Zuerst band sich Sebastian mit einem alten Bundeswehrriemen seine beiden Bowiemesser und das Jagdmesser um die Hüfte. Ein wenig erschien ihm das lächerlich, denn sollte hier jemand mit einer Schusswaffe auftauchen, würden ihm das wenig nützen. Dann schob er den Kompass, den Höhenmesser und seine Taschenuhr in die Gürteltasche, die er gewöhnlich ständig bei sich trug.
Seine Kassette mit dem Gold konnte er im Moment nicht verschwinden lassen. Die verbarg er im Fußteil des Rucksacks zwischen getragenen Socken. Den Gedanken, dass der Duft der Socken neugierige Blicke abschrecken könnte, verwarf er gleich wieder. Högi Balmers Eigengeruch hing immer noch in der Luft. Ihn zumindest würde der Verwesungsgeruch Bastis Fußkleider nicht abhalten.
Das Fernglas, mit dem er noch Bruno Ambühel beobachtet hatte, konnte er nicht finden. Es war wohl bei seinem Absturz verloren gegangen. Die Schweizer Landeskarte von der Umgebung um Gondo schob sich Lauknitz in die Gesäßtasche. Er wollte sie später noch studieren. Vielleicht gab es in ihr doch noch eine naheliegende Antwort auf sein unverständliches Abenteuer.
Ebenso wie seine Papiere und seine Taschenlampe, verschwanden Sebastians Feuerzeuge in seiner Hosentasche. Es wurde reichlich eng in seinen Taschen, aber das war ihm egal. Er wusste nicht, was ihm noch bevorstand, er wollte einfach auf alles vorbereitet sein.
Etwa zehn Minuten mochten vergangen sein, er hatte seinen Rucksack bereits wieder verschlossen, als Sebastian ein seltsames Geräusch vernahm. Es klang wie das luftige Pfeifen, das Segelflugzeuge und manchmal auch Deltaflieger im Flug verursachten. Nur einen Lidschlag später huschte ein mächtiger Schatten über die Wiese vor der Hütte. Irgend etwas großes musste die Hütte überflogen haben. Doch er konnte nichts sehen, die Hütte an deren Wand er saß, verdeckte die Sicht. An die Hüttenwand gestützt versuchte er sich hoch zu rappeln, zu mehr reichte es nicht. Bei der Geschwindigkeit, mit der sich dieses Flugobjekt fortbewegte, würde er sowieso nichts mehr sehen. Statt dessen erklang plötzlich in weiter Entfernung eine Art Schrei, grässlich und furchteinflößend, etwas, das Sebastian noch nie zuvor gehört hatte. Dem Klang nach hätte es ein riesiger Vogel sein müssen. Andererseits hörte es sich aber auch wie das Brüllen eines Raubtieres an.
Lauknitz erschrak und hielt den Atem an, um besser hören zu können. Aber alles blieb still. Zu still! Jetzt fiel ihm auf, dass selbst die Vögel, die in der Umgebung munter gezwitschert hatten, plötzlich verstummt waren. Ebenso die Insekten. Ihr Summen und Zirpen war einer Totenstille gewichen, die Sebastian Angst machte. Nur der Wind ließ noch seinen monotonen Atem hören.
Was zum Himmel war das? Ein abstürzendes Segelflugzeug? Nein, der Schrei klang wie etwas Lebendiges. Vielleicht ein großer Vogel, ein Reiher etwa? Aber warum verstummte bei seinem Schrei die ganze übrige Tierwelt? Etwas Unheimliches lag in der Luft, das er sich nicht erklären konnte. Gebannt lauschte er noch eine Weile und die Zeit erschien ihm wie eine Ewigkeit.
Dann hörte er ganz weit entfernt Hundegebell. Und wie zur Aufhebung eines unsichtbaren Banns, hob das Konzert der Insekten wieder an. Sebastian wagte wieder zu atmen. Das Zirpen und Summen, das die lastende Stille ablöste, hatte den Charakter einer Entwarnung. Doch was war die Bedrohung gewesen? Innerlich verfluchte er seine Unbeweglichkeit und seine lähmende Verletzung. Seine Ausgeliefertheit wurde ihm gerade jetzt bewusst.
Indes kam das Bellen der Hunde näher. Es hörte sich jedoch nicht bösartig an, eher ausgelassen und Sebastian versuchte sich damit zu beruhigen, dass mit den Hunden auch Menschen kommen würden. Seine Skepsis aber blieb, denn woher sollte ich wissen, ob diese Menschen Freund oder Feind waren. Er redete sich ein, dass Hunde von Feinden immer bösartig klingen mussten. Was sollte er auch anderes tun? Er war seiner eigenen Situation ausgeliefert!
Sebastian mochte keine Hunde! Noch nie, und seine Abneigung gegen diese Spezies war in seinem Umfeld allgemein bekannt. Dummerweise spürten das stets auch alle Hunde. Sein ablehnendes »Weg!« und »Pfui!« animierte sie gewöhnlich erst recht dazu, an ihm hochzuspringen und seine vor Angst glühenden Wangen mit ihren rauhen Zungen zu liebkosen. Seinen jeweiligen vorübergehenden Herzstillstand schienen sie in der Vergangenheit meist nicht bemerkt zu haben.
Dieser setzte aktuell wieder ein, als zwei große, wolfsartige Geschöpfe um die Hütte gesaust kamen. Als sie ihn bemerkten, versuchten sie einen Haken in seine Richtung zu schlagen und rannten sich fast gegenseitig über den Haufen. Sie hetzten heran, warfen ihre vier Vorderpfoten auf Sebastians Schoß und bliesen mir ihren stinkenden Atem ins Gesicht.
Herzstillstand! Zu »Weg!« und »Pfui!« kam er erst gar nicht. Ihre Köpfe ruckten abwechselnd vor und zurück, sie beschnupperten ihn, als würden sie ihr Abendessen prüfen und wedelten so ausgelassen mit ihren Schwänzen, dass diese wie wild gewordene Besen gegen den kleinen massiven Tisch klopften.
Sein Herzstillstand war von so anhaltender Dauer, dass eine Reanimation eigentlich nicht mehr möglich gewesen wäre. Die Erlösung kam in Form eines dünnen Pfiffes, noch entfernt. Wie synchron geschaltete Maschinen fuhren die Hunde zurück und hetzten unschlüssig zwischen Sebastian und der Hüttenecke hin und her. Ein weiterer Pfiff, schon näher, entschied ihr Handeln. Wie ein Blitz waren sie plötzlich verschwunden.
Erleichtert konnte Basti aufatmen. Allerdings nicht sehr lange. Schon fegte das Hundepaar wieder um die Ecke, rannte sich erneut gegenseitig um und ließ wiederum seine Pfoten auf seinen zitternden Beinen ruhen. Aus den hechelnden Schnauzen hingen zappelnde, tropfende Zungen, die den Speichel zielgenau auf seine Hosen beförderten.
»Ah, habt ihr euch schon mit meinen Lieblingen angefreundet?«
Mit diesen Worten bog Högi Balmer um die Hüttenecke, einen derben Stab in der einen Hand und ein kleines dürres Lämmchen auf dem Arm. Etwas weiter hinten zog eine Schafherde in Sebastians Blickfeld.
Na der machte ihm vielleicht Spaß! Eher war es wohl so, dass Högis Köter ihn mit ihren Attacken begrüßten. Basti lächelte nur krampfhaft und hielt seinen Mund.
Der Alte setzte das Lämmchen behutsam auf den Boden. Unbeholfen tapste es seiner Herde entgegen, während sich der Alte hinkend Sebastian zuwandte. Eine Handbewegung von ihm genügte und die beiden Hunde hetzten davon, stürmten auf die Herde zu und umkreisten die Schafe, wie Cowboys ihre Rinder.
»Sind prachtvolle Tiere, die zwei, nicht wahr?« Als Basti nichts sagte, fuhr Balmer fort: »Haben sich ihr Abendessen heute mehr als verdient, waren richtige Helden, die beiden. Haben einen Gor in die Flucht getrieben. Hat mir zwei Lämmer gerissen, das Biest! Das dritte Lämmchen«, der Alte nickte in Richtung der Herde, »verdankt sein Leben Rona und Reno.«
»Sind das die beiden Hunde, Rona und Reno?«, fragte Lauknitz.
»Ja, sind doch prachtvolle Tiere, die beiden nicht..?« wiederholte sich Balmer.
Sebastian dachte an das geheimnisvolle Flugobjekt und an den Schrei und fragte:
»Ich habe so etwas wie einen Schrei gehört, war das dieser Gor, der die Schafe gerissen hat?«
Der Alte nickte nur nachdenklich und wandte sich zur Hüttentür. Aber so konnte er Basti nicht abspeisen, das wollte er jetzt genau wissen! Seine Frage, die keinen Kompromiss mehr zuließ, hielt ihn auf:
»Was ist denn eigentlich ein Gor?«
Balmer hielt inne, drehte sich zu ihm um und fragte erstaunt:
»Habt ihr denn alles vergessen?« Er wiegte seinen Kopf unentschlossen hin und her und fügte dann hinzu: »Dann wollt ihr das jetzt gar nicht wissen!«
Das Klang wie eine Feststellung, nicht wie eine Frage. Er wollte noch einmal nachhaken, doch Balmer verschwand mit einer nicht gekannten Flinkheit in der Hütte. Es war offensichtlich! Er wollte darauf nicht antworten! Erneut musste sich Lauknitz die Frage stellen: Was war hier los? Aber vielleicht wollte er es wirklich nicht mehr wissen, denn eigentlich war sein Bedarf an seltsamen Dingen an diesem Tag bereits mehr als erfüllt. Er versuchte alles Geschehene noch einmal nachzuvollziehen. Aber langsam drohte ihm der Schädel zu platzen. Das alles war einfach zu viel für einen Tag! Und wie zur Bestätigung krähte Balmers Stimme aus dem Innern der Hütte:
»Högi Balmer bereitet euch nun ein gemütliches Nachtlager. Der Tag war gewiss sehr anstrengend für euch, wenn ich nicht irre, hi, hi, hi! Mögt ihr erst einmal schlafen, morgen zeigt sich die Welt wieder in einem neuen Licht!«
Er hatte recht. Ihm fielen zwar noch nicht buchstäblich die Augen zu, dennoch war Sebastian sehr müde. Ausgelaugt, kraftlos. Außerdem konnte er nichts weiter tun, als abwarten. Vielleicht würde sich morgen alles aufklären!
Högi Balmer rumorte noch eine Weile in der Hütte. Rechtzeitig zum Sonnenuntergang erschien er wieder im Türrahmen. Glutrot versank die Sonne hinter den Bergen auf der anderen Talseite. Kupfern glühten die eisbedeckten Flanken im letzten Licht des Tages. Kein Vogel war mehr zu hören, selbst die Grillen unterbrachen ihre Symphonie, als galt es, andächtig und würdig den Tag zu verabschieden.
Dann glomm nur noch ein letzter Schein an den vereinzelten kleinen Wolken, die wie einsame Schafe am Himmel zogen. Augenblicklich wurde es kühl und Sebastian fror. Gleichzeitig begannen die Grillen ihr Nachtkonzert, nur hin und wieder unterbrochen vom fernen Muhen einer Kuh oder dem Blöken eines Schafes.
Peinlich berührt bedeutete Basti dem Alten, dass er sich noch einmal zum See oberhalb der Hütte hinauf begeben musste. Der hielt das scheinbar für ganz normal, hakte Sebastian unter, half ihm hoch und führte ihn vorsichtig um die Hütte. Als sie die Alpweide oberhalb der Hütte erreicht hatte, musste Basti noch einmal staunen: Die Wiesen um den halben See herum wurden von einer großen Herde bevölkert. Ziegen, Schafe, Kühe und zwei Pferde oder Maulesel konnte er schemenhaft erkennen. Der silberne Mond hüllte alles in einen friedlichen, märchenhaften Schein. Ein paar Kühe glotzten sie dumm und verwundert an, als sie den Pfad zum Plumpsklo abwärts stiegen.
Dieser letzte Spatziergang hatte Sebastian dann so angestrengt, dass er kommentarlos auf das weiche Lager in der Hütte fiel, das ihm Väterchen Balmer extra in einer Ecke hergerichtet hatte. Basti registrierte noch, dass sein Rucksack an das Kopfende gelehnt stand, dann entführte ihn die bleierne Müdigkeit ins Land der erlösenden Träume.
  Wichtiger Hinweis: Die Texte des Autors Frank Adlung, insbesondere die des Romans "Das Geheimnis von Val Mentiér", sind durch notarielle Hinterlegung urheberrechtlich geschützt. Ein Herunterladen und Ausdrucken ist nur für den privaten Zweck des Lesens gestattet. Kommerzielle Nutzung, öffentlicher Vortrag, oder Vervielfältigung und Verfälschung des Inhalts, sowie öffentliche Verbreitung ohne Genehmigung des Autors sind untersagt und werden zur Anzeige gebracht.
                     
 
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