Das Geheimnis von Val Mentiér
 
7. Kapitel
 
Falméras Medicus
 
ls er am Morgen erwachte, lag Sebastian Lauknitz zunächst eine Weile bewegungslos da, versuchte sich zu erinnern, was geschehen war und hoffte aus tiefstem Herzen, dass alles nur ein böser Traum gewesen war, aus dem er nun erlöst werden würde. Doch sehr schnell gewahrte er wieder den muffigen Geruch der alten Hütte. Der Alptraum war noch nicht vorüber. Schlimmer: Es war gar kein Traum! Seine Erinnerungen von gestern waren die Wirklichkeit! Wie sehr hatte er gehofft, in seiner Wohnung aufzuwachen, den Wecker auszustellen und sich für die Arbeit fertig zu machen. Statt dessen lag er wiederum auf einem nach Moder riechenden Lager, spürte jeden Knochen in seinem Körper und hatte erneut ein dringendes menschliches Bedürfnis.
Wieder war es stockdunkel, bis auf den winzigen Schimmer einfallenden Lichts, der ihn mehr blendete, als dass er ihm zum Sehen verhalf. Sebastian erinnerte sich an seinen Rucksack am Kopfende des Lagers und tastete nach seinem Eispickel. Er zog ihn aus der Schlaufe, stützte sich darauf und versuchte sich von der Schlafstatt zu erheben. Eine Bombe schien ihm in Rücken und Brust zu explodieren. Der stechende Schmerz trieb ihm Tränen in die Augen und übertrumpfte die Schmerzen in den Beinen, in den Armen, in der Schulter...
Er kam zu dem Schluss, dass es wohl einfacher war, festzustellen, welcher Teil seines Körpers nicht schmerzgepeinigt war. Mit zitternden Knien schob er sich vorsichtig durch die Hütte, dem Lichtschimmer entgegen. Anstelle eines Türschlosses konnte er nur einen groben Riegel ertasten, der sich mit einem knallenden Geräusch anheben ließ.
Augenblicklich stand Sebastian in flutendem Sonnenlicht, sah auf eine in allen Farben blühende Almwiese, auf dunkelgrüne Tannenwälder und auf mächtige, schneebedeckte Berge, die an Höhe selbst den Himalaya zu übertrumpfen schienen. Das Panorama, das ihn bereits gestern beeindruckte, lag wie gewaschen im Glanz des klaren, neuen Tages. Ein leichter warmer Wind trug den würzigen Duft von Blüten, Heu und Wald herüber. Die Insekten ließen bereits ihr vielstimmiges Summkonzert hören und eigentlich konnte es keinen friedlicheren Ort geben, wären da nicht immer noch diese bohrenden Fragen: Was war passiert, wo war er hier und wie kam er hierher?
An den Türrahmen gestützt sah er sich um. Von dem Alten war nichts zu entdecken. Sicher betreute er seine Herde. Basti konnte wohl auch kaum annehmen, dass Högi nichts besseres zu tun hatte, als den lieben langen Tag darauf zu warten, bis sich sein Pflegegast vom Krankenlager erhob. Also hatte Sebastian nun das Problem, selbstständig die Toilette zu erreichen. Dabei trieb ihm schon der Weg durch die Hütte den Schweiß auf die Stirn. Verzweifelt suchte er nach einem längeren Gegenstand, als dem Eispickel, auf den er sich stützen konnte. Doch es war nichts Brauchbares zu entdecken.
»Ihr schlaft lange in den Tag, Herr!« Die Stimme des Alten unterbrach plötzlich den Frieden des Morgens. »Habt gut geschlafen, wenn ich nicht irre. Wartet, Väterchen Balmer wird euch jetzt helfen. Müsst euch wieder erleichtern, was?«
Wie aus dem Nichts war er in Sebastians Rücken am Hüttenanbau aufgetaucht. Er stützte sich auf seinen Hirtenstab und hielt in der anderen Hand zwei krumme Holzstangen.
»Diesmal schafft ihr den Weg allein, Herr, Vater Balmer hat euch ein paar Stützen gebaut«, dabei hob er die rohen Holzstangen an. Er humpelte heran und wäre Basti in besserer Verfassung gewesen, hätte er lachen können. Denn bei seinem Gang hätte Balmer die Stützen selbst gut gebrauchen können. Dankbar nahm Sebastian die hölzernen Teile entgegen. Überraschenderweise entpuppten sie sich als sehr brauchbar und äußerst bequem. Ihr kruckeliges Aussehen hatte Sinn! Etwas oberhalb der Mitte waren sie etwas S-förmig gebogen, so dass man sich mit den Händen darauf stützen konnte. Von der Länge her passten sie genau unter seine Arme. An den oberen Enden hatte Balmer zwei Querhölzer als Auflagen angebracht und mit Fellstücken überzogen. Ein Orthopäde hätte die Gehhilfen nicht perfekter entwerfen können.
Lauknitz nahm die Gehhilfen und stolzierte ein paar Mal damit auf und ab. Balmer freute sich wie ein kleines Kind an Weihnachten, als er sah, dass ihm die Hölzer eine große Hilfe waren. Er klatschte sich vor Freude mit den Händen auf die Schenkel, bis er in eine Staubwolke gehüllt war, die sein schmutziger Umhang freisetzte. Dazu ließ er sein meckerndes Lachen hören. Irgendwie erinnerte er Sebastian an den Zwerg Albrecht aus der Nibelungensage.
Ungeduldig bedeutete ihm Sebastian, dass er dringend zu einem bestimmten Ort müsste. Balmer verstand sofort und rief ihm froh nach: „Geht nur, geht nur, ihr kennt ja den Weg!“
Trotz der Krücken, mit denen er sich nun besser fortbewegen konnte, lähmten ihn viehische Schmerzen, sogar das Atmen fiel ihm schwer. Inständigst hoffte er darauf, dass der von dem Alten angekündigte Arzt bald auf der Alm auftauchen würde. Aber da waren wieder diese Zweifel, ob der nicht ebenso Balmers Phantasie entsprungen war, wie dieser seltsame Vogel, den er „Gor“ nannte. Sebastian musste sich zur Ruhe zwingen und die Ankunft des Arztes abwarten. Etwas anderes konnte er im Moment nicht tun.
Die Sonne brannte vom azurblauen Himmel und er stakste unter ihrer Glut den Pfad hinauf. Rechts, an ein paar kleinen Felsen entdeckte er etwas besonderes im hohen Gras: Leontopodium, Edelweiß! Die Blume, die im Wallis bis auf ein paar ihm bekannte Stellen so gut wie ausgestorben war; hier wuchs sie so zahlreich und groß, dass er beinahe sein dringendes Vorhaben vergaß. Dicht an dicht leuchteten die dollargroßen, weißen Sterne aus dem Almgras hervor. Solche großen Blüten konnte Sebastian bisher bei einem Edelweiß nirgendwo sonst beobachten. Diese Entdeckung gab ihm plötzlich neuen Mut, seine skurrile Situation zu ertragen. Er setzte seinen Weg mit etwas mehr Zuversicht fort.
Später saß Lauknitz in der Sonne am Felsen nahe dem hochalpinen Wasserklosett und ärgerte sich über seine eigene Unüberlegtheit. Weder hatte er seinen Tabak und seine Pfeife mitgenommen, noch hatte er an Waschutensilien oder Rasierzeug gedacht. Am See in der Senke gab es ein paar geeignete Stellen, an denen sich selbst ein Invalider hätte waschen können. Und seine Pfeife hatte er seit seiner Abfahrt in Braunschweig nicht benutzt. Zu hektisch waren die letzten Tage gewesen.
Sebastian raffte sich auf und ging den Pfad zurück. Als er die Hütte wieder erreichte, war von Balmer nichts zu entdecken. Auch die Hunde oder die Herde konnte er nirgends erspähen. Friedlich und verlassen lag alles im Glanz der Sommersonne. Basti nahm eine Plastiktüte aus seinem Rucksack, warf sein Waschzeug und die Tabaktasche hinein und wollte den Reißverschluss gerade zuziehen, da fiel ihm sein Kästchen mit dem Gold ein...
Das konnte nicht im Rucksack bleiben! Woher sollte er wissen, was ihn hier noch erwarten würde? Vielleicht kam der Arzt mit einem Stab von Polizisten daher, die möglicherweise seinen kleinen Schatz beschlagnahmen würden? Kurzentschlossen nahm er eine kleine Felltasche, die er an der Wand entdeckte und verstaute neben dem Waschzeug und dem Tabak auch seine Kassette darin. Irgendwo zwischen den Felsen wollte er sie verstecken, oder eingraben. Rasch steckte er sich noch meine beiden Bowiemesser in den Gürtel, hängte sich Balmers Felltasche um und verließ die Hütte.
Zwanzig Minuten später saß er wieder am sonnenbeschienen Felsen, zündete sich eine Pfeife an und nahm das Gelände bis hinunter zum See in der Senke in Augenschein. Nahe der Stelle, wo der Bach in den See mündete, erhoben sich einige Felsen in der Alplandschaft. Wie eine natürliche Burgfestung ragten sie etwa dreißig Meter über der Mündung auf. Dahinter verloren sie sich in einem Wirrwarr aus wahllos hingewürfelten Felsbrocken. Selbst die Schneeschmelze im Frühjahr würde dieser kleinen Bastion nichts anhaben können. Wenn Sebastian dort einen geeigneten Platz finden würde...
Entschlossen klopfte er seine Pfeife aus, steckte sie ein und stelzte mit den neuen Gehhilfen den Hang hinab zum See. So besessen war er von dem Gedanken, sein Gold in Sicherheit zu bringen, dass er beinahe schon die Schmerzen nicht mehr spürte. Die riefen sich aber um so deutlicher in Erinnerung, als er zwischen den Felsen herumstieg. Jedes Hinaufstemmen oder Festhalten wurde zur Qual. Die Gehhilfen machten die Aktion auch nicht leichter, im Gegenteil. Wo sie ihm auf den Grashängen halfen, behinderten sie ihn jetzt. Doch irgendwo liegen lassen wollte er sie auch nicht.
Fast wollte er sein Vorhaben schon aufgeben und vor dem stechenden Schmerz in Brust, Hüfte und Beinen kapitulieren, als er den perfekten Platz für seine Kassette fand: Zwischen den auserodierten Felszacken entdeckte Sebastian eine Stelle, die mit kurzem Gras bewachsen war. Ringsum türmten sich Felsblöcke und ein mächtiger, abgeflachter Brocken überdeckte eine kleine, gerade mal fünfzig Zentimeter große Nische. Staub und kleine Steinchen lagen auf dem trockenen Boden. Vorsichtig kratzte Lauknitz mit dem Bowiemesser den Boden aus, legte eine passende Felsschuppe hinein, umwickelte sein Kästchen mit der Plastiktüte und stellte es darauf. Dann stopfte er kleinere Felsbrocken wie ein Puzzle vor die kleine Grotte.
Plötzlich drang Hundegebell an sein Ohr, gerade, als er einen großen, flachen Felsblock zur Sicherung vor die verbaute Grotte wuchten wollte. O nein, Balmers Hunde! Und wo die sich herumtrieben, konnte der Alte auch nicht weit sein. Wahrscheinlich war Balmer zur Hütte zurückgekehrt, hatte sein Fehlen bemerkt und Rona und Reno auf die Suche nach ihm geschickt. Lauknitz hasste diese stinkenden Mistköter! Stets ging er allen Hunden aus dem Weg, doch die Möglichkeit schien ihm hier nicht vergönnt.
Jeden Augenblick rechnete er damit, dass diese Viecher wie der Blitz durch die Felsen gesaust kamen. Jedoch wusste er auch, dass der alte Balmer niemals in der Lage sein konnte, ihnen so rasch zu folgen. Basti legte seine ganze Kraft in die Anstrengung, das Felsungetüm vor die verbaute Grotte zu wuchten und schaffte es mit unsagbaren Schmerzen in der Seite. Das hätte er lieber nicht tun sollen! Die Sicherheit seines Eigentums schien es ihm jedoch wert zu sein. Dann griff er mit bloßen Händen Erde, Staub und kleines Geröll und warf es zwischen die Felsplatte und den Grotteneingang. Obenauf setzte er Moos, das er aus einer anderen Nische riss. Wenn es anwachsen würde, war es ein zuverlässiges Zeichen dafür, ob jemand sein Versteck entdeckt hatte. Eigentlich war es paradox, was er tat. Schon wieder versteckte Sebastian Lauknitz seine Goldmünzen, etwas, das er selbst vor noch nicht ganz einer Woche für hoch idiotisch erklärt hatte und das ihn ja erst in diese Lage gebracht hatte, in der er sich befand!
Als er die Hunde des Alten über den Hügel hetzen sah, war es ihm bereits gelungen, vom Felsen an den See zu kommen. Seinen Schmerz verbiss er sich und tat so, als ginge er froh seiner Morgentoilette nach. Doch selbst, als die Hunde ihn fast erreicht hatten, war von Högi Balmer noch nichts zu sehen. Sebastian hoffte nur, dass diese dämlichen Tölen nicht witterten, wo er gewesen war und ihn verraten würden.
Aber die hatten ganz anderes im Sinn. Wie zwei von einer Sehne geschnellte Pfeile schossen sie auf Basti zu, umkreisten ihn mit freudigem Gebell und dem üblichen Schwanzgewedel. Aha, das war wohl in ihrer Sprache der Ausruf: „Hallo Herrchen, hierher, wir haben ihn gefunden!“ Glücklicherweise blieben ihm diesmal ihre rauhen, nassen Zungen im Gesicht erspart.
Ihre Aufgabe, den Pflegegast zu finden, war für sie anscheinend damit erledigt. Plötzlich war Sebastian nicht mehr von Interesse. Statt dessen rasten sie wie Kometen auf den See zu und schlugen spritzend auf der Wasseroberfläche auf. Sie tollten ausgelassen im Wasser umher und Basti gewann den Eindruck, dass sie geradezu froh waren, ihn am See entdeckt zu haben. Er gestand sich ein, dass er eher dankbarer dafür war, dass sie sein Versteck nicht gewittert hatten.
Endlich kam Väterchen Balmer den Hang herabgehumpelt. „Ah, ihr seid sehr reinlich, Herr!“ Kaum, dass er Luft holen konnte, prustete er seine Bemerkung heraus. Ein wenig ärgerte Sebastian Högis aufdringliche Verfolgung, obwohl ihm klar war, dass er dem Alten zu großem Dank verpflichtet war.
„Habt ihr euch um mich gesorgt, oder habt ihr den Auftrag mich zu bewachen?“ Sebastian wusste, er hätte ihm diese Frage so nicht stellen sollen, doch in seiner Erregung platzte er einfach damit heraus und augenblicklich tat ihm sein Verhalten leid.
Aber Balmer schien den sarkastischen Unterton gar nicht zu bemerken: „Väterchen hat sich um euch geängstigt, Herr, doch scheint ihr wohlauf zu sein, hi, hi, hi!“
„Na was sollte mir in dieser friedlichen Welt hier bei euch schon geschehen,“ gab Sebastian provokativ zurück, „hier gibt es doch nur eure Herde, die Hunde und... Gors.“ Wenn er glaubte, der Alte würde darauf eingehen, so hatte er sich getäuscht.
„Ja, ja, Gors,“ erwiderte Högi nur gleichgültig und fügte mahnend hinzu: „Und Felsenbären!“
„Ach, Felsenbären..?“ Sebastian sah Balmer erstaunt und fragend an. „Gibt es da vielleicht noch einige andere unfreundliche Wesen, vor denen ich auf eurer Alm auf der Hut sein sollte?“ Sein Sarkasmus, der schon Viele zur Verzweiflung getrieben hatte, fruchtete bei Balmer jedoch überhaupt nicht. Er schien seine Worte mit der Blauäugigkeit eines Kindes hinzunehmen.
„Ja Herr, alle die, welche eure Gedanken in der Welt der Toten vergessen haben: Gore, Felsenbären, Eishunde, Robrums und manchmal können auch Elsiren einem Menschen Schaden zufügen. Nur Sonnenherz nicht, sie ist die einzige, die ihre Angriffe nicht zu fürchten braucht, denn sie spricht mit ihnen! Nur vor den wilden Horden ist auch sie nicht sicher. Vor ihnen seid ihr bei Väterchen Balmer aber gut aufgehoben, sie kommen nicht so weit herauf, sie fürchten die Berge und ihre Bewohner. Doch wenn ihr erst einmal Torbuk und Karek begegnet...“
„Halt, stopp, genug!“ Mit einer ausholenden Handbewegung unterbrach er Balmer in seinem Redefluss, der eine ganz neue Eigenart von ihm zu sein schien. „Das reicht, nicht alles auf einmal, da muss ich erst mal dran längs kommen!“
„Dran was müsst ihr kommen, Herr?“ Der Alte stand nun seinerseits mit fragendem Blick vor ihm. An dieser Stelle wurde Sebastian endgültig bewusst, dass sie zwar in fast der gleichen Sprache kommunizierten, sich aber dennoch nicht verstanden. Högi konnte mit seiner ziemlich schnodderigen Umgangssprache nicht viel anfangen und Sebastian begriff kaum etwas von dem, was dieser ihm von seiner Welt vermitteln wollte, die offenbar nur in seinem kranken Kopf existierte. So kamen sie auf Dauer gesehen nicht weiter!
Resigniert winkte Basti ab. „Hört, Vater Balmer“, fuhr er ruhig fort, „es interessiert mich nicht, was hier alles so sein Unwesen treibt. Ich warte hier nur auf euren Arzt und will so rasch wie möglich wieder nach Hause, versteht ihr?“
Der Alte zuckte mit seinen gebeugten Schultern und sah ihn verständnislos an. Lauknitz spürte, dass sie sich gern hatten, etwa so, wie ein Enkel seinen Großvater, aber zwischen ihnen stand die Tatsache, dass sie kaum etwas miteinander anzufangen wussten. Zu verschieden waren ihre Welten, glaubte Sebastian. Und er ahnte ja noch gar nicht, wie wörtlich sich dieser Gedanke bewahrheiten sollte...
Eine Weile sahen sie sich an ohne etwas zu sagen. Dann brach Balmer das Schweigen und es klang ein wenig nach einer hergesuchten Hinhaltetaktik:
„Ihr braucht nicht mehr zu warten, Herr, der Medicus wird hier sein, wenn die Sonne ihren höchsten Stand überschritten hat.“ Er sagte das mit einer so ruhigen Selbstverständlichkeit, als würde der Arzt in Rufweite nur darauf warten, dass Balmer ihm ein Zeichen gab. Sebastian wusste nicht, was er davon halten sollte. Erst war es ganz ungewiss, wann dieser Doktor hier aufkreuzen würde und nun sollte er sie schon in drei Stunden mit seiner Anwesenheit überraschen.
„Nun“, gab Basti wie ganz natürlich zurück, „dann habe ich ja noch etwas Zeit, meine Körperpflege zu beenden, oder?“ Insgeheim hoffte er, dass sich Balmer mit seinen Worten dazu bewegen ließ, ihn eine Weile allein zu lassen. Wer wusste schon, ob er mit seiner Ankündigung nicht doch Recht behalten würde und dieser lang ersehnte Arzt endlich eintrudeln würde. Wie ein Ferkel wollte Sebastian ihm denn doch nicht unter die Augen treten! Seine letzte Dusche lag mindestens vier Tage zurück. Selbst für einen Doktor in dieser Umgebung konnte das nicht unbedingt angenehm sein.
„Schön, schön, frönet nur ausgiebig dem klaren, kalten Wasser, wenn es euch beliebt, Vater Balmer sieht derweil nach seinem Vieh!“ Damit wandte er sich zum Gehen. Ohne sich umzublicken rief er noch über die Schulter: „Ich lasse euch Reno und Rona da, Herr, sie werden auf euch Acht geben, sind gute Tiere, die beiden.., gute Tiere!“
Aha, das hatte ihm noch gefehlt! Acht geben! Ihn kontrollieren und bewachen, oder was hieß das, auf ihn Acht geben? Diese beiden Drecksköter waren doch Balmers verlängerter Arm! Wenn sie auch nur blöde Hunde waren, verborgen blieb ihnen mit Sicherheit nichts, was er tat. Er sah noch, wie der Alte den Biestern am anderen Seeufer etwas zurief, so, wie man einem Lehrling befiehlt, einen Eimer Wasser zu holen. Augenblicklich kamen die Hunde aus dem Wasser heraus. Sie schüttelten so kräftig die Nässe aus ihrem Fell, dass um sie herum ein kleiner Regenbogen entstand. Als wäre es das Normalste der Welt, trotteten sie gleich darauf am Ufer entlang, zu Sebastian zurück. Wie zur Bestätigung, dass sie nun bei ihm bleiben würden, tänzelten sie kurz schwanzwedelnd um ihn herum. Dann legten sie sich in einiger Entfernung in die Sonne und nahmen scheinbar keine Notiz mehr von ihm. Fast hatte er den Eindruck, dass sie sich freuten, dass ihnen der Alte eine so leichte und bequeme Aufgabe gegeben hatte. Aber was tat er denn da? Sebastian sprach diesen stinkenden Kläffern menschliche Empfindungen zu! Begann er jetzt selbst schon durchzudrehen? Das waren Hunde, ganz gewöhnliche, ordinäre, mit schwarzem Fell überzogene lästige Kreaturen, die ihm hier so rein gar nichts nützten!
In aller Ruhe genoss Sebastian das frische Wasser. Nackt ließ er sich hineingleiten, um sich gründlich abzuseifen. Es war allerdings so erbärmlich kalt, dass sich alles in ihm zusammenzog. Das Unangenehmste war, sich in dieser eisigen Flüssigkeit die Haare zu waschen. Beinahe blieb sein Herz stehen, als er den Kopf unter Wasser tauchte. Mit gnadenlosen Klammern hielt ihn das Gletscherwasser umfangen. Wie sehr sehnte er sich nach seiner wohl temperierten Dusche in seiner kleinen Wohnung! Zwangsläufig drängte sich ihm die Frage auf, wie Balmer im Winter seine Körperreinigung vollzog. Bei dem Duft, den er ausströmte, war das jedenfalls schon im Sommer äußerst selten.
Nach seiner Waschaktion fühlte sich Lauknitz schon wesentlich besser, obwohl die Schmerzen an seinen lädierten Körperteilen zugenommen hatten. Dankbar für etwas Ruhe setzte er sich an die warmen Felsen. Die Sonne hatte sie angenehm aufgeheizt. Sebastian stopfte seine Pfeife neu und blies graue Wölkchen in den blauen Himmel.
Rona und Reno lagen friedlich in der Sonne und rührten sich nicht. Lediglich ihre spitzen Ohren stellten sich bei jedem Geräusch wie Parabolantennen auf und suchten drehend nach der Ursache. Friedlicher konnte es nicht sein und es erinnerte Sebastian an einen Tag, als Janine noch lebte. Sie waren im Wallis unterwegs und biwakierten auf einer Almweide ähnlich dieser hier und saßen genauso an einem See an die Felsen gelehnt. Oft nach Janines Tod wünschte er sich dorthin zurück. Jetzt war er genau wieder an so einem Ort der Ruhe und des Friedens. Nur waren anstatt seiner Janine zwei hechelnde, sabbernde Vierbeiner bei ihm. Dennoch ließ er seinen Erinnerungen freien Lauf.
Janine hatte damals solche Momente insbesondere gegen Abend sichtlich genossen. Sie waren ihr Offenbarung. Sebastian glaubte, er verstand es damals nicht so recht. Doch mittlerweile um so mehr. Es ist dieser absolute Frieden, der sich nach eines Tages Tat herabsenkt, zur Besinnung ruft und einem zufriedenen Gefühl Raum lässt. Einer Empfindung, die einem bewusst werden lässt, dass man diesen Tag gelebt hat. Wie ein stilles Gebet schweigt dieser Moment, um für diesen Tag zu danken. Auch, um zu ergründen, was dieser Tag nachhaltig für jeden selbst bedeutet. Wer viel einsam in den Bergen unterwegs war, kennt diesen Augenblick und schätzt ihn heilig. Niemals wird so jemand auf den Einfall kommen, diese Minuten mit lautem Geplapper oder hektischem Tun zu stören. Leider sind es nur wenige, die diese Erfahrung im Herzen tragen.
Zweimal war er mit Janine an solchen Orten gewesen. Jedes mal war es etwas Besonderes, dort zu biwakieren. Warum solche Orte für ihn inzwischen beinahe mystischen Charakter besaßen, wusste er nicht. Es war eine Empfindung, die sich im Laufe der Jahre in ihm eingeprägt hatte. So etwas entsteht einfach, ohne dass man eine Erklärung dafür hat. Es ist etwas, das in einem wohnt, Bestand über die Zeit hinweg hat und niemandem sonst zugänglich ist. Es ist wie eine Verbindung zwischen dem Ort und dem Herzen, die man spüren kann, nicht jedoch sehen oder hören.
Im Geiste sah er Janine wieder vor sich. Sie trug ihr knallgelbes, weit ausgeschnittenes, leichtes Minikleid mit Spaghettiträgern, das Sebastian ihr in einer Grächner Boutique gekauft hatte. Ihm schwanden fast die Sinne, wie er sie so vor sich sah, in dem knappen, wehenden Kleidchen, an dem sie auch noch wie zufällig einige der oberen Knöpfe offen gelassen hatte. Es gelang ihm nicht, sich ihrem verführerischen Blick zu entziehen.
Auf dieser einsamen, weltvergessenen Alpweide, in frühabendlicher Windstille verloren sie beide die Beherrschung. Lediglich das gelbbraune Steilhanggras, die lichten, sie umgebenden Arven und die friedlich singenden Vögel wurden Zeugen, wie sie die Gewalt über ihre Sinne verloren und sich einfach ihren Gefühlen hingaben und ihren geheimsten Wünschen freien Lauf ließen. Ihr Rucksack blieb liegen, wo er hinfiel und sie schwebten in unbeschwerter Selbstvergessenheit. Mit leisem, unscheinbarem Rascheln floss Janines Kleid ins Gras. Die Sonne senkte bereits leicht ihre Lider, ließ ihr warmes Licht zwischen langen Schatten über das weite Grasland gleiten und umschmeichelte zwei nackte, aufgeheizte Körper mit weicher Wärme. Die Bäume ringsum schwiegen, das kurze, trockene Gras zitterte leicht im fächelnden Abendföhn und das rotgoldene Licht der frühen Dämmerung floss an ihren Körpern herab und ließ sie kupfern schimmern. Dann hörte Basti nur noch ihren jagenden Atem, das Summen der Insekten und Janines hauchende Stimme: »Glaube daran.., wir sehen uns wieder.., drüben.., irgendwann. Ich liebe Dich...« Immer und immer wieder hörte er sie sagen: Ich liebe Dich! Und jedes Mal drang es lauter an sein Ohr, es steigerte sich, bis es so klang, als würde es ihm Janine mit all ihrer Kraft in sein Bewusstsein schreien...
Nein, es war Bellen. Wirkliches Bellen von Hunden! Sebastian war eingeschlafen! Als er zu sich kam, gewahrte er gerade noch, wie Rona und Reno aufgeregt bellend den gegenüberliegenden Hang hinaufstürmten. Was hatten sie nur gehört oder gewittert, was sie so in Aufregung versetzte? Mit der flachen Hand schirmte Basti seine Augen vor dem Sonnenlicht ab und spähte zum Hang hinauf, wo die beiden Hunde gerade laut kläffend seinem Blick entschwanden.
Aber so sehr er sich auch bemühte, es war nichts zu erkennen. Friedlich und verlassen lag die Alplandschaft vor ihm. Ein wenig war er schon froh, die beiden Köter endlich los zu sein. Wer weiß, was mit denen war! Vermutlich hatte Balmer sie gerufen. Hunde, das wusste er, können noch Töne hören, die Menschen akustisch gar nicht mehr wahrnehmen. Sebastian wollte gerade die Felltasche aufnehmen und zur Hütte zurück gehen, da erschien jemand oben auf dem Hügelkamm, genau an der Stelle, wo er den Blickkontakt zu Rona und Reno verloren hatte.
Er war so überrascht, dass er zunächst gar nicht reagierte. Eines aber war ihm sofort klar: Diese Person dort oben war nicht Högi Balmer! Wer immer es war, er schien sich hier gut auszukennen. Ohne sich weiter orientieren zu müssen, kam er zielstrebig in Sebastians Richtung herabgeschlendert. Eilig schien es sein Besucher nicht zu haben. Dass es ein Mann war, erkannte Lauknitz bereits an seinem Gang. Die Hunde kamen jedoch nicht zurück, worüber er natürlich keineswegs traurig war.
Gespannt wartete er auf den plötzlichen Besucher. Vielleicht hatte er ein Funkgerät dabei, oder wusste zumindest, wo sich das nächste Telefon befand. Augenblicklich durchfuhr ihn ein Schreck! Was, wenn dies dort Bruno Ambühel war? Basti beobachtete den Herannahenden und beruhigte sich gleich wieder. Die ganze Statur des Fremden passte nicht zu dem Berner Polizisten. Dieser hier war schlanker und hatte einen leichteren Schritt. Bruno Ambühels Schritt kannte er. Schließlich hatte er einige Stunden damit zugebracht, seine Gangart eingehend zu studieren! Sein Besucher musste Sebastian inzwischen gesehen haben, er winkte mit dem Arm herab und beschleunigte seinen Gang. So, wie es aussah, hatte er nichts bei sich: Keinen Rucksack, keinen Wanderstock, nicht einmal zusätzliche Kleidung. Er konnte also kaum von sehr weit her kommen. Möglicherweise der Wirt einer nahegelegenen Clubhütte oder eines Bergrestaurants? Basti stützte sich bequem auf seine Gehhilfen und erwartete sein Näherkommen.
In wenigen Minuten stand der Fremde vor ihm. Ein gutaussehender, sportlicher Mann in ungefähr Sebastians Alter, jemand, den man vom Aussehen her als einen „Frauenschwarm“ bezeichnen würde. Er hatte kurze, etwas ungepflegte, braune Haare und ein freundliches, fast jungenhaftes Gesicht, aus dem ihn zwei große, ehrliche Augen anstrahlten. Dieser Mensch schien ihm vom ersten Augenblick an sympathisch. Sein Dreitagebart verlieh dem Fremden den Charakter eines lässigen, unbeschwerten Abenteurers. Ein unzerstörbares Lächeln begrüßte Basti. Der Schalk stand dem Ankömmling im Gesicht und überschrieb die deutlichen Zeichen, die von der Reife und Erfahrung eines Mannes erzählten.
»Ah, da seid ihr ja, seid gegrüßt unter dem blauen Himmel Volossodas.« Der Fremde reichte Sebastian zur Begrüßung seine Hand und fuhr fort: »Väterchen Balmer berichtete mir bereits, dass ihr euch gut erholt habt und schon einen Lieblingsplatz hier oben habt.« Dabei huschte ein überlegenes Grinsen über sein Gesicht. Doch selbst das konnte Basti nicht den Schrecken nehmen, der ihm bei der Begrüßung dieses fremden Mannes in die Glieder fuhr!
Zwei Umstände passten ganz einfach nicht zu diesem Menschen, in dem er bereits seinen Retter sah: Er sprach genau so in der seltsamen Sprache und in der dritten Person, wie Högi Balmer. Seinem offenen und unbeschwerten Auftreten zufolge hoffte Lauknitz mit der Assoziation auf eine moderne Ausdrucksweise einem normalen Menschen zu begegnen, nicht jedoch einem neuen, jüngeren Almöhi.
Die zweite Tatsache, die ihn an diesem Mann zweifeln ließ, war seine Kleidung. Sie wurde Sebastian erst beim zweiten Hinsehen bewusst. Wo er eine normale Jeans erwartet hatte, trug dieser Mensch eine naturweiße, grobe Leinenhose. Ihr Stoff glich der einer mexikanischen Landarbeiterhose, die Basti aus Spielfilmen kannte, während ihr Schnitt ihn sehr an eine Strumpfhose erinnerte. Seine Füße steckten in einfachen, kurzen Lederstiefeln, die eigentlich eher einem mittelalterlichen Hofnarren gehören sollten. Sie liefen vorn spitz zu und neigten sich etwas in die Höhe, während ihr Schaft aus weichem, dünnerem Leder zu bestehen schien, den er nach unten hin umgekrempelt hatte.
Sein Hemd, das er über den Bund trug und das aus dem gleichen Material bestand, wie seine Hose, erinnerte vom Aussehen her an die Pioniere aus dem Amerika des siebzehnten Jahrhunderts. Ein breiter, fellbesetzter Ledergürtel zog das Hemd um die Hüfte zusammen. An ihm baumelten mehrere bunte Beutel aus Stoff oder Leder, sowie zwei kleine Kürbisflaschen. Solche Flaschen hatte Sebastian zuletzt als Kind bei seinen Großeltern gesehen. An der Seite steckte ein mittelgroßer Dolch mit Holzgriff im Gürtel des Besuchers. Eine nierenlange Schaffellweste rundete das skurrile Bild ab.
Lauknitz war bemüht, sich seine Überraschung nicht anmerken zu lassen. Andererseits war er über dieses Erscheinungsbild dermaßen perplex, dass ihm schlicht die Worte fehlten. Genau so ungläubig, wie er Högi Balmer angesehen hatte, betrachtete er diesen Mann, der aber zumindest augenscheinlich wesentlich intelligenter wirkte.
Als Lauknitz nicht gleich auf seine Begrüßung reagierte, ergriff der Fremde erneut das Wort: »Ihr scheint überrascht zu sein, mich zu sehen...« Er sah Basti eine Weile erwartungsvoll an, bevor er verstehend nickte: »Nun, ich bin Arzt und möchte Euch helfen. Die meisten hier nennen mich Falméras Medicus oder Doktor, es gibt aber auch genug andere, die weniger rücksichtsvoll sind, was die Bezeichnung meiner Zunft angeht. Ihr müsst wissen, dass die meisten Menschen hier mit ihren Leiden zu irgendwelchen Heilern oder Kräuterweibern gehen, die dann wochenlang daran herumexperimentieren und sich von ihren Anbetern aushalten lassen.«
»Und ihr seid ein richtiger, studierter, promovierter Arzt?« Mit dieser Frage sah ihn Sebastian herausfordernd an. Sein Grinsen verbreiterte sich noch, als er antwortete:
»Ja sicher, aber meine Urkunde habe ich nicht mitgebracht. Wenn ihr die sehen wollt, müsst ihr euch schon nach Falméra bemühen. Aber alles zu seiner Zeit. Jetzt wollen wir erst einmal sehen, wie ich euch wieder gesund bekomme.«
Die Skepsis in Sebastian wurde stärker. Irgendwie passte alles nicht zusammen. Ein in mittelalterliche Lumpen gekleideter Arzt, der promoviert haben will, sich jedoch einer Sprache bediente, als wäre er ein Gesandter des ehemaligen Österreichischen Kaisers... Was sollte er von alledem halten? Basti wollte das jetzt wissen und drängte nach:
»Nehmt es mir bitte nicht übel, Herr Doktor, aber, wenn es euch nichts ausmacht, mir eine Frage zu beantworten: Wo und wann habt ihr eigentlich studiert und wo und wann habt ihr eure Doktorarbeit geschrieben?« Das musste ihn nun doch ins Schleudern bringen, dachte Lauknitz... Dachte er aber auch nur! Diese Frage schien den Medicus nicht im mindesten zu verunsichern.
»In Falméra!«, kam die prompte Antwort.
»Ja, aber was ist Falméra?«, bohrte Sebastian weiter, »Ist das eine Kreisstadt, ein Verwaltungsbezirk, vor allem, von welchem Land? Ich habe noch nie etwas von Falméra gehört!«
»Das habt ihr sehr wohl, Herr, doch ihr wisst es nicht mehr. Ihr seid gestürzt und habt eine Amnesie erlitten. Dazu kommt, dass alle, die bisher aus dem Reich der Toten zurückgekehrt waren, auch ohne Sturz an einer Amnesie litten. Sie kamen zurück, als sei ihr Gedächtnis gelöscht worden...«, entgegnete er.
Sebastian sah den Doktor verzweifelt an und konnte nicht glauben, was er gehört hatte. Vor allem wurde ihm schlagartig klar, dass dieser Doktor das gleiche Spiel mit ihm trieb, wie der Alte. Die wollten ihn in die Irre führen! Sie wollten ihm glauben machen, er befände sich im Lande Nirgendwo oder Sonstwo! In was für eine miese Geschichte war er da geraten? Allmählich wurde Sebastian echt sauer: »Also Herr Doktor.., bevor sie an mir herumdoktorn, will ich genau wissen, wo ich hier bin, wie ich hier hergekommen bin und wie ich wieder nach Hause komme. Ich habe nämlich einen Job und wenn ich mich da nicht wieder zurückmelde, kann ich mir einen anderen suchen. Und außerdem...«, Basti redete sich richtig in Rage, »...finde ich es eine Frechheit sondergleichen, mich hier einfach festzuhalten!«
Den Arzt schien sein Redeschwall nicht besonders zu beeindrucken. Er hockte sich ihm gegenüber hin, seine Hände machten eine Geste, die ihm bedeuten sollte, das gleiche zu tun und außerdem seine Unschuld beteuern sollte. So sprach er in ruhigem Ton auf Sebastian ein:
»Herr, es will euch hier niemand festhalten und schon gar nicht einfach! Wenn ihr es wünscht, könnt ihr augenblicklich gehen, wohin es euch beliebt. Ihr seid kein Gefangener, sollt ihr wissen! Als Medicus muss ich jedoch empfehlen, euch zuvor von mir untersuchen und behandeln zu lassen. Ihr habt offensichtlich ein paar kleinere Frakturen und eine Amnesie, die solltet ihr nicht unbeachtet lassen! Außerdem gibt es einiges, das ihr nicht wissen könnt, das euch aber gefährlich werden kann. Ich mag euch gerne darüber aufklären, doch müsst ihr euch in Geduld üben. Eines nach dem anderen! Bevor ihr eine allzu rasche Entscheidung trefft, lasst euch sagen: Ihr seid nicht der, der ihr zu sein glaubt!«
»Oh doch, Doktor Falméra, ich weiß schon, wer ich bin...!« Basti wollte diesem Arzt unbedingt klar machen, dass er sehr wohl noch Herr seiner Gedanken war. »Ich weiß nicht, was für eine Sauerei ihr hier verstecken wollt«, begann er von neuem, »aber ich weiß ganz genau, dass ich, Sebastian Lauknitz, noch alle Sinne beisammen habe. Ich weiß auch, dass ich irgend jemandem in die Quere gekommen bin und man mich hierher verschleppt hat, um etwas Bedeutendes zu vertuschen. Und wenn ihr glaubt, dass ihr mich mit einer fadenscheinigen Geschichte, oder mit einer angeblichen Amnesie isolieren und mundtot machen könnt, dann habt ihr euch aber gewaltig geschnitten!«
Mit tiefgründigen, durchdringenden Augen sah ihn der Doktor an und schwieg. Dann nickte er gewichtig mit dem Kopf und fragte Lauknitz ruhig: »Gut, wie ihr meint. Dann erklärt mir mal, wo ihr euch hier befindet und wie ihr hier her kommt? Ist euch ein Ort bekannt, der diesem hier gleicht?« Er zog die Augenbrauen hoch, um seiner Frage Nachdruck zu verleihen und als Sebastian nicht gleich antwortete, fuhr er fort:
»Habt ihr nichts seltsames erlebt? Wenn ich euch sagte, ihr seid nicht der, der ihr zu sein glaubt, so habe ich das auf eure Amnesie bezogen. Ihr glaubt Sebastian Lauknitz zu sein. Euer Name ist aber Areos, nur ihr wisst es nicht mehr! Ihr glaubt an einen Traum, den ihr während eures Gesundschlafs hattet. Dieser Traum war so komplex, dass er für euch zur Wahrheit wurde. Nun verwechselt ihr Traum und Wirklichkeit!«
Als er den Doktor ungläubig und kopfschüttelnd ansah und dieser zweifelsohne erkannte, dass Sebastian ihn für einen Spinner hielt, warf er mit einer einzigen Frage seine ganze innere Sicherheit über den Haufen:
»Areos.., Lauknitz, wie auch immer, beschreibt mir doch einmal, wie der gehörnte Mensch aussah, den ihr in eurem Traum gesehen habt! War er groß? Hatte er einen Fellumhang? Trug er ein großes Schwert und einen breiten Gürtel? Hattet ihr das Gefühl zu frieren, bevor ihr ihm begegnet seid...?«
Plötzlich lief Sebastian Lauknitz eine Gänsehaut über den Rücken. Und er zweifelte! Seine innere Stärke, seine Überzeugung und sein Glaube an sich selbst, die er immer für unerschütterlich hielt, begannen zu wanken. Wenn dieser Medicus nicht Gedanken lesen konnte, wovon er eigentlich ausging, woher wusste der dann von dem Wesen, das Basti vor seinem Sturz zu sehen geglaubt hatte und woher wusste er von seinem Empfinden der Kälte vor diesem Unfall? Niemandem hatte er davon erzählt! Sebastian schwirrte der Kopf vor so vielen Ungereimtheiten.
Verwundert sah er den Doktor an und wusste nicht, wie er nun reagieren sollte. Er war völlig verunsichert. Am liebsten wäre Sebastian mit einem Schrei explodiert, oder ganz still in so ein kleines Loch gekrochen, aus dem gewöhnlich Ameisen kommen. Mit anderen Worten, Lauknitz glaubte sich immer noch in einem bösen Traum gefangen, den er nun ganz schnell beenden wollte. Ja, es war nicht anders möglich, all das hier träumte er nur! Allerdings hatte er nichts dagegen, wenn dieser Traum augenblicklich endete. Es wäre ein guter Zeitpunkt!
Sebastian schloss seine Augen und versuchte sich darauf zu konzentrieren, den Traum zu beenden und aufzuwachen. Strudel entstanden in seinem Kopf. Erinnerungen wirbelten durcheinander, alte und neue, ohne Ordnung oder System. Ein heilloses Chaos von Gedanken durchzog ihn. Aber diesem Traum konnte er nicht entfliehen. So sehr er sich auch bemühte, er war in ihm gefangen!
Eine Stimme holte ihn zurück: »Warum lasst ihr euch nicht von mir untersuchen und ich beantworte euch die Fragen, die in euch brennen? Wenn ihr es aber vorzieht, mich und das alles hier zu ignorieren und euch ohne Rat und Schutz aufmacht, wohin auch immer, so garantiere ich euch, werdet ihr nicht weit kommen. Spätestens, wenn ihr den wilden Horden in die Hände fallt, ist eure Reise zu ende. Also, was habt ihr im Augenblick zu verlieren?«
Unverändert saß ihm der Doktor gegenüber. Oh doch, er hatte etwas zu verlieren! »Meinen Job, meine Arbeit, versteht ihr, Doktor Falméra, wenn ich nicht am Montag wieder... Welcher Tag ist heute überhaupt?«
Der Medicus neigte leicht seinen Kopf nach vorn, als hätte er Basti nicht richtig verstanden: »Was meint ihr mit welchen Tag? Heute ist der Tag heute und morgen ist morgen, so wie gestern eben gestern gewesen ist. Es ist der dritte Tag nach Vollmond in der Zeit vor der Ernte!«
Lauknitz musste erkennen, dass er so nicht weiter kam: »Also gut, ist ja auch egal. Nur, wenn ich in zwei Tagen nicht wieder zu Hause bin, macht jemand anderes meine Arbeit, ich habe dann keinen Job mehr, um mir meinen Lebensunterhalt zu verdienen, begreifen Sie.., äh, begreift ihr das, Herr Doktor Falméra?«
Etwas beleidigt kam die Antwort: »Mein Name ist nicht Falméra, genauso wenig, wie ihr Lauknitz heißt. Falméra ist unsere Stadt. Mich nennt man nur Falméras Medicus, weil ich der einzige studierte Arzt bin, den dieses Land je gesehen hat...«
»Was?«, unterbrach ihn Sebastian, »der einzige Arzt weit und breit? Ist das hier etwa ein Entwicklungsland? Oh du grüne Neune, das glaubt man doch nicht, was für ein Land ist das hier eigentlich? Falméra zum Beispiel! Nie gehört von dieser Stadt! In welchem Land liegt Falméra?«
»Nun, Falméra ist eine Stadt von drei Städten und liegt im Lande Volossoda. Na ja, genau genommen liegt Falméra vor der Küste Volossodas, Falméra ist nämlich eine Insel. Versteht ihr, Falméra liegt auf einer Insel vor der Küste von Volossoda... Nein! So geht das nicht. Seht einmal her!« Der Doktor nahm ein Stöckchen und malte eine grobe Karte in den Ufersand des Bergsees:
»Also, das hier ist die Küste von Volossoda.« Er malte eine kurvige senkrechte Linie und fuhr fort: »Auf der Landseite, vor den Bergen, also im Mündungsgebiet des Flusses, liegt Quaronas, die zweitgrößte Stadt hier. Weiter landeinwärts beginnt das Val Mentiér, ein langes Tal, das am ewigen Eis endet.« Der Medicus wies mit der Hand talwärts: »Dort unten, weit unten, da liegt das Dorf Imflüh, die nächste Siedlung von hier aus. Es gibt noch vier weitere Dörfer das Tal hinab, bis man Quaronas erreicht. So, auf der Seeseite...« Er fuhr wieder mit dem Stöckchen durch den Sand. »...liegt die Insel Falméra mit der Stadt Falméra. Das ist unsere Stadt...«
»Unsere Stadt? Was meint ihr damit?«, wollte Sebastian wissen. »Heißt das, diese andere Stadt, Quaronas, gehört jemand anderem? Und in welchem Land liegt denn Volossoda zum Kuckuck, ich verstehe das alles nicht...« In der Tat verstand Lauknitz nur Bahnhof. Dieser Arzt wollte ihm hier eine Welt vorgaukeln, die nur in seiner Einbildung zu existieren schien, ebenso wie bei Högi Balmer. Offensichtlich litten hier alle an ein und derselben Krankheit: An einer blühenden Phantasie!
»Volossoda ist das Land!« erklärte der Doktor mit Nachdruck.
»Aber auf welchem Kontinent liegt dieses Land Volossoda«, fragte Lauknitz.
Der Arzt sah zu Boden und antwortete lehrbuchmäßig: »Es gibt hier keinen Kontinent! Hier gibt es nur Volossoda. Hinter den Bergen ist das ewige Eis und das Reich der Toten, aber bis dorthin ist bisher kaum jemand gelangt. Und wenn doch einmal einer dort war, so ist er, wie ihr, mit einer seltsamen Amnesie zurückgekehrt und war seither nicht mehr er selbst. Dort wo die Sonne Ruhe hält, liegt Zarollon, die dritte Stadt Volossodas. Und noch weiter dahinter liegt das raue, kalte Land. Nur Jäger gelangen manchmal dorthin. Auf der anderen Seite, dort, wo die Sonne und das Licht leben, ist der große Sumpf. Weit dahinter, wo die Sonne alles verbrennen lässt, leben die Unbekleideten. Einige unseres Volkes treiben Handel mit ihnen und die Reise dorthin ist sehr lang und beschwerlich.«
Resignation machte sich in Sebastian breit. Er war genau so schlau, wie vorher. Von dem, was ihm der Doktor Medicus zu erklären versuchte, verstand er rein gar nichts. Irgendwie befand er sich im völlig falschen Film. Das brachte ihn auf einen Gedanken: Vielleicht wurde er das Opfer einer Film-Show, wo man ihm für ein Medien-Spektakel etwas vorgaukeln wollte? Hatte man mit ihm so etwas, oder etwas ähnliches vor? Sollte er das Opfer einer versteckten Kamera werden?
Dieser einzige Arzt eines angeblichen Phantasielandes wollte ihm allen Ernstes weismachen, sein bisheriges Leben sei nur ein Traum gewesen, eine Amnesie, die er angeblich in einem Reich der Toten erlitten hatte. Wie idiotisch klang das denn? Sollte er das etwa ernst nehmen? Sein ganzes bisheriges Leben, an das er Erinnerungen hatte, so komplex, wie nichts anderes in seinen Gedanken, sollte nur geträumt sein? Es hatte nie statt gefunden? Das war totaler Schwachsinn! Und Sebastian wollte sich auch nicht weiter verulken lassen!
Aber da war diese Sache mit dem gehörnten Schwertträger, den er vor seinem Sturz gesehen hatte. Eine Figur, die es nicht geben konnte, die er sich nur eingebildet haben konnte. Dennoch wusste der Doktor davon, obwohl Sebastian weder ihm noch Balmer davon erzählt hatte. Er dachte nach. Wenn er das, was er für unmöglich hielt ausschloss, blieben noch zwei Möglichkeiten: Entweder er hatte im Schlaf gesprochen, als er in Vater Balmers Hütte lag, oder... Aber nein, das war kaum möglich.., oder doch? War es möglich, dass es diese Figur, dieses Wesen tatsächlich gab und er, Sebastian Lauknitz, die Möglichkeit ihrer Existenz nur ausschloss, weil er sie nicht für möglich hielt? Basti schüttelte seinen Kopf, wie um wieder klar denken zu können und bemerkte zu spät, dass er es laut aussprach:
»Bei dem Gedanken kann man ja irre werden!«
Falméras Medicus erhob sich und seine Stimme klang beruhigend und durchaus auch vertrauenswürdig:
»Ich werde versuchen, euch alles nach und nach zu erklären. Aber lasst uns zunächst zur Hütte zurück gehen, damit ich euch untersuchen und behandeln kann. Allmählich werdet ihr schon alles verstehen, glaubt mir. Und bis dahin seid ihr bei Väterchen Balmer gut aufgehoben!«
Glaubt mir..! Aber gerade das war es ja: Sebastian glaubte ihm kein Wort! Und ob er in Balmers Hütte gut aufgehoben war, lag wohl eher im Auge des Betrachters! Lauknitz fand, dass es inzwischen an der Zeit war, aus diesem Alptraum aufzuwachen und dass er an seiner Verputzmaschine in der Akkordkolonne seines Stuckateurbetriebes viel besser aufgehoben war! Ihm war aber auch klar, dass er im Augenblick nicht viel ändern konnte.
Eine Sache aber wollte er gleich auf dem Weg zur Hütte klären: »Sagt mal, Medicus, woher wusste Vater Balmer eigentlich, wann ihr hier sein würdet? Kann der etwa auch hellsehen?«
Der Arzt lachte herzlich und machte eine wegwerfende Handbewegung: »Das, mein Bester, hat nichts mit Magie oder Parapsychologie oder sonst dergleichen zu tun! Balmer kennt eine Felskanzel am Ende der Alm, von wo aus er beinahe das ganze Tal bis hinunter nach Fallwasser überblicken kann. Er mag alt sein, aber er hat Augen, wie ein Gor. Wenn irgendjemand oder irgendetwas sich seiner Alm nähert, dann weiß er das schon einen Tag vorher!«
»Fallwasser? Ist das auch eines der Dörfer im Tal?« Lauknitz ertappte sich bei der Frage nach etwas, an dessen Existenz er nicht glaubte und erschrak, wie rasch man sich doch etwas einreden lässt.
»Ja, Fallwasser ist das vorletzte Dorf im Tal.« Des Doktors Bestätigung kam wie aus der Pistole geschossen. »Das Tal macht dort einen Knick und trennt sich durch eine tiefe Schlucht in zwei Teile. Ganz in der Nähe befindet sich ein hoher Wasserfall. Der gab dem Dorf seinen Namen. In der kalten Zeit, wenn Schnee und Eis das Land bedecken, ist die Schlucht unpassierbar. Nur die härtesten Jäger sind dann noch in der Lage, Quaronas oder Falméra zu erreichen.«
Basti war erstaunt, dass jemand wie dieser Doktor, der zweifelsfrei eine gehobenere Intelligenz besaß, selbst an so einen Bockmist glaubte. Die Komplexität, mit der er seine Phantasiewelt ausschmückte, beeindruckte Sebastian sogar. Der Medicus redete davon, als sei es das normalste der Welt. Für ihn jedenfalls das normalste seiner Welt, auch wenn sie nur in seinem Kopf existierte.
In diesem Augenblick stand für Sebastian fest: So schnell, wie möglich wollte er wieder fit werden. Er wollte seinen Rucksack nehmen, seine Goldmünzen von den Felsen holen und ins Tal absteigen. Dann würde sich ja zeigen, wo er sich befand! Irgend einen Laden, oder ein Postamt musste es doch geben, wo man ihm sagen konnte, wo er war. Anschließend würde er den nächsten Bus oder Zug besteigen und die Heimreise antreten.
Eigenartig, wie wankelmütig doch das Empfinden eines Menschen ist! Tagein, tagaus hatte Sebastian seinen dreckigen, anstrengenden Job an der Verputzmaschine verflucht, hatte sich über den staubigen Kratzputz geärgert, oder über den Kunststoffputz, der sich kaum mehr von den Händen entfernen ließ. Jeden Tag war er erneut der Willkür seines Meisters ausgesetzt und dachte zu jeder Stunde daran, einfach auszubrechen aus diesem eintönigen, langweiligen Leben. Doch plötzlich wurde ihm bewusst, wie sehr er genau das vermisste! Nur, weil ihm seine dreckige, eintönige und langweilige Welt eines bot: Die Sicherheit und Bequemlichkeit zu wissen, wo er war, wohin er gehörte und was er am nächsten Morgen tun würde...
Zwei Schatten, kamen plötzlich hinter einem Felsen hervor geschossen. Seine Gedanken wurden mit brachialer Gewalt unterbrochen. Ein fürchterlicher Schreck durchfuhr seine Glieder und er stürzte rückwärts in die Arme des Doktors.
»Na, ganz schön schreckhaft seid ihr ja, lasst euch schon von Rona und Reno in die Flucht schlagen!« Der Doktor fand das furchtbar amüsant. Basti hingegen konnte darüber gar nicht lachen. Eine unbekannte Gegend, von der er nicht wusste, wie er in sie hinein geraten war, vollgestopft mit durchgeknallten Typen... Da sollte er nicht schreckhaft werden?
»Die beiden Mistviecher gehen mir schon auf den Puffer, solange ich hier bin«, polterte er los, besann sich dann aber, weil er das unbestimmte Gefühl nicht los wurde, dass die beiden Hunde alles verstehen konnten. Merklich leiser teilte er dem Medicus mit: »Ständig kreuzen die beiden auf, wenn ich es nicht gebrauchen kann!«
Der Arzt nickte verständnisvoll und sagte entschuldigend: »Was sollen sie machen? Vater Balmer hat ihnen aufgetragen, auf euch acht zu geben. Die beiden gehorchen aufs Wort. Ihr könnt mir glauben, die zwei sind sehr treue Seelen und ich an eurer Stelle würde mich glücklich schätzen, sie in meiner Nähe zu haben, ob hier oben, oder unten im Tal.«
»Mag ja sein«, gab Lauknitz zurück, »aber ich konnte Hunde noch nie ausstehen. Könnt ihr also Balmer sagen, dass er seine Hunde liebenswürdigerweise von mir fernhalten soll? Ich wäre euch sehr verbunden!«
Der Doc zog eine Grimasse, als wäre er nicht sicher, wie er sich dazu äußern sollte. Er versuchte Sebastian eindeutig zu beschwatzen: »Vielleicht macht ihr da einen Fehler. Ihr habt alles aus eurem Leben vergessen. Offensichtlich auch die Gefahren, in die man hier geraten kann. Ihr wärt gut beraten, jeden Schutz anzunehmen, den man euch bietet. Die beiden Hunde...«
»Die beiden Hunde sind im Augenblick die einzige Gefahr, die ich hier erkennen kann«, unterbrach Basti ihn barsch. »Und ich habe gar nichts von meinem Leben vergessen! Vor einer Woche bin ich friedlich meiner Arbeit nachgegangen und habe mein Leben gelebt... Ohne Hunde und Menschen wie euch und Balmer, die, verzeiht mir meine Direktheit, offensichtlich nicht in der Lage sind, Realität von Phantasie zu unterscheiden!«
Der Doktor hob beschwichtigend seine Hände: »Ich weiß, es ist für euch schwer zu glauben, aber was ihr für euer Leben gehalten habt, diese deutliche Erinnerung, ist nichts weiter, als ein Traum, dem ihr verfallen wart. Es gab bisher nicht viele, die verletzt aus dem Reich der Toten zurückkamen, doch bei allen zeigte sich das gleiche Verhaltensmuster: Sie litten an einer Amnesie bezüglich ihrer Herkunft und erzählten von einem Traum, den sie für die Wahrheit hielten. Manche haben es nicht geschafft in die Wirklichkeit zurückzukehren und sind irr geworden. Ihr zeigt eine ähnliche Eigenschaft.« Er machte eine kurze Denkpause, bevor er weiter sprach:
»Ihr seid nicht irgendwer. Ihr seid Areos! Ihr glaubt jetzt ein anderer zu sein, doch wenn ihr erst einmal genesen seid, werdet ihr nach und nach erkennen, wer ihr wirklich seid.«
Lauknitz sah ihn verwundert an: »Aber wer ist Areos? Ich meine, wer sollte ich eurer Meinung nach sein, wenn nicht Sebastian Lauknitz aus Braunschweig? Wer ist dieser Areos, wo wohnt er, was arbeitet er, wer sind seine Eltern?«
Falméras Medicus ging eine Weile schweigend neben ihm her, bevor er antwortete. Immer stärker hatte Sebastian das Gefühl, dass dieser Arzt sich in seiner eigenen Phantasie verzettelte. Abrupt blieb dieser stehen, sah Basti mit wachen Augen an und sagte in ruhigem Ton: »Da ihr von eurem wirklichen Leben nichts mehr wisst, halte ich die Zeit für verfrüht, euch dies zu erklären. Ihr würdet mir wahrscheinlich sowieso kein Wort glauben. Ihr solltet erst einmal gesund werden und wieder zu Kräften kommen. Während eurer Genesung will ich euch gern immer wieder besuchen und euch eure Fragen beantworten. Aber versteht bitte, es ist so Vieles, dass eurem Gedächtnis wiedergegeben werden muss, dass es allmählich geschehen sollte, um euch nicht zu überfordern. Bis dahin kann ich euch nur raten, auf Vater Balmer zu hören, denn glaubt mir: Ihr schwebt in sehr großer Gefahr!«
Der Medicus ging weiter und schob Sebastian vorwärts. Diese Geste sprach Bände. Er würde jetzt nicht weiter mit Lauknitz diskutieren. Im Grunde war es Basti recht. Er war an einem Punkt angelangt, wo er sowieso nicht mehr zuhören konnte, ohne am Verstand des Doktors zu zweifeln. Und das sollte ein Arzt sein!
Sebastians Plan stand fest: Gesund werden, seine Flucht vorbereiten und eines Nachts seine Goldkassette holen und zu Tal steigen. Spätestens in der nächst größeren Stadt würde sich ja herausstellen, wo er sich befand.
Erleichtert setzte er sich auf die Bank, als sie Balmers Hütte erreichten. Der Doktor verschwand im Dunkel der Behausung, kam jedoch gleich wieder heraus, einen dunkelbraunen, ledernen Tornister in der einen Hand und einen wackeligen Schemel in der anderen. Er setzte sich Sebastian gegenüber und begutachtete ihn von Kopf bis Fuß, als würde er ihn das erste Mal in seinem Leben sehen.
»Also gut, wollen mal sehen, wie es um euch steht«, begann er. »Zieht am besten mal euer Hemd aus!« Er musterte Bastis Oberkörper und besonders seine Tätowierungen. Doch anders als Balmer wunderte er sich nicht über die Hautbilder, sonder betrachtete sie mit normalem Interesse. »Ein paar schöne Bilder habt ihr da«, war alles was er dazu bemerkte.
Er tastete Bastis Brust ab, dann die Seiten und löste dabei einen viehischen Schmerz aus, der Lauknitz die Tränen in die Augen trieb. Fast bekam er keine Luft mehr. Doch Falméras Medicus ließ nicht locker:
»Das müsst ihr jetzt ertragen! Ich muss wissen, ob ihr innere Verletzungen davongetragen habt«, erklärte Sebastians neuer Hausarzt.
»Wäre es nicht besser, das zu röntgen?«, fragte Lauknitz. Dabei hatte er die Hoffnung, dass dieser Einwand den Arzt dazu bewegen würde, ihn zu Tal schaffen zu lassen. Doch Sebastian hatte sich getäuscht.
»Tragt es mir bitte nicht nach, aber ich kann euch nur auf diese Weise behandeln. Bald werdet ihr das verstehen, bitte habt etwas Geduld und Vertrauen, ja?«
Machte der Doktor Witze? Vertrauen sollte er? Worauf denn? Auf zwei abgedrehte Typen, die sich weitab von der realistischen Spur bewegten? Nein, Vertrauen ging hier gar nicht! Solange Sebastian jedoch auf fremde Hilfe angewiesen war, musste er alles wohl oder übel hinnehmen.
Zum Abschluss der Untersuchung setzte der Doktor eine wichtige Mine auf und sah Lauknitz mahnend an: »Ihr habt drei Rippen angebrochen. Das muss ich fest bandagieren. Ihr solltet Drehbewegungen vermeiden und euch auch sonst nicht heftig bewegen. Ich empfehle euch ruhige Spaziergänge um den See. Eure Gehhilfen werden euch dabei gute Dienste erweisen. Am Becken und an den Schenkeln habt ihr böse Prellungen erlitten. Das wird noch eine Weile weh tun und noch einen fürchterlichen Muskelkater auslösen.«
Falméras Medicus bereitete einen Verband aus grobem Leinenstoff vor, der eigentlich eher als Putzlappen zu gebrauchen war. Sebastian wollte aber weitere Diskussionen vermeiden und fügte sich für den Moment in sein Schicksal. Die Stoffstreifen wickelte der Medicus so eng um seinen Brustkorb, dass ihm schlicht die Luft weg blieb.
Der Doktor bemerkte seinen inneren Protest und kam einer Bemerkung zuvor: »Das muss so fest sein, damit eure Rippen wieder schön fest zusammenwachsen. Das dauert eine Weile und ihr müsst euch unbedingt schonen!«
»Wie lange braucht das ungefähr, bis ich mich wieder normal bewegen kann?«, wollte Lauknitz wissen.
Der Doktor wiegte den Kopf unschlüssig hin und her, ließ sich dann aber doch zu einer Prognose hinreißen: »Na ja, so dreißig bis vierzig Tage werdet ihr schon Ruhe halten müssen. Und auch danach solltet ihr große Belastungen noch etwas vermeiden.«
»Aber ich kann Vater Balmer doch nicht so lange zur Last fallen!«, wandte Sebastian ein.
Der Arzt winkte ab und beruhigte ihn: »Ihr fallt ihm nicht zur Last, glaubt mir! Balmer ist über etwas Abwechslung ganz froh. Macht euch keine Sorgen, wir alle hier sind euch verpflichtet, aber dazu später mehr..!«
»Ja und ihr«, bohrte Sebastian weiter, »akzeptiert ihr meine Krankenkassenkarte, oder darf ich nachher eine saftige Rechnung begleichen?«
»Krankenkassen.., was?«, fragte der Doktor verwundert. »Ich weiß nicht, was ihr meint, aber seid unbesorgt, ihr schuldet mir nichts, ihr schuldet hier niemandem etwas, außer der Verpflichtung, eurer Berufung zu folgen!«
Sebastian konnte nun ihm nicht ganz folgen. »Die Verpflichtung, meiner Berufung zu folgen, wie meint ihr denn das?«, fragte er neugierig und erstaunt zugleich
»Das...«, erklärte Falméras Medicus geheimnisvoll, fast flüsternd, »das besprechen wir, wenn ihr euch wieder ganz gesund fühlt! Vorerst sorgt dafür, dass es euch gut geht, genießt die Landschaft, die klare Luft hier oben und den Frieden.., vor allem den Frieden!«
Er sagte das so eigenartig, dass Sebastian versucht war, noch mehr aus ihm heraus zu locken. Doch des Doktors Blick verriet ihm, dass dieser sich zu keinen weiteren Erklärungen würde hinreißen lassen. Also beließ es Basti dabei.
Er nahm Balmers Fellbeutel mit seinen Sachen auf den Schoß und suchte nach seiner Pfeife und seinem Tabak. Dabei fiel eines seiner Bowiemesser aus dem Beutel, direkt vor die Füße des Medicus. Ehe er es verhindern konnte nahm der Doktor es auf, hielt es hoch und begutachtete es, während er es in der Hand drehte.
»Ein gutes Messer habt ihr da, fast schon ein kurzes Schwert«, stellte er fest. Bevor Sebastian etwas sagen konnte, legte er es vor ihm auf den Tisch, beugte sich zu ihm vor und riet ihm betont: »Das solltet ihr immer bei euch tragen! Habt es stets griffbereit, egal wie friedlich sich die Welt hier oben für euch darstellen mag. Hier oben seid ihr zwar in guten Händen, doch weiß man niemals im Voraus, was alles geschehen kann...«
»Was könnte denn beispielsweise alles geschehen, was nicht geschehen sollte?«, fragte Lauknitz genauso geheimnisvoll und provokant zugleich. Dabei sah er den Doktor mit in Erwartung hochgezogenen Augenbrauen an.
»Ich wollte euch nicht beunruhigen. Ihr seid hier am sichersten«, gab der zurück, »aber man kann niemals vorsichtig genug sein, das meine ich damit!«
Doch genau mit dieser Aussage beunruhigte er Sebastian! Diese ewige Geheimnistuerei, die fremde Landschaft und das eigenartige Verhalten Balmers und des Doktors, all das trug ja nicht gerade dazu bei, eine ihm unbekannte Gegend so zu genießen, als befände er sich auf einer Erholungsreise! Statt weiter darauf einzugehen, stopfte Basti seine Pfeife und begann zu rauchen.
Wie einem stillen Signal folgend, zog auch der Doktor eine Pfeife aus der Tasche und tastete nach Tabak. Mit einer Handbewegung bedeutete ihm Sebastian, sich seines Tabakbeutels zu bedienen. Falméras Medicus ließ sich nicht lange bitten. Wenn er auch sonst in einer Phantasiewelt zu leben schien, hier war seine reale Vorstellung noch intakt!
»Ihr habt einen wohlschmeckenden Tabak, wie ich bemerken muss«, sagte er zwischen zwei Paffwolken.
»Ja, den bekommt man...«, Sebastian beugte sich geheimnisvoll vor, »bei mir Zuhause am Kiosk, dort wo ich herkomme, an dem Ort, der nach eurer geschätzten Meinung nur meinen Träumen entsprungen ist...«
Lauknitz sah den Doktor an und entdeckte ein flüchtiges, kaum wahrnehmbares Lächeln in seinen Augen. Das verunsicherte ihn erneut, denn es erzählte ihm, dass der Arzt etwas Wesentliches vor ihm verbarg und dass der vielleicht doch nicht ganz so verrückt war, wie es den Anschein hatte. Inzwischen war Sebastian jedoch klar geworden, dass er nur mit List und Geduld hinter das Geheimnis von diesem mysteriösen Val Mentiér kommen konnte.
Der Doktor, in dessen Ankunft er die Hoffnung seiner Rettung aus dieser Lage gesehen hatte, blieb über Nacht auf Högi Balmers Alm. Gegen Abend kam Balmer mit dem Großteil seines Viehs von den Weiden irgendwo oberhalb des Bannwaldes. Rona und Reno begrüßten ihn stürmisch. Die beiden hatten den ganzen Tag über in der Nähe der Hütte gedöst und waren plötzlich zum Leben erwacht.
Während der Alte ein karges Abendessen vorbereitete, saß Sebastian mit dem Medicus von Falméra vor der Hütte. Auf der anderen Talseite tauchte die tief stehende Sonne Flanken und Gletscher in die Farben des Feuers. Die Gletscher und Firne schienen sich wie Fluten aus geschmolzenem Gold talwärts zu wälzen. Dieses Farbenspiel, das Wispern des Windes und der Duft nach sommerlicher Weide assoziierten Basti eine friedliche Welt, die in Ordnung schien. Und doch brannte in ihm eine Unruhe und Ungewissheit, die in seinem Bauch bohrte, wie ein glühendes Schwert. Seine Gedanken konnten sich nur um eine Frage drehen: Wo war er hier, was war passiert..?
Erneut versuchte er dem Doktor ein paar Informationen zu entlocken: »Sagt, Herr Medicus, wie heißen diese Berge dort drüben?«
Die Antwort war enttäuschend: »Hier nennt man sie das Gebirge von Volossoda. Dahinter liegen die Berge der schlafenden Sonne.«
»Nein, ich meine, wie die einzelnen Berge heißen.« Lauknitz bemühte sich nicht ungeduldig zu werden. »Dort, wo ich herkomme, hat jeder Berg einen eigenen Namen. Oft geben die Namen das Aussehen des Berges wieder.«
Der Doktor zuckte verständnislos mit den Achseln: »Diese Berge dort haben keine Namen. Wozu auch? Selten gelangt jemand in ihre Nähe. Und noch seltener spricht jemand mit ihnen.«
Kopfschüttelnd sah Sebastian den Doktor an. Dessen Gesichtsausdruck ließ keinen Zweifel an der Ehrlichkeit seiner Worte. Er wollte ihn also nicht zum besten halten. Seine Antwort erschien Sebastian glaubwürdig. Allerdings hatte er noch nie gehört, dass Menschen, die am Fuße hoher Berge lebten, es unterlassen haben, diese mit Namen zu benennen. In den Alpen hatte jeder Berg, jedes Joch, ja sogar jeder Grat seine eigene Bezeichnung. Hier schien es niemandem wichtig zu sein. Freilich wusste Basti, dass es auf dieser Welt Gebirgsgegenden gab, die so dünn besiedelt waren, dass die Berge keine Namen trugen. Doch diese Berge waren mit Ausnahme von vielleicht den Alaska Range und dem Himalaya auch nicht sehr hoch. Die Berge, die sich hier erhoben, waren jedoch so hoch, dass sie zumindest auf einer Landkarte mit Namen verzeichnet sein mussten.
Wieder war Lauknitz mit seiner Frage in eine Sackgasse gelaufen. Und wieder wurde ihm klar, dass er die Antwort auf seine Fragen nur im Tal finden würde. Nun, er war weder gefesselt, noch eingesperrt. Bald würde er sich die Antwort holen!
Balmer trug das Abendessen auf: Getrocknete Pökelfleischstreifen, die so hart waren, dass man damit locker jemanden hätte erschlagen können. Dazu alten Käse, der in Sachen Härtegrad dem Pökelfleisch in nichts nachstand und schließlich frisches Brot, das wider erwarten innen weich und außen knusprig war. Selten hatte Sebastian ein würzigeres Brot gegessen. Dazu stellte Balmer eine bauchige, fast runde Flasche auf den groben Tisch: »Zur Feier des Tages und auf das Wohl des Doktors«, verkündete der Alte stolz und entkorkte die geheimnisvolle Flasche.
Sofort schlug Basti der Geruch von Alkohol entgegen. Der Inhalt durfte wohl ziemlich hochprozentig sein. Der Doktor bekam leuchtende Augen, als der Alte seinen Becher mit der braunen, transparenten Flüssigkeit füllte: »Balmer, Balmer, mein lieber Högi«, scherzte er und drohte im Spaß mir dem Zeigefinger, »woher habt ihr denn den Mestas, und einen so guten noch dazu?«
»Den habe ich von einem guten Geist bekommen, gegen meine müden Beine«, grinste Balmer verschmitzt. »Ist zur inneren Anwendung...«, setzte er noch hinzu.
»Ja, ja, innere Anwendung«, nickte der Doktor und leerte seinen Becher in einem Zug. Er verzog sein Gesicht, als hätte er eine Hand voll Maikäfer verschluckt und ließ ein wohliges Grunzen erklingen. Balmer tat es ihm nach. Dann sahen beide erwartungsvoll Sebastian an. Ihr Blick richtete sich auf seinen Becher, dann auf ihn.
»Zum Wohlsein«, sagte der Doktor und nickte ihm zu. »Trinkt! So etwas gutes bekommt ihr nicht alle Tage!« Die beiden sahen ihn an, als erwarteten sie im nächsten Augenblick ein Wunder zu sehen.
Sebastian nahm einen winzigen, vorsichtigen Schluck von diesem übel duftendem Gesöff und es schmeckte wie eine Schale überreifer Johannisbeeren, die man ein halbes Jahr lang in einer Plastiktüte vergessen hatte. Seine beiden Tischgenossen ermunterten ihn mit auffordernden Blicken zu einer intensiveren Probe. Diesmal schluckte er etwas herzhafter. Und er bereute es sogleich. Lauknitz bekam den vollen Geschmack zu spüren, der ihm automatisch die Tränen in die Augen trieb. Doch das lag eher am hochprozentigen Alkoholgehalt. Geschmacklich ordnete er dieses Zeug in die Kategorie Likör ein, ähnlich dem, den es bei ihm zu Hause gab und der in seiner Nachbargemeinde produziert wurde. Dieser Likör war nur etwas dünnflüssiger, und schmeckte intensiver nach vergorenen Beeren, Honig und nach Auszügen von Rosen, Veilchen und Thymian. Dieses Getränk war gewöhnungsbedürftig, aber nicht ungenießbar.
Anerkennend nickte er Balmer und dem Medicus zu: »Donnerwetter! Das ist ja ein schwerer Tropfen, aber saugut! Schmeckt ein bisschen, wie die ausgepresste Seele des Paradieses!«
Die freuten sich, wie zwei aufgezogene Spielzeugclowns und der Doktor rief, inzwischen reichlich albern: »Oh, das habt ihr aber schön gesagt! Ich wusste es doch, alles könnt ihr gar nicht vergessen haben!«
Sehr rasch bemerkte Basti die Wirkung, die der Alkohol auf seine beiden trinkfreudigen Gastgeber hatte. Wäre er gesundheitlich dazu in der Lage gewesen, hätte er sich still und heimlich von ihnen verabschiedet und sich in talwärts auf den Weg gemacht. Doch wie eine Mahnung aus dem Hintergrund, spürte auch er plötzlich die Wirkung des Likörs. Er empfand ein leichtes Summen in seinem Kopf und seiner Wahrnehmung fiel es schwer, seinen Augen zu folgen. Dennoch fühlte er sich sehr gut dabei. In ihm breitete sich eine Unbeschwertheit aus, ja fast ein Gefühl der Unbesiegbarkeit. Ohne, dass er es verdrängen konnte, verfiel Sebastian wieder seinen Erinnerungen an Janine. Plötzlich sah er in geistigen Bildern Ausschnitte ihrer vergangenen ungezügelten Liebesstunden. Es war beinahe so, als erlebte er das alles noch einmal...
Das raue, grölende Lachen seiner Trinkgenossen holte ihn wieder auf den Boden der Tatsachen. Basti war beeindruckt, wie schnell die beiden betrunken wurden. Gerade mal eine halbe Stunde und sie waren voll, wie tausend Mann! Seine eigene Auffassungsgabe funktionierte nur noch schleppend, dennoch bekam er mit, dass die beiden Witze über irgendwelche Frauen machten, die alles andere als stubenrein waren. Sie hatten eher den Charakter von geschmacklosen Äußerungen, wie man sie bei Bordellbesuchern vermuten würde. Dieser Schnaps hatte anscheinend eine ähnliche Wirkung, wie die Tollkirsche.
Die ganze Situation bereitete Sebastian Unbehagen. Ärgerlich beschloss er, von diesem Zeug keinen einzigen Tropfen mehr anzurühren. Statt dessen beabsichtigte er sich schlafen zu legen. Unsicher hangelte Sebastian im Dämmerlicht nach seinen Gehhilfen. Vor dem Schlafengehen stieg er noch einmal zum See hinauf, auch wenn der Weg dorthin beschwerlich war. Er tröstete sich jedoch mit der Illusion, dass die regelmäßigen Gänge am späten Abend eine gute Übung war, um so rasch als möglich wieder fit zu werden.
Klangen der Doktor und Balmer eben noch wie ein Sieg feierndes Heerlager, so ebbte der Trinklärm allmählich ab, je mehr sich Lauknitz von der Hütte entfernte. Er wich dem friedlichen Wispern des Windes, dem Rauschen der Bäume und dem Zirpen nachtaktiver Grillen. Hinter dem Hügelkamm, der den Blick auf das Toilettenhäuschen und den See freigab, erstarb der Klang der exzessiven Ausschweifung vollends. Nur noch er und die Berge. Und eine plötzlich aufkeimende Sehnsucht nach Janine. Die empfand er in solchen einsamen Minuten immer sehr stark. Doch heute war es weniger die Sehnsucht, als denn pures Verlangen, das in ihm brannte. Die körperliche Sehnsucht besiegte die geistige. Erneut stellte sich in seinem Kopf die Erinnerung ein, als er mit Janine am See im Zwischbergental vor einer halben Ewigkeit nicht nur die Sterne beobachtete.
Allmählich wurde Sebastian bewusst, welche Seifenblase seine Gedanken durchwanderte und er zwang sich zur Konzentration. Lauknitz atmete tief durch und spürte, dass ihm die klare, nächtliche Bergluft gut tat. Auch den abklingenden Einfluss des Alkohols auf seine Motorik nahm er wahr. Dieses Getränk, das der Doktor „Mestas“ nannte, schien eine Wirkung, ähnlich der entaktogenen Discodroge Ecstasy zu haben. Dass er nicht mehr von diesem Teufelszeug konsumiert hatte, stimmte ihn beruhigend.
Als er sein Ziel fast erreicht hatte, huschten wieder einmal zwei schemenhafte Schatten an ihm vorüber. Rona und Reno! Sebastian erkannte sie an ihrem unverkennbaren Hecheln. Offenbar waren sie inzwischen zu seinem persönlichen Schatten geworden. An diesem Abend war er allerdings zu müde, um noch ärgerlich darauf zu reagieren. Mit Gleichgültigkeit akzeptierte er ihre Anwesenheit. Sie waren immer irgendwo in seiner Nähe und stets musste er darauf gefasst sein, von ihrem Übermut über den Haufen gerannt zu werden.
Heute Abend war ihm ihre Gesellschaft eigentlich gar nicht so lästig. Nachdem er den Scheitelpunkt des Plateaus erreicht hatte, stand Lauknitz oberhalb des Sees und hielt nach den beiden Kläffern Ausschau. Leise pfiff er durch die Zähne. Er hielt es für sinnvoller, dass sie ihn gleich begleiteten, als dass sie ihm wieder wie aus dem Nichts einen Schrecken einjagten. Die beiden mussten feine Ohren haben. Sein leiser Pfiff zauberte sie augenblicklich auf die Bildfläche. Sie sprangen mit sichtlicher Freude heran, als hätten sie ihn an diesem Tag zum ersten Mal gesehen.
Spontan beschloss Sebastian, noch einen Rundgang um den See zu machen. Rona und Reno brauchten keinen gesonderten Befehl, um ihm zu folgen. Der Pfiff war Aufforderung genug. Brav, wie zwei abgerichtete Blindenhunde trotteten sie neben ihm her. Eigenartigerweise empfand er das als angenehm. Da er sie ohnehin nie wirklich loswerden konnte, beschloss er eine Art Vertrauensverhältnis zu ihnen aufzubauen.
An diesem Abend begann Sebastian mit den Hunden zu reden. Freilich verstanden sie ihn nicht, oder zumindest nicht die Bedeutung meiner Worte. Doch glaubte er, wenn sie sich an seine Stimme gewöhnten, würden sie irgendwann an seinem Tonfall erkennen, was er meinte. Um sie an sich zu gewöhnen, begann er einfach, ihnen seine Lebensgeschichte zu erzählen. Oft bezog er die beiden Hunde in seine Erzählung mit ein, indem er ihnen Fragen stellte. Natürlich verstanden sie die nicht, doch Sebastian konnte an ihren Reaktionen erkennen, dass sie sich angesprochen fühlten. Offensichtlich erkannten sie die feinen Nuancen seiner Stimmlage und ordneten diese richtig zu.
Im Lichtschein des Mondes humpelte Basti um einen einsamen See und unterhielt sich mit zwei struppigen, wolfsähnlichen Hunden. Wenn ihm das jemand vor drei Wochen prophezeit hätte, er würde ihn für übergeschnappt gehalten haben.
Lauknitz genoss die friedliche Stille. Er verharrte an einem Felsen am See und rauchte noch eine Pfeife. Reno und Rona standen drei Meter vor ihm, lauschten angespannt in die Nacht hinaus und hätte er nicht ihren hechelnden Atem gehört, würde er wohl vermutet haben, sie wären versteinert.
Sein Blick richtete sich zum Himmel. Ein Teppich von Millionen funkelnder Sterne spannte sich über ihm auf. So klar, hell und deutlich hatte er den Sternenhimmel nie zuvor gesehen! Es schien, als könnte er die unterschiedliche Entfernung der glitzernden Punkte zur Erde erkennen.
Einen kurzen Augenblick lang gewahrte er den Niedergang einer Sternenschnuppe. Aus alter Tradition schloss er die Augen und wünschte sich etwas. Vielleicht war er auch schon verrückt geworden, oder es lag an diesem alkoholischen Getränk „Mestas“, aber er wünschte sich in diesem Moment nicht, von diesem Ort zu verschwinden. Statt dessen wünschte er sich, wieder bei Janine zu sein. Selbstverständlich wusste er, dass dies nicht möglich sein würde, in diesem Augenblick jedoch war es sein innigster Wunsch.
In der nächsten Sekunde kamen ihm seine eigenen Gedanken kindisch vor. Sebastian schüttelte sie von sich ab, klopfte seine Pfeife aus und begann seinen Rückweg zur Hütte. Wie aus einer Starre erwacht, reagierten seine beiden Begleiter und liefen bei Fuß rechts und links neben ihm her durch die friedliche Nacht.
Das Heerlager war verstummt, als Sebastian zur Hütte kam. Die großen Helden hatten ihre glorreichen Schlachten am weiblichen Geschlecht in Mestas ertränkt. Wie geschlagene Helden sahen sie jetzt aus. Alt- Recke Balmer in sich zusammengesunken mit dem Kopf auf der Platte seines rohen Tisches und Ritter Medicus hing mit baumelnden Armen und zur Seite gekipptem Kopf auf seinem Stuhl. Seinem halb geöffneten Mund entfuhr ein Geräusch, das Schrotsägen bei nassem Holz verursachen, ansonsten hätte man annehmen können, er hätte sich von seinem irdischen Dasein verabschiedet. Balmer hingegen klang eher wie der verreckende Motor eines alten Lastkraftwagens. Sebastian befürchtete schon, die Coproduktion ihres Schnarchkonzerts würde den ganzen Berg zum Einsturz bringen.
Er tastete sich in das Dunkel der Hütte und brauchte eine ganze Weile, um einen Kerzenstumpen zu erhaschen. Angezündet verbreitete der ein spärliches Licht, in dem Basti nach etwas suchte, mit dem er die beiden Helden draußen vor der Kälte der Nacht schützen konnte. Reiner Egoismus! Er wollte nicht, dass sein einziger Arzt eine Lungenentzündung bekam!
Ein paar große, dichte Tierfelle war das einzige, das er finden konnte und ihm geeignet erschien. Diese warf er Balmer und dem Doktor über die Körper. Sie bemerkten es nicht einmal und rührten sich nicht. Leicht hätte er annehmen können, sie seien tot, wenn ihn nicht ihr Atem vom Gegenteil überzeugt hätte.
Rona und Reno rollten sich neben ihrem Herren zusammen und Sebastian legte sich auf dem Lager in der Hütte zur Ruhe.
  Wichtiger Hinweis: Die Texte des Autors Frank Adlung, insbesondere die des Romans "Das Geheimnis von Val Mentiér", sind durch notarielle Hinterlegung urheberrechtlich geschützt. Ein Herunterladen und Ausdrucken ist nur für den privaten Zweck des Lesens gestattet. Kommerzielle Nutzung, öffentlicher Vortrag, oder Vervielfältigung und Verfälschung des Inhalts, sowie öffentliche Verbreitung ohne Genehmigung des Autors sind untersagt und werden zur Anzeige gebracht.
 
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