Das Geheimnis von Val Mentiér
 
10. Kapitel
 
Unheimliche Dörfer
 
n einen ausgiebigen, erholsamen Schlaf war nicht zu denken. Die Aufregung vor dem Abstieg ins Tal und wohl auch die Angst, er könnte zu lange in den Tag hinein schlafen, ließen Sebastian nur dahindösen. Schwitzend wälzte er sich auf seinem Lager hin und her, schreckte bei jedem noch so leisen Geräusch hoch, drehte sich herum und schlief wieder etwas ein, um sich Minuten später erneut unruhig herumzudrehen.
Die scheinbar endlose Nacht endete mit seinem spontanen Entschluss, zeitiger als geplant aufzubrechen. Sebastian erhob sich von seinem derben Lager und taumelte zur Tür, wie immer, wenn er des Nachts einmal hinaus musste. Wie in jeder Nacht rührte sich Balmer mit keinem Mucks. Dennoch hatte Basti das Gefühl einen Höllenlärm zu veranstalten. Allein das Knarren der Hüttentür empfand er in dieser Nacht als so ohrenbetäubend laut, dass er die Tür in Abständen nur stückweise und ruckartig öffnete, um die Geräuschkulisse so klein wie möglich zu halten.
Dieses ungewohnte Verhalten rief natürlich sofort Rona und Reno auf den Plan. Inständig betete er zu den Mächten des Himmels, die beiden mögen nicht zu bellen beginnen. Sie bellten nicht. Keinen Laut gaben die beiden von sich, standen nur schwanzwedelnd da und musterten erwartungsvoll jede seiner Bewegungen. Noch während Sebastian vorsichtig die Tür hinter sich zu zog, kraulte er beide abwechselnd hinter den Ohren.
Die beiden Hunde folgten ihm natürlich auf Schritt und Tritt, als er sich dem Schuppen zuwandte. Er nahm das Stück Wafan und warf es den beiden hin. Wie vorausgesehen stürzten sich die beiden auf das arme Stück Fleisch, so dass Sebastian beinahe befürchtete, dass es zu schreien beginnen könnte. Mit diesem Leckerbissen waren Balmers Hunde soweit abgelenkt, dass sie zunächst gar nicht registrierten, wie er seinen Rucksack aufnahm.
Sebastian trat an die Bank vor der Hütte, griff in seine Hosentasche, holte das Goldstück hervor, das er sich am Abend eingesteckt hatte und legte es gut sichtbar auf Högi Balmers Sitzplatz. Dann wandte er sich zum Gehen. Augenblicklich waren Rona und Reno an seiner Seite, bereit, ihn überall hin zu begleiten. Na da hatte er ja etwas angerichtet!
Freute er sich erst, dass sie ihm im Laufe der Wochen so zutraulich geworden waren, so sehr ärgerte er sich jetzt darüber. Schnell konnten sie sein Unternehmen zum Scheitern bringen. Doch Lauknitz erinnerte sich an einen Trick, den er schon einmal angewandt hatte. Er zeigte auf ihren Platz bei der Bank und befahl ihnen leise: »Ihr bleibt heute bei der Hütte!« Zweimal musste er es sagen, dann zogen sich die beiden an ihren Platz zurück und legten sich hin, ihn immer noch aufmerksam beobachtend. Ohne ein weiteres Wort ging Sebastian los, vorsichtig und leise auftretend, als könnte er mit seinen Schritten die ganze Welt aufwecken.
Anfangs stieg er noch übertrieben vorsichtig, denn die Gehhilfen, die ihm der Alte geschnitzt hatte und auf die er sich zeitweise noch gestützt hatte, ließ er bewusst bei der Hütte zurück. Sie hätten ihn nur behindert. Sehr schnell stellte Sebastian fest, dass er sie gar nicht mehr benötigte.
Als er den kleinen See oberhalb Balmers Hütte erreichte, blieb er einen Augenblick stehen. Wie er vermutet hatte, stand Balmers Herdenvieh zwischen ihm und der kleinen Furt, die über den Bach führte. Marschierte er mitten durch die Tiere, lief er Gefahr eines davon zu erschrecken. Wie rasch eine Herdenpanik ausbrechen kann, wusste Sebastian aus vielen Cowboyfilmen. Oft genügte nur das Niesen eines Eichhörnchens und die ganze Bande war weg! Was für ihn weitaus bedeutsamer war, ergab sich aus der Tatsache, dass sich Balmers Viehzeug bei einer Panik nicht gerade leise verhalten würde, was wiederum Balmers Hunde und nicht zuletzt ihn selbst auf den Plan gerufen hätte.
Kurz entschlossen setzte Sebastian seinen Weg um den See herum fort. Den Bach am Zulauf des Sees zu überqueren, war nicht angenehmer, als an seinem Ablauf. Dann kam er an der Stelle vorbei, wo er von dem Gor angegriffen wurde. Högi Balmer hatte ihm zwar versichert, dass diese Kreatur so bald nicht wieder auftauchen würde, doch wer wusste das schon so genau. Entsprechend nervös schlich sich Sebastian an den Felsen vorbei.
Gerade hatte er den Kampfplatz von vor vier Wochen passiert, da hörte er hinter sich einen dumpfen Aufschlag und ein Getrappel, wie von hetzenden Füßen. Erst blieb er still stehen, wagte nicht zu atmen und auf seiner Stirn brach der Schweiß in Bächen hervor. Wieder ein tappendes Geräusch hinter ihm! Von wegen, der Gor leckt erst einmal seine Wunden! Dieser Gedanke schoss ihm augenblicklich durch den Kopf. Während ihm der Angstschweiß in die Augen rann, Sebastian aber sonst zu keiner Bewegung fähig war, überlegte er fieberhaft, was er tun sollte. Konnte das Biest im Dunkeln sehen? Würde es sich sofort auf ihn stürzen, wenn er ihm das Gesicht zuwandte? Basti lauschte...
Zwei Tapser und ein wütendes Schnauben! Wie damals, dachte er und spürte sein Herz bis zum Hals hinauf schlagen. Nur an diesem Morgen waren Rona und Reno nicht da. Er hatte ihnen ja ausdrücklich eingebläut, zu bleiben, wo sie waren! Wieder das Schnauben..., ein Stein kollerte hinter ihm über den Boden...
Der Wald, überlegte er, starr vor Schreck... Wenn er es bis zum Wald am Beginn der Schneise schaffen konnte, dann war er vielleicht in Sicherheit. Dieser Gor konnte ihm kaum mit seinen mächtigen Schwingen durch das Unterholz folgen, er würde sich schlichtweg die Flügel brechen! Würde er das wirklich?
Das tappende Geräusch hinter Basti näherte sich. Er überlegte nicht mehr. Aus dem Stand versuchte er so schnell wie möglich vorwärts zu stürmen. Doch er hatte gar nicht mehr an seinen Rucksack gedacht! Mit fünfzehn Kilo auf dem Rücken beschleunigt niemand von Null auf Fünfundzwanzig in zwei Sekunden...
Genau zwei Schritt weit kam er, dann hielt jemand seinen Fuß fest. Sein Oberkörper mit dem Rucksack reagierte nicht so rasch und überholte den Rest von ihm. In hohem Bogen flog Sebastian durch die Luft und landete unsanft auf seinen Rippen, die doch gerade erst verheilt waren. Der plötzliche Schmerz, der wie ein heißes Schwert durch seinen Leib fuhr, ließ ihn den Gor für Sekunden vergessen. Der ging sofort zum Angriff über und trabte los! Seine stampfenden Tritte schienen Sebastian zu überrollen...
Doch wie durch ein Wunder hetzte der Gor als schemenhafter Schatten an ihm vorüber.., und dann noch einer.., und noch einer.., und... Basti blickte staunend hinter den riesigen, flüchtenden Gestalten her, die sich vor dem Himmel im Norden als springende Silhouetten abhoben. Mächtige, geschwungene Hörner tanzten auf massigen Leibern dahin. War das Högi Balmers Herde?
Dann sprang es ihm wie Schuppen von den Augen! Lauknitz erinnerte sich an einen der ersten Tage auf Balmers Alm. Oben auf der Schneise beobachtete er eine kleine Gruppe von Wildziegen, die den ihm bekannten Mufflons sehr ähnlich waren, nur viel größer. Er wurde von Ziegen ins Bockshorn gejagt!
Ihm fiel ein solcher Stein vom Herzen, dass er Angst bekam, Högi Balmer könnte unten in seiner Hütte davon erwachen. Seine Gedanken gingen mit ihm selbst ins Gericht: Das war ja ganz großartig! Sebastian Lauknitz, der erfahrene Bergführer, der die Westalpen wie seine Westentasche kannte, der das Matterhorn mit Turnschuhen eroberte, erschrak bei der ersten Begegnung mit einer Bergziege zu Tode! Super! Ein Haselmäuslein piepst und der große Held der weißen Berge macht sich ins Hemd. Ganz toll!
Wütend über sich selbst, rappelte sich Sebastian wieder hoch und klopfte den Dreck von seinen Kleidern. Er hatte sich die Hände und das Kinn aufgeschrammt und an der Seitennaht seiner Lederhose klaffte ein kleines Loch. Noch keinen Kilometer von Balmers Hütte entfernt und schon aufgelaufen. Na das konnte ja noch interessant werden!
Die Wildziegen zogen die Schneise hinauf, nahmen den Weg, der Sebastian noch bevor stand. Die rechte Hand am Griff seines Bowiemessers stieg er weiter bergan. Bald folgte er der ausgetretenen Spur, die Balmers Vieh tagtäglich erneuerte. Um das Vorratshaus des Alten auf der Hochalm nicht zu verfehlen, hielt sich Lauknitz stur am rechten Waldrand. So erreichte er noch weit vor Sonnenaufgang die Vorratsspeicher des Högi Balmer.
Aus dem Vorrat des Alten nahm sich Sebastian ein großes Stück Hartkäse mit, ein ebenso großes Stück Trockenfleisch, sowie einen Laib Brot und zwei Äpfel, die so groß waren, dass er sie kaum mehr in seinen Rucksack bekam. Danach verschloss er Balmers Vorratslager wieder gewissenhaft und machte sich auf den Weg quer über die Hochalm, in Richtung des Riesenwaldes.
Ein leichter Wind, kaum mehr als ein Hauch wehte über die Hochalm und bewegte ab und zu einen Strauch, oder ein kleines Bäumchen. Jedes Mal fuhr Sebastian vor Schreck zusammen, ahnte einen Gor oder einen Felsenbären. Einerseits wünschte er sich den Sonnenaufgang herbei, um besser sehen zu können, andererseits war er froh, dass Balmer noch eine Weile schlummern würde.
Immer noch stieg er mit Vorsicht und Bedacht, als hätte er das Väterchen selbst hier noch aufwecken können. Beinahe lautlos schritt Sebastian über den grünen Teppich des Almgrases. Nur gelegentlich stieß er gegen einen Stein, oder eine Wurzel. Ruhig und friedlich lag die Alm da. Die abnehmende Sichel des Mondes beschien das Land nur noch sehr spärlich. Lediglich das verhaltene Konzert einiger Nachtinsekten war bei genauerem Hinhören zu vernehmen. Wenn Sebastian angestrengt lauschte konnte er bisweilen den Wind hören, wie er die Blätter und Zweige der kargen Sträucher bewegte. Irgendwo vom Wald herüber schrie ein Käuzchen seinen Klageruf zum Mond hinauf.
Leise und in regelmäßigem Takt wippten die Riemen und Schnallen seines Rucksacks gegen seinen Körper. Dieser kaum vernehmbare Klang beruhigte ihn. Das Geräusch verleitete ihn zu der Assoziation, er befände sich im Aufbruch zu einer Bergtour. So oft war er in der Vergangenheit über stille Almen gewandert, einen der mächtigen Gipfel des Wallis zum Ziel. Wie oft war er schon so gedankenversunken gestiegen, die Route, den Gletscher, den Grat, die Flanken im Geiste nach den Möglichkeiten ihrer Begehbarkeit abschätzend. Dieser Morgen konnte einer von vielen sein...
Er war es aber nicht! Und genau das war der Punkt, der dieses ungute, krampfende Gefühl in Sebastians Bauch hinterließ. Es war eben keiner dieser friedlichen Aufstiege der Vergangenheit, bei denen er versuchte, den Menschen und ihrer nervigen Zivilisation auf Zeit zu entfliehen. Paradox! Jahrelang befand er sich immer wieder in der Stimmung solcher Aufbrüche, die ihn in die reine, friedliche Natur führen sollten. An diesem Morgen aber stieg Sebastian ab, um genau diese Zivilisation zu suchen, die Menschen, die in ihrer Gemeinschaft Geborgenheit und Schutz versprachen.
Eigenartig wie wankelmütig dieser Mensch, Basti Lauknitz, doch war! Erst entfloh er der Gemeinschaft der Menschen, die ihn mit ihren selbst auferlegten Zwängen, Regeln und Gesetzen belasteten, um dann festzustellen, dass er auf Dauer ohne ihre schützende Hand gar nicht leben konnte. Aber vielleicht blickten seine Augen ja auch stets durch die Brille der jeweils vorherrschenden Gegebenheit. In dieser Stunde gestand er sich zum ersten Mal bewusst ein, dass er, Sebastian Lauknitz, eines dieser unsteten, unangepassten, aber auch bequemen Wesen war, welches permanent bemüht war, der gegenwärtigen Situation zu entfliehen, sofern diese unangenehm wurde.
Hin und her gerissen zwischen der inneren Ruhe, die er beim Anblick dieser friedlichen, nächtlichen Landschaft entwickelte und der Tatsache, dass er nicht wusste, wie sicher er sich jederzeit wieder in sein Zuhause würde flüchten können, gelangte Sebastian auf den höchsten Punkt der Alm, einer kaum als solche zu erkennenden, sanften Kuppe.
Vor ihm, im Westen, breitete sich der freie Blick auf das Panorama der fernen Bergkette aus, die Balmer einmal als den Sitz der Götter und das ewige Eis bezeichnet hatte. Hell, beinahe gläsern lagen sie unter dem Schein der Mondsichel. Nur vier oder fünf Täler trennten Sebastian von diesen gewaltigen Bergen. Dennoch schienen sie im nächtlichen kalten Licht unendlich weit entrückt. Dort, wo sich das Gebirge weiter nach Süden ausbreitete, schienen die Gipfel in greifbare Nähe gerückt. Lauknitz sprach diesen Blickwinkel den nächtlichen Lichtverhältnissen zu. An seinem Erkundungstag, im Licht der Mittagssonne, sah alles viel ansprechender und heimeliger aus. An diesem nachtkalten Morgen fühlte er sich in der fremden Landschaft sehr viel verlorener, als in der strahlenden Sonne vor ein paar Tagen. Möglicherweise lag das auch an der inneren Gewissheit, an jenem Abend wieder sicher in die Geborgenheit von Balmers Hütte zurückkehren zu können. Diese beruhigende Sicherheit hatte er an diesem Tag nicht. Er konnte nicht wissen, wohin ihn sein Weg führte und ebenso wenig, was ihn im Tal erwartete.
Beim sanften Abstieg über die Almwiese dachte Sebastian darüber nach, ob er im Tal zunächst in einem Hotel übernachten und sich über die Rückreisemöglichkeiten informieren sollte, oder ob es klüger war, sich gleich nach dem Bahnhof durchzufragen und den ersten Zug in Richtung Norddeutschland zu besteigen. Da er nicht genau wusste, in welchem Landstrich er sich befand, blieben all diese Überlegungen zunächst rein akademischer Natur.
Allmählich schob sich die dunkle Mauer des Waldes in sein Blickfeld. Inzwischen konnte Sebastian auch das Rauschen des Gebirgsbaches im Tal hören. Natürlich hatte er an diesem Morgen den Eindruck, es wäre um so viel lauter als vor einigen Tagen, so, dass es Väterchen Balmer aufwecken würde. Vermutlich aber trug die klare Luft der weichenden Nacht den Klang deutlicher herüber, als er das am Tage empfunden hatte.
Fieberhaft versuchte er die Stelle wieder zu finden, an der er am Tag seiner Entdeckungsfahrt in den Wald eingetreten war. Dies erwies sich als schwierig, da es keinen hart abgegrenzten Waldrand gab, sondern einen allmählichen Übergang der Almlandschaft in Gebüsch und vereinzelt stehenden, kleineren Bäumen, bis zu lichtem Baumbestand, der immer dichter wurde. Und je mehr Sebastian in den Wald vordrang, desto dunkler wurde die Umgebung und um so phantasiereicher schlugen seine Gedanken Purzelbäume. Plötzlich waren all die Wesen, aus Balmers Kopf entsprungen, allgegenwärtig: Gore, Felsenbären, Eishunde...
Hinter jedem Strauch, hinter jedem Baum und in jeder Senke erwartete er, dass sich eine dieser Kreaturen plötzlich auf ihn stürzte, um ihn zu dessen Frühstück einzuladen. Wie ein Dieb schlich er durch das Unterholz. Bei jedem Knacken eines Astes oder Zweiges gefroren seine Bewegungen für Sekunden und er starrte in die undurchdringliche Finsternis. Stellenweise zog ein kalter Dunst durch das Dickicht, wie ein schleichendes Tier auf Beutezug. Ziehende Fetzen von Bodennebel griffen mit kalter Hand nach ihm.
Auf einem Mal hatte Sebastian das Gefühl, als bewegte sich etwas in seinem Rücken. Er sensibilisierte seine Sinne und konnte deutlich hören, wie etwas hinter ihm her schlich. Es klang wie ein großes Tier, das ihm heimlich folgte und seinen Schwanz im Laub des Waldbodens schleifen ließ. Unvermittelt blieb Sebastian stehen und lauschte in die Nacht. Eine zehntel Sekunde lang hörte er noch das schleifende Geräusch, dann war es still. Jedes Geräusch erstarb. Der Wald schwieg, als erwarte er eine dramatische Handlung. Angestrengt versuchte Sebastian die Dunkelheit mit seinem Blick zu durchdringen. Sinnlos! Er bewegte sich langsam weiter. Das geheimnisvolle Rascheln folgte ihm.
Seine Poren öffneten sich und die Schweißdrüsen begannen fieberhaft zu arbeiten. Er versuchte nicht zu atmen, um einerseits seine Position nicht zu verraten und um andererseits selbst besser hören zu können. Lauschend versuchte Sebastian die Laute zu trennen, die an sein Ohr drangen. Er konnte deutlich unterscheiden zwischen seinen Schritten und dem ihm folgenden Rascheln. Einen Augenblick hielt er an, das Geräusch hörte auf. Ging er weiter, setzte sich auch das unbekannte Wesen wieder in Bewegung. Es folgte Sebastian auf Schritt und Tritt, ohne offen in Erscheinung zu treten.
War es ein Felsenbär, der nur auf eine günstige Gelegenheit wartete, um plötzlich aus dem Dunkel heraus zuzuschlagen? Bären waren kluge Tiere, die zunächst genau ihre Möglichkeiten abschätzten, bevor sie angriffen. Sie besaßen auch die Eigenart, ihre mächtigen Tatzen bisweilen schleifend über den Waldboden zu ziehen! Kaum, dass Sebastian in diesem Moment noch zu atmen wagte. Hätte er seinen Mund geöffnet, wäre er an dem Schweiß erstickt, der ihm über das Gesicht lief.
Seine Gedanken überschlugen sich... Konnte er auf einen Baum flüchten? Plötzlich vorwärts stürmen, den Rucksack abwerfen und auf einen Baum klettern? Wie schnell konnte er sein? Schneller als ein Bär, dessen Interesse zunächst seinem Rucksack galt.., vielleicht! Langsam ging er weiter, ohne noch darauf zu achten, wohin. Die Sinne bis zum Bersten angespannt tat er so, als hätte er seinen Verfolger noch gar nicht bemerkt. Den Feind in Sicherheit wiegen.., das war die Taktik! Sebastians Augen durchbohrten die Nacht auf der Suche nach einem Baum, der ihm mit niedrigen Ästen entgegen kam und auf dem er Zuflucht finden konnte, als ihn plötzlich aus dem Dunkel heraus zwei Licht sprühende Augen anstarrten...
Abrupt blieb Sebastian stehen, schockiert, als wäre er gegen eine unsichtbare Mauer gelaufen. Das verfolgende Rascheln war verstummt. Statt dessen stierten ihn aus der Finsternis zwei gelbe Punkte an, bewegten sich leicht hin und her, wie wenn ein Bär seinen riesigen Körper auf seinen Beinen wiegt. Das Biest hatte ihn umgangen und stand nun direkt vor ihm! Allmählich schwoll auch das Rauschen des Baches an, drang aus der Tiefe herauf, als würde es Sebastians Ohren sprengen wollen. Es brüllte ihn an und tatsächlich konnte er nicht mehr unterscheiden, ob ihn der Felsenbär anbrüllte, oder ob es tatsächlich das dort unten dahin schießende Wildwasser war.
Dann bewegte sich das glühende Augenpaar langsam auf ihn zu und Sebastian glaubte auch schemenhaft den massigen Körper des Bären zu erkennen, der wankend auf ihn zu trottete. Er versuchte keine Reaktion zu zeigen, das Biest nicht unnötig zu reizen, nur eben mit seinen Beinen langsam und ruhig zurückzuweichen. Das Dröhnen des Baches in der Schlucht wurde unerträglich. Und wie weit er auch zurückwich, die ihn drohend anstarrenden Lichtpunkte folgten ihm! Schritt für Schritt bewegte sich Lauknitz vorsichtig rückwärts, krampfhaft bemüht, keine hastigen Bewegungen zu machen, die das Tier dazu reizen konnte, unverhofft anzugreifen. Dennoch stieß sein Fuß jäh gegen ein Hindernis. Er verlor den Halt, ruderte mit den Armen und kippte hinten über. Noch im Fallen sah er die böse glimmenden Augen auf sich zuschießen...
Jetzt wirst du zerrissen, fuhr es ihm durch den Kopf. Gleichzeitig teilten sich die glühenden Lichtpunkte plötzlich auf und wirbelten, scheinbar jeder für sich, um ihn herum. Irgendetwas hielt ihn fest umklammert. Sebastian konnte sich nicht mehr aufrichten, sich nicht drehen, oder mit den Füßen wegschieben. Mit Armen und Beinen strampelnd, versuchte er sich aus dem festen Griff zu befreien und in panischer Angst erwartete er jeden Augenblick den viehischen Schmerz, wenn der Bär die ersten Fleischstücke aus seinem Körper reißen würde. Doch Sebastian spürte weder Schmerz, noch den Druck riesiger Tatzen, noch einen Atem, der nach seiner Vorstellung faulig stinken musste. Statt dessen war er wie in einer unsichtbaren Klammer gefangen. Nur die beiden glühenden Punkte schwirrten wie wild gewordene Wespen um ihn herum.
Nach einigen Sekunden der atemlosen Panik begann Sebastians Gehirn wieder rational zu arbeiten. War tatsächlich ein Felsenbär über ihn hergefallen? Seine Gedanken begannen sich neu zu ordnen. Hätte ihn ein Bär ernsthaft in die Mangel genommen, hätte er anschließend wohl kaum mehr die Gelegenheit gehabt, näher darüber nachzudenken!
Die beiden leuchtenden Punkte tanzten noch immer vor seinen Augen herum und wenn es seinem Blick für Bruchteile von Sekunden gelang, ihren schnellen, ruckartigen Bewegungen zu folgen, erkannte er kleine, von innen heraus glühende, fast zierliche Körperchen mit Köpfchen und Gliedmaßen. Hauchzart schimmernde Flügelchen hielten die kleinen Geschöpfe mit rasanten Bewegungen in der Luft, wie Kolibris oder Libellen. Ohne sich zu bewegen starrte Sebastian fasziniert die kleinen Wesen an und sah ihren Kapriolen zu, die sie um ihn herum vollführten. Einige Male gerieten sie so nahe an sein Gesicht, dass er dachte, sie würden ihn verbrennen. Und in der Tat strahlten die kleinen Tierchen eine sengende Hitze von ihren Leibchen ab, dass er ernsthaft glaubte, sich daran verbrennen zu können.
Der Kontrast, den diese übergroßen Glühwürmchen in der Dunkelheit des Waldes hervorriefen, blendete Sebastian derart, dass er völlig blind da saß, als sich die beiden glühenden Punkte plötzlich von ihm abwandten und wie winzige Kugelblitze in der Unendlichkeit der Nacht verschwanden.
Danach brauchte er eine Weile, um sich wieder zu beruhigen. Einige Minuten lang lauschte er in die Dunkelheit hinein. Nur das Rauschen des Baches drang aus der Schlucht herauf. Ein Bär, oder irgendein anderes wildes Tier schien nicht in der Nähe zu sein. Dennoch hielt ihn irgend etwas gefangen, denn er konnte sich immer noch nicht erheben. Sebastian schnallte sich den Ruchsack vom Leib, streifte die Trageriemen ab und siehe da, die unbekannten Hände ließen ihn los.
Sein Gepäck hatte sich einfach nur beim Sturz rücklings im Gebüsch verfangen. Ohne die Last seines Körpers ließ sich der Rucksack einfach aus dem Gestrüpp befreien. Nachdem er wieder seinen Platz auf Sebastians Schultern gefunden hatte, versuchte dieser sich neu zu orientieren. Das war gar nicht so einfach, denn er hatte das Empfinden, als klänge das Rauschen von allen Seiten an sein Ohr. Die Bäume warfen den wilden Lärm des Wassers vielfach zurück.
Umständlich kramte Sebastian nach seinem Kompass. Die Nadel zeigte ihm deutlich, wo Süden war. Dorthin wollte er gehen, parallel zum Wildwasser, das in der Tiefe gurgelte. Vorsichtig setzte er sich wieder in Bewegung und.., erstarrte. Augenblicklich verfolgte ihn erneut das schleichende Tier! Aber das konnte doch gar nicht sein! Denn warum war es dann nicht über ihn hergefallen, als er vom Unterholz gefangen am Boden lag?
Diesmal drehte sich Sebastian um. Sein Blick erfasste nur schemenhafte Stämme, verschwommene Sträucher und Dunkelheit. Da war es wieder, dieses Rascheln, genau, als er sich zurück drehte! Zum Test drehte er sich einige Male um die eigene Achse. Das Geräusch begleitete ihn. Da, irgend etwas berührte seine Beine! Instinktiv griff Sebastian danach...
Seine Reepschnur war es, die er plötzlich in den Händen hielt und die ihm offensichtlich diesen Streich gespielt hatte. Sie befand sich aufgewickelt auf seinen Rucksack geschnallt. Irgendwie hatte sich ein Ende gelöst und allmählich zog Sebastian die halbe Schnur hinter sich her durch das Laub am Boden. Kein Wunder, dass ihn dieses schleichende Geräusch verfolgte. Er war auf seine eigene Dusseligkeit hereingefallen. Also keine Felsenbären und Gore!
Doch dass es zumindest einen Gor gab, das wusste er. Und was waren das vorhin für Dinger, die heiß glühend um seinen Kopf schwirrten? Sicher keine Glühwürmchen, wie er sie kannte! Offenbar veränderte hier jemand ganz gehörig die biologischen Gesetze dieses Planeten. Die Presse würde sich bei Sebastians Rückkehr freuen, solch einen Skandal aufdecken zu können! Jedenfalls würde er diese Ungeheuerlichkeiten kaum auf sich beruhen lassen!
Als er endlich seinen Weg fortsetzte, begann es bereits leicht zu dämmern. Ganz wenig glaubte Sebastian den Himmel sich verfärben zu sehen. Auf dem Waldboden allerdings herrschte noch blinde Dunkelheit. Erst im Reich der Riesenbäume fiel etwas Licht in die Finsternis. Unvermittelt befand sich Basti in dem Wald, der ihn so faszinierte. Wie durch eine monumentale Halle, durch gigantische Säulen gestützt, schritt er durch die ungewöhnliche Baumstadt. Ab und zu sah Sebastian jetzt die Sichel des Mondes durch die himmelhohen Wipfel blitzen.
Das tosende Wasser hörte sich zwischen den Baumriesen noch verwirrender an. Bald klang es von hier, bald von dort, gelegentlich hatte Basti den Eindruck, der Bach strömte über ihm herein. Dazwischen ließ ein erstes Vögelchen seine zaghafte Stimme erklingen. Nach und nach stimmten andere Vögel mit ein, verhalten noch, aber bereit, den neuen Tag zu begrüßen. Nebel stiegen auf, zogen still durch den Wald, teilten sich um die dicken Stämme, benetzten sie, vereinten sich wieder und strebten bergwärts. Nasskalte Hände griffen nach ihm, überholten ihn, nässten den Blätterteppich am Boden, so dass seine Schritte kaum mehr zu hören waren.
Dann trat er aus den Bäumen hervor auf die weite, karge Almlandschaft. Im Osten stand eine lang gezogene, hohe Nebelbank und verdeckte noch die Sonne. Sie kroch unmerklich langsam nach Süden. Im Westen und Südwesten jedoch, dort, wo Balmer den Sitz der Götter glaubte, trafen die ersten Sonnenstrahlen auf die Gipfel der schneebedeckten Berge. Strahlend rot, wie die blutigen Zähne eines Hais reckten die unzähligen Berge ihre Spitzen in den violetten Morgenhimmel. Einige Nebelfetzen schlichen wie fliehende Geister die Almwiese hinauf, bis sie weiter oben von einem Windhauch erfasst, durcheinander gewirbelt und hinauf zu den hohen Gletschern, Graten und Flanken getragen wurden.
Ein Felsen, direkt am Waldrand, lud zu einer ersten Rast ein. Doch an Essen oder Trinken dachte Sebastian nicht. Viel zu sehr ließ er sich vom Sonnenaufgang verzaubern. Der vollzog sich so geheimnisvoll wie dieses Land, in das er hier geraten war. Die ersten Strahlenlanzen durchbrachen die obere Schicht der Wolkenbank, schossen wie das Feuerwerk aus einer Laserkanone an den himmelwärts ragenden Baumstämmen entlang, tauchten sie zur Hälfte in purpurnes Licht und strahlten in die Tiefe des Waldes, als müssten sie jeden Winkel absuchen. Wie im hohen Saal einer Kathedrale, in den das Licht durch hohe Fenster einfiel, brach sich der Morgenschein seinen Weg durch die Dämmerung der säulenhaften Baumgiganten.
Drüben, aus der Nebelbank trat eine Gruppe von Tieren heraus. Bedächtig, jeden Tritt prüfend, schritten sie eines nach dem anderen majestätisch auf die Wiese. Sie hatten die Gestalt mitteleuropäischer Rothirsche, nur in der Schulterhöhe etwa einen halben Meter größer. Stolz trugen sie beeindruckende Geweihe auf ihren Häuptern, die in der Morgensonne silbrig glänzten. Mit diesen Waffen waren sie sicher ernst zu nehmende Gegner für jedes Raubzeug. Vom Hals an, über ihre Schultern, bis beinahe über den ganzen Rücken und ihren Hinterläufen trugen sie ein zottiges, lodenartiges Fell, ähnlich dem eines Wisents. Sie witterten argwöhnisch nach allen Seiten, bevor sie sich hingebungsvoll den saftigen, taubenetzten Kräutern widmeten. Still beobachtete Sebastian, wie sie friedlich äsend am östlichen Waldrand entlang zogen.
Stück für Stück eroberte sich die Sonne den frühen Morgen. Überall erwachte das Leben. Große, rebhuhnartige Vögel tanzten flügelschlagend im nassen Almgras umeinander. Entweder handelte es sich um einen Balztanz, oder diese Tiere waren schlichtweg betrunken. Die Szene gestaltete sich so urkomisch, dass sich Sebastian zusammenreißen musste, um nicht laut loszulachen.
Ein schneller Schatten wanderte entgegen der Windrichtung über die Alpweide. Erschrocken blickte Sebastian auf, vermutete schon wieder einen Gor. In eleganten Schwüngen zog ein Greifvogel seine Bahn am stahlblauen Himmel, verschwand über der monumentalen Mauer des Waldrands, um einen halben Kilometer weiter westlich wieder aufzutauchen. Ein langgezogenes, heiseres Plüüüüf ließ der Vogel erklingen, dessen Größe Basti kaum abschätzen konnte.
Im summenden und brummenden Klang tausender, erwachender Insekten spielte eine Gruppe von jungen Murmeltieren, skeptisch bewacht von ihrer Mutter, die auf einem kleinen Erdhügel Wache hielt. Zumindest diese Tiere schienen hier nicht mutiert zu sein. Ihr Aussehen und Verhalten glich dem, der ihm bekannten Nager aus dem Wallis. Der Greifvogel am Zenit schien diese drolligen Erdbewohner indes nicht zu beunruhigen. Anscheinend standen sie nicht auf seinem Speiseplan.
Dann brach die Sonne vollends hinter der Wolkenbank hervor. Augenblicklich überflutete warmes Licht die ganze Landschaft. Über dampfendem Boden versuchten die letzten Nebel himmelwärts zu fliehen. Doch sie kamen nicht weit. Die Sonne löste sie einfach auf, ließ die filigranen Gebilde gnadenlos sterben. Ein Tag war geboren. Die Dämmerung als Nachgeburt zog sich immer tiefer in den Wald hinein und in die Schlucht hinab, bis auch sie unaufhaltsam verging.
So voll Frieden und Harmonie war dieses morgendliche Bild in seiner gesamten Anmut, dass Sebastian kaum mehr in den Sinn kam, gar nicht freiwillig hier zu sein. Doch das sollte sich bereits in den nächsten Stunden ändern...
Zunächst aber sah es so aus, als hätte er nichts weiter, als eine schöne Hochgebirgswanderung vor sich und als hätte er diesen Tag genießen können. Dort, wo sich die Sonnenstrahlen das Terrain eroberten, stimmten die Insekten ihr summendes Konzert an. Die Bergdohlen begannen mit ihrem typischen »Krooog, Kroooog« ihre akrobatischen Segelflüge im Wind und unterbrachen ihre Manöver nur, wenn sie etwas Fressbares erspäht hatten.
Nachdem Sebastian seine Bekleidung der aufsteigenden Wärme angepasst hatte, setzte er seinen Weg fort. Wie an seinem Erkundungstag folgte er dem Lauf des Wildwassers. Hier und dort schwenkte er weiter in die Alpweide hinein, um allzu steilem Gelände oder Felsen aus dem Weg zu gehen. Dabei entdeckte Sebastian wiederum eine Vielzahl von Kräutern und Blumen, die ihm völlig unbekannt waren. Sie faszinierten ihn aber mit ihrer einfachen Schönheit und Farbenpracht, dass er oft anhielt, um sich ihr Bild einzuprägen.
Am späten Morgen erreichte er dann die Stelle, an der er bereits einmal den Wildbach durchquert hatte und wo ihm der geheimnisvolle Fußabdruck auffiel, der ihn an den Mythos des sagenumwobenen Yeti erinnerte. Um keine nassen Füße zu bekommen, sprang er von Sandinsel zu Sandinsel, von Stein zu Stein, über die verzweigten, sich ausbreitenden Arme und Rinnsale des Wildbachs. Eine neue Spur fand Sebastian indes nicht. Das beruhigte ihn ein klein wenig, denn er konnte sich einreden, dass er im Augenblick wohl vor Angriffen irgendwelcher unbekannter Spezies sicher war.
Kurz darauf erreichte Sebastian auf der anderen Bachseite den Weg, der sich über die Almlandschaft dahin zog. Diesmal folgte er ihm bergab, im Gedächtnis noch immer die gruselige Erinnerung an seinen ersten Ausflug auf diesem Pfad. Er spürte ein seltsames Gehempfinden, denn er war nicht mehr gewohnt, auf einem geebneten Weg zu laufen, noch dazu auf einem mit Gefälle. In den letzten Wochen hatte er sich ja nur auf Wald- und Wiesengelände bewegt. Väterchen Balmers Weg hinauf zu seinem Almsee und weiter zum Vorratshaus zählten nicht. Sie glichen eher einem primitiven Trampelpfad.
Auf dem bequemen Weg, den auch ein Personenkraftwagen hätte gefahrlos benutzen können, kam er gut voran. Starke Neigungen gab es nicht. Bei Gefälle oder Steigung wich die Wegführung einfach ins Gelände aus. Unzählige Serpentinen beschrieben daher die Strecke. An zu weit ausholenden Wegschlaufen und Biegungen kürzte Sebastian einfach durch das Gelände ab.
Rasch kam er auf den Gedanken, dass bisweilen schwere Transporte diesen Weg benutzen mussten, denn wie sonst sollte sich eine so aufwendig ausgebaute Wegführung erklären. Menschen, die zu Fuß, mit Lasttieren, oder mit landwirtschaftlichen Fahrzeugen unterwegs waren, bewältigten gewöhnlich auch mittlere Steigungen.
Hinter einer weit in das Gelände ausholenden Wegbiegung, die durch einen von Felsen durchsetzten Hügel verdeckt war, stieg Sebastian erneut das kalte Grausen ins Gemüt. Unbedacht war er um die Kehre gelatscht, als ihn ein Gegenstand abrupt stoppen ließ. Wie bereits vor Tagen weiter oben auf diesem Weg stand unverhofft eine der grausigen Vogelscheuchen vor ihm. Ein Skelett, an ein zweieinhalb Meter großes Kreuz gebunden, blickte den Weg hinab.
An seinen Knochen hingen noch die Fetzen irgendwelcher Kleidungsreste und bewegten sich gespenstisch im Wind. Lange Naturfasern, welche die Einzelteile des Knochenmannes in ihrer Position am Kreuz hielten, baumelten von den Gebeinen herab. Auf dem Schädel saß ein alter, ausgeblichener und zerbeulter Hut, der in seiner Glanzzeit wohl einmal als Zylinder das Haupt eines vornehmen Mannes zierte. Er war an der Krempe schlicht mit einfachen Holznägeln an den Schädelknochen genagelt. Dass die Nägel dem Schädel Risse zugefügt hatten, schien den Baumeister dieses Gebildes nicht weiter gestört zu haben. Brustkorb und Beine des Skeletts waren mit Zweigen und Fasern geschient, damit sie nicht herab fielen.
Im Grunde war es eine ebenso abschreckende Geisterpuppe, wie Sebastian sie bereits weiter oben auf diesem Weg entdeckt hatte. Offenbar war diese gesamte Feldstraße von solchen Grausigkeiten gesäumt. Eine Kleinigkeit jedoch fiel ihm an diesem Gerippe auf: Es trug eine grobe Kette um seinen Hals, deren Anhänger in leisem Takt gegen die Rippenknochen schlug. Die Kette war weniger spektakulär. Sie bestand aus ineinander gefügten, nicht sehr fein geschmiedeten Ringen, je ein großer an einen kleinen.
Interessanter war der Anhänger, eine ungefähr sieben Zentimeter große, schwere Metallscheibe, die offenbar gegossen worden war. Sie ähnelte dem Orden eines mittelalterlichen Würdenträgers. Auf der Rückseite war sie grob geschliffen. Die Vorderseite aber zeigte ein Bild: Unten zwei gekreuzte Schwerter oder Lanzen, darüber eindeutig erkennbar ein Drache mit ausgebreiteten Schwingen, auf dessen Schultern ein Mensch saß, als würde er auf ihm reiten. Deutlich konnte Sebastian erkennen, dass diese Medaille nicht geprägt, sondern gegossen worden war. Allein das Metall war ihm nicht bekannt. Seinen Eigenschaften nach musste es Silber sein, doch es wies keinerlei Oxydationsspuren auf und besaß einen sehr matten Glanz, der eher schäbig wirkte.
Er überlegte, ob es eine Art Grabschändung wäre, wenn er die Medaille einfach mitnehmen würde. Sobald er wieder zuhause war, musste er seine unglaublichen Erlebnisse vielleicht beweisen können. Ein solcher Fund konnte seinen Bericht glaubhaft untermauern. Noch zögerte er, die schwere Kette an sich zu nehmen. War es der Respekt vor dem Toten? Möglicherweise wurden die Menschen hierzulande auf diese makabere Weise bestattet? Hatte er das Recht, die Totenruhe zu stören, nur, um seinen Aufenthalt in dieser Gegend später beweisen zu können? Andererseits... Wer sollte ihn schon anklagen? Unter Umständen war die Kette auch noch wertvoll? Das wäre dann eine Entschädigung für seine unfreiwillige Verschleppung an diesen gottverlassenen, weißen Fleck auf was weiß der Himmel für einer Landkarte!
Nicht ganz ohne Angst griff Sebastian zu und riss die Kette vom Hals seines bleichen Trägers. Dabei brach er zwei Halswirbel aus der Skelettstruktur. Klackernd fielen sie zu Boden und er hielt den Atem an, weil er befürchtete, das Geräusch wäre kilometerweit zu hören. Schnell, als fühlte er sich beobachtet, wickelte er die Kette in sein Halstuch und steckte sie in die Seitentasche seines Rucksacks.
Die Sonne stand hoch am Himmel. Es wurde unerträglich heiß. Sebastian beschloss, hinter der Deckung eines größeren Felsens kurz zu rasten und hielt nach einer geeigneten Stelle Ausschau. Dabei fiel ihm auf, dass er sich bereits auf der Höhe des Riesenwaldes befand. Drüben, jenseits der Schlucht ragte die düstere Mauer der riesigen Bäume in den flimmernden Himmel. Wie ein natürliches Bollwerk, das eine urzeitliche Armee aufhalten sollte, stand der Wald mauergleich da.
Eine Weile beobachtete er seinen Rand. Huschte dort drüben nicht etwas aus dem Wald? Vermutete er Verfolger, die plötzlich zwischen den mächtigen Stämmen hervorströmen und ihm nachhetzen könnten? Einbildung, Angst! Denn er sah nur den unwirklich in gleißender Mittagshitze daliegenden Wald und die Wiesenlandschaft. Leer und verlassen lag das Land, als hätte nie ein Wesen seinen Fuß darauf gesetzt.
Mittlerweile witterte Sebastian überall Gefahren. Die Erlebnisse der letzten Wochen hatten aus einem unbekümmerten, selbstsicheren Sebastian Lauknitz einen ängstlichen, verunsicherten Menschen gemacht. Allein die Einsamkeit der Stunde, die Wärme und die strahlende Helligkeit des Lichts, sowie die tausenden, friedlichen Stimmen der Natur beruhigten ihn wieder.
An einer Felsgruppe, die aussah, als hätte Gott selbst sie auf dieses Land geworfen, lud er den schweren Rucksack von seinen Schultern und setzte sich mit dem Rücken an den Felsen. Das ausgedörrte, fast gelbe Gras protestierte leise knisternd, als Sebastian es sich bequem machte.
Er nahm einen Schluck aus der frisch gefüllten Feldflasche und zwinkerte geblendet in die Sonne. Lauknitz mochte diese friedlichen Augenblicke in den Bergen. Oft gaben sie ihm die Ausgeglichenheit zurück, die sich in seinem Alltag, bei seiner täglichen Arbeit auf dem Bau verrauchten. Auf den Hochgebirgsweiden, weitab der Städte Lärm, in der Abgeschiedenheit, ließ es sich stets friedlich träumen und ungestört nachdenken.
Kein Motorenlärm störte die verträumten Stunden, die er oft an den sonnenbeschienenen Berghängen im Wallis verbrachte. An solchen Plätzen tankte seine Seele regelmäßig auf, um die nächste Zeit des Alltags zu überstehen. Der leise Gesang der Vögel, das monotone Summen der Insekten und das auf- und abschwellende Rauschen des nahen Wildbachs machte seine Glieder schwer und seine Sinne müde. Schließlich war er bereits seit letzter Nacht auf den Beinen!
Einen Moment gab er der Versuchung nach, schloss die Augen und versuchte sich vorzustellen, auf Grächens Hannigalp zu sitzen und zu wissen, dass am Abend ein gutes Essen, eine kühle Dusche und ein weiches Bett auf ihn warteten. Im Geiste verwandelte er die leisen Geräusche und leuchtenden Bilder der Umgebung in Musik, in eine eigene, harmonische Komposition der Friedlichkeit und Ruhe. Einen Augenblick nur träumen, um sich wieder zu sammeln... Einen kurzen Moment nur...
Plötzlich drang Hundegebell an Sebastians Ohr. Zuerst ganz leise, so dass er das Gefühl hatte, es gehörte zur empfundenen Symphonie seiner Seele. Dann wurde es lauter und schließlich störte es den feierlichen Klang seiner Phantasie. Hunde!
Mit einem Mal war er hellwach! War er eingeschlafen? Hatte er das nur geträumt? Angestrengt lauschte Sebastian, versuchte die verschiedenen Klänge der Natur mit seinem Gehör zu durchbohren. Sicher hatte er sich das wieder einmal nur eingebildet...
Nein, halt! Da! Ganz deutlich hörte er es wieder. Es war das Bellen eines Hundes! Rona und Reno? Hatte der Alte sie auf seine Fährte angesetzt? Konnten die ihn in so kurzer Zeit gefunden haben? Nun ja, Sebastian hatte einige Zeit im Wald vertrödelt, auf der Jagd nach einem vermeintlichen Verfolger, dann die Rast beim Sonnenaufgang und wie lange hatte er schon am Fels in der Sonne gesessen? Trotzdem, selbst wenn Rona und Reno mühelos seiner Spur folgen konnten, Balmer war auf gar keinen Fall so schnell zu Fuß!
Oder hatte er die beiden Hunde einfach hinter ihm her geschickt, damit sie ihn auf seinem vermeintlichen Ausflug beschützten? Aber wenn er Bastis Goldmünze auf der Bank gefunden hatte, musste Högi doch klar geworden sein, dass sich Sebastian von ihm verabschiedet hatte. Er war sich nicht sicher.
Statt dessen trat das Gebell deutlicher an sein Ohr. Und er vernahm nur einen Hund! Außerdem hallte der Klang von unten, also aus dem Tal zu ihm herauf. Der Alte hingegen wäre mit seinen Hunden vom Berg her gekommen, eben den Weg, den Sebastian selbst gegangen war!
Krampfhaft dachte er nach. Hatte er Freund oder Feind zu erwarten? Traf er so unverhofft auf Hilfe, oder nahte dort jemand, der ihn abfangen und ihm den Weg ins Tal abschneiden sollte? Sebastian stellte sich auf und kletterte ein paar Fuß hoch den Felsen hinauf, bis er seinen Kopf über die Felskante recken konnte. Zu sehen war nichts, außer dem unübersichtlichen, kurzgrasigen Gelände und einem Stück des Weges. Doch der raue Klang des Hundes kam näher!
Fieberhaft überlegte Sebastian, was er tun konnte, um unentdeckt zu bleiben. Er befand sich etwa dreißig bis vierzig Meter vom Weg entfernt, auf der dem Weg abgewandten Seite des Felsens. Sehen konnte man ihn nicht, wenn man nicht gerade nach ihm suchte. Aber konnte ihn ein Hund wittern? Ängstlich prüfte er den Wind. Er wehte von Nordnordwest, also stand er gegen den Wind. Doch wenn der Hund auf dem Weg blieb, musste er hinter der großen Kehre unweigerlich seine Witterung haben.
Unaufhörlich kam das Gebell näher. Aber es war nicht mehr allein! Auch Stimmen trug der Wind zu Sebastian herauf. Menschliche Stimmen! Es musste eine ganze Gruppe von Menschen sein, die da den Bergweg heraufkam. Ein Suchtrupp? Aber würde der sich nicht mucksmäuschenstill verhalten? Oder gezielt nach Personen rufen?
Statt dessen hörte er noch etwas anderes, das er erst gar nicht wahrgenommen hatte, das ihm auf einem Mal um so intensiver in sein Gehör drang: »Wammm, wammm, wammm,..« Ein dumpfer Laut, wie wenn jemand auf ein Autodach schlägt, im stoischen Takt. Seine Gedanken überschlugen sich. Er dachte an die übergroße Fußspur am Bach. Wie groß musste ein Wesen sein, um beim Gehen solche Laute zu verursachen?
»Wammm, wammm, wammm...« Bei jedem Zyklus schien es lauter zu werden, bedrohlich näher zu kommen. Jeden Moment musste das Unbekannte um die Wegbiegung kommen und hinter dem Almhügel hervortreten. Das Bellen des Hundes indes schien bereits neben Sebastian zu sein. Erschrocken blickte er von seinem Felsen herab. Nichts!
Vorsichtshalber zog er seinen geöffneten Rucksack zu sich herauf und machte ihn mit den Riemen an einer Felskante fest. Sollte ihn aber der Riese überraschen, dessen Fußabdruck er gefunden hatte, würde ihm das kaum etwas nützen. Aber wenigstens vor dem Hund war sein Hab und Gut einigermaßen geschützt. Als Sebastian mit der Sicherung des Rucksacks fertig war, riskierte er einen weiteren Blick über die Felskante...
Was ich da sah, versetzte ihm einen solchen Schreck, dass er beinahe den Halt verlor und vom Felsen fiel. Wie aus dem Nichts waren sie plötzlich vorn auf dem Weg aufgetaucht. Eine düstere Gruppe von Menschen, die zu beschreiben jegliche Vorstellungskraft übersteigt. Beim Anblick des Anführers jedoch fiel es Basti wie Schuppen von den Augen. In diesem Moment wurde ihm klar: Er hatte keine Halluzinationen, als er beim Sturz am Zwischbergenpass einen gehörnten und mit Fellen bekleideten Mann gesehen hatte...
Dort vorn auf dem Weg schritt genau dieses Wesen dahin, fast feierlich und stolz erhobenen Hauptes, eine Hand an seinem Schwert, mit der anderen stützte er sich auf eine Lanze mit beilartiger Klinge, so eine etwa, wie sie Nachtwächter oder Büttel im Mittelalter bei sich trugen. Es war ein groß gewachsener, sehr muskulöser Mann, auf dessen Kopf ein mit mächtigen Hörnern ausgestatteter Helm saß, der stark an die Wikinger erinnerte. Das grobe, kantige Gesicht wirkte aus der Entfernung ausdruckslos.
Dem Hörnermann folgte ein narbengesichtiges, gebeugt und wankend gehendes Männlein, das Basti ein wenig an Väterchen Balmer erinnerte. Dieses Männchen watschelte wie eine Riesenente hinter dem Hornmann her und hatte offensichtlich große Mühe mit seiner Gehbehinderung. Bekleidet war der gedrungene Mann, der alle äußerlichen Merkmale eines hässlichen Gnoms aufwies, mit einem Fellumhang, wie ihn auch Högi Balmer trug. Dazu schlug er mit einer schmalen, mit Fell umwickelten Keule auf einer großen Trommel einen Takt, der dem Schritt des Hornmanns angepasst war. »Wammm, wammm, wammm...« Der Gnom selbst trippelte in seinem Watschelgang eher gehetzt hinterdrein, was ihn nur noch skurriler aussehen ließ.
Diesem ungleichen, gespenstischen Paar folgten etwa zehn bis zwölf Personen, mit düsteren Lumpen und Fellen bekleidet, langsam, gebeugt dahin schreitend, wie Mönche. Einige trugen Holzkreuze aus groben Stöcken, an denen festgebundene Skelette baumelten. Es waren dieselben gruseligen Standgebilde, die Lauknitz überall am Rand dieses Weges gefunden hatte. In ihre Mitte genommen zogen sie einen klapprigen, hölzernen Leiterwagen, dessen Ladung mit Fellen abgedeckt war. Es grenzte schon an ein Wunder, dass dieses Gefährt auf dem holprigen Weg nicht auseinander brach. Indem Sebastian den Holzkarren aus der Entfernung länger betrachtete, fiel etwas längliches unter den Fellen hervor zwischen die Gitterstäbe des Wagens und baumelte im Takt des unebenen Weges auf und ab. Er fuhr zurück und bekam eine Gänsehaut! Dieser Gegenstand war ein menschlicher Arm. Der Arm eines Toten! Es fiel nun nicht mehr schwer sich vorzustellen, dass der ganze Karren mit Leichen beladen war. Sebastians Kopf schwirrte angesichts dieser Erkenntnis und ihm wurde im Wechsel heiß und kalt.
Die ganze Gruppe sah aus, wie eine mittelalterliche Prozession, oder wie ein Pestumzug aus dem 13. Jahrhundert. Dem unheimlichen Zug voran lief ein ungewöhnlich großer, weißer Hund. Seine Gestalt und seine Bewegungen glichen der einer afrikanischen Hyäne. Doch anstelle der kleinen runden Ohren einer Hyäne, besaß dieser Hund übergroße Ohren, die ohne weiteres einer riesigen Fledermaus hätten gehören können. Sein weißes Fell wirkte nur am Kopf und auf dem schrägen Rücken sauber und gepflegt. An allen übrigen Körperteilen hing es filzig, schmutzig und verwahrlost herab.
Sebastian verhielt sich still wie ein Grab, wagte nicht einmal zu atmen. Ein Hund mit solchen Ohren musste einen Floh kilometerweit husten hören! Tiere mit großen Ohren konnten meist nicht gut riechen. Mit dieser Annahme beruhigte er sich etwas.
Eine andere Überlegung jedoch durchschoss sein Gehirn. Den Hornmann hatte er zum ersten Mal im Zwischbergental in der Schweiz gesehen, kurz bevor er stürzte. Nun begegnete er ihm in dieser Gegend, die weiß Gott zu welchem Land, aber ganz sicher nicht zur Schweiz gehörte! Was ging hier vor?
Dieser Hörnermensch war nicht unbedingt so gekleidet, dass er so ohne weiteres durch die Personenschleuse auf einem Flughafen kommen würde. Wie also um alles in der Welt kam dieses Wesen auf einem Mal in eine Landschaft, die nach Sebastians geografischen Wissen sehr weit vom europäischen Raum entfernt liegen musste? Mit seinem feierlichen Gang konnte er das zu Fuß kaum geschafft haben. Er machte auch nicht gerade den Eindruck, ein Auto steuern zu können. In welchem Alptraum war er nur gelandet? Und war es wirklich ein Traum, in dem sich Lauknitz gefangen sah?
Wie real ein Traum sein konnte, wenn es denn ein Traum war, wurde ihm in den nächsten Minuten bewusst. Die geisterhafte Toten- Prozession erreichte die Wegbiegung im Süden seines Felsenverstecks. Der Geisterhund immer allen voran. Er lief mal kreuz, mal quer, mal ein Stück voraus und wieder zur Gruppe zurück. Wenn er einen Vogel oder ein Murmeltier aufgestöbert hatte, hetzte er bellend hinterher, freilich ohne dem überraschten Tier ernsthaften Schaden zuzufügen. Denn dazu war er eindeutig zu langsam.
Plötzlich musste dieses Vieh tatsächlich Sebastians Witterung aufgenommen haben. Es schnupperte in die Luft, lauschte scheinbar ins Nichts und folgte dann bellend, seine Nase am Boden haltend, Bastis unsichtbaren Spur. Den Hornmann und sein Gefolge beeindruckte das wenig. Wahrscheinlich waren sie es inzwischen leid, ihrem kläffenden Begleiter Stunde um Stunde ungebrochene Aufmerksamkeit zu schenken. Vermutlich glaubten sie, er sei wieder einmal hinter irgend welchem Kleinwild her.
Das Kleinwild war er, Sebastian! Und in Anbetracht dieses Monsterhundes kam er sich noch wesentlich kleiner als Kleinwild vor. Aufgeregt bellend kam der weiße Hyänenhund über die Almwiese gelaufen und Basti musste seine Einschätzung, was dessen Größe betraf, revidieren. Das Biest war, wie alles in dieser Gegend, übergroß und reichte ihm sicherlich bis zur Brust. Sebastian dachte jedoch nicht im Traum daran, das genau festzustellen. Statt dessen klammerte er sich an seinen Felsen und betete, dass der Monsterköter nicht klettern konnte.
Der erreichte den Fuß seines Verstecks und sprang aufgeregt kläffend und knurrend auf der Stelle herum. Sebastian malte sich aus, was geschehen würde, wenn er in dieser Situation den Halt verlieren und vom Felsen rutschen würde. Hatte diese Kreatur nur annähernd etwas vom Charakter seiner afrikanischen Verwandten, so würde er aus diesem Alptraum nie mehr aufwachen!
Aus Angst, das Gekläffe würde doch noch den Hörnermenschen und seine Gruppe auf den Plan rufen, griff Sebastian in seinen Rucksack und holte den Beutel mit Balmers Proviant heraus. Mit einer Hand an den Fels gekrallt, mit der anderen den Beutel ausschüttelnd, blickte er hinter seinem Essen her, das über die Felsen hüpfte und vor den Pfoten des Hundes landete. Der ließ augenblicklich sein Gebell verstummen und verschlang gierig knurrend und schmatzend Sebastians gesamten Proviant.
Während er darüber nachdachte, wie es mit ihm und diesem Biest weitergehen sollte, ertönte ein Ruf und ein dröhnender Klang, wie von einem Alphorn. Der Hyänenhund schaute auf, lief unentschlossen zwischen der Felskante und einem restlichen Stück von Vater Balmers Schinken hin und her und entschied sich schließlich dem Ruf zu folgen, natürlich nicht ohne vorher das letzte Stück Proviant zu schnappen und zu verschlingen.
Erleichtert atmete Basti aus. Er war froh, nicht in die Fänge dieser Kreatur geraten zu sein, aber auch wütend über die Tatsache, dass diese Ausgeburt der Hölle sein Essen verschlungen hatte. Aber immerhin war ein Sebastian Lauknitz noch am Leben! Die Pilgergruppe verschwand hinter dem nächsten Hügel, die Paukenschläge und das Kläffen wurden dünner und allmählich kehrte wieder Ruhe ein. Die Insekten nahmen ihr Konzert wieder auf, als wäre nichts geschehen. Und hätte nicht sein zerrissener Proviantbeutel am Fuße des Felsens gelegen, so hätte Basti das Erlebte als Hirngespinst seines überforderten Geistes interpretieren können.
Ab diesem Moment wusste er, dass er auf seinem weiteren Weg gut beraten war, vorsichtig zu sein. Je phantastischer, unwirklicher und skurriler ihm Vieles in diesem Land vorkam, desto achtsamer musste er sich bewegen. Zwar wurde er von der unheimlichen Wandergruppe nicht angegriffen, doch sie sahen auch nicht gerade so aus, als hätten sie ihn zum Mittagessen einladen wollen! Auf seinem weiteren Abstieg wollte Lauknitz allen Bergwanderern zunächst mal aus dem Weg gehen, bis sich ihm ihre Vertrauenswürdigkeit bewies.
Dennoch gärte in ihm fortwährend die Ungewissheit darüber, wo er eigentlich hin geraten war und was ihn noch alles erwarten würde. Zeitweise fragte er sich bereits, ob er nicht schon auf dem besten Wege war, verrückt zu werden, denn alles, was er hier erlebte, konnte es nach vernünftiger Einschätzung gar nicht geben. Scheinbar befand er sich wie Alice in einem Wunderland.
Gerade in dem Augenblick, wo Sebastian seinen Rucksack wieder aufsetzte, empfand er ein derart befremdliches Gefühl, dass er sich selbst ermahnte, doch endlich wieder aus diesem Alptraum zu erwachen. Er trat heftig mit dem Fuß auf den Boden, schlug sich selbst ins Gesicht und sprang in die Luft. Aber auch das änderte nichts. Immer noch befand er sich in dieser unwirklichen Welt, die ihm zwar von der Landschaftsstruktur her vertraut schien, ihm in ihren Einzelheiten jedoch gehörig Angst machte.
Drachen, Hyänenhunde, winzige, leuchtende, fliegende Menschen, menschliche Gebeine am Wegesrand, Bäume, so hoch wie ein Fernsehturm und ein mittelalterlicher Totenumzug... Das waren weiß Gott keine Alltäglichkeiten, geschweige denn rational erklärbare Phänomene. Und da Sebastian noch nie von einem so großen Filmset gehört hatte und auch sonst kein normaler Mensch weit und breit zu finden war, gab es für ihn, soweit er noch eine bewusste Wahrnehmung besaß, nur zwei Erklärungen:
Entweder es gab tatsächlich ein Leben nach dem Tod, in dem er sich seit seinem vermutlich tödlichen Sturz befand und in dem nichts wirklich ist, oder er hatte sich bei seinem Unfall ein Hirntrauma zugezogen und war zu keiner realistischen Wahrnehmung mehr fähig. Doch wieso konnte er dann noch relativ rational darüber nachdenken?
War er möglicherweise in einem unentdeckten Land auf unserem blauen Planeten gelandet? Im Himalaya- Gebirge, sowie zwischen der Sowjetunion und China gab es noch zigtausende von Quadratkilometern, die nie ein Mensch der westlichen Zivilisation betreten hat und die zumeist den Landschaftscharakter des Hochgebirges aufwiesen. War er mitten in das letzte Geheimnis unseres Planeten gestolpert, das nicht einmal ein Satellit aufdecken konnte? Eine kleine, verborgene Welt im ewigen Eis Asiens?
Doch wie war er aus dem Zwischbergental dorthin gelangt und wie konnte ein Mensch aus einem unbekannten Naturvolk zwischen der Schweiz und Zentralasien hin und her reisen, ohne aufzufallen? Vor allem aber, was war der Zweck seines Hierseins? War er dazu auserwählt worden, diesem Land die Kultur und den Wissensstand des zwanzigsten Jahrhunderts zu bringen? Dann hätte man allerdings eine ziemlich klägliche Auswahl getroffen! Oder war er aufgrund seiner bergsteigerischen Fähigkeiten an diesen Ort gebracht worden? Auch das erschien ihm paradox, gab es doch ganze Armeen von besseren Alpinisten, als er einer war!
Je mehr Sebastian darüber nachdachte, desto weiter entfernten sich die wenigen halbwegs plausiblen Erklärungen. Nichts, aber auch gar nichts passte irgendwie zusammen. Er saß vor einem Puzzle seines Lebens, bei dem sich plötzlich nicht einmal mehr auch nur zwei Teile ineinander fügen ließen. Inzwischen kam er sich vor, wie in einer bösen Geschichte eines Fantasieromans gefangen.
Müde, ängstlich und verzweifelt, andererseits aber auch aufgeregt und neugierig setzte er seinen Weg fort. Bald ging es etwas steiler bergab, was den Weg sich eins ums andere Mal in abenteuerlichen Serpentinen um seine eigenen Kehren winden ließ. Oft nahm Sebastian Abkürzungen zwischen den Wegbiegungen, um schneller voran zu kommen. Bald gelangte er in einen typischen Bergwald. Windzerzauste Arven in den phantasievollsten Formen säumten den Weg, der sich endlos hinzuziehen schien. Das Wildwasser hörte er nur noch ab und zu in einer tiefen Schlucht rauschen. Der Geruch trockenen Holzes lag in der Luft.
Das einzige, was sich nicht änderte, waren die Totengebilde. In regelmäßigen Abständen traf Sebastian auf die Standbilder, die jedes Mal anders gestaltet waren. Der Künstler bewies Phantasie! Mittlerweile gewöhnte er sich an die Gesellschaft seiner stummen Weggefährten. Freilich sahen sie zwischen den Bäumen im Wald noch schauerlicher aus, als oben auf den lichten Wiesen.
Irgendwann entließ ihn der Wald wieder auf eine Wiese, ähnlich einer Schneise. Groß und schmal verlief sie quer zum Weg. Jenseits wurde diese grüne, felsdurchsetzte Fläche erneut vom Bergwald begrenzt. Eine exponiert daliegende Felsgruppe inmitten der Weide, ein ganzes Stück abseits des Wegs, weckte sein Interesse. Die Sonne stand schon lange nicht mehr am Zenit und er brauchte einen halbwegs sicheren Platz zum Schlafen. In der Finsternis konnte er sich selbst auf diesem ausgebauten Weg noch leicht verirren.
Erwartungsvoll stapfte Sebastian durch das Gras, das an einigen Stellen pfadartig niedergetreten war. Hatte die unheimliche Gruppe des Hornmannes ebenfalls diesen Ort aufgesucht? Minuten später fand er seine Annahme bestätigt. Die Felsen bestanden aus einer ringförmig angeordneten Gruppe von riesigen Steinblöcken, Felsnadeln und Trümmern, angeordnet wie ein römisches Kastell. Zwei enge Durchgänge führten in den Kern dieser natürlichen Festung. Das Innere der Felsenburg mochte an die dreihundert Quadratmeter betragen. Notfalls konnte eine kleine Armee im Schutz des Felswalls übernachten. Drei Wachtposten reichten sicherlich aus, um das Objekt vor Feindannäherung zu sichern.
In der Mitte dominierte eine mit Steinen begrenzte, große Feuerstelle, in der sich noch Glut befand, gut mit Erde bedeckt. An den Seiten waren kleine Unterstände aus Holz an die Felsen gebaut, die ebenfalls kleine Feuerstellen besaßen. Schädelknochen von Rindern, Ziegen und Mufflons hingen bunt bemalt an Vorsprüngen und Rissen am Fels. Eine leicht verborgene Nische zwischen mächtigen Felsblöcken beherbergte ein ganzes Arsenal von langen Stangen, die wohl zur Herstellung von Speeren oder Lanzen gedacht waren.
Das Ganze machte den Eindruck eines oft benutzten Felsenforts. Sebastian gewann den Eindruck, dass diese Einrichtung von größeren Wandergruppen benutzt wurde, die möglicherweise über einen hochgelegenen Pass im Gebirge in ein anderes Tal wechselten. Was er nicht nachvollziehen konnte, war die Tatsache, dass die Menschen dieser Gegend zwar imstande waren, einen gut ausgebauten Weg über viele Kilometer in eine unwegsame Gebirgswelt zu bauen, sich jedoch offensichtlich nicht dazu befähigt sahen, ein schützendes Weghaus zu errichten.
Ebenso rätselhaft war der Umstand, dass man diesen Weg offenbar unter anderem dazu benutzte, Leichen zu transportieren. Weshalb aber gab es einen so gut ausgebauten Weg, wenn das Transportmittel anstelle eines Autos aus einem alten klapprigen Eselkarren bestand? Und wozu verfrachtete jemand seine Verstorbenen kilometerweit über weite Strecken, Serpentinen und Steigungen in eine einsame Bergwelt? Allein der Aufwand diesen Weg instand zu halten musste enorm sein!
Fragen, auf die ihm einfach keine Antwort einfiel. Lebte in diesem Land ein primitives Naturvolk, so stellte sich die berechtigte Frage, wer diesen Weg errichtet hatte und diesen wahrscheinlich immer noch unterhielt. Wurde diese Gegend andererseits von einer leidlich normalen Zivilisation bewohnt, so war es doch sehr verwunderlich, dass diese, mal abgesehen von ihren Talenten im Straßenbau, eher mittelalterlich lebten.
Eigentlich war Lauknitz schon lange der wilden Spekulationen müde geworden. Doch all diese Ungereimtheiten ließen ihm einfach keine Ruhe. Er befand sich in einer Welt, die ihm derart befremdlich war, dass sie ihm Angst machte. Vor allem wollte er heraus aus dieser Welt, wollte einfach nur nach Hause zu seiner kleinen, gemütlichen Zweizimmerwohnung, zu seinem Fernseher, zu seinen Büchern, zu seinem weichen, warmen Bett, ja selbst zu seinen nasskalten Stuckfassaden. Selbst die empfand er in dieser Situation angenehmer, als die Ungewissheit in einem fremden Land voller fremder Dinge und fremder Leute.
Zumindest für diesen Tag schien sein Zuhause aber in sehr weite Ferne gerückt. Anstelle seines duftenden, weichen Bettes musste er sich eine Alternative suchen. Diese natürliche Felsenburg bot sich förmlich an, in ihren Mauern Schutz zu suchen. Was jedoch, wenn die ständigen Nutzer dieser Einrichtung unverhofft zurückkamen? Sebastians Eindruck von der Gruppe, die ihm am Mittag begegnete, war nicht unbedingt beruhigend. Dabei dachte er noch nicht einmal an den Hyänenhund, den die Gruppe mitführte. Allein die menschlichen Gestalten, insbesondere der Hörnermann waren mehr als genug furchteinflößend. Auf eine nähere Bekanntschaft wollte Lauknitz eigentlich verzichten!
Hingegen hatte er oft Berichte vernommen, dass sich gerade Naturvölker als sehr gastfreundlich erwiesen, sofern man ihre Gepflogenheiten und ihre Religion achtete und ihre Freundschaft nicht missbrauchte. Nun, in seiner Lage war er weit davon entfernt, Freundlichkeiten mit Missachtung zu strafen. Doch wussten diese Menschen das auch?
Sebastian war hin und her gerissen von der Möglichkeit, im Schutz dieser Felsenburg zu übernachten und der Vorstellung, dass man ihn als Eindringling betrachten und ihn einfach erschlagen konnte. Andererseits hatte er gar keine Alternative. Sollte er etwa auf der freien Wiese, oder im Wald sein Biwakzelt aufschlagen und übernachten, schutzlos jeder Kreatur ausgeliefert, die danach trachtete, ihn zu verspeisen? Nein, diese Steinfeste war das beste, was ihm passieren konnte!
So gut es ging, richtete er sich an einem der Unterstände für die einbrechende Nacht ein. Mit umher liegendem Holz, dass er einsammelte, entfachte er ein kleines Feuer, das ihn wärmen sollte. Dabei stieg ihm der Geruch des Rauchs in die Nase, erinnerte ihn an den leckeren Schinken aus Balmer Vorratshaus und er bekam augenblicklich Hunger. Leider hatte ein missgestalteter Köter heute Vormittag all seine Vorräte verzehrt!
Wie ein Häuflein Elend saß er an den Fels gekauert und schob Kohldampf. Der eine Apfel, der verwaist in einer Tüte seines Rucksacks lag, verstärkte noch den Appetit, anstatt ihn zu bändigen. Mit knurrendem Magen dachte er daran, welch gute Dinge er sich antun würde, sobald ihn die Zivilisation wieder hatte. An erster Stelle rangierten Currywurst, Grillhähnchen, Pizza und ein ausgedehntes Racletteessen. Oh wie köstlich kam ihm plötzlich Högi Balmers einfache Küche vor. In diesem Moment beschlich ihn der ketzerische Gedanke, aufzugeben und zu Väterchen Balmer zurückzukehren. Allein der Wunsch, wieder in sein gewohntes Leben, in die bequeme Sicherheit seiner Welt zu flüchten, hielt Sebastian davon ab.
Trotz des Feuers wurde es allmählich erbärmlich kalt. Wie oft ließ sich Lauknitz durch Medien, wie Bücher und Fernsehen dazu verleiten, an gemütliche, romantische Lagerfeuer zu glauben. Als Bergsteiger hätte er es eigentlich besser wissen sollen! An einem einsamen Biwak in kalter Hochgebirgswelt ist rein gar nichts romantisch! Und warm ist es auch nicht. Entweder, man verbrennt sich die Füße und friert am Rücken, oder man sengt sich den Hintern an und kann seine Zehen vor Kälte nicht mehr spüren. Mit Romantik oder Gemütlichkeit hatte das alles nicht viel zu tun. Sebastian wagte auch nicht, sein Biwakzelt aufzubauen. Hinter schützender Zeltleinwand war auch ein sich nähernder Feind nicht mehr rechtzeitig wahr zu nehmen.
Irgendwann, Sebastian war wohl beim Hineinstarren in die Flammen eingeschlafen, weckte ihn die Kälte. Er verkroch sich noch tiefer in seinen Biwaksack und versuchte sein Kälteempfinden zu ignorieren. Doch das funktionierte nicht so richtig. Dazu kam, dass ihm Rücken und Hinterteil schmerzten. Egal, wie er sich drehte und wendete, der harte, kalte Boden und der unnachgiebige Fels in seinem Rücken ließen kein bequemes Sitzen mehr zu.
Steif wie ein Brett erhob er sich, torkelte fröstelnd umher, suchte nach Resten von Brennholz und warf sie in die verbliebene Glut seines Lagerfeuers. Es qualmte mächtig, bis sich das Feuer dazu entschloss, das dargebotene Futter anzunehmen. Kurz darauf flackerten wieder lustige Flammen auf, erleuchteten die umliegenden Felsen und ließen die ausgeblichenen Tierschädel an den Kanten und Vorsprüngen im flackernden Schein gespenstisch tanzen. Das ganze Bild hatte etwas teuflisches.
Um sich die Beine zu vertreten und wieder von Innen heraus warm zu werden, ging er im Kreis um die große Feuerstelle herum, die Hände tief in den Hosentaschen vergraben. Dabei kam ihm in den Sinn, einen kurzen Blick nach draußen, jenseits der Steinfestung zu werfen. Zunächst musste er jedoch den Eingang suchen. Im flackernden, diffusen Schein des Feuers sah alles noch unwirklicher aus, als es ohnehin bereits war.
Draußen empfing ihn eine kalte, abweisende Landschaft. Die weite Fläche der Wiese beherbergte schemenhafte Gestalten. Es waren die Felsen, die vereinzelt umher lagen. Doch wer garantierte ihm eigentlich, dass diese schattenartigen Gebilde dort draußen alles bloß Felsen waren? Glotzte ihn dort hinten nicht ein Paar Augen an.., oder dort vorne.., oder das große Dunkle dort, bewegte sich das nicht gerade?
Fluchtartig zog sich Sebastian in das Innere der Felsenburg zurück. Von panischer Angst ergriffen holte er die Stangen und Speere, die er in der Nische entdeckt hatte und verbaute damit beide Eingänge. Nicht, dass diese Aktion etwa ein wildes Tier davon abgehalten hätte, einzudringen, aber es suggerierte ihm doch ein beruhigendes Gefühl der Sicherheit.
Dann schürte er das Feuer noch einmal kräftig an und rollte sich am Felsen in seinen Schlafsack ein. Den Rucksack schob er sich in den Rücken, um am Morgen nicht mit Lähmungserscheinungen aufzuwachen. Es dauerte eine Weile, bis er eine einigermaßen bequeme Stellung eingenommen hatte. Den Blick in die tanzenden Flammen gerichtet, das Gehör aber auf jedes Geräusch in der Umgebung fixiert, schlief Sebastian nach einer Ewigkeit ein.
Ein polterndes Geräusch weckte ihn. Es klang, als wäre ein Stapel Konservendosen umgefallen. Sebastian erstarrte und lauschte in die Nacht. Kein Laut... Oder doch? Ein leises, kaum wahrnehmbares Klopfen und Scharren drang aus dem Fels über ihm an sein Ohr. Tock, tock, chrrr, tock… Unregelmäßig, aber deutlich konnte er die Laute verstehen, die nur von einem Tier herrühren konnten.
Krampfhaft überlegte er, welches Tier, das ihm gefährlich werden konnte, solche Geräusche verursacht. Es musste durch einen der verbauten Eingänge gekommen sein, hatte dabei wohl die Stangen umgestoßen und lauerte nun im Fels über ihm. Trotz der Kälte begann Sebastian zu schwitzen. Was für ein Biest lauerte ihm nun schon wieder auf? Nahm das hier nie ein Ende?
Ganz langsam tastete er mit einer Hand nach seinem Bowiemesser an seinem Gürtel. Dabei versuchte er jedes Geräusch zu vermeiden und bemühte sich, auch den Schlafsack nicht zu bewegen. Er brauchte eine Ewigkeit, um das Messer mit dem Griff voran aus dem Schlafsack zu ziehen und fragte sich, wie er sich im Falle eines Angriffs schnellstmöglichst aus dem Schlafsack befreien konnte.
Seine einzige Waffe krampfhaft in der Hand, versuchte er den Schlafsack zu öffnen, ohne einen Laut von sich zu geben. Millimeterweise zog er langsam den Reißverschluss auf, immer wieder anhaltend und horchend. Tock, tock, chrrr, tock… Das Geräusch setzte sich mit stoischer Beharrlichkeit fort. Es hörte sich an, als versuchte ein riesiger Vogel eine entdeckte Beute frei zu scharren. Und es bestand kein Zweifel daran, was oder wer die Beute war: Er, Sebastian Lauknitz!
In einer Bewegung, als hätte jemand die Zeit angehalten, schälte er sich aus seinem Kokon und richtete sich mit dem Rücken am Felsen auf, mit all seinen Sinnen auf den fremden Klang fixiert. Urplötzlich befand sich das Klopfen und Rascheln genau über seinem rechten Ohr. Da warf er alle Vorsicht über den Haufen. Eine unverhoffte Drehung nach rechts, ein Schritt zurück und das Messer zum Hieb erhoben, war ein einziger Reflex. Mit dem Blick hinauf in den Fels erwartete er den Angriff...
Tock, tock, chrrr, tock... Der Schädelknochen eines Rindes hing über ihm an einem kleinen Felsvorsprung. Knochen und Federbüschel, mit Naturfasern an seinen Hörnern befestigt, hingen daran herab und bewegten sich leicht im frühmorgendlichen Wind und schlugen unregelmäßig an den Fels: Tock, tock, chrrr, tock!
Mit einer Mischung aus Wut und Erleichterung starrte er das Gebilde an. So allmählich drehte er wohl durch! Verfolgungswahn, schoss es ihm durch den Kopf. Langsam war es soweit; Basti erschrak vor seinem eigenen Schatten zu Tode. Es wurde höchste Zeit, dass er wieder unter zivilisierte Menschen kam!
Stockfinster war es in der Felsenburg. Rot schimmernde Glutreste erinnerten an sein Lagerfeuer, das ihn anfangs gewärmt hatte. Die Einsamkeit griff mit schleichender Stille und Leere nach ihm. Doch der Morgen kündigte sich bereits an. Kaum heller als die Aura eines entfernten Sterns hob sich ein zaghafter Schein über der dunklen Mauer des Waldes ab. Noch lag die Wiesenlandschaft fahl und abweisend in der grimmigen Umklammerung der kalten Nacht. Keine Regung, kein Laut, als hätte die Welt den Atem angehalten und erwartete gespannt den Auftritt der Sonne.
Müde und durchgefroren beschloss Sebastian aufzubrechen. Das Feuer war erloschen und hätte ihn nicht mehr wärmen können, also musste er sich durch Bewegung warm halten. Und je eher er eine Stadt, ein Hotel oder ein Gasthaus erreichte, desto besser! Aus den Stangen, mit denen er die Eingänge verbarrikadiert hatte, suchte er sich eine aus, die er notfalls als Waffe und grundsätzlich als Wanderstab benutzen konnte. Mit einem Schwung schulterte er den Rucksack und trat aus dem Felsenfort auf die Wiese. Das leise Knistern seiner Schritte verriet ihm, dass es in der Nacht leicht gefroren hatte. Feiner Raureif lag auf dem Gras, auf den Steinen und umgestürzten Bäumen. Alles schien wie von einer hauchdünnen Mehlschicht überzogen.
Vorsichtig, als könnte er die Bäume aufwecken, schritt er durch eine silbrig daliegende, geheimnisvolle Welt aus leerer Kälte und stummer Farblosigkeit. Doch nach und nach begannen Farben zu flüstern. Erst leicht gelblich im Himmel über den schwarzen Tannenwipfeln und bläulich weiß als flache Nebelschleier über dem angefrorenen Gras. Ein verhaltenes rötliches Braun und gelbliches Grün raunte aus den Flechten, die einige umher liegende Felsbrocken bevölkerten.
Erwachend, aber noch verträumt sprach das Firmament in orangeroten Tönen sein Morgengebet. Violette und purpurne Wolkenfetzen sangen dazu einen leisen Choral. Leicht auffrischender Wind trug ihm das tannengrüne Wispern zu, als sich die Bäume zu einem neuen Morgen begrüßten. Alle Farbenklänge schwollen mehr und mehr an, bis auf einem Mal unaufhaltsam die Ouvertüre des Lichts die ganze Welt mit blendender Farbenpracht übergoss. Augenblicklich tanzten auf den Grashalmen Millionen bunt funkelnder Diamanten, Nebel zogen in einer Symphonie aus Leichtigkeit über den Wald empor und der hinter Schleiern heraufziehende Feuerball flimmerte in einem nicht enden wollenden gelbroten Crescendo.
Die Welt besaß wieder Farbe und machte Sebastian neuen Mut. Mit der Farbe kam auch die Wärme, die seine steif gefrorenen Glieder langsam wieder gelenkig machte. Dummerweise stellte sich fast gleichzeitig der Hunger ein und wütete noch aggressiver, je mehr er darüber nachdachte, dass sich sein Proviant im Bauch eines Monsterhundes befand, der in dieser Nacht gewiss besser geschlafen hatte, als er. Die Erinnerung an Väterchen Balmers leckeren Schinken und würzigen Käse ließ seinen Magen noch um einiges furchteinflößender knurren, als den Hyänenhund.
Entschlossen legte Sebastian etwas an Tempo zu. In seiner Vorstellung sah er im Tal ein Touristendorf, eine Stadt, oder zumindest eine Siedlung mit einem Gasthaus, in dem man ihm für seine gute Deutsche Mark die besten kulinarischen Leckerbissen auftischen würde. Nachdem, was er hinter sich hatte, würde er nicht mehr bescheiden sein. Im Gegenteil. Er wollte sich als Entschädigung etwas gönnen und nach Herzenslust schlemmen und anschließend mindestens drei Tage lang ausschlafen! Sebastian ahnte ja nicht, dass sich die Zivilisation weiter von ihm entfernt hatte, als er es sich in seinen kühnsten Träumen hätte vorstellen können...
Die Wiese mit der Felsenburg lag hinter ihm. Tiefer, urwüchsiger Wald umgab ihn, kaum, dass ein Sonnenstrahl das Dach aus Ästen, Zweigen, Nadeln und Blättern durchdringen konnte. Überall zwischen Arven und Birken lugten versteckte Felsformationen hervor, abgeschirmt vom dichten Unterholz und umgestürzten, bemoosten Bäumen. Solchen Urwald hatte Lauknitz selbst im Wallis selten zu Gesicht bekommen.
Dennoch zog sich der Weg fein und sauber, fast gleichmäßig durch den ansonsten undurchdringlichen Wald. Beinahe hatte der Weg schon den Charakter einer modernen Straße, wie in einem Tunnel durch die Bäume geschlagen. Zu beiden Seiten des Wegs glotzten Sebastian immer noch in regelmäßigen Abständen Totenschädel und Gerippe an, mal an einem Baum befestigt, ein anderes Mal an einer Stange in den Waldboden gerammt.
Intuitiv tastete er nach dem Medaillon in seiner Rucksacktasche, das er einer dieser Vogelscheuchen abgenommen hatte. Deutlich fühlte Sebastian das Metall und erst jetzt wurde ihm bewusst, wie groß, gemessen an einem normalen Schmuckstück, diese Kette doch war. Vielleicht war es gar kein Schmuck, sondern das Zugehörigkeitszeichen irgendeiner Gemeinschaft, eines Ordens vielleicht, oder eines Stammes, oder einer Armee...
Der Baumbestand des Waldes lichtete sich, je tiefer er gelangte. Laubbäume wechselten mehr und mehr die Nadelbäume ab. Immer häufiger traf er auf Schneisen, saftgrüne Wiesen und Feuerstellen am Wegesrand. In dieser Gegend schien es üblich zu sein, einfach am Wegrand zu biwakieren und ein Lagerfeuer zu entfachen, wenn einem danach war. Das passte jedoch ganz und gar nicht zu diesem gepflegten Wanderweg. Aber was passte in diesem Land schon zusammen? Die abschreckenden Standbilder am Wegesrand harmonierten auch nicht gerade mit der Landschaft und dem Weg!
Hinter einer Wegbiegung baute sich unvermittelt eine Felsformation vor mir ihm auf. Sie erstreckte sich rechts und links in den Wald hinein und machte den Eindruck, nicht gerade sehr hoch, aber doch unüberwindlich zu sein. Der Weg jedoch setzte sich ungehindert durch eine Lücke im Fels fort. Wie durch ein hinein gesprengtes Tor in eine Mauer, wanderte Sebastian zwischen den Felswänden hindurch.
Hinter diesem Felsentor bog der Weg scharf nach links ab und verlief parallel zur Felswand. Auf der rechten Seite jedoch tat sich ein Abgrund auf, dessen Tiefe nur zu erahnen war. Wilde Felstrümmer, hier und dort mit Bäumen und Gestrüpp bewachsen, leiteten seinen Blick in gähnende Tiefe. Weit unten, in einem Gewirr aus Felsen, Wald und Geröll sah er den hellen Kies des Weges heraufleuchten. Also führte die sandige Straße in weiten Kehren und Serpentinen weiter talwärts.
Sein Auge wanderte weiter. Tief unten breitete sich erneut der dichte grüne Teppich des Waldes aus. Erst weit dahinter erkannte Sebastian ausgedehnte Wiesen, ein weites Tal, sowie weitläufige Hänge, die sich erneut aufwarfen zu hohen Felsen, Bergwäldern und Alpweiden, um schließlich am gegenüberliegenden Horizont in himmelhohen Gletschern und schneebedeckten Zinnen zu gipfeln.
Mit einer solchen Weite des Landes hatte er nicht gerechnet! Wenn er dem Weg folgen würde, brauchte er noch zwei Tage bis ins Tal. ...und bis zur nächsten Ortschaft..? Enttäuscht und entmutigt setzte sich Lauknitz auf einen großen Stein. Bis er dort unten irgendwann auf vertrauenswürdige Menschen treffen würde, musste er längst verhungert sein! Wie lange konnte er diesen Marsch ohne Nahrung noch durchhalten? Zwei Tage? Nach drei Tagen wäre sein Körper so geschwächt, dass er den Rucksack würde zurücklassen müssen.
Frisches Wasser stellte indes kein Problem dar. Überall sprudelten kleine, klare Bäche zu Tal; Leben spendendes Nass im Überfluss! Doch jagdbares Wild war offenbar selten, oder zumindest so scheu, dass er es nicht zu Gesicht bekam. Doch selbst wenn... Wann hatte er das letzte Mal einen Hirsch ausgeweidet? So eine Tätigkeit gehörte nun mal nicht zu den alltäglichen Verrichtungen, mit denen ein Stuckateur in einer Großstadt konfrontiert wurde. Wenn er essen wollte, ging er in den Supermarkt, oder in das nächste Restaurant!
Immer mehr zweifelte Sebastian an seinem Vorhaben, aus eigener Kraft zu Tal steigen zu wollen und wünschte sich statt dessen wieder zurück in die Geborgenheit von Högi Balmers Hütte. Zwar saß er dort an einem unbekannten Ort fest, doch verhungern musste er bei dem Alten nicht!
Während er über sein Dilemma nachdachte, entwickelte sich der Morgen zu einem sonnenreichen Tag. Die Vögel stimmten ein nicht enden wollendes übermütiges Konzert an, Insekten schwärmten summend umher und die alten Bäume wiegten sich friedlich knarrend im leichten Wind. Alles erinnerte ihn an einen ruhigen Wandertag im Harz, seinem heimatlichen Mittelgebirge in Norddeutschland. Und nur allzu gern wollte er sich in diesem Augenblick in seine Gedanken flüchten. Doch die Weite des vor ihm liegenden Landes und die mächtige, eisbedeckte Gebirgskette, die seinen Blick begrenzte, ließ keine Flucht zu.
Unschlüssig betrachtete er die fremde Welt zu seinen Füßen. Sie beherbergte eine üppige Vegetation. Es gab keine ausgedehnten Karstgürtel zwischen dem ewigen Eis der Berge und dem Grün der Täler. Eis ging in Fels über, Fels in dichten Bergwald und das Grün des Waldes grenzte beinahe wie abgeschnitten an das hellere gelbgrün der Alpweiden und Wiesen, die in ihrer Farbe satter wurden, je näher sie in der Talmitte lagen. Tiefer blauer Himmel überspannte das Land, das in der flimmernden Sonne lag. Lediglich an zwei kleinen Stellen lag noch grauer Dunst über den Hängen. Nachdenklich beobachtete Sebastian, wie die Dunstglocke über einem geschützten Winkel des Tals aufstieg, in oberen Luftschichten vom Wind erfasst und fort getragen wurde. Weshalb war nur an diesen beiden Stellen eine permanent aufsteigender Dunst zu sehen? Als ihm diese Frage bewusst wurde, war er plötzlich hellwach. Feuer! Der Dunst war Rauch! Also gab es dort unten ein Feuer. Und ein Feuer bedeutete beinahe zwangsläufig Menschen!
Sebastian rieb seine Augen und starrte auf diese beiden Stellen im Tal. Ein Ort, wo der Rauch auftrat, war eine Senke, wo Wald und Wiesen dicht beieinander lagen. Die zweite Dunsthaube breitete sich über reinem Wiesengelände aus. Nur ein paar kleine Wäldchen grenzten an das Gebiet, das von einem breiteren Bach durchzogen wurde. Deutlich konnte Sebastian die Schlangenlinie des Bachlaufs erkennen. Mehrere riesige Felsen lagen dort unten dicht beieinander, fast systematisch angeordnet...
Dann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen: Die dunklen Punkte und Flecken, die er für Felsen gehalten hatte, waren gar keine! Je länger er hinab spähte, desto sicherer wurde er sich. Was er dort unten sah, waren Häuser! Hütten, Ställe, Wohnhäuser, eine Siedlung, oder ein Dorf, das friedlich in der Sonne lag. Abrupt stand er von seinem Sitz auf und verlor beinahe das Gleichgewicht. Dort unten lebten Menschen! Das war seine Rettung! Er musste nur da hinunter, dann würde man ihm schon weiterhelfen!
Neuer Mut beflügelte ihn und er setzte seinen Weg fort. Minute für Minute, Stunde um Stunde latschte Sebastian stoisch auf dem staubigen Weg dahin, der sich in unzähligen Kehren und Biegungen verlor. Zwischendurch hegte er die Hoffnung, dass ihm auf diesem ausgebauten Weg vielleicht ein Waldarbeiter oder Forstaufseher mit einem Traktor oder Geländewagen begegnen und ihn zu einer Talfahrt einladen würde. Diese Hoffnung blieb Wunschdenken.
Die Sonne warf bereits wieder lange Schatten und bestrich mit ihrem goldenen Licht die Gebirgsflanke an der er stetig tiefer stieg. Ab und zu eröffnete das Gelände an einem ausgesetzten Punkt den Blick ins Tal. Immer deutlicher zeichnete sich dort unten eine Ortschaft ab. Mittlerweile konnte Sebastian einen Weg erkennen, der durch das Dorf führte. Ebenso konnte er mehrere kleine Seen ausmachen, sowie offenbar von Menschen angelegte Felder.
Sein Weg führte weiter an der ausgedehnten Gebirgskante entlang; Kilometer um Kilometer. Das Dorf dort in der Tiefe blieb rechts liegen und verschwand irgendwann gänzlich aus seinem Blickfeld. Den Weg zu verlassen, wagte er jedoch nicht. So nahe vor dem Ziel wollte er sich nicht noch hoffnungslos in irgendeiner Schlucht oder in einem unübersichtlichen Wald verirren.
Sebastian marschierte, bis sich die Sonne zu den Gipfeln der gegenüberliegenden Berge herab senkte. Als die Dämmerung hereinbrach, suchte er nach einer geeigneten Stelle, um eine weitere Nacht im Freien zu verbringen. Doch er musste sich noch zwei Stunden weiter schleppen, bis sich die Dunkelheit über das Land zu legen begann. Da erst neigte sich die Bergflanke und das Gelände ging in bewaldete Hügel über, zwischen denen sich immer öfter eingelagerte Wiesenlandschaften öffneten.
Fest entschlossen, an einer der nächsten Felsgruppen im Schutze eines Waldrands sein Nachtlager aufzuschlagen, erblickte er plötzlich auf einer Hangwiese eine kleine Hütte. Sofort blieb er stehen und sah den Hang hinauf. Viel konnte er in dem Dämmerlicht nicht erkennen. Vorsichtig stieg er über die geneigte Wiese auf und näherte sich dem Berghäuschen, das eine verblüffende Ähnlichkeit mit Högi Balmers Hütte besaß.
Als er nur noch einen Steinwurf entfernt war, blieb er stehen und rief: »Hallooho, ist jemand da..?«
Kein Laut weit und breit. Zweimal noch rief Sebastian hinauf. Niemand antwortete. Der Klang seiner Stimme verebbte ungehört in der weiten, einsamen Berglandschaft. Abweisend und stumm wirkten die geschlossenen Fensterläden des verlassen dastehenden Hauses. Eine Gruppe hoher, düsterer Tannen ragte dahinter auf. Wie riesige, schattenhafte Wächter wankten sie leicht im Abendwind.
Nachdem er noch eine Weile gewartet hatte, stieg Sebastian die letzten paar Meter zur Hütte auf und trat auf die kleine, hölzerne Veranda, die eher einem Abtritt glich. Immerhin war sie so groß, dass eine einfache Holzbank, neben der Eingangstür an die Wand genagelt, darauf Platz hatte. Er setzte seinen Rucksack auf die Bank und untersuchte die Tür. Sie war nicht abgesperrt. Ein grober, simpler Riegel, ähnlich dem von Väterchen Balmers Hütte, hielt die roh gezimmerte Tür geschlossen.
Entschlossen zog er die Tür auf und spähte in das Dunkel. Sofort schlug ihm ein muffiger Geruch entgegen. Die Duftkomposition reichte von Schimmelpilz bis hin zu verbranntem Holz. Vorsichtig tastete er sich in den nachtschwarzen Raum hinein und stieß sofort etwas um, das polternd und klappernd in sich zusammenfiel. Ärgerlich holte Sebastian sein Feuerzeug aus der Tasche und erweckte die Finsternis zu einem diffusen, zuckenden Bild. Auf den ersten Blick schien diese Behausung relativ aufgeräumt. Ein Haufen Stangen und Felle lagen an der Stelle, wo er sie umgestoßen hatte. In ihrer Einrichtung glich die Hütte der von Högi Balmer.
Die Flamme des Feuerzeugs erhitzte seinen Daumen. Fluchend ließ er das Flämmchen erlöschen, ging zurück auf die winzige Terrasse und suchte verzweifelt nach etwas Brennbarem. Hier scheiterten bereits seine Fähigkeiten. Zuhause war er es gewohnt, nur einen Schalter zu betätigen, wenn es dämmerig wurde. Augenblicklich stand er dann im hellen Licht. In dieser Umgebung hatte er Mühe einen Holzspan mit dem Feuerzeug zu entzünden, weil das meiste Holz entweder frisch, oder vom letzten Regen nass war. Suchend umrundete er das Holzhaus.
Am rückwärtigen Giebel war ein massiver Kaminschlot an die Hütte gebaut. Eigentlich sah er so aus, als hätte ihn jemand an die Holzwand geklebt, denn er passte so gar nicht zum Baustil. Er war wohl eher praktischer Natur. Genauso praktisch war das rechts und links davon gestapelte Feuerholz. Es war trocken! Schräg darauf gelegte, grobe Holzbohlen verhinderten, dass der Regen das Holz durchnässte.
Sebastian zog ein paar Späne und zwei größere Holzklötze aus dem Stapel und ging zum Eingang zurück. Da er von außen erkannt hatte, wo sich die Feuerstelle befand, konnte er sie sogar im Dunkel finden. Siegessicher entzündete er einen Span, daran wiederum den nächsten und so weiter. Sobald sie lustig flackerten stellte er sie gegeneinander in den gemauerten Kamin. Auf dieses kleine, prasselnde Feuer setzte er einen der Holzklötze, der zögerlich zu brennen begann.
Doch anstatt der Rauch im Schlot verschwand, quoll er plötzlich aus dem offenen Kamin hervor, biss Sebastian in Nase und Augen und raubte ihm augenblicklich den Atem. Das Heizkörperventil zu Hause war doch einfacher zu bedienen, stellte er wütend fest. Gezwungenermaßen trat Lauknitz erst einmal den Rückzug zur Tür an, um wieder Luft zu bekommen. Nachdem er sich die Tränen aus den Augen gerieben hatte, versuchte er den im Feuerschein wabernden Rauch mit seinem Blick zu durchdringen. Dort links, über dem Kamin ragte ein Haken aus dem gemauerten Schlot. Vielleicht.., wenn er daran zog, oder drehte...
Mutig hielt er den Atem an, kämpfte sich durch den Rauch zurück zum Ofen, ergriff den geschmiedeten Haken und bewegte ihn. Ruckartig ließ er sich in eine Richtung drehen. Augenblicklich zog der Qualm nach oben ab und das Feuer flammte hell auf, als wollte es ihm Beifall zu seiner Tat bekunden. So ging das also!
Kleinlaut musste er sich eingestehen, dass seine gewohnte Selbstsicherheit an diesen unheimlichen Orten gar nicht mehr so sicher war. Unzählige Male hatte er die einfachen Öfen in Bauwagen und Alpenvereinshütten angeheizt und geglaubt, mit jedem primitiven Kamin fertig zu werden. Er irrt viel, so ein zivilisierter Mensch; das stellte Sebastian so nach und nach fest.
Je länger er in diesem Land unterwegs war, desto mehr wurde ihm bewusst, dass die Einfachheit des Lebens in dieser Gegend durchaus ihre Komplexität besaß. Das hochtrabende Wissen aus seinem technisierten Leben nützte ihm hier zuweilen gar nichts! Ihm wurde klar, wie verwöhnt er eigentlich war. Ohne die Errungenschaften der zivilisierten Gesellschaft, in der er lebte, war Sebastian so ziemlich hilflos! Wenn er gezwungen war, noch eine Weile in diesem fremden Land herumzulaufen, dann konnte das ja noch lustig werden, dachte er ironisch. Ob er sich selbst dieser Ironie ausgesetzt hätte, wenn er geahnt hätte, was da noch alles auf ihn zukommen würde..?
Nachdem Basti die Fensterläden aufgerissen und gründlich gelüftet hatte, sah er sich in der Hütte genauer um. Wie bei Väterchen Balmer stellte er fest, dass die Fenster keine Scheiben besaßen. Lediglich Fensterläden nach innen und außen hielten die Wärme im Raum. Im Winter war das wohl eher wenig komfortabel. Entweder hatte man Licht und Kälte, oder Wärme und Dunkelheit. Kopfschüttelnd fragte er sich, was um alles in der Welt die Menschen in dieser Gegend gegen Glasscheiben hatten. Entweder war Glas hierzulande unerschwinglich teuer, oder man hatte aus Transportgründen darauf verzichtet.
Der Ständer mit Fellen, den er umgeworfen hatte, ließ sich nicht wieder aufstellen. Verschieden lange Stangen lagen unter den Häuten kreuz und quer begraben. Es war Sebastian unmöglich festzustellen, in welcher Konstruktion sie zusammengehörten. Also stellte er die Stangen in eine Ecke und stapelte die muffig riechenden Felle auf drei aneinander gelegte Holzscheite.
Viel gab es in der Hütte nicht zu entdecken. Ein paar hölzerne Gefäße und Geräte hingen an den Wänden. In einer Nische fand er ein ganzes Sortiment Äxte und Beile, die vermutlich von Hand geschmiedet wurden. Eine größere Anzahl verschiedener großer Messer, ähnlich wie Macheten, nur kräftiger, lagen in einem grob gezimmerten Regal. Eine, die ihm als Waffe am ehesten geeignet erschien, nahm Sebastian gleich erst einmal in Besitz. Vorsicht war besser als Nachsicht und er konnte nicht wissen, was oder wem er in diesem Land noch begegnen würde.
Über der Eingangstür entdeckte er eine Anzahl Speere, oder Lanzen, die jenen Harpunen ähnelten, die man in frühen Jahren zum Walfang benutzte. Metallene, sechs Zentimeter breite Spitzen steckten auf langen, glatten und abgegriffenen Holzschäften, gut zwei Meter lang. Ein kräftiges, drei Meter langes Seil, am Ende der Spitze und in der Mitte des Holzschaftes befestigt, sorgte offenbar dafür, dass Spitze und Schaft zwar voneinander gelöst, jedoch nicht getrennt werden konnten. Da Sebastian draußen weit und breit kein größeres Gewässer erblicken konnte, fragte er sich, welches Tier mit solch monströsen Harpunen gejagt wurde. Gore vielleicht..?
Zu seiner Freude fand er in der Hütte noch einen aus grobem Holz zusammengenagelten Tisch und drei wackelige Stühle, bei denen sofort klar wurde, dass der Tischler so gar kein Verständnis für Ästhetik und Design besaß. Dem Stil dieser Einrichtung angepasst fand er noch zwei Schlafstätten. Achtlos hingeworfene Felle bedeckten die Liegefläche, die aus unbearbeiteten, zusammengefügten Ästen bestand. Ein paar vertrocknete Tannenzweige erzählten ihm, was der letzte Bewohner als Matratze benutzt hatte. Wollte Sebastian also einigermaßen bequem schlafen, musste er sich ebenfalls frisches Tannengrün von draußen holen.
Mit der gefundenen Machete bewaffnet, marschierte er zum Waldrand. In der eintretenden Dämmerung begann er damit, die unteren Zweige einer Tanne abzuschlagen. Seine neue Verteidigungswaffe leistete ihm dabei erstaunlich gute Dienste und er entdeckte, wozu die Hüttenbewohner ihre Macheten benutzten. Dieses riesige Messer erwies sich als sehr brauchbares Instrument und er war davon überzeugt, dass er einen Angreifer damit durchaus in die Flucht schlagen, oder sehr schwer verletzen konnte. Nach all dem Erlebten eine solche Waffe in den Händen zu halten, beruhigte Sebastian. Er bekam ein klein wenig von seinem Überlegenheitsgefühl zurück, von dem er in der letzten Zeit so viel eingebüßt hatte.
Die Arme voll von erbeuteten Tannenzweigen, kehrte er zur Hütte zurück. Ohne große Umstände richtete er sich auf einer Schlafstelle sein Nachtlager ein. Unter den Schlafsack legte sich Sebastian noch vier Felle, damit ihn in der Nacht keine Tannennadeln piesacken konnten.
Alles schien perfekt! Er hatte ein Dach über dem Kopf, hatte ein relativ bequemes Bett und hatte es leidlich warm. Sogar eine reine Bienenwachskerze hatte Sebastian gefunden, die einen spärlichen Lichtschein durch den Raum warf und ihm eine gewisse Heimeligkeit suggerierte. Doch etwas Entscheidendes fehlte zu seinem Glück. Sebastian Lauknitz hatte Hunger!
Sein Proviantbeutel war einem gierigen Höllenhund zum Opfer gefallen und in seinem Rucksack fanden sich nur noch ein paar Päckchen Kaugummi. Missmutig schob er sich zwei Streifen davon in den Mund und kaute angewidert darauf herum. Sein Magen verlangte nach etwas Anderem, als Pfefferminz animiertem Speichel! Zudem besaß das Kaugummikauen den zweifelhaften Effekt der Appetitsteigerung. Bei jedem Schlucken machte Sebastians Magen Geräusche, die ihn doch sehr an das Knurren des Hyänenhundes vom Vortag erinnerte.
Verzweifelt suchte er jeden Winkel der Hütte nach etwas Essbarem ab.., vergeblich. Wohl oder Übel musste er sich mit einem großen Loch im Bauch zur Ruhe begeben. Noch während er aus dem wachen Zustand in den Schlaf hinüber glitt, dachte er darüber nach, woher er nun Nahrung bekommen sollte. Jeden Tag weite Strecken marschieren, ohne etwas zu essen... Wie lange würde er das durchhalten?

Wie lange er geschlafen hatte, wusste Sebastian nicht. Doch in Anbetracht der Kilometer, die er über Stock und Stein zurückgelegt hatte, musste er wohl geschlafen haben, wie ein Toter: Lange, tief und fest. Stimmen waren es, die ihn aus seinen wilden Träumen rissen. Sebastian lag da und lauschte angestrengt. Nichts. Was er gehört hatte, war wohl seinem Traum entsprungen. Er hatte geträumt, er wäre von einem Drachen angefallen worden, von einem Monsterhund verfolgt und von Skeletten bedroht worden...
Allmählich kamen seine Erinnerungen zurück. Wie schön war das jedes Mal gewesen, wenn Sebastian in seiner kleinen Wohnung aus einem bösen Traum erwachte und sich herausstellte, dass Sonntag war, und er nur geträumt hatte und sich in seinen eigenen schützenden vier Wänden befand...
Aber diesmal war alles anders. Sebastian erwachte aus einem bösen Traum, der gar keiner war! Denn er war seit Wochen in diesem Traum gefangen. Und augenblicklich wurde ihm klar: Die Stimmen hatte er womöglich gar nicht geträumt! Sie hatten so echt geklungen und passten gar nicht zu seinem Traum. Wer garantierte ihm denn, dass sie seiner Phantasie entsprungen waren?
Mit einem Satz war er aus seinem Schlafsack heraus, griff nach der Machete und spähte und lauschte durch die Ritzen im Fensterladen. Draußen war es hell, aber still. Zu still! Es musste bereits Tag sein, doch Sebastian konnte keinen Vogel singen hören und keine Grille zirpen. Etwas war da draußen, da war er ganz sicher! Aber was? Waren es die Leute der Prozession, die er vorgestern beobachtet hatte?
Nicht ein Geräusch drang an sein Ohr... Oder doch..? Kollerte da nicht irgendwo ein Stein, ganz in der Nähe? Lauknitz horchte so angestrengt, dass er das Blut in seinen Ohren pulsieren hörte. Schweiß bildete sich auf seiner Stirn und rann ihm beißend in die Augen. Blinzelnd lugte er durch den Ritz, konnte aber nichts erkennen.
Da! War da nicht ein Kratzen zu hören, wie wenn ein wildes Tier an Holz scharrt? Vielleicht einer dieser Felsenbären, von denen Högi Balmer und der Doktor erzählt hatten? Sein Herzschlag donnerte so laut, dass Sebastian wünschte, er würde aufhören, um ihn nicht zu verraten.
Die Anspannung war so groß, dass er sie nicht länger ertragen konnte. Er musste das Vieh erschrecken, dann würde es womöglich Reißaus nehmen. Auf Zehenspitzen schlich Sebastian zur Tür, bemüht, mehr zu schweben, als zu gehen. Krampfhaft umfasste er den Riegel, jederzeit bereit, ihn mit einem Ruck empor zu reißen und die Tür aufzustoßen. Einen Augenblick wollte er noch warten, um ganz sicher zu gehen. Aber beim nächsten Geräusch..!
Draußen blieb es still. Als hätte die Welt den Atem angehalten. Ja, sie hörte regelrecht auf zu atmen! Schweißgebadet stand er in Lauerstellung, das Herz pochte ihm bis zum Hals. Was war besser, die Tür langsam öffnen, oder mit einem Schlag aufstoßen? Wenn er es langsam tat, konnte sie knarren und ihn ohnehin verraten. Also schnell und unverhofft! In Gedanken bis drei zählen! Eins... Zwei... Drei...
Die Machete in der rechten Hand, riss Sebastian den Riegel knallend mit der linken hoch und drückte mit aller Kraft gegen die Tür. Sie klemmte! Er hatte den Riegel zu hoch gezogen, er blockierte. Aufgeregt drückte und zog er abwechselnd daran und trat gegen das Türblatt, bis es plötzlich aufflog. Die Tür schwang herum und schlug krachend gegen die Wand, so dass die ganze Hütte in all ihren Fugen erzitterte. Mit angehobener Waffe trat Sebastian heraus und erstarrte gleichzeitig in der Bewegung...
Gerade in diesem Moment kam ein Mann von kräftiger Statur die Verandatreppe herauf, gefolgt von einer Frau und zwei Kindern. Er blieb abrupt stehen, als wäre er gegen einen Brückenpfeiler gelaufen. Wer von ihnen beiden nun erschrockener und ratloser dreinblickte, konnte Basti nicht sagen. Der Mann war mittleren Alters, hoch gewachsen und kräftig. Ein kantiges und derbes Gesicht, in dem ehrliche, große Augen ruhten, verrieten einen nicht sonderlich intelligenten, aber gutmütigen Menschen. Seine Kleidung bestand aus grobem Baumwollzeug. Darüber trug er eine schwere, befleckte Lederschürze. Seine Füße steckten in Stiefeln, die ihm zwei Nummern zu groß erschienen. Vermutlich gehörte diese Hütte ihm, oder er benutzte sie zumindest. Wahrscheinlich war er ein Holzfäller, oder Waldarbeiter.
Die Frau war von eher kleiner und zierlicher Statur und trug ein einfaches, hellblaues Baumwollkleid mit weißer Schürze, so wie Sebastian es einmal im Fernsehen bei den Amish gesehen hatte. Ihr Schuhwerk war keineswegs so grob, wie das ihres Mannes. Feine, weiche Lederschuhe mit hohem Schaft schützten ihre kleinen Füße. Dieses Schuhwerk erinnerte Lauknitz stark an indianische Ledermokassin. Diese jedoch waren nicht mit Perlen verziert, sondern trugen bunte Blumenstickereien.
Der etwa sechsjährige, dunkelhaarige Junge und das etwas jüngere blonde Mädchen erhielten ihre selbst genähten Kleider offenbar aus den Stoffen der nicht mehr zu tragenden Kleidung der Eltern. Das Mädchen steckte in einem viel zu großen Kleidchen, das bis zur Hüfte aus hellblauem Stoff und im Unterteil aus braunem, kräftigerem Leinen bestand. Ein rotes Halstuch war das einzige, was die strenge Kleidung des Mädchens unterbrach.
An dem Jungen hing wie an einem Gerippe eine im Bund viel zu breite, steife Hose, die ihm andererseits derart zu kurz war, dass sie seine Waden nur halb bedeckte. Dieser Anblick machte Glauben, dass er die Sachen eines dicken Gartenzwerges auftragen musste. Ein ebenfalls viel zu großes Baumwollhemd steckte unordentlich in seinem Hosenbund, der von einem Kälberstrick zusammen gehalten wurde. Dieser war rings um seine Hüfte mit allerlei Klimbim behängt, eben mit allem, was Jungen so mit sich herumschleppen.
Der Vater hatte sich endlich von seinem Schreck erholt und wollte etwas zu Basti sagen, als er die Machete in seiner Hand erblickte. Er stockte, sah ihm in die Augen und plötzlich schien ihm das nackte Entsetzen ins Gesicht geschrieben. Er breitete schützend seine Arme vor seiner Familie aus und wich langsam rückwärts zurück, die Treppe hinab. In seinem Blick las Basti Verständnislosigkeit, Angst und Erstaunen.
Ihm wurde klar, dass die Waffe in seiner Hand an dieser Stelle nicht dazu beitragen konnte, neue Freundschaften zu knüpfen. In einer offenen Geste warf Sebastian das Riesenmesser hinter sich auf die Veranda. Polternd blieb sie unter der Sitzbank liegen. Weit genug, um seine friedliche Absicht zu bekunden, aber nur so weit, dass er sie im Notfall noch erreichen konnte. Dann ging er mit offenen Armen und Händen langsam auf den Mann zu.
»Guten Tag, sie brauchen sich nicht vor mir zu fürchten...«, sprach Sebastian in ruhigem, freundlichen Ton, »ich hatte nur einen Schutz für die Nacht gesucht... Können sie mir helfen, in die nächste Stadt zu kommen, ich wäre ihnen sehr dankbar dafür...«
Der Mann streckte ihm abwehrend beide Hände entgegen und sagte etwas zu ihm, dass Sebastian nicht verstand. Er redete in einer Sprache, die ihm völlig unbekannt war. Jedenfalls war es keine der allgemein gebräuchlichen Weltsprachen. Beinahe klang es wie eine Mischung aus gutturalen, indianischen Lauten und Russisch. Doch seine Bildsprache war um so verständlicher. Die Geste bedeutete Sebastian: »Bleib mir vom Leib, komm ja nicht näher, verschwinde aus unseren Augen...«
Das war sehr deutlich! Jedoch konnte er absolut nicht verstehen, was diesen Mann, der ihm körperlich weit überlegen war, so an seiner Gestalt erschreckte. Mit panischen Bewegungen scheuchte er seine Familie die Verandatreppe hinunter und trieb sie aufgeregt redend und gestikulierend auf den Weg zurück. Er gebärdete sich, als sei Sebastian ein Monster, dass seine Familie mit einem Happs verschlingen wollte, oder gar der Teufel persönlich.
Aber sie waren die einzigen Menschen weit und breit und Sebastian brauchte dringend Hilfe! Also ging er hinter ihnen her und rief: »Ich brauche Hilfe, können sie mir helfen?«
Doch je beharrlicher er ihnen folgte, desto schneller traten sie den Rückzug an, bis der Mann mit seiner Frau in panischer Flucht auf dem Weg talwärts rannte, die Kinder an den Händen hinter sich her ziehend. Es dauerte keine zwei Minuten, da waren sie Sebastians Blick entschwunden. Friedliche Ruhe legte sich wieder über das Land. Lauknitz stand da, fassungslos, irritiert und mit fragendem Blick.
Was an ihm hatte diesen Menschen so in panischen Schrecken versetzt? Seine Kleidung? Die Waffe in seiner Hand? Wohl kaum. So, wie der Mann gebaut war, hätte er ihn leicht mit einer Hand an die Hütte nageln können. Wieso hatte dieser Mensch eine solche Angst vor ihm gehabt? Sebastian blieb nur die eine Erklärung, dass er wegen der Waffe in seiner Hand Angst um seine Familie hatte. Vielleicht verbot ihm sein Glaube, Gewalt in jedweder Form abzulehnen. Da er aber um seine Familie fürchtete, zog er sich vor dem Machetenmann mit der fremden Sprache zurück.
Das war ein weiterer Punkt, den Sebastian nicht verstand. Die Sprache! Högi Balmer und Falméras Medicus redeten in seiner Sprache, wenn auch von einem fürchterlich schrägen Dialekt durchsetzt. Doch dieser Mann bediente sich einer Sprache, die Lauknitz nie zuvor im Leben gehört hatte. Freilich war er als Baustuckateur nicht gerade in der Welt herumgekommen, doch wenigstens in den Medien hätte er ähnliche Laute sicherlich einmal vernommen.
All das neue Unbekannte, das in diesen Bergen täglich auf ihn einströmte, machte wiederum ihm Angst! Sebastian spürte, dass er sich in einer Welt bewegte, in die er nicht hineingehörte. Darum wollte er dieser Umgebung auch so rasch wie möglich entfliehen. Doch das gestaltete sich schwierig, angesichts der Größe und Weite des Landes, seiner Feindseligkeit und Sebastians leeren Proviantbeutels.
Der Hunger wurde allmählich zu seinem allergrößten Feind. Wasser gab es allenthalben genug und in bester Gebirgsquellen- Qualität. Das Auffinden von Nahrung jedoch wurde zu einem ernst zu nehmenden Problem für ihn. Wild hatte Sebastian wohl reichlich gesichtet, großes, wie kleines. Sollte er also stundenlang, mit einer rostigen Machete hinter einem Hirsch oder Mufflon her sprinten, um dann festzustellen, dass ihn diese Tiere in diesem Gelände lässig abhängen konnten? Damit würde er seine letzten Kraftreserven verbrauchen, nur um ein Beispiel dafür zu erhalten, dass diese Spezies hierzulande ebenso flink war, wie in seinen heimatlichen Mittelgebirgen. Außerdem hatte er noch niemals selbst ein Tier ausgeweidet!
Als Kind hatte Sebastian seinem Großvater bei der Hausschlachtung zugesehen. Hühner, Kaninchen, Enten und Gänse, manchmal sogar ein Schwein, verendeten unter dessen scharfem Messer und fanden sich in Form eines leckeren Bratens auf ihrem Tisch wieder. Theoretisch wusste Basti, worauf es ankam, doch praktisch hatte er nicht die geringste Ahnung. Er hatte gelernt, dass man niemals die Galle ankratzen darf. Doch wer würde ihm in dieser Einsamkeit erklären, welches Teil in dem blutigen Gematsche eines aufgebrochenen Hirsches die Galle war und welches die Leber?
Resigniert stellte er fest, dass er, der große Bergführer und Naturliebhaber Sebastian Lauknitz, nur ein sehr begrenztes Verhältnis zum Überleben in der Wildnis besaß. Stets hatte er sich eingebildet, aufgrund seiner alpinen Kenntnisse und seines Orientierungssinns überall auf der Welt ohne große Hilfsmittel überleben zu können. Welch eine Fehleinschätzung! Basti fluchte über seine eigene Dummheit und musste sich eingestehen, dass, wenn er nicht bald die Zivilisation erreichen konnte, er elendig verhungern würde.
Marschieren musste er, marschieren, egal, wie weit es war! Je eher er sich wieder auf den Weg machte und die nächste Ortschaft erreichte, desto besser. Dass die Menschen dort unten im Tal bei seinem Anblick möglicherweise mit dem gleichen Verhalten reagieren könnten, wie dieser Holzfäller mit seiner Familie, auf diesen Gedanken kam er erst gar nicht...
In kurzer Zeit hatte er seinen Schlafsack auf den Rucksack geschnallt und war bereit zum Aufbruch. Gewissenhaft überprüfte Sebastian noch einmal, ob das Feuer erloschen war, denn er wollte ja nicht so unhöflich sein und die Hütte aus Unachtsamkeit abfackeln. Mit gemischten Gefühlen schloss er die Tür. Ob er am Ende dieses Tages wieder ein Dach über dem Kopf haben würde, war äußerst zweifelhaft.
Anschließend angelte er das Machetenmesser unter der Bank hervor, wo er es hingeworfen hatte und steckte es in seinen Gürtel. Angesichts der reichhaltigen und vielfältig entarteten Fauna dieses Landes wollte Sebastian auf diese Waffe nicht mehr verzichten.
Dann stapfte er über die taufrische Wiese zum Weg, der ihn ins Tal führen sollte. Plötzlich schimmerte etwas leuchtend Rotes vor ihm im Gras. Vorsichtig näherte er sich dem ungewohnten Farbtupfer. Er entpuppte sich als das Halstuch, des kleinen Mädchens. Bei der Flucht vor dem bösen Eindringling Sebastian Lauknitz musste sie es wohl verloren haben. Basti hob es auf und steckte es ein. Wenn ihm diese Familie noch einmal über den Weg laufen sollte, wollte er es dem Mädchen zurück geben. Er hoffte, sie würden dann nicht mehr vor ihm davonlaufen und erkennen, dass er ein friedliches Menschenwesen war.
Stunde um Stunde folgte er weiter dem Weg, auf dem er sich nun schon solange bewegte und der kein Ende zu nehmen schien. Er führte durch ausgedehnte Wälder, die oft links und rechts als undurchdringliche, dunkelgrüne Wand seinen Blick begrenzten. Ab und zu tat sich eine Lichtung auf, die zu einer sonnigen Rast einlud. Immer wieder rundete der Weg Felserhebungen, oder führte durch kleinere Schluchten. An vielen Stellen gurgelten klare Bäche oder frische Quellen, die jederzeit Sebastians Durst stillten.
Doch bei jedem Schluck Wasser wurde ihm bewusst, dass er einen leeren Magen hatte. Zeitweise empfand er eine Leere in seinem Bauch, die all seine Eingeweide zusammenzog. Sebastians Gedanken kreisten immer öfter um Högi Balmers leckeren, goldbraun gebratenen, duftenden Wafan. Einige Male stolperte Lauknitz, weil ihm diese Vorstellung schlicht die Konzentration auf den Weg nahm.
Um die Mittagszeit gelangte er an eine große Wegkehre, die sich offenbar auf einem vorgeschobenen, mit Gras bewachsenen Bergrücken vollzog. Jedenfalls war die Stelle so ausgesetzt, dass er weit in das fremde Land hineinsehen konnte. Links, also im Norden und Nordwesten erstreckten sich unzählige Almhänge, die in gelblichem Grün schimmerten. Darüber warfen sich gewaltige Bergriesen auf, die mehr an Alaska, als an die Alpen erinnerten. Riesige Eisfelder glänzten zwischen den Gipfeln, als wären sie aus reinstem Silber.
Weiter rechts, wo sich Hänge und Schluchten immer tiefer ins Tal hinab zogen, bekam der Wald eine andere Färbung. Das Grün wechselte seinen Charakter immer mehr vom Nadelbaum zum Laubbaum. Sattgrüne Weiden leuchteten im Talgrund, umschlossen kleine türkis bis himmelblau schimmernde Seen, die wie leuchtende Opale auf einem Teppich lagen.
Dort, wo Sebastians Weg vermutlich nach endlos langen Strecken und Windungen aus den Wäldern trat, lag eine große, flache Senke grünen Weidelandes in der flimmernden Hitze des Tages. Soweit er dies erkennen konnte, durchfloss ein Bach das ausgedehnte Tal. Der Weg, auf dem er unterwegs war, schien sich parallel zu ihm fortzusetzen. Zwischen den weitläufigen Wiesen jedoch erstreckte sich eine große Ansammlung von Häusern oder Hütten, das konnte Basti deutlich erkennen. Jedoch mochte es gut und gerne Abend werden, bevor er die Ortschaft erreichen würde.
Der Anblick der entfernten Siedlung gab ihm Mut. Der innere Auftrieb überdeckte das Gefühl des Hungers und ließ ihn kraftvoller ausschreiten. Bald würde diese Odyssee ein Ende haben! Er würde wieder etwas in seinen Bauch bekommen, in einem warmen, weichen Bett schlafen und seine strapazierten Füße pflegen... Dachte er zumindest!
Immer häufiger passierte er jetzt Schneisen, oder in den Wald eingelagerte Wiesen, auf denen eine einsame Hütte stand. Alle diese Behausungen wurden offensichtlich regelmäßig benutzt, waren aber verlassen. Sorgsam verschlossene Fenster und Türen blickten Basti entgegen, wenn er sich ihnen näherte.
Inzwischen war das Dorf seinem Blick entschwunden. Es verbarg sich hinter den hohen, uralten Bäumen des Waldes, der Hügel und Kämme bedeckte. Plötzlich, mit einem sanften Windhauch, drang ein Geräusch an Sebastians Ohr, das nicht in einen Wald gehörte. Es klang wie das hauchzarte, helle Läuten einer himmlischen Glocke, weit, weit entfernt. Neugierig geworden beschleunigte er seinen Schritt. Das Klingeln hörte auf...
Der Hunger wurde größer, der Weg länger und klotzhart. So latschte Sebastian dahin, selbstvergessen in müder Monotonie. Da..! Auf einem Mal war das leise Leuten wieder da, deutlich näher! Er blieb stehen und lauschte. Ganz deutlich konnte er es hören, konnte sogar verschiedene Töne unterscheiden, als wenn jemand eine unbekannte Melodie in unregelmäßigem Takt spielte. Der Klang kam aus der Richtung in die der Weg führte.
Vorsichtig schlich er weiter, bereit, jederzeit zwischen die Bäume zu springen, um nicht entdeckt zu werden. Insgeheim dachte Sebastian mit Unmut an die Prozession von Vorgestern und an den Hyänenhund. Intuitiv blickte er sich nach einem hohen Baum um, auf den er sich hätte flüchten können.
Minuten später gelangte er an eine riesige Lichtung, die wievielte an diesem Tag? Sofort sprang Sebastian zurück in die Deckung der Bäume. Unbedacht war er aus dem Wald getreten und sah sich einer Herde großer Tiere gegenüber. Etwas abseits des Weges hockte er sich am Waldrand nieder und beobachtete. Diese Huftiere, die man hier anscheinend als Haustiere hielt, waren kleiner als Kühe, jedoch größer als Ziegen. Ihre Hörner ähnelten denen des alpinen Steinbocks. Vermutlich hatte man auch hier der Natur ins Handwerk gepfuscht und versucht, eine eigene, effizientere Kreuzung zu züchten.
Weiter hinten auf dem großen Wiesengelände stand eine Hütte, etwas größer und komfortabler, als die von heute Morgen. Zwei Ställe, oder kleine Scheunen lagen rechts davon und bildeten einen kleinen Hof. Auf der Wiese links neben dem Almhaus waren ein Mann und eine Frau dabei, Heu zu wenden. Eine Weile sah er ihnen zu, dann entschloss er sich, die beiden nach dem weiteren Wegverlauf zu befragen. Sie machten einen friedlichen, normalen Eindruck und vielleicht konnte Basti ihnen sogar etwas zu Essen abkaufen.
Ohne weitere Scheu trat er aus den Bäumen hervor und ging langsam auf die Arbeitenden zu. Etwas unwohl war ihm, weil er mitten durch die friedlich grasende Herde spazieren musste. Die Tiere standen jedoch so weit verstreut, dass Sebastian keinem zu nahe auf das Fell rücken würde. Einige der Kuh- Ziegen hörten auf zu fressen, hoben ihr Haupt und glotzten ihn nur uninteressiert an. Diese Zucht schien noch phlegmatischer zu sein, als Kühe.
Die halbe Weide von ungefähr hundertfünfzig Metern hatte Sebastian bereits durchquert, als das Bauernpaar seine Anwesenheit bemerkte. Sie hielten in ihrer Arbeit inne, gingen aufeinander zu und berieten sich. Wahrscheinlich fragten sie sich, welcher Fremde da wohl ihren Frieden störte. Ohne anzuhalten ging Lauknitz weiter offen auf die beiden zu und freute sich bereits, endlich Menschen gefunden zu haben, die ihm vielleicht helfen konnten.
Als er gerade noch einen Steinwurf von den beiden entfernt war, verriet ihr Gesicht plötzlich das blanke Grauen. Als hätten sie einen bösen Geist gesehen, blickten sie ihn erschrocken und wie gelähmt an. Dann sprach der Mann leise und ruhig etwas zu seiner Frau und wieder hörte Sebastian diese unbekannte Sprache, die er keiner Nation der Erde zuordnen konnte.
Sogleich ließ die Frau, die mit einem einfachen, braunen Kleid bekleidet war, ihren Rechen fallen und lief auf die Hütte zu. Der Mann, in ebenso einfacher Kleidung, stellte sich Sebastian wie einem Feind entgegen. Seinen Rechen hielt er dabei wie eine Waffe quer vor seine Brust. Barsch stellte er Sebastian eine Frage, die er natürlich nicht verstehen konnte.
»Ich brauche Hilfe..«, antwortete Lauknitz in seiner Sprache, »kann ich bei ihnen telefonieren.., oder können sie mir sagen, wo ich die nächste Ortschaft, oder ein Telefon finde?«
Der Mann sah ihn verständnislos an und blickte sich gehetzt zu seiner Frau um, die soeben die Hütte erreichte und ihm von dort etwas zurief. Unvermittelt stieß er seinen Rechen mit dem Stil vor Sebastian in den weichen Almboden, wies mit dem Finger hinter ihn und schrie ihn aufgeregt an. Sicherlich bedeutete er ihm auf diese Weise, dass sich Sebastian schleunigst aus dem Staub machen sollte. Dann machte er auf dem Absatz kehrt und stampfte zur Hütte, wo er von seiner Frau in der offenen Tür erwartet wurde. Beide gingen hinein und schlugen die Tür zu, so dass es Sebastian bis zu sich herüber knallen hörte.
Einsam und verlassen stand Basti auf der Wiese, vor ihm der in den Boden gerammte Heurechen, wie das Hoheitszeichen an der Grenze zu einem verbotenen Land. Was zum Teufel war nur in diese Menschen gefahren? Was hatten die alle gegen ihn? Was an ihm war so dermaßen erschreckend? Sebastian stand wie versteinert da und überlegte...
Plötzlich flog drüben an der Hütte krachend ein Fensterladen auf. Völlig überrascht wich Lauknitz vor Schreck einen Schritt zurück. Jetzt schießen die auch noch auf mich, überlegte er im Bruchteil einer Sekunde. Doch kein Schuss ließ die Luft erzittern, sondern ein Schwall lauter Worte. Der Bauer stand im Fensterrahmen, drohte Basti mit der Faust und rief etwas Unfreundliches in seine Richtung.
Dieser Ausbruch war unmissverständlich. Er sollte verschwinden! Das hatte Sebastian auch ohne Sprachkenntnisse verstanden. Nun, es war tatsächlich Zeit, das Feld zu räumen. Hier hatte er weder Freundlichkeit noch Hilfe zu erwarten.
Enttäuscht und weiterer Hoffnung beraubt, ging er zum Weg zurück und setzte seine Suche nach der verlorenen Zivilisation fort. Was, wenn alle Menschen dieses Landes so reagierten, wie die, denen er bisher auf seinem Abstieg begegnet war? Diese Möglichkeit machte ihm Angst und er wollte sie sich lieber nicht ausmalen. Sicher gab es auch hier, wie in jedem Land, freundliche, unhöfliche, herzliche und verstockte Bewohner. Sebastian musste nur die richtigen Leute finden...
Je weiter er talwärts gelangte, desto häufiger traf er auf kleine Alpwirtschaften und Hütten, während der Wald immer lichter wurde und allmählich dem Grasland der Weiden wich. Die wenigsten der Behausungen waren bewohnt oder bewirtschaftet. Meist stand er vor verschlossenen Fensterläden und verriegelten Türen.
Doch dort, wo Basti auf Menschen stieß, erwartete ihn ein feindseliges, ablehnendes Verhalten. In der Regel flüchteten die Menschen vor ihm in panischer Angst, als wäre er eine Ausgeburt der Hölle. Das war insofern paradox, da sich ausgerechnet diese Menschen offenbar Monster als Hunde hielten.
Einmal, es war am Nachmittag, ging sogar ein Mann mit einer Sense auf ihn los. Er hatte ihn nicht gesehen und überraschte ihn völlig unbeabsichtigt hinter seiner Hütte. Der Mann fühlte sich wohl beim Anblick Sebastians Machete angegriffen und scheute sich anscheinend nicht davor, ihm den Garaus zu machen. Nur mit einem beherzten Sprung über einen groben Holzzaun und einen breiten Bach entging Lauknitz dessen scharfem Werkzeug.
Zudem war er erschüttert über die offensichtliche Selbstverständlichkeit, mit welcher ihm der Mann eine Sense in den Leib rammen wollte. Es schien ihm, als hätte es dieser billigend in Kauf genommen, ihn mit diesem Mordinstrument schwer zu verletzen. Bei dem Gedanken, dass er immer mehr Menschen begegnen würde, je tiefer er in den Talgrund gelangte, gab ihm unter diesen Umständen Anlass zu großer Besorgnis.
Wie würde man ihn erst unten im Dorf empfangen? Er wollte sich das gar nicht so genau vorstellen und verdrängte diese Angst zunächst. Auf seinem weiteren Weg musste er jedoch auf der Hut sein. Vorsichtig lauschte und spähte er bei jeder Wegbiegung voraus, um nicht unbedacht einen Angriff zu provozieren.
Am späten Nachmittag verließ Sebastian den dichten, grünen Gürtel des Waldes. Es war, als spuckte ihn eine schützende Macht aus, die ihn bis dahin vor allen Blicken verborgen hatte, und warf ihn direkt vor die Füße feindlicher Wesen. Genau so fühlte sich Basti auch. Er wanderte nun auf dem Präsentierteller der ausgedehnten Wiesen und Weiden. Weithin konnte ihn jeder beobachten. Er hatte das Empfinden, noch nie zuvor so angreifbar und verletzlich gewesen zu sein. So hilflos, allem ausgeliefert und allein.
Rinder grasten auf einigen Weiden, an denen er vorüber kam. Keinesfalls aber waren es Kühe, wie Sebastian sie kannte. Sie sahen eher aus, wie Yaks, mit zotteligem Fell und mächtigen Hörnern. Zwischen den Viehweiden standen immer wieder einzelne Baumgruppen, kleine Wäldchen, oder Strauchwerk. Viele Wiesen waren abgemäht. Das Gras hatte man entweder zum Trocknen auseinandergebreitet, oder in mannshohe Garben zusammengestellt. Überall duftete es nach Heu und frischen Kräutern. Bunte Blumenpunkte zierten die grünen Teppiche der nicht gemähten Wiesenflächen.
Insekten zirpten, summten und brummten in einem vielstimmigen Konzert um die Wette und versuchten den friedlichen Gesang der Vögel zu überstimmen. Wieder und wieder sah er Schmetterlinge in den verschiedensten Färbungen vorüberflattern. Abgesehen von dem versteckten Hochtal nahe Högi Balmers Hütte, hatte Sebastian selten eine so üppige Natur gesehen.
Bald lag der Geruch von verbranntem Holz und gegartem Essen in der Luft. Der Duft stieg Sebastian so stark in die Nase, dass sich sein Magen in sich zusammenzog. Der Hunger trat wieder deutlicher in sein Bewusstsein. Wie lange hatte er jetzt schon nichts mehr gegessen? Zwei Tage.., drei Tage..?
Mittlerweile taten ihm auch die Füße weh und seine alte Verletzung vom Sturz auf dem Zwischbergenpass rief sich wieder mit heftigen Schmerzattacken in Erinnerung. Basti betete darum, bis zum Abend noch eine Gastwirtschaft zu erreichen, um duschen, essen und schlafen zu können.
Ganz sicher befand er sich inzwischen nahe bei einer Ortschaft, denn immer wieder erblickte er Leute. Sie arbeiteten auf den Wiesen, oder kamen ihm auf dem Weg entgegen. Seltsamerweise mied jeder den Kontakt zu ihm. Entweder liefen sie vor ihm davon, wenn er ihnen zu nahe kam, oder sie änderten bewusst ihre Richtung, wenn sie ihn schon aus der Ferne gewahrten. Wie ein Aussätziger zu Zeiten der Lepra kam er sich vor. Sebastian war klar, dass es sich bereits herumgesprochen haben musste, dass er auf dem Weg ins Tal war.
Weshalb aber wurde er gemieden, als hätte er die Pest am Hals? Sorgten seine heimlichen Wärter inzwischen auf diese Weise dafür, dass er nicht weit kam? Wollte man mit dieser Passivität gewaltfrei seine Flucht verhindern?
Hier waren Menschen! Junge, alte, großwüchsige und kleine. Doch sie ignorierten ihn, straften ihn mit Isolation. Je mehr diese Leute krampfhaft versuchten, teilweise fluchtartig aus seinem Blickfeld zu gelangen, desto seltsamer, mysteriöser und unheimlicher kam ihm das vor. Was würde ihn erwarten, wenn er endlich das Dorf erreichte? Würde man ihn mit Steinwürfen aus dem Ort jagen? Oder lief Sebastian Gefahr, dass man ihn einfach gefangen nahm, um ihn wieder an seine unsichtbaren Bewacher auszuliefern?
Noch indem er darüber nachdachte, folgte er dem Weg um eine Biegung auf einer Anhöhe. Die Sicht war durch eine kleine Baumgruppe und Holunderbüsche verdeckt. Die Beeren, die schwer an den Zweigen hingen, waren doppelt so groß, als er sie von Zuhause her kannte. Wie seltsam, dachte Basti, dass hierzulande alles größer, üppiger und schöner war, als in seiner Welt. Hatte man hier in allen nur denkbaren Bereichen Genmanipulation betrieben? Kein Wunder, dass man ihn hier nicht mehr weg lassen wollte, denn sollte dieses Geheimnis öffentlich bekannt werden, würde das der Welt größte Proteste seit dem Vietnam- Krieg auslösen. Doch weshalb hatte man ihn dann erst hier her gebracht...?
Gedankenvoll schritt er um die Biegung und blieb überrascht stehen. Nur ein paar Steinwürfe entfernt lag das Dorf, das Sebastian bereits von den Bergen oben erspäht hatte und das er so sehnsüchtig versucht hatte zu erreichen. Es lag in einer Senke hinter dem Hügel, den er gerade umrundet hatte und bestand aus etwa zwanzig bis dreißig Hütten in beinahe gleicher Bauweise, wie sie ihm aus dem Wallis bekannt war. Auch die markanten Holzstadel, die auf Holzstümpfen und Steinplatten ruhten, um Ungeziefer den Zutritt zu verwehren, reihten sich an die Wohnhäuser. Sebastian machte einen Schritt zurück in die Deckung der Sträucher und beobachtete das Treiben der Menschen dort unten.
Auf der staubigen, naturbelassenen Straße und an den Häusern standen Menschen. Sie unterhielten sich oder gingen einer Beschäftigung nach. Ein paar Leute entluden das Pferdegespann eines Leiterwagens und trugen irgendetwas in eine kleine Scheune. Dazwischen spielten Kinder. Übermütig schreiend tobten sie den arbeitenden Erwachsenen zwischen den Beinen herum, dass diese Mühe hatten, ihre Arbeit zu verrichten.
Sebastian musste grinsen. Wenigstens das schien in dieser Welt normal zu sein! Und entgegen all der Einsamkeit und des Schweigens, das er in den letzten Tagen ertragen musste, jagten zwei ausgelassene, kleinwüchsige Hunde kläffend hinter dem Pulk Kinder her, schnappten nach ihren Füßen und übertrafen den Dorfnachwuchs beinahe noch in ihrer Tollerei.
Überall stieg Rauch aus den Schornsteinen der ausladenden Hüttendächer und verbreitete den würzigen Geruch von verbranntem Tannenholz, der ein Gefühl der Wärme und Geborgenheit in Sebastian auslöste. Es war die gleiche Empfindung, die er spürte, wenn er von einer großen Bergtour oberhalb Grächen oder Saas Fee ins Tal zurückkehrte, wohl wissentlich, in ein paar Minuten gut und reichlich zu essen und anschließend ausgiebig zu duschen.
Es waren die im Leben immer wiederkehrenden Wahrnehmungen gleichen Charakters, die, wenn sie denn angenehmer Natur sind, ein Wohlbehagen der Vorfreude, sowie angenehme Erinnerungen und Sehnsüchte in der Seele des Menschen auslösen. Zurückliegende Strapazen und Entbehrungen geraten dann meist in die Zweitrangigkeit.
In dieser Vorfreude, es geschafft zu haben, trat er aus der Deckung der Holunderbüsche hervor und wanderte ruhig und gelassen den Weg in das Dorf hinab. Ein Mann, der am Pferdefuhrwerk stand und eine Garbe Stroh herunterheben wollte, erblickte ihn zuerst. Augenblicklich erstarrte er in seiner Bewegung und sah Basti stumm entgegen. Ein anderer Mann, ein wahrer Hühne, der zu ihm trat, bemerkte die Starre seines Nachbarn und folgte seinem Blick. Auch er hielt nun in seiner Tätigkeit inne und glotzte Lauknitz unentschlossen entgegen.
Nach und nach bemerkten alle Menschen auf der Straße seine nahende Gestalt. Gespräche wurden plötzlich unterbrochen, Lasten abgestellt und Arbeiten eingestellt. Die Menschen liefen zusammen, als galt es, einem gemeinsamen Feind zu begegnen. Zuletzt erkannten die Kinder, dass sich ihre Umgebung verändert hatte. Allmählich verebbte auch ihr ausgelassenes Geschrei. Nun begriffen auch die zwei Hunde, dass sich ein Fremder näherte. Eben noch nach einem Kind schnappend, änderten sie aus der fließenden Bewegung heraus ihren Kurs und jagten auf Sebastian zu.
Ein schriller Pfiff und eine strenge, scharfe Stimme ließ sie im vollen Lauf stoppen. Unschlüssig blickten sie abwechselnd zu ihrem Herrchen und zu Sebastian. Mittlerweile hatte Lauknitz angehalten und war sich gar nicht mehr sicher, wie er sich verhalten sollte. Die energische Stimme rief die Hunde zurück. Widerstrebend gehorchten diese und trabten zurück. Das nahm auch die Anspannung von den Leuten auf der Dorfstraße.
Wie auf Kommando begannen sie aufgeregt miteinander zu reden und zu gestikulieren. Verschiedentlich wies jemand in Sebastians Richtung und ganz allgemein war eine ziemliche Ratlosigkeit unter den Menschen des Dorfes zu erkennen. Lauknitz selbst fühlte sich inzwischen wie eine Bedrohung dieser friedlichen Dorfbewohner, obwohl er beim besten Willen nicht sagen konnte, auf welchen Umstand sich eine solche Bedrohung hätte stützen sollen.
Die bedrückende Stimmung, die dadurch entstand, entbehrte nicht einer gewissen Spannung. Denn Sebastian wusste nicht, wie die Menschen ihm gegenüber im nächsten Moment reagieren würden, so, wie er ebenso wenig wissen konnte, wie er sich am klügsten verhalten sollte.
In der nächsten Sekunde jedoch nahm alles einen unverhofften Verlauf. Als würden alle Dörfler dort unten von einer Einheit gesteuert, löste sich ihre Gemeinschaft rasch auf. Sie zerstreuten sich in verschiedene Richtungen, jeder suchte offensichtlich so rasch wie möglich die Dorfstraße zu verlassen. Ängstlich griffen sich die Menschen ihre Kinder und verschwanden mit ihnen in ihren Häusern. Fenster und Türen wurden verriegelt, Scheunentore geschlossen und von einem Moment zum anderen war der Weg durch das Dorf menschenleer, wie ausgefegt.
Ruhe legte sich auf die Szenerie, selbst die Insekten unterbrachen ihr beruhigendes Konzert. Eine angespannte Stille legte sich auf das Land und das Dorf, von der tief stehenden Sonne skurril und unheimlich beleuchtet. Schatten wurden länger, griffen über den staubigen Weg, vereinigten sich, wuchsen, vermehrten sich und verdrängten allmählich jeden Lichtschein. Als griff eine beklemmende Furcht um sich, kam ein leiser Wind auf und fuhr Sebastian kalt und abweisend durch die Kleider. Der Luftzug griff nach der Puppe eines Kindes, die neben dem Pferdefuhrwerk liegen geblieben war und rollte sie tonlos hin und her.
Fassungslos stand Sebastian noch immer am Dorfeingang und wagte nicht, sich zu rühren. Die Häuser wirkten auf ihn wie stumme Gesichter mit geschlossenen, versteinerten Augen. Leben war freilich überall hinter den abweisend verriegelten Türen und geschlossenen Fensterläden, doch Basti erreichte es nicht. Das Leben floh vor ihm, vor Sebastian Lauknitz, der niemals einem Menschen etwas zu Leide getan hatte. Das Leben schloss ihn aus, ließ ihn in der Kälte, in der Dunkelheit und der Leere des wie ausgestorben daliegenden Dorfes allein zurück.
Nach seinen bisherigen Erfahrungen mit den Leuten dieser Gegend hatte Sebastian kaum damit gerechnet, dass man ihn wie einen Fürsten feierlich willkommen hieß. Doch eine kollektive, stumme Feindseligkeit hatte er ebenso wenig erwartet. Zunächst einmal tröstete er sich damit, dass sich Menschen vielerorts auf der Welt Fremden gegenüber skeptisch, oder gar anfeindend verhielten. Selbst in seinem Heimatland wurde mit Fremden oft nicht sehr respektvoll und schon gar nicht gastfreundlich umgegangen.
Sein größeres Problem war allerdings der Hunger. Er trat inzwischen deutlich in den Vordergrund. Wenn sich das ganze Dorf ihm gegenüber so abweisend verhielt, würde er hier nicht einen einzigen Bissen bekommen. ihm blieb jedoch ohnehin nichts anderes übrig, als dem Weg zu folgen. Und der führte nun einmal mitten durch diese Ortschaft hindurch.
Lauknitz erreichte die ersten Häuser, die nicht mehr und nicht weniger als den Charakter von fein säuberlich gezimmerten Hütten besaßen und ging vorbei an dem Pferdegespann mit dem Leiterwagen. Der Wind wehte Halm für Halm der Ernte von der Ladefläche in den Straßenstaub. Doch niemand kümmerte sich darum. Der ganze Ort machte den Eindruck, als wären plötzlich alle seine Bewohner tot umgefallen. Die Puppe, ebenfalls ein Spielball des Windes geworden, rollte wie von Geisterhand bewegt, hin und her, als wäre sie das einzige, starrgesichtige Lebende auf diesem Schauplatz.
Zwischen stummen Häusern hindurch und an schweigenden Fenstern und Türen vorbei setzte Sebastian vorsichtig Schritt vor Schritt, bereit, zu reagieren, falls jemand auf die Idee kam, den Fremden nicht unverletzt ziehen zu lassen.
Hinter ihm knarrte und klapperte eine Tür. Geistesgegenwärtig riss Sebastian die Machete aus dem Gürtel und sprang herum... Ein kleines, blondes Mädchen kam den Weg durch den Vorgarten der zweiten Hütte auf die Straße gelaufen. Sie sah sich suchend um und entdeckte dann ihre Puppe, die der Wind beinahe vor Sebastians Füße geweht hatte. Zögernd sah sie abwechselnd auf ihr Spielzeug und auf den Fremden.
Basti lächelte sie offen an. Es war das kleine Mädchen, dass bereits am Morgen oben auf der Alphütte mit seiner Familie vor ihm Reißaus genommen hatte. Augenblicklich erschien auch ihr Vater auf der Bildfläche und war gerade im Begriff, auf ihn loszustürmen. In seiner Verzweifelung reagierte Sebastian beinahe automatisch. Rasch bückte er sich, hob die Puppe auf, trat zwei Schritte auf das Mädchen zu und hielt sie ihr hin. Dann griff er in seine Hosentasche, holte ihr rotes Halstuch hervor, das sie bei ihrer Flucht am Morgen verloren hatte und legte es ebenfalls in seine Hand mit der Puppe.
Der Mann hatte bereits die halbe Strecke zwischen der Hütte und Lauknitz zurückgelegt, um sein Töchterchen zu beschützen, hielt jedoch angesichts Bastis Geste inne. In den Augen des Mädchens leuchtete es kurz auf, sie machte einen Schritt auf ihn zu, gerade mal so weit, dass sie beherzt zugreifen konnte. Schnell machte sie auf dem Absatz kehrt und lief mit ihren wieder gewonnenen Schätzen zu ihrem Vater, der sie weiter zur offenen Hüttentür schubste.
Freundlich nickte Sebastian dem Vater zu und hob zum Gruß die Hand. Der Mann entrang sich ein flüchtiges, aber dankbares Lächeln, nickte unmerklich mit dem Kopf, ging ins Haus und schloss die Tür. Da stand Basti nun. Unter der letzten Hoffnung auf Hilfe begraben...
Resigniert ging er weiter, durch einen Ort, dessen Häuser ihm förmlich ins Gesicht schrien: Gehe fort! Verschwinde! Lass dich hier ja nie wieder blicken! Gut, was hatte er erwartet? Dass ihn dieser Mann zum Essen einlud, nur weil er seinem Töchterchen das Halstuch zurück brachte? Dass er ihm einen Schlafplatz am Ofen anbot? Nach der anfänglichen Reaktion der Dorfgemeinschaft konnte Sebastian auf ein solch verändertes Verhalten von einem Einzelnen nun wirklich nicht hoffen.
Die Sonne verschwand hinter den hohen Bergen im Westen. Es wurde kühl. Schemenhafte Hütten und Ställe wanderten bei seinem Gang durch das Dorf an seinem Auge vorüber. Es war ein armseliges Dörflein. Es gab kein Ladengeschäft, keine Elektrizität, ja nicht einmal eine Kirche.
Lediglich eine Art Dorfplatz verriet die ungefähre Mitte der Ansiedlung. In seinem Zentrum befand sich ein großer, mit Sorgfalt gemauerter Brunnen. Große, zwischen vierzig und fünfzig Zentimeter hohe und eineinhalb Meter lange, behauene Steinquader reihten sich im Kreis um den Brunnen. Ein wenig erinnerte die Anordnung an ein Aphitheater, dessen Bühne der Platz war, wo jeder Wasser schöpfte.
Beeindruckt war Basti von den liebevoll gepflegten Vorgärten der Hütten. Waren die Behausungen auch von noch so einfacher Konstruktion, so ließen sie doch eine hingebungsvolle und leidenschaftliche Arbeit erkennen. Kleine, phantasievolle Zäune begrenzten die Beete, in denen die schönsten und buntesten Blumen blühten und duftende Kräuter, sowie verschiedene Gemüse wuchsen. Kaum, dass ein solcher Zaun ungebetene Tiere davon hätte abhalten können, sich Zutritt zu den Leckereien zu verschaffen. Dennoch schien man auf die Zäune besonderen Wert zu legen. Es waren kleine Kunstwerke. Einige waren aus zusammengefügten Rippenknochen gefertigt, andere begeisterten als die feinsten Holzschnitzereien, die Sebastian je unter die Augen gekommen waren. Ein besonders hübscher Zaun war aus kleinsten, verschiedenfarbigen Steinen mosaikartig gemauert, so dass ein langes, wunderschönes Bild entstanden war.
Die Hütten selbst indes waren einfach gehalten. Hier und dort zierte wohl ein Geweih die Eingangstür, oder es hingen bunte, getrocknete Blumenkränze an den Wänden, doch sonst sah er nur aneinander gefügte, ebenmäßig gehobelte Baumstämme.
All diese Eindrücke konnten jedoch sein vordringlichstes Problem nicht lösen. Nach wie vor hatte er nichts zu essen. Dieses Dorf war seine letzte Hoffnung gewesen, etwas Nahrung zu bekommen. Nach seiner Erfahrung mit den Bewohnern wagte Sebastian nicht, einfach in einen Vorratsschuppen einzudringen und sich selbst zu bedienen. Wenn jemand schon wegen seiner bloßen Anwesenheit mit einer Sense auf ihn los ging... Wozu waren die Leute hier noch fähig?
Mittlerweile kam Sebastian zu dem Schluss, dass es am klügsten war, wenn er das Dorf verließ und weiter talwärts wanderte, in der Hoffnung, irgendwo doch noch etwas Essbares aufzutreiben. Einmal musste er ja zwangsläufig in einen größeren Ort, oder eine Stadt gelangen. Die Menschen in den abgelegenen Regionen wie hier oben, lebten offenbar unter dem Verzicht sämtlicher Annehmlichkeiten der Zivilisation, wie Telefon, Kraftfahrzeuge, Landmaschinen, oder Elektrizität.
Als erstes musste Sebastian freilich einen Platz für die Nacht finden. Vielleicht eine einsam gelegene Vorratshütte, oder einen Unterstand, der ihm wenigstens den allernötigsten Schutz bot. Es wurde dunkel, als er die letzten Häuser des Dorfes aus den Augen verlor und es war stockfinstere Nacht, als Basti endlich die schemenhafte Silhouette einer Hütte auf einer frisch gemähten Wiese erspähte.
Es war eine dieser kleinen, fensterlosen, auf Steinen aufgebockten Holzstadel, in denen die Bauern ihr Heu für den Winter aufbewahrten. Er war zu müde, und weiß Gott nicht in der Situation, große Ansprüche zu stellen. Schwerfällig stieg er die schmale, offene Treppe zur Tür hinauf. Kein Riegel oder Schloss versperrte ihm den Weg. Ein Strick, am Türblatt befestigt und um einen Holzstempel gewunden, hielt die wackelige Tür zu.
Vorsichtig trat Sebastian in den niedrigen, dunklen Raum. Der Duft nach getrocknetem Gras schlug ihm entgegen. In jedem Fall war dieser Geruch noch angenehmer, als der, welcher ihm zeitweise aus Högi Balmers Hütte entgegen drang. Die bescheidene Flamme seines Feuerzeugs zeigte Basti einen zur Hälfte mit Heu angefüllten Verschlag. Eine kleine Leiter führte durch eine Luke auf den Dachboden. Dieser schien geradezu vollgestopft mit Winterfutter.
Nun, er hätte es wesentlich schlechter treffen können. Wie bescheiden er geworden war! Eine handvoll Stroh genügte Sebastian im Augenblick schon zum Glücklichsein. Die Tür zog er mit dem Strick zu und band sie an einen vorstehenden Holznagel. Dann rollte er seinen Schlafsack auf dem Heu auseinander und schlüpfte zufrieden hinein. Zufrieden..? Nein, wohl doch nicht so ganz!
Denn ein mächtiger Troll namens Hunger wollte keinen Frieden geben. Er trampelte in seinem Bauch herum, rumorte in allen Ecken seines Magens und hüpfte und trat und boxte so heftig, dass Sebastian trotz müder Knochen nicht recht einschlafen konnte. Unruhig drehte er sich in seinem Schlafsack hin und her, hoffte eine Stellung zu finden, in welcher der Quälgeist in seinem Bauch endlich Ruhe geben würde.
Bald fand Lauknitz mit Hilfe der Embryo- Stellung dann doch noch den friedlichen Pfad in die Welt der Träume...
Irgendwann in der Nacht, Sebastian mochte wohl drei oder vier Stunden geschlafen haben, riss ihn ein Krachen und Donnern aus dem Schlaf, als würde jemand eine Haubitze neben dem Stadel abfeuern. Er lag hellwach und lauschte. Ein greller Blitz trat durch alle Ritzen in seinen Unterschlupf und erleuchtete für Sekunden seine Umgebung. Dann folgte ein Donnerschlag, der die Welt erzittern ließ.
Fast gleichzeitig setzte ein Rauschen ein, das ein Gebirgsbach kaum noch übertönen konnte. Umständlich schälte sich Basti aus dem warmen Schlafsack und kroch zur Tür. Im Licht der nächsten Blitzkaskade löste er den Strick und blickte durch den Spalt nach draußen. Dort ging ein wahrer Prasselregen nieder, der ihn lebhaft an das Unwetter bei der Hütte des alten Balmer erinnerte. Im hellblauen Schein der Blitze konnte er erkennen, dass der Regen wie ausgeschüttet fiel. Sebastian sah den Weg, die Baumgruppen und aufgestellte Heugarben hinter einem Vorhang aus Wasserfäden.
Besorgt blickte er sich um. Bei diesem Platzregen war es nur natürlich, dass irgendwo Wasser durchtropfte und seine Schlafstelle durchnässte. Ein Hoch auf die einfachen Bauern dieses Landes! Nicht ein Tropfen des ungemütlichen Nass fand den Weg durch das Dach.
Zufrieden, einen trockenen Platz zu haben, blickte er durch den Türspalt nach draußen und sah dem Unwetter zu. Blitze erhellten für Sekundenbruchteile die Landschaft, die sein Auge ebenso rasch zu erkunden versuchte. Naturgemäß blickte er kaum über die ausgedehnte Wiese vor dem Heustadel hinaus. Also beschloss Basti, das Gewitter sich selbst zu überlassen und noch etwas zu schlafen. Gerade, als er die Tür zuziehen und den Strick am Holznagel fixieren wollte, gewahrte er einen Schatten, der langsam über die Wiese zog...
Angestrengt spähte er hinaus und wartete. Der nächste Blitz würde Klarheit schaffen. Die Sekunden zogen sich hin, wie Stunden. Er versuchte etwas außergewöhnliches zu hören, doch das Rauschen des Regens verschluckte jedes andere Geräusch. Da..! Drei Blitze machten die Nacht zum Tag. Mit Schrecken im Gesicht starrte er auf den dunklen Fleck, der sich gemächlich quer über die Wiese schob. Sebastian wollte seinen Augen nicht trauen, doch eine weitere Blitzserie bestätigte ihm, was er sah. Ungeachtet des Gewitters trottete ein Bär durch das Unwetter. Ein richtiger Brocken von einem Bär war das! Bislang kannte Sebastian Bären nur aus dem Zoo oder vom Berner Bärengraben. Die hielt er schon für groß. Doch das Exemplar dort unten musste ein wahrer Riese seiner Art sein!
Schnaufend stapfte er durch das Gras, seinen mächtigen Kopf witternd hin und her werfend. Sein Fell dampfte im kalten Regen und sein Atem blies weiße Kondenswolken in die schaurige Gewitternacht. Direkt vor dem Stadel, Bastis Unterschlupf für die Nacht, blieb er plötzlich stehen, witterte nach allen Seiten und tanzte unruhig auf den Vorderpfoten hin und her. Sebastian rutschte beinahe das Herz in die Hose! Rasch zog er die Tür zu.
Bang! Das hätte er lieber lassen sollen! Selbst bei diesem Regen konnte dem Bären der Schlag der Tür nicht entgangen sein. Ganz vorsichtig öffnete Basti sie erneut einen Spalt breit und lugte hinab. Der Bär schüttelte sein Haupt, dass das Wasser aus seinem Pelz spritzte. Er war augenscheinlich gereizt, aber unentschlossen. Doch er hatte bemerkt, dass sich Sebastian hier oben befand. Plötzlich richtete er sich auf und Basti erschrak, denn er hatte seine Größe wohl deutlich unterschätzt. Der Bär machte den Eindruck, dass er aufgerichtet locker seine Tatzen zu Sebastian durch die Tür stecken konnte.
Trotz des abkühlenden Regens bekam er Schweißausbrüche. Seine Gedanken überschlugen sich. Fieberhaft überlegte er, ob dieses Biest ihm hier oben gefährlich werden konnte. Den Stadel einreißen, dazu hätte selbst dieser Riese eher nicht die Kraft gehabt. Die Bauern hatten solide und fest gebaut. Schon beschäftigte ihn die nächste bange Frage: Würde der Bär die Treppe heraufkommen, um an sein Nachtmahl zu gelangen? Sebastian versuchte sich damit zu beruhigen, dass die Stiege bereits unter seinem eigenen Gewicht bedenklich geächzt hatte. Unter der Masse des Bären musste sie unweigerlich zusammenbrechen.
Tatsächlich erkannte das auch der Bär. Er stellte seine wagenradgroßen Tatzen auf die untere Treppenstufe und wippte prüfend hin und her. Mit einem kaum wahrnehmbaren Knacken zerbrach diese unter seinem Gewicht, wie ein mürber Keks. Und als ob er wusste, dass sich jemand hier oben verbarg und ihm entwischt war, richtete er sich noch einmal zu voller Größe auf und brüllte drohend zu Sebastian herauf. Die Dampfwolken aus seinem Maul glichen einem Vulkanausbruch. Anschließend umrundete er den Stadel noch zwei oder drei Mal und trottete dann in seiner ursprünglichen Richtung davon.
Das musste er sein, der Felsenbär, von dem Sebastian den Doktor und Väterchen Balmer hatte erzählen hören. Im Hinblick auf seine Größe hatten die beiden aber weit untertrieben. Dieser Bursche dort wog gut und gerne seine eineinhalb bis zwei Tonnen! Er lief selbst den gefürchteten Kodiak- Bären noch den Rang ab. Dieser König der Wälder hatte hier wahrscheinlich keine ernstzunehmenden Feinde.
Im Geiste stellte sich Sebastian vor, wie die Begegnung ausgehen würde, wenn dieser Riese es wagte, des Nachts an die Tür einer der ebenerdig gebauten Dorfhütten zu klopfen. So massiv die Türen auch aussahen, ein wirkliches Problem konnte er damit nicht haben.
Der Bär war Sebastians Blick entschwunden, das Gewitter verlor an Heftigkeit und der Regen rieselte gemächlich vor sich hin, die Luft deutlich abkühlend. Seine Beine und Füße schmerzten und müde, wie er war, beschloss er, noch ein paar Stunden in den Schlafsack zu kriechen.

»Chrack..! Chrack, Chrack... Chrackchrackchrack..!« Permanent drang dieser Laut an sein Ohr. Anfangs hielt Sebastian ihn für eine Wahrnehmung aus seinem Traum, der ihn den Rest der Nacht fesselte. Nach und nach begann das Räderwerk seines Gehirns zu arbeiten. Es fiel ihm schwer, Traum und Realität voneinander zu trennen, doch als es ihm halbwegs gelang, stellte ich verblüfft fest: Das Geräusch blieb! »Chrack, Chrack... Chrackchrackchrack..!«
Als erstes dachte Lauknitz an den Bären. Hatte der etwa doch noch nicht aufgegeben? Fraß er jetzt die Stützpfeiler des Stadel an? Aufgeschreckt entwand sich Sebastian seinem Schlafsack und öffnete die Tür ein Stück weit, gerade genug, um hinaussehen zu können.
»Chrack, Chrack... Chrackchrackchrack..!« Das Geräusch kam von oben! Über ihm, auf der Firstspitze saß ein rabengroßer Vogel, der jedoch mehr Ähnlichkeit mit einer Möwe, als mit einem Raben hatte. Er besaß einen großen, gelben, vorn in einer Spitze nach unten gekrümmten Schnabel, sowie ein braunes Federkleid. Seine Füße, die mehr an Schwimmhäute erinnerten, trugen einen großen Körper, der ähnlich einer Ente geformt war.
An dem Vogel ist etwas dran, war Bastis erster Gedanke! Was bohrender Hunger bei einem Menschen auslösen kann... Wie man eine Ente rupft und ausnimmt, hatte er bei seinen Großeltern gelernt, für die das Schlachten im landwirtschaftlichen Siedlungsbau nach dem Krieg zur Überlebensstrategie gehörte. Allerdings blieb die Frage, wie Sebastian das Tier erwischen sollte, ohne dass es ihm entwischte!
Vorsichtig zog er die Tür wieder zu, um den Vogel nicht zu verschrecken. Gehetzt überlegte er, wie er das Federvieh vom Dach holen konnte. Die Machete kam nicht in Frage. Sebastian wollte das Tier zwar töten, jedoch nicht zermanschen! Aber wenn er den Vogel mit einer Schlinge überraschen könnte... Ihm seinen Gürtel überwerfen und sofort herunterziehen!
Zwei Minuten später stand er ausgestreckt an die Wand des Stadels gepresst, die Gürtelschlaufe in der Hand und wagte kaum zu atmen. Es musste schnell und präzise gehen, dann hatte die braune Möwe keine Chance! Bei drei! Eins.., zwei.., drei... Sein Arm flog hoch, die Gürtelschlinge zischte hinterher..., und knallte geräuschvoll an die Firstspitze.
»Chrack, Chrack... Chrackchrackchrack..!« Ein Schatten flog elegant vom Dach und landete butterweich auf der Wiese vor dem Stadel. »Chrackchrackchrack..!« Das Vieh lachte ihn auch noch aus! Wütend schleuderte Sebastian seinen Gürtel nach dem Vogel, der aber geschickt hüpfend auswich. Seine Machete flog mit einem solch energischen Jähzorn hinterher, dass sie einen halben Meter neben dem erschreckten Tier im regennassen Boden stecken blieb.
Langsam verlor der Vogel den Spaß an diesem Spiel. Er hüpfte dreimal, schwang seine Flügel auseinander und flog ohne Hast davon. »Super, Sebastian Lauknitz…«, dachte er, »das war dein Frühstück!« Doch trotz des rumorenden Hungers musste er lächeln. Ob sich der Bär heute Nacht wohl ebenso geärgert hatte?
Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass der Regen aufgehört hatte. Statt dessen stand er in einem strahlenden Morgen, der einen warmen Tag versprach. Der feuchte, trübe Dunst von gestern war aus der Luft gewaschen und alles leuchtete in frischen Farben. Die hohen Berge standen scharf geschnitten vor einem blauen Himmel. Jungfräuliches Weiß bedeckte ihre Kronen, ließ sie greifbarer und erhabener aussehen. Die Vögel zwitscherten ausgelassen und erfreuten sich an vielerlei Nahrung, die der Regen aus dem Boden gewaschen oder getrieben hatte. Freundlicher konnte man von einem Tag nicht begrüßt werden.
Nachdem er den Schlafsack wieder auf den Rucksack geschnallt hatte, verschloss er die Tür des Stadels und machte sich wieder auf den Weg. Weiter talwärts, dem kleinen Fluss entlang, so weit, bis er einen Ort erreichte, in dem man ihm nicht jede Tür und jedes Fenster vor der Nase zuschlug. Das war Bastis Ziel.
Die Machete behielt er in der rechten Hand. Er konnte nicht wissen, ob der Bär inzwischen in den Bergen verschwunden war. Sollte er jedoch noch in der Gegend herumschleichen, würde ihm das Gerät kaum etwas nützen. Den Gedanken, zum Dorf zurück zu gehen, um die Bewohner vor diesem Biest zu warnen, verwarf Sebastian gleich wieder. Sie hatten ihn mit so viel Feindseligkeit behandelt, sollten sie gefälligst zusehen, wie sie mit dem Vieh allein fertig wurden!
Beinahe vier Tage ohne Essen zeigte Wirkung. Lauknitz ging nicht mehr so konzentriert und seine Trittsicherheit ließ ebenfalls nach. Dazu gesellte sich noch ein Gefühl der Schwäche, die sich darin ausdrückte, dass ihm von Zeit zu Zeit schwindelig wurde. Eine gewisse Flauheit in seinem Magen und eine Apathie, die er von sich nicht gewohnt war, stellte sich ein. In diesem Zustand latschte er dahin, immer der Nase nach, Stunde um Stunde, in nur dem einen Gedanken: Hoffentlich hatte das bald ein Ende!
Seine Wanderung führte Sebastian über sanfte, grüne Hügel, vorbei an einzelnen Hütten, durch kleine Wälder und stets entlang des kleinen Flusses, der von unzähligen Bächen gespeist wurde, die als Wildwasser von den hohen Bergen sprangen. Über allem thronte die stets gegenwärtige, grandiose Kulisse der befirnten Bergriesen, die im klaren Licht der Sonne mit ihren hohen Eisfeldern grüßten.
Der Morgen war noch nicht vergangen und die Sonne hatte erst begonnen, die nassen Wiesen und Bäume zu trocknen, als Sebastian über eine Anhöhe schritt und ein weiteres Dorf im Tal liegen sah. Überrascht blieb er stehen und wusste nicht recht, wie er sich verhalten sollte. Das Dorf glich so sehr dem von gestern Abend, dass es ihm schwer viel, unbedarft mitten durch die Häuser zu wandern. Das gestrige Erlebnis wollte er auf gar keinen Fall noch einmal erfahren!
Trotz des Hungers, der mittlerweile an seine Substanz ging, entschied sich Sebastian dafür, das Dorf zu umgehen. Auch auf die Gefahr hin, an diesem Tag keine weitere Ortschaft zu erreichen, wollte er einen möglichen Konflikt mit den Dörflern vermeiden.
Mühsam stieg er über die höher gelegenen Weiden und folgte dem Verlauf des Tales, bis das Dorf weit hinter ihm lag. Von erhöhter Warte aus konnte Sebastian weit in das Tal hinab sehen. Irgendwo, in einigen Kilometern Entfernung sah es so aus, als würde eine riesige Felsbarriere den Talschluss versperren. Links und rechts stiegen steile Felswände zu den gigantischen Gipfeln auf, nur durch einige kleine Sonnenterrassen unterbrochen. Silberne Fäden durchzogen den grauen Stein. In ihnen vermutete Sebastian Wasserfälle, die er seit dem letzten Dorf an vielen Stellen in die Tiefe stürzen sah.
Sein Verstand sagte ihm, dass sich das Tal weiter hinab zog, auch wenn er es von hier aus nicht weiter einsehen konnte. Denn wo blieb sonst das Wasser des Flusses und der zuströmenden Bäche? Dennoch war Sebastian ziemlich skeptisch, stieg aber wieder hinab, um dem Weg zu folgen.
Auf halber Strecke zur vermeintlichen Felsbarriere gelangte er an eine imposante Ruine. Sie lag gerade mal hundert Meter vom Weg entfernt und musste einmal eine beeindruckende Festung gewesen sein. Alles, bis auf die beiden unteren Stockwerke und einem massiven Turmbau, den man mit soliden Felssteinen gemauert hatte, war verschwunden. Nur wenige Steinbrocken lagen noch herum, die wohl erst in jüngster Zeit vom Gemäuer der Schwerkraft überlassen wurden.
Die Ausdehnung der noch erhaltenen Mauerreste deutete darauf hin, dass hier einmal eine mächtige Burg den Weg und den Zugang zum Tal bewacht hatte. Vor langer Zeit lebten hier Menschen in Gängen, Räumen, Sälen, und Türmen. Sogar ein großer Innenhof auf zwei Ebenen war noch zu erkennen. Die Außenmauern waren von einer Stärke, wie sie Sebastian noch nie bei einer Ruine gesehen hatte. Ein fürchterlicher Feind musste das gewesen sein, der diese Festung in die Knie zwang.
Überall in der Ruine fand Sebastian alte Feuerstellen. Ein wahres Heerlager von Pilgern musste hier regelmäßig übernachten. Und so abwegig war das auch gar nicht. Wenn dies der einzige Weg war, um in das Tal zu gelangen, so bot sich kein besserer Rastplatz an, als eine alte Ruine.
Hinter der einstigen Burg beschrieb der Weg einen Bogen, führte in einen dunklen Wald und stieg stetig an. Links und rechts, aus den hohen Felsen über ihm, donnerten mächtige Wasserfälle zu Tal und versprühten zuweilen einen Nebel, der den erhitzten Wanderer reichlich erfrischte. Kurz darauf wurde das Gelände felsiger und rauher. Der Weg, der sich in seiner Form über all die vielen Kilometer von den hohen Alpwiesen herab, durch die Dörfer und bis zur Ruine nicht verändert hatte, wurde plötzlich schmaler, steiniger und unebener. Bald hatte er nur noch den Charakter eines schmalen Gebirgspfades, der sich immer steiler und in vielen Kehren hinauf wand.
Plötzlich endete der Wald und gab einen ungefähr fünfzig Meter breiten Streifen Alpweide frei. Aus diesem Grasstreifen erhob sich eine schier senkrecht aufstrebende Mauer aus Felsgestein, so hoch, dass Sebastian die obere Kante nicht mehr sehen konnte. Grasabsätze, die zum Teil mit kleinen Tannen bewachsen waren, unterbrachen die glatte Felswand, die sich zu beiden Seiten in einem Gewirr von Stufen, Graten und Bergflanken verlor.
Vor ihm tat sich ein mächtiger Riss von mehreren Metern Breite im Fels auf. Dieser zerklüftete, bizarre Einschnitt setzte sich unendlich nach oben hin fort, wo er an Weite zunahm. Der Weg, dem Sebastian nun schon vier Tage folgte, verschwand im Halbdunkel dieser engen Schlucht, die den Eindruck erweckte, wie von einer Riesenfaust in den Berg geschlagen worden zu sein.
Der kleine Fluss verschwand sicherlich bereits weiter unten in den geheimen Schlünden des Berges. Wahrscheinlich trat er auf der anderen Seite als Quelle aus irgendeiner Grotte wieder aus.
Nun glaubte Sebastian zu verstehen, warum die Menschen in diesem Tal ein so seltsames Verhalten an den Tag legten. Durch diesen Gebirgseinschnitt gelangte allenfalls eine Maultierkolonne hindurch. Das Tal lag abgeschnitten vom Rest der Zivilisation hinter einem Wall aus unüberwindlichem Fels, Eis und Schnee. Wahrscheinlich kam nur selten ein Gast in diese abgelegene Welt.
Ein idealer Ort für Menschen, wie beispielsweise die Amish, in Ruhe gelassen und friedlich zu leben. In so einem abgeschiedenen Tal konnte man auch einen Basti Lauknitz gut verschwinden lassen, ohne ihn zu töten. Freilich konnte man in einem so unzugänglichen Teil der Erde auch ungestört mit der Natur herumexperimentieren und neue, oder entartete Kreaturen schaffen. Niemand würde davon erfahren, keine Menschenseele würde es in die Welt hinausposaunen.
Sebastian war davon überzeugt, ja geradezu besessen von dem Gedanken, dass auf der anderen Seite der Schlucht der Touristenzirkus irgendeines Skigebiets auf ihn wartete. Innerlich war er darauf vorbereitet, drüben aus der Schlucht zu treten, und auf einen Riesenrummel zu blicken, mit Parkplätzen, Hotels, Sportanlagen und Restaurants und Skiliften.
Von Grund auf neu motiviert trat er in den Felseinschnitt. Seine Schritte bekamen vielfältigen Nachhall, sobald er den nackten Felsboden betrat und klangen hohl und dumpf, wenn er auf eingebaute Stege aus Holz ging. Es war dunkel, jedoch nicht stockfinster. Von oben drang ein Rest Licht zum Grund der Schlucht herab, gerade so viel, dass man sich nicht die Knochen brach.
Die meiste Zeit bewegte sich Sebastian auf gut behauenem Weg. Stellenweise war die Klamm grundlos. An diesen Passagen hatte man sichere, breite Holzstege mit Geländer an die Wand gebaut. Sie waren mit mächtigen Stämmen schräg nach unten in kleine Nischen der Felswand eingelassen und stützten so das bewundernswerte Bauwerk.
Tief unten, wo das Auge nur noch Schwarz erkennen konnte, gurgelte und rauschte Wasser. Einen Steinwurf weiter war es wieder unnatürlich still, so dass man die einzelnen Tropfen mit mehrfachem Echo von den Felswänden auf den Boden klatschen hörte. Bis plötzlich wieder das Rauschen zunahm und der Fluss irgendwo in grundloser Tiefe erneut aus dem Felsen schoss, um sich seinen Weg aus dem Tal zu suchen.
Nackte, schwarze Felsen glänzten feucht im spärlichen Licht und oft verschloss sich das Dach der Klamm und ließ so gut wie keinen Schimmer mehr nach unten durchdringen. Der Weg aber war so trittsicher, dass Sebastian ihm auch im Dunkel folgen konnte.
Einmal kamen ihm drei Männer mit zwei Pferden entgegen. Schon von weitem hörte er ihre verzerrten Stimmen und das laute Klappern der Hufe. Tausendfach warfen die Felswände die Geräusche hin und her, so dass ein Lärm entstand, als durchquere eine ganze Armee die Schlucht. Sebastian drückte sich an einer dunklen Stelle in eine Felsnische und ließ die drei vorüberziehen. Sie unterhielten sich angeregt und waren so sehr mit sich selbst und den Pferden beschäftigt, dass sie ihn gar nicht wahrnahmen. Wieder hörte Lauknitz diese Sprache, von der er nicht eine einzige Silbe verstand.
Im Dunkeln verliert ein Mensch leicht das Zeitgefühl. Dennoch glaubte Basti, eine gute Stunde durch die Schlucht marschiert zu sein. Er schätzte sie auf eineinhalb bis zwei Kilometern Läge. Welche Urgewalten mochten diesen Bergrücken einst so auseinander gerissen haben?
Als endlich das Licht zunahm und sich ein Ende des düsteren Weges abzeichnete, beschleunigte Sebastian seinen Schritt. Neugier trieb ihn jetzt an. Zum zerreißen gespannt war er auf die Welt, die hinter diesem großen Wall lag. Die Schlucht wurde breiter und Sonnenlicht floss mehr und mehr die Felsen herab, als übergoss sie jemand mit flüssigem Gold.
Irgendwo tief unten strömte auch der Fluss wieder zu Tage. Sein mächtiges, allübertönendes Rauschen sagte ihm, dass er in einem Wasserfall in die Tiefe fiel. Der Weg wurde breiter, trat aus der Felsenklamm und wies bald wieder den Komfort einer Sandstraße auf. Doch der Blick in das neue Tal blieb Sebastian zunächst verwehrt. Dichter Wald hüllte den Ausgang der Schlucht, sowie den Weg in schweigendes Grün. Lediglich die Vögel sangen in den Baumwipfeln und man konnte meinen, dass sie sich dort tummelten, um der Sonne näher zu sein.
In Kehren führte der Weg abwärts, stets im dichten Tann. Keine zwanzig Minuten später jedoch lichtete sich der Wald und gab den Blick frei.
Die Enttäuschung, die Sebastian sogleich ergriff, ließ seine Knie kraftlos einknicken. Seinen Rucksack ließ er auf der Stelle ins Gras fallen und schob sich, all seiner Kräfte beraubt, auf einen alten Baumstamm. Dort saß er, hoffnungslos, verzweifelt, völlig demoralisiert und enttäuscht in das Tal vor sich hinabblickend...
  Wichtiger Hinweis: Die Texte des Autors Frank Adlung, insbesondere die des Romans "Das Geheimnis von Val Mentiér", sind durch notarielle Hinterlegung urheberrechtlich geschützt. Ein Herunterladen und Ausdrucken ist nur für den privaten Zweck des Lesens gestattet. Kommerzielle Nutzung, öffentlicher Vortrag, oder Vervielfältigung und Verfälschung des Inhalts, sowie öffentliche Verbreitung ohne Genehmigung des Autors sind untersagt und werden zur Anzeige gebracht.
   
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