Das Geheimnis von Val Mentiér
 
12. Kapitel
 
Schwarze Reiter
 
twa zwanzig Minuten waren sie in diesem Tempo gelaufen, als Antarona unerwartet anhielt, sich zu Boden hockte und für Sebastian als Signal ihre Hand hob. Beinahe hätte er sie über den Haufen gerannt, denn er war ihr nur noch im stoischen Takt seiner Beine gefolgt, ohne nachzudenken, ohne an ein Ende dieses Marterlaufs zu glauben.
Vollkommen ausgelaugt fiel Sebastian hustend neben ihr in den schmutzigen Staub des Weges, dankbar für die kleine Pause und unfähig, auch nur noch einen Finger zu krümmen. Antarona hockte still lauschend mit dem Po auf den Fersen ihrer Füße, die mit den Fußballen in den Sand gekrallt, ihren ganzen Körper leicht hin und her wiegten. Sie blickte konzentriert in das Blätterdach der Bäume und schien angestrengt jedes Geräusch in sich aufzunehmen.
Sobald er wieder einigermaßen ruhig atmen konnte, setzte sich Sebastian neben sie und sah sie fragend an. Sie regte sich nicht, saß nur da, wie in einer Art Meditation. Tief sog er ihren sinnlichen Duft ein. Ihre nackte Haut verströmte einen anziehenden Geruch von Leder und einer mystischen, orientalischen Note, wie von einem im Wind verstreuten Gewürz...
Auf einem Mal huschten zwei pfeilschnelle Schatten durch die Bäume und Sekunden später schwebten Antaronas Krähen heran, die Sebastian fast schon vergessen hatte und ließen sich auf ihrem gewohnten Platz, den Schultern ihrer Herrin nieder. Sie gaben ein langgezogenes, tiefes Kroooh, krooh von sich, als wollten sie ihrem Krähenmädchen etwas mitteilen.
Und als ob diese die geheimnisvolle Nachricht verstanden hätte, stand Antarona auf und wies mit ihrem Bogen in das dichte Gestrüpp links des Weges: »Viele Männer auf Pferden.., sie kommen schnell... Ba - shtie.., kommt, wir verstecken uns dort!«
Sie griff nach Sebastians Handgelenk und zog ihn hinter sich her, in das Dickicht des Urwaldes. Zwischen bemoosten Baumstämmen, Sträuchern und niederem Blätterwerk begann sie mit den bloßen Händen in der Erde herum zu graben. In aller Seelenruhe verrieb sie feuchten Humus zwischen ihren Händen und beschmierte sich mit diesem Dreck das Gesicht und die Schultern.
Auffordernd stieß sie Sebastian mit dem Ellenbogen an, er sollte es ihr nachmachen. Basti setzte eine Mine der Empörung auf, denn er sah nicht ein, sich auch noch mit Schmutz zu beschmieren, da es in dieser Gegend ohnehin schon an Gelegenheiten zum Duschen mangelte. Wieder spürte er ihre Elle in seinen Rippen, diesmal energischer. Letztlich war es sein blindes Vertrauen zu ihr, das ihn dazu brachte, sein Gesicht im Moder zu waschen. Stolz präsentierte Sebastian ihr seine heroische Tat, erntete jedoch nur ein flüchtiges Lächeln.
Nach diesem Tarn- Make Up drückten sie sich in den Waldboden, warteten und lauschten. Antarona hatte ihre Augen geschlossen, als würde sie schlafen. Still beobachtete Sebastian sie, eine halbwilde Frau, die auch völlig verdreckt noch mit ihrer Schönheit die Sterne herausfordern konnte.
Sie lagen eine halbe Ewigkeit im Dreck und Sebastian fragte sich bereits, von welchem verrückten Einfall sie nun wieder geritten wurde, als sie plötzlich die Augen aufschlug. In ihrem Blick war keinerlei Müdigkeit, sondern eine angespannte Aufmerksamkeit, die sich auch ohne Worte auf ihn übertrug. Dann ging alles so schnell, dass Sebastian kaum in der Lage war, die Geschehnisse zu begreifen, geschweige denn, ihnen im Ablauf zu folgen...
Antarona zischte ihren beiden Krähen unverhofft einen Befehl zu. Die Vögel machten einen Satz, erhoben sich in die Luft und flatterten durch die Bäume davon. Dann richtete sie sich halb auf und in einer kaum wahrnehmbaren Geste spannte sie ihren Bogen und legte einen Pfeil an die Sehne.
Fast gleichzeitig vernahm er ein Geräusch, das immer lauter wurde, wie wenn irgendwo Felsen von einem Berg kollerten. Es war das Donnern von unzähligen Hufen! Und wie zur Bestätigung Antaronas Ankündigung, trabte ein großer Pulk von Reitern den Weg herauf. Indem Sebastian den Trupp erblickte, wie er unweigerlich auf ihr Versteck zuhielt, packte ihn die nackte Angst!
Ungefähr zwölf bis vierzehn Reiter preschten da in einem Galopp heran. Jeder dieser Männer trug eine pechschwarze, matt glänzende Rüstung, wie Sebastian sie aus Mittelalter- oder Ritterfilmen her kannte. Nur, diese hier waren echt! Darüber hatten sie sich schwarze, ärmellose und teilweise ausgefranste Hemden gezogen, die viel zu weit waren und im Reitwind flatterten. Auf der Brustseite dieser Hemden, die den Reiterpulk noch gespenstischer aussehen ließ, leuchtete weithin sichtbar ein weißes Symbol, das er irgendwo schon einmal gesehen hatte. Die Reiter saßen ausnahmslos auf schwarzen Pferden und hielten Schwerter, Äxte, oder seltsam gezackte Kettenkugeln in der einen und die Zügel ihrer Pferde in der anderen Hand.
Schweigend galoppierten sie heran, niemand sprach ein Wort. Nur das Donnern der Hufe, das Schnauben der Pferde und ein Scheppern, als würden viele Blechdosen aneinander schlagen, erfüllte nun den Wald. Diese schwarzen Reiter sahen so Angst einflößend und bedrohlich aus, dass Sebastian den Atem anhielt. Antarona legte ihm ihre Hand auf den Arm, was er in der Weise deutete, still, aber bereit zu sein. Doch bereit für was? Schneller, als ihm lieb war, bekam er die Antwort:
Die mittelalterlichen Soldaten stoben an ihnen vorbei und hüllten sie augenblicklich in eine Staubwolke, die Sebastian völlig die Sicht nahm. Der Staub reizte seine Lungen und er kämpfte gegen einen Hustenanfall an. Antarona bemerkte es und gab ihm ein unmissverständliches Zeichen, still zu sein. Sebastian lernte, dass Angst sogar Husten besiegen kann!
Als der letzte Reiter, der seinen Kumpanen mit etwas Abstand folgte, heran war, schossen plötzlich Antaronas Krähen an seinem Visier vorbei in den Wald. Durch den Staub konnte Sebastian alles nur noch schemenhaft sehen, doch so viel war er doch in der Lage zu erkennen!
Verwundert blickte der Ritter hinter den beiden Vögeln her, die er zweifelsohne nur als Schatten wahrnehmen konnte. In diesem Augenblick sprang Antarona wie eine Antilope aus dem Unterholz, spannte den Bogen und ließ ihren Pfeil von der Sehne schnellen. Ein kaum zu hörendes, sirrendes Geräusch, schon ließ der Reiter seine Streitaxt in den Staub fallen, riss sein Pferd herum und fasste sich gleichzeitig an den Hals.
Inzwischen stand Antarona wie ein aus der Erde gezaubertes Märchenwesen auf dem Weg und wie von selbst lag bereits ein zweiter Pfeil an der Sehne ihres Bogens. Donnernd verschwand der Rest der Reiterschar in der sich entfernenden Staubwolke und die Sicht wurde allmählich besser.
Der attackierte Reiter, ein schwarzbärtiger Riese von einem Kerl, schwenkte sein Pferd herum und ritt langsam auf Antarona zu, die starr, wie ein Holzpfahl in der Mitte des Weges wartete. Ein Pfeil hatte den Hals des schwarzen Reiters direkt unterhalb seines Helms bis über die Hälfte des Schaftes durchbohrt. Blut rann aus den Wunden zu beiden Seiten seines Halses. Er riss sich in einer einzigen heftigen Bewegung den Helm vom Kopf und ließ ihn scheppernd zu Boden fallen.
Mit einer Hand hielt er sich noch immer den Hals, mit der anderen lenkte er sein Pferd im Schritt auf Antarona zu. Die stand nach wie vor mitten auf dem Weg und rührte sich nicht. Ungläubig und mit offenem Mund staunend glotzte sie der Mann an. Er schien etwas sagen zu wollen, doch statt eines Wortes trat ihm ein Schwall Blutfäden aus Mund und Nase.
Mit vor Schreck geweiteten Augen begann der Reiter zu wanken und stürzte urplötzlich seitlich vom Pferd. Wie ein nasser Sack schlug er dumpf und scheppernd auf dem Boden auf. Ein Fuß stak noch im Steigbügel seines Pferdes, das einen gewaltigen Satz machte und seinen Herrn ruckartig drei Meter weit durch den Sand schleuderte. Der Steigbügel gab den Fuß frei und der Reiter blieb reglos liegen.
Schnell, wie ein Panther schoss Antarona aus dem Stand vor und griff dem Pferd, das gar nicht so schnell reagieren konnte, in die Zügel. Sogleich redete sie in einem ruhigen Singsang auf das Reittier ein, bis es sich völlig beruhigte.
Das alles vollzog sich in der Sekunde eines Augenschlags und ehe Sebastian recht begriff, was eigentlich geschehen war, band Antarona bereits das Pferd an den Zweig eines Baumes. Immer noch benommen stolperte Sebastian aus seinem Versteck heraus und ging zu dem Reiter hinüber.
Der lag auf dem Boden, sein ganzer Körper zitterte wie ein Zweitaktmotor und er stierte ihn mit blutunterlaufenen und mit wie vom Irrsinn gezeichneten Augen hilflos an. Die eine Hälfte des Pfeils in seinem Hals war abgebrochen und das Blut schoss wie von einer Pumpe getrieben aus der Wunde und bespritzte den Sand des Weges. Einen kurzen Moment danach versiegte der hellrote Strom, seine Augen flatterten kurz, dann blieben sie leer und starr.
Wie angewurzelt stand Basti neben dem Reiter, schockiert! Der Mann war tot! Noch bevor er sich von dem Schreck erholt hatte, war Antarona heran:
»Steht nicht wie ein Fels, Ba - shtie, helft mir...«, sprach sie, etwas außer Atem und begann den schweren Leichnam vom Weg zu zerren. Wäre die Situation nicht so ernst gewesen, Sebastian hätte darüber lachen können, denn diese zierliche Frau, wie sie so in ihrer Nacktheit und mit Dreck beschmiert versuchte, an dem Reiter herum zu zerren, erinnerte ihn an eine gierige Hyäne, die sich mit ihrer Beute deutlich übernommen hatte.
Langsam gewann er seine Fassung zurück: »Verflucht noch mal, Antarona.., was tust du da eigentlich?«, schrie er sie entsetzt an. »Der Mann ist tot..! Der ist richtig tot.., du hast ihn umgebracht..!« Fast überschlug sich Sebastians Stimme vor Aufregung.
Antarona sprang auf, stand mit zwei Schritten vor ihm, fasste mit beiden Händen seinen Kopf und schüttelte ihn heftig: »Na, was denn sonst...!«, fauchte sie ihn an. Sebastian erschrak! War das noch die begehrenswerte Antarona, die einmal seine kleine, geliebte und warmherzige Janine gewesen war? Nie hatte er sie so wütend und so voll abgundtiefem Hass erlebt!
Ehe Sebastian noch weiter darüber nachdenken konnte, fuhr sie ihn scharf, aber mit unschuldigen großen Augen, an:
»Ihr werdet mir jetzt helfen, Ba - shtie - laug - nids.., wir müssen schnell weiter.., los, fasst dort an...« Mit dem Kopf nickte sie zu den Füßen des Toten hinüber. Etwas unbeholfen griff Basti unter die derben Stiefel und hob den Leichnam an. Oder zumindest versuchte er es, denn an diesem Toten konnte man sich schlichtweg einen Bruch heben!
Gemeinsam und unter größter Anstrengung schleiften sie den Toten quer über den Weg in das Gebüsch. Dort bedeckte ihn Antarona oberflächlich mit Erde und Laub. Ohne sich noch einmal umzublicken, hetzte sie auf den Weg zurück, hob die Streitaxt des toten Reiters auf und schippte damit das Blut vom Weg in das Unterholz. Anschließend warf sie die Axt wie in einem Anfall von Ekel hinterher.
Verwundert sah ihr Sebastian zu, wie sie nun ihren ganzen Körper und ihr Gesicht mit dem Sand des Weges abrieb. Freilich hatte er bereits davon gehört, dass Frauen Peeling mit Hingabe betrieben, doch was Antarona dort tat, fand er in Anbetracht der Lage doch etwas übertrieben!
Erstaunlicherweise aber war der Dreck, den sie sich zur Tarnung auf ihren Körper geschmiert hatte, einem feinen mehligen Staub gewichen, den sie sich jetzt mit den Händen von ihrer Haut klopfte. Zum Schluss nahm sie den vertrockneten Zweig eines Strauches und verwischte die eindeutigen Spuren ihres Kampfes.
Keine Viertelstunde war seit dem Durchreiten der schwarzen Reiterkolonne vergangen. In dieser kurzen Zeit hatten sie vorsätzlich einen Menschen ermordet, ihn beiseite geschafft und auch noch fast perfekt alle Spuren beseitigt. Sie legten eindeutig ein flottes Tempo vor! Nur konnte Sebastian nicht unbedingt behaupten, dass er sich noch wohl in seiner Haut fühlte, noch wusste er, was das alles zu bedeuten hatte.
Für Antarona schien dieses Verhalten ja durchaus alltäglich zu sein... Sie band das Pferd los, als wäre sie mal eben einkaufen gegangen, flüsterte dem Tier etwas in die großen Ohren und schwang sich plötzlich mit einem akrobatischen Satz hinter den klobigen Sattel auf seinen breiten Rücken, so dass ihre Waffen gegen den Leib des Pferdes schlugen. Das hielt jedoch bemerkenswerter Weise still und Sebastian wunderte sich, dass ihm die blanke Klinge ihres Schwertes keine Wunde zugefügt hatte.
Auffordernd hielt ihm Antarona den ausgestreckten Arm von dem schwarzen Gaul herab, auf dem sie sich mit einer unglaublichen Sicherheit zu halten wusste: »Kommt, Ba - shtie Glanzauge.., Sonnenherz wartet auf euch!«
Unschlüssig stand Sebastian vor dem mit kurzem, schwarzen Fell bespannten, riesigen Tier. Er mochte schon keine Hunde.., aber nun noch ein Pferd?
»Ich geh’ da nicht rauf«, stellte er entschlossen fest, »eher renne ich im Dauerlauf hinterher!« Unter gar keinen Umständen wollte Sebastian einsehen, sich noch auf ein weiteres, unsicheres Unternehmen aus Antaronas Trickkiste einzulassen. Doch was macht Mann, wenn sich die Frau, die er liebt, etwas in den Kopf gesetzt hat...
»Ba - shtie.., macht schon«, zischte ihn Antarona eindringlich an und ihr Gesicht drückte eine Verzweiflung aus, die ihm Angst machte. »Wir müssen fort von hier.., zum Weiler.., wir müssen reiten, wie der Wind..!«
Unsicher griff Sebastian nach dem Bügel, aus Holz, oder Horn, der vorn am Sattel angebracht war und zog sich ungelenk auf das Pferd hinauf. Antarona redete in einer fremden Sprache beschwörend auf das Pferd ein und es hielt still, obwohl Sebastian seine Flanke mit seinem zappelnden Beinen traktierte.
Wer noch nie mit Pferden zu tun gehabt hat, kann kaum nachvollziehen, mit welcher Akrobatik er sich zum ersten Mal in seinem Leben auf ein in jeder seiner Faser sich bewegendes großes Tier hinaufquälen musste. Irgendwie zog und stemmte Sebastian sich hoch, hatte Mühe, sein Bein über das Sattelhorn zu bugsieren, ohne dabei Antarona mit einem Fußtritt vom hinteren Rücken des Tieres zu fegen und ebenso viel Anstrengung kostete es, sich trotz der Bewegungen des Tieres in diesem Sitz zu halten.
Sobald er festgestellt hatte, wie breit so ein Pferderücken eigentlich war, hieb Antarona dem Pferd ihre Füße in die Seite und rief einen kurzen Befehl. Das Tier schnaubte, machte einen Satz, bei dem sich Sebastian schon wieder aus dem Sattel fliegen sah und trabte los. Während der ersten hundert Meter hing er auf dem Sattel wie eine Wäscheklammer auf einem Besenstiel. Nach weiteren hundert Metern schrieb er in Gedanken seine Männlichkeit ab und als sie aus dem Wald heraus ritten, glaubte Sebastian zu wissen, wie man auf einem solchen Tier sitzen sollte.
Antarona indes klammerte ihre nackten Schenkel auf das Fell des Tieres hinter dem Sattel und umfasste mit einem Arm Sebastians Körper, während ihre andere Hand, an ihm vorbei, das Pferd mit den Lederriemen lenkte, die in komplizierter Weise um den Kopf des lebendigen Taxis geknüpft waren.
Das Angenehmste an diesem ersten Ritt in seinem Leben war noch die schöne Tatsache, dass Antaronas warme Brüste auf Sebastians Rücken ruhten und er insgeheim etwas Gefallen an der Situation fand. So flogen sie auf dem Rappen dahin und ehe sie sich recht besinnen konnten, erreichten sie das Dorf, das Sebastian noch am Vormittag gemieden hatte.
Schon von Weitem vernahmen sie Lärm. Oder anders: Sie hörten Schreie, noch bevor sie den Dorfrand erreichten. Nie zuvor in seinem dreißigjährigen Dasein hatte Sebastian jemals Menschen so schreien hören! Es war kein gewöhnliches Schreien, mehr der Ausdruck von panischer Angst, von nacktem Entsetzen und tiefster Verzweiflung, der vielstimmig den Kehlen von Männern, Frauen und Kindern entfuhr.
Als sie die ersten Hütten erreichten, rutschte Antarona mitten im Galopp rücklings vom Pferd und rief Sebastian zu: »Springt ab, Ba - shtie, abspringen!«
Er sprang nicht ab. Sebastian flog herunter, sobald er sein Bein über den Sattel schwang. Abspringen war etwas anderes! Unsanft landete er im Staub der Dorfstraße und sah dem Pferd nach, das einfach weiter trabte. Mühsam rappelte er sich hoch und folgte Antarona, die im Laufen ihren Bogen spannte und einen Pfeil aus ihrem Köcher fingerte.
Stets Deckung an einem Zaun, oder einer Hüttenwand suchend, huschte Antarona an den Behausungen vorbei, dem Lärm entgegen. Menschen kamen ihnen weinend und schreiend entgegen. Ein alter, grauhaariger Mann stand wie in Trance auf der Dorfstraße, blutüberströmt, und rief irgendeinen Namen. Ein Stück weiter rannte eine Frau auf sie zu, ihr einfaches Kleid in Fetzen gerissen, blutig, mit einem kleinen Kind auf dem Arm, ihre Augen vor Entsetzen geweitet.
Je näher sie dem Dorfplatz kamen, desto schrecklicher wurden die Szenen. An einer Straßenecke stand ein einfaches Heustadel, typisch auf Holzstümpfen aufgebockt. Davor saß eine junge Frau, die mit ähnlichen, spärlichen Leder- und Fellresten bekleidet war, wie Antarona. Das Mädchen war kaum älter, als achtzehn, oder zwanzig Jahre. Blut tropfte aus ihrem Gesicht und von ihren Beinen, sie sah Sebastian apathisch und mit einem irren, ängstlichen Blick an.
Er wollte zu ihr gehen und ihr irgendwie helfen, doch schon war Antarona da, zog ihn am Arm fort und zischte ihm zu: »Weiter.., Ba - shtie, weiter.., nicht stehen bleiben.., weiter.., und vorsichtig!«
Unverhofft bogen sie um eine Hütte herum und... Sahen sich einem der schwarzen Reiter gegenüber. Er saß vor der Eingangstür der Hütte auf seinem Pferd und ließ das Tier den reich verzierten Zaun und das dahinter liegende Gemüsebeet zertrampeln. In der einen Hand hielt er ein riesiges beflecktes Schwert und in der anderen etwas, das Sebastian wegen des Rappen nicht gleich erkennen konnte.
Als er Antarona bemerkte, wendete er sein Pferd in ihre Richtung und Sebastian sah, was er mit seiner anderen Hand umklammert hielt und er war völlig fassungslos, ob der Brutalität, die dieser Mann an den Tag legte. Eine junge Frau in ungefähr Antaronas Alter, die ebenfalls einen Zweiteiler aus Fell und Leder trug, hatte Mühe, den wilden Hufen des Pferdes auszuweichen, wenn ihre Füße einmal den Boden berührten. Denn der Reiter hielt ihr Oberteil am Knoten in seiner Faust, so dass sie ständig gegen die Flanke des Pferdes stieß, das sich dabei immer wilder gebärdete.
Doch schon in dem Moment, da sich der Schwarze Antarona und Sebastian zuwandte und das Mädchen achtlos in das zerwühlte Beet fallen ließ, war er bereits tot. Der Pfeil, der im Bruchteil einer Sekunde von Antaronas Sehne schnellte, zertrümmerte ihm mit einem Schlag den Adamsapfel. Eine Weile saß er noch auf seinem Gaul. Dann verlor er die Kontrolle über das Pferd und stürzte mit einem splitternden Krachen auf den kunstvollen Zaun.
Antarona kümmerte nicht weiter um ihn, sondern lief zu dem Mädchen und sagte ihr etwas in ihrer fremden Sprache, die Sebastian nicht kannte. Die junge Frau rappelte sich auf und ging schwankend in die Richtung, aus der sie gekommen waren.
Schon hetzte Antarona weiter, ihren Bogen bereits erneut in Schussposition. Das Ganze erinnerte Sebastian an den Häuserkampf um Berlin, gegen Ende des Zweiten Weltkriegs. Nur, dass hier nicht mit Maschinengewehren um Häuser, sondern mit Pfeilen, Äxten und Schwertern um Hütten gefochten wurde.
Als sie den Dorfplatz erreichten, bot sich Sebastian ein Bild des Grauens. Ungefähr acht der schwarzen Reitersoldaten hatten die Menschen des Ortes zusammen getrieben und hielten diese in Schach. Mindestens zwei weitere Reiter waren von ihren Pferden abgestiegen und gingen von Hütte zu Hütte. Irgendwo in den ärmlichen Behausungen hörte Basti Frauen schreien und Männerstimmen wütend brüllen.
Schon sauste ein weiterer Pfeil von Antaronas Bogensehne und traf einen Reiter in die Schulter, der gerade dabei war, mit einer Kettenkugel einen Mann nach dem anderen niederzustrecken. Wahllos ließ dieser seine schwere Kugel in die Menge der aufgestellten Männer und Jungen fahren und wie ein Sturm die Bäume, so fällte die Eisenkugel gleich mehrere Opfer. Antaronas Pfeil beendete den Sturm.
Der nächste Reiter, den sie anvisierte, war gerade dabei, vier bis fünf fliehende junge Frauen mit seinem Pferd nieder zu reiten. Wohin sich die Frauen auf dem offenen Platz auch wendeten, er folgte ihnen und sein Pferd schien sie blind zu überrennen. Gerade hetzte er ein größeres Mädchen, das schreiend versuchte, davon zu laufen. Der schwarze Soldat ritt heran und versetzte dem Mädchen mit seinem groben Stiefel im vollen Lauf einen Tritt in den Rücken. Die Frau stürzte, rollte durch den Staub und blieb liegen.
Bevor der Mann auf die nächste Frau losgehen konnte, traf ihn Antaronas Pfeil im Rücken. Er stürzte vom Pferd und kroch ein paar Meter auf allen Vieren, bevor er sich mühsam aufrichtete und seine Verletzung einem Kameraden zeigte.
Gleich nach dieser Attacke zog sich Antarona hinter die Hütte zurück und zog Sebastian hinter sich her. Wenngleich er auch vom Geschehen völlig überrascht war, begriff er doch sofort ihre Taktik. Angreifen, zurückziehen, wieder angreifen und wieder zurückziehen, jedes Mal aus einer anderen Ecke. Die schwarzen Reiter konnten mit ihren heruntergeklappten Visieren gar nicht so schnell erfassen, aus welcher Richtung die Gefahr kam.
Vorsichtig huschten sie von Stadel zu Hütte, durch kleine Gassen, teilweise durch Ställe, bis sie die gegenüberliegende Seite des Dorfplatzes erreichten. Antarona spannte erneut den Bogen und ihr Pfeil sirrte durch die Luft. Er schlug einem Reiter so heftig in den Oberschenkel, dass er diesen glatt durchbohrte und in den Körper des Pferdes drang. Vor Schreck ging das Tier mitsamt seinem Reiter durch, galoppierte eine Gasse hinauf und ward nicht mehr gesehen.
Noch immer standen die Dorfbewohner zusammen getrieben im Kessel aus schwarzen Reitern, ängstlich und eingeschüchtert. Die Soldaten, die sie bewachten, ließen ihre Pferde hin und her tänzeln und sahen sich nervös um. Inzwischen hatten sie bemerkt, dass Pfeile aus dem Nichts ihre Reihen lichteten. Einige klappten ihre Visiere hoch, um besser sehen zu können. Doch es half ihnen nichts...
Wieder schwirrte ein Pfeil heran, durchschlug die eiserne Rüstung und blieb einem Häscher in der Nierengegend stecken. Er brüllte vor Schmerz, riss wütend sein Pferd herum und ritt im Kreis, weil er wohl glaubte, so den verborgenen Schützen entdecken zu können.
Doch Antarona zog sich sofort nach dem Schuss wieder in ihre Deckung zurück. Sebastian fragte sich, wie weit dieses Spiel gut gehen konnte, bis man sie entdeckte. Aber immer mehr packte ihn das Jagdfieber und er empfand ein wenig Gefallen an dieser Möglichkeit, dieser brutalen Horde den Garaus zu machen. Einzig und allein hatte er ein Problem damit, dass bereits ein Mann getötet und mindestens einer schwer verletzt wurde. Er betete, dass die Gerichtsbarkeit hierzulande ein offenes Ohr für Selbstverteidigung hatte.
Plötzlich brüllte einer der Schwarzen ein paar kurze Befehle. Daraufhin trieben die Reiter ihre Pferde in die Gruppe Mädchen und junger Frauen, die hysterisch schreiend auseinander rannten. Aber es nützte ihnen nichts. Die Reiter folgten ihnen, trieben sie über den Platz und jeder Soldat griff sich eine junge Frau, zog sie zu sich herauf und warf sie sich brutal über den Sattel. Die Mädchen schrien und zappelten mit den Beinen.., erfolglos! Die Reiter behielten sie fest in ihren Klauen und dachten gar nicht daran, sie wieder frei zu lassen.
Dann setzte sich der Reiterpulk in Bewegung. Aus einer Hütte kam noch ein schwarzer Mann gehetzt, ein strampelndes älteres Mädchen unter dem Arm, gefolgt vom Schreien und Flehen seiner Eltern. Unbeeindruckt schwang sich der Schwarze auf sein Pferd, zog die Frau zu sich hinauf und schloss sich dem Trupp an.
Mit einem fragenden Blick auf ihren Bogen sah Basti Antarona an. Sie schüttelte den Kopf und legte ihm ihre Hand auf den Arm. Anscheinend wollte sie nicht riskieren, eine der jungen Frauen zu treffen. Sie blieben in Deckung und sahen zu, wie sich der Reitertrupp in einer lang gezogenen Staubwolke entfernte.
Als sich der Straßenstaub verzogen hatte, bemerkten sie, dass vor einer Hütte immer noch ein Pferd stand. Aus dem Innern drangen die fürchterlichen, verzweifelten Schreie einer Frau. Antarona gab ihrem neuen Gefährten ein Zeichen und sie pirschten sich vorsichtig an die Hütte heran.
Kurz bevor sie diese erreichten, kam ein schwarzer Reiter mit heruntergeklapptem Visier laut polternd aus dem Holzhaus. Unbarmherzig schleifte er eine junge Frau mit langen dunklen Haaren am Handgelenk heraus und warf sie achtlos zu Boden. Dann schwang er sich auf sein Pferd und wollte die Frau zu sich in den Sattel ziehen. In diesem Augenblick traf ihn Antaronas Pfeil in das Wadenbein. Sebastians Krähenmädchen hatte wohl nicht damit gerechnet, dass sich der Reiter zu der Frau herunterbeugen würde.
Der Pferdesoldat brüllte auf, fluchte auf lästerlichste Weise, zog das Pferd herum und trabte auf Antarona los. Dabei schwang er eine gezackte Kettenkugel. Sebastian erkannte sofort, dass er sie niederreiten würde, denn Antaronas Köcher war leer. Sie hatte bereits alle Pfeile verschossen. Geistesgegenwärtig nahm er einen faustgroßen Stein aus dem Blumengarten der Hütte auf und warf ihn dem Reiter an den Kopf. Mit einem dumpfen Klong flog das Geschoss gegen seinen Helm.
Gleichzeitig kamen vom anderen Dorfende her ein paar jüngere Männer gelaufen, mit Heurechen, Äxten und Knüppeln bewaffnet. Beim Anblick des Reiters stockten sie jedoch. Der ließ plötzlich seine Kettenkugel fallen, trabte dicht an Antarona heran, beugte sich etwas herab und ergriff sie an ihrem Lederoberteil, bevor sie noch ihr Schwert ziehen konnte! Er ließ sein Pferd sich auf den Hinterhufen drehen und schleuderte Antarona wie ein welkes Blatt herum.
Aus Angst und Verzweiflung bückte sich Sebastian, hob den nächsten Stein auf und warf das Geschoss gegen den Ritter, das jedoch wirkungslos den Brustpanzer seiner Rüstung traf. Sebastian wunderte sich, dass sonst niemand von den Bewohnern auf die Idee kam, Wurfgeschosse zu verwenden. Die Verteidigung mit Knüppeln, Äxten und Rechen war gegen Schwerter und Lanzen nicht sonderlich effektiv.
Der Reiter bemühte sich, Antarona auf sein Pferd zu ziehen, doch sie wehrte sich laut kreischend mit dem verbissenem Mut einer Wölfin. Sebastian war klar, dass eine zierliche, halbnackte Frau gegen einen gepanzerten, ausgewachsenen Krieger keine Chance hatte, wenn er sie erst einmal in seinen Fängen fest hielt.
Mit einer Mischung aus Wut, Angst und Verzweiflung hob er gleich mehrere Steine auf und sein Arm wurde zur Steinschleuder. Klong, Klack, Klung, nacheinander schlugen seine Geschosse auf der Oberfläche des feindlichen Helms ein. Der letzte Stein, etwas schwerer, als die anderen, traf voll das Visier, riss es aus der Verankerung des Helms und drückte es dem düsteren Soldaten nach innen in das Gesicht.
Augenblicklich ließ der von Antarona ab, zog ein Kurzschwert aus einer mit Metallnoppen verzierten Scheide, wandte sich im Sattel um und suchte laut brüllend nach der Ursache der harten Attacke. Dabei bäumte sich unverhofft sein Pferd auf, er ruderte mit den Armen, ließ das Schwert fallen, verlor den Halt und stürzte wie ein gefällter Baum aus dem Sattel.
Was Sebastian dann erlebte, war so unverständlich, so roh und brutal, dass es ihm schlicht die Sprache versagte. Der Krieger war noch nicht ganz auf dem Boden aufgeschlagen, da stürzten sich bereits die Dorfbewohner, die bisher nur wie gelähmt dagestanden hatten, auf ihn. Ohne zu zögern, ohne auch nur darüber nachzudenken, droschen sie mit allem, was sie greifen konnten auf ihn ein. Sie zeigten keinerlei Hemmungen oder Gnade in ihrem Handeln.
Selbst als bereits Blut aus den Fugen der schwarzen Rüstung quoll, schlugen und stachen sie erbarmungslos auf den wimmernden Leib ein, bombardierten ihn mit Steinen, traten ihn wahllos in den Körper. Wie in einem ekstasischen Rausch prügelten Männer und Frauen, alte und junge auf dem Körper herum, der bald nur noch eine regungslose, blutige und breiige Masse aus Fleisch, Knochen und Metall war. Jeder Stein, der noch den leblosen Haufen traf, verspritzte das Blut meterweit in die Runde.
Antarona war inzwischen wie eine Katze auf die Beine gesprungen, stellte sich neben Sebastian und beobachtete stumm das schockierende Geschehen.
Erst, als ein älterer, weißhaariger Mann wie aus dem Nichts hinzutrat und einen kurzen energischen Befehl sprach, ließ der Mob von dem Klumpen ab, der einmal ein Mensch gewesen war. Eine unnatürliche Stille breitete sich über dem Dorfplatz aus. Das graue Entsetzen packte Sebastian und er stand bis in die letzte Faser seines Körpers und Geistes erschüttert auf dem Dorfplatz, zu keiner Reaktion mehr fähig.
Was war das da gerade eben? Hatte er hier an dieser Stelle, vor nicht ganz einer Minute mit angesehen, wie ein Mann in einem Blutrausch zerstückelt, ja geradezu zerhackt wurde? Schweigen. Nur hier und dort hörte Sebastian eine menschliche Stimme schluchzen oder bitterlich weinen.
Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, löste sich der Pulk der Dorfbewohner allmählich auf. Einige schienen wieder ihrer Beschäftigung nachzugehen, als wenn nichts geschehen wäre. Andere irrten noch ziellos umher und riefen die Namen von Angehörigen, die sie offenbar vermissten und wieder andere saßen nur stumm im Sand des Platzes, die Hände vor das Gesicht geschlagen.
Antarona stand lässig da, als hätte sie einem Murmelspiel beigewohnt. Ihr Gesicht strahlte eine Gleichgültigkeit und Gnadenlosigkeit aus, beinahe wie eine Genugtuung, die Sebastian erschreckte. Dann griff ihre Hand seinen Arm:
»Kommt, Ba - shtie, Mann mit den Zeichen der Götter!« Sie zog ihn vom Dorfplatz fort, durch mehrere kleine Gassen, durch den hohen Zaun, der an einigen Stellen das Dorf umgab auf eine Wiese und zu einem kleinen See, der von einem Bach gespeist wurde und halb von Bäumen und Sträuchern, sowie von einem Schilfgürtel eingefasst war.
Ruhig und selbstsicher stieg sie die Uferböschung hinab, legte ihre Waffen ab und zog ihre Fellmokassin und ihr Oberteil aus. Dann drehte sie sich bestimmt zu Sebastian um und wies auf die blanke Wasserfläche: »Waschen!«
Er sah sie entgeistert an und wollte nicht so recht begreifen. »Waschen«, wiederholte sie und wies auf Sebastians Hose, die übersät war mit großen und kleinen Blutspritzern. Die hatte er gar nicht bemerkt. Erst jetzt gewahrte er, dass auch Antaronas nackte Beine, sowie ihr Bauch mit dem Blut des bösen Kriegers bespritzt war.
Verständnislos schüttelte Sebastian den Kopf. Hier wurde wie ganz selbstverständlich ein Mensch getötet, ja sogar mit glühendem Hass regelrecht dahingeschlachtet und anschließend ging man zur Tagesordnung über. Man ging einfach Waschen! Und dann widmete man sich wieder seiner alltäglichen Tätigkeit.
Antarona begann sich von Kopf bis Fuß gründlich abzuschrubben und zu einer anderen Zeit hätte Sebastians Phantasie bei ihrem Anblick Purzelbäume geschlagen. Doch nach dem gerade Erlebten war er nicht mehr in der Stimmung, ihr sehnsuchtsvolle Gefühle entgegen zu bringen. Im Gegenteil! Vor ein paar Stunden erst war Antarona nach langer Zeit wieder in sein Leben getreten... Und schon gab es Tote! Was für ein Alptraum war das hier?
Auf einem Mal brach die ganze, tagelang angestaute Anspannung aus Sebastian heraus und er musste sich einfach Luft machen:
»Sag mal, was soll denn das überhaupt heißen...«, rief er Antarona entrüstet hinterher, »...erst hältst du mir deine Mordwaffe unter die Nase, dann hetzt du mich den ganzen Weg durch den Wald zurück, um einen Menschen ins Jenseits zu befördern, dann stehlen wir sein Pferd und ziehen in einen Krieg, der mich überhaupt nichts angeht und bringen einfach mal eben so drei Männer um, wahrscheinlich sogar vier...«
Antarona strich sich ihre nassen Haare hinter ihre Ohren, drehte sich zu ihm um und wollte etwas erwidern. Doch Sebastian ließ sie erst gar nicht zu Wort kommen:
»...Nein halt, warte.., ich habe mich geirrt! Den dritten Mann haben wir ja gar nicht umgebracht, wir haben ja nur zugesehen, wie er regelrecht zu Fischfutter verarbeitet wurde... Und jetzt gehen wir erst mal gemütlich baden, was?!«
Antarona hielt nach seiner sarkastischen Anklage mit dem Waschen inne, legte die Hände auf ihre blanken Brüste und stand reglos tropfend im Wasser. Ihr Mund stand halb offen und ihre Augen blitzten und funkelten gefährlich.
Wie von einem Katapult geschossen watete sie aus dem See heraus, eine spritzende Bugwelle vor sich her schiebend. Ohne sich Zeit zu nehmen ihre Brüste zu bedecken, raste sie wie eine wilde Furie auf Sebastian los und stemmte ihre kleinen Fäuste in die Hüfte. Mit einem wilden, ungezügelten Blick, den ihr Basti gar nicht zugetraut hatte, sah sie ihn herausfordernd und tief in die Augen:
»So.., Ba - shtie..! Das ist also nicht euer Krieg, ja?« Antarona fauchte ihn scharf an, als wollte sie ihn im nächsten Augenblick in Stücke reißen. Ihre Augen sprühten vor zorniger Entschlossenheit und ihr verachtender Blick durchdrang jede Faser seines Körpers. Wütend zischte sie ihm ins Ohr:
»Gut.., Ba - shtie - laug - nids.., dann will ich euch etwas zeigen...« Mit diesen Worten wandte sie sich abrupt von ihm ab, zog sich in Windeseile wieder an, hängte sich ihre Waffen um und umfasste sein Handgelenk. Sie war so aufgebracht, dass sie ihm beinahe die Hand abriss, als sie Sebastian energisch hinter sich her zog. Zielstrebig führte sie ihn zurück in das Dorf, durch zwei oder drei Gassen, einen schmalen Weg zwischen Hütten entlang, bis sie unvermittelt vor einer ärmlich aussehenden Hütte anhielt.
Leichfüßig sprang sie über den kleinen Zaun, den das Grundstück umgab und rief ihm gleichzeitig zu: »Gebt genau acht, Mann mit den Zeichen der Götter!«
Dann stieß sie mit einem kräftigen Schlag die Tür auf und zog Sebastian in das Innere der Hütte. In dem einfach eingerichteten Raum saß eine Familie am Tisch und aß trockenes Brot. Vater, Mutter und drei Kinder starrten sie überrascht an, völlig überrumpelt von Antaronas unerschrockenem Auftreten. Bastis Krähenmädchen sagte etwas in der fremden Sprache zu ihnen und begab sich in den hinteren Bereich des Raumes.
Erst jetzt nahm er eine weitere Gestalt wahr, die neben einem Kamin in Decken und Felle eingehüllt dasaß. Er trat näher heran und erkannte eine dürr wirkende, junge Frau, von etwa siebzehn bis zwanzig Jahren, die stumm auf der Bank hockte und ihr sehr feines, hübsches Gesicht hinter schwarzen Haarsträhnen zu verbergen suchte. Graugrüne, teilnahmslos zu Boden starrende Augen blickten darunter hervor. Diese Augen hatten jeglichen Glanz und jede Lebensfreude verloren. Es waren tote Augen.
Antarona redete beruhigend auf das Mädchen ein. Sie streichelte ihm zärtlich die Wangen und den Kopf. Dann küsste sie das Mädchen behutsam auf die Stirn und Sebastian fragte sich, welche Wandlungen Antarona ganz spontan noch vollziehen konnte. Eben noch hätte sie ihm vor Zorn beinahe die Augen ausgekratzt, im nächsten Moment legte sie eine Sanftmütigkeit an den Tag, die der eines Engels glich.
Vorsichtig, mit dem Hauch einer Bewegung nahm sie dem Mädchen die Decke von den Schultern. Dann drehte sie sich zu Sebastian um:
»Ihr glaubt, unser Krieg geht euch nichts an, Ba - shtie - laug - nids.., Mann mit den Zeichen der Götter.., dann seht genau her... Unsereins kann das Leid dieses Landes nicht laut genug hinaufschreien, damit es die Götter auch ja hören!« Antarona schrie es ihm mit bebender, zitternder Stimme ins Gesicht und drehte den nackten Oberkörper des Mädchens in den Schein des brennenden Kamins.
Bei dem Anblick, der sich im zuckenden Schein des Feuers bot, drehte sich Sebastian der Magen um. Plötzlich hatte er einen dicken Kloß im Hals, sein Mund wurde staubtrocken, seine Hände begannen zu schwitzen und das Blut sackte ihm vor Schreck aus dem Gesicht. Eine Eiseskälte des Entsetzens ließ ihn am ganzen Körper zittern.
Dieses Mädchen mit dem hübschen, zarten Gesicht, war kein Mädchen mehr! Ihre Schultern und ihr Rücken waren dicht übersät von schwarzen, verschorften Striemen, die von unzähligen, heftigen Peitschenhieben oder Stockschlägen stammen mussten. Aber das war noch harmlos. Basti würgte und musste dagegen ankämpfen, sich nicht zu übergeben, als er das Mädchen von vorn betrachtete...
Kreuz und quer, mit wahllosen Schnitten und Stichen hatte man ihr die Brüste zerschnitten, ja bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt! Die vielen, schwarz, lila und gelblich gefärbten Wunden wollten offensichtlich nicht mehr heilen. Eiterige Flüssigkeit und Wundwasser verkrusteten die Wundränder, oder liefen in kleinen Rinnsalen über ihren jungen Körper.
In ihren Bauch hatte man mit tiefen, präzisen Schnitten ein Muster geritzt, das dem Symbol ähnelte, welches die schwarzen Reiter auf ihren Hemden trugen. Die Schnitte hatten sich hoffnungslos entzündet und waren rotgerändert und aufgequollen.
Die Innenseiten ihrer Schenkel hatte jemand barmherzig mit leichten, feinen Tüchern bedeckt, durch deren dünnen Stoff ebenfalls Wundflüssigkeit trat. Nur die grausamste aller Vorstellungen konnte Basti erzählen, welche Marter dieses arme Geschöpf überlebt haben musste. Betreten und tief berührt blickte er zu Boden.
Antarona hielt das Mädchen an den Oberarmen umfasst, damit es nicht in sich zusammensank. Dann sagte sie mit Tränen gefüllten Augen und kraftlos leise:
»Schaut nur genau hin, Ba - shtie - laug - nids.., seht es euch ganz genau an...« Fast versagte ihr die Stimme und in einem plötzlich aufwallenden Weinkrampf schluchzte sie anklagend:
»Seht es euch ruhig ganz genau an, Mann von den Göttern, damit ihr es ja nie wieder vergesst... Das - tun - sie - mit - uns!« Die letzten fünf Worte stieß sie mühsam, schluchzend hervor, wobei sich ihre Stimme endgültig überschlug. Sie setzte das Mädchen wieder sanft zurück auf die Kaminbank. Gleich darauf hielt sie sich die Hände vor das Gesicht und taumelte zur Eingangstür zurück. Die ganze Energie, die sie bis dahin unerschöpflich in sich getragen hatte, schien aus ihrem Körper gewichen zu sein. Schwach, wie eine leere, nasse Papierhülle stützte sie sich gegen den Türrahmen und begann hemmungslos und laut zu weinen.
In diesem Moment standen auch Sebastian die Tränen in den Augen. Vorsichtig nahm er die Decke vom Boden auf und hängte sie dem apathisch dreinblickenden Mädchen wieder um.
Unsicher ging er zu Antarona hinüber, drehte sie an den Schultern herum und zog sie zu sich heran. Sie klammerte sich an ihn, verbarg ihr Gesicht an seiner Brust und er spürte, wie ihre heißen Tränen an ihm herunter liefen. Ein Beben und Zittern schüttelte ihren Leib und sie weinte sich all das von der Seele, was offenbar seit langem in ihrem Herzen gefangen war.
Sebastian nahm seinem Krähenmädchen die Waffen ab, hob sie hoch und war erstaunt, wie leicht sie war. Ohne zu fragen trug er sie in die Hütte zurück und setzte sie zu dem misshandelten Mädchen auf die Ofenbank. Anschließend kniete er sich neben sie und legte seine Arme beschützend um ihren zitternden Körper.
Die Familie des Mädchens hatte bis dahin still und stumm am Tisch gesessen und sich nicht gerührt. Nun aber sagte die Mutter etwas in der fremden Sprache und erhob sich von der Tafel. Gleichzeitig rutschten die Kinder von ihren Stühlen und gingen diszipliniert und ohne zu Murren in einen angrenzenden Raum.
Als letzter erhob sich der Vater von seinem Stuhl und kam zu Sebastian herüber. Mit bittender Mine sprach Basti ihn an, erwartete jedoch nicht, dass er ihn verstehen würde: »Verzeiht bitte unser Eindringen, wir wollten euch nicht belästigen...«
»Belästigen..?«, fragte ihn der Mann erstaunt und Sebastian wunderte sich seinerseits, dass dieser seine Sprache beherrschte. Er sprach mit einem derart holzigen Akzent, dass Lauknitz ihn kaum verstand, doch er benutzte seine Sprache!
»Sonnenherz belästigt uns nicht«, stellte er bestimmt fest und fuhr fort: »Sonnenherz und alle ihre Freunde sind in meinem Haus zu jeder Zeit willkommene Gäste! So viele Opfer hat Sonnenherz schon für uns gebracht, wir sind stolz darauf, wenn sie sich an unserem Feuer wärmt.«
Neugierig sah Sebastian den Mann an. Er sah aus wie Ende vierzig, trug einen kurzen, aber vollen Bart und besaß ein gutmütiges, freundliches Gesicht. Seine Augen und seine faltigen Züge erzählten von einem harten, entbehrungsreichen Leben. Dennoch strahlte eine unvergängliche, entwaffnende Hoffnung aus seinem Lächeln. Ohne, dass Basti ihn dazu aufforderte, sprach er weiter:
»Ohne den Mut von Sonnenherz hätten wir unsere Tochter nie wieder gesehen. Torbuks Männer hatten sie und viele andere junge Frauen verschleppt. Alle hatten Angst und waren froh, dass die Horden wieder abzogen und nicht alles verbrannten. Keiner unserer Männer wagte es, sich ihnen in den Weg zu stellen. Doch Antarona nahm sich einfach das Pferd eines gefangenen Kriegers und jagte der Armee Torbuks tagelang nach, bis es ihr, mögen die Götter wissen wie, gelungen war, unser Kind aus den Klauen der wilden Horden zu befreien. Ohne auf sich selbst zu achten, beschützte und pflegte sie unser Kind und brachte es zu uns nach Hause zurück.«
Er machte eine kurze Pause und fügte dann hinzu: »Ja.., so ist das gewesen.., drei Monde ist das jetzt her... Oh ja, Herr, das könnt ihr einem Vater glauben, Sonnenherz und ihre Begleiter, wer immer sie auch sein mögen, werden stets einen Platz an unserem Ofen finden, solange ich atme!«
Mittlerweile hatte sich Antarona wieder so weit gefangen, dass sie sich aus Sebastians Armen löste und aufstand. Sie legte ihre Hände auf des Mannes Arm und sagte leise:
»Lasst’s gut sein, Wasserbauer, ihr habt ebenso viel für das Volk getan.., habt immer geholfen, wo Hilfe gebraucht wurde!«
Antarona legte noch einmal liebevoll beschützend ihre Hand auf den Kopf des Mädchens und wandte sich dann der Tür zu, um sich wieder ihre Waffen umzuhängen.
»Bleibt in dieser Nacht unter unserem Dach. Mein Weib richtet euch ein weiches, warmes Lager und wir brechen gern unser Brot mit euch!«, bot der Mann ihnen an und wartete mit fragendem Blick.
Dankbar sah Antarona ihn an: »Wir ehren euer Angebot, doch wir müssen das Tal hinab, Sonnenherz und Glanzauge..«, dabei zeigte sie auf Sebastian, »...müssen herausfinden, wohin die wilden Horden ziehen. Dann werden wir dem Achterrat berichten, was wir erfahren haben!« Sie machte eine kurze Pause und wandte sich schon zum Gehen, drehte sich aber noch einmal um und sagte:
»Es ist nicht gut, wenn ihr Sonnenherz unter euer Dach lasst. Das Dorf hat unsichtbare Ohren.., wenn Torbuk oder Karek erfahren, dass ihr uns Schutz und Speise gewährt...« Sie ließ den Satz offen im Raum stehen. Doch der Mann und Sebastian verstanden auch so, was sie damit sagen wollte. Zu welch grausamen Vergeltungsschlägen die schwarzen Reiter fähig waren, hatten sie an diesem Nachmittag zur Genüge bewiesen!
Schon war Antarona wieder über den Zaun gehüpft. Sebastian drehte sich noch einmal zu dem Mann um und drückte ihm zum Abschied die Hand. Er tat erstaunt, anscheinend war eine solche Geste hierzulande nicht üblich. Doch er verstand sie. Mehr noch, er ließ Sebastians Hand nicht mehr los. Freundlich, ja fast väterlich sah er ihn eindringlich an:
»Ihr seid der erste Mann, den unsere Schwester Sonnenherz an ihrer Seite duldet.., seid ihr mit ihr verbunden..?« Diesen Satz ließ er wie eine Frage klingen. Ohne eine Antwort abzuwarten, sprach er weiter:
» Ihr habt eine gute Wahl getroffen, Herr! Doch seid ihr euch sicher, dass ihr diese Frau zum Weibe wollt? Mit Sonnenherz ladet ihr euch das Gewicht der ganzen Welt auf die Schultern und wisst doch nie, ob es das Richtige ist. Sonnenherz ist wie die Mutter der Seelen und wie eine Felsenbärin gleichermaßen. Sie ist die Hoffnung aller Menschen hier im Tal. Und sie ist des Holzers liebstes Kind, sein ganzer Stolz...« Seine Augen schienen Sebastian zu durchbohren.
»Der Holzer ist ein guter Mann.., aber verstockt und eigensinnig. Eine raue, harte Schale umgibt sein Herz, das vor Kummer krank ist! Seid ihr so stark, Herr, dass ihr ihm die einzige Rosenknospe in seinem Garten nehmen könnt, ohne, dass er euch den Schädel einschlägt?« Er ließ seine Worte auf Sebastian wirken, als suchte er nach Zweifel oder Unsicherheit in seinem Blick.
Abschließend drückte er ihm ein schweres Stoffbündel in die Hand, dessen vier Ecken mit einem Knoten zu einer Trageschlaufe zusammen gebunden waren. Zuletzt sah er ihm noch einmal tief in die Augen:
»Gebt gut auf sie acht, auf die Rosenknospe, ja? Lasst sie zu einer Blüte sich entfalten, die unser Tal mit neuem Licht beglückt, mit neuem, reinen Licht, das klar ist und nicht getrübt mit den Wurzeln der Schatten... Gebt gut auf sie acht..!« Damit schloss er die Tür.
Nachdenklich stand Sebastian vor der Hütte, beeindruckt von dieser Ansprache, die er jedoch zu diesem Zeitpunkt nicht begriff. Aber er war auch tief berührt von diesem Mann, einem Vater, der sein Kind wertschätzte und liebte, auch wenn es ihm nie eine Hochzeit bescheren würde, nie wieder lachen würde und für immer seiner hilfreichen Hand bedurfte. Ein Satz aber brannte sich in Sebastians Kopf ein und ließ sein Herz hüpfen: Ihr seid der erste Mann, den unsere Schwester Sonnenherz an ihrer Seite duldet...
»Du.., Ba - shtie - laug - nids.., die Sonne geht alsbald zur Ruhe.., kommt, wir wollen auch unser Ruhelager nicht kalt lassen!« Damit unterbrach Antarona seine Gedanken und schritt ihm voran, den Weg aus dem Dorf hinaus, in Richtung des Waldes, wo der verscharrte Reiter lag.
»Wohin gehen wir...«, fragte Sebastian sie, denn er befürchtete noch einen längeren Fußmarsch. In dieser Hinsicht hatte er an diesem Tag schon zu viel geleistet. Am Morgen das ganze Tal hinab bis zur Felsbarriere, dann durch die Schlucht, auf dieser Seite wieder zu Tal, durch den Wald zum See, wieder zurück auf einem durchgedrehten Pferd, dann dieses Gemetzel... Sein Bedarf für diesen Tag war über die Maßen gedeckt!
»Unser Weg führt zu unseren Bündeln...«, antwortete Antarona knapp, »...Der Wind vom Eis der Berge greift nach uns, wenn sich der Gott des ewigen Lichts zur Ruhe begibt.«, erklärte sie umständlich. Sebastian verstand natürlich genau, was sie ihm mitteilen wollte. Mit ihren Worten vermittelte sie ihm, dass es erbärmlich kalt werden würde, wenn die Sonne hinter den Bergen verschwand und diesen ereignisreichen Tag der stillen, trauernden Nacht überließ.
Den ganzen Weg zum Wasserfall wieder zurück! Das hatte ihm noch gefehlt. Wenn sie dort angekommen waren, würden seine Füße wohl nur noch aus einem Stück rohen Fleisches bestehen...
Schweigend gingen sie nebeneinander her, die sich bereits verabschiedende Sonne wärmend im Rücken. Mit einem seitlichen Blick beobachtete er Antarona verstohlen. Erst jetzt kam er dazu, sich über das Krähenmädchen Gedanken zu machen, das einmal seine Janine gewesen und plötzlich wie ein Wirbelwind nach einer ewig währenden Zeit der Sehnsucht wieder in sein Leben getreten war.
Als Janine ihn verließ, waren sie beide gerade mal neunzehn Jahre jung. Inzwischen war Sebastian dreizehn Jahre älter geworden, gelangte in den Bergen des Wallis und Berner Oberland zu einer inneren Einkehr, zu einer Reife, die ihn auch im Herzen ruhiger werden ließ. Schneestürme, Lawinen, Eis- und Steinschlag, soundso viele Nächte in eiskalten Biwaks und auf harten Böden, sowie schreiende Einsamkeiten hatten ihn auch äußerlich geprägt.
Wenngleich ihm fast täglich Kunden, Freunde und Bekannte sagten, er hätte sich gut gehalten für sein Alter, so wusste er doch um die kleinen Fältchen in seinem Gesicht, die ab und zu Besuch bekamen, von anderen Fältchen, denen es auf seinem Antlitz so sehr gefiel, dass sie einfach blieben. Er lernte mit den Schmerzen in seinem Tennisarm zu leben, akzeptierte seine regelmäßig wiederkehrende Migräne und macht sich nicht mehr allzu viele Hoffnungen, jemals seine Rückenschmerzen los zu werden.
An Janine aber war die Zeit spurlos vorüber gegangen.., mehr noch, Antarona wirkte jünger und agiler, als er Janine in Erinnerung hatte, zu der Zeit, als er sie damals kennen lernte. Antarona war gelenkiger und schneller, sah beinahe jugendlich aus, selbst ihre Charaktereigenschaften schienen als Antarona ausgeprägter zu sein. Alles in allem blieb nur die Erklärung, dass sie in einen Jungbrunnen gefallen war.
Freilich schloss Sebastian die Möglichkeit nicht aus, dass er sie blind vor neugeborener Verliebtheit, durch eine rosarote Brille betrachtete. Doch in Berücksichtigung der Tatsache, dass ihr unverkennbare Merkmale, wie ihr Seepferdchen- Tattoo und ihre kleine Narbe unter ihrem Bauchnabel schlicht fehlten, zwang sich ihm eine andere Erklärung auf, die freilich nicht sein konnte: Sebastian hatte Janine an diesem Tag wieder gesehen, doch bereits zwei Jahre vor der Zeit, als er sie das erste Mal kennen gelernt hatte.
Folglich war sie in dieser langen Zeit augenscheinlich zwei Jahre jünger geworden, wo sie doch nach den Gesetzen der Natur hätte um dreizehn Jahre altern müssen. Eine dritte Möglichkeit, die Sebastian durch den Kopf schoss, wäre unter normalen Umständen noch unglaublicher gewesen. Doch in einer Welt, die Gore, Felsenbären, Hyänenhunde, brennende Libellen und andere unerklärliche Geschöpfe beherbergte, erschien sie ihm doch als die plausibelste Erklärung von allen:
Antarona war ein Klon! Ein perfekt ausgeführter, genetischer Nachbau von Janine! Irgend jemand bastelte und frickelte sich in diesen abgeschiedenen Tälern eine ganz eigene Welt, mit eigenen Naturlaunen, Gesetzen und Geschöpfen zurecht, wie wenn einer sich eine Eisenbahnanlage zusammen baute! Doch wem und wie war es möglich, von Janine, die Sebastian selbst an die Schwelle des Todes begleitet hatte, ein genetisch identisches Duplikat herzustellen und dann auch noch entwicklungsbedingte Fehler, wie ein Tattoo, oder eine Narbe zu korrigieren?
Und selbst wenn das möglich geworden wäre.., welche Rolle spielte er, Sebastian Lauknitz, dann in diesem Theater? War er ein bloßes Testobjekt? Wollte irgend eine behördliche Forschungsinstanz herausfinden, wie ein Mensch reagieren würde, der seine Familie, seine Freunde und Bekannten nach vielen Jahren der Trennung unverändert wieder sah, während er selbst um Jahre gealtert war? Doch wozu?
War Sebastian unfreiwilliges Opfer eines seit langem geplanten Versuchs, der herausfinden sollte, wie vertraute Menschen, auch in Stresssituationen miteinander umgingen, wenn sie beispielsweise durch mehrjährigen Raumflug unterschiedlich lange Zeit voneinander getrennt waren und sich in dieser Zeit von den anderen isoliert weiter entwickelt hatten?
In diesem Augenblick kam ihm ein weiterer, ungeheuerlicher Einfall! War Janine damals etwa gar nicht an Leukämie erkrankt? War sie gar nicht wirklich gestorben? Wie ein bald fertig gestelltes Puzzle fügte sich in Sebastians Kopf ein Teilchen dieser unglaublichen Geschichte an das andere und drohte zu einer neuen Wahrheit für ihn zu werden...
Irgendwer hatte alles so inszeniert, dass Sebastian annehmen musste, Janine sei an den Folgen ihrer unheilbaren Krankheit gestorben. Sie besaß damals weder Freunde, noch Geschwister, oder irgend welche anderen Verwandte. Sie war alleinstehend. Niemand, außer ihm, der ja Testobjekt war, hätte sie vermisst! Man hatte somit zumindest erreicht, dass er ihren Tot akzeptierte und keine Fragen stellte. Dann hatte man sie geklont und in eine selbst erdachte, künstlich erschaffene Phantasiewelt entlassen, so, wie man einen Goldhamster in einen neuen Käfig setzte! Zuletzt musste man nur noch ihn in einen abgeschiedenen Winkel seiner vertrauten Umgebung locken, um ihn einzufangen und ebenfalls in diesen neuen Käfig zu setzen...
Aber was war dann aus seiner echten Janine geworden? Musste sie für diesen Versuch ihr Leben lassen? Die Möglichkeit bestand, denn die mächtigen Macher dieser fremden Welt nahmen es ja auch billigend in Kauf, dass an diesem Tag vier Menschen ihr Leben aushauchten... Für einen unmenschlichen, schnöden Test!
Oder war das alles, was Sebastian an diesem Tag erlebt hatte, auch nur inszeniert? Er wurde immer unsicherer. Die beiden toten Reiter, die vor seinen Augen starben, nachdem Antaronas Pfeile sie getroffen hatten.., waren sie nur gute Schauspieler? Das vergewaltigte und gequälte Mädchen in der Hütte.., eine Schauspielerin, der eine talentierte Maskenbildnerin zur Seite stand? Der alte Högi Balmer, Falméras Medicus, alles nur Statisten, um ihn, Sebastian, auf die neue Versuchswelt vorzubereiten? War Antarona, das Klon von Janine, etwa selbst eine ausgebildete Darstellerin, mit der man ihn ominösen Tests unterzog?
Sebastian viel es wie Schuppen von den Augen, dass einzig und allein Janine den Kampf mit den schwarzen Reitern bestritten hatte. Sie hatte auch verhindert, dass Sebastian dem verletzten Mädchen auf der Straße geholfen hatte. Etwa deshalb, weil sie vermeiden wollte, dass er erkannte, gar kein wirklich verletztes Mädchen vor sich zu haben? Als er dann in den Kampf eingriff, womit der unbekannte Testregisseur vermutlich nicht gerechnet hatte, brachen die Reiter die Vorstellung einfach ab... Fast perfekt!
Aber eben nur fast. Die hatten nicht mit Sebastian Lauknitz Scharfsinn gerechnet. Denen wollte er es zeigen! Die würden sich noch wundern, wie rasch er ihnen die Masken vom Gesicht reißen konnte. Mit Antarona selbst wollte Sebastian anfangen!
Wenn sie ein Klon Janines war, musste sie von den Intendanten dieser geschaffenen Welt auch die Gefühle und Empfindungen von Janine mitbekommen haben, sonst wäre das ganze Unternehmen ja bereits im Vorfeld zum Scheitern verurteilt gewesen. Janine hatte ihn geliebt. Folglich musste ihn auch Antarona lieben, oder sie musste es ihm zumindest schauspielerisch suggerieren, auch wenn sie im Moment keine Zuneigung zu ihm empfand!
Sebastian stellte sich das so einfach vor: War Antarona ein Klon von Janine, oder eine veränderte Janine selbst, so musste sie ihre Gefühle zu ihm in sich tragen, würde sie sich auf ihn einlassen. War sie jedoch eine völlig andere Person, eine Doppelgängerin, eine ausgesuchte Statistin etwa, dann musste sie Janines Empfindungen schauspielerisch darstellen. So oder so, da war sich Sebastian sicher, würde er es spüren!
Kaum war der Plan in seinem Kopf gereift, setzte er ihn in die Tat um und..., erlebte eine unerwartete Überraschung! So plötzlich, dass Antarona gar keine Chance besaß zu reagieren, umfasste Sebastian ihre Hüfte, zog sie zu sich heran, presste ihren Körper an seinen und küsste sie so leidenschaftlich, wie er es unter diesen Umständen fertig brachte, auf den Mund. Aus den Augenwinkeln sah er noch ihren irritierten, verwunderten Blick, der sich von einer Sekunde zur anderen verfinsterte.
Antarona erwiderte seine Zuneigung nicht. Statt dessen stemmte sie ihre kleinen Fäuste gegen ihn, drückte sich von Sebastian weg und kratzte ihm mit ihren Fingernägeln quer über die Brust, dass er annahm, ein glühendes Eisen würde darüber hinweg fegen. Sie stieß sich so heftig von ihm ab, dass sie einige Schritte nach hinten stolperte. Augenblicklich hielt sie ihr Schwert in der Hand, dessen Spitze wieder einmal auf Basti zeigte.
Einen Lidschlag darauf sprang sie wie eine Pantherin vor und drückte ihm mit wutverzerrtem Gesicht ihre Schwertspitze unter die Kehle:
»Was fällt euch ein...«, giftete sie ihn an, »...Sonnenherz zu nehmen, als sei sie euer Eigentum!« Ihre Augen blitzten ihn hasserfüllt und angriffslustig an. In diesem Augenblick wusste Sebastian, dass sie auch ihn ohne Skrupel töten würde, wenn ihm nicht sofort eine plausible Erklärung einfiel, um sie wieder zu besänftigen.
»Antarona, es tut mir leid, aber ich musste das tun, denn ich liebe dich über alles und ich wollte nur...« Zu mehr kam er nicht. Sie drückte ihre Waffe noch energischer an seinen Hals und fauchte gefährlich:
»Was redet ihr da von Liebe..? Wisst ihr denn wahr, was Liebe ist? Werdet ihr je wissen, wie einer vom Volk liebt? Sie machte eine kurze Pause aber noch bevor er einen neuen Versuch starten konnte, sich zu verteidigen, legte sie wieder los und ihr Blick schien Funken zu sprühen:
»Wagt es ja nicht noch einmal, mich so anzufassen, Ba - shtie - laug - nids, dann werdet ihr etwas erleben! Ihr werdet euch wünschen, nie geatmet zu haben, wenn ihr Sonnenherz zu nahe kommt..!«
Verzweifelt versuchte Sebastian ihr den Grund zu erklären, weshalb er sie küssen wollte, doch sie hörte gar nicht zu, sondern zischte in gefährlichem Ton:
»Ihr seid nicht besser als die ehrlosen, schwarzen Horden Torbuks und Kareks, die uns ihre stinkenden Kadaver zwischen unsere Beine schieben wollen, damit unsere Frucht ihren verfaulten Schatten trägt! Tut das noch einmal, Ba - shtie, dann werde ich euch vierteilen und die Stücke den Eishunden zum Fraß vorwerfen! Ich.., Sonnenherz hatte euch vertraut! Ich hatte so sehr an euch geglaubt, da ihr die Zeichen der Götter für alle Zeiten an eurem Leibe tragt!«
Antarona kam völlig aus dem Atem und wandte sich plötzlich verachtend von Sebastian ab. Er staunte, zu welchen verbalen Erniedrigungen sie fähig war. Dennoch liebte er sie. Trotz der Gefahr, dass sie ihn einfach massakrieren konnte, versuchte er zu lächeln. Das innere Feuer, das ihren Zorn bis zum Überkochen bringen konnte, faszinierte ihn. Sebastian vertraute einfach darauf, und möglicherweise war es nur Wunschdenken, dass Antarona etwas von Janines Charakter besaß, und sich rasch wieder abkühlen würde.
Statt dessen drehte sie sich noch einmal zu ihm um und schleuderte ihm ein »Ich hasse euch, Ba - shtie - laug - nids...« ins Gesicht. Dann marschierte sie stumm vor ihm her. Alle weiteren Versuche der Erklärung blieben hoffnungslos. Antarona ignorierte ihn. Aber sie jagte ihn auch nicht mit ihrem Schwert davon! Sie schwieg einfach nur und tat so, als sei er gar nicht da.
Was hatte er da bloß angerichtet? Nur weil er in seinem Brausekopf eine verrückte Geschichte ahnte, für die es nicht einen einzigen hieb- und stichfesten Beweis gab, hatte er alles aufs Spiel gesetzt! Das einzige, das Sebastian wirklich herausgefunden hatte, war die Tatsache, dass Antarona bewusst kaum mehr, als Freundschaft für mich empfand.
Mit dieser Möglichkeit hätte er rechnen müssen. Doch nun, in dieser Erkenntnis, fühlte er sich noch schlechter und verlorener, als zuvor. Was konnte schlimmer sein, als in Einsamkeit durch ein fremdes Land zu wandern und die Zuneigung der einzigen Frau zu verlieren, die man liebt, der man vertraut, für die man trotz aller Widrigkeiten bereit wäre, sein Leben zu geben?
Schweigend gingen sie nebeneinander her, der einbrechenden Nacht entgegen. Was Sebastian noch mehr belastete, als Antaronas Ausbruch glühenden Zorns gegen ihn, war das Schweigen, mit dem sie ihm nun ihre Verachtung entgegen brachte. Seine eigene Verzweiflung, in der er sich als kleines Häuflein Elend wieder fand, entstand jedoch nicht aus dem Umstand, dass er sich allein und ausgesetzt in einer ihm völlig fremden Welt fühlte. Viel mehr betrübte Sebastian die Vorstellung, er könnte diese Frau noch einmal verlieren.., diese Frau, die er trotz ihrer Veränderungen immer noch mehr liebte, als sein eigenes Leben.
Wie unkontrolliert und überraschend einem das Schicksal doch seine Launen präsentierte und wie kompliziert die Menschen auf sie reagierten... Ein Wunsch, ein Traum wurde wahr, den man nur als Wunder bezeichnen konnte, das sich ihm wie eine zweite Chance des Himmels dar bot. Und anstatt es fraglos anzunehmen, fiel ihm nichts besseres ein, als es mit seinem Misstrauen schon im Keim zu ersticken.
Wahrscheinlich hätte er Antarona nur einen echten Beweis seiner Liebe zu geben brauchen, und sie hätte ihrerseits ihre Liebe für ihn entdeckt... Er hatte nicht genug Vertrauen und Geduld.., nein er, Sebastian Lauknitz, musste dem Schicksal mal wieder tüchtig auf die Sprünge helfen und hatte es verdorben...
»Was für ein Idiot.., was bin ich doch für ein Blödmann..!« Ein Schreck durchfuhr ihn, denn er hatte diesen Satz laut hinausgebrüllt. Antarona verlangsamte ihren Schritt und sah Sebastian zweifelnd an. Das hielt er für seine Chance!
Müde und verzweifelt setzte er auf diesen einen letzten Trumpf. Er wollte Antarona einfach seine Geschichte erzählen, schonungslos offen und ehrlich, auch, wenn es für sie wie ein Märchen klingen musste und sie ihn anschließend für verrückt hielt. Wenn sie so sensibel war, wie er sie einschätzte, konnte er vielleicht ein kleines Stück ihres Herzens zurückgewinnen. Sebastian redete einfach darauf los, als würde er aus einem Buch vorlesen und es war ihm plötzlich nicht mehr peinlich, dass seine Geschichte, die er ihr erzählte, für sie wie eine irre Phantasie klingen musste:
»Du kannst mir zuhören, oder auch nicht, Antarona, aber ich erzähle dir jetzt, warum ich so dumm war, mich so zu verhalten. Es ist fünfzehn Winter her, da begegneten wir uns in einer anderen Welt, als dieser hier. Es war eine sehr laute und schmutzige Welt, die ebenso ungerecht war, wie diese hier. Du warst für mich schon zu dieser Zeit die Schönste unter den Frauen und mein Herz begehrte dich und wollte in jedem Augenblick bei dir sein. Dein Herz empfand ebenso und fortan gingen wir gemeinsam durch das Leben...«
Antarona ging schweigend neben ihm her und ihr Blick war permanent auf den Boden geheftet. Ob sie Sebastian zuhörte, oder das, was er ihr sagte einfach aus ihren Sinnen ausklammerte, wusste er nicht. Sie zeigte keinerlei Reaktion, sondern ließ ihn schweigend spüren, dass er ihr gleichgültig war. Dieses Schweigen und die vollständige Ignoranz machten ihn wütend. Allein seine Angst, er könnte dieses an sich liebenswerte Krähenmädchen auch in dieser Welt wieder verlieren, ließ ihn seinen Zorn hinunterwürgen.
Den ganzen Weg über, bis in den Wald hinein, erzählte er seine Geschichte, von dem Tag an, an dem sie sich in der anderen Welt kennen gelernt hatten, bis zu dem Augenblick, wo er versuchte, sie zu küssen...
»...und weil ich herausfinden wollte, ob du diese wunderschöne Frau aus der anderen Welt bist und ob dein Herz sich auch für das meine erwärmen kann, war ich so mutig und dumm zugleich, dir einen Kuss zu geben, denn...«, und in diesen letzten Satz versuchte Sebastian all sein Gefühl zu legen, »...ja, ich weiß, wie einer aus dem Volk liebt.., und.., ich liebe dich so sehr, dass ich dich niemals mehr wieder verlieren will, egal, in welcher Welt!«
Nachdem er geendet hatte, gingen sie noch eine Weile schweigend nebeneinander her durch den Wald, der sie mit dunklen, leise wispernden und raunenden Schattengestalten umschloss. Mittlerweise war die Sonne hinter den hohen Gipfeln im Westen versunken. Dunkelheit und Kälte krochen langsam und still in den Wald hinein und sie hörten nur noch ihre eigenen Schritte im Sand und das geheimnisvolle Rascheln der Blätter.
Inzwischen war Sebastian dermaßen müde, dass es ihm schwer fiel die Augen offen zu halten. Mitunter ertappte er sich dabei, wie er beim monotonen Gehen nach dem Land der Träume griff.
Auf einem Mal hielt Antarona an und kniete sich auf dem Weg nieder. Sofort war er hellwach, denn er vermutete, sie hörte wieder einmal schwarze Reiter nahen. Sie befühlte den Boden, stand dann wieder auf und wandte sich stumm dem Dickicht am Wegrand zu. Plötzlich war sie verschwunden. Mit weit geöffneten Augen versuchte Sebastian die Dunkelheit zu durchdringen, aber es war hoffnungslos. Das einzige, das er noch erkennen konnte, war der hellere Streifen des Weges, sowie hier und dort einen Stern, dem es gelang, durch das dichte Blätterwerk der Bäume zu scheinen.
Dann vernahm er ein Geräusch, als würde jemand ganz leise mehrere Kochtöpfe aneinander reiben. Was Antarona dort im Dickicht tat, wusste er nicht, doch er folgte ihr ins Unterholz. Beinahe wäre er über sie gestolpert und im gleichen Augenblick begriff er: Sie zog dem gefallenen schwarzen Reiter von heute Mittag die Rüstung aus! Sebastian war wieder einmal aufs neue entsetzt. Seine sensible Janine war auch noch eine gottverdammte Leichenfledderin! Auf keinen Fall jedoch wollte er es sich mit ihr noch einmal verscherzen...
Ganz vorsichtig und behutsam berührte er ihren Arm und flüsterte: »Lass mich dir helfen...« Antarona machte ihm schweigend Platz, während er sein Feuerzeug aus der Hosentasche fischte. Als die kleine Flamme zuckend den Boden und die näheren Büsche erhellte, schrak Antarona zusammen:
»Seid ihr von Sinnen..? Macht sofort das Feuer aus..!«, herrschte sie Sebastian zischend an. »Ihr wollt wohl, dass uns die Pferdesoldaten finden und uns die Haut abziehen, was..?«
Er war überrascht. Nicht nur, weil Antarona endlich ihr Schweigen gebrochen hatte, sondern auch, weil sie glaubte, dass die schwarzen Reiter noch immer in der Nähe waren.
»Sind die denn etwa noch hier?«, fragte Sebastian erstaunt. Antarona krallte ihre feingliedrige Hand in seinen Arm und raunte ihm ins Ohr:
»Das weiß man nie so genau... Manchmal lagern sie noch eine Nacht im Wald und tun den Frauen und Mädchen viel Böses an...« Ein paar Nuancen schärfer fügte sie hinzu:
»Und nun macht endlich das verfluchte Feuer aus! So, wie ihr euch tut, könnte ich wohl glauben, dass ihr aus einer anderen Welt kommt...« Die letzten Worte klangen wie eine Beleidigung, aber das war Sebastian egal, weil er in diesem Moment wusste, dass sie ihm tatsächlich zugehört hatte.
Antarona hantierte im Dunkeln mit den Riemen und Schnallen herum, die dem Toten die Rüstung auf den Leib banden. Sebastian fand diese Aktion äußerst fragwürdig und ermahnte sie:
»Sei bitte vorsichtig, mit dem, was du da tust. Sollten wir damit nicht bis morgen warten, wenn es wieder hell ist?«
»Seid nicht töricht, Ba - shtie, fürchtet ihr euch vor einem Toten..? Seid versichert, dieser hier schadet euch nicht mehr. Dieser schadet niemandem mehr!«, flüsterte sie ihm beruhigend und gleichzeitig belustigt zu.
Ein wenig war Sebastian verärgert. Denn er liebte diese kleine, eigensinnige Frau über alles. Aber er konnte es auf den Tod nicht ausstehen, wenn sich eine Frau ihm gegenüber so permanent altklug gab. Männliches Ego.., vielleicht.., zugegeben. Aber so war das nun einmal mit ihm und dazu stand er auch! Nun wollte er mal klug sein:
»So meinte ich das auch gar nicht...«, gab er zurück, »...noch nie etwas von Leichenvergiftung gehört, was?«, setzte er noch patzig nach. Doch Antarona ging nicht weiter darauf ein. Gemeinsam lösten sie die einzelnen Teile der Rüstung von dem brettsteifen Körper. Das Hemd mit dem markanten Symbol mussten sie aufschneiden, denn es wollte sich auf biegen und brechen nicht über die starre, kalte Leiche ziehen lassen.
Nachdem sie ihre grausige Arbeit beendet hatten, banden sie die Rüstungsteile mit Lederschnüren zu je zwei Bündeln zusammen und setzten ihren Weg fort. Antarona schwieg wieder und Sebastian fühlte sich ratlos, verzweifelt und der Situation ausgeliefert. Wie konnte er nun wissen, wie sie zu ihm stand? Hatte sie ihm sein Fehlverhalten verziehen? Vertraute sie ihm wieder? Empfand sie vielleicht auch etwas Liebe für ihn, oder war ihre Bindung zu ihm eher freundschaftlicher Natur, wie etwa zwischen vertrauten Kampfgefährten?
Letzteres würde er nicht ertragen können, denn er hatte Sehnsucht nach ihrer Wärme und sein Gefühl für sie war eine so stark empfundene Liebe, die ihm das Herz aus der Brust reißen konnte, wenn er nur darüber nachdachte, sie vielleicht nie für sich zu gewinnen, oder unversehens wieder verlieren zu können.
Wie aber konnte Sebastian herausfinden, welche Gefühle diese Frau wirklich für ihn empfand? So, wie vor gut einer Stunde ganz sicher nicht! Er war nicht so verrückt, noch einmal ihren blanken Zorn herauf zu beschwören. Sie konnte wie eine missgelaunte Tigerin reagieren... Aber genau das war es ja, was ihn unter anderem so an diesem Mädchen faszinierte, nämlich diese beiden extrem gegensätzlichen Wesenszüge, die sie wie ein mysteriöses, nie zu ergründendes Geheimnis in sich trug: Diese Sanftheit und Verletzlichkeit, die in den tiefen Seen ihrer unschuldigen Augen ruhte zum einen und zum anderen ihre ungezügelte Wildheit, dieses unbezähmbare Feuer in ihrem Herzen, das ihre Augen urplötzlich zu gefährlichen Waffen werden ließ, die vernichtende Blicke verschießen konnten.
Es war schon eine verrückte Sache. Sebastian war krank vor Liebe zu einer Frau, die gerade mal vor ein paar Stunden in sein Leben zurück getreten war, aus dem sie vor langer Zeit unfreiwillig fort ging. Dabei befand er sich in der selbst verzehrenden Unklarheit darüber, ob ihm diese Frau immer noch ihre Liebe schenken würde. Diese Ungewissheit fraß ein schmerzendes Loch in seinen Bauch, das sich in alle Richtungen seines Körpers auszubreiten drohte. Eine zum Bersten angespannte Hülle umgab noch sein aufgewühltes gärendes Innenleben und hielt es gefangen.
Um sich von seinen durcheinander geratenen Gefühlen abzulenken, versuchte Sebastian das Schweigen zwischen ihm und dem Krähenmädchen zu brechen:
»Antarona, was wirst du mit dem Metallpanzer des Reiters tun? Was waren das überhaupt für Typen, die das Dorf überfallen haben?« Dann wurde er mutiger:
»Und was ist eigentlich mit uns beiden.., ich meine.., ich möchte gerne mit dir durch’s Leben gehen, so, wie einst in der anderen Welt, doch ich weiß nicht, ob das auch dein Wunsch ist...« Weiter ließ sie ihn nicht kommen.
»Lügen.., Ba - shtie - laug - nids.., aus eurem Munde sprechen Lügen!«, fuhr sie ihn an und es klang eine tiefe Enttäuschung in ihrer Stimme mit. »Mann von den Göttern, ihr erzählt mir eine Geschichte, die nicht wahr sein kann und sprecht von Liebe? Ihr glaubt, ich gebe euch die Wärme meines Herzens und das Feuer meines Leibes, nur weil ihr mir euren Traum von einer fremden Welt in meine Ohren tragt?«
»Aber das sind keine Lügen und es ist auch kein Traum!«, entgegnete Sebastian verzweifelt, »ich selbst habe das alles hier zunächst für einen Traum gehalten. Ich war in der Schweiz unterwegs und hatte einen Unfall.., als ich wieder zu mir kam, befand ich mich bei Högi Balmer in dessen Hütte. Väterchen Balmer hatte mir geholfen, wieder gesund zu werden. Dann wollte ich wieder nach Hause, dorthin, woher ich gekommen war, eben in diese andere Welt... Auf dem Weg dorthin, Antarona, begegnete ich dir.., das ist alles!«
Sebastian hoffte nicht darauf, dass Antarona ihm glauben würde. Sie war zweifelsohne über die Maßen intelligent. Doch gerade deshalb hatte er seine Zweifel. Zu phantastisch klang seine Geschichte, als dass sie für einen rational denkenden Menschen etwas anderes gewesen wäre, als ein Märchen, oder ein Traum. Antarona ging eine Minute schweigend neben ihm her. Unvermittelt blieb sie stehen. Dann sprach sie mit leicht zitternder Stimme:
»Die Sonnenherz von euch reden hörte, sagten, ihr kommt aus dem Reich der Toten, weil ihr die Stimme aus dem Totenreich sprecht. Sonnenherz glaubt, dass ihr aus dem ewigen Eis kommt, vom Sitz der Götter, denn ihr tragt ihre Zeichen. Sonnenherz weiß, dass man euch am Tor zum Reich der Toten gefunden hat. Alle sagten, die Zeichen in eurem Leib habt ihr euch selbst gemacht, um das Volk zu täuschen. Sonneherz hat gesehen, wie das Wasser die Zeichen nicht abwaschen konnte. Die Götter haben euch ihre Zeichen für immer eingebrannt, damit das Volk erkennt, dass ihr der seid, den sie geschickt haben, dem Volk zu helfen.«
»Nun hör mir mal zu, Antarona...«, wollte Sebastian von neuem beginnen, ihr seine Situation zu erklären. Er legte seine Hand auf ihren Arm und spürte, wie sie zitterte. Ihm war gar nicht klar geworden, dass die Sonne bereits seit geraumer Zeit untergegangen war und sich die Luft im Wald merklich abgekühlt hatte. Antarona musste erbärmlich frieren, denn sie trug nach wie vor nur die spärliche Bekleidung ihres Schurzes und ihres Oberteils, die aussahen, als wären sie irgendwann ziemlich eingelaufen.
Sofort zog Sebastian sein T- Shirt aus und gab es ihr: »Zieh das an, denn ich fühle, dass du frierst!« Umständlich nahm sie den Stoff und wusste nicht recht damit umzugehen. Er bedeutete ihr, ihre Waffen abzulegen und sich den Stoff über den Kopf zu ziehen. Doch davon wollte sie nichts wissen. Kommentarlos gab sie ihm das Hemd zurück. Sie hegte also immer noch ein großes Misstrauen gegen ihn.
Während sie weitergingen, dachte Sebastian darüber nach, ob es überhaupt Sinn machte, sie mit weiteren Erklärungen zu überfordern. Dieser Tag war bereits bewegt genug gewesen, als dass sie noch in der Lage waren, stundenlange Diskussionen zu führen. Augenblicklich hatte er nur zwei Wünsche. Zum einen sehnte er sich nach einem trockenen, halbwegs warmen Platz, um schlafen zu können.
Zum anderen wünschte er sich, am nächsten Morgen aufzuwachen und zu erkennen, dass es kein Traum war, der ihm die Frau seiner Liebe wieder finden ließ. Ja, Sebastian akzeptierte sogar die schrecklichen Erlebnisse der vergangenen Tage, wenn er nur Antarona nie wieder verlieren musste! Mit müder Stimme machte er ihr den Vorschlag:
»Antarona, wollen wir morgen, wenn es wieder Tag ist, darüber reden..? Ich möchte dir gern beweisen, dass ich die Wahrheit spreche, ich möchte, dass du mir vertraust und ich wünsche mir nichts auf der Welt mehr, als deine Liebe!«
Als sie nicht gleich antwortete, fragte er weiter: »Weißt du einen Ort, wo man in Frieden schlafen kann, ohne befürchten zu müssen, dass einem die schwarzen Reitern den Schädel einschlagen?«
»Ihr habt eine seltsame Weise, viele Dinge zu fragen, Ba - shtie.., ihr sprecht von Wahrheit und Liebe, und gleich darauf von einem Ort zum Schlafen.«, stellte sie beinahe vorwurfsvoll fest. Einen Moment später fuhr sie fort:
»Wir schlafen dort, wo unsere Bündel sind, Ba - shtie - laug - nids.., und über Wahrheit und Liebe sprechen wir, wenn die Sonne wieder das Land erwärmt und das Tal mit ihrem Licht erfüllt. Dann werde ich wissen, ob die Wahrheit, oder die Lüge aus eurem Munde klingt, Mann von den Göttern!«
Das war deutlich! Anscheinend blieb ihm nichts anderes übrig, als den nächsten Tag abzuwarten. Trotzdem geisterten noch so viele Fragen durch seinen Kopf, dass er das Gefühl hatte, er müsste jeden Augenblick platzen. Vor allem machte er sich Gedanken darüber, wie er ihr seine Wahrheit, seine ehrliche Absicht und seine Liebe jemals würde beweisen können...
Ihre müden Beine gingen nicht mehr lange. Bald erreichten sie die Felskante und den kurvenreichen Weg hinunter zum See und an den Wasserfall. Antarona zog wieder ihre Beinlinge aus und Sebastian war diesmal auch nicht mehr so dumm, seine Kleidung durchnässen zu lassen. Hose, T- Shirt und Stiefel band er zu einem Bündel und folgte seinem Krähenmädchen über die nassen, glatten Felsen.
Einige Male glitt er aus und schlug sich heftig das Knie an. Verwundert fragte er sich, wie Antarona es fertig brachte, barfüßig und elegant wie eine Katze über den glitschigen Stein zu gelangen. Irgendwie schaffte Sebastian es, seine Sachen trocken hinter dem fallenden Wasser entlang zur Grotte zu tragen. Düster, wie ein gähnendes Loch in eine Unendlichkeit, tat sich die Höhle vor ihnen auf.
Mochte es Einbildung gewesen sein, oder seine Müdigkeit, jedenfalls hatte Sebastian den Eindruck, das Wasser wäre um ein vieles lauter, als am Tag, als sie diesen Ort verlassen hatten. Im großen Raum der Grotte war es stockfinster. Völlig blind stolperte er hinter Antarona her, die barfuß voran ging.
»Soll ich eine Flamme Feuer entzünden, damit wir besser sehen können...«, fragte er Antarona. Sofort bekam er ihre zischende Antwort und erschrak, denn er erkannte im Dunkeln nicht, dass sie direkt vor ihm stand:
»Untersteht euch, Ba - shtie - laug - nids, wagt es ja nicht, ein Feuer zu entzünden!« Mit etwas sanfterem Ton fügte sie hinzu:
»Wenn ihr ein Feuer entfacht, lässt der Schein das fallende Wasser aussehen, wie einen glühenden Kristall. Weithin wird das Wasser durch das Tal zu sehen sein. Wenn Torbuks Männer noch in der Nähe sind, werden sie es sehen und es ihm berichten. Torbuk und Karek werden wissen wollen, welches Geheimnis sich hinter dem brennendem Wasser verbirgt. Torbuk darf niemals von diesem Versteck erfahren, Ba - shtie! Ihr seid der einzige Mensch, der das Geheimnis mit Sonnenherz teilt. Nicht einmal einer aus dem Volk weiß von dieser Höhle!«
Über diese Aussage machte er sich so seine Gedanken... Sollte Antarona seine Ehrlichkeit erkennen, so würde sie ihm vertrauen und ihr großes Geheimnis mit ihm teilen. Doch sollte sie zu der Meinung gelangen, dass Sebastian die Unwahrheit sagte... Er wagte nicht, diesen Gedanken zu Ende zu bringen. Wenn ihr dieses Geheimversteck so lebenswichtig erschien und sie es mit allen Mitteln zu verteidigen versuchte, war sie gezwungen, jede Person zu töten, die davon Kenntnis erlangte, ohne ihr Vertrauen zu besitzen.
»Wartet hier, Ba - shtie, ihr könnt Sonnenherz folgen, wenn ihr ein Licht seht...« Damit hörte er ihre Schritte sich entfernen. Geduldig wartete er und rührte sich nicht von der Stelle, denn er wollte ja nicht auch noch so dumm sein, sich in dieser Finsternis die Knochen zu brechen.
Eine Minute später flammte im hinteren Teil der Grotte ein Lichtschimmer auf. Der Feuerschein kam aus einem der Nebengänge und beleuchtete kaum den großen Saal. Vorsichtig ging Sebastian auf das Licht zu und stolperte dennoch einige Male über Unebenheiten des Höhlenbodens.
Staunend betrat er den Nebengang, der nur kurz war und in einen weiteren Raum führte. Dieser war kleiner, als der Eingangsraum. Er war wie eine kleine Wohnung eingerichtet, einfach zwar, doch nicht minder gemütlich. An den Wänden, in Vorsprüngen, Spalten und Rissen waren Fackeln befestigt, die den Raum erträglich erhellten.
Auf einigen breiten Felsvorsprüngen lagen Felle, die offenbar als Schlafstatt dienten. In der Mitte des Raumes gab es eine kleine Feuerstelle und alle Nischen und Winkel schienen irgendein Gerät aufzunehmen. In einer Ecke fanden sich mehrere Schwerter, Lanzen, Speere und andere Waffen. Auf einem Felsabsatz, der wie eine Galerie aus der Wand hervorsprang, lagen unzählige Taschen und Beutel aus Leder und Stoff und darüber hingen an einem Seil aufgeknüpft, verschiedene getrocknete Pflanzen.
In einer Nische, die von einem mächtigen Stalagmiten verdeckt war, sah Sebastian unzählige Rüstungen der schwarzen Reiter auf einem Haufen liegen. Antarona warf die Rüstungsteile des Reiters aus dem Wald mit verächtlicher Geste dazu. Die Teile, die Sebastian getragen hatte, legte er dort ebenfalls ab. Den Stoffbeutel, welchen ihm der Vater des geschundenen Mädchens gegeben hatte, hielt er Antarona hin. Sie nahm das Paket und legte es an die Feuerstelle, mit den Worten:
»Da könnt ihr nun genug essen, Ba - shtie, der Wasserbauer gibt Sonnenherz immer etwas mit, wenn sie seine Tochter besucht. Die Familie hat kaum zu beißen, doch sie geben stets von dem Wenigen ab, das sie besitzen. Es sind gute Leute, Ba - shtie, merkt euch das!« Mit diesen Worten ging sie, eine der Fackeln in der Hand, in einen weiteren, schmalen Gang und kam mit einem großen Bündel Feuerholz zurück, das sie ebenfalls neben der Feuerstelle ablegte.
»Ihr könnt euer Bündel hereinholen und euch eine Schlafstatt aussuchen, Ba - shtie.« Antarona selbst ging ebenfalls zurück in den Eingangssaal, um ihre Felle in den Raum zu tragen. Sebastian folgte ihr und holte seinen Rucksack.
Anschließend schnallte er seinen Schafsack ab und breitete ihn auf einem mit Fellen belegten Podest aus. Antarona, die mit dem Lagerfeuer beschäftigt war, kam staunend zu ihm herüber und befühlte das synthetische Goretex- Material. Neugierig und fragend sah sie Sebastian an. Vermutlich war es auch die Farbe, von der sie sich derart faszinieren ließ. Der Schlafsack war in leuchtendem Rot und Blau gehalten, während das Innenfutter grell Gelb ausgelegt war.
»So etwas, Antarona, gibt es in meiner anderen Welt!«, erklärte ihr Sebastian. Und um ihr noch mehr Beweise für die Existenz seiner Welt zu präsentieren, räumte ich den halben Rucksack leer. Am meisten Interesse zeigte sie an Dingen, wie der tanzenden Nadel von Bastis Kompass, seine Gasfeuerzeuge, von denen er stets einige mitführte und vor allem am Rucksack selbst.
Geduldig erklärte ihr Sebastian die Funktionen der verschiedenen Riemen und Schlaufen, sowie die seines Eispickels, den sie zunächst für eine zum töten völlig ungeeignete Waffe hielt. Das eine Steigeisen, das ihm nach dem Sturz geblieben war, erregte dann wieder mehr ihre Neugier. Umständlich erläuterte er ihr, dass man damit auf Eis gehen kann, wenn man dazu ein zweites Stück besitzt. Sie quittierte seine Ausführungen erst mit ungläubigem Blick. Doch dann erhellte sich ihre Mine:
»Ba - shtie - laug - nids, ihr kommt mit den Dornenschuhen aus dem Eis?« Ihre Frage klang eher, wie eine Feststellung. »So seid ihr also vom Sitz der Götter herabgestiegen!« Ihre Theorie vom Abgesandten der Götter schien sich damit für sie manifestiert zu haben.
»Wenn du glaubst, dass ich aus der Welt der Götter komme...«, entgegnete er, »...dann kannst du dir auch vorstellen, dass wir zwei in meiner Welt einmal ein Herz waren und du mich so geliebt hast, wie ich dich liebte?«
Antarona sah Sebastian zweifelnd an, als hätte er den Verstand verloren. Abrupt und kommentarlos wandte sie sich ab und begann, ein kleines Lagerfeuer zu entzünden. Dabei wollte er es für diesen Tag belassen. Wahrscheinlich brauchten sie beide eine geraume Zeit, um im Vertrauen zueinander zu finden.
Mit dieser Überlegung begann er seinen Rucksack wieder einzuräumen. Dabei fiel ihm ein kleines, in eine Plastiktüte eingewickeltes Päckchen in die Hände... Sein Tagebuch und seine Papiere!
Sofort fiel ihm das Portrait ein, dass er einmal von Janine in sein Tagebuch zeichnete. Vor allem erinnerte er sich an die fünf oder sechs, teilweise schon etwas verblassten Fotos von Janine und ihm, die er als Erinnerung stets in seiner Brieftasche hatte. Sebastian wusste nun, wie er Antarona davon überzeugen konnte, dass sie einmal zusammen waren...
Nichts ahnend saß Antarona in der Mitte des Raumes, schürte das Lagerfeuer und öffnete gleichzeitig den Proviantbeutel des Wasserbauern. Getrocknetes Fleisch, etwas Käse, ein paar Äpfel und einen Laib Brot förderte sie daraus zu Tage. Undeutlich glaubte sich Sebastian daran zu erinnern, dass die Familie des Wasserbauern bei einer kargen Brotmahlzeit saß, als sie in ihre Hütte stürmten. Das machte ihn nachdenklich:
»Ein paar feine Dinge hat uns der Mann da eingepackt... Sag mal, Antarona, ist dir eigentlich aufgefallen, dass sie selbst nur ein Stück trockenen Brotes auf ihrem Tisch hatten...?« Ohne sich umzuwenden, oder ihre Tätigkeit zu unterbrechen, antwortete sie spontan:
»Die Menschen des Volkes sind gutherzig.., sie geben und helfen einander, ohne zu fordern, ohne zu fragen, ohne etwas dafür zu verlangen... So ist das, Ba - shtie.., das Volk war immer so.., es gab und vertraute auf das Gute im Herzen eines Jeden...« Antarona machte eine Pause, drehte sich in der Hocke zu ihm herum und stieß einen tiefen Seufzer aus, den Sebastian in ihrer sprühenden Energie nicht vermutet hätte. Gleichzeitig ließ sie sich vornüber auf die Knie fallen, schöpfte mit beiden Händen Sand und Steine vom Höhlenboden und ließ sie demonstrativ durch ihre feingliedrigen Finger rieseln:
»Dann kam das Böse in das Land und in unsere Täler und tränkte die Erde mit dem Blut des Volkes. Sie kamen und nahmen ohne zu fragen und sie nahmen immer mehr und immer mehr... Dann kam Torbuk...« Antarona stützte die Hände auf ihre Oberschenkel, ohne zu bemerken, dass sie den Staub der Grotte darauf verteilte. Plötzlich fielen Tropfen darauf. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Leise in sich hinein schluchzend fuhr sie fort:
»Als die Menschen in den Tälern nichts mehr besaßen, das sie ihnen nehmen konnten, standen einige aus dem Volk auf und wehrten sich. Es waren nur wenige, die mutig genug waren, gegen Torbuks schwarze Pferdesoldaten zu ziehen. Sie wurden in einer drei Monde dauernden Schlacht vernichtet. Das Volk hatte keinen seiner Söhne jemals wieder gesehen und die Dörfer waren fortan ohne den Schutz der jungen Männer...«
Sie schwieg eine Weile und wischte sich mit ihren zarten Händen die Tränen aus den Augen. Danach schob sie ihren Lederschurz etwas nach unten und legte ihre Hände übereinander auf ihren Unterleib, als wollte sie ihren Schoß vor etwas Schrecklichem beschützen. Ihre mit Tränen gefüllten Augen wurden starr und unbarmherzig. Blanker Hass stand plötzlich in ihrem Blick, während sie weiter erzählte:
»Von diesem Tag an kamen die schwarzen Reiter in unsere Täler.., wieder.., und immer wieder. Sie nahmen sich die Frauen und Mädchen... Die wilden Horden, Torbuks und Kareks Männer, trieben sie wie Vieh vor sich her, das ganze Tal hinab, bis zur Festung von Quaronas. Frauen, die nicht mehr laufen konnten, wurden erschlagen, oder am Weg liegen gelassen, mit der schwarzen, verfaulten Saat der Reiter in ihrem Schoß. Viele Mädchen und Frauen kehrten später in ihre Dörfer zurück.., mit der Frucht des Bösen in ihrem Bauch. Einige von ihnen gingen mit traurigem Geist in das Reich der Toten, damit ihre Männer nicht die Väter von Torbuks Kindern sein mussten.«
Antaronas Blick wurde verbitterter und ihre Stimme klang rauher und müder: »Torbuk will mit seiner Saat, mit seinem Blut die Frucht aller Frauen des Volkes vergiften, damit sie seine Söhne und Töchter in die Täler gebären, bis Habgier, Lüge und Hass das ganze Land beherrschen...«
Sebastian hockte sich vor Antarona auf den Boden und nahm ihre Hände in die seinen, um ihr zu zeigen, wie sehr er mit ihr fühlte. Dann nahm er sein T- Shirt und tupfte ihr die Tränen aus dem Gesicht. Sie ließ es einfach geschehen, als hätte sie jeden Widerstand aufgegeben. Verständnisvoll sah er ihr in die Augen:
»Antarona.., haben Torbuks Reiter auch dich...« Bevor Sebastian den Satz zu Ende bringen konnte, richtete sie sich auf den Knien auf und strich mit der flachen Hand über ihren nackten Bauch. Mit Empörung in der Stimme sagte sie:
»Ba - shtie - laug - nids.., seht ihr Antaronas Bauch geschwollen? Nein, ihr seht ihn flach, wie das Wasser.., und das wird er auch bleiben!«, stellte sie bestimmt fest. Fast kämpferisch prophezeite sie weiter:
»Die Saat, die einmal in Antaronas Schoß reift, wird die Saat der Liebe sein..! Die Frucht, welche Antaronas Herz erfreut, wird die Frucht der Hoffnung sein, des Lichts und der Güte! Das Herz, das in froher Zeit unter dem meinen schlägt, wird einen Vater haben, der guten und reinen Herzens ist und den das Volk achtet und liebt, so, wie er selbst es schätzt!«
Noch immer hielt Sebastian ihre Hand und blickte in ihre großen, entwaffnenden Augen. Ihre Offenheit ließ ihn den Mut aufbringen, ihr seine Angst um sie zu gestehen:
»Antarona...«, begann er umständlich, »...du bist schnell, wie ein Pfeil und schlau, wie ein Felsenbär... Aber bei dem, was du tust und so, wie du es tust, habe ich Angst um dich.., Angst, dich zu verlieren... Nicht immer wird dein Schwert dich schützen können... Einmal gerätst du vielleicht in die Fänge der wilden Horden. Ich habe Angst, sie könnten dich...« Sebastian wagte nicht, den Gedanken ganz auszusprechen. Unsicher begann er von neuem: »Verstehst du mich, Antarona.., ich ängstige mich davor, dass dich die schwarzen Reiter eines Tages...«
Sie unterbrach ihn und legte ihm beruhigend ihre andere Hand auf die Brust: »Ihr müsst nicht in Sorge um Antarona sein, Ba - shtie! Antarona kennt jene unter den Kräutern des Waldes, die jede böse Frucht aus dem Schoß einer Frau vertreibt. Die Pferdesoldaten erzählen sich eine Geschichte... So sagen sie, Sonnenherz ist krank in ihrem Leib und keine Saat geht in ihrem Schoß auf. Sie fürchten sich, Sonnenherz zu berühren...«
»Aber sie würden sich auch nicht davor fürchten, dich zu töten, oder..?«, gab Sebastian zu bedenken. Unvermittelt entstand ein flüchtiges Lächeln auf ihrem Gesicht:
»Nein, Ba - shtie, sie werden Antarona nicht töten!« Er war verblüfft, mit welcher Sicherheit, sie dies feststellte und wie zur Erklärung fügte sie an:
»Karek will Sonnenherz für sich haben... Torbuks Männer müssten den Zorn Kareks und Torbuks fürchten, würden sie Sonnenherz das Leben nehmen!« Damit stand für sie offenbar fest, eine Art unsichtbares Schutzschild zu besitzen. Sebastian hingegen beruhigte dieser Gedanke gar nicht. Ganz im Gegenteil! Denn er vermutete, dass auf ihre Gefangennahme bereits ein Kopfgeld ausgesetzt war. Immerhin hatte sie an diesem Tag mindestens drei von Torbuks Soldaten getötet. Und wie viele ihrem Bogen bereits zuvor zum Opfer gefallen waren, konnte er nur vermuten. Diese Überlegung behielt er aber für sich. Trotz aller Naivität, die Antarona in Vielem an den Tag legte, bewunderte er sie.
Nie zuvor war Sebastian so peinlich berührt von der schonungslosen Offenbarung einer Frau. Und es beschämte ihn plötzlich, dass er sich eingebildet hatte, er könnte den Stolz dieses Krähenmädchens einfach beiseite schieben und ihr Herz im Sturm erobern. Er wusste nun: Sie war etwas Besseres wert!
Natürlich liebte Sebastian sie nach wie vor mehr, als sein eigenes Leben und wünschte sich nichts sehnlicher, als die Wärme ihrer nackten Haut an seinem Körper zu spüren. Doch ihm wurde augenfällig klar, dass er die Tür zu ihrem Herzen und ihrem Vertrauen nur mit der Zeit und mit viel Geduld öffnen konnte. Sebastian wusste aber auch, dass seine Liebe stark genug war, zu warten, bis ihr Herz dazu bereit war...
Sie aßen noch einen Bissen und wärmten sich etwas am Feuer auf. Antarona schwieg und schien mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt. Nach einer Weile erhob sie sich, löschte alle, bis auf eine Fackel, ging zu ihrem Lager hinüber und rollte sich wie ein kleines Hündchen in das Gewühl ihrer weichen Felle ein. Als er Kopf an Kopf zu ihr in sein Lager kroch, hatte sie die Augen bereits friedlich geschlossen.
Doch sie konnte Sebastian nicht mehr täuschen. Er vermutete, dass ihre Sinne hellwach waren. Ihre Waffen lagen griffbereit neben ihr und wäre er ihr zu nahe gekommen, so hätte sie ihn sicher deutlich spüren lassen, dass ihr das missfiel!
Bevor er die letzte Fackel gelöscht, und im Schein des ausbrennenden Lagerfeuers den Reißverschluss seines Schlafsacks zugezogen hatte, legte er noch das Päckchen mit seinem Tagebuch und seinen Dokumenten auf die Felle, neben Antaronas Kopf...
  Wichtiger Hinweis: Die Texte des Autors Frank Adlung, insbesondere die des Romans "Das Geheimnis von Val Mentiér", sind durch notarielle Hinterlegung urheberrechtlich geschützt. Ein Herunterladen und Ausdrucken ist nur für den privaten Zweck des Lesens gestattet. Kommerzielle Nutzung, öffentlicher Vortrag, oder Vervielfältigung und Verfälschung des Inhalts, sowie öffentliche Verbreitung ohne Genehmigung des Autors sind untersagt und werden zur Anzeige gebracht.
 
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