Das Geheimnis von Val Mentiér
 
13. Kapitel
 
Mutige Freunde
 
ls Sebastian wieder aufwachte, erfüllte ein diffuses, bläuliches Licht den Raum. Antaronas Schlafstelle war leer. Ihre Felle lagen in einem chaotischen Durcheinander verwaist da. Sofort fiel ihm auf, dass sein Päckchen mit dem Tagebuch ebenfalls fehlte. Somit wusste sie nun, dass sie zwei schon einmal zusammen waren und er war gespannt auf ihre Reaktion.
Umständlich schälte er sich aus seinem Seidenkokon und spürte plötzlich alle Glieder, selbst jene, von denen er gar nicht wusste, dass er sie besaß. Der gestrige Tag hatte nicht nur in seinem Kopf Spuren hinterlassen! Leise rief er Antaronas Namen. Stille, nur ein Echo, dass sich vielfach an den Höhlenwänden brach, kehrte zu ihm zurück.
Schwankend und noch verschlafen ging Sebastian durch den kleinen Gang in den Eingangssaal der Grotte. Ein heller Schein flutete ihm entgegen. Die Sonnenstrahlen, die sich im Vorhang des Wasserfalls brachen, streuten das Licht in die Dunkelheit der Höhle. Von Antarona jedoch war nicht die Spur eines Haares zu sehen.
Noch einmal ging Sebastian in den Wohnraum zurück und holte aus seinem Rucksack eine Plastiktüte. Anschließend zog er sich bis auf die Unterhose aus und verstaute seine Kleider in dem bunten Beutel eines bekannten Marken- Discounters. Diesmal würden seine Sachen trocken bleiben!
Die Kälte ließ ihn frösteln und zitternd schlich er sich hinter den Wasserfall und bewegte sich langsam an der nassen Felswand entlang. Kurz darauf erreichte er die Randfelsen und kletterte etwas hinauf, um sich einen besseren Überblick zu verschaffen. Doch von Antarona fehlte weiterhin jede Spur.
Der Stand der Sonne ließ vermuten, dass es etwa zehn Uhr morgens war. Rasch kam Sebastian zu dem Schluss, dass Antarona sich wahrscheinlich nicht sehr weit von der Grotte entfernt haben konnte. Sie würde es kaum riskieren, jemanden, den sie erst einen Tag lang kannte, mit ihrem bedeutungsvollen Geheimnis allein zu lassen.
In Anbetracht der morgendlichen Frische, die ihm in die Glieder kroch, zog er es vor, in der Höhle auf sie zu warten. Noch dazu wollte Basti vermeiden, von irgend jemandem in der Nähe des Wasserfalls entdeckt zu werden. Er musste zugeben, dieser Ort war ein so perfektes Versteck, dass man darin eine ganze Armee unsichtbar vorhalten konnte. Nachdem, was er bis dahin von diesen Tälern wusste, vermutete er, dass die Menschen dieser Gegend so ein Versteck als letzten Zufluchtsort vielleicht einmal bitter nötig haben könnten.
Sobald er in die Höhle zurückgekehrt war, bemerkte er, um wie vieles wärmer die Luft in ihr war, im Gegensatz zur Temperatur draußen. Vermutlich konnte man in diesen Räumen auch im Winter verweilen, ohne erfrieren zu müssen. Das einzige Problem war sicherlich, am Eis des gefrorenen Wasserfalls vorbei zu kommen.
Im Wohnraum der Höhle allein und unbeobachtet, meldete sich der Entdeckerdrang in ihm. Solange Antarona fort war, wollte Sebastian ihre riesige Eigentumswohnung genau in Augenschein nehmen. Ohne noch lange zu überlegen, nahm er zwei Fackeln von der Wand, die extrem nach Tran stanken und entzündete eine davon. Die andere klemmte er sich als Reserve unter den Arm.
Erstaunt stellte er fest, dass der Rauch der brennenden Fackel nach oben hin abzog und genau hoch oben über der Feuerstelle in einem breiten Riss verschwand. Allmählich begriff Sebastian die Bedeutung dieses verborgenen Domizils. Selbst bei klirrendem Frost, wenn man den Zugang zur Eingangshalle mit Fellen, oder mit einer Plane verhängte, konnte man es ziemlich lange in diesem Berg aushalten.
Zunächst erkundete Sebastian den Gang, in dem Antarona am Vorabend verschwunden war und aus dem sie mit einem Holzbündel zurückkehrte. Der Gang verengte sich so weit, dass er sich regelrecht hindurch zwängen musste. Unerwartet mündete er in einen Raum, in dem so viel Feuerholz gesammelt und ordentlich sortiert lag, dass es wohl gut und gerne drei Monate ausreichen mochte.
In einem grob geflochtenen Korb an der Wand lagen Steine. Sie waren von verschiedener Farbe, jedoch von gleicher, splittriger Struktur. Erst nach und nach dämmerte es ihm, dass es sich dabei nur um so genannte Flintsteine, oder Feuersteine handeln konnte.
Zur Probe nahm er zwei handliche Steine und schlug sie aneinander. Doch außer dem Effekt, dass sie splitterten, zeigte sich kein zufrieden stellendes Ergebnis. Erst, als Sebastian sein Bowiemesser zog und es am kantigen Einschnitt des Messerrückens versuchte, erhielt er ein paar müde Funken. Er bezweifelte, dass man im Ernstfall in der Lage war, damit wirklich Feuer zu machen.
Einen weiteren Gang schien dieser Raum nicht zu besitzen und so kehrte er in den Wohnraum zurück, um sich den Nächsten anzusehen. Der war schon interessanter. Etwas aufsteigend gelangte er in einen etwa zweieinhalb Meter hohen, sehr langen und verwinkelten Höhlenraum, dessen Boden und Decke durch so zahlreichen Stalagmiten und Stalaktiten verbunden war, dass man annehmen konnte, in einem dichten, steinernen Wald zu stehen. Der zuckende Schein der Fackel erschwerte noch die Orientierung in diesem Labyrinth. Je mehr Sebastian die Fackel bewegte und je weiter er ging, desto konfuser wurde das Zurechtfinden in diesem Chaos. Bereits nach den ersten Metern musste er stehen bleiben, weil er Angst hatte, den Rückweg nicht mehr zu finden.
Sogleich machte sich Sebastian seine Gedanken über dieses optische Verwirrspiel aus Steinkegeln, Licht und Schatten. Wenn er es fertig brachte, eine Fackel an einer bestimmten, jederzeit wieder zu findenden Position anzubringen, so dass bei jedem Mal stets die gleichen Licht- und Schattenverhältnisse herrschten... Dann besaß er ein ziemlich sicheres Versteck für seine Goldkassette! Augenblicklich begutachtete er den Höhlenboden. Er war felsig und mit reichlich Staub und kleinen Steinen bedeckt. Spuren fand er keine, so dass er davon ausgehen konnte, dass weder Antarona, noch sonst irgendwer diesen Gang benutzte.
Schon gestern war es ihm äußerst unangenehm, die Kassette in seinem Rucksack ungeschützt in der Höhle zurücklassen zu müssen. Ein gutes Versteck war sinnvoll! Nun musste Sebastian über sich selbst schmunzeln: Schon wieder war er dabei, seine dreißigtausend Franken in Gold zu verstecken. Mal sehen, wann wieder irgendwelche Geologen sein Vermächtnis bedrohten... Aber die Idee für einen sicheren Platz reifte in seinem Kopf von Sekunde zu Sekunde.
Dazu war lediglich nötig, einen geeigneten Platz für die Fackel zu finden, der nur ihm bekannt war, sowie einen unter diesen so entstandenen Lichtbedingungen, markanten Ort für die Kassette. Von diesem Einfall war er selbst derart begeistert, dass er ihn sofort in die Tat umsetzen wollte. Dazu benötigte er einen Platz mit Widererkennungswert, an dem die Fackel sicher befestigt werden konnte. Diesen Ort fand er sogleich gegenüber einem auffällig weißen Stalaktiten, der wie ein breiter, von Hand gegossener Zuckerhut aussah:
Ein Riss im Fels, oberhalb eines kurzen Simses schien wie geschaffen, um einen Fackelstiel hinein zu stecken. Sebastian versuchte es sogleich und musste sich recht lang machen, um an die Stelle zu gelangen. Erstaunlicherweise funktionierte sein Einfall hervorragend. Sofort beschloss er, sein Kästchen mit den Münzen zu holen, bevor Antarona zurückkam.
Der Wohnraum lag noch so verlassen da wie vorher. Hastig holte Sebastian die in Plastiktüten eingewickelte Kassette aus seinem Rucksack und ging zurück in das Labyrinth. Ohne Schwierigkeiten fand er die Stelle wieder, an welcher die Fackel Platz fand. Als das Licht sich beruhigte und die Schatten nicht mehr tanzend hin und her sprangen, wagte er sich tiefer in den Raum hinein.
Doch schon nach einigen Metern war Schluss! Die steinernen Säulen standen so dicht, dass bereits nach einigen Schritten die Schatten zunahmen und nach und nach die schlanken Lichtstreifen verdrängten. Zwischen zwei Schatten wagte sich endlich nur noch ein einziger Lichtschein hindurch, der einen ockerfarbenen Stalaktiten anstrahlte.
Dieser erinnerte Sebastian spontan an einen aus dem Meer springenden Delfin. In der Tat war dieser Stein so gewachsen, dass er an einer Seite sich besonders verjüngte, wie der Schnabel eines Delfins. Die von oben herab gefallenen Tropfen hatten an der Flanke dieser Säule zwei weitere Stalaktiten begonnen, die man leicht als zwei Bauchflossen interpretieren konnte. Das Auge des steinernen Meeressäugers bildete eine Vertiefung in der Säule, die wohl durch veränderte Tropfpositionen entstanden war.
Hinter dieser markanten Steinsäule, die er jederzeit gut wieder finden konnte, lag ein mittelgroßer, flacher Felsen, vom Schatten des Delfins verdeckt. Auf diese Steinplatte setzte Sebastian seine Kassette und baute noch einige Felsstückchen um sie herum, bis sie vollständig mit Steinen bedeckt war.
Nachdem das getan war, zog er sich zum Eingang zurück, nahm die Fackel aus der natürlichen Halterung und benutzte sein ausgezogenes T- Shirt dazu, um verräterische Spuren auf dem Höhlenboden zu verwischen.
Genau in dem Moment, da er wieder in die Wohnhöhle trat, kam Antarona durch den Gang von der Eingangshalle her. Trotz der Kälte trug sie wieder nur ihre spärliche Kleidung. Sogar auf ihre Beinlinge hatte sie verzichtet. Ihr war sofort klar, woher Sebastian kam und bemerkte warnend:
»Geht dort nicht hinein, Ba - shtie, das ist der Gang der tanzenden Schatten!« Fragend sah er sie an. Erst jetzt bemerkte er, dass sie völlig nass war. In einer Hand trug sie ihren Bogen, in der anderen sein Päckchen mit dem Tagebuch. Letzteres legte sie respektvoll auf sein Schlaflager, bevor sie sich zu ihm umdrehte. Ihr nasser Körper glänzte im einfallenden Lichtkegel des Eingangs, sowie vom warmen Schein seiner Fackel. Ihre knappe Wildlederbekleidung haftete ihr wieder auf der Haut, wie ein aufgeklebtes, durchscheinendes Fließ.
Zielstrebig ging Sebastian zu seinem Rucksack, holte ein großes Frottierhandtuch heraus und hängte es ihr über die Schultern:
»Du erfrierst mir sonst noch..!«, sagte er und versuchte seine Stimme fürsorglich und warm klingen zu lassen. Entschuldigend fragte er:
»Ich wollte mich nur mal ein wenig umsehen... Aber sag, Antarona, wieso nennst du diesen Raum den Gang der tanzenden Schatten? Ist etwas Gefährliches darin?« Sehr wohl wusste er, weshalb sie diesen Stollen so nannte, hatte er doch die Wirkung des Lichts auf die Steinsäulen bereits kennen gelernt.
Antarona trat nahe an ihn heran, so dass Sebastian wieder ihren betörenden Duft wahr nahm und sah ihn mit dankbaren Augen an. Und in ihrem Blick gewahrte er eine herzliche Wärme, die ihm Tags zuvor nicht aufgefallen war. Ihr Leib zitterte etwas vor Kälte, als sie ihm ihre Hände auf den Arm legte und ihm mit warmer und eindringlicher Stimme erklärte:
»Es ist der Gang der tanzenden Schatten, weil kein Mensch, der ihn jemals bis weit hinein betreten hatte, wieder zurückgekehrt ist. Böse Schatten tanzen auf dem Weg und an den Wänden und führen jeden in die Irre, der es wagt ihn zu betreten. Geht nicht hinein, Ba - shtie, ihr findet dort nur den Weg in das Totenreich!«
Im wesentlichen bestätigte ihre Aussage seine eigene Ansicht über dieses Labyrinth. Doch fragte sich Sebastian, wie sie wissen konnte, dass niemand aus diesem Gang zurückgekehrt war, wenn sie die einzige sein wollte, die überhaupt von dieser Grotte wusste. Dass er nun ein geheimes Versteck in ihrem geheimen Versteck besaß, erzählte er ihr tunlichst nicht... Noch nicht!
Was Sebastian im Moment intensiver beschäftigte, war ihr Wesen, das sich über Nacht geändert zu haben schien. Nichts war mehr vorhanden, von ihrer Schnippigkeit, mit der sie ihn am Tag zuvor fast in den Zorn getrieben hatte. Statt dessen war sie wie verwandelt, warmherzig und vertrauensvoll. Schon wähnte er sich in der Gewissheit, ihr Herz erobert zu haben...
Als nächstes stellt Antarona ihm eine Frage, die wohl eher nebensächlich klingen sollte. Doch das gelang ihr nicht, denn deutlich hörte Sebastian ihre angespannte Neugier heraus. Gleichzeitig erkannte er, dass sich ihrer beider Zuneigung füreinander, sowie ihr gegenseitiges Vertrauen noch in einem ungewissen Reifeprozess befand.
»Was ist das für ein Zauber...«, fragte sie Sebastian, indem sie auf das Päckchen mit seinen Dokumenten zeigte. »Wie habt ihr das gemacht, Ba - shtie - laug - nids.., ist das ein Zauber von den Göttern?«
Deutlich bemerkte er ihre Unsicherheit. Sie hatte die Bilder von sich gesehen, in dem Wissen, dass sie keinen der darauf abgebildeten Orte kannte und dass sie ihm vor dem vergangenen Tag nie begegnet war. Da sie Sebastian nie ein Bild hatte anfertigen sehen, mussten ihr die Fotos wie ein Wunder erscheinen.
Er ging zu seinem Lager hinüber, öffnete die Tüte und nahm die Bilder aus seiner Brieftasche. Antarona berührte die Oberfläche der glänzenden Fotos und sagte ehrfürchtig:
»Es ist wie das Auge der Götter, welches Antarona oft befragt.., aber es lebt nicht...« Sebastian verstand nicht sofort, was sie damit meinte. Indem sie mit ihrer Hand vorsichtig das Bild berührte, auf dem sie beide auf der Straße vor ihrer damaligen Wohnung abgebildet waren, fragte sie: »Berge mit Fenstern.., Hütten mit Rädern.., werde ich diese Dinge einmal sehen, Ba - shtie - laug - nids?«
Allmählich dämmerte ihm, was sie in den Fotos erkannte. Berge mit Fenstern waren die Hausfronten auf dem Bild, sowie Hütten mit Rädern die Autos, die davor standen. Sie sah sich selbst in seinem Bild vor Objekten stehen, die sie nie zuvor in ihrem Leben gesehen hatte.
Langsam begriff Sebastian auch, was sie mit dem Auge der Götter meinte. In der Glaskugel, die sie am Vortag aus dem See geholt hatte, konnte sie bewegte Bilder erkennen, was wiederum er für ein biologisches und physikalisches Wunder hielt. Seine Fotos mussten für sie eine ähnliche Bedeutung haben, nämlich den Blick in die Zukunft, oder in die Gegenwart eines anderen Ortes, oder was auch immer...
Für Antarona konnten seine Fotos nur eines bedeuten: Dass es die Götter bestimmt haben, dass sie eines Tages zusammen sein würden und die Welt der Götter besuchen würden. Sie glaubte an Bilder aus der Zukunft und sie schien sie zu akzeptieren. Sebastian ließ sie bewusst in diesem Glauben. Doch er kam sich ziemlich schmutzig und gemein vor, weil er ihre Unwissenheit für sich ausnutzte, um sich ihre Liebe zu erschleichen.
Andererseits liebte Sebastian sie so sehr, dass er es nicht ertragen hätte, eine Chance vorüber ziehen zu lassen, die ihm ihre Zuneigung einbrachte. Also konnte er gut damit leben, dass die Götter ihre Liebe scheinbar vorbestimmt hatten!
»Vielleicht wirst du eines Tages diese Dinge sehen, wenn wir dorthin gehen«, beantwortete Sebastian ihre Frage. Beschwichtigend, um sie nicht zu erschrecken, fuhr er fort:
»Aber wenn dein Herz an diesen Tälern hängt, werde ich auch ebenso gut in dieser Welt mit dir bleiben, wenn du dir das wünscht. Ich verspreche dir, Antarona, ganz gleich was auch geschehen mag... Ich will deinen Weg mit dir zusammen gehen, wohin auch immer er dich führen mag.., denn ich will dich nie wieder verlieren müssen...« Sebastian fügte eine kurze Pause ein, bevor er weiter sprach. »Du weißt es nicht mehr, Antarona, doch ich hatte dich bereits einmal verloren und der Schmerz meines Herzens hatte mich fast umgebracht. Dieses Mal wird dein Weg auch der meine sein, wenn es ebenso dein Wunsch ist, wie ich es mir wünsche!«
Im Grunde bezweifelte er, dass Antarona genau verstand, was er ihr damit sagen wollte und Sebastian hatte gehofft, sie hätte ihn darüber aufgeklärt, ob sie etwas für ihn empfand. Statt dessen ließ sie eine mögliche Verbundenheit zwischen ihnen völlig offen.
Unvermittelt gab sie ihm noch einen flüchtigen Kuss, der ihm jedoch eher freundschaftlichen Charakters erschien. Gleich darauf wandte sie sich den Fellen auf ihrem Lager zu und begann sie in ein Bündel zu schnüren. Sebastians Enttäuschung stand ihm offen im Gesicht geschrieben, denn er hatte sich bereits vorgestellt, durch eine Tür zu ihrem Herzen gefunden zu haben.
Etwas niedergeschlagen nahm er sein Waschzeug aus dem Rucksack und wollte zum See hinunter gehen, um seine Morgentoilette zu verrichten.
»Wohin geht ihr, Ba - shtie?«, fragte ihn Antarona. Freundschaftlich, aber etwas distanzierter machte er ihr klar, dass er ebenfalls etwas Wasser benötige, um sich zu reinigen. Sie wies mit dem Kopf zum Eingangssaal:
»Geht nicht dort hinunter, die Sonne steht hoch und manchmal sind Torbuks Späher früh unterwegs... Kommt hier entlang, Ba - shtie.., folgt mir!« Damit nahm sie eine Fackel von der Wand und ging voran, in den äußerst rechten Stollen, den Sebastian nicht mehr untersucht hatte. Neugierig folgte er ihr.
Zunächst gingen sie gebückt durch einen natürlichen Stollen, der leicht anstieg. Nach etwa zehn Metern erreichten sie einen großen Höhlenraum, der zwei bis drei Meter tiefer gelegen war und an seiner höchsten Stelle etwa vier bis fünf Meter betrug. In der Mitte gab es ein natürliches steinernes Becken von etwa sechs Metern Durchmesser, das bis zum Rand mit kristallklarem Wasser gefüllt war.
Schon wollte Sebastian sein Waschzeug dort abstellen, da bedeutete ihm Antarona, dass dieses Wasserreservoir ausschließlich für Trinkwasser vorbehalten war. Sofort leuchtete Sebastian ein, dass dies einen besonderen Sinn machte. In dieser Höhle konnte man sogar dann noch eine Weile ausharren, wenn sie belagert wurde. Niemand würde verdursten!
Sie gingen am Wasserbecken vorbei, kletterten seitlich zwischen zwei Stalaktiten etwa drei Meter hinauf und zwängten sich durch eine Öffnung, die knapp einen Meter breit war. Dieser Durchgang entließ sie in einen sehr niedrigen Raum, in dem man sich allenfalls gebückt bewegen konnte. Ehe Sebastian sich versah, krachte er mit dem Kopf gegen einen kleinen, von der Decke gewachsenen Stalagmiten. Die Spitze des wunderschönen Gebildes brach ab und landete laut scheppernd auf dem Höhlenboden.
»Seid achtsam, Ba - shtie«, raunte ihm Antarona zu. »Es ist der Gang der steinernen Finger.., ihr müsst nach oben und nach unten sehen«, ermahnte sie ihn.
»Ja.., super.., vielen Dank...«, gab Sebastian zurück, indem er vorsichtig die Beule an seinem Kopf betastete. »Nett, dass du mich vorgewarnt hast«, fügte er noch ironisch hinzu.
Das weitere Hindurchzwängen durch kleine Felsnadeln, die sowohl von der Decke hingen, als auch auf dem Boden standen, wurde kurz darauf abgelöst von einem ziemlich unebenem Felsband, etwa gut einen Meter breit. Von Minute zu Minute nahm nun ein wildes Rauschen zu, dass sich binnen Sekunden zum ohrenbetäubenden Tosen entwickelte. Antarona führte ihn und warnte ihn rechtzeitig, denn plötzlich tat sich rechts unter ihnen ein tiefer Abgrund auf, in dem ein mächtiger Fluss im Nichts verschwand. Das war dann wohl der Gang des schlecht gelaunten Wassers!
Stellenweise bedurfte es schon einiger Akrobatik, um auf dem Felssims zu bleiben und nicht in die Tiefe zu stürzen. Und noch während Sebastian sich fragte, wie weit dieser Felsirrgarten noch gehen würde und er sich ausmalte, wie wunderbar er sich in diesem Berg verlaufen konnte, entließ sie das Felsenband in einen größeren Spalt, aus dem Tageslicht schimmerte.
Antarona löschte die Fackel und er tat es ihr nach. Dann traten sie durch den Spalt und Sebastian sperrte vor Staunen die Augen auf. Unter ihnen breitete sich ein riesiger Höhlenraum aus, der mit ein paar Steinsäulen geschmückt war. Der Boden jedoch war wie ein Schwemmboden mit feinstem Sand bedeckt, wie ihn schöner kein Strand der Welt besaß. Vermutlich wurde dieser Teil der Grotte regelmäßig vom Wasser des Sees überspült.
Sie mussten etwas klettern, um den Schwemmboden zu erreichen und Antarona ermahnte ihn, sich den Durchgangsspalt gut einzuprägen, damit er ihn für den Rückweg wieder fand. Der Sandboden zog sich durch den gesamten Höhlenraum und endete an einer glatt geschliffenen, offenen Felskante. Dahinter lag der See! Eine fast zehn Meter breite, niedrige Öffnung ließ den Betrachter von der Felskante aus einen großen Teil des Sees überblicken, als wenn man aus einer riesigen Muschel herausschaute, die sich einen Spalt geöffnet hatte.
Seine grazile Begleiterin zeigte Sebastian, wie er aus der Öffnung, durch das flache Wasser und an das Ufer des Sees gelangen konnte. Über ihnen brauste der Wasserfall herab und sie waren im Nu durchnässt. Eine prima Dusche, wenn man nichts gegen kaltes Wasser einzuwenden hatte!
Schnell wurde Sebastian klar, dass sie sich am dem Weg gegenüber liegenden Ufer des Sees befanden. Auch hier gab es einen angenehmen Sandstrand. Dahinter begann undurchdringlicher Bergwald, der sich ausgesetzt und steil bis in höhere und felsige Regionen hinauf zog.
Sogleich erkannte Sebastian den Nutzen dieser Stelle. Badete man hier und wurde vom Weg aus entdeckt, so hatte man reichlich Zeit, im Labyrinth der Höhle zu verschwinden, bevor man von möglichen Feinden erreicht werden konnte. Denn die mussten entweder die volle Breite des Sees durchschwimmen, den gesamten See umrunden, oder sich halsbrecherisch weiter oben einen Weg über den Fluss suchen, wo er über die Felskante in den See stürzte.
Im Grunde war Antaronas Höhle wie eine natürliche Festung ausgebildet, die mit wenigen Personen und mit noch weniger Aufwand verteidigt werden konnte. Immer deutlicher wurde Sebastian, weshalb sie dieses Versteck so sorgsam hütete.
Während Sebastian ausgiebig im See badete, aalte sich Antarona am Strand in der jungen Sonne. Sehr lange hielt er es allerdings nicht im Wasser aus, denn es war eisig kalt und er fror erbärmlich, als er kurz darauf wieder auf dem trockenen Schwemmboden stand.
Der Weg zurück zur Wohnhöhle kam ihm länger vor, als der Hinweg, was daran liegen mochte, dass sein Entdeckerdurst jetzt wieder ein Stück gestillt war. Dort angekommen, warf sich Antarona ihre Waffen und ihr Fellbündel über den Rücken und wies in eine dunkle Ecke:
»Wählt euch ein Schwert aus, Ba - shtie.., ihr werdet es brauchen, wenn wir Torbuks Reiter verfolgen!« Wie vom Donner gerührt stand Sebastian da. Er glaubte nicht recht gehört zu haben. War diese Frau noch ganz bei Trost?
»Ich soll was wählen..?«, fragte er entgeistert, »...wenn wir Torbuks Männern folgen... Antarona, das ist ja jetzt wohl nicht dein Ernst, oder?«
Doch! Es war ihr vollkommen Ernst damit! Zur Bestätigung erklärte sie ihm nüchtern:
»Sonnenherz wird versuchen, die Schwestern des Volkes zu befreien. Glanzauge kann mit ihr gehen, oder hier in Sicherheit bleiben. Antarona wird euch nicht böse sein, wenn ihr in der Höhle bleibt...«
Nein, natürlich nicht! Böse würde sie ihm nicht sein. Aber sie würde ihn für den Rest ihres Lebens verachten! Krampfhaft überlegte Sebastian, ob es keine andere Lösung für diese Situation gab. Er und das Krähenmädchen, zwei Figuren, ein Dorfpüppchen und ein unerfahrener Baustuckateur aus der Großstadt, konnten es doch nicht mit einer ganzen Horde brutaler, mittelalterlicher Raubritter aufnehmen! Das war paradox! Das musste sie doch einsehen! Beschwörend versuchte er Antarona von ihrer fixen Idee abzubringen:
»Also, jetzt sei doch mal vernünftig...«, begann Sebastian, »...das da draußen sind mindestens noch zwölf Mann..! Diese Typen sind echt gefährlich.., die spaßen nicht.., die können uns einfach, ohne mit der Wimper zu zucken umbringen, ist dir das eigentlich klar?« Er wartete erst gar keine Antwort von ihr ab, sondern bedrängte sie weiter:
»Hör mal, Antarona, ehrlich gesagt, ich verstehe das hier alles gar nicht.., für so etwas ist die Polizei, oder die Regierung, also der Herrscher eines Volkes zuständig! Warum musst du dich da einmischen und eine gottverdammte Heldin spielen?« Allmählich wurde Sebastian etwas sauer, denn er konnte überhaupt nicht nachvollziehen, warum sich jemand auf Biegen und Brechen auf so ein gefährliches Unternehmen einlassen wollte. Er wollte Antarona unbedingt von ihrem Vorhaben abbringen:
»Also, Antarona, nun pass mal auf, ich erzähle dir jetzt mal...« Das war alles, was Sebastian noch hervorbrachte. Sie drehte sich zu ihm um, kam langsam und bedächtig auf ihn zu und stellte sich drohend vor ihm auf:
»Ba - shtie - laug - nids.., nun hört ihr einmal zu!«, sagte sie bestimmt und in gefährlich leisem Ton. »Was redet ihr da von Regierung und von umbringen..? Was sollen die Töchter des Volkes sagen, die in Torbuks Lagern gefangen sind und nur noch den Tod als Erlösung herbeisehnen? Habt ihr des Wasserbauern Tochter schon vergessen, Ba - shtie, ja..? Habt ihr ihre Augen und ihren tränenden Leib so schnell vergessen?« Antarona ließ ihre Worte eine Weile wirken und sah ihm nur starr in die Augen.
Als Sebastian peinlich ihrem Blick ausweichen wollte, sprang sie auf einem Mal vor und krallte ihre Hände in seinem Nacken fest. Dann zog sie sich selbst aufreizend langsam zu ihm heran, schlang ihre Arme um seinen Hals und fing an, ihn leidenschaftlich zu küssen...
Von einer Sekunde zur anderen wusste Sebastian nicht mehr, wie ihm geschah. Sie hatte ihn völlig überrumpelt. Wie eine Klette hing ihr warmer Körper an ihm und in ihrem plötzlichen Gefühlsausbruch drohten ihm augenblicklich die Sinne zu versagen. Gerade wollte Sebastian seinerseits seine Arme um sie legen, da schnellte sie wieder wie von einer Feder getrieben zurück. Nach Atem ringend stand sie vor ihm und ihre Augen sprühten unsichtbare Funken. Demonstrativ fuhr sie sich mit der Hand über ihren Mund und wischte die Handfläche anschließend an ihrem Bauch ab:
»Das wolltet ihr doch.., Ba - shtie - laug - nids.., nicht wahr..?«, fauchte sie, »...genau das war euer Wunsch, von da an, wo ich euch am See fand.., habe ich recht?« Etwas beruhigter setzte sie ihre Standpauke fort:
»Ja, Ba - shtie.., das wollen alle Männer in unseren Tälern! Sie lieben die lachenden Augen, die duftende, mit Mondkraut eingeriebene, feuchte, glatte Haut und den warmen, weichen Schoß der Töchter unseres Volkes.., sie begehren sie, wollen ihren Rausch fühlen, in den kalten und einsamen Nächten.., genau so wie ihr Antarona begehrt!« Betreten und ertappt hörte Sebastian ihr zu, während sie jede Möglichkeit ausschöpfte, ihm ins Gewissen zu reden:
»Aber die Lager der Männer bleiben kalt und leer in den langen Nächten! Viele Töchter des Volkes haben Augen ohne Leben, Augen, die nie mehr lachen.., sie schämen sich für die Narben ihrer Haut, welche wie die Rinde der großen Bäume sind. Sie sind tot in ihrem Herzen und in ihrem Schoß, oder sie tragen die böse Frucht Quaronas in ihrem Leib, was schlimmer ist, als der Tod!« Antaronas Stimme begann zu beben, sie sprach weiter und es klang, als steigere sie sich in eine Hysterie hinein, als schrie ihr Herz selbst ihm die Worte ins Gesicht:
»Glaubt mir, Ba - shtie, wir fühlen und wünschen ebenso, wir Töchter und Schwestern vom Volk Volossodas und der Götter der Sonne, des Wassers, der Erde und des Windes... Oh ja, Ba - shtie - laug - nids.., das könnt ihr mir glauben... Wir sehnen uns ebenso nach Liebe, nach der starken Hand eines Mannes, nach den schützenden Armen, die uns umfangen, in die wir uns voller Vertrauen fallen lassen, um sanfte Zärtlichkeit zu empfangen, mit einem neuen Leben der Liebe in unserem Leib... Unser Herz sucht verzweifelt nach Liebe, nach Trost und nach einem starken Körper, an dem wir uns wärmen und anlehnen können...« Sie machte eine kurze Pause und beobachtete, wie ihre Worte auf Sebastian wirkten, bevor sie mit krampfhaft unterdrückten Tränen fort fuhr:
»Denkt ihr, die Männer des Volkes wollen ihr Lager mit Frauen teilen, die in ihrem Geist tot sind und niemals mehr lachen können, die faulende, speiende Wundmale am Körper tragen, die bereits ein böses Herz unter ihrem Herzen schlagen hören? Glaubt ihr die Töchter und Schwestern des Volkes können jemals wieder die Hand eines Mannes auf ihrer Haut ertragen, wenn Torbuk und Kareks Reiter sie so zugerichtet haben, wie des Wasserbauern Erstgeborene? Denkt ihr das.., Ba - shtie.., ja, denkt ihr das wirklich?« Zitternd griff Antarona nach Sebastians Arm und schüttelte ihn:
Seht mich an, Ba - shtie - laug - nids.., schaut mich ganz genau an...«, in einer einzigen Bewegung riss sie sich das bisschen Leder ihrer Kleidung vom Leib, bis sie völlig nackt vor ihm stand und sagte: »Seht in meine Augen, seht auf meine Brüste, seht meinen Bauch, saugt den Duft meiner Haut in euch auf, und erblickt meinen Schoß... Liebt ihr das, Mann von den Göttern.., ja, habt ihr Sehnsucht danach, begehrt ihr das so sehr..? Dann denkt an das Mädchen in der Hütte des Wasserbauern, denkt ganz fest an sie, bis ihr sie vor euren Augen seht! Erinnert euch an die Zeichen der Grausamkeiten auf ihrem Leib, erinnert euch an ihren Blick, an ihre Augen, aus denen alles Leben fort gegangen ist...« Kraftlos ließ Antarona ihre Arme fallen und sah Sebastian beinahe hilflos an:
»Darum, Glanzauge..! Weil das so ist und weil unser Herrscher, König Bental, selbst ein Gefangener in Falméra ist und machtlos ist.., darum wird Sonnenherz den Reitern folgen und die Schwestern befreien, wenn sie noch des Lebens sind. Ihr könnt mit mir gehen, Ba - shtie, oder ihr könnt euren eigenen Weg gehen, ihr müsst tun, was euer Herz euch sagt... Aber geht ihr mit Antarona, so seid bereit, denen ohne Gnade das Leben zu nehmen, die es selbst mit ihren schwarzen Stiefeln treten!«
Sebastian musste ein paar mal schlucken und tief durchatmen. Während Antarona wieder ihre Kleidung anlegte, stand er verschämt da, wie ein kleiner Schuljunge, der seiner Lehrerin einen Streich gespielt hatte und dabei ertappt wurde. Doch lange überlegen brauchte er nicht!
Antarona würde sich auf gar keinen Fall von ihrem Vorhaben abhalten lassen, das wusste er nun. Die einzige Möglichkeit, bei ihr zu bleiben, bestand offenbar darin, sie gewähren zu lassen, ihr den Rücken zu decken und sie zu beschützen. Sebastian würde Menschen töten müssen, um das gewährleisten zu können! So richtig war ihm das noch nicht klar geworden und er hoffte nach wie vor, dass sich noch ein anderer Ausweg finden ließ.
Andererseits war seine Liebe zu diesem Krähenmädchen so groß, dass er auch das Schlimmste in Kauf nehmen wollte, um bei ihr sein zu dürfen. Entschlossen ging er auf sie zu, nahm ihre Hände in die seinen und hörte sich sagen:
»Antarona, was immer auch geschieht.., meine Füße werden an deiner Seite gehen und dein Weg wird auch meiner sein!«
Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, ging er in die Ecke, wo die Waffen lagen und sah sich kurz um. Die halbverrosteten Schwerter waren sämtlich zu schwer für seinen Arm. Er konnte sie nicht einmal anheben, geschweige denn, einem Gegner damit auf den Kopf schlagen. Bei dieser Gelegenheit lernte Sebastian, inwieweit Ritterfilme im Fernsehen realistisch waren...
Letztlich entschied er sich für eine Art Kurzschwert. Das Ding war noch nicht allzu stark oxydiert, Griff und Klinge waren aus einem Stück geschmiedet und das Griffstück war mit festem Leder und einem Metallgeflecht umwickelt. Dazu fand Sebastian eine schäbige, lederne Scheide, die er sich, ähnlich wie Antarona, über den Rücken hängen konnte.
Weiter nahm Sebastian seine beiden Bowiemesser mit, die er sich am Gürtel befestigte, sowie eine bunte Reepschnur, die Antarona sofort aus den Augenwinkeln heraus bestaunte. Einen weichen Pullover band er sich noch an den Schlafsack, den er sich ebenfalls um die Schulter hängte.
Sehnsüchtig warf Sebastian einen heimlichen Blick zurück auf ihr Lager. Wo sie in der kommenden Nacht sein würden, war ungewiss...
Zunächst folgten sie dem Ufer des Sees. Sie hatten ungefähr die Stelle erreicht, an welcher Antarona Sebastian gestern beim Speerfischen überrascht hatte, als unverhofft ihre beiden Krähen auf der Bildfläche erschienen. Aus dem Nichts kamen sie plötzlich daher geflogen und ließen sich auf ihren Schultern nieder. Sie ließen wieder ihr Kroooh, krooh erklingen und Antarona schien ihnen zuzuhören.
Das Ende des Sees gelangte bereits in Sichtweite, da lichtete sich der Wald und übergab sumpfigen Weiden das Gelände. Der gut ausgebaute Weg indes schien gut einen Kilometer weiter, am Fuße der südlichen, hohen Gebirgskette zu verlaufen. Wahrscheinlich wurden die Feuchtwiesen bei Hochwasser vom See überflutet, so dass man den Weg weit genug davon entfernt angelegt hatte.
Antarona zog ihre Beinlinge aus und Sebastian hängte sich seine Stiefel an den Schnürbändern um den Hals. Stellenweise wateten sie knietief durch den Schlamm. Ständig musste Basti seine Hose hochziehen, weil sie nach drei Schritten wieder nach unten rutschte. Irgendwann waren die Hosenbeine durchnässt und er gab sein Vorhaben auf, sie aus dem Morast heraushalten zu wollen.
»Antarona, warum haben wir nicht den Weg am anderen Seeufer gewählt, wo kein Sumpf das Gehen behindert?«, wollte Sebastian wissen. Seine Gefährtin wies auf die gegenüberliegende Seite des Sees und auf einen monumentalen Felsriegel, über den ein weiterer Bach über dreißig bis vierzig Meter in den See stürzte.
»Seht ihr den Wasserfall und die Felsen, Ba - shtie..? Wir wären noch nicht darüber hinweg, bevor die Sonne am höchsten steht«, erklärte sie ihm. »Wir müssen schnell sein, denn Torbuks Reiter sind bereits aufgebrochen...«
Erstaunt fragte er sie: »Woher willst du wissen, dass die nicht längst über alle Berge sind? Die haben immerhin Pferde, während wir zu Fuß gehen... Wer sagt dir eigentlich, dass wir sie noch einholen können?«
»Antarona weiß es«, antwortete sie ohne zu überlegen. Als Sebastian ungläubig den Kopf schüttelte, fügte sie erklärend hinzu:
»Torbuks Pferdesoldaten haben in den Wäldern von Mittelau gelagert. Sie haben immer viel Mestas und Mestastan dabei. Sie trinken die ganze Nacht, bis sie nicht mehr wissen, was sie tun. Oft tun sie dann den Töchtern des Volkes schreckliche Dinge an, bevor sie so tief schlafen, dass selbst der Schrei eines Gors sie nicht aufwecken kann. Sie wachen erst auf, wenn die Sonne lange ihren Lauf begonnen hat. Ihre Köpfe sind dann so schwer, dass sie mit den Gefangenen nur langsam voran kommen.«
Die Wirkung von Mestas hatte Sebastian bereits zu spüren bekommen. Balmer und der Doktor hatten zudem ein Paradebeispiel dafür abgegeben, wie lange dieses Zeug Wirkung zeigte. Doch er machte sich da nichts vor... Wenn diese raubeinigen Reiter einen ähnlichen Rauschzustand erreichten, wie das bei Sebastian schon nach einem Becher der Fall gewesen war, dann mussten die gefangenen Frauen und Mädchen in der letzten Nacht die Hölle auf Erden erlebt haben!
»Ist Mittelau ein Dorf... Und sag mal, Antarona, woher willst du wissen, wo sich die wilden Reiter Torbuks jetzt befinden...«, wollte Basti von ihr wissen. Er hatte noch viel mehr Fragen. So unendlich viele Fragen brannten ihm auf der Seele, dass es wohl Tage dauern mochte, wenn sie ihm alle beantworten wollte.
Antarona blieb kurz stehen und wies in die Richtung, aus der sie gekommen waren: »Es gibt so viel Dörfer in unseren Tälern, wie Finger an einer Hand«, klärte sie ihn umständlich auf. »Das erste Dorf, das ihr gesehen habt, wenn ihr von Väterchen Balmer gekommen seid, ist Imflüh. Dort und im nächsten Dorf Fallwasser lebt das Volk vom Vieh, von der Jagd und vom Holz, das sie von den Bergen holen, so wie mein Vater. Das Dorf Zumweyer habt ihr gestern kennen gelernt, Ba - shtie. Die Menschen dort züchten Vieh auf den Weiden und Fische in den Teichen. Die Dörfer Mittelau und Breitenthal liefern den Tälern Holz, Lehm, und die glänzenden Steine, die sie aus den Gängen der Berge holen, um aus ihnen Waffen zu schmieden.«
»Und was ist mit den wilden Horden Torbuks...«, bohrte Sebastian noch mal nach, »...wie willst du die finden?«
Antarona setzte eine traurige, fast verzweifelte Mine auf und sprach: »Wir werden ihrer Fährte folgen, Ba - shtie.« Mit kraftloser Stimme erklärte sie in Rätseln: »Sie werden ihre Spuren hinterlassen, denen nicht schwer zu folgen ist. Ba - shtie, ihr werdet euch wünschen, die Spuren der Reiter nie gesehen zu haben.., ihr werdet sie nie wieder vergessen!«
Diese Prophezeihung verstand er noch nicht, aber es sollte nicht lange dauern, da sollte sie sich Sebastian in all ihrer schrecklichen, schonungslosen Grausamkeit einprägen...
Seit ihrem Aufbruch bei der Höhle war etwa eine Stunde vergangen, als sie wieder in dichteren Wald eintraten. Der See verbreiterte sich auf der anderen Seite noch einmal und griff mit einem ausgedehnten, runden Seitenarm weit in die Wälder und Berge hinein. Gleichzeitig aber war sein Ende bereits auszumachen.
Mit zerklüfteten Felsstufen fiel das Tal etwas steiler ab. In tosenden, brausenden Stromschnellen und kleinen Wasserfällen bahnte sich der Fluss seinen Weg durch den gebrochenen Felsriegel. Das Gelände in der Nähe des Flusses wurde unwegsam.
Sie gingen auf dem ausgebauten Weg weiter, der die Wildwasser in einer weiten Kehre umrundete. Nach Süden hin taten sich Wiesen auf, die wie Schneisen weit in die dichten Wälder hineinreichten und sich bisweilen auf die höher gelegenen Hänge der Berge hinaufzogen. An einer dieser Schneisen stießen sie auf eine erste deutliche Fährte der schwarzen Reiter und plötzlich verstand Sebastian, was Antarona damit gemeint hatte, zu wünschen, solche Spuren nie sehen zu müssen...
Auf dem trockenen Gras der Weide, nicht weit vom Weg entfernt, hatte die wilde Horde ihr Nachtlager aufgeschlagen. Der Boden war von unzähligen Hufen zertrampelt. Mindestens sechs Feuerstellen hatten die Reiter unterhalten und aus einigen kräuselten sich noch kleine Rauchsäulen in den Himmel.
Antarona und Sebastian suchten das verlassene Lager nach Spuren ab und was sie fanden, war an Grausigkeit kaum mehr zu überbieten. An einer Feuerstelle fanden sie die Leiche einer Frau, deren Oberkörper in der noch glimmenden Glut lag und bis zur Unkenntlichkeit verkohlt war. An ihrem Unterleib und den Beinen konnte man erkennen, dass sie noch ziemlich jung gewesen sein musste. Sie war unbekleidet und trug an beiden Füßen einen zierlichen Schmuck aus rosa und weißen Muscheln.
Die Innenseiten ihrer Beine waren aufgescheuert und es stand außer Frage, was ihr in der Nacht widerfahren war. Ein so abstoßender Geruch nach verbrannter Haut und versengtem Haar lag über dem Lager, dass Sebastians Magen rebellierte und er sich rasch abwenden musste.
Stumm ließ sich Antarona vor dem Mädchen auf die Knie sinken und scheuchte einen Pulk Fliegen fort, der bereits über die Tote hergefallen war. Dann versuchte sie die Fußgelenke der Frau zu fassen, um sie aus der Glut zu ziehen. Doch ihre Hände fuhren nur hilflos und fahrig durch die Luft, denn sie wusste nicht, wo sie anfassen sollte und fürchtete zudem den Anblick, den die Glut preisgeben würde.
Antarona nahm dem Mädchen den Fußschmuck von den zierlichen Füßen, verbarg ihn in ihren kleinen Fäusten und schlug sie sich vor das Gesicht. Dann begann sie hemmungslos zu weinen und schluchzend wiegte sie ihren Oberkörper von innerem Schmerz getrieben, auf und ab. Ein Zittern und Beben durchfuhr ihren schlanken Leib, als würde sie sogleich auseinander brechen. Sebastian fasste sie an den Schultern und wollte sie von dem toten Mädchen fortziehen, doch sie reagierte nicht. Erst mit Gewalt ließ sie sich hochziehen und von ihm zu einem kleinen Felsen führen, wo er sie hinsetzte.
Unter Tränen öffnete Antarona die Hände. Ihre Handflächen bluteten, denn sie hatte den Schmuck so fest umklammert, dass ihr die kleinen Muscheln in die Haut schnitten.
»Antarona kannte dieses Mädchen...«, begann sie stockend, »...sie ist eine Tochter aus Zumweyer.., wir waren einmal zusammen am Meer und haben die Elsiren besucht...« Wie zum Beweis hielt sie Sebastian mit blutigen Händen den zarten Muschelschmuck entgegen. Ihre Hände schlossen sich wieder zu Fäusten und sie schlug sich damit immer wieder, wie von Sinnen vor die Brust, bis Basti ihre Arme fest hielt.
Er kannte dieses Mädchen nicht, doch er spürte Antaronas Schmerz. So genau konnte Sebastian nachempfinden, was seine Gefährtin fühlte, dass es ihm vorkam, als schlug ihr Herz in seiner Brust. Er versuchte sein Krähenmädchen zu trösten, doch in seiner Unsicherheit und der eigenen Schockiertheit stellte sich Sebastian dabei ziemlich unbeholfen an.
Nach einer Weile saß Antarona nur noch da, stumm und reglos, ihr leerer Blick schien sich wie in einer weiten Ferne zu verlieren. Tränen rollten aus ihren leblos wirkenden Augen, wie, wenn Seen bis auf den letzten Tropfen Wasser leer liefen.
»Kann ich dich einen Moment allein lassen...«, fragte Sebastian sie behutsam, »...ich will mal nachsehen, ob ich noch etwas finde...«
Mit Tränen unterlaufenem, trauerndem Blick sah sie ihn an. Sie nickte nur stumm und fiel wieder in die weite Leere, in die sie sich für den Moment flüchtete.
Aufmerksam suchte Sebastian das Lager ab und fand einen Becher, der nach Alkohol roch, mehrere winzige Bekleidungsstücke aus Leder, wie sie auch Antarona trug, sowie einen groben Rock, den er bei älteren Frauen gesehen hatte. In einer kleinen Grassenke zwischen den Feuerstellen fand er Blut. Es klebte am Gras und an einem kleinen Stein. Eine feine Blut- und Schleifspur zog sich durch das Gras in Richtung Wald.
Auf alles gefasst zog Sebastian sein neues Schwert und folgte vorsichtig der Fährte. Er tippte auf ein wildes Tier, einen Fuchs vielleicht, der ein im Dorf von den Reitern erbeutetes Huhn aus dem Lager fortgeschleppt hatte. Doch wirklich überzeugt war er davon nicht und eigentlich wollte er sich mit dieser Erklärung nur beruhigen!
Sebastian gelangte an den Waldrand und zu einem großen Felsen, der ähnlich einem Grenzstein zwischen Wald und Wiese lag und wie absichtlich dort hin gesetzt aussah. Blut fand sich auch an der Felskante, während die Spur um den Stein herum in den Wald führte. Ein Stück weiter stak eine ausgebrannte Fackel im Waldboden. Sie war bereits kalt. Sebastian vergaß das wilde Tier und vermutete das Schlimmste. Dann blickte er zur Seite und erstarrte...
Dort stand ein einzelner Baum, dessen Stamm sich schon kurz über dem Boden verzweigte und in zwei dünneren Stämmen in den Himmel wuchs. An diesem verzweigten Baum hing, an den Hand- und Fußgelenken mit Lederschnüren angebunden, eine jüngere schlanke Frau.
Ihr Alter schätzte Sebastian auf etwa zwanzig bis dreißig Jahre. Ihre schwarzen Haare hingen ihr wirr in das Gesicht, das blutig daraus hervorlugte. Die Reste einer weißen Bluse aus grobem Stoff hingen ihr in Fetzen von den Schultern und ihr entblößter Unterleib, sowie ihre Beine waren ebenfalls mit verkrustetem Blut verschmiert und von dunklen Flecken übersät, die nur von festen Schlägen, oder starkem Druck herrühren konnten.
Um den Hals trug die Frau eine kräftige Lederschnur, an der neben verschiedenfarbigen, durchlöcherten Steinchen die schwarze Kralle eines offenbar sehr großen Tieres baumelte. Ein passendes Band mit kleinen Steinen trug sie auch um ein Handgelenk. Es war blutig, denn die Fesseln hatten sich tief in die Haut geschnitten.
Wie vom Donner gerührt stand Sebastian da, erst einmal zu keiner Regung fähig. Wie verroht musste ein Mann sein, einer Frau so etwas Schlimmes anzutun? Heftig schüttelte Basti seinen Kopf, in der Hoffnung, aus einem bösen Alptraum zu erwachen, der mit jeder Stunde grausamer zu werden schien. Doch es gab kein Entrinnen und er musste unwillkürlich daran denken, wie Antarona sich in der Höhle vor ihm entblößte, um ihm deutlich zu machen, was Frauen und Mädchen hierzulande jederzeit durch Torbuk und seine Schergen einbüßen konnten. Allein die Vorstellung, sein geliebtes Krähenmädchen konnte eines Tages so an einen Baum gebunden sterben, brachte Sebastian schlicht um den Verstand.
Er zwang sich selbst aus seinen Gedanken und zog sein Bowiemesser aus dem Gürtel, um die Frau vom Baum los zu schneiden. Als Sebastian die Fesseln mit der Klinge berührte, riss sie plötzlich die Augen auf und sah ihn mit weit aufgerissenem, entsetztem Blick an. Wie zu einem Schrei öffnete sie weit ihren Mund, brachte jedoch keinen Ton hervor.
Da Sebastian nicht damit gerechnet hatte, dass sie noch am Leben war, fuhr ihm ein solcher Schreck durch die Glieder, dass er nach hinten stolperte und der Länge nach rückwärts auf den Waldboden schlug. Nachdem er seine Angst überwunden hatte, trat er zu der Frau an den Baum und versuchte sie zu beruhigen, während er ihre Fesseln durchschnitt. Sebastian redete sie in ruhigem Ton an, doch sie reagierte gar nicht. Statt dessen murmelte sie etwas in dieser Sprache, deren Laute immer noch fremd in seinen Ohren klangen.
Indem er ihre letzte Fessel löste, wollte er sie auffangen, damit sie nicht einfach umfiel. Obwohl sie ziemlich schlank war und nicht allzu viel wiegen konnte, glitt sie Sebastian einfach aus den Händen und sank zu Boden, ohne dass er es verhindern konnte. Er war überrascht, wie schwer und unhandlich ein kraftloser Mensch selbst dann noch war, wenn er eine eher kleine Statur besaß.
Vorsichtig bettete er die Frau auf den Waldboden, zog sein T- Shirt aus und bedeckte damit behutsam ihre Blöße. Rasch scharrte Sebastian etwas Laub zusammen und schob es ihr unter den Kopf. Als er ihre offene Bluse zusammenziehen und schließen wollte, hob sie in panischer Angst und mit gehetztem Blick ihre blutigen Hände, als wollte sie ein böses Monster abwehren. Sie warf wie im Wahn wild ihren Kopf hin und her und stammelte irgendwelche Worte in ihrer Sprache. Sanft strich ihr Sebastian die verklebten Haare aus dem Gesicht und versuchte sie zu trösten.
Hilflos blickte er umher, suchte nach etwas, womit er ihr ihre Lage etwas hätte erleichtern können. Auf einem Mal war sie still. Sofort wandte er sich zu ihr um... Und blickte in starre Augen. Ihr Mund war noch halb geöffnet. Sie bewegte sich nicht mehr. Mit zitternder Hand hielt ihr Sebastian die Klinge seines Bowiemessers vor den Mund. Kein Hauch mehr ließ die kalte Klinge beschlagen. Die Frau war von ihrem Martyrium erlöst.
Betroffen hockte Basti vor ihrem geschundenen Körper. Vermutlich erlitt sie einen Herzstillstand, weil sie in Panik geriet. Möglicherweise glaubte sie, wieder vergewaltigt zu werden. Was diese Frau erlebt hatte, konnte sich Sebastian in seiner schlimmsten Phantasie nicht vorstellen. Jedenfalls musste es so schrecklich gewesen sein, dass sie sich lieber in den Tod flüchtete, als es noch einmal erleben zu müssen. Die Hoffnung, dass jemand kam und ihr helfen würde, besaß sie nicht mehr.
Zitternd und frierend schnitt er ihr die Halskette und das Armband ab, das einzige, womit man sie später hätte identifizieren können. Wie benommen suchte Sebastian den Waldboden nach Steinen ab und schichtete sie über ihrem Leichnam auf. Wenn sie schon niemand vor der Grausamkeit der Menschen beschützen konnte, so sollte sie wenigstens vor den Tieren des Waldes sicher sein. Ein Stück neben dem Baum, an den die Frau gefesselt war, fand Sebastian etwas Metallisches. Es war eine kleine, gewölbte Metallscheibe, auf die das Symbol geprägt war, das er bereits als Medaillon dem Skelett oben in den Bergen abgenommen hatte und das die schwarzen Reiter auf ihren Hemden trugen.
Völlig traumatisiert verließ er den Ort des Grauens. Seine größte Sorge galt nun Antarona. Überall sah Sebastian jetzt eine Gefahr für sie. Und immer wieder klangen ihre Worte durch seinen Kopf, die sie sprach, als sie in der Hütte des Wasserbauern standen... Das - tun - sie - mit - uns!
Noch nicht ganz klar im Kopf ging er um den großen Felsen herum und schrak erneut zusammen. Doch er beruhigte sich gleich wieder. Antarona stand vor ihm, einen fragenden Blick in den Augen. Sebastian brachte keinen Ton heraus, zeigte ihr nur stumm den Schmuck der jungen Frau und die Metallscheibe. Antarona verstand sofort und wollte an ihm vorbei in den Wald gehen. Doch Sebastian hielt sie sanft zurück:
»Bleib hier, da gibt es nichts mehr zu tun.« Sie sah ihn fragend an und er erklärte ihr: »Die Tiere werden nicht an sie heran kommen.., komm.., gehen wir!« Damit nahm er sie in den Arm und führte sie zurück auf die Wiese. Antarona hatte bereits den leblosen Körper ihrer Freundin mit Steinen bedeckt. Zwischen zwei Steinen am Ende des Grabhügels steckte eine Bussardfeder. Es war eine der Federn, die Antarona in ihren langen schwarzen Haaren getragen hatte.
Leise und verhalten, wie ein Gebet, klangen die Stimmen der Vögel, als spürten auch sie, welch trauriges und erschütterndes Ereignis diese friedliche Wiese in ein stilles Grab verwandelt hatte. Der Wind bewegte sanft die Gräser und strich über die Trostlosigkeit, die sich über dem verlassenen Lager ausbreitete, als wollte er die beiden Töchter des Volkes mit sich nehmen, in ein wärmeres, friedlicheres, glücklicheres Reich, in dem ihre Seelen Ruhe finden konnten.
Schweigend nahmen Sebastian und Antarona ihre Bündel auf und verließen den bedrückenden Platz. Es gab an diesem Ort nichts mehr zu tun. Was es zu tun gab, würde an einer anderen Stelle ausgetragen werden! Das wussten sie beide, ohne auch nur ein einziges Wort darüber zu verlieren. Zwei Herzen dachten und fühlten plötzlich wie eines!
Nach diesem ernüchternden Beispiel dessen, was dieser Torbuk und sein Sohn Karek diesem Land aufbürdeten, folgten sie weiter dem Weg. Ab und zu kamen Antaronas Krähen herangeflattert, krächzten ihrer menschlichen Freundin etwas ins Ohr und schwebten dann wieder elegant davon.
Ein wenig wunderte sich Sebastian, dass so wenige Menschen auf einem so gut ausgebauten Weg unterwegs waren. Anscheinend lag das daran, dass momentan das blanke Grauen ungehemmt durch diese Täler zog.
»Gibt es eigentlich noch andere Täler, in denen die wilden Horden Frauen gefangen nehmen?«, fragte Sebastian Antarona nach einer Weile. Ihre Antwort klang wenig hoffnungsvoll, was eine zukünftig mögliche Abwehr gegen solche Raubzüge betraf:
»In den Tälern der hoch stehenden Sonne jenseits der Sümpfe, wo das Meer ist...« Antarona überlegte kurz, bevor sie weiter sprach:
»Dorthin ziehen die Reiter oft viele Tage lang und bringen Frauen und Männer. Manchmal nehmen sie auch Elsiren gefangen, an denen sich die Reitersoldaten berauschen. Was sie mit den Töchtern der Täler tun, habt ihr gesehen, Ba - shtie! Manchmal kommen viele Reiter, mehr als zwei Hände voll... Die holen die Männer. Die sie nicht auf dem Weg töten, werden in die Täler der schlafenden Sonne gebracht, wo es kalt ist. Dort müssen sie für Torbuk die glänzenden Steine und die Tränen der Götter aus den Bergen holen. Manchmal kommt ein Sohn zurück.., über die Berge.., wenn er fliehen konnte.., Doch die zurückkehren, sind krank und alt und können nicht mehr arbeiten...«
Was Antarona berichtete, war wenig ermutigend. Offenbar praktizierte man in diesen Tälern ganz offen und ungehindert eine Art von mittelalterlicher Sklaverei. Das Volk indes war so sehr geschwächt, dass es sich kaum mehr dagegen auflehnte... Bis auf einige wenige, wie Antarona! Sie schien augenblicklich die einzige zu sein, die sich berufen fühlte, effektiv etwas an der Situation zu ändern. Dabei hatte Sebastian wieder das Bild vom Vortag vor Augen, als die Männer des Dorfes tatenlos zusahen, wie ihre Frauen und Töchter verschleppt wurden. Und ähnliches hatte ihm schon Högi Balmer berichtet...
Antarona unterbrach seine Gedanken. Sie fasste sein Handgelenk und zog ihn in das Unterholz links des Weges. Sie verbargen ihre Körper im gefallenen Laub und Antarona bedeutete ihm, mucksmäuschenstill zu sein. Für jemanden, der den Weg herauf kam, waren sie beide nahezu unsichtbar. Dennoch umfasste Sebastians Hand krampfhaft den Griff seiner neuen Waffe.
»Wieder ein schwarzer Reiter?«, fragte Sebastian flüsternd. Antarona zeigte ihm mit einer stillen Geste, zwei sich hin und her bewegenden Fingern auf einer Handfläche, dass sie eher mit Fußgängern zu rechnen hatten. Erwartungsgemäß hörten sie bald Stimmen, die sich nur langsam näherten.
In sorgloser Selbstsicherheit kamen zwei junge Männer den Weg herauf. Sie unterhielten sich laut plappernd und lachend, als könnte kein Wölkchen die friedliche Stille der Wälder trüben. Ihre offensichtliche Leichtsinnigkeit rang Sebastians Gesicht ein respektvolles Staunen ab.
Die beiden unbedarften Weggefährten konnten unterschiedlicher nicht sein. Sie machten einen unerfahrenen, jungenhaften Eindruck und konnten in der Tat nicht mehr als siebzehn oder achtzehn Jahre zählen. Beide waren ungefähr gleich groß und doch schien einer, der den anderen mit wilden Gesten und lautem Reden zu beeindrucken suchte, unwesentlich kleiner zu sein. Sein etwas wippender, gebeugter Gang täuschte jedoch möglicherweise darüber hinweg, dass er mit aufrechtem Rückgrat tatsächlich größer war.
Seine schlacksige, lässige Gangart, sich mit baumelnden Armen fort zu bewegen, die Sebastian ein wenig an einen Orang Utan, oder einen Bergtroll erinnerte, ließ auf ein lockeres, unbekümmertes, ja schon übermütiges Wesen schließen. Lustige, graublau leuchtende Augen und ein breiter, etwas feminin geschwungener Mund, der ständig aus einem offenen Gesicht lachte, unterstrichen noch den augenscheinlich lebensfrohen Charakter, der nichts wirklich ernst zu nehmen schien.
Das kurz geschnittene, aschblonde Haar auf seinem Haupt ließ seinen Kopf etwas kantig wirken, was aber wegen seiner großen, schlanken Statur mit den breiten Schultern nicht weiter auffiel. Sein ganzes Wesen lebte von einer ausschweifenden, lebendigen Körpersprache, ebenso seine Art sich verbal auszudrücken, indem er seine Worte mit allerlei imitierten Geräuschen zu würzen wusste.
Sein Begleiter, der wohl eher Ruhigere, mehr in sich Gekehrte von beiden, erweckte um so mehr den Eindruck von Stolz und Würde, aber auch von einer inneren Rastlosigkeit. Sein dunkles, fast schwarzes, leicht gewelltes Haar gab seinem schmalen, und überlegen wirkenden Antlitz ein unergründliches, dennoch reifes und selbstkritisches Wesen. Sein zurückhaltendes, aber entwaffnendes Lächeln bescherte ihm einen geheimnisvollen Charme, der sicher viele Frauenherzen im Sturm erobern konnte. Mit einem athletisch schlanken, hoch gewachsenen Körper wirkte er wesentlich hagerer und jünger, als sein Gefährte, strahlte aber dennoch eine größere Integrität und Zuverlässigkeit aus.
Intelligente, dunkle Augen ließen Scharfsinn und Sensibilität zugleich erkennen. Sein Gang war erhoben und aufrecht. Er wirkte auf den ersten Blick etwas steif, wie der eines Mannes, der sich von seiner inneren Überzeugung selten abbringen ließ. Doch sein ausgeglichener, fließender Gang zeugte von einer unglaublichen Elastizität seines Körpers.
Der trolligere der beiden Gefährten, trug eine Armbrust, die er sich achtlos über den breiten Rücken gehängt hatte. Sein Freund war offenbar ohne jede Waffe unterwegs. Er hatte sich lediglich einen dunkel gefärbten Lederbeutel über die schmale Schulter gehängt, aus der die Enden mehrerer vier bis fünf Zentimeter starker, gerader Knüppel ragten.
»Antarona kennt diese beiden, sie sind zwei Brüder aus dem Dorf Mittelau«, raunte ihm seine Gefährtin in sein Ohr. Als er schon aus ihrem Versteck kriechen wollte, hielt sie ihn zurück:
»Wartet, Ba - shtie, wir wollen sehen, ob ihnen jemand folgt..!« Sie blieben unsichtbar, warteten und beobachteten. Die Zwei trotteten vorüber und waren guter Dinge. Sie redeten in der Sprache des Volkes und Sebastian konnte nur vermuten, worum es ging. Der redseligere von beiden versuchte dem anderen offenbar etwas zu erklären. Er unterstrich seine Ausführungen mit euphorischen Gebärden. Der Dunklere quittierte die sehr anschauliche Rede seines Bruders mit einem skeptischen Lächeln. Von den Gräueltaten der schwarzen Reiter hatten sie anscheinend keine Ahnung. Vermutlich wussten sie nicht einmal, dass der Trupp von Torbuks Männern durch das Tal geritten war.
Die Brüder waren bereits einige Meter an Sebastian und Antarona vorbei gegangen, da gab Antarona das Zeichen, indem sie Basti mit dem Ellenbogen anstieß. Sofort trat Sebastian hinter den beiden aus dem Unterholz und rief sie an:
»Hallo, ihr da.., wartet mal..!« Die beiden erschraken dermaßen, dass sie einen Riesensatz vorwärts machten und sich augenblicklich dort, wo sie gerade standen, in den Straßenstaub fallen ließen. Den Bruchteil einer Sekunde später lagen sie nebeneinander auf dem Bauch, das Gesicht im Sand und streckten ihre Arme und Beine weit von sich.
Von Weitem erkannte man nur zwei große Kreuze, die jemand auf den Weg geworfen hatte. Wie sie so da lagen, ähnelten sie sehr zwei von einem Auto platt gefahrenen Fröschen während der Krötenwanderung. Sebastian rief sie noch einmal an, doch sie blieben liegen, wo sie sich hatten fallen lassen. Inzwischen war auch Antarona aus dem Dickicht hervorgetreten.
»Was für zwei komische Vögel sind das denn..?«, fragte Sebastian sie belustigt. »Also, so welche, wie die beiden gibt es doch gar nicht!«, fuhr er fassungslos fort, nachdem sich die Brüder noch immer nicht rührten. Fast konnte man meinen, sie wären gleichzeitig vom Blitz erschlagen worden.
Schließlich sagte Antarona etwas in ihrer Sprache und sie lösten sich allmählich aus ihrer Starrheit. Umständlich erhoben sie sich und klopften sich den Straßenstaub aus den Kleidern. Dann erst schienen sie das Krähenmädchen zu erkennen und ihre Minen hellten sich deutlich auf. Antarona sprach zu ihnen und wies gleichzeitig auf Basti. Was hätte er darum gegeben, in diesem Moment die Sprache des Volkes zu verstehen!
Nachdem seine Gefährtin ihre Erklärung beendet hatte, kamen die Brüder langsam und immer noch voller Misstrauen auf Sebastian zu. Dann berührten sie staunend seine Tätowierungen. Der ältere der beiden Gesellen rieb an Bastis Arm, als wollte er prüfen, dass sich die Zeichen der Götter definitiv nicht entfernen ließen und somit echt waren.
Der jüngere Dunkelhaarige hatte allerdings nur Augen für Antarona. Ihre knappe Bekleidung regte offenbar seine Phantasie an und als er sich dessen bewusst wurde, nahm sein Gesicht eine rote Färbung an, die einer reifen Tomate zur Ehre gereicht hätte. Verschämt blickte er zu Boden.
Sebastian jedoch wurde auf der Stelle eifersüchtig, sah er doch aus den Augenwinkeln Antaronas offenes Lächeln, das sie den beiden Jünglingen entgegen warf. Verkniffen bemühte er sich, seine Gefühle nicht zu zeigen, denn der Zeitpunkt war denkbar unpassend. Immer noch waren sie den Reitern Torbuks auf den Fersen und je schneller sie voran kamen, das war auch Sebastian inzwischen klar geworden, desto größer war die Chance, die gefangenen Frauen noch lebend zu befreien.
»Das sind Ravid und Daffel«, stellte ihm Antarona die beiden vor. Was sie den Brüdern über ihn erzählt hatte, konnte er nur vermuten, nachdem einer so sorgsam Sebastians Tätowierungen geprüft hatte, die man hierzulande wohl für die Zeichen der Götter hielt.
»Die Brüder von Mittelau gehen mit uns...«, fügte Antarona noch hinzu, indem sie ihm die beiden mit offener Handfläche präsentierte, »...sie werden Sonnenherz und Glanzauge helfen, die Töchter des Volkes zu befreien!«
Es ärgerte Sebastian, dass Antarona diese Schreckhasen bereits im Voraus so behandelte, als hätten sie gerade allein das ganze Land von Torbuks Männern befreit.
»Na, da wollen wir mal hoffen, dass die schwarzen Reiter nicht auch hinter Bäumen sitzen und arme, unwissende Wanderer erschrecken, was?« gab Sebastian ironisch zu bedenken. Mehr zu Antarona gewandt überlegte er:
»Sag mal.., die beiden kommen doch aus der Richtung, in welcher die wilden Horden gezogen sind... Haben sie denn gar nichts gesehen, oder gehört?«
»Sie kamen nicht aus Mittelau, Ba - shtie.., sie waren ein paar Tage auf einer Weide in den Bergen, wo ihre Mutter durch Raubzeug manches Vieh verloren hat.« Antarona hatte die beiden Gesellen also bereits ausgehorcht. Sebastian wollte allerdings nicht so recht begreiflich werden, wie die beiden denn mit einem Felsenbären fertig geworden wären...
»Antarona, wer sagt eigentlich, dass diese miesen Typen nicht auch noch in das Dorf Mittelau einfallen und sich dort genau so gebärden, wie in Zumweyer...«, wollte Sebastian von seiner Gefährtin wissen. Sie dachte kurz über seinen Einwand nach, schüttelte dann aber den Kopf:
»Es waren nicht mehr Pferdesoldaten, wie drei Hände voll...«, überlegte sie, »...nicht ganz eine Hand voll Männer haben sie verloren... Nein, Ba - shtie, sie werden nicht nach Mittelau gehen! Sie waren nur die Augen Torbuks.., sie reiten zu ihrer Armee, die in den Wäldern lagert, oder sie kehren auf die Festung Quaronas zurück. Wir müssen sie einholen, bevor sie auf andere Pferdesoldaten treffen!«
Damit setzte sich ihr kleiner Trupp in Bewegung. Nach einer Weile trat der Weg aus dem Wald und führte auf einen breiten Wiesenstreifen, der links und rechts den Fluss säumte. Auf der rechten, ihnen zugewandten Seite, lag Mittelau. Ein Ort, der den Dörfern, die Sebastian bereits kennen gelernt hatte, wie ein Ei dem anderen glich. Nur, dass Mittelau von bewaldeten Hügeln regelrecht eingepfercht da lag. Die hohen, schneebedeckten Berge ragten weit dahinter auf.
Blickte Sebastian talwärts, so konnte er jedoch vermuten, der Fluss würde sich seinen Weg unter einer Bergkette hindurch suchen. Die eisbedeckten Gipfel schoben sich dort im Talgrund zusammen, dass er annahm, nur eine tiefe Felsschlucht, oder ein natürlicher Tunnel konnte aus diesem Tal heraus führen.
Vor dem Hintergrund solcher Aussichten fragte er sich, wie dieses Volk es zulassen konnte, von marodierenden Truppen tyrannisiert zu werden. Ausgedehnte Wälder und unzählige Seitentäler boten eigentlich genug Möglichkeiten, eine kleine Guerillaarmee ebenso zu verstecken, wie ein evakuiertes Dorf. Vermutlich fehlte es den Bewohnern an der Fähigkeit, sich zu organisieren.
Je näher Sebastian über die Lage in diesen Tälern nachdachte, desto augenfälliger wurde ihm, weshalb sich Högi Balmer in die Einsamkeit der Berge zurückgezogen hatte. Dort oben war er vor den schwarzen Reitern sicher. Einen so beschwerlichen Weg bis zu ihm hinauf, taten diese sich ganz gewiss nicht an.
Die Hufspuren der Soldaten, die stellenweise gut zu sehen waren, folgten verborgenen Pfaden durch den Wald, außer Sichtweite des Dorfes. Antarona untersuchte die Fährte regelmäßig und stellte zufrieden fest, dass sich der Abstand zwischen ihnen und Torbuks Raubrittern stetig verringerte. Mit den gefangenen Frauen kamen sie nur langsam voran.
Doch je mehr sich der Abstand zu der verfolgten Mordbande verkürzte, desto aufmerksamer mussten sie sein. Es war möglich, dass sie eine Nachhut abgestellt hatten, die möglichen Verfolgern eine Falle stellen konnte. Vielleicht fühlten sie sich aber auch so sicher, das sie auf jegliche Vorsicht verzichteten... Wer wusste das schon so genau?
Der Waldpfad, dem sie folgten, führte sie durch dichtes Unterholz, dann wieder durch Hochwald, wo hinter jedem dicken Baumstamm ein Feind lauern konnte. Oft wand sich der unscheinbare Weg um Felsen herum, oder durch Bachläufe, was Sebastian zu der Überlegung brachte, wie um alles in der Welt die gefangenen Frauen diesen Marsch aushalten konnten.
An einer unübersichtlichen Stelle, wo Unterholz und Bäume beinahe über dem Pfad zusammen wuchsen, lag plötzlich etwas auf dem Weg, das sich beim Näherkommen als eine Frauengestalt entpuppte. Noch bevor Sebastian oder Antarona reagieren konnten, sprinteten Daffel und Ravid los, um der Frau zu helfen. Sie kamen nur ein paar Schritte weit...
Plötzlich erfüllte ein Rauschen und Knarren die Luft. Wie von einer Riesenfaust gelenkt, schwang aus dem Blätterdach der dicht stehenden Bäume ein großer hölzerner Rahmen hervor, der mit unzähligen Holznägeln, wie die Bank eines Fakirs, gespickt war. Er zischte an Ravid vorbei, erwischte noch den Umhängeriemen seiner Armbrust und hob den vorwitzigen Helden hoch in die Luft. Krachend schlug das gezackte Holt in einen gegenüberliegenden Baumstamm, nagelte die Armbrust förmlich daran fest und blieb zitternd im Holz stecken. Ravid schlug hart gegen den Stamm und hing anschließend wie eine reife Birne am Baum.
Nachdem sich der erste Schreck gelegt hatte, mussten sie versuchen, Ravid aus seiner Zwangslage zu befreien. Das war nicht so einfach, wie es zunächst schien, denn die Falle hatte seinen Armbrustriemen in einer kaum zu erreichenden Höhe an den Baum geheftet. Er hing wie ein nasser Sack in seinem Gurt und strampelte und fluchte, dass es schon beinahe komisch wirkte. Hätte sie seine stattliche Gestalt nicht eines Besseren belehrt, so hätten ihn seine Gefährten leicht für einen tobsüchtigen Waldgnom halten können.
»Sag ihm, er soll das auffangen und sich damit los schneiden...!«, bat Sebastian Antarona, während er sein Bowiemesser in der Hand wog. Mit der flachen Hand warf er es waagerecht zu Ravid hoch, direkt vor seine Nase. Doch anstelle das Messer ruhig zu greifen, grabschte und fuchtelte Ravid mit seinen Armen in der Luft herum, dass er es nur heftig anstieß und bis weit in das Dickicht hinein beförderte.
»Das glaubt man doch nicht!«, schimpfte Sebastian fassungslos und an sein Krähenmädchen gewandt: »...sag diesem Clown da oben, er soll nicht so herumzappeln, sonst schneidet er sich mit meinem Messer noch die Ohren ab!«
Daffel hatte das Messer aus dem Gebüsch gezogen und gab es ihm zurück. Zweiter Versuch. Ravid schnappte danach, als es wieder vor seinem Gesicht schwebte und... Es steckte plötzlich neben Antarona im Waldboden. Allmählich wurde Sebastian ungeduldig:
»Sag mal, ist der blind?«, fragte er dessen Bruder, der ihn nur stumm ansah, weil er seine Sprache aus dem Reich der Toten nicht verstand. Mehr zu sich selbst sprach Sebastian: »Der massakriert uns noch alle, bevor wir Torbuks Reiter überhaupt zu Gesicht bekommen! Eine feine Bananentruppe haben wir da.« Ravid erkannte wohl an seinem Tonfall, dass er ihn lächerlich machte und empörte sich in seiner Sprache bei Antarona. Die schien über allem erhaben zu sein und lächelte nur belustigt in sich hinein.
Der dritte Rettungsversuch gelang. Ravid erwischte das Messer an der Klinge und schnitt sich erst einmal die Hand auf. Dann sägte er am Gurt seiner Armbrust herum, bis dieser plötzlich nachgab und sein Gewicht einfach der Schwerkraft überließ. Wie ein Hafersack plumpste der junge Mann auf den Waldboden. Seine Armbrust, wegen des durchtrennten Gurtes ebenfalls ein Opfer der Gravitation, folgte ihm und sauste mit einiger Geschwindigkeit auf seinen Kopf nieder.
Als er aus seiner Benommenheit erwachte, hatten sie zunächst seine Hand, dann noch eine Platzwunde am Kopf zu behandeln. Das Ganze schien ihm nicht die Bohne auszumachen. Er war dennoch guter Dinge und Sebastian wunderte sich über dessen Frohnatur, der offenbar nichts etwas anhaben konnte. Andererseits hätte die Sache auch anders ausgehen können.
»Also Leute, für die Zukunft...», begann Sebastian und richtete seinen Vortrag zunächst an Antarona, in der Hoffnung, sie würde den Brüdern seine Worte übersetzen, denn für die waren sie eigentlich gedacht:
»Wenn irgendetwas unten liegt.., nach oben sehen... Und wenn etwas oben hängt, guckt nach unten auf den Weg.., klar?« Ravid und Daffel nickten nur, nachdem ihnen Antarona seine Worte erklärt hatte. Wahrscheinlich hätten sie aber sowieso genickt, ob nun verstanden, oder nicht.
Vorsichtig gingen sie nun zur Ursache von Ravids Höhenflug hinüber. Dieses Etwas, das auf dem Weg lag, war eine junge Frau mit rotblondem Haar. Sie trug ein längeres Kleid aus hellblauem, feinen Stoff, der ganz und gar nicht zu dem passte, was Sebastian bisher in diesen Tälern als Kleidung zu Gesicht bekam. Die Frau hatte jedoch nichts mehr von ihrem schönen Kleid... Sie war tot.
Gerade wollte sich Sebastian niederknien und sie untersuchen, da hielt Antarona ihn zurück: »Gebt acht, Ba - shtie.., Sonnenherz sieht keine Wunden.., sie kann am Fleckentot gestorben sein!«
»Ja, was zum Himmel ist denn nun wieder der Fleckentot?«, wollte er wissen. Antarona nahm einen Zweig vom Waldboden hoch und schob der Toten das Kleid hoch. Es gab nichts Auffälliges, oder Ungewöhnliches zu entdecken. Antarona klärte ihn auf:
»Der Fleckentod kommt aus den Tälern der wachenden Sonne. Einige von Torbuks Männern sind krank daran. Die Haut bekommt dunkle Flecken.., dann ist der Tod nicht mehr fern!«
Diese Erklärung genügt Sebastian! Beim Fleckentod musste es sich um eine Krankheit, wie Lepra, Cholera, oder Pest handeln... Pest..! Plötzlich fiel ihm etwas ein... Hatte nicht Bruno Ambühel davon gesprochen, dass einige der Knochen und Skelette am Zwischbergenpass von Pesttoten stammten? Gab es da in irgend einer Form einen Zusammenhang? Doch was hatte der Schweizer Zwischbergenpass mit dieser Welt zu tun, die Sebastian geografisch nicht einmal zuordnen konnte? Antarona störte seine Überlegungen:
»Sie war eine Tochter Torbuks...«, stellte sie nüchtern fest und sah dabei ausschließlich ihn an. Für die beiden Brüder schien diese Feststellung ohnehin klar gewesen zu sein, denn sie waren in keiner Weise verwundert.
»Sie hat nicht die Haarfarbe der Krähen, wie die Frauen aus dem Volk. Ihre Haare sind die Haare aus den Tälern Zarollons.., sie ist eine von Torbuks Töchtern! Ihre Mutter war eine Tochter des Volkes. Sie wurde von Torbuks Reitern verschleppt und kam mit der bösen Frucht Quaronas in ihrem Leib zurück ins Tal.«
Trotz dieser Erklärung Antaronas war sich Sebastian immer noch nicht über die Todesursache dieser Frau im Klaren. Aber eine andere Frage beschäftigte ihn:
»Sag mal, Antarona, wie lange geht das hier eigentlich schon so, dass diese Reiter Torbuks eure Frauen und manchmal auch eure jungen Männer verschleppen?«
»Der Vater meines Vaters kämpfte schon gegen Torbuk und seine wilden Horden.., seine Mutter ist nie aus Quaronas, Torbuks Festung zurückgekehrt.«, antwortete sie.
»Ja, aber dann muss dieser Torbuk doch bereits steinalt sein..!«, warf Sebastian ein. Antarona überlegte kurz und bestätigte dann:
»Torbuk ist so viele Winter alt, wie zwölf mal zwei Hände voll...« Um sicher zu gehen, dass sie keinen Irrtum beging, zählte sie noch eine Weile an ihren Fingern herum.
»Aber dann wäre der Typ ja hundertzwanzig Jahre alt!«, gab Sebastian zu bedenken. »So alt wird kein Mensch auf dieser Welt.«, stellte er richtig. Doch sicher war er sich ganz und gar nicht. Die Zeit schien in diesen Tälern ganz anderen Gesetzen unterworfen zu sein, als sie ihm bekannt waren. Das beste Beispiel war Antarona selbst, die als Janine zu diesem Zeitpunkt wesentlich älter sein musste!
Sie ließen die Frau dort liegen, wo sie lag und in Sebastians Welt wäre das sicher nicht möglich gewesen. Doch in diesen Tälern war eben alles anders! Keiner von ihnen wollte Gefahr laufen, sich mit einer unbekannten Krankheit anzustecken. Also überließen sie die Leiche den wilden Tieren des Waldes und setzten ihren Weg fort. Ravid hielt sich ab und zu seine Armbrust zur Kühlung an seine Wunde, die hässlicher aussah, als sie gefährlich war.
Um die Mittagsstunde erreichten sie erneut ein Dorf. Breitenthal lag auf der gegenüberliegenden Talseite, im Winkeleck eines in den Fluss mündenden, kleineren Flusses, der aus einem der Seitentäler genährt wurde. Einige Wassermühlen und Schmiedestätten lagen an seinem Lauf, die sich seine Kraft zunutze machten. Im übrigen war auch dieses Dorf von den bisherigen kaum zu unterscheiden.
Mühsam mussten sie eine reißende Furt jenseits der Einmündung durchqueren. Die Hufabdrücke der Pferdesoldaten zeigten deutlich, dass die Reiter irgendwo in den ausgedehnten Wäldern der Seitentäler verschwunden waren. Immer schwerer war die Fährte auf den zum Teil felsigen Waldböden zu erkennen und die ständige Spurensuche hielt sie auf. Sie kamen kaum noch voran.
Zwischendurch mussten sie Ravid immer wieder daran erinnern, dass sie eine Horde nicht gerade freundlicher Reiter verfolgten. Er schien das zeitweise zu vergessen und erzählte munter und lautstark von irgendwelchen Erlebnissen, die er offensichtlich überlebt hatte. Stets mussten Antarona oder Sebastian ihn mit einem energischen Handzeichen und einem ebenso deutlichen Zischen darauf hinweisen, dass hinter jedem Baum ein gespannter Bogen, oder ein scharfes Schwert warten konnte.
Bis in den Nachmittag hinein, stiegen sie ein ausgedehntes, dicht bewaldetes Seitental hinauf, stets die Spuren von Torbuks Männern vor Augen. Von den Reitern selbst bekamen sie jedoch nicht einen Hemdzipfel zu sehen. Sie waren ihnen ständig ein bis zwei Stunden voraus. In regelmäßigen Abständen erschienen Antaronas Krähen aus heiterem Himmel, ließen sich für ein paar Minuten auf den Schultern ihrer menschlichen Freundin nieder, um dann wieder für eine geraume Zeit davon zu segeln.
Es war bereits Abend und die Sonne senkte sich deutlich auf die westlichen Berge nieder, da gewahrten sie im undurchdringlichen Bergwald eine Bewegung. Das flüchtige Huschen eines Schattens nur, aber auffällig genug, dass er sofort Antaronas Aufmerksamkeit erregte. Sie duckte sich augenblicklich in die Deckung des Unterholzes und gebot den anderen mit einem Handzeichen, ihrem Beispiel zu folgen.
Da! Im niederen Buschwerk ein Rascheln und eine Gestalt, die sich ebenfalls in der Vegetation zu verbergen suchte. Im nächsten Moment lag ein Pfeil an der gespannten Sehne Antaronas Bogens. Doch sie konnte kein eindeutiges Ziel ausmachen. Sie warteten geduldig ein paar Minuten, aber drüben im Strauchwerk rührte sich nichts mehr. Doch was immer es auch für ein Wesen war, das sich dort verkroch, es musste noch da sein!
»Halte du das da drüben mit deinem Bogen weiter in Schach, ich versuche rückwärts durch den Wald heranzukommen.«, flüsterte Sebastian Antarona zu. Sie setzte eine sorgenvolle Mine auf, doch er beruhigte sie, indem er sein Bowiemesser zog und es ihr zeigte. Sie wusste nun, Sebastian würde nicht unbewaffnet im Dickicht herumschleichen.
Auf leisen Sohlen zog sich Sebastian einige Meter auf ihrem Weg zurück. Dabei gab er den Brüdern ein unmissverständliches Zeichen, sich ja mucksmäuschenstill zu verhalten. Mit der Motorik einer Schwerelosigkeit umging er ein paar Sträucher und gelangte in eine flache Rinne, die bei Regen wahrscheinlich zu einem kleinen Bach anwuchs. Bei jedem Zweig, den seine Bergschuhe leise knacken ließen, gefror seine Bewegung für ein paar Sekunden, bevor er weiter schlich. Langsam arbeitete sich Sebastian an die Stelle heran, die er sich vom Weg aus eingeprägt hatte. Im Buschwerk zwischen zwei aufeinander zugeneigten Bäumen musste sein lebendiges Ziel sitzen.
Zwei Möglichkeiten zog er in Betracht. Entweder wollte er das Wesen aufschrecken, so dass Antarona einen sauberen Schuss anbringen konnte, oder er konnte das Unbekannte selbst überwältigen oder töten, wenn er sich dahingehend eine Chance ausrechnen durfte.
Leise verließ Sebastian den ausgetrockneten, mit Laub gefüllten Bachlauf und tastete sich in der Gangart eines gebückten Storches weiter. Da sah er auf einem Mal eine kleine, reglose Gestalt hinter einem Gebüsch kauern. Undeutlich nur erkannte er ein Mädchen mit langen zerzausten Haaren. Ermüdend langsam bewegte sich Sebastian weiter auf die Stelle zu, bis er sich nicht mehr sicher war, ob er sich weiter geräuschlos anpirschen konnte.
Still beobachtete er weiter dieses langhaarige Wesen, das einen Fellumhang trug und somit für das Auge fast perfekt mit der Umgebung verschmolz. Der Größe und den Proportionen nach war es eine sehr junge Frau. Das ermutigte ihn zu dem Versuch, sie zu überwältigen.
Geräuschlos grub er mit der Hand im Waldboden und förderte einen kleinen Stein zu Tage. Unmerklich hob er den Arm und ließ den Stein aus dem Handgelenk in hohem Bogen davonfliegen. Mit einem lauten Klack schlug er jenseits des Mädchens gegen einen Baum.
Sogleich wirbelte die junge Frau zum vermeintlichen Angreifer herum und Sebastian erkannte seine Chance, sich auf sie zu werfen. Er war davon überzeugt schnell zu sein. Doch das verschreckte Mädchen war noch um einiges flinker. Es wand sich unter seinen Armen hervor, ließ ihn ins Leere fallen und brach panikartig durch das Dickicht, direkt auf Antarona zu.
»Nicht schießen, Antarona.., nicht schießen!«, konnte Sebastian gerade noch schreien, dann landete er mit dem Gesicht im Dreck. Erde und faulende Blätter ausspuckend rappelte er sich wieder hoch und wand sich durch das Unterholz zu Antarona und den Brüdern zurück.
Die hatten inzwischen das aufgescheuchte Mädchen niedergerungen und hielten es fest. Es strampelte mit Armen und Beinen, es biss und kratzte, wie ein gefangenes Wildtier. Antarona redete mit sanfter Stimme auf sie ein und bald beruhigte sie sich. Sebastians Gefährtin fand in ihrer Sprache heraus, das dieses arme Geschöpf aus dem Dorf Zumweyer stammte und zu den von den schwarzen Reitern entführten Frauen gehörte.
Ihre fraulichen Rundungen waren noch nicht sehr ausgeprägt. Dieser Tatsache hatte sie es wohl zu verdanken, dass die Reiter sie bislang in Ruhe ließen. Als sich die Gelegenheit bot, hatte sie sich rasch in die Büsche geschlagen, sich unter das Laub gegraben und versteckt. Die Pferdesoldaten wollte ihre Tiere nicht in das tückische Dickicht lenken und verzichteten auf eine Verfolgung. So konnte sie mit viel Glück einem schlimmeren Schicksal entkommen. Als sich Sebastian schließlich auf sie werfen wollte, musste sie annehmen, einer von Torbuks Männern hätte sie doch noch aufgespürt.
Die sichtliche Erleichterung, dass sie Freunden in die Arme gelaufen war, stand ihr deutlich ins Gesicht geschrieben. Daffel und Ravid kümmerten sich rührend um sie, als hätten sie ihre eigene Schwester aus den Fängen der brutalen Reiter befreit. Sie beruhigte sich zusehends und begann es zu genießen, von den Brüdern umschwärmt zu werden.
Antarona horchte das Mädchen aus und erfuhr von ihr so ziemlich alles, was sie über Torbuks Reitertrupp wissen mussten, um die Frauen aus ihren Klauen zu befreien. Es waren zwölf Reiter, die ungefähr noch dreizehn Frauen und Mädchen gefangen hielten.
Das Mädchen berichtete weiter, dass der Tross zu einem Bergwerk hinter einem Pass unterwegs war. Dort sollten die jungen Frauen als Zeitvertreib für die versklavten Arbeiter dienen und offenbar auch zum Beischlaf mit diesen Männern gezwungen werden, die teilweise ebenfalls aus dem Volk verschleppt worden waren.
»Was ist denn das für ein Pass und wohin führt der?«, wollte Sebastian von Antarona wissen. Sie wies weiter das Tal hinauf und erklärte:
»Eine enge Schlucht oben in den Bergen. Dahinter sind die Täler Zarollons, die Täler der schlafenden Sonne. Torbuk hat dort die Macht über das Volk. Er lässt dort das harte Metall und die Tränen der Götter aus den Schlünden der Berge holen. Viele Männer und Frauen aus dem Volk arbeiten in den Bergen, von Torbuks Soldaten bewacht!«
»Ist es noch weit, bis zum Pass hinauf?«, fragte er weiter. Antarona tauschte sich kurz mit dem Mädchen aus und sagte dann:
»Die Pferdesoldaten werden auf dieser Seite der Berge ihr Lager aufschlagen. Diese Nacht ist die beste Zeit, die Töchter des Volkes zu befreien... Annuk aus Zumweyer wird uns führen, bis wir die Reiter gefunden haben. Wir werden die Zeit der Nacht erwarten, wenn die Soldaten genug Mestas getrunken haben. Dann können wir in das Lager schleichen und unsere Schwestern befreien.«
Für Antarona stand der Plan bereits fest. Annuk, das geflohene Mädchen sollte sie begleiten und helfen, die Reitersoldaten zu lokalisieren. Mit zunehmender Dämmerung wurde das allerdings immer schwieriger, dachte Sebastian. Sein Krähenmädchen und Annuk waren da zuversichtlicher. Ravid und Daffel hielten sich zurück und behielten ihre Ansicht für sich.
Mit einem kleinen Haufen mutiger Laien zogen sie weiter und Sebastian sah ihre einzige Hoffnung auf Erfolg in der Möglichkeit, dass sie das Überraschungsmoment auf ihrer Seite haben würden. Das hing freilich davon ab, dass sie die Horde unbemerkt aufspüren konnten.
Aufmerksam folgten sie einem gewundenen, steinigen Pfad, der nicht auf Anhieb als solcher zu erkennen war. Vermutlich benutzen gewöhnlich nur Jäger diese Route über den Pass. Möglicherweise folgten sie auch einem Wildwechsel. Annuk führte sie mit der Sicherheit und Gewandtheit einer Wildkatze. Offenbar waren alle jungen Frauen des Volkes mit dem Talent eines Fährtensuchers gesegnet.
Das Gelände änderte bald seinen Charakter. Laubbäume und Strauchwerk wechselten mit hoch gewachsenen Tannen und Lärchen, lange Sumpfgräser überließen ihren trockeneren, kürzeren und farbloseren Verwandten den Boden. Das Vorankommen der mutigen, kleinen Gruppe verbesserte sich mit dem Wechsel der Vegetation ebenfalls. Dort, wo kaum mehr Unterholz die Sicht einschränkte, konnten sie viel Zeit aufholen. Dennoch blieben sie vorsichtig und überlegten jeden weiteren Schritt.
Immer häufiger wurde ihr Weg durch die Urwildnis von einzeln dastehenden Felsen gesäumt. Auf einem dieser Steinformationen saßen plötzlich Antaronas Krähen, als warteten sie schon einer geraume Weile auf sie. Das Krähenmädchen ging zu seinen Geschöpfen und schien sich mit ihnen auszutauschen.
Faszinierend beobachtete Sebastian diese beinahe stumme Kommunikation. Annuk und die Brüder fanden das jedoch ganz normal. Anscheinend kannten sie die Legenden, die man sich über Antarona erzählten. Högi Balmer und selbst der Doktor hatten fest und steif behauptet, des Holzers Tochter konnte mit den Tieren sprechen. Zumindest in diesem Moment sah es so aus, als besaß sie tatsächlich diese Gabe.
»Die Reiter lagern im Hexenkessel.«, stellte Antarona fest, nachdem sich ihre schwarz gefiederten Freundinnen wieder durch die Lüfte davon gemacht hatten.
»Was ist nun schon wieder der Hexenkessel?«, wollte Sebastian neugierig wissen. Antarona wies auf den Stein, auf dem soeben noch ihre beiden Vögel gesessen hatten:
»Viele große Felsen, in einem Kreis und ein großer Platz in der Mitte... An der Seite des Berges ist ein Gang.., ein Tor in den Berg... Vor vielen Sommern ließ Torbuk dort die Tränen der Götter aus dem Berg holen. Das Volk nennt diesen Ort den Hexenkessel, weil dort viele Sklavenarbeiter aus dem Volk wirr im Kopf geworden waren!«
»Also der Hexenkessel ist fast so etwas, wie eine befestigte Anlage, ja?«, bohrte Sebastian weiter. Und mehr zu sich selbst fügte er hinzu:
»Na, das kann ja lustig werden! Wir fünf Figuren greifen ein Felsenfort an in dem ein Dutzend schwer bewaffneter Pferdesoldaten sitzt. Welcher Teufel hat mich eigentlich geritten...« Zu seinen vier Gefährten sagte er beschwörend:
»Aber wir sehen uns die Sache erst einmal an und unternehmen noch nichts, ja? Erst mal angucken und dann sehen wir weiter.., ist das OK für alle?«
Antarona übersetzte und sein Vorschlag wurde akzeptiert. Sogar von Ravid und Daffel, denen die Aktion gar nicht schnell genug voran gehen konnte. Annuk bewunderte den Elan der beiden. Sebastian hingegen hielt sie nicht für mutig, sondern für unvorsichtig und blauäugig!
Da er offenbar der einzige war, der den Ort Hexenkessel nicht kannte, ließ er alle anderen voran gehen und bildete freiwillig die Nachhut. Dabei waren es Annuk und Antarona, denen Sebastian voll vertraute. Daffel und Ravid bildeten die Mitte und er war froh, die beiden im Auge behalten zu können.
Die erste halbe Stunde folgten sie noch blind den Hufspuren der Pferde. Die zweiten dreißig Minuten krochen sie durch unwegsamen Urwald und in der dritten Halbstunde nahmen sie plötzlich Brandgeruch wahr. Ganz behutsam schlichen sie weiter. Zweige, die im Weg hingen wurden sanft beiseite geschoben und festgehalten, bis auch der Letzte die Stelle passiert hatte. Altes Holz, das im Weg lag, wurde aufgenommen und zur Seite gelegt, damit nicht noch einer von ihnen darauf trat und die Männer Torbuks unfreiwillig warnte.
Unübersichtliche Sträucher und Büsche, sowie Felsen umgingen sie von zwei Seiten, um nicht eine böse Überraschung zu erleben. Dann gab der Wald eine kleine, trostlose Lichtung frei, die auf der anderen Seite von einer hohen Felswand begrenzt wurde. Davor lagen in einem unordentlichen Kreis, weit verstreut, die Felsen des Hexenkessels. Ganze Steinformationen wechselten mit großen einzeln dastehenden Felsen.
Dazwischen fanden sich Lücken, die wie die Tore zu einer gut angelegten Befestigung leicht zu bewachen waren. Niemand konnte da hindurchschlüpfen, ohne dass die Reiter dies bemerken würden. Sie hatten innerhalb des Felsenforts mehrere Lagerfeuer entfacht, die den ganzen Felsenring von innen mit einem zuckenden Schein beleuchteten. Man konnte beinahe annehmen, ein groß angelegtes Hexenritual zu beobachten. Wie trefflich der Name diesen Ort doch beschrieb!
Sie zogen sich hinter eine dicht bewaldete Felsgruppe zurück und hielten Kriegsrat. Während Ravid und Daffel vorschlugen, durch alle Felslücken gleichzeitig in das Lager zu stürmen, war Antarona dafür, die Felsen zu erklimmen und sich von dort aus nach innen auf die Soldaten zu stürzen. Annuk machte noch den besten Vorschlag:
Sie wollte sich als eine Gefangene getarnt, in das Lager begeben und Verwirrung stiften, woraufhin die übrigen das Felsenfort stürmen sollten. All diese Taktiken erschienen Basti jedoch zu waghalsig und unsicher. Mit einer unüberlegten Aktion, die möglicherweise scheitern würde, war den gepeinigten Frauen kaum geholfen!
»Was schlagt ihr vor, Glanzauge, Mann von den Göttern, wie wollt ihr dort hinein gelangen..?«, fragte ihn Antarona herausfordernd.
»Wer sagt denn eigentlich, dass ich dort hinein will...«, gab Sebastian zu bedenken und löste ratlose Gesichter bei seinen Gefährten aus.
»Vielmehr stellt sich doch hier die Frage...«, überlegte er weiter, »...wie wir es schaffen können, dass die heraus kommen!« Diesen Vorschlag, der für die anderen ziemlich überraschend kam, ließ er erst einmal wirken. An ihren erstaunten Gesichtern erkannte Sebastian, dass keiner von ihnen auch nur einen Gedanken an eine solche Möglichkeit verschwendet hatte.
»Wenn wir es erreichen können, dass ein Teil der Soldaten einzeln heraus kommt, ohne den Argwohn der anderen zu wecken, dann hätten wir den Verein dort drüben schon mal um die Hälfte dezimiert.., also ihre Anzahl verkleinert«, fuhr Sebastian erläuternd fort. »Ist nur die Frage, wie wir sie dazu bringen, selbst, aus freien Stücken, einzeln, das schützende Steinfort zu verlassen...« Eine Frage und ratlose Gesichter.
Annuk war es wieder, die praktisch dachte: »Wir warten, bis die räudigen Hunde den Bauch voll Mestas haben... Dann müssen sie sich erleichtern.., das tun sie nicht dort, wo sie schlafen! Wir können sie einzeln bei ihrer Verrichtung erwischen!«
»Das mag sein...«, warf Antarona ein, »...doch wie lange braucht ein Mann für seine Verrichtung..?« Dabei sah sie Sebastian fragend an. Ihm war klar, woran sie dachte. Noch bevor der dritte Soldat sich erleichtern musste, würde auffallen, dass die anderen nicht zurückgekehrt waren. So ging das nicht! Für die Reiter musste ohne Zweifel feststehen, dass ihr Kamerad länger brauchen würde...
»Vielleicht ein Abführmittel?« Diese Frage war an Antarona gerichtet, denn ihm war aufgefallen, dass sie allerlei Kräuter in ihrer Höhle gesammelt hatte.
»Und wie wollt ihr denen das in den Mestas tun, Glanzauge, wenn sich Annuk nicht freiwillig in die Fänge der feigen Hunde gibt?«, gab Antarona zu überlegen.
»Na ja.., man müsste...«, dachte Sebastian scharf nach und dann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen! »Ich hab die Lösung!«, verkündete er stolz. »Also hört zu! Annuk, du gehst, vorausgesetzt du bist einverstanden.., du gehst als Gefangene zurück zu den anderen Frauen. In der Dunkelheit, wird keinem der besoffenen Soldaten auffallen, dass du wieder da bist. Die sehen nur eine beliebige Frau. Bist du erst einmal im Lager, sprich mit den anderen Frauen! Ihr müsst tun, als würdet ihr euch den Kerlen anbieten, jeden einzeln für sich... Dann schlagt ihnen vor, dass sie euch draußen nehmen, wo die anderen es nicht mitbekommen. Für die geilen Hunde ist es dann klar, dass ihre Kameraden nicht so rasch zurück kommen. Und bevor euch noch ein Soldat anrührt, schnappt unsere Falle zu! Das machen wir so lange, bis die den Braten riechen, dann können wir immer noch frontal angreifen..!« Während alle angestrengt über Sebastians Vorschlag nachdachten, setzte er noch einen drauf:
»Außerdem schlagen wir dabei zwei Fliegen mit einer Klappe! Wir haben jedes Mal einen Reiter ausgeschaltet und gleichzeitig eine Frau befreit!«
Das Argument zog! Alle nickten zustimmend und Sebastian barst vor innerlichem Stolz, es geschafft zu haben, Antarona mächtig zu beeindrucken. Als hätte sie seine Gedanken lesen können, sagte sie nachdenklich:
»Euer Plan, Glanzauge, ist gut! Aber er gelingt oder scheitert mit Annuk...« Dann sah sie plötzlich mit festem Blick auf und verkündete:
»Sonnenherz wird selbst gehen, Annuk hat schon zu sehr gelitten!« Wie erstarrt stand Sebastian da. Das konnte sie nicht im Ernst meinen.., oder doch?
»Nein!«, entgegnete er entschieden. »Du wirst nicht gehen, Antarona, du...« Er suchte nach einem plausiblen Argument, die Frau, die er liebte, nicht in Gefahr bringen zu müssen:
»Du warst nicht ihre Gefangene.., was, wenn sie den Schwindel bemerken.., dann gefährdest du das ganze Unternehmen und... Dich selbst!«
»Seid nicht albern, Glanzauge«, erwiderte sie, »...ihr habt selbst gesagt, die mit Mestas voll gesoffenen Hunde sehen nur irgendeine Frau! Sonnenherz wird sich Annuks Fell umhängen, so werden die Pferdesoldaten keinen Verdacht schöpfen!«
Gerade wollte er massiv dagegen protestieren, da meldete sich Annuk mit fester, bestimmter Stimme, die keinen Widerspruch zu dulden schien:
»Ich werde selbst gehen!« Alle sahen sie erstaunt an. Ihre Exklusivität sichtlich genießend, fuhr sie fort: »Annuk war bereits gefangen. Es war der Wille der Götter, dass sie Sonnenherz und Glanzauge traf! Nun wird Annuk mit eurer Hilfe ihre Freundinnen befreien... Ich gehe!«, stellte sie entschieden fest.
Mutige, kleine Annuk! Und Sebastian fiel ein riesiger Felsbrocken vom Herzen! Mit Sicherheit wäre er vor Angst gestorben, wenn er Antarona inmitten dieser miesen Gewalttäter gewusst hätte. Um sicher zu gehen, dass sich Antarona nicht doch noch einmal in die Bresche werfen konnte, machte er die Sache fest, indem er Antarona bat, für ihn zu übersetzen:
»Annuk, wenn du das tust«, begann er, »...dann musst du an ein paar wichtige Dinge denken: Sprich mit den Frauen nicht zu auffällig, sonst durchschauen dich Torbuks Männer. Vor allem... Egal, wie ihr das macht, aber geht einzeln in Abständen, denn wir müssen ja genug Zeit haben, die Bestien zu erledigen und uns wieder in Position zu bringen! Versucht außerdem zu erreichen, dass die Soldaten eine Fackel mitnehmen.., das erleichtert es Antarona, einen sicheren Pfeil zu schießen. Und - es - muss - leise - gehen!«
Mit dieser Mahnung gab er Annuk das kleinere von seinen beiden Bowiemessern. »Für alle Fälle...«, sagte Sebastian aufmunternd...
Dann warteten sie! Unendlich langsam krochen die Minuten dahin, bis sich der glühende Feuerball für diesen Tag verabschiedete. Antarona und Sebastian nutzen die Zeit, den Lagerplatz der Pferdesoldaten weit zu umgehen und in die Felsen über dem Bergwerksstollen zu klettern. Stets in der Deckung kleiner Tannen, oder Felsen arbeiteten sie sich höher, bis sie einen gemütlichen Platz erreichten, von dem aus sie das ganze Lager einsehen konnten.
Torbuks Reiter hatten es sich bereits an den Feuern gemütlich gemacht. Sie brieten sich verschiedene Wildstücke, die sie wohl im Dorf geraubt, oder auf dem Weg erlegt hatten. Sie fraßen wie Schweine und bewarfen sich gegenseitig und laut lachend mit den abgenagten Knochen.
Die gefangenen Frauen saßen etwas abseits an zwei getrennten Feuern. Sie hatten sich in grobe Decken und Felle gehüllt und hungerten. Keinem der brutalen Reiter fiel ein, seinen Gefangenen etwas von ihrem Mahl abzugeben.
Ab und zu stand einer der schwarzen Krieger auf und verschwand kurz im Bergstollen. Nach kurzer Zeit kam er mit einer Kürbisflasche zurück und wurde jubelnd von seinen Kumpanen begrüßt. Sebastian musste nicht erst darüber nachdenken, was sich in den Flaschen befand! Wahrscheinlich hatten Torbuks Männer einen geheimen Vorrat Mestas in dem verlassenen Bergwerk eingelagert, von dem sie sich bei Bedarf bedienten, wenn sie in der Nähe waren.
Das Besäufnis hatte also schon begonnen! Das betrachtete Basti mit einiger Sorge. Waren die Soldaten zu früh betrunken, dann fielen sie über ihre Gefangenen her, noch bevor Annuk sie instruiert hatte. Ließen sie sich aber mit dem Trinken zu viel Zeit, dann wurde es schon wieder hell, bevor sie dem letzten von ihnen den Garaus machen konnten. Also vertraute er einfach mal auf die Trinkfestigkeit primitiver Männer im Herdenzwang!
Glutrot tauchte die Sonne hinter den hohen Bergen weg, die sich sogleich als düstere Silhouetten in die Schattenwelt zurückzogen und als schwarze Wächter über den Tälern standen. Trotzdem es windstill war, wurde es sofort ein wenig kühl.
Sie hatten sich die Aufteilung des Lagers genau eingeprägt und stiegen aus den Felsen hinab zu ihren mutigen Freunden zurück. Antarona übersetzte Sebastians letzte Ratschläge für Annuk:
»Annuk, seht zu, dass ihr die Soldaten nahezu immer durch die gleiche Felsenlücke in den Wald lockt... Das ist wichtig, weil wir euch sonst in der Dunkelheit zu spät finden, weil wir nicht wissen, wann und wo jemand den Felsenkreis verlässt! Und geht ruhig an den anderen Soldaten vorbei, damit sie auch ja begreifen, dass ihre Kameraden eine Weile beschäftigt sind und keinen Verdacht schöpfen, wenn einer nicht gleich wieder kommt!«
Annuk nickte verstehend und machte sich bereit. Sie begleiteten das mutige Mädchen bis zum Waldrand, der gerade mal zwanzig bis dreißig Meter vom Felsfort entfernt lag. Leichtfüßig huschte sie in den Schatten eines großen Felsens, dessen Flanke vom Feuer der Barbaren gelbrot beleuchtet war.
Annuk befand sich nun an der rechten Seite der Felsenburg, wo die Feuer der Frauen flackerten. Sie wartete, bis das ausgelassene Grölen der schwarzen Männer die Ankunft einer weiteren Flasche Mestas ankündigte. Wie ein Blatt im Wind flog Annuk in den Kreis der Felsen und hockte sich sofort am Feuer der Frauen nieder.
Sebastian, Antarona und die Brüder hielten den Atem an, denn augenblicklich erwarteten sie ihre Entdeckung. Doch ihr Plan ging auf. Keiner der Pferdesoldaten interessierte sich für das unscheinbare Mädchen mit dem Fellumhang. Als die gefangenen Frauen Annuk erkannten, wollten sie schon aufspringen und ihre Leidensgefährtin freudig begrüßen. Sebastian blieb fast das Herz stehen...
Doch Annuk hatte die Situation sicher im Griff. Ein Wort von ihr und die unfreiwillig Festgehaltenen blieben stumm auf ihren Plätzen sitzen. Die mutige Spionin ging von einer Gefangenen zur anderen, unauffällig, als würde sie vergebens um etwas bitten, und unterrichtete sie von ihrem Plan. Ab und zu sah Sebastian eine Frau verständig nicken. Ihre List schien zu funktionieren...
Plötzlich torkelte einer der Reiter aus dem Felsenfort heraus und blieb unschlüssig auf dem schmalen Grasstreifen zwischen Waldrand und Felsen stehen. Er hatte bereits reichlich getankt. Vermutlich musste er sich erleichtern und war sich nicht ganz im klaren darüber, ob er in den Wald gehen, oder sein Geschäft gleich auf der schmalen Wiese verrichten sollte.
Bevor sie reagieren konnten, sprang Ravid lautlos auf und wollte dem Soldaten in den Rücken fallen. Geistesgegenwärtig schlug ihm Antarona mit ihrer Fell umwickelten Bogentasche die Beine unter dem Leib weg. Wie ein gefällter Baum schlug Ravid hin. Sofort stürzte sich das Krähenmädchen auf ihn und hielt ihn tief in das Gras gedrückt. Wütend zischte sie ihm etwas zu und er hielt still.
Zumindest das Geräusch war dem schwarzen Reiter nicht entgangen. Er wankte einen Schritt vor und einen zurück und starrte in ihre Richtung. Doch seine Augen vermochten die Dunkelheit des Waldrands nicht zu durchdringen. Es grenzte an ein Wunder, dass er die beiden aufeinander liegenden Körper von Antarona und Ravid nicht erkannte. Vermutlich konzentrierte sich sein Blick ausschließlich auf den finsteren Schatten der Bäume. Das machte ihn stockblind!
Doch Ravids Plumps hatte er gehört! Zögernd zog er sein Schwert und ging schwankend auf sie zu, seinen Blick starr in die Dunkelheit gerichtet. Sie lagen zwar fast unsichtbar im Schatten des Waldes, doch war es nur eine Frage der Zeit, bevor er die verborgenen Gefährten entdeckte, oder über Antarona und Ravid stolperte.
Sebastian fluchte stumm in sich hinein. Dieser Typ musste sie früher oder später sehen! Und die einzigen die ihn mit ihren Distanzwaffen hätten geräuschlos aufhalten können, lagen praktisch vor ihm auf dem Präsentierteller, zusammengebackt wie ein belegtes Brötchen! Es war wohl nur dem Mestas zu verdanken, dass er die beiden noch nicht aufgespürt hatte.
Als er nur noch drei Meter von Antarona entfernt war, wollte Sebastian seinerseits aufspringen, sein Kurzschwert ziehen und es ihm in den Bauch rammen. Doch dazu kam er nicht mehr...
Wie vom Schicksal bestellt, erschien in diesem Augenblick ein anderer Soldat zwischen den Felsen. Er hielt eine Kürbisflasche Mestas hoch und brüllte seinem Kumpanen etwas zu. Der hielt inne, torkelte einen Schritt zurück, brach zur Seite aus und schlug der Länge nach hin. Unter dem donnernden Gelächter seines Kameraden rappelte er sich wieder hoch, indem er sich schwerfällig auf sein Schwert stützte. Vom Mestas seines Kameraden magisch angezogen, torkelte er zurück und verschwand mit seinem Kumpanen wieder im Innern der Felsenburg.
Erleichtert atmeten sie auf. Das war knapp! Antarona sprang auf die Füße und zog Ravid energisch hinter sich her in den Schutz des dunklen Waldes.
»Antarona.., um Himmels willen.., sag diesem Suppenkasper, wenn er so eine Aktion noch mal versucht, dann braucht er keine schwarzen Reiter mehr, dann werde ich ihm höchstpersönlich sein Fell über die Ohren ziehen!« Wütend brach es aus Sebastian heraus und er musste sich sehr zusammenreißen, sonst hätte er es lauthals hinaus geschrien.
Wieder etwas beruhigt saßen sie am Waldrand in der Finsternis und spähten zwischen zwei Felsen hindurch zum Feuer der Frauen hinüber. Nach einer Weile erhob sich eine der Gefangenen, öffnete ihre grobe Leinenbluse etwas weiter, so dass man einen tieferen Einblick in ihr Dekolletee erhielt und schlenderte aufreizend zum Feuer der schon ziemlich angetrunkenen Reiter hinüber.
Rasch musste Sebastian seinen Standort wechseln, um weiter zu beobachten. Zwischen zwei anderen Felsen hindurch sah er, wie sie mit einem der Soldaten sprach, der zunächst antwortete und sich dann unter anfeuernden Zurufen seiner Gefährten erhob. Er begann am Rock der Frau herumzufingern, die sich aber seinem Griff entzog und langsam auf den Felswall zuging. Dabei wackelte sie so auffällig mit ihren Rundungen, dass ihr der Mann wie in Hypnose folgte. Johlende, begeisterte Zurufe der anderen Männer folgten ihnen.
Ohne zu Zögern huschte Sebastian zu Antarona und den Brüdern hinüber: »Also.., es geht jetzt los...«, informierte er sie, »...und sag deinem Helden hier«, dabei zeigte Basti auf Ravid, »...wenn dein Pfeil den Kerl verfehlt, liegt es an ihm und seiner Armbrust, ob wir leben, oder sterben! Mach dem das bloß deutlich klar!« Daraufhin verschwand Sebastian mit Daffel und seinem gezogenen Schwert im Wald. Sollten Antarona und Ravid es nicht schaffen, das Leben des Reiters lautlos und schnell zu beenden, dann lag es bei ihnen, die Situation zu retten.
Wie erwartet, lockte die Gefangene den vor sich hin grunzenden, angetrunkenen Mann zum Waldrand. Er folgte ihr und versuchte ständig erfolglos, ihren Rock zu greifen. Die Frau drehte sich um, warf ihm einen Handkuss zu und ging dann zwischen der ersten Bäumen hindurch. In einer Hand die Flasche Mestas, in der anderen eine Fackel, streckte er seine Arme vor und tastete sich seinem vermeintlichen Opfer hinterher in den Schatten der Bäume...
Plötzlich durchbrach ein leises Zischen die Stille. Der Mann packte sich an seinen Hals und bevor er noch begriff, was mit ihm geschehen war, sackte er tot zu Boden. Sofort sprangen Daffel und Sebastian aus dem Unterholz. Daffel nahm die Frau bei den Schultern und führte sie zu ihrem Platz hinter dem Felsen im Wald. Mühsam schleifte Sebastian den schweren Brocken eines Mannes in das Dickicht. Kurz darauf fasste Ravid mit an und sie ließen den nach Mestas und Schweiß stinkenden Leichnam unter einem Haufen Blätter verschwinden.
Inzwischen hatte Antarona das Lager beobachtet. Erwartungsvoll sah sie Sebastian an und er machte nur ein stummes Zeichen, indem er seine Handkante am Hals vorbeiführte. Antarona nickte zufrieden. Sie wies auf das Lagerfeuer der Frauen. Sofort erkannte Sebastian, dass sie bereits einen nächsten Kunden hatten.
Ein kleiner, untersetzter Kerl mit Halbglatze griff eine der jungen Frauen am Handgelenk und zerrte sie grob in die Höhe. Er war wohl am Beispiel seines Kameraden auf den Geschmack gekommen und suchte sich nun seinerseits eine Gefangene aus, die ihm seine Begierden erfüllen sollte. Das Mädchen war ziemlich raffiniert: Sie küsste den Mann flüchtig auf die Stirn und tänzelte gleich gezielt in Richtung Felswall, wobei sie auffordernd mit ihren Reizen spielte. Dem Reiter traten fast seine glotzenden Augen aus den Höhlen und sein Speichel begann ihm, wie bei einem Irren, aus dem Mund zu tropfen.
Das Mädchen lief vor ihm her dem Wald zu, entfernte sich aber nur so weit von ihrem Peiniger, dass dieser glaubte, sie im nächsten Augenblick greifen zu können. Sie hatten die schützende Dunkelheit der Bäume noch nicht erreicht, da strauchelte das Mädchen und fiel hin. Vor Schreck hörte Sebastian auf zu atmen...
Sofort ließ der schwere Klops seine Fackel achtlos in das Gras fallen und warf sich mit seinem ganzen Gewicht brutal auf sein zartes Opfer. Das Mädchen schrie vor Angst auf. Augenblicklich brandeten grölendes Gelächter und anfeuernde Rufe hinter den Felsen auf. Anscheinend malten sich die Soldaten bildlich aus, wie sich ihr Kamerad an dem Mädchen verging.
In dem Augenblick, wo sich der massige Körper des Reiters auf das hilflose Mädchen drückte, wusste Sebastian, dass Antarona nicht schießen würde. Wie leicht konnte sie das Mädchen treffen! Deutlich erkannte er im Schein der Fackel, wie der dicke Soldat dem Mädchen das Oberteil vom Leib riss und sich mit einem tierischen Laut über sie beugte. Das war zuviel!
»Du bleibst hier und rührst dich nicht!«, zischte er Daffel zu, der plötzlich wieder neben ihm auftauchte. Da fiel Sebastian ein, dass der ihn doch gar nicht verstehen konnte. Er machte eine Handbewegung zum Boden und bedeutete ihm, sich nicht von der Stelle zu bewegen. Dann zog Sebastian sein Bowiemesser aus dem Gürtel und flitzte los...
Wie ein fliegender Schatten kam er rutschend neben dem Kerl an, der gerade den kurzen Lederschurz des Mädchens über ihren Bauch nach oben schieben wollte. Mit beiden Händen umklammerte Sebastian den Griff des großen Messers, stemmte sich mit den Knien in den Boden, holte aus und rammte dem fiesen Soldaten die stählerne Klinge mit voller Wucht tief in den Rücken.
Der Mann bäumte sich auf, doch Sebastian drückte ihn mit dem Messergriff sofort wieder nach unten. Er wollte um Hilfe schreien, brachte aber nur noch ein blubberndes Röcheln hervor. Dann erschlaffte sein dickleibiger Körper über dem Mädchen. Mit entsetzten Augen sah sie Sebastian an und er gebot ihr mit seinem Zeigefinger über dem Mund zu schweigen.
In tiefer Abscheu riss er dem Soldaten das Messer aus dem Rücken. Blut tropfte ihm aus dem Mund und lief dem Mädchen über die nackte Haut. Mit aller Kraft griff Sebastian dem Sterbenden an die Schulter und rollte ihn vom Körper des Mädchens herunter. Gleichzeitig gab er Antarona ein Zeichen, dass er die Lage unter Kontrolle hatte.
Anschließend riss er das entblößte Mädchen vom Boden hoch, nahm die Fackel und zog das arme Geschöpf rücksichtslos zum Waldrand. Sie tat Sebastian unendlich leid und viel lieber hätte er sie schützend in die Arme genommen, doch für die Soldaten im Felsenfort, die möglicherweise herüber sahen, musste es so aussehen, als schleppte ihr Kamerad das Mädchen gegen ihren Willen in den Wald.
Sebastian packte sie so fest am Arm, dass sie noch einmal aufschrie. Sofort folgte ein schadenfrohes Lachen und Rufen aus dem Innern der Felsenburg. Wenn die gewusst hätten, was tatsächlich geschehen war, wäre ihnen der Spaß ganz sicher im Halse stecken geblieben!
Sekunden später erreichte Sebastian mit dem Mädchen den Waldrand, wo Antarona bereits auf sie wartete: »Es kommen noch zwei von denen...«, raunte sie ihm zu. Und zu Daffel gewandt sagte sie: »Kümmere dich um sie, ja?«
Daffel nahm das zitternde Wesen in seine Arme und hob es mit einem Schwung hoch, um es in Sicherheit zu tragen.
»Sachte, Daffelchen, sachte...«, rief ihm Sebastian leise hinterher, »...geh behutsam mit ihr um, Junge!« Und an seine Gefährtin gerichtet, fragte er:
»Was wollen wir jetzt machen, da draußen liegt noch der dicke Scheißkerl in seinem Blut. Wenn die den finden, ist hier die Hölle los!«
Die Warnung hatte er noch nicht ganz ausgesprochen, da torkelten zwei weitere Pferdesoldaten aus dem natürlichen Fort, zwei junge Frauen hinter sich her ziehend. Sie prosteten sich gegenseitig zu, stießen die Mädchen voran und wollten sich köstlich darüber amüsieren, als die beiden stolperten und schreiend übereinander fielen.
In der gleichen Sekunde zischte Antarona Ravid zu: »Spannt euren Bogen.., wir müssen jetzt sehr gut sein, Sohn von Mittelau.., ihr den Großen, Sonnenherz übernimmt den Kleinen..!« Sie hatte das gerade ausgesprochen, da entdeckte der kleinere der beiden Soldaten die regungslose Gestalt seines Mitstreiters im Gras. Zunächst schaute er entgeistert, zögerte und wusste wohl nicht recht, was er davon halten sollte. Dann sah er das Blut und konnte sich eins und eins zusammenreimen...
Ein Sirren und ein Surren, beinahe gleichzeitig! Plötzlich sanken die beiden Soldaten stumm in sich zusammen und blieben liegen, wo sie eben noch standen. Nun hatten sie drei Leichen im Feuerschein auf der Wiese liegen! Die beiden Mädchen standen staunend und wie angewurzelt da. Schon huschte Daffel heran und griff sich die beiden verstörten Frauen. Er beruhigte sie und zog sie aus dem Schein des Feuers unter den Deckmantel des Waldes.
Sebastian war beeindruckt. Mochte sich Ravid auch etwas trottelig bewegen... Schießen und treffen konnte er wenigstens, das musste man ihm lassen! Seine Sorge galt nun den drei Leichen. Die Toten mussten von der Felsfestung her aussehen, wie drei gestrandete Wale. Sebastian zweifelte keine Sekunde lang daran, dass sie von den Lagerfeuern aus gut zu sehen waren. Doch sie konnten sie auch nicht wegschleppen. Diese Aktion hätte die restlichen Männer Torbuks sofort auf den Plan gerufen.
»Los.., in die Deckung der Felsen.., rasch.., und leise!«, flüsterte er Antarona zu, die es an Ravid weiter gab. Lautlos huschten sie durch das Gras und jeder von ihnen drückte sich an einen Felsen. In diesem Moment schrie eine Frau im Innern der Felsenburg auf und plötzlich wurde es laut an den Lagerfeuern. Die Männer johlten und brüllten anfeuernde Rufe. Wieder schrie die junge Frau, diesmal so entsetzlich, dass Sebastian das Blut in den Adern stockte.
Lautes Lachen und Brüllen folgte, das sich aber vom Klang her plötzlich veränderte. Auch die Schreie der Frau hörten sich auf einem Mal so an, als hätte man sie in ein großes Weinfass gesperrt. Antarona kam durch den Feuerschein zu Sebastian herüber gesprungen:
»Das war Annuk, Ba - shtie.., Annuk, versteht ihr?« Sie sah ihn mit durchdringendem Blick an, als erwartete sie eine Entscheidung von ihm.
»Ja, ist möglich...«, gab Sebastian gehetzt zurück, »...aber was sollen wir jetzt machen..? Reingehen..?« Aber die Entscheidung wurde ihnen bereits abgenommen...
Ein riesiger Schatten verdunkelte den Feuerschein auf dem Grasstreifen und eine tiefe Stimme brüllte einen Befehl. Keine Sekunde später torkelte ein großer Mann in voller Rüstung und mit gezogenem Schwert auf die Toten zu. Er bemerkte die wartenden Gefährten nicht, denn der Schatten verschluckte sie noch.
Antarona war fürchterlich schnell. Bogen spannen und Schießen war eine einzige fließende Bewegung. Der Mann krächzte noch etwas, dann schlug er neben seinen toten Kameraden hin. Er griff sich mit beiden Händen an den Hals, strampelte mit den Beinen und sein Körper zuckte wie in einem epileptischen Anfall.
Das warnte nun auch den Rest der Horde. Einer nach dem anderen kamen sie aus der Felsenlücke gestürmt und waren nach dem großzügig genossenen Mestas noch erstaunlich flink. Vorgewarnt, wie sie waren, sahen sie sich augenblicklich um. Der erste ging mit einem mächtigen Schwert auf Sebastian los, schwang das Ding über seinem Kopf und ließ es auf ihn niedersausen. Es traf die Klinge von Sebastians Kurzschwert dermaßen hart, dass er glaubte, sein Arm müsste zerspringen. Sein Handgelenk fühlte sich an, als hätte er mit einem feuchten Lappen in eine Steckdose gefasst.
Taumelnd fuhr Sebastian zurück und rempelte Antarona an, die gerade einen Pfeil von ihrer Sehne schnellen ließ. Der verfehlte natürlich weit sein Ziel. Ein zweiter Soldat kam heran und schwang eine gezackte Kettenkugel, die genau auf Antaronas Kopf zuraste. Sie wich dem todbringenden Eisen aus und fiel hart gegen den Felsen. Im gleichen Augenblick durchschlug ein kurzer, kräftiger Pfeil den Kopf des Kugelschwingers, der explosionsartig zerplatzte, wie eine Wassermelone.
Der Krieger mit dem Schwert holte ein zweites Mal aus. Da steckte, wie von Zauberei geführt Antaronas Schwert in seiner Brust. Er torkelte rückwärts und riss einen anderen Pferdesoldaten um, der in diesem Augenblick durch die Felsenlücke gerannt kam. Nun war Sebastian wieder mit dem Schwert bei der Hand. Stinkwütend stieß er ihm das Ding so weit in den Leib, dass er ihn damit regelrecht an die Erde spießte.
Mit großer Anstrengung riss Sebastian die Waffe wieder aus ihm heraus und gewahrte gerade noch aus den Augenwinkeln, dass zwei weitere Kerle Ravid bedrängten, der ihnen als Schutzschild seine ungeladene Armbrust entgegen hielt. Ohne nachzudenken griff Sebastian nach Antaronas Schwert, zog es aus der Brust des anderen Soldaten und warf es ihr mit dem Griff voran in der gleichen Bewegung zu:
»Hier.., fang.., hinter dir.., Ravid!«, schrie er sie an. Antarona schnappte sich die leichte Waffe mit einer erstaunlichen Griffsicherheit, wirbelte herum und stürmte auf die beiden Reiter los, die Ravid schon fast zu Boden geschlagen hatten. Sie hieb dem ersten das Schwert so heftig in die Schulter, dass sie ihm beinahe den Arm vom Körper trennte. Das Blut spritzte in einem unnatürlichen Strahl aus seiner Wunde. Unterdessen holte der zweite Reiter mit seinem Schwert aus. Antarona hatte keine Chance...
Doch urplötzlich riss der Soldat seinen Mund auf... Sein Schwert verfehlte Antarona nur um haaresbreite und schlug in den Boden. Der Mann stützte sich darauf und fiel mitsamt seinem Schwert auf die Seite. Eine noch wackelnde Lanze steckte in seinem Rücken! Aus dem Schatten des Felsens trat eine junge Frau hervor, ebenso dürftig in Leder und Fell gekleidet, wie Antarona.
Als Sebastian angesichts der Rettung Antaronas in letzter Sekunde aufatmen wollte, spürte er einen lähmenden Schmerz in seinen Rücken. Seine Knie versagten ihren Dienst und er fiel... Eine Weile bekam er keine Luft mehr, dann setzte schmerzhaft seine Atmung wieder ein. Umständlich und in Panik drehte er sich auf dem Boden herum und sah in das hassverzerrte, bärtige Gesicht eines hellhaarigen Riesen. Der holte gerade zum zweiten Schlag aus...
Doch unvermittelt sprang ihn ein Schatten an. Wie aus dem Nichts schoss er an dem hühnenhaften Soldaten vorbei und verpasste ihm dabei offenbar einen gezielten Schlag auf den Kopf. Der blonde Riese brüllte vor Wut auf und drehte sich um. Das hätte er lieber lassen sollen! Das Donnerwetter, das nun über ihn hereinbrach, ließ ihn sein Schwert aus den Händen gleiten und ihn seine dicken Arme schützend über seinen Kopf halten. Doch es nützte ihm nichts!
Wie ein Wirbelwind war Daffel plötzlich vor ihm aufgetaucht. In jeder Hand hielt er einen seiner seltsamen, kräftigen Stöcke. Wie in einer akrobatischen Darbietung ließ er die Knüppel mit einer Schnelligkeit in seinen Händen tanzen, dass es mit bloßem Auge nicht mehr zu verfolgen war. Ein wahres Trommelfeuer ging auf dem Haupt des Soldaten nieder! Dieser versuchte vergeblich die heftigen, kurzen Schläge abzuwehren. Aber er war einfach viel zu langsam für Ravids sehnigen Bruder.
Es war eine Sache von Sekunden, da lag der mächtige Körper des Reiters blutüberströmt, zitternd und zusammengedroschen im rot gefärbten Gras. Dann wurde es still. Kein Soldat kam aus der Felsenburg gestürzt, kein Kampflärm erfüllte mehr die Nacht. Aber noch wussten sie nicht, was sie in der Felsenfestung erwartete.
Stumm gab Sebastian Antarona ein Zeichen, dass er mit ihr gleichzeitig durch die Felslücke stürmen wollte. Daffel und Ravid sollten ihnen Rückendeckung geben. Das Mädchen, das die Lanze geworfen und Antaronas Leben gerettet hatte, schloss sich ihnen ebenfalls an.
Langsam pirschten sie sich vor. Antarona mit gespanntem Bogen auf der einen Seite des Durchgangs, Sebastian mit blankem Schwert auf der anderen. Sie stürmten vorwärts, als sie die Lücke zur Hälfte hinter sich hatten. Auf dem Platz vor dem Bergwerksstollen brannten die Lagerfeuer. Eine Hand voll Frauen und Mädchen standen erwartungsvoll inmitten der zuckenden Feuer. Es war kein Pferdesoldat mehr da.
»Wo ist Annuk.., das Mädchen, das geflohen war und zu euch zurück gekommen ist.., Annuk, wo ist sie?«, fragte Antarona die Frauen ungeduldig in ihrer Sprache. Zwei junge Frauen zeigten stumm auf den höhlenartigen Eingang zum Bergstollen.
»Daffel, du bleibst bei den Ladys!«, ordnete Sebastian an und machte ein deutliches Zeichen mit der Hand, weil er wusste, dass Daffel mit seinen Worten nicht viel anfangen konnte. Dann schlichen Antarona, Ravid und Basti zum Eingang des Stollens. Dunkelheit empfing sie. Das Mädchen, das die Lanze geworfen hatte, reichte ihnen noch zwei brennende Fackeln. Aus den Augenwinkeln gewahrte Sebastian, dass Daffel keineswegs draußen wartete, sondern ihnen wie ganz selbstverständlich nachging.
Im zuckenden Licht arbeiteten sie sich vorwärts, die Waffen bereit zum Kampf. Sie folgten einem mit Holzstempeln gesicherten Gang. Er führte in einen breiteren Raum, in dem sich Holzkisten, Werkzeuge, ein paar verrostete Waffen, sowie ein alter Leiterwagen befanden. Zwei Gänge an der Rückwand des Raumes führten weiter in den Berg hinein.
Antarona untersuchte die Spuren auf dem Höhlenboden, um festzustellen, welchen Gang sie nehmen mussten. Sie fand jedoch keine brauchbaren Anhaltspunkte. Sie mussten sich also aufteilen, oder die Gänge nacheinander untersuchen. Indem sie darüber nachdachten, ließ ein Schrei jeglichen Gedanken gegenstandslos werden. Dieser Schrei hatte etwas so verzweifeltes, endgültiges, in seinem Klang, dass es ihnen heiß und kalt über den Rücken lief.
»Annuk..!«, flüsterte Antarona besorgt. Sebastian nickte stumm und wies mit dem Kopf auf den Gang, aus dem der Laut gedrungen war. Auf alles gefasst, huschten sie durch den Gang, der erstaunlich präzise in den Berg gehauen war. Er mündete in eine Art große Halle, die von mehreren Fackeln ausgeleuchtet wurde. Auf einer Seite waren Boxen für Pferde errichtet, auf der anderen standen Werkzeuge und allerlei anderes Gerät herum.
Die Decke der Halle wurde von drei mächtigen Stützen aus Holz getragen, die untereinander mit ebenso kräftigen Querstreben versehen waren. An einer der groben Streben hing, an den Handgelenken rücksichtslos mit derben Stricken angebunden, Annuk. Jedenfalls das, was von dem hübschen, kleinen Mädchen übrig war...
Das Bild, das ihnen das flackernde Licht der Fackeln bot, war so entsetzlich, dass ihnen die Tränen in die Augen traten. Bis auf einen schmutzigen Lappen, den ihr jemand auf den gesenkten Kopf geworfen hatte, war Annuk unbekleidet. Ihre langen schwarzen Haare hingen ihr in wilden, nassen Strähnen vor dem Gesicht.
Ihr ganzer Körper war mit Wunden übersät, die zum Teil noch bluteten. Ihre kleinen Brüste wurden offensichtlich einer Fackel, oder einem brennenden Stück Holz ausgesetzt. Sie waren nur noch tiefe, offene Brandwunden, aus denen das rohe Fleisch hervortrat. Tiefe Schnittwunden bedeckten ihren Bauch, sowie ihre Beine und Füße. Dunkle Blutergüsse an ihren Oberschenkeln erzählten ihnen, auf welche Weise sich ihr Peiniger mit ihr vergnügt hatte...
»Annuk.., meine arme, kleine Annuk...«, flüsterte Antarona und strich dem Mädchen behutsam die Haare aus dem Gesicht. Sofort fuhr sie erschrocken zurück! Der liebliche Anblick, den sie von Annuks Gesicht in Erinnerung hatten, war einer entstellten, aufgequollenen Fratze gewichen. Die Nasenflügel wurden ihr aufgerissen, ebenso ihre Wangen. Stirn, Mund und Kinn hatte man mit einem Muster aus blutigen Schnitten versehen. Mit leblosem, verschleiertem Blick starrte sie in eine ferne Leere. Jegliches Gefühl, jede Regung war aus ihren Augen gewichen.
»Los.., fasst mal mit an..!«, forderte Sebastian seine Freunde auf. Sie mussten das arme Geschöpf von dem Querbalken herunter holen. Doch keiner von ihnen wusste, wie sie das machen sollten, ohne dem geschundenen Mädchen noch mehr Schmerzen zuzufügen. Sie mussten sie hoch heben, um die Stricke zu durchschneiden, doch sie fanden keine Stelle an ihrem Körper, der nicht verletzt war und wo sie Annuk hätten anfassen können.
Daffel ergriff die Initiative und Sebastian bemerkte allmählich, dass er einen sehr ausgeprägten Sinn für Feinfühligkeit besaß. Er umfasst ihre Oberschenkel und hob sie sanft an. Mit zwei Schnitten durchtrennte Sebastian die Stricke. Sofort kippte ihr Oberkörper nach vorn, über Daffels Kopf. Rasch sprang Antarona hinzu und fing sie an den Schultern auf. Ravid hatte inzwischen ein paar Felle gebracht und auf dem Boden ausgebreitet.
Sachte legte Daffel das Mädchen darauf und hielt beschützend ihren Kopf. Das Mädchen mit der Lanze brachte ein paar grobe Tücher, mit denen Antarona Annuks Körper abdeckte.
»Sie braucht jetzt Wärme.., viel Wärme, unsere Annuk«, sagte Sie verzweifelt. Hilflos blickte Antarona zu Sebastian auf. Sie wusste, dass kaum jemand etwas für ihre neue, kleine Freundin tun konnte.
Sie mit Fellen zudecken war nicht möglich, ohne ihre fürchterlichen Wunden zu belasten. Sie hinaustragen ging ebenfalls nicht, da sie nicht ohne spezielles Gerät transportfähig war. Sie wussten ja nicht einmal, ob sie innere Verletzungen davon getragen hatte. Das Feuer zu ihr bringen war auch unmöglich, da der Rauch in diesem Stollen nicht abziehen konnte. Annuk würde einfach ersticken!
»Also.., hier lassen werden wir sie auch nicht!«, entschied Sebastian. Dabei sah er sich um und entdeckte einen großen Stapel Bauholz an der Wand. Grobe, ungehobelte Latten, Kanthölzer, Streben und Stangen waren in einem chaotischen Haufen zusammengeworfen worden.
»Wir bauen eine Trage, los.., Daffel und Ravid sollen mal mit anfassen...«, hoffte er auf Antaronas Übersetzung und ging mit einer Fackel zu dem Holzstapel hinüber. Auf einem Mal geriet der ganze Holzstoß in Bewegung! Latten und Querhölzer polterten vor Sebastians Füße, Stangen sprangen ihm ins Gesicht und wie aus einer Trickkiste sprang ein Pferdesoldat aus dem Holzhaufen an ihm vorbei, dem Ausgang des Stollens zu.
In einer reflexartigen Bewegung sprang Ravid hinzu und schlug dem flüchtenden seine Armbrust über den Kopf. Der Mann strauchelte, schlug gegen die Stollenwand und fiel hin. Bevor er sich wieder hochrappeln konnte, waren Ravid und Daffel über ihm. Mit einer nicht zu bremsenden Wut schlugen sie auf ihn ein und hörten nicht mehr auf. Sie vermuteten in diesem Mann den Schänder Annuks und ließen ihren Rachegefühlen freien Lauf. Laut schimpfend und fluchend traktierten sie den inzwischen zusammengekauert daliegenden Körper mit Daffels Knüppeln. All ihr angestauter Hass wurde frei und sie steigerten sich immer mehr in eine zerstörerische Raserei.
Mit vier Schritten war Sebastian bei ihnen und riss sie von dem wimmernden, feigen Banditen weg: »Genug..! Hört auf, das reicht jetzt..!« Die Brüder rissen sich los und fielen erneut über den Reiter her.
»Schluss jetzt..! Das reicht.., das merkt der doch sowieso nicht mehr!« Mit diesen Worten schob Sebastian die beiden endgültig von ihrem Opfer fort.
»Helft mir lieber mit dem Holz da drüben...«, ermahnte er die beiden, »... damit wir Annuk endlich aus diesem Verlies herausbringen können!«
Ein paar Lederschnüre und die zerschnittenen Stricke genügten, um eine provisorische Trage zusammen zu bauen. Vorsichtig legten sie Annuk darauf und hoben sie hoch. Das laienhaft zusammen gezimmerte Gestell ächzte bedenklich.., aber es hielt! Langsam und bedächtig trugen sie das mutige, kleine Mädchen nach draußen. Den zusammengeschlagenen Soldaten ließen sie ohne weitere Aufmerksamkeit liegen. Der wurde ihnen nicht mehr gefährlich!
Draußen standen die befreiten Frauen immer noch ratlos um die Lagerfeuer herum. Von Torbuks Soldaten war keiner mehr zu sehen. In Gedanken zählte Sebastian nach und kam zu dem Schluss, dass auch keiner mehr da sein konnte..! Anscheinend hatten sie alle erwischt. Fünf mutige Freunde hatten Torbuks Trupp tatsächlich bis auf den letzten Mann vollständig aufgerieben!
Dabei war Annuk an diesem Tag ihre große Heldin! Ohne ihren Einsatz und ihren Mut hätten sie wahrscheinlich keine der Frauen befreien können. Dafür hatte Annuk jedoch einen hohen Preis bezahlt! Und sie alle, die befreiten Frauen und Mädchen und auch ihre Retter, schuldeten diesem Mädchen mit einem Herzen so groß wie eine Lokomotive, die höchste Achtung, die einem Menschen überhaupt zu teil werden konnte!
»Antarona.., sag Ravid und Daffel, sie können jetzt die anderen Frauen aus dem Wald zurück holen! Die haben wir ja fast vergessen!«, sagte Sebastian seiner Gefährtin, indem sie Annuks Trage am Feuer absetzten. Antarona übersetzte seine Bitte und die Brüder trabten in der Dunkelheit davon.
Das Mädchen mit der Lanze scharte plötzlich die anwesenden Frauen um sich. Sie griffen sich irgend eine Waffe, einen Knüppel, oder auch nur einen Stein und gingen zielstrebig in den Bergstollen hinein. Ihre versteinerten Minen zeigten eine kalte Entschlossenheit. Antarona wollte sich ihnen in den Weg stellen und sie aufhalten, doch Sebastian hielt sie zurück:
»Lass sie gehen, Antarona, du kannst sie nicht aufhalten..! Wenn sie es jetzt nicht tun, dann tun sie es später... Du kannst das nicht verhindern!« Der intensive Blick ihrer tiefen, leuchtenden Augen sprach Bände. Sie nickte nur leicht und hockte sich wieder neben Annuk. Ihr Zustand war hoffnungslos. Trotzdem, oder gerade deshalb bemühten sie sich, Annuk so gut zu versorgen, wie es unter diesen Umständen möglich war.
Dieses Mädchen, das mehr Mut besessen hatte, als alle anderen zusammen, ja sogar mehr als alle Männer in ihrem Dorf, wollten sie unter keinen Umständen dem Reich der Toten preisgeben! Doch in dieser Nacht lernte Sebastian einmal mehr, dass es den Menschen trotz allem Mut, trotz aller guten Gedanken und aller Anstrengungen nicht beschieden ist, sich ihrem Schicksal zu entziehen...
Daffel und Ravid kamen mit den Frauen zurück, die sie hinter dem Felsen im Wald in Sicherheit gebracht hatten. Ihre entsetzten Blicke irrten suchend auf dem Platz umher. Antarona beruhigte sie und wies auf den Bergwerksstollen. Die Gesichter der Befreiten hellten sich auf.
Kurz darauf kehrten die Frauen aus dem Berg zurück. Sie trugen keine Waffen mehr. Ihre Hände waren blutverschmiert und ihre Beine trugen ebenfalls rote Spritzer. Sie sagten kein Wort, schlossen nur stumm ihre gerade angekommenen Gefährtinnen in die Arme und setzten sich schweigend an die Lagerfeuer.
Antarona blieb bei Annuk, während Sebastian mit den beiden Brüdern die Soldaten untersuchte. Bis auf einen waren alle Männer Torbuks ihren Verletzungen erlegen. Der blonde Riese, den Daffel mit seinen dicken Stöcken bearbeitet hatte, lebte noch. Er blutete aus vielen Platzwunden, die eigentlich genäht werden mussten. Außerdem musste er sich wohl mit einigen Frakturen herumquälen. Jede seiner Bewegungen, als sie ihn in den Kreis der Lagerfeuer brachten, schien ihm unsäglichen Schmerz zu bereiten.
Niemand war auch nur im Mindesten bereit, sich seiner Verletzungen anzunehmen und bei dem Blick, den ihm die Frauen zuwarfen, konnte er froh sein, dass sie ihn nicht auf der Stelle massakrierten. Hätten sie es versucht, so wären wohl weder Sebastian noch Antarona in der Lage gewesen, sie davon abzuhalten.
Die toten Reiter schleiften Daffel, Ravid und Sebastian in den Eingang des Bergwerks, damit zumindest in dieser Nacht nicht noch die Tiere daran herum fraßen. Die Pferde der schwarzen Soldaten leisteten ihnen dabei gute Dienste.
Genau dreizehn Pferde hatte ihnen Torbuks Truppe hinterlassen. Dazu einige Waffen, für die sie aber keine Verwendung hatten, da sie ihnen zu schwer erschienen. Die Schwerter waren von solcher Größe, dass Sebastian keines davon, selbst mit beiden Händen, zu führen vermochte. Und mit Mordinstrumenten, wie Kettenkugeln, oder Äxten wusste er nicht viel anzufangen. Sie trugen das ganze Zeug in den Bergstollen.
Dann ließen sie die Feuer niederbrennen und legten sich zur Ruhe. Die Frauen wickelten sich in die Felle, die ihnen ihre Peiniger hinterlassen hatten und schliefen erschöpft ein. Antarona, Sebastian und die Brüder, sowie das Lanzenmädchen hielten abwechselnd immer zu zweit Wache. Einer postierte sich auf dem höchsten Felsen, um Ausschau nach Feinden zu halten, während der andere bei Annuk blieb, ihr die Wunden abtupfte, ihr Hoffnung und Mut machte und ihr das Gefühl gab, nicht allein zu sein.
Vieles hatte Sebastian erlebt, seit er von Högi Balmers Hütte aufgebrochen war. Weder sein Geist, noch sein Körper waren in dieser Zeit einmal wirklich zur Ruhe gekommen. Im Grunde war er so etwas von todmüde, dass er sich wunderte, noch nicht einfach umgefallen zu sein. Dennoch konnte Sebastian keinen Schlaf finden. Unruhig wälzte er sich hin und her, bis er es nicht mehr aushielt und seinen Schlafsack verließ.
Ziellos wanderte er durch den Steinwall auf den Wiesenstreifen und weiter zur Felswand hinüber, von der aus er mit Antarona am Abend das Lager der Soldaten beobachtet hatte. Ein Stück weit stieg er hinauf, gerade so viel, dass er das bewaldete Tal einsehen konnte. Müde ließ er sich auf einem Grasflecken nieder und sah hinab.
Die Lagerfeuer glommen nur noch, feine Rauchsäulen stiegen in den nächtlichen Himmel, wurden vom fahlen Licht des Mondes angestrahlt. So friedlich ruhte das Lager unter ihm, dass es ihm schwer fiel, sich zu erinnern, welche Grausamkeiten sich noch vor ein paar Stunden dort unten abgespielt hatten. Alles Erlebte schien nur ein böser Alptraum gewesen zu sein, aus dem Sebastian vorzeitig erwacht war.
Aber er selbst war an den Grausigkeiten beteiligt! Er hatte Menschen umgebracht! Wie viele eigentlich? Nachdenklich blickte Sebastian auf seine Handflächen und schüttelte langsam den Kopf. Wie rasch hatte er doch das angenehme Fell der Zivilisation abgestreift! Er hatte in einem Kampf Männer getötet, erinnerte sich aber schon nicht einmal mehr daran, wie viele!
Mit leeren Augen sah er in die Ferne, sah den dunklen Teppich des Waldes unter sich, und die schwarzen Silhouetten der Berge vor ihm. Darüber nur noch der Himmel, von funkelnden Lichtern übersät... War es überall so, wie hier? Gab es andere Welten dort oben, die noch grauenvoller sein konnten, als diese hier? Konnte er das, was er heute getan hatte, mit ruhigem Gewissen vor sich selbst verantworten, konnte er damit leben? Die Antwort stand nicht in den Sternen!
Seht es euch ruhig ganz genau an, Mann von den Göttern, damit ihr es ja nie wieder vergesst... Das - tun - sie - mit - uns! Wieder klangen Antaronas Worte in seinem Kopf. Dazu sah Sebastian im Geiste das Bild, wie Annuk an dem Holzpfeiler hing und er sah wieder das Bild von dem Mädchen in der Hütte des Wasserbauern... Und dann sah er Antarona, er sah Janine... Sie lag hilflos auf ein Wagenrad gebunden.., nackt.., schwarze Soldaten nahmen sie..., grölend.., lachend... Sie schrie Sebastians Namen, flehte um Hilfe.., er sah es.., er konnte ihr nicht helfen, er war machtlos und musste zusehen, wie ihr ein Mann das Messer in die Haut drückte und die Klinge über ihren Bauch zog.., über ihr Gesicht.., über die glatte Haut ihrer Beine... Daneben stand Högi Balmer. Er lachte. Er stand da, sah alles mit an und lachte. Aber er sah nicht auf Antarona, er sah zu Sebastian! Er sah ihm in die Augen und lachte, während Antarona Höllenqualen litt... »Väterchen Balmer hat es euch doch gesagt, habt ihr das schon vergessen.., Habt nicht hören wollen, auf das Väterchen, nicht.., hi, hi, hi...«
Dann verblasste das Bild wieder. Verzweifelt wischte sich Sebastian die Tränen aus den Augen. Er wollte nicht töten müssen, in welchem Land auch immer, wollte aber gleichzeitig auch niemals Antarona einer Gefahr ausgesetzt sehen. Sein Verstand sagte ihm, dass es nie ganz auszuschließen ist, dass einem geliebten Menschen etwas Böses widerfährt. Er erzählte ihm jedoch auch, dass man solche Möglichkeiten im Voraus einschränken konnte!
Ja! Was er heute für diese Menschen und für sich getan hatte, konnte er vor seiner Seele verantworten! Und Sebastian konnte damit leben! Solange er sich solches Leid ansehen musste, wie Annuk, oder das Mädchen in Zumweyer, konnte er damit leben, etwas dagegen getan zu haben! Mehr noch: Er musste dafür leben, etwas dagegen zu tun!
Dennoch suchte Sebastian nach einer Bestätigung für seine Entscheidung vor einer höheren Moral. Die Antwort, die er sich selbst gab, genügte ihm nur dann, wenn er an die Gräueltaten der schwarzen Soldaten Torbuks dachte. Um seinen inneren Frieden mit seiner Entscheidung von heute zu machen, als er bewusst Leben zerstörte, um anderes Leben zu schützen, stellte sich Sebastian vor, wenn Antarona an Annuks Stelle in das Felsenfort gegangen wäre...
Das Kollern von Steinen weckte seine Aufmerksamkeit. Das Geräusch wurde von der Felswand vielfach zurückgeworfen. Müdigkeit kämpfte mit Scharfsinn. Es dauerte eine Weile, bis Sebastian begriff, dass in Bewegung geratene Steine auch Gefahr bedeuten konnten! Bevor er noch zu reagieren wusste, stand jemand im Dunkeln neben ihm:
»Findet ihr keinen Frieden, Ba - shtie..?« Antarona setzte sich neben ihn und seufzte tief. Dann sagte sie leise:
»Ihr müsst nicht die Tränen der Trauer vergießen, ihr habt das getan, was richtig und gut war, Mann von den Göttern.., ihr habt gekämpft, wie ein großer Krieger, dem gegeben ist, andere Krieger zu führen. Antarona weiß nun, dass ihr der seid, auf den das Volk seit vielen Sommern wartet!«
»Es sind keine Tränen der Trauer, Antarona, es sind die Tränen der Angst!«, berichtigte Sebastian sie. Das Krähenmädchen sah ihn verwundert an:
»Wir haben Torbuks Pferdesoldaten besiegt, Ba - shtie, wir haben die Töchter des Volkes befreit und Rache genommen für das, was uns angetan wurde...«
»Aber das ist es ja gerade...«, gab er zu bedenken und fügte niedergeschlagen hinzu: »Ich denke an Annuk.., ich denke an des Wasserbauern Tochter.., ich denke an das Mädchen, dessen Muschelschmuck du jetzt bei dir trägst... Und ich denke an dich, Antarona.., ich muss immer wieder an dich denken!«
»Ihr denkt an mich, Ba - shtie - laug - nids.., wie meint ihr denn das..?«, wollte sie wissen. Er wusste nicht recht, wie er es ihr erklären sollte. Dieses Krähenmädchen war eine ausgezeichnete Kämpferin, sie war eine gute Fährtenleserin und hatte auch sonst unzählige, brauchbare Fähigkeiten, für die man sie in seiner Welt heilig gesprochen hätte. Dennoch wusste Sebastian nicht, wie er ihr plausibel machen konnte, dass er während des Kampfes Angst um sie hatte, weil sie das einzige war, das ihm wirklich von Herzen etwas bedeutete. Sie schien es als selbstverständlich hinzunehmen, jederzeit selbst verletzt, getötet, oder als Opfer missbraucht zu werden. Wie sollte er ihr da seine Angst erklären?
Andererseits.., was hatte er schon zu verlieren? Im ungünstigsten Fall konnte sie sich über seine Ängstlichkeit belustigen. Verzweifelt nach einer Antwort suchend, blickte er in den sternenübersäten Himmel.
»Sieh mal dort oben, Antarona.., siehst du das da, die vielen Sterne, die kein Mensch jemals wird zählen können..?«
»Ja, Ba - shtie«, flüsterte sie, »...das sind die Tränen der Götter! Sie vergießen sie für alle guten Menschen, die von uns gegangen sind, in das Reich der Toten... Vier neue Sterne seht ihr heute Nacht dort oben leuchten...«
»Vier neue Sterne..?«, fragte Sebastian erstaunt und sah Antarona fragend an. »Die Frau und das Mädchen im verlassenen Lager heute morgen.., das Mädchen im feinen Gewand auf dem Weg... Das sind nach meiner Rechnung drei..!«
»Annuk...«, sagte Antarona mit leiser, zitternder Stimme, »Annuk ist jetzt ebenfalls dort oben und leuchtet uns mit Mut und Herzensgüte von dort herab, damit wir niemals vergessen, wofür wir kämpfen und wofür wir sterben.., für die Freiheit, die zu lieben, die unser Herz glücklich machen...«
»Annuk..?«, fragte Sebastian traurig, »...arme, kleine Annuk.., das wusste ich nicht...« Antarona zitterte, als ein kühler Wind am Felsen entlang strich. Er nahm sie in den Arm und zog sie dicht an sich heran, um sie zu wärmen. Sie umklammerte ihn plötzlich mit ihren Armen und lehnte sich an ihn. Sebastian spürte, dass sie alles, was sie belastete und was sie allein in ihrem Herzen mit sich herumtrug, abladen wollte. Ihre warmen Tränen rannen stumm an seiner Schulter herab.
»Das, Antarona.., das meinte ich damit...«, erklärte er ihr leise, »...sieh dort hinauf, zu den Tränen der Götter... Eine funkelt nun dort oben für Annuk. Aber sieh genau hin.., dort hinten, dieser große, leuchtende Stern.., der größte von allen... Ich war traurig, weil ich mir vorgestellt hatte, du wärst dieser helle Stern, Antarona! Wenn du anstelle Annuks gegangen wärst, würde jetzt dieser hellste Stern für dich leuchten, weil meine Trauer um dich die größte sein würde, die ein Herz jemals zu fühlen vermag!«
Antarona hob den Kopf und sah ihn sanft an, während er weiter sprach: »Siehst du den kleineren Stern gleich neben dem großen, hellen? Das wäre die Träne, die für mich dort oben leuchten würde, Antarona.., wenn du heute dieser Stern geworden wärst, so wäre ich der kleinere neben dir und würde bis in alle Ewigkeit an deiner Seite strahlen...«
Mit feuchten Augen und einer Wärme tief aus ihrem Herzen sah sie ihn an: »So sehr mögt ihr mich, Ba - shtie - laug - nids.., so sehr, dass ihr Tränen für Antarona vergießt, bevor sie noch in das Reich der Toten eintritt?«
»Ja.., so sehr liebe ich dich, mein Sternchen.., so sehr und noch viel mehr...«, versicherte er ihr leise. Sie rollte sich wie ein kleines Schutz suchendes Kätzchen in Sebastians Armen zusammen und er spürte, dass er ihr Eis allmählich zum schmelzen brachte.
Den Rest der Nacht verbrachten sie eng aneinander gekuschelt in der Felswand hoch über dem Lager. Sie wärmten sich gegenseitig. Um den Wachwechsel kümmerten sie sich nicht mehr, denn von dort oben konnten sie das halbe Tal überblicken. Wäre eine Reiterhorde angerückt gekommen, sie hätten es rechtzeitig bemerkt, um das Lager warnen zu können.

Der Morgen war kalt. Ein weißer Nebelteppich stieg aus dem Tal auf, wie eine Herde von wattigen Schafen, die dicht gedrängt bergwärts zogen. Kleine Lämmchen trennten sich von der Masse und schlichen sich durch die Stämme der hohen Bäume in das Seitental hinauf. Sie schwebten langsam über das Lager bis zu ihrer Felswand, wurden dann vom leisen Wind erfasst, der sie hoch hob, bis zu ihrem Platz, wo sie eine nasse Kälte verbreiteten.
Immer mehr dieser kleinen Nebel lösten sich aus dem Talgrund und flogen über ihnen hinweg den hohen, vergletscherten Gipfeln zu. Dann entzündete sich an den vereisten Flanken der Berge ein Feuer. Zaghaft erst, dann wie die Flamme eines Schneidbrenners, schließlich explodierten hunderte von gleißenden Strahlen an den Bergkanten und schossen in alle Richtungen herab.
Sofort erleuchteten Teile des Waldes, der Wiesen und die Felsenburg, die das Lager schützte, warf lange Schatten. Helles Sonnenlicht lag plötzlich auch auf ihren Körpern und hauchten ihnen neues Leben ein. Antarona schmiegte ihren Leib noch enger an Sebastian und drehte sich in ihrer gegenseitigen Umklammerung, um jeden wärmenden Strahl der aufgehenden Sonne mit ihrer Haut einzufangen.
Die Stimmen des Tages erwachten, verhalten erst. Doch dann entbrannte eine Flut von Lauten und Gerüchen, die in ihrer Komposition reine Zufriedenheit vermittelte. Antaronas Krähen segelten aus dem Nichts heran, ließen sich auf einer vertrockneten Wurzel nieder und begannen mit Hingabe, in der jungen Sonne ihr schwarzes Gefieder zu putzen. Die Vögel des Waldes begrüßten sich mit einer Morgenmelodie, wie sie lieblicher nicht klingen konnte.
Irgendwo begann ein Specht seinen trommelnden Hammerschlag und dort, wo die Sonne großzügig ihr Licht ausbreitete, summten hunderte von Insekten heran und begannen ein Konzert, das den ganzen Tag lang weiter klingen würde. Dieser Moment, der einen neuen Tag werden ließ und die Schatten des vergangenen Tages zu begraben versuchte, besaß etwas so beruhigendes, dass Sebastian sich wünschte, er würde niemals enden. Er lud zum Träumen ein. Wie schön hätte diese Welt sein können...
Er sah Antarona aus einem kleinen Holzhaus treten, sich über ein Beet bunter Blumen beugen und sah ihr Lachen, dass selbst die Sonne in den Schatten stellte. Sebastian trat zu ihr, steckte ihr eine gelbe Blüte in ihre pechschwarzen Haare und streichelte sanft ihre von der Sonne gewärmte Haut.
Antarona rührte sich in seinen Armen und ihm wurde bewusst, dass er tatsächlich ihre Schultern gestreichelt hatte. Sie schlug ihre großen Augen auf und Sebastian war fasziniert von den tiefen und zugleich leuchtenden Sternen, die ihn ansahen.
Lange saßen sie schweigend aneinander gelehnt da und sahen auf das Land unter sich, das aus einem tiefen Leid erwachte und ihnen in diesem Moment bewusst werden ließ, wie schön es sein konnte, wenn sie das Böse einmal besiegt hatten.
Nachdenklich blickte Sebastian auf das Lager hinunter. Der friedliche Morgen täuschte darüber hinweg, welches Grauen in der Nacht diesen Ort fest in seinem Griff hatte. Jetzt war scheinbar alles friedlich. Aber er wusste, dass es nicht so bleiben würde... Er dachte an Annuk.., an das Mädchen in Zumweyer.., an das Mädchen mit dem Muschelschmuck.., an sein Krähenmädchen...
Letztere sah ihn strahlend, aber auch fragend an: »Wovon träumt ihr, Ba - shtie, welche Gedanken fliegen euch in euren Kopf..?«
Sebastian drückte sie fest an sich und sagte: »Von dir, mein Sternchen.., von dir träume ich! Von dir.., von Frieden.., von Glück.., von einem ruhigen, wunderbaren Leben...«
  Wichtiger Hinweis: Die Texte des Autors Frank Adlung, insbesondere die des Romans "Das Geheimnis von Val Mentiér", sind durch notarielle Hinterlegung urheberrechtlich geschützt. Ein Herunterladen und Ausdrucken ist nur für den privaten Zweck des Lesens gestattet. Kommerzielle Nutzung, öffentlicher Vortrag, oder Vervielfältigung und Verfälschung des Inhalts, sowie öffentliche Verbreitung ohne Genehmigung des Autors sind untersagt und werden zur Anzeige gebracht.
 
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