aum, dass sie Gelegenheit hatten, Gefühle
füreinander zu entwickeln, mussten sie ihr Krähennest
in der Felswand schon wieder verlassen. Die Kälte der
Nacht, von der neuen Sonne auf das Land gedrückt, weckte
auch die Frauen im Lager unter ihnen. Einige der
ehemaligen Gefangenen sahen sie schon alsbald geschäftig
hin und her laufen. Sie holten Wasser, setzten die Feuer
wieder in Gang und kümmerten sich liebevoll um ihre
Leidensgenossinnen, die der Willkür der Soldaten
ausgeliefert waren.
»Wir sollten sie so bald als möglich von hier fort
bringen.., bevor irgend ein Hitzkopf von Torbuks Leuten
hier aufkreuzt, um nach dem Verbleib des Trupps zu
sehen.« Mit dem Daumen deutete Sebastian zum Lager
hinunter.
»Ja, Ba - shtie.., wir bringen sie zu ihren Familien
zurück...« Antarona stand auf dem Felsabsatz und
beschrieb mit ihrem Arm einen weiten Bogen über die
Täler, Wälder und Berge:
»Das Volossoda ist ein weites, raues und hohes Land..,
oft verlieren sich Menschen viele Sonnen und Monde lang
in den Wäldern und Schluchten... Torbuk wird seine
Soldaten sobald nicht vermissen! Wir haben Zeit, dem Volk
seine Töchter wiederzugeben.«
Antarona machte eine kurze Pause, sah verträumt über
das enge Tal hinaus und weiter hinab in das Haupttal. Sie
legte ihre feingliedrige Hand auf Sebastians Arm und fuhr
fort:
»Bald, Ba - shtie - laug - nids, sehr bald kommt die
kalte Zeit der langen Nächte... Die Frauen und Mädchen
werden in den warmen Hütten sein und sich auf neues
Leben vorbereiten. Das Land hält in der weißen Stille
den Atem an und bereitet sich ebenfalls auf das neue
Leben vor. Auch Torbuks Soldaten bleiben in dieser Zeit
in den Städten, wo es warm ist... So war es immer...
Jedes Wesen sucht einen Platz an einem brennenden Ofen,
niemand sollte in dieser Zeit allein und ohne die Wärme
eines anderen Herzens sein...«
Was Antarona so umständlich zum Ausdruck brachte, war
die Vermutung, dass Torbuks Schergen vielleicht bis zum
Frühjahr Ruhe geben würden. Eine vage, doch
wünschenswerte Hoffnung! Aber eben nur wünschenswert!
Eher wahrscheinlich war, dass Torbuk einen
Vergeltungsfeldzug durch die Täler starten würde. Er
konnte es kaum hinnehmen, dass ein Fremder, ein
halbnacktes Krähenmädchen und ein paar grüne Jungen
einen ganzen Trupp seiner Soldaten völlig aufgerieben
hatte. Wenn das Schule machte...
Etwas mehr beschäftigte ihn Antaronas Ausführung über
warme Öfen und warme Herzen in der Zeit da Eis und
Schnee das Land fest in seinem Griff haben würde. Wo
würde er dann sein? Weiter zu Tal wandern, um noch vor
dem Winter zu Hause zu sein, hieße Antarona, die wieder
gefundene Janine, zurücklassen. Ob Sebastian dann jemals
wieder die Gelegenheit hatte, bei ihr zu sein?
Würde er andererseits bei ihr bleiben, musste er das
gesicherte Leben in der norddeutschen Großstadt und alle
dazu gehörigen Annehmlichkeiten aufgeben! Ebenso wenig
konnte er Antarona mitnehmen in seine Welt der
Zivilisation. Zum einen wusste Sebastian gar nicht, in
was für einer Welt er sich hier befand und ob man ihn so
einfach wieder hätte gehen lassen, zum anderen war
ungewiss, ob Antarona seinetwegen ihre einfache,
zwanglose Welt der weiten Täler freiwillig verlassen
wollte.
Wie sollte das auch gehen? Sebastian stellte sich vor,
wie es wäre, wenn er mit Antarona auf irgendeinem
Flughafen versuchen würde einzuchecken. Ohne ihr Schwert
ging Antarona nirgendwo hin. Mal abgesehen davon, dass so
eine Waffe sicher nicht den Weg in ein Flugzeug finden
würde, hätten sie wegen des leichten Materials ihres
Schwertes bald die Geheimdienste und Mafiaorganisationen
der ganzen Welt auf dem Hals.
Schwierigen Entscheidungen war Sebastian stets
geflissentlich aus dem Weg gegangen, hatte sie so lange
wie möglich vor sich her geschoben. Nun befand er sich
in der Zwangslage, sehr bald eine Entscheidung treffen zu
müssen, die sein Leben komplett verändern konnte! Er
schüttelte den Kopf, wie um die komplizierten Gedanken
von sich abzuschütteln.
Nein.., im Moment jedenfalls stand für ihn fest, dass er
an Antaronas Seite bleiben wollte, solange die Hoffnung
bestand, dass sie wie einst vor dreizehn Jahren, wieder
das tiefe Gefühl der Liebe verband. Damals, in seiner
Trauer, hatte er sich gewünscht, ihr in die Welt, in die
sie aufbrach, folgen zu können. Nun hatte sich ihm
dieser Weg aufgetan und obwohl Sebastian nicht ergründen
konnte, wie seine Erlebnisse der letzten Wochen möglich
sein konnten, war er bereit, diese Chance für sich und
Antarona wahrzunehmen. Mochten die Götter ihm dabei
helfen!
Später konnte er immer noch irgendwie nach Hause reisen
und seine Angelegenheiten regeln, oder mit Antarona
dorthin gehen, um dort in Frieden mit ihr zu leben. Wenn
er es erst einmal geschafft hatte, den Kontakt zur
normalen Welt außerhalb dieser Täler unbehelligt
herzustellen..!
Als sie das Lager erreichten, hatten die Frauen bereits
eine Mahlzeit zubereitet. Die Lebensmittel dafür
stammten anscheinend aus den Beständen der getöteten
Pferdesoldaten. Vermutlich war dieser Proviant ohnehin
Raubgut, das die Reiter in den Dörfern hatten mitgehen
lassen. Ravid und Daffel hatten es sich an einem Feuer
gemütlich gemacht und wurden von mehreren Mädchen
dankbar umsorgt. Die Frauen umschwärmten regelrecht ihre
Helden der Befreiung und die beiden Brüder schienen
diese Annehmlichkeit sichtlich zu genießen.
Das Mädchen, das Antarona mit seiner Lanze den Rücken
gedeckt hatte, führte sie an ein Feuer und servierte
ihnen gegartes Huhn und eine Art gekochter Hirse auf
einem grünen Blatt. Sie lächelte Sebastian offen an und
er spürte die Dankbarkeit und Sympathie, die sie denen
entgegen brachte, die sie vor einem grauenvollen,
hoffnungslosen Schicksal bewahrt hatten.
Das Essen war sehr einfach, schmeckte aber vorzüglich.
Eine andere Frau brachte ihnen bereitwillig Wasser.
Sebastian kam nicht umhin festzustellen, dass sie von den
Geretteten als eine Art Nationalhelden angesehen wurden.
Und so dankbar er auch für diese sichtlichen Bekundungen
war, so vergaß er doch nicht das Verhalten der Frauen im
ersten Dorf des Tales, das er nach tagelanger Entbehrung
und in letzter Hoffnung erreicht hatte. Die offene
Feindseligkeit, die ihm dort entgegen schlug, hatte sich
in respektvolle Freundlichkeit verwandelt. Hoffentlich
übertrug sich das auch auf die restliche Bevölkerung
des Tals!
Während des Essens fiel ihm der gefangene, große blonde
Pferdesoldat ein, den sie in der Nacht gefesselt neben
den Eingang des Bergstollens gesetzt hatten. Er war von
Daffels Knüppeln ziemlich übel zugerichtet worden. Um
zu zeigen, dass sie etwas menschlicher mit Gefangenen
verfuhren, als seinesgleichen, wollte Sebastian ihm etwas
zu Essen bringen.
Der Krieger saß noch am selben Platz vor dem Stollen.
Doch seine Augen starrten leblos in die Luft. Ein
schmales, langes Messer steckte ihm bis zum Heft in der
Brust. Es gab keine Spur eines Kampfes, noch konnte
Sebastian eine Wunde entdecken, aus der Blut getreten
war. Irgend jemand musste an ihm vorüber gegangen sein,
als er vor Erschöpfung eingeschlafen war. Selbst eine
schwache Frau konnte ihm dann gezielt und gefahrlos das
Messer in das Herz stoßen. Er hatte offensichtlich nicht
die Spur einer Chance.
Ratlos sah sich Sebastian um. Die Frauen ignorierten den
Ermordeten, als ob er gar nicht existierte. Sie gingen an
ihm vorüber, um Holz für das Feuer aus dem Stollen zu
holen und nahmen ihn gar nicht wahr. Gute Messer und
andere wertvolle Gebrauchsgegenstände waren in diesem
Land sicher sehr rar. Dennoch stak dieses Messer noch
immer demonstrativ im Körper des Toten.
Das war eine eindeutige Geste! Die Frauen hatten
ihrerseits Rache genommen. So abgrundtief war ihr Hass
gegen die Soldaten Torbuks, dass sie sich weigerten, die
Waffe wieder an sich zu nehmen, die den Feind berührt
hatte.
Unvermittelt stand Antarona neben ihm. Sie blickte
gleichgültig auf den Toten herab, als betrachtete sie
ein paar Ameisen. Dabei biss sie ungeniert in ein
Hühnerbein und dachte gar nicht daran, sich den Appetit
verderben zu lassen. In ihrer Welt war die Konfrontation
mit dem Tod offenbar so selbstverständlich und
alltäglich, wie in Sebastians Zivilisation der tägliche
Zeitungskauf am Kiosk.
»Sie hatten das Recht, so zu handeln, Ba - shtie.., die
Frauen unseres Volkes ertragen viel Böses, so viel
Grauenvolles und Verachtenswürdiges durch Männer wie
diesen da. Manche von ihnen wünschen sich sein schnelles
Schicksal, damit sie nicht mit seiner Brut im Leib
weiterleben müssen. Es ist nur gerecht..!«
Mit diesen Worten drehte sie sich um und ging zurück zum
Feuer, wo die anderen Frauen saßen und ihre Mahlzeit
verzehrten. Daffel und Ravid hatten inzwischen die Pferde
auf das Wiesenstück vor der Felsenburg geführt und sie
dort mit schmalen Hölzern und Stricken angepflockt. So
konnten sie noch etwas weiden, bevor sie diesen Ort
verlassen würden.
Einige Zeit später, die Sonne wärmte bereits so stark,
dass Sebastian ohne Anstrengung in Schwitzen geriet,
machte sich eine allgemeine Aufbruchsstimmung breit, die
auch ihn ergriff. Ebenso, wie Antarona ihre Felle, so
schnürte er seinen Schlafsack zusammen und hängte ihn
sich über die Schulter. Kurz bevor sie die Felsfestung
verließen, stellten sich Antaronas Krähen ein, als
hätten sie einen vorgegebenen Fahrplan im Sinn.
Die Frauen beluden die Pferde der Soldaten mit deren
Waffen und anderen brauchbaren Gegenständen aus dem
Bergwerksstollen und zurrten die Lasten auf den Rücken
der Tiere fest. Ein paar Pferde bockten, weil sie nur an
Reiter, nicht aber an Lasten gewöhnt waren. Antarona
brachte jedoch jedes Tier wieder zur Ruhe und Sebastian
mutmaßte, dass in den Legenden vom Krähenmädchen,
welches mit den Tieren spricht, mehr Wahrheit lag, als er
nach seinem logischen Verständnis zu glauben bereit war.
Es wurde bereits Mittag an diesem drückend heißen
Spätsommertag, als sich ihre Karawane in Bewegung
setzte. Antarona übernahm mit Sebastian die Führung.
Die Frauen folgten ihnen, indem jede von ihnen ein
schwarzes Pferd am kurzen Zügel führte. Die beiden
Brüder und das Mädchen, das so vortrefflich mit einer
Lanze umzugehen wusste, bildeten die Nachhut.
Sie folgten dem Bachlauf das Tal hinab und erreichten
unbehelligt den Dorfrand von Breitenthal. Wie ein
Lauffeuer sprach es sich herum, dass Sonnenherz und ihre
Freunde einen ganzen Trupp von Torbuks Soldaten besiegt
hatte.
Sofort liefen die Bewohner zusammen und eskortierten
ihren Zug mit Lobeshymnen und lauten, aufmunternden
Zurufen durch den Ort. Überall standen die einfachen
Leute vor ihren Hütten, klopften ihnen anerkennend auf
die Schultern, schüttelten dankbar ihre Hände und viele
drückten ihnen ganz spontan kleine und große
Proviantpäckchen in die Hände.
Trotzdem alles noch so fremd auf Sebastian wirkte und er
sich noch nicht damit abfinden konnte, in dieser Nacht
Menschen getötet zu haben, erlebte er ein nie da
gewesenes Gefühl. Es war, als hätte er dazu
beigetragen, eine neue Ära der Geschichte einzuläuten.
Eine Mischung aus Stolz, innerer Bestätigung und
Siegestrunkenheit erfasste ihn. Die Annerkennung dieser
Menschen, die ihm plötzlich Freundlichkeit und Sympathie
entgegenbrachten, sowie die Erregung, bei etwas sehr
Bedeutendem dabei gewesen zu sein, verdrängten alle
Zweifel.
Auch Ravid und Daffel erlagen dem angenehmen Gefühl, als
Helden gefeiert zu werden. Über Nacht waren sie
plötzlich zu angesehenen Männern geworden, die nun als
Beispiel für alle galten. Die Frauen und Mädchen des
Dorfes küssten ihnen angesichts der befreiten Gefangenen
die Stirn und Wangen, sie steckten ihnen sogar
Blumenkränze auf ihre Waffen und die Brüder sonnten
sich in der spontanen Verehrung.
Sebastian warf Antarona einen etwas säuerlichen Blick
zu, doch sie zuckte nur mit den Schultern. Sie fand es
offenbar normal, diese Freude anlässlich der Befreiung
der Töchter des Volkes genüsslich auszuleben. Sebastian
dachte da schon weiter... Wenn erst Torbuk davon erfuhr,
dass die Vernichtung seines Kriegstrupps in den Dörfern
so gefeiert wurde, dann musste ihn das erst recht auf die
Palme bringen. Deutlich hatte Sebastian kennen gelernt,
wozu seine Schergen fähig waren.
Sollten die sich tatsächlich dazu hinreißen lassen,
einen Vergeltungsschlag zu üben, so würden sie sich
wohl kaum mehr damit begnügen, ein paar Frauen gefangen
zu nehmen. Das nächste Mal, da war sich Sebastian
sicher, brannten ganze Dörfer! Högi Balmer hatte ihm
anschaulich berichtet, wie es war, als die wilden Horden
seine Marienka raubten. So, wie es aussah, taten die
Dorfbewohner gut daran, sich auf den nächsten Angriff
Torbuks rechtzeitig vorzubereiten.
Noch etwas wurde ihm klar: Sie alle, Antarona, Sebastian
Lauknitz, die Brüder aus Mittelau und auch das Mädchen
mit der Lanze, standen ab sofort auf Torbuks
Abschussliste! Wohin sie sich in diesen Tälern auch
wenden würden, liefen sie künftig Gefahr, verraten zu
werden und den schwarzen Reitern ins Netz zu gehen.
Andererseits stand für Sebastian aber auch fest, jeder
böswilligen Bedrohung Antaronas und ihres Volkes
notfalls mit Waffengewalt zu begegnen!
Das Dorf lag bald hinter ihnen. Dennoch folgten ihnen
einige Leute, meist jüngere, um ihnen ihre Achtung
entgegen zu bringen. Allen Ernstes fragte sich Sebastian,
ob sie noch zu ihnen stehen würden, wenn plötzlich
schwarze Reiter aus dem Wald gestürmt kamen. Angesichts
drohender Gefahr würden sie ihre Befreier wohl allesamt
verleugnen.
Sie passierten die Waldschneise, wo sie am Vortag die
grauenhaft zugerichteten Leichen der Gefangenen gefunden
hatten. Einige der Frauen erkannten den Ort wieder und
wollten nach ihren Freundinnen suchen. Antarona hielt sie
davon ab und zeigte ihnen statt dessen den Schmuck und
den Knopf des Reiters, die sie aufgehoben hatte. Die
Befreiten wussten, was es zu bedeuten hatte und stellten
keine Fragen mehr.
Am Nachmittag erreichten sie Mittelau. Ähnlich wie in
Breitenthal wurde ihre Karawane auch in diesem Dorf
freudig begrüßt. Die Huldigungen nahmen kein Ende, bis
sie das Dorf auf der anderen Seite wieder verließen.
Mittlerweile wurde diese überschwängliche Art der
Respektzollung lästig und Sebastian wünschte sich
nichts mehr, als ihr Ziel zu erreichen und wieder mit
Antarona allein zu sein.
Lediglich Daffel und Ravid konnten sich immer wieder aufs
neue mit dieser Situation arrangieren. Sie lebten die
Augenblicke, in denen man ihnen offen zeigte, dass man
sie für glorreiche Krieger hielt. Sie waren sich kaum
der wirklichen Lage bewusst, in der sie sich befanden und
noch weiniger der Gefahr, die ab jetzt auf sie lauerte..
Der Weg führte vorbei an sumpfigem Wiesengelände und
der weichende Wald gab den Blick auf den See frei. Sie
blieben auf der befestigten Sandstraße und Antarona
würdigte das Binnengewässer selbst dann nicht eines
Blickes, als sie nahe dem Wasserfall mühsam die Kehren
des Felsriegels zum Wald hinauf schlichen. Sie bewahrte
ihr Geheimnis mit allen Mitteln. Wahrscheinlich war sie
sich der Bedeutung bewusst, welche ihre Höhle noch
einmal haben konnte!
Als ihr Befreiungszug durch den Wald marschierte, liefen
einige der Menschen, die sich ihnen angeschlossen hatten,
voraus. Sie konnten es nicht erwarten, die frohe
Botschaft von der Rückkehr der Frauen in ihr Dorf zu
tragen. Entsprechend gestaltete sich ihr Empfang.
Noch weit vor dem Dorf, ihre Karawane zog gerade durch
die Wiesen, liefen ihnen die Bewohner schreiend und
weinend vor Freude entgegen. Die Frauen ließen die
Zügel der Pferde los und warfen sich weinend in die Arme
ihrer Angehörigen. Die hatten bereits nicht mehr daran
geglaubt, ihre Töchter und Mütter jemals wieder in die
Arme schließen zu können. Um so emotionaler war nun das
Wiedersehen.
Viele Hände und Gesichter begrüßten sie und ließen
sie hoch leben, ob der Heldentat, die sie anscheinend
vollbracht hatten. Antarona und Sebastian konnten sich
kaum auf diesen Freudentaumel einlassen. Sie hatten alle
Hände voll zu tun, um die Pferde im Zaum zu halten,
welche die Frauen in der Wiedersehensfreude einfach
losgelassen hatten. Die Aufregung und das Durcheinander
machten die Tiere derart nervös, dass sie mit eisernem
Griff gehalten werden mussten, damit sie nicht
durchgingen.
Die restlichen eineinhalb Kilometer bis zum Dorf mussten
die Helden des Tages wohlgemeinte Schulterschläge und
Lobeshymnen über sich ergehen lassen. Sie konnten sich
nicht retten vor Einladungen, zu Übernachtungen an
warmen Öfen und zu großen Mahlen, die man ihnen zum
Anlass der Befreiung der gefangenen Frauen auszurichten
versprach.
Wie das Heer eines römischen Tribuns hielten sie im Dorf
Einzug. Selten hatte Sebastian Menschen ihre Begeisterung
so voll überschwänglicher Freude ausleben sehen.
Mädchen kamen mit Blütenkränzen, Frauen und Männer
mit Speisen und Getränken und kleine aufdringliche
Jungen ließen sich nicht abweisen, ihnen die Waffen
abzunehmen, um diese für sie zum Dorfplatz zu tragen.
Stolz marschierte der männliche Dorfnachwuchs mit
Schwertern, Lanzen und Kettenkugeln dem Zug voran. Einige
der Jungen konnten das ihnen anvertraute Schwert nicht
heben und zogen es einfach, jedoch nicht minder stolz,
durch den Dreck der Straße. Die Frauen wurden sofort in
die Hütten ihrer Familien geführt und liebevoll
umsorgt.
Auf dem Dorfplatz, wo noch nicht vor ganz drei Tagen die
schwarzen Soldaten das Volk zusammen getrieben hatten,
wurden nun grobe Tische aufgebaut und mit Speisen und
Getränken voll gestellt. Das ganze Dorf lief zusammen
und feierte ausgelassen die Rückkehr der Frauen und den
Sieg über Torbuks Entführungstrupp.
Antarona übersetzte Sebastian so manche Dankeshymne, die
man unablässig an ihn heran trug. Oft war davon die
Rede, wie heldenhaft und mutig die vier Freunde Torbuks
ganze Armee vernichtet hatten. Ein Mann begann sogar
schon ein gerade eben auf sie komponiertes Lied
anzustimmen. Ihre Tat wurde schon Legende!
Dass sie lediglich zwölf Reiter gegen sich hatten, die
ihnen noch dazu ganz gehörig eingeheizt hatten, davon
sprach niemand. Für die Menschen hier hatten sie Torbuks
ganze Armee besiegt!
»Hört ihr das, Ba - shtie - laug - nids.., sie singen
bereits ein Lied über euch...«, sagte Antarona, die ihn
von Tisch zu Tisch begleitete und mal hier, mal dort von
den verschiedenen Speisen probierte.
»So sind sie, die Menschenkinder des Volkes, auf jedes
Ereignis, auf jeden ihrer Helden, ja sogar auf
ungewöhnliche Ernten, dichten sie ein Lied, damit auch
ja niemand jemals wieder dieses Ereignis vergisst. Wenn
die Nächte kalt und lang werden, wird man an jedem Feuer
im Tal eure Geschichte hören, Ba - shtie!«
»Meine Geschichte..? Wie meinst du denn das..?«, wollte
Sebastian wissen. Antarona wies mit dem Kopf zum
Dorfbrunnen, wo sich ein junger Mann mit einem seltsamen
Musikgerät postiert hatte und aus lauthals inbrünstiger
Kehle einen Gesang zu seinem jammernd klingenden
Instrument anstimmte.
»Hört genau hin, Ba - shtie... Das Lied wird morgen in
aller Munde und in allen Herzen sein, das Tal hinauf und
hinab!«, prophezeite Antarona.Die
Götter sahen ein ewig Leid,
des Volkes Seele zu erdulden hat,
durch des finstren Fürsten Neid,
seines Sohnes Gier und Macht.
Ein Krieger ward licht erkoren,
der Götter Zeichen und Gewand,
ziehet auf an Torbuks Toren,
führt das Volk mit starker Hand!
Sohn der Götter, kommt und freiet
Tochter des Volkes dir gegeben
mit hehrer Saat, Herr, befreiet
in ihrer Frucht Erde und Leben.
Sohn der Götter kommt, richtet,
böse Brut aus den Tälern zieht,
dunkles Leid sich vernichtet,
aus Weilern und Wäldern flieht.
Mit Antaronas Übersetzung des Liedes konnte Sebastian
allerdings nicht viel anfangen. Er verstand es nicht
einmal! Die Worte klangen wirr und fremd in seinen Ohren.
Etwas ähnliches hatte er einmal in einem uralten Buch
gelesen. Es war eben eine andere Welt!
»Antarona, was bedeuten diese Verse? Es tut mir leid..,
ich will hier niemanden beleidigen, aber ich verstehe
diese Worte nicht!«, gab er offen zu.
»Der Sohn der Götter.., Ba - shtie, das seid ihr!«,
klärte Antarona ihn auf. »Ihr seid von den Göttern
gesandt und vernichtet Torbuks Armee.., ihr nehmt euch
eine Tochter des Volkes und befreit...«
»Augenblick mal, Antarona.., glaubst du wirklich diesen
Quatsch?«, unterbrach er sie. »Wer von uns beiden hat
denn die meisten Soldaten auf dem Gewissen... Ich doch
nicht, oder? Ich kann kaum dieses bescheuerte Schwert
halten, geschweige denn eine ganze Armee vernichten! Ich
und eine ganze Armee fertig machen, dass ich nicht lache!
Sag mal, du warst doch dabei, du glaubst diesen ganzen
Mist doch nicht etwa?«
Antarona sah Sebastian an, als hätte er einem Gor in das
Maul gefasst. Nein! Natürlich glaubte sie das nicht!
Doch sie gehörte einer Gesellschaft an, einem Volk, dass
offensichtlich seine Helden brauchte, wie das tägliche
Brot.
»Was Antarona glaubt, ist nicht wichtig, Ba - shtie..,
das Volk aber glaubt daran..! Ihr seid der Krieger der
Götter, gesandt, um Torbuk zu vernichten und um das Volk
zu befreien! Und für den Anfang habt ihr euch nicht mal
schlecht geschlagen, Ba - shtie.., die Frauen haben es
berichtet.., ihr seid jetzt ein Held, ob es euch nun
gefällt, oder nicht!« Als Sebastian sie kopfschüttelnd
ansah, setzte sie ihr Epos mit Pauken und Trompeten fort:
»Ihr dürft das Volk jetzt nicht enttäuschen, Ba -
shtie... Ihr habt den Menschen Mut gemacht, habt ihnen
bewiesen, dass es aufzubegehren gilt und sie glauben an
euch! Ihr Glaube an euch, den Mann von den Göttern..,
dieser Glaube gibt ihnen Hoffnung in der dunkelsten aller
Zeiten. Wollt ihr diesen letzten Funken Hoffnung in den
Herzen der Menschen auslöschen, Ba - shtie.., ja, wollt
ihr das wirklich?«
Antarona fasste Sebastian am Arm und schob ihn in die
Mitte des Dorfplatzes und holte dann mit dem anderen Arm
weit aus:
»Diese Menschen hier.., das Volk, hat lange Zeit keine
Hoffnung mehr gehabt.., sie wehrten sich nicht mehr gegen
die böse Macht Torbuks.., bis ihr kamt, Ba - shtie! Es
ist wahr.., wir hatten Glück mit eurer List gegen die
schwarzen Reiter.., aber das wissen die Brüder und
Schwestern des Volkes nicht! Sie glauben an euch und in
ihren Herzen ist eine neue Hoffnung geboren... Wollt ihr
ihnen diese Hoffnung wieder nehmen, ja? Dann sagt es
ihnen! Seht ihnen in die Augen, Ba - shtie - laug - nids,
seht jedem von ihnen in das Gesicht und sagt ihm, dass
wir nur Glück hatten.., sagt ihnen, dass Torbuk nicht zu
besiegen ist, dass es keine Hoffnung gibt.., dass ihr
nicht der seid, für den euch alle halten.., sagt ihnen,
dass ihr sie mit ihrem Leid allein lassen wollt.., los,
Ba - shtie.., sagt es ihnen!«
Betreten sah Sebastian zu Boden. Natürlich konnte er
diese Menschen nicht ihrer Hoffnung berauben. Ihre
Hoffnung war ihr Leben! Plötzlich traten die
Dorfbewohner von allen Seiten erwartungsvoll an sie
heran. Sie hatten bemerkt, wie Antarona ihn in die Mitte
des Platzes schob und vermuteten nun, dass Sebastian zu
ihnen sprechen wollte. Dicht gedrängt umstanden sie die
Menschen, deren Hoffnung er unfreiwillig verkörperte.
Gespannte Augen waren ausschließlich auf Sebastian
Lauknitz gerichtet.
»Los, Ba - shtie, sagt irgend etwas, egal was, aber bei
den Göttern.., sagt etwas zu ihnen!«, zischte Antarona
ihm zu. Hilflos stand Sebastian inmitten der
Menschenmenge, die voller Erwartung auf eine
sensationelle Ankündigung lauerte. Fast knickten ihm die
Beine weg, so schwach und allein gelassen fühlte er sich
plötzlich.
»Also Leute, also.., ich möchte euch etwas sagen...«
Er wartete, bis Antarona übersetzt hatte und hoffte, sie
würde sich reichlich Zeit damit lassen, um ihm
Gelegenheit zu geben, die passenden Worte zu wählen. Er
fand keine passenden Worte! Er war kein Politiker und
kein Mensch, der anderen Menschen, die ihm vertrauten,
falsche Versprechungen machte. In was hatte ihn dieses
Krähenmädchen nun schon wieder hinein geritten?
»Also, mein Name ist Sebastian Lauknitz...«, begann er
unsicher, »...und ich bin noch nicht lange hier in
diesem Tal...« Mit wenig Überzeugung sprach Sebastian
davon, dass es in der Welt, aus der er gekommen war,
Übergriffe, wie die Torbuks nicht gab und dass man sich
darauf vorbeireiten muss, sich gegen solche Überfälle
zu schützen. Irgendwann endete Sebastian mit dem Rat an
die Bewohner der Täler, sich zu organisieren und selbst
eine mobile, schlagkräftige Truppe aufzustellen.
Antarona übersetzte alles und immer wieder brandeten ihm
Begeisterung und Beifall entgegen. Nachdem Sebastian zum
Schluss gekommen war, jubelte ihm eine zu allem bereite
Menge zu. Seine Worte hatte er jedoch gar nicht so
heroisch gewählt, und er vermutete, Antarona hatte etwas
völlig anderes übersetzt, als das, was er gesagt hatte.
»Hast du denen das genauso übersetzt, wie ich es gesagt
habe?«, fragte er Antarona. Sie versicherte ihm mit
bierernster Mine, dass sie nichts ausgelassen und nichts
beschönigt hatte und Sebastian sollte sich keine Sorgen
machen.
»Es sind einfache Menschen, Ba - shtie, sie verehren
euch, weil ihr ihnen so fremd seid und dabei gewesen
seid, als ihre Töchter und Schwestern zurück gebracht
wurden. So ein Handstreich gegen Torbuk ist uns lange
nicht gelungen, darum denken sie, ihr habt den Sieg
bewirkt. Nun verehren sie euch, den Mann von den
Göttern.., sie würden euch ebenso zujubeln, wenn ihr
ihnen sagtet, morgen beginnt die Sonne ihren neuen Lauf,
was sie ohnehin tun wird.«
Damit gab sich Sebastian zufrieden und lächelte den
versammelten Dörflern wohlwollend zu. Die Leute
zerstreuten sich allmählich und ihm fiel ein Stein vom
Herzen, dass er nicht mehr im Mittelpunkt stehen musste.
Dafür erwartete sie nun eine andere, wesentlich
traurigere Aufgabe...
Antarona führte Sebastian durch das Dorf, einen Weg
zwischen Wohnhütten hindurch und von einer stillen Gasse
in einen Winkel aus fünf zusammengebauten Hütten, deren
wunderschön blühende Vorgärten nicht vermuten ließen,
dass er sich in einem fast mittelalterlich anmutenden
Dorf befand.
Blumen- und Gemüsebeete waren von einem niedrigen Zaun
eingefasst, der alles an Kunstfertigkeit übertraf, was
Sebastian bis dahin gesehen hatte. Seine Latten waren
geschnitzte Figuren. Jede einzelne ein Unikat. So reihten
sich Ritter, Könige, Feen, Bauern, Mägde und Hexen oder
Soldaten aneinander. Jede Figur war liebevoll bemalt und
Basti hatte Hemmungen, das Eingangstürchen zu berühren.
Bevor sie noch den Zaun berührten, öffnete sich die
Tür und ein Mann mittleren Alters trat heraus. Er ging
etwas kraftlos gebeugt und seine Augen waren von Tränen
rot gerändert. Antarona wollte ihm erklären, warum
seine Tochter nicht unter den heimgebrachten Frauen war,
doch er wusste es bereits. Die Kunde, welche Frauen
befreit worden waren, hatte sich inzwischen wie ein
Lauffeuer verbreitet.
Mit trauriger Mine hielt Antarona ihm den Muschelschmuck
hin. Der Mann nahm die zierlichen Gebilde vorsichtig in
Empfang. Wie verloren lagen die kleinen, weißen Muscheln
in seinen groben Händen. Er hielt sie in die Sonne und
sank zitternd auf die Knie. Trotzdem er schon erfahren
hatte, dass seine Tochter nie wieder mit ihrem Lachen
Haus und Garten erfüllen würde, begann dieser kräftige
Mann zu weinen.
Stumme Tränen rannen ihm über das faltige Gesicht und
fielen auf seine vorgestreckten Handflächen mit dem
Schmuck seines einzigen Kindes. Sein Mund war zu einem
Schrei der Schmerzen geöffnet, doch kein Laut fuhr über
seine zitternden Lippen. So tief war seine Trauer, dass
ihm seine Stimme den Dienst versagte.
Sebastian konnte diesem Mann nicht sagen, wie sehr er
seinen Schmerz mit ihm teilte. So hatte er sich gefühlt,
als Antarona, damals Janine, von ihm gegangen war. Nun
war sie wieder bei ihm. Wie sehr wünschte er sich,
diesem Mann seine eigene Geschichte erzählen zu können,
um ihm an seinem eigenen Beispiel zu zeigen, dass ihm das
Schicksal seine Tochter durchaus wiedergeben konnte, denn
Sebastian hatte es ja selbst gerade erlebt.
Statt dessen mussten sie diesen Vater mit seinem
Trauerschmerz allein lassen. Und es stand ihnen noch so
ein trauriger Besuch bevor. Die Frau, welche Sebastian
vom Baum geschnitten hatte, hinterließ einen Mann und
einen kleinen Sohn. Nur widerwillig folgte er Antarona
zur nächsten Hütte, auch wenn sie davon ausgehen
konnten, dass auch dieser Mann inzwischen das Schicksal
seiner jungen Frau kannte.
Er saß auf der Schwelle seiner Tür, als sie ihn
erreichten und sah mit stummen, leeren Blicken geradeaus.
Nicht einmal seinen Kopf hob er an, als Sebastian ihm die
Lederbänder seiner Frau in die Hände gab. Apathisch
saß er da, als nahm er gar keine Notiz von ihnen.
»Sie ist nun bei den Göttern und wacht von dort über
euch und euren Jungen...«, ließ Sebastian von Antarona
übersetzen. Doch er wusste, dass ihm das kein Trost sein
würde. Basti legte ihm freundschaftlich seine Hand auf
die Schultern. Dann wandten sie sich zum Gehen um.
Plötzlich hörte Sebastian seine leise, tonlose Stimme
etwas sagen. Antarona antwortete ihm und er verfiel
erneut in seine Teilnahmslosigkeit.
»Was hat er gesagt?«, wollte Basti wissen. Antarona sah
ihn mit festem Blick an und übersetzte: »Er fragte, ob
der Mann der Götter noch Krieger braucht, für seinen
Kampf gegen Torbuks Heerscharen. Er sagte, er sei nun
frei für den Kampf und will sich euch anschließen, wenn
ihr eure Armee aufstellt.«
Ungläubig sah Sebastian sein Krähenmädchen an: »Der
hat was gesagt?«, wunderte er sich. »Was denn für eine
Armee..? Wer hat denn behauptet, dass ich eine Armee
gegen Torbuk aufstellen will, wer hat denn überhaupt
gesagt, dass ich gegen ihn kämpfen will? Sag mal,
Antarona, wer hat denn solche Gerüchte in die Welt
gesetzt? Das gibt es doch gar nicht..!«
Herausfordernd und mit einem überlegenen Blick von der
Seite sah ihn seine Gefährtin an und sagte trocken:
»Ihr selbst, Ba - shtie.., ihr selbst habt auf dem
Dorfplatz laut verkündet, ihr werdet Torbuk mit einer
Streitmacht von mutigen Freiwilligen aus dem Land jagen,
wo immer er auch das Volk bedroht!«
So langsam wurde Sebastian alles klar... Antarona hatte
seine Ansprache an die Dorfbewohner keineswegs so
übersetzt, wie er sie von sich gegeben hatte. Sie hatte
in seinem Namen tatsächlich eine völlig hirnrissige
Kriegserklärung gegen die schwarzen Reiter ausgerufen!
»Sag mal, spinnst du..?«, fuhr Sebastian sie an,
»...wie kommst du dazu, den Leuten zu sagen, ich wollte
mit ihnen gegen Torbuk ziehen? Ist dir eigentlich klar,
was das bedeutet? Die erwarten jetzt von mir, dass ich
Leute zusammentrommle, um mit einem Haufen unerfahrener
Bauern eine kampferprobte, gut ausgerüstete Truppe
anzugreifen..! Wie soll denn das gehen..?«
»Ihr, Ba - shtie - laug - nids, habt gezeigt, dass es
geht! Haben wir nicht den Reitertrupp mit eurer List
bezwungen? Keiner von Torbuks Schergen ist mit dem Leben
davon gekommen und die Frauen sind wieder bei ihren
Familien..!« Antarona machte eine Pause, ließ ihn aber
nicht zu Wort kommen:
»Ihr habt selbst gesagt, Ba - shtie.., eure Füße
werden neben den meinen gehen und mein Weg wird auch der
eure sein! Dieser Weg wird so lange der Kampf gegen
Torbuk und Karek sein, bis das Land seinen Frieden
findet, bis eine Mutter ohne Trauer und Angst auf ihre
Kinder blicken kann!«
»Ja, ich werde deinen Weg mit dir teilen, Antarona..,
egal wie steinig oder dornig er auch sein wird...«,
versicherte ihr Sebastian, »...aber das heißt doch noch
lange nicht, dass ich, ausgerechnet Basti Lauknitz, hier
den Anführer einer Streitmacht spiele, die es noch gar
nicht gibt!« Sebastian schüttelte unfassbar den Kopf.
»Und was soll das überhaupt.., ich habe gezeigt, dass
es geht? Ist dir eigentlich klar, mein Sonnenherz, dass
wir unverschämtes Glück hatten und dass wir nur mit
Mühe gerade mal zwölf Reiter niederkämpfen konnten?
Das nächste Mal ist dieser Typ.., dieser Torbuk
vorbereitet und schickt vielleicht fünfzig Reiter, oder
hundert.., oder tausend.., soviel, wie runde Steine im
Bach sind! Was machen wir dann?«
Vorwurfsvoll streckte Sebastian seine Arme dem Tal
entgegen und prophezeite weiter: »Was, wenn dieser
Verrückte eine ganze Armee mit Schwertern, Lanzen,
Speeren und was weiß ich, was noch alles, das Tal
heraufschickt.., na.., was dann? Haben wir dann eine
Armee mit Heurechen, Sensen, Messern und Knüppeln, die
wir ihm in die Arme treiben und hoffnungslos verheizen?
Nein, mein Sternchen, so wie du dir das vorstellst.., so
wird das nichts.., ganz sicher nicht!«
»Aber sie folgen euch, Ba - shtie.., euch werden mehr
Männer vom Volk vertrauen, wie jedem anderen zuvor, der
das versucht hat!« Antarona ließ nicht locker und die
Begeisterung und Hoffnung, die sie an den Tag legte,
hatte in Anbetracht der Lage etwas Naives, Kindliches:
»Nach der Nacht der Befreiung aller Frauen, wird jeder
Mann dem Einen folgen, den die Götter gesandt haben..,
jeder in diesen Tälern wird euch blind folgen und sein
Leben einsetzen für die Freiheit, die das Volk so lange
entbehren musste!«
»Na, das ist ja wunderbar!« Sebastian konnte den
Sarkasmus in seiner Stimme nicht mehr verbergen. »Und wo
sollen all die Freiwilligen sich treffen, wo sollen sie
sich vorbereiten? Alle, die sich melden, müssen erst
einmal in der Kampfkunst geschult werden, sie brauchen
Pferde.., und Waffen! Wo um alles in der Welt wollen wir
so viele Waffen hernehmen?« Zwischendurch musste er erst
einmal Luft holen. Dann spann er die Möglichkeit weiter:
»Nun gut, gesetzt den Fall, wir kriegen das alles hin..,
wie soll es dann weitergehen? Marschieren wir einfach vor
Torbuks Machtzentrum auf und rufen komm raus, du miese
Ratte? Denkst du wirklich, so geht das?«
Antarona holte tief Luft und Sebastian wunderte sich,
woher sie immer wieder ihre Gegenargumente nahm, auch
wenn diese manchmal unrealistisch waren:
»Waffen haben wir auch, Ba - shtie.., und Waffen bringen
uns die Pferdesoldaten mit, soviel wir wollen. Wir
müssen sie nur aufheben! Ebenso die Pferde!
Kampfübungen brauchen die Männer des Volkes nicht. Ihr,
Ba - shtie.., ihr könnt sie dazu bringen, dass sie stark
sind!« Sie glaubte tatsächlich an ihre Ideen und hatte
für alles eine Lösung:
»Wir brauchen auch gar nicht gegen Quaronas
marschieren.., Torbuk wird selbst kommen, wenn seine
Trupps immer wieder ausbleiben. Wir müssen nur hier
sitzen und warten und ihm einen Empfang bereiten, den er
nicht so schnell wieder vergisst!« Für Antarona war
alles so einfach und sonnenklar. Aber kannte Sebastian
das nicht schon von Janine? Es war dieselbe Frau, mit den
gleichen spontanen Einfällen und dem gleichen kleinen,
unrealistischen Dickkopf!
»So..«, fing Sebastian noch mal an, »...wir lassen
diese Banditen also bis weit in das Tal herein... Und
wo.., an welcher Stelle willst du ihn aufhalten.., na? In
Breitenthal, in Mittelau, am See, hier, in Zumweyer? Was
glaubst du was dann passieren wird?« Eindringlich sah er
Antaronas Engelsgesicht an. »Ich werde dir sagen, was
geschieht! Er wird bis zum See kommen, wo wir ihn
vielleicht, mit viel Glück am Felsriegel stoppen
können. Bis dahin hat er dann zwei Dörfer dem Erdboden
gleich gemacht, die Ernten verbrannt und die Frauen und
Mädchen geschändet und umgebracht. Haben die
freiwilligen Männer angesichts solcher Tragödie dann
noch den Mut, weiter zu kämpfen? Ja.., sind die so
mutig, wie du?« Bewusst brachte Sebastian an dieser
Stelle ihren Mut ins Spiel, damit er es sich mit dieser
energischen Frau nicht noch gänzlich verdarb. Antarona
ließ sich kaum davon beeindrucken:
»Die Männer unseres Volkes, Ba - shtie - laug - nids..,
sind mutige Männer und sie werden Opfer bringen, und...
Ja.., sie werden euch auch dann noch folgen, wenn sie
fast geschlagen sind... Ihr habt es in der Hand, Mann von
den Göttern.., ihr allein! Denn sie werden nur euch
folgen, weil ihr die Zeichen der Götter tragt und ihr
könnt sie dazu bewegen, dass sie euch folgen.., denkt an
Annuk.., Ba - shtie, denkt an des Wasserbauern Tochter..,
denkt an Trinia, deren Vater ihr gerade eben unter
Tränen saht...«
»Gut.., angenommen ich helfe euch... Was wird in der
Zwischenzeit mit der Ernte? Woher bekommen wir Nahrung
und Material für Waffen? Antarona«, gab Sebastian
nachdrücklich zu bedenken, »wenn wir uns auf so eine
Sache einlassen, kann es sein, dass wir viele Sommer lang
kämpfen müssen und viele Winter lang die Toten beklagen
werden. Habt ihr so etwas erst einmal angefangen, hört
es erst wieder auf, wenn Torbuk und Karek tot sind!«
Sebastian dachte kurz nach, wobei ihm etwas einfiel, dass
ihm mehr am Herzen lag, als alles andere:
»Außerdem wäre da noch eines... Wenn ich das tue und
euch helfe.., wärst du ebenso, wie alle anderen bereit,
ein Opfer zu bringen, wärst du einverstanden, das zu
tun, was ich dir sage?« Diese Frage ließ Sebastian erst
einmal wirken. Die Antwort kannte er jedoch schon, bevor
Antarona antwortete, denn er hatte fest damit gerechnet:
»Wenn ein Mann der Götter das Volk führt, wird
Sonnenherz ihm folgen«, versprach sie, »...wenn ihr
dieser Mann seid, Ba - shtie.., so wird auch Antarona tun
was ihr sagt!«
»Schön.., dann wirst du mir bei allem, was dir heilig
ist versprechen, dass du dich aus allen Kampfhandlungen
heraus hältst! Ich möchte, dass du, wenn ich es dir
sage, zu Högi Balmer auf die Alp gehst und dort bleibst,
bis ich selbst dich wieder von dort herunter hole...«
Noch bevor Sebastian ausgesprochen hatte, fiel ihm
Antarona aufgebracht ins Wort:
»Nein..! Nein, nein, nein.., ihr könnt mich nicht
einfach abschieben, Ba - shtie! Sonnenherz hat den Kampf
begonnen, als kein Mann des Volkes dazu bereit war! Ich
habe viele von Torbuks Soldaten in das Reich der Toten
geschickt. Sonnenherz wird dabei sein, wenn Torbuk und
Karek durch die Speere des Volkes ihren Atem
verlieren...!«
»Nein, wird sie nicht!«, bestimmte Sebastian mit fester
Stimme. Als sie schon wieder aufbegehren wollte, fuhr er
fort:
»Herrgott noch mal, Antarona.., ist das so schwer zu
begreifen..? Allmählich wurde er wütend und
entsprechend laut. »Ich liebe dich nun mal über
alles... Und ich kann nicht kämpfen und klar denken,
wenn ich in ständiger Sorge um dich bin! Ich weiß, dass
du viele von Torbuks Reitern in das Reich der Toten
geschickt hast.., aber das ist es ja gerade..! Der will
dich als aller Erste in die Finger bekommen. Und er wird
inzwischen wissen, dass der Mann von den Göttern für
deine Rettung alles tun würde, sogar selbst in den Tod
gehen...! Was glaubst du eigentlich, bin ich als
Anführer noch wert, wenn er dich in seiner Gewalt hat?«
Antarona wollte gleich etwas erwidern, hielt aber noch
inne. Irgend etwas hinderte sie daran, sofort mit einem
Argument zu kontern. Hatte Sebastian ihr mit seinem
Liebesgeständnis den Wind aus den Segeln genommen?
Bedeutete er ihr vielleicht doch mehr, als nur der
Mann von den Göttern, dem sie zu folgen bereit war?
»Ba - shtie.., ihr redet schon wieder von Liebe... Und
ihr sprecht bereits mit der Stimme meines Vaters... Ich
mag euch auch sehr, beinahe mehr, als meinen Vater, aber
ich weiß noch nicht, ob es die Liebe ist, die ein Leben
lang unsere Herzen zu einem verbinden kann. Es ist jetzt
nicht die Zeit von dieser Liebe zu sprechen, Ba - shtie,
weil mein Herz noch nicht zu mir gesprochen hat. Versteht
ihr das?« Bevor Sebastian ihr antworten konnte, sagte
sie:
»Aber da ist noch eine andere Liebe, Ba - shtie - laug -
nids... Antarona liebt das Volk und das Land, in dem sie
schon Kind war. Es ist eine andere Liebe, ein anderes
Gefühl, dem ich folgen muss. Ba - shtie.., ich mag euch
sehr und ich gebe euch eine Hälfte meines Herzens... Der
andere Teil aber gehört den Tälern Volossodas, gehört
dem Volk. Verlangt heute und auch morgen nicht, dass ich
euch sage, welche Liebe schwerer wiegt... Antarona weiß
es nicht!«
»Antarona.., ich weiß, so eine Entscheidung ist sehr
schwer und du sollst die Liebe an deinem Volk und deinem
Land nicht verraten. Ich will dir nur sagen, dass mein
Herz nicht geteilt ist. Es gehört ganz dir und das war
auch schon in der Zeit so, woher die Bilder kommen, die
du von uns beiden gesehen hast. Und weil mein Herz auch
dein Herz ist, darf dein Herz nicht aufhören zu
schlagen, weil das meine dann dasselbe tut!«
Antaronas Blick zweifelte und Sebastian setzte nach:
»Wenn Torbuk dich bekommt, so hat er auch mich,
wenngleich ich mich woanders befinde. Wenn die schwarzen
Soldaten dir ein Leid zufügen, so spüre auch ich diesen
Schmerz und wenn sie dich töten, so werde auch ich in
das Reich der Toten eintreten... Hast du das verstanden,
mein Sonnenherz, ja? In meiner Seele hat sich mein Herz
mit deinem bereits verbunden und ich fühle auch mit
deinem Herzen...« Allmählich wurde er unsicher in
seiner Argumentation. Und wie zur Bestätigung sagte
Antarona mit tief dringendem Blick:
»Ba - shtie, wenn euer Herz fühlt wie meines, wenn
unsere Herzen euch wie Eines sind, warum versteht ihr
dann nicht, dass ich auch im Kampf mit euch sein will..,
an eurer Seite und an der Seite meines Volkes?«
Verzweifelt startete Sebastian einen letzten Versuch:
»Antarona, kannst du dir vorstellen, dass ich dich so
sehr mag, dass mein Herz vor Kummer sterben würde, wenn
dir etwas zustößt? Du bist bereit, dein Leben für dein
Volk und für dein Land zu geben.., doch ich bin bereit,
mein Leben nur für dich allein zu geben.., so ist
das!«, gestand er ihr. Mehr zu sich selbst sprach er
müde:
»Vielleicht verstehst du es nicht, möglicherweise
brauchst du tatsächlich mehr Zeit... Ich bete darum,
dass wir diese Zeit haben und inzwischen nichts
geschieht, das dich mir wieder fort nimmt... Noch einmal
könnte ich das nicht ertragen...«
Plötzlich spürte er Antaronas Hand auf seinem Arm. Sie
sah ihm so tief in die Augen, dass Sebastian das Gefühl
hatte, sie blickte in seine Seele selbst:
»Seid ohne Sorge, Ba - shtie, ich will mit euch viele
schöne Sommer und Winter zusammen sein. Mein Herz wird
auch in Trauer im Reich der Toten sein, wenn euch Böses
widerfährt. Antarona wartet auf den Tag, da Frieden und
Sorglosigkeit in unseren Tälern einziehen... Dann ist es
Zeit über Liebe zu sprechen, dann wird Antarona euch
zeigen, dass ihr Leib in Liebe brennen kann, wie das
Feuer im trockenen Wald!«
Im Grunde hätte Sebastian diese Aussage eine riesige
Last vom Herzen nehmen müssen. Tat sie aber nicht. Denn
was machte es für einen Sinn, Empfindungen in einen
Käfig zu sperren, der vielleicht irgend wann einmal,
oder niemals geöffnet werden würde? Seine
Interpretation ging eindeutig dahin, dass Antarona seine
Gefühle nicht in dem Maße erwiderte, wie er sie gab.
Möglicherweise gab es einen anderen, den sie liebte und
sie scheute sich davor, es ihm zu sagen. Schließlich
vergrämt man nicht einen Mann von den Göttern,
den man dringend für einen ansonsten aussichtslosen
Kampf braucht... Sebastian Lauknitz war enttäuscht!
Noch nie hatte er seine Gefühle in so
überschwänglicher Weise preisgegeben. Doch wenn er es
tat, wollte er stets wissen, woran er war. Bei Janine
wusste er es, bei Antarona jedoch war er im Zweifel. Und
ob Sebastian das Sonnenherz jemals erobern konnte...
Sie gingen der nächsten schweren Aufgabe entgegen.
Annuks Eltern hatten ihre Hütte am Dorfrand. Sie rangen
ihren Lebensunterhalt den kleinen Teichen ab, die
eingebettet in den saftigen Wiesen lagen. Als Antarona
und Sebastian die Wohnstatt von Annuks Eltern erreichten,
erwartete sie dort eine größere Menschenmenge.
Zunächst dachte Sebastian, dass es Annuks heldenhafter
und mutiger Einsatz bei der Befreiung der Frauen war, der
nun die Dorfbewohner veranlasste, ihren Eltern die
Aufwartung zu machen, um in der Trauer um ihr Kind zu
ihnen zu stehen. Doch eine Tragödie zog manchmal weitere
Kreise...
Vor der Hütte, die anscheinend Annuks Eltern gehörte,
stand ein kleiner Leiterwagen, der von den Anwesenden
umringt wurde. Ein junger Mann, beinahe noch ein
Jugendlicher, lag auf das Stroh des hölzernen Gefährts
gebettet. Friedlich, als würde er schlafen, mit
gefalteten Händen auf dem Bauch, so lag er da. Antarona
und Sebastian brauchten nicht erst zu fragen, was mit
diesem Jüngling war. Er war in das Reich der Toten
hinüber gewechselt. Sebastian sah Antarona fragend an,
die ebenso ahnungslos zurück blickte.
Sie ging auf die aufgeregten Leute zu und fragte diese in
der Sprache des Volkes. Danach wandte sie sich Sebastian
zu und ihre traurigen Augen waren mit Tränen gefüllt.
Bevor Sebastian noch reagieren konnte, legte sie
unverhofft ihre Arme um seinen Hals, zog sich an ihn
heran und küsste ihn weinend. Warm benetzten ihre
Tränen sein überraschtes Gesicht. Ihr Körper zitterte
leicht und fühlte sich sehr verletzlich an. Sebastian
legte seinen kräftigen Arm um ihre Hüfte und hielt mit
der anderen beschützend ihren Kopf, als er ihren Kuss
erwiderte, erstaunt über die rasche Sinneswandlung
seiner Gefährtin.
Dann löste sich Antarona von ihm, ihre Hände suchten
Halt an seinen Armen und sie lehnte ihren Kopf an
Sebastians Schulter. Weinend berichtete sie ihm, was
geschehen war:
»Dieser Junge.., sein Herz war mit dem von Annuk
verbunden.., sie waren wie ein Herz... Die Trauer war zu
schwer für ihn.., er hatte nicht die Kraft, Annuk in das
Reich der Toten gehen zu lassen.., und ohne sie zurück
zu bleiben...« Eine Welle innerer Erschütterung
durchfuhr Antaronas Körper und Sebastian drückte ihren
bebenden Leib ganz fest an sich. Schluchzend fuhr sie
fort:
»Er hat sich selbst sein Messer in die Brust
gestoßen.., so sehr schmerzte es ihn, Ba - shtie.., er
wollte Annuk folgen.., er wollte für immer bei ihr
sein... Verzeiht mir.., Ba - shtie, ich habe euch nicht
geglaubt.., Ba - shtie.., ich...«
Antarona weinte und brachte kein Wort mehr heraus. Diese
kleine, filigrane Frau, die in der Nacht mit dem Mut
einer Bärin kämpfte und eben noch mit Sebastian
Lauknitz die ganze Armee Torbuks vernichten wollte,
weinte sich an seiner Schulter die Seele aus dem Leib! Er
legte seine Arme um sie, hielt sie fest und strich ihr
zärtlich die Haare aus dem Gesicht. Sebastian ließ sie
ihren Kummer aus ihrem Herzen ausgießen und fühlte mit
jeder Träne, die sie auf seiner Brust vergoss, ihren
Schmerz mit ihr.
Später, als Antarona sich etwas beruhigt und ihre
gewohnte Sicherheit zurückgewonnen hatte, schien sie hin
und her gerissen von ihren eigenen Gefühlen. Einerseits
liebte sie Sebastian genau so wie er sie und scheute sich
plötzlich davor, ihm Kummer zu bereiten. Andererseits
war ihre Verpflichtung und Bindung ihrem Volk und dem Tal
gegenüber so stark, dass sie an der Seite der Menschen,
die sie liebte, bis zum bitteren Ende kämpfen wollte.
Eines stand für sie nun felsenfest: Wenn Sebastian nach
den kalten Monden des Schnees gegen Torbuk zog, dann
wollte sie bei ihm sein und nicht mit einem Kind von ihm
auf Högi Balmers Alm vor Angst zitternd auf eine
Nachricht warten!
Wie schon einmal gingen sie schweigend nebeneinander her,
die untergehende Sonne im Rücken. Wieder führte sie der
Weg aus dem Dorf, durch den Wald, an den See und zu
Antaronas geheimer Höhle. Viele Dorfbewohner boten ihnen
an, unter dem Schutz ihres Daches die Nacht zu
verbringen. Doch wie beim letzten Mal lehnte Antarona
freundlich ab.
Das erste Mal hatte Sebastian das nicht verstanden.
Diesmal jedoch, hätte er selbst das Angebot abgelehnt.
Ihm wurde inzwischen die Tragweite von Antaronas
rebellischem Verhalten bewusst. Sie war eine
Aufrührerin, eine ernst zu nehmende, radikale
Revolutionärin, die mittlerweile ein ziemlich lästiger
Dorn in Torbuks Auge sein musste.
Es stand außer Frage, dass der alle Diejenigen bestrafen
würde, die Antarona oder ihm Unterschlupf gewährten.
Sie mussten ebenfalls annehmen, dass dieser Torbuk
überall seine Spione sitzen haben konnte. Wem konnte man
trauen und wem nicht? Sebastian wunderte sich, dass
Antarona, die in den Stuben der Dörfer bereits den
Status einer Heiligen besaß, so lange Zeit unbehelligt
gegen Torbuks Soldaten vorgehen konnte, ohne dass sie
verraten oder gefangen genommen wurde.
Freilich wusste er noch nicht viel über dieses Land,
doch gab es Dinge, die änderten sich niemals, egal in
welcher Welt. Revolutionäre und Regimegegner wurden
verraten und öffentlich hingerichtet.., das war schon
immer so. Für ihn war es nur eine Frage der Zeit, bis
Antarona in eine Falle lief. Sollte er sich darauf
einlassen, dieses Volk taktisch zu beraten, das stand
für Sebastian fest, dann tat er das ausschließlich, um
Antarona zu schützen, die Frau, die sein Herz mit beiden
Händen eingefangen hatte und es nicht mehr los ließ!
Natürlich wusste Sebastian noch nicht, worauf er sich
einlassen würde. Kriegsführung, ob nun modern, oder
mittelalterlich, kannte er lediglich aus
Geschichtsbüchern, also in der Theorie! Praktisch hatte
er keine Ahnung von dem, was ihn erwarten sollte. Seine
Ausbildung beim Militär seines Heimatlandes kam ihm
sicherlich zugute, doch hier kämpfte niemand mit
Fernlenkraketen, Wärmeortungsempfängern und
weitreichenden Geschützen. In dieser Auseinandersetzung
würde Mann gegen Mann mit einfachsten Waffen
gegeneinander antreten. In diesem Krieg, wenn er denn
erst einmal entfacht war, würde jeder seinem Gegner, den
er zu töten beabsichtigte, in die Augen sehen müssen!
In diesen Tälern würde gnadenlos und ohne Kompromisse
zur Menschlichkeit gefochten werden!
Sein Wissen eines modernen Zeitalters sagte Sebastian
unmissverständlich, dass sie nur eine Chance auf Erfolg
hatten, wenn sie Torbuks Soldaten mit Distanzwaffen aus
dem Hiterhalt zusetzen konnten und sich sofort wieder
unsichtbar machten. Guerillakrieg war die Lösung!
Vietnam und Afghanistan hatten das mit Erfolg praktiziert
und einen übermächtigen Gegner letztlich zur Aufgabe
gezwungen. Doch wie sollte man so etwas in diesen Tälern
mit seinen unorganisierten, ängstlichen Bewohnern
realisieren?
»Antarona, sag mal.., wie könnte man alle diese
Menschen hier, die bereit wären, sich gegen Torbuk und
Karek zur Wehr zu setzen, an einen Tisch bekommen...«,
brach Sebastian ihr Schweigen. »Ich meine, wo könnte
man alle interessierten Männer versammeln, um mit ihnen
ein mögliches Vorgehen zu beraten... Verstehst du, man
müsste erst einmal einen Widerstand organisieren und den
Schutz der Frauen und Kinder, bevor man darüber
nachdenkt, wie man Torbuks Reiter bekämpfen kann. Wir
brauchen einen Ort, der...« Weiter kam er gar nicht.
Antarona fiel ihm erneut um den Hals, wie ein kleines
Mädchen, dem man eine neue Puppe geschenkt hatte. Sie
schlang ihre Arme um seinen Hals, hängte sich an ihn und
ruderte ausgelassen mit ihren Beinen:
»Ich wusste es, Ba - shtie von den Göttern.., ihr lasst
das Volk nicht untergehen! Antarona wusste, dass in euch
das Herz eines großen Kriegers schlägt, der das Volk
führen wird, alle wussten wir das, alle hatten wir
darauf gewartet und gehofft. Antarona hat euch gefunden
und wird euch zu denen bringen, die euch bereits
erwarten, die mit euch kämpfen werden..!« Völlig
perplex fasste Sebastian sie an der Hüfte und hob sie
wieder auf die Füße. Ihre Augen strahlten vor Freude
und versprühten ein Feuer, das ihn einfach faszinierte.
Doch er war vorsichtig geworden. Ihre Stimmung konnte
ziemlich rasch von einem Extrem ins andere fallen. Er
hatte es bereits erlebt! Trotzdem sie ihn mit ihrer
Begeisterung mitriss, blieb ein Rest Skepsis:
»Moment mal«, bremste Basti ihren Enthusiasmus,
»...versprochen habe ich noch gar nichts.., das dies
schon mal klar ist! Ich habe lediglich darüber
nachgedacht, was man tun könnte.., mehr nicht!« Doch
Antarona hörte gar nicht mehr zu. Für sie stand bereits
fest, einen Revolutionsführer für ihr Volk gefunden zu
haben.
»Wenn die Sonne noch jung ist, gehen wir den Weg nach
Fallwasser, Ba - shtie.., dann werdet ihr meinen Vater
sehen... Er wird den Achterrat zusammenrufen und sie
werden euch zuhören.., ja sie müssen euch anhören,
denn ihr tragt die Zeichen der Prophezeihung, von den
Göttern für alle Ewigkeit in eure Haut gebrannt! Ba -
shtie - laug - nids.., ihr sagt uns, wie wir kämpfen
sollen. Der Achterrat wird seine Augen nicht
verschließen, vor dem, den die Götter gesandt haben,
uns zu führen... Und Antarona wird an eurer Seite sein,
unsere Herzen werden lieben und kämpfen, wie ein Herz..,
unsere Waffen...«
»Haaalt.., Augenblick mal...« Mit einer energischen
Handbewegung musste Sebastian das aufgedrehte
Krähenmädchen zum Schweigen bringen, so sehr hatte sie
sich ereifert. Er fand es schade, ihrer bewundernswerten
Leidenschaft Einhalt bieten zu müssen, doch er kam
gedanklich nicht mehr ganz mit:
»Wer zum Donnerwetter ist denn der Achterrat und wieso
warten die auf mich..? Die kennen mich doch gar nicht!
Und was deinen Vater betrifft... Weiß der eigentlich,
dass du mich mitbringst? Ich meine, ich liebe dich nun
mal und ich werde ihm das natürlich sagen müssen.., ich
meine, ich sollte mich darauf vorbereiten, oder?«
»Was müsst ihr da vorbereiten, Ba - shtie, mein Vater
ist ein guter Mann, er wird euch mögen.., ihr werdet
sehen... Der Achterrat wird euch willkommen heißen.., es
sind die acht weisesten Männer im Tal, sie beraten
stets, was das beste für das Volk ist.., ihr werdet
sehen, Ba - shtie, sie werden euch folgen!«
Sebastian zweifelte nicht daran, dass man seinem Rat
folgen würde, doch was Antaronas Vater anging... Noch
hörte er die Worte, die der Wasserbauer sprach:
Sonnenherz ist wie die Mutter der Seelen und wie eine
Felsenbärin gleichermaßen. Sie ist die Hoffnung aller
Menschen hier im Tal. Und sie ist des Holzers liebstes
Kind, sein ganzer Stolz... Der Holzer ist ein guter
Mann.., aber verstockt und eigensinnig. Eine raue, harte
Schale umgibt sein Herz, das vor Kummer krank ist! Seid
ihr so stark, Herr, dass ihr ihm die einzige Rosenknospe
in seinem Garten nehmen könnt, ohne, dass er euch den
Schädel einschlägt?
Töchter verehrten ihre Väter mit rosigem Blick, das
wusste Sebastian... Aber wie würde dieser Mann wirklich
reagieren, wenn er ihm bei ihrem ersten Zusammentreffen
gestand, dass er seine einzige Tochter mehr als sein
eigenes Leben liebte und dass er für immer mit ihr
zusammen sein wollte? Das Gefühl, dass sich bei diesem
Gedanken in seinem Bauch ausbreitete, konnte man mit dem
Frontalzusammenstoß zweier Lokomotiven vergleichen!
Sebastian brauchte einige Zeit, über all das
nachzudenken, mit dem Antarona ihn bedrängte. Er sollte
mit ihr in einen Krieg ziehen, dessen Ausmaß er nicht
einmal im Traum erahnen konnte. Er wusste, er würde das
nur für sie tun, in der Hoffnung, dass sie seine Liebe
zu ihr erwiderte. Aber gerade diesen Wunsch versagte sie
ihm.
Natürlich war Basti bewusst, dass sie sich aus Antaronas
Sicht erst sehr kurze Zeit kannten. Eine wirkliche
Gelegenheit, sich in ihren Gefühlen füreinander näher
zu kommen, gab es bislang nicht. Und Sebastians Zuneigung
zu diesem Krähenmädchen erwuchs sich zu Beginn ihrer
Begegnung allein aus der Erinnerung seiner scheinbar
anderen Welt. Antarona hingegen lernte ihn erst kennen.
Was konnte er zu diesem Zeitpunkt schon erwarten?
Plötzlich wurde ihm klar, dass er von seiner neuen
Gefährtin bereits mehr bekommen hatte, als er sich zu
diesem Zeitpunkt hätte erhoffen dürfen.
Schweigend gingen sie eine Weile nebeneinander her und
traten in den Wald ein, der an der Abbruchkante über dem
Wasserfall endete und wo Sebastian den ersten Mann in
seinem ungewollten Abenteuer sterben sah. Augenblicklich
war das restliche Licht des Tages verschwunden. Eine
kriechende Kälte umklammerte sie und Sebastian hatte das
Gefühl, von den nasskalten Ästen der Bäume umfasst zu
werden. Nur noch schemenhaft erkannte er Antarona neben
sich. Der Wald sog alles auf; Wärme, Licht, Klang.
Während sie im Dunkeln dahin gingen, ergriff Sebastian
Antaronas Hand und bremste ihren Schritt. Ihm fiel ein,
dass sie nach wie vor nur ihren knappen Lendenschurz und
das spärliche Oberteil trug. Umständlich band er im
Dunkeln den Pullover von seinem Bündel und gab ihn
Antarona. Als er ihren Arm berührte, spürte er, dass
sie zitterte, wie die Birkenblätter im Wind.
Sie nahm das warme Kleidungsstück und drehte es
unschlüssig hin und her. Offensichtlich konnte sie mit
dem eng gestrickten Pullover nicht mehr anfangen, als ein
Frosch mit einem Sextanten.
»Du musst ihn über den Kopf ziehen und mit den Armen
dort hinein«, half ihr Basti und krempelte den dicken,
weichen Stoff auf. Antarona nahm ihr Schwert und das
Fellbündel ab und ließ sich bereitwillig helfen.
Behutsam zog Sebastian ihr den Pullover über den Kopf,
bemüht, nicht an ihren verfilzten Haaren oder ihrem
Federschmuck hängen zu bleiben.
Er spürte, wie anziehend ihr Körper auf ihn wirkte, als
er die Wolle an ihr herunterzog und wie zufällig ließ
er seine Hände auf ihren Hüften ruhen. Sie regte sich
nicht und ließ es einfach geschehen. Ein leichtes Beben
durchfuhr ihren angespannten Leib. Sebastian glaubte zu
hören, wie ihr Atem schneller ging und meinte ihren
Herzschlag zu hören. Der Wald indes schien tatsächlich
seinen Atem anzuhalten. Kein Luftzug regte sich und jedes
Lebewesen im Reich der dichten Blätter spürte offenbar
die Spannung, die plötzlich zwischen ihnen lag, denn
jeder Laut ringsum verstummte.
Bastis Hände glitten tiefer und er fühlte das dünne,
weiche Leder, das ihm die Berührung Antaronas Haut
verwehrte. Dennoch spürte er sie so intensiv, dass er
sich beinahe von seiner Phantasie forttragen ließ. Er
zog sie sanft fordernd zu sich heran, sog ihren
betörenden Duft tief ein und war erstaunt, dass Antarona
ihre Arme um seinen Hals schlang, als wäre es ganz
selbstverständlich. Eine gewaltige, heiße Welle der
Erregung durchzog Bastis Körper und er gab sich mit
einer tiefen, lang zurückgehaltenen Sehnsucht dem
Verlangen hin, Antarona jetzt und an dieser Stelle
leidenschaftlich und heiß zu küssen und sie nicht
wieder los zu lassen.
Doch in dem Augenblick, da er sich, von ihrer anziehenden
Nähe berauscht, fallen lassen wollte und ihre Lippen
suchte, spürte er einen flüchtigen Kuss auf seinem
Mund, der nicht mehr als eine kurze, schnelle Berührung
war. Sofort löste sich Antarona aus seiner Umarmung und
hob ihre Waffe und das Fellbündel auf.
»Danke, Ba - shtie«, sprach sie leise, »...lasst uns
jetzt gehen...«
Sebastian war überrascht, verärgert und enttäuscht
zugleich. Er war fest davon überzeugt, die Barriere
zwischen ihnen durchbrochen zu haben und dass Antarona
seinen Kuss zulassen und erwidern würde. Statt dessen
kam sie ihm zuvor und entschied die Situation, die er so
sehr herbeigesehnt hatte, mit einer eher
freundschaftlichen Geste. Das war nicht die erwartete,
tiefe Liebe, die er in Antarona suchte. Basti gestand
sich ein, vielleicht zu ungeduldig zu sein. Doch was
sollte er tun?
Seine Gefühle für Antarona waren so tief, so
verlangend, dass er nicht gegen sie ankämpfen konnte.
Ohne die Liebe dieses Krähenmädchens fühlte er sich
wie eine leere, schmerzende Körperhülle, aus der alle
Eingeweide herausgerissen wurden. Er fragte sich, wie
lange er diesen Zustand noch aushalten konnte, während
ihn seine Sehnsucht langsam auffraß und sich der Grund
dafür ständig aufreizend leicht bekleidet vor seinen
Augen präsentierte.
Während der letzten Meter steilen Weges hinunter zum
Fuß des Wasserfalls spürte Sebastian die Anstrengungen
der letzten Tage. Ruhig lag der See im schimmernden
Mondlicht vor ihnen. Die Luft war dort im Talgrund trotz
der Nebelschwaden des fallenden Wassers erstaunlich warm
und mild. Das warme Licht des Erdtrabanten spiegelte sich
in den kleinen Wellen. Wie ein sich bewegendes Feld
aneinander gereihter Goldschuppen suggerierte die
Stimmung einen tiefen, beruhigenden Frieden. Basti ahnte
jedoch, dass dies nur eine trügerische Ruhe war.
Antarona zog ihre Beinlinge aus und begann die silbern
glänzenden, rutschigen Felsen empor zu klettern. Wieder
hatte Sebastian Mühe, ihr zu folgen. Er fragte sich, wie
seine Gefährtin es fertig brachte, mit ihren nackten
Füßen auf dem glitschigen Stein Halt zu finden.
Er hatte sich ebenfalls seiner Stiefel und Kleider
entledigt und versuchte ihr zu folgen. Bei diesem
Unternehmen wurde ihm klar, weshalb bislang niemand
Antaronas Schlupfwinkel entdeckt hatte. Jeder, der es
versuchte, musste sich unweigerlich den Hals brechen.
Wo sich Antarona leichtfüßig über den glatten
Untergrund bewegte, musste er Nischen, Ritzen und
Zwischenräume nutzen, um nicht rücklings abzustürzen.
Diese Art der Fortbewegung besaß den zweifelhaften
Charakter, dass sich mal der eine, mal der andere Fuß in
den Felsspalten verkeilte und er festsaß, wie eine Ratte
in der Falle.
Irgendwie erreichte er dennoch mehr von seinem Schweiß,
als vom Sprühwasser durchnässt, den Zugang zu Antaronas
Grotte. Das Krähenmädchen hatte bereits die Fackeln im
hinteren Höhlenraum entzündet und Sebastian stolperte
auf den spärlich erleuchteten Eingang zu, das Donnern
und Rauschen des Wasserfalls im Rücken.
Antarona hatte ein kleines, fast rauchloses Feuer in der
Feuerstelle entfacht. Dann verschwand sie mit einer
Fackel in dem Höhlengang, in dem Basti den Felsenbrunnen
wusste. Mit einem kleinen Kessel frischen Wassers kehrte
sie kurz darauf zurück.
»Helft mir mal, Ba - shtie«, sagte sie über ihre
Schulter hinweg und holte drei große Holzstangen aus
einer Ecke, die an ihren Spitzen eigenartig verdreht
waren. Zwei hatten eine gleiche Länge, während die
dritte um einiges länger war. Antarona zeigte Sebastian,
wie man die Hölzer mit ihren seltsamen Enden so
ineinander verkeilte, dass sie sich gegenseitig stützten
und ein recht stabiles, dreibeiniges Gestell ergaben.
Dabei ragte die längere Stange weit über die
Kreuzungspunkte dieser Konstruktion hinaus. Über deren
Ende, das mit einem Haken versehen war, warf sie eine
lange Lederschnur, an die sie den Kessel mit einem
weiteren Haken einhängte.
Anschließend zupfte sie von ihren aufgehängten,
getrockneten Pflanzen ein paar Büschel ab und warf sie
in den Kessel. Basti sah ihr fragen zu.
»Der Sud vom Brennkraut wird uns stärken, Ba - shtie,
wir werden tief und fest schlafen und wenn die Sonne
über dem Fallwasser steht, werdet ihr wieder eure ganze
Kraft besitzen!« Sie sagte das mit einer Sicherheit, die
Sebastian vermuten ließ, dass sie genau wusste, wovon
sie sprach.
Na das war ja großartig, stellte Bastis Sarkasmus in
Gedanken fest. Seine große Liebe war nicht nur eine
Kämpferin, die es offenbar ohne große Probleme fertig
brachte, einem Menschen das Leben auszulöschen. Nein!
Sie war auch noch eine Kräuterhexe! Eine wunderschöne
und attraktive, zugegeben, aber eben doch eine
Kräutertante. Trotzdem wollte er ihr seine
Aufmerksamkeit und Anerkennung zeigen. Mehr mit dem Ziel,
ihre Zuneigung zu gewinnen, als aus wirklichem Interesse
heraus fragte er mit dem Kopf auf ihre Kräuter deutend:
»Was ist das Antarona, Brennkraut, woher hast
du das? Wächst das hier in den Tälern?«
Sie sah ihn fürsorglich an und erklärte: »Ihr habt es
gewiss bei Vater Balmer gesehen, Ba - shtie, es wächst
in den Wäldern auf feuchtem Boden, dort, wo der Regen
eine Weile in der Erde bleibt. Ich werde es euch morgen
zeigen. Es brennt auf der Haut, wenn man seine Blätter
berührt. Der Sud davon gibt Kraft und heilt manches
Leid, ihr werdet es bald spüren, Mann von den
Göttern!«
»Woher weißt du das alles«, wollte Sebastian wissen,
»wer hat dir so etwas beigebracht und gezeigt?« Fragend
sah er Antarona an. Sie rührte mit einer hölzernen
Kelle in dem Sud herum und erklärte ohne aufzusehen:
»Das, Ba - shtie - laug - nids, das wissen alle Töchter
des Volkes. Das und noch Vieles mehr. Ein Mann, der sich
mit einer Tochter des Volkes verbindet, wird die heilende
Kraft ihrer Hände und vieler Pflanzen besitzen. Einige
Heilfrauen leben tief in den Wäldern. Sie lehren ihre
Geheimnisse der Wälder, Weiden und Sümpfe einigen
Frauen des Volkes. Diese wiederum schenken das Wissen dem
Volk und geben es an ihre Töchter weiter.«
In Sebastian regte sich inzwischen echtes Interesse. Was
Antarona ihm erzählte klang wie ein streng gehütetes
Geheimnis, von dem er mehr wissen wollte.
»Antarona, kennst du auch Kräuter, die Wunden und
Krankheiten heilen?« Er sah sie forschend an und musste
sich eingestehen, dass er sein Krähenmädchen für ihre
Fähigkeiten bewunderte. Sicherlich bestärkten ihn dabei
die Herzensgefühle, die er für sie empfand.
Ein wenig genervt sah sie Sebastian an. Dann ließ sie
ihren Holzlöffel in den Kessel gleiten, hockte sich vor
Basti auf den Höhlenboden und sah ihn eine Weile
schweigend und neugierig an. Dann nahm sie sein Gesicht
in ihre feingliedrigen Hände, küsste flüchtig seine
Lippen und ihre großen Augen schienen sein erstauntes
Gesicht zu durchdringen und in seine Seele zu blicken:
»Ba - shtie - laug - nids, was ihr alles wissen
wollt...«, raunte sie kopfschüttelnd und etwas lauter
fügte sie hinzu: »Diese Dinge sollen die Töchter des
Volkes wissen. Es ist nicht Aufgabe der Männer diese
Geheimnisse der Götter zu kennen. Dafür habt ihr die
Mütter und Frauen, Ba - shtie, ihr müsst nicht alles
wissen, was uns die Heilerinnen verraten... Vertraut
einfach den Töchtern des Volkes, vertraut ihrem Wissen,
lasst euch umsorgen an den Feuern, mit den Geheimnissen,
die den Frauen gegeben sind. Schützt die Töchter dieses
Landes und ihr werdet immer zärtliche, heilende Hände
an euren Feuern wissen.«
»Aber Högi Balmer hat doch auch seine ganze Hütte voll
von Kräutern.., ist der in eure Geheimnisse
eingeweiht?«, hakte Sebastian nach. »Oder war seine
Marienka eine von diesen Heilerinnen..?«
»Ba - shtie von den Göttern.., ihr fragt zu viel«,
warf ihm Antarona mit einem süßen Lächeln vor, »der
Mond ist schon weit gewandert, wir sollten den
stärkenden Trank zu uns nehmen und Ruhe suchen... Wenn
die Sonne die Nebel besiegt, ist noch genug Zeit für
Fragen...«
Damit stand sie auf, schöpfte die grünbraune,
transparente Brühe in tiefe Holzschalen und gab
Sebastian eine davon. Vorsichtig roch Basti an dem
dampfenden Getränk. Die Flüssigkeit roch nach
getrocknetem Gras. Und sie schmeckte auch nach Heu,
stellte er fest und verbrühte sich augenblicklich die
Lippen. Sebastian setzte eine schmerzverzerrte Grimasse
auf.
»Ihr mögt den Trank nicht, Ba - shtie«, stellte
Antarona enttäuscht fest. Sebastian beschwichtigte sie
sofort, indem er ihr mit einer fächelnden Hand
signalisierte, dass ihr Sud eine sehr hohe Temperatur
besaß.
»Trinkt es in kurzen, kleinen Schlucken, Ba - shtie, und
es wird euch sehr gut tun!«, belehrte sie ihn. Sebastian
zog dankbar seine Augenbrauen hoch und schlürfte
bedächtig anerkennend den wundersamen Trank, der seinen
Muskelkater, seine Müdigkeit, und seine Zweifel ebenso
bekämpfen sollte, wie seine brennenden Füße.
Nachdem sie noch ein Stück Brot und etwas getrocknetes
Fleisch gegessen hatten, das Sebastians Hunger kaum zu
stillen vermochte, bereitete Antarona die Schlafstätten.
Dabei drapierte sie ihre Schwerter und Messer, sowie
ihren Bogen griffbereit an den Kopfenden. Basti sah sie
fragend an.
»Niemand außer euch und mir kennt diese Höhlen, Ba -
shtie, doch das Leben in diesen Tälern fordert das Gebot
der immer währenden Vorsicht«, erklärte ihm Antarona
leise, als befürchtete sie bereits unliebsame Zuhörer.
»Was ist mit deinem Vater, Antarona, kennt der dieses
Versteck im Berg?« Sebastian versuchte diese Frage nicht
allzu neugierig klingen zu lassen, doch es gelang ihm
nicht besonders gut. Rasch fügte er noch hinzu:
»Macht der sich denn keine Sorgen um dich? Fragt sich
nicht zumindest deine Mutter, wo du bleibst, wenn du so
lange von zu Hause fort bist?«
Antarona sah ihm wieder in die Augen, als wollte sie
seine tiefsten Gedanken und Empfindungen ergründen.
»Dieses Geheimnis, Ba - shtie - laug - nids, kennt nur
Sonnenherz allein«, stellte sie bestimmt fest. »Nicht
einmal der Vater von Sonnenherz kennt diesen Ort!«
Antarona kam auf Basti zu, legte ihre Hände gewichtig
auf seinen Arm und flüsterte:
»Nur ihr, Mann von den Göttern, teilt jetzt mit
Sonnenherz das Geheimnis. Die Mutter von Sonnenherz
kannte ebenfalls dieses Versteck.«
Mit einem drohenden Unterton fuhr sie fort: »Wenn ihr
das Wissen um diesen Ort jemals preis gebt, Ba - shtie,
dann wird Sonnenherz euren Leichnam zu den Göttern
zurückschicken, damit sie das nächste Mal einen
ehrenvolleren Krieger zum Volk senden...« Nun, das war
mehr als deutlich!
»Antarona, ich liebe dich und würde alles für dich
tun, warum sollte ich dich verraten? Ich würde mich
selbst verraten, wenn ich das täte, du kannst mir
vertrauen..!«, versuchte Basti sie zu beschwichtigen.
»Ba - shtie - laug - nids, manche, denen Sonnenherz
vertraute...«, antwortete sie gefährlich leise und ihre
Augen verengte sich zum Blick einer angriffslustigen
Raubkatze, »...und die das Volk verraten wollten, sind
jetzt im Reich der Toten, doch für sie leuchtet kein
Stern am Himmel der schlafenden Sonne!«
»Dein Vater, Sonnenherz.., macht der sich keine
Gedanken, wo du bist und ob es dir gut geht?«, versuchte
Sebastian das Thema in eine andere Richtung zu lenken.
In Antaronas Augen zog wieder Wärme und Güte ein.
»Mein Vater weiß, ob ich glücklich bin, oder Schmerz
leide, Laug - nids. Tekla und Tonka sagen ihm jeden Tag,
wie es mir geht. Sie sind Teil meines Geistes...«
»Tekla und Tonka.., sind das deine beiden gefiederten
Freunde, die ab und zu bei dir auftauchen?«, wollte
Basti wissen.
»Sie sind Töchter des Krähenvolkes, Ba - shtie. Sie
sind meine Freunde, seit ihr Volk mich einmal vor dem
Bösen bewahrt haben. Sie sind an der Seite von
Sonnenherz, sobald ich es ihnen mit meinen Gedanken
zurufe.« Antarona machte eine kurze Pause und Sebastian
erinnerte sich an die Geschichte des Krähenmädchens,
das von einer Schar Krähen vor Raubzeug beschützt
wurde. Doktor Falméra und Högi Balmer hatten davon
berichtet. Allerdings hatte Basti diese Erzählung als
eine der vielen Sagen abgetan, die in Gebirgsregionen wie
Psalmen in einer Kirche kursierten.
»Du verstehst ihre Sprache..?« Sebastians Frage klang
eher wie eine Feststellung. Ohne Pause, als wollte er
Antaronas Antwort zuvor kommen, um noch mehr zu erfahren,
sprach er weiter:
»Högi Balmer und Falméras Medicus erzählten mir, dass
du mit allen Tieren sprechen kannst...« Basti wartete
einen Moment und sah Sonnenherz fragend an. Da sie nicht
gleich antwortete, hakte er nach:
»Sie erzählten, du hast einmal einem Bären gesagt, er
solle aus dem Tal fortgehen und in den Bergen bleiben.
Warum hat der Bär auf dich gehört«, bohrte Sebastian
weiter, »...hätte ich das versucht, so wäre ich von
ihm gewiss zum Abendessen eingeladen worden.., als
Hauptgang...«
Das flüchtige Lächeln, das auf Antaronas Antlitz
aufzog, sprach Bände. Anscheinend nahm sie die Legenden,
die sich um ihre Person rankten, nicht so wichtig. Ein
wenig belustigt klärte sie Sebastian auf:
»Sonnenherz vermag nicht mit den Tieren zu sprechen, so,
wie sie mit euch spricht, Laug - nids! Es ist
anders...«, sie suchte verzweifelt nach den treffenden
Worten, »...es ist.., meine Gedanken und was ich fühle,
Ba - shtie.., die meisten Tiere und Wesen in unseren
Tälern und im großen Wasser.., sie verstehen, was ich
empfinde!«
Basti sah das Krähenmädchen zweifelnd an. An Telepathie
oder Telekinese hatte er nie geglaubt und an solche
Fähigkeiten zwischen Mensch und Tier schon gar nicht.
Andererseits hatte er auch nie an Drachen geglaubt und an
kleine flammende, fliegende Wesen und Riesenbären ebenso
wenig, wie an Bäume, so hoch wie das Empire State
Building.
Er wollte gerade seine Zweifel zum Ausdruck bringen, als
Antarona nach einem Augenblick wie in Gedanken versunken,
weiter sprach:
»...Alle Wesen fühlen, was ich empfinde und ich weiß,
was die Tiere fühlen... Der Felsenbär, Ba - shtie..,
ich spürte, dass er nur in Frieden jagen wollte... Ich
fühlte, dass er in unserem Tal in Gefahr war und sagte
es ihm. Er verstand meine Worte nicht, aber er empfing
meine Warnung. Ich spürte seine Dankbarkeit, als er in
den Wald zog und weiter hinauf in die Berge. Ich fühlte
so etwas wie Abschied und wusste, er kommt nicht
wieder...« Sonnenherz schwieg einen Moment und Sebastian
ahnte, dass sie noch mehr sagen würde. Er wartete
geduldig. Ein paar Atemzüge später schien Antarona aus
ihren Gedanken zu erwachen:
»Laug - nids.., ich spreche nicht mit den Tieren und ich
befehle ihnen nichts... Mein Herz fühlt mit dem ihren
und sagt ihnen, was ich wünsche, so, wie ich spüre, was
die Tiere fühlen... Unsere Herzen und unsere Seelen
sprechen miteinander, nicht unsere Stimme und unser
Verstand...«
Sie sah Lauknitz lange eindringlich an, wohl um
festzustellen, ob er ihr gedanklich folgen konnte. In
dieser Geste empfand Sebastian sein Krähenmädchen so
naiv und hilflos, so schutzbedürftig und verletzlich. Er
wusste, dass sie es nicht war, dass sie von einer Sekunde
zur anderen zur wilden, überlegenen Kämpferin werden
konnte. In diesem Augenblick jedoch, da sie ihm ihr
intimstes Geheimnis offenbarte, sah er sie als etwas,
dass er schützend in seine Arme nehmen musste.
Er tat es und sie ließ ihren Körper in seine Umarmung
sinken. Das Krähenmädchen gab sich vertrauensvoll in
seine Obhut. Sebastian unterdrückte das Verlangen nach
ihrem verführerischen Körper und hielt sie nur fest.
Seine Finger versuchten einer natürlichen Eingebung nach
ihr verfilztes Haar zu glätten, während er sich
bemühte, seine Stimme so einfühlsam wie möglich
klingen zu lassen:
»Ich glaube, ich verstehe, was du meinst... Du und alle
Tiere und alle Wesen, ihr tragt ein gegenseitiges, tiefes
Vertrauen zueinander in euch, das aus reinem, ehrlichem
Empfinden, ohne Arglist und Misstrauen besteht. Ich
wollte, ich könnte das auch...«
»Versucht es, Ba - shtie.., ihr müsst nur fest daran
glauben, dann könnt ihr es auch...!« Antarona meinte es
ehrlich und vielleicht glaubte sie tatsächlich daran,
dass der Mann von den Göttern ebenfalls ihre
Fähigkeiten besaß.
Basti zog sie dichter an sich heran, umfasste ihren
schlanken Körper, als wäre er ein Teil von ihm selbst
und sagte leise: »Nein, mein sonniges Herz, dieses
Vermächtnis hat die Natur nur dir gegeben! Du bist
reinen Herzens, gütig und ehrlich.., und so lange du dir
selbst treu bleibst, wirst du diese Fähigkeit
behalten...«
»Wie meint ihr das, Laug - nids?«, fragte Antarona mit
großen, verwunderten Augen. Sebastian legte behütend
seine Hand wie ein unsichtbares Schutzschild auf ihren
Kopf und antwortete nachdenklich:
»Glauben.., mein Sonnenherz.., Glauben..! Du glaubst an
das Gute in allen Tieren und sie spüren das. Du
möchtest, dass es allen Wesen in diesen Tälern gut
geht, dass sie in Frieden miteinander leben können und
du hilfst denen, die Schutz brauchen, ohne an dein
eigenes Wohl zu denken. Dein Glaube und dein Vertrauen
geben dir die Fähigkeit, um die dich alle bewundern und
um die sich bereits Geschichten ranken... Ich
hingegen...«, Basti machte eine gedankliche Trennung,
»...bin zu realistisch und zu misstrauisch. Ich werde
nie fühlen, was Tiere empfinden... Aber wenn du es
willst, werde ich an deiner Seite sein und dir helfen, wo
immer ich kann...« Noch bevor Antarona antworten oder
widersprechen konnte, fügte er schnell hinzu:
»Du, Antarona, bist für mich das wertvollste auf der
Welt.., wertvoller, als mein eigenes Leben. Und das meine
ich ehrlich!« Sie saßen eine Weile eng
aneinandergelehnt da, schweigend.
»Was ist eigentlich mit deiner Mutter, Antarona.., du
sagtest, auch sie kannte das Geheimnis dieser
Höhlen...« Sebastian stellte ihr aus einem
unüberlegten Gedanken heraus diese Frage, die er sofort
wieder bereute. Antarona löste sich aus seinen Armen und
begann das Feuer, sowie alle Fackeln, bis auf eine, zu
löschen.
»Ba - shtie.., der Mond ist schon weit gewandert... Wenn
die Sonne die Erde wieder begrüßt, ist noch genug Zeit,
danach zu fragen.« Damit ging sie zu ihrer Schlafstatt
und wühlte sich in ihre Felle.
Lauknitz sah ein, dass es sinnlos war, an diesem Abend
noch irgend etwas von Antarona zu erfahren. Er löschte
die letzte Fackel und kroch in seinen Schlafsack, den
Antarona so auf die Schlafstelle gelegt hatte, dass sie
Kopf an Kopf liegen mussten. Nebeneinander wäre ihm
freilich lieber gewesen. Er tastete nach Antaronas Haar
und plötzlich berührten sich ihre Hände, umfassten
sich und hielten sich fest. Antaronas Hand lag in seiner
und er spürte, dass sie nun bereit war, in die Welt der
Träume einzutauchen.
Er war ebenfalls hundemüde. In seinem Kopf schwirrten
jedoch so viele unbeantwortete Fragen umher, dass er sich
fragte, ob er überhaupt würde schlafen können. Fragen,
die sich in seinen Kopf eingebrannt hatten... Wo auf der
Erde, die er gut zu kennen meinte, lag dieses Tal Val
Mentiér? Wieso war Antarona.., nein, Janine hier,
die bereits vor Jahren an Krebs verstorben war? Woher
hatte sie ein Schwert mit diesen Eigenschaften, die
Sebastian noch nie bei einem Metall beobachtet hatte?
Weshalb rannten alle hier in dieser Gegend herum, als
würde es keine Konfektionsmode mehr geben und niemanden,
die sie verkaufte? In was für einem schrägen Film war
er hier gelandet? In einem Leben nach dem Tod?
Fragen, die noch in Bastis Kopf umher purzelten,
allmählich bildlich zu schweben begannen und sich
schließlich in bloße, schnöde Worte verwandelten, die
er in großen, schwarzen Buchstaben vor seinen
geschlossenen Augen dahin ziehen sah. Sie schwebten
vorbei an wunderschönen Berglandschaften, an silbern
sprühenden Wasserfällen, an grünen, sonnigen Weiden,
an friedlichen Dörfern, bis sie hinauf zogen in den
weiten Raum des Himmels und eine phantastische Welt
überflogen, deren Konturen allmählich verblassten und
reinen Frieden hinterließen...
Sebastian Lauknitz schlug die Augen auf. Er blickte auf
zwei dicke Strahlenbündel, die durch grauen Raum
schossen und sich irgendwo kreuzten. Staubpartikel und
kleine Wolken zogen durch die Lichtstränge. Die
Müdigkeit war noch nicht ganz aus seinem Geist gewichen,
so ließ er seine Augenlider noch einmal zufallen. Basti
fühlte sich behaglich...
Aber irgend etwas war da noch... Im dämmernden
Halbschlaf dachte er nach... Die Berglandschaften, die er
im Traum an sich vorüberziehen sah.., so realistisch, so
bildlich, als hätte er es wirklich erlebt...
Plötzlich war Lauknitz hellwach. Er hatte es erlebt! Er
fuhr hoch, streckte im Sitzen seine müden Glieder aus,
die anscheinend keine einzige Faser mehr besaßen, die
nicht schmerzte. Noch etwas benommen und unentschlossen
sah er sich um.
Das große Fell vor dem Eingang zum Höhlenraum war
zurückgeschlagen und ein mächtiger Sonnenstrahl schlug
aus der großen Grotte herein. Gleichzeitig gewahrte
Sebastian das permanente Rauschen des Wasserfalls, das
sich vielfach an den Höhlenwänden brach. Eine zweite
Lichtsäule fiel senkrecht durch den Abzug des
Lagerfeuers herein und beleuchtete einen kreisrunden
Ausschnitt auf dem Felsboden. Ein Feuer knisterte im
Lichtkegel, ein Kessel hing am Dreigestell darüber...
Was Sebastian gehofft hatte, traf nicht zu. Er hatte
keinen Traum! Er war in dieser Höhle und was er mit
Antarona erlebt hatte, war real! Antarona..! Er sah sich
um. Wo steckte das Krähenmädchen? Jedes Mal, wenn er
die Augen aufschlug, sah er nur ihr zerwühltes
Schlaflager. Basti erinnerte sich, wie sie am Abend zuvor
eingeschlafen waren... Plötzlich sah die Welt für ihn
rosiger aus!
Auch das war kein Traum! Er hatte eine alte und eine neue
Liebe entdeckt, die sein Herz brennen und seine
Eingeweide durcheinander fliegen ließ. Antarona..!
Dieses verführerische Wesen mit den tiefgründigen Augen
beherrschte wieder seine Sinne. Sie ließ ihn all das in
den letzten Tagen Erlebte ertragen, sie war der greifbare
Preis für die Entbehrungen, Ängste und unliebsamen
Erlebnisse! Sie musste nur noch begreifen, dass sie
zusammen gehörten!
Doch wo steckte sie? Sebastian blickte sich suchend um.
Als hätte der steinige Höhlenboden das Liebste, das er
besaß, plötzlich verschluckt.
In seinem Bauch entstand ein Gefühlsgemisch aus Liebe,
Begehren und Angst. Er fühlte sich so glücklich, Janine
in Antarona wiederbekommen zu haben, dass er an einer
ständigen, bohrenden Angst litt, sie ebenso rasch wieder
verlieren zu können. Dazu kam noch, dass er seine
Gefühle zu Antarona nicht ausleben konnte. Ja, er wusste
nicht einmal, ob sie seine tiefe Liebe ebenfalls empfand
und irgendwann erwidern würde. Sein Herz war hin und her
gerissen zwischen der tiefen Zuneigung, die er seinem
Krähenmädchen am liebsten vierzehnhundertundvierzig
Minuten am Tag beweisen wollte und den nagenden,
schmerzenden Zweifeln, die ihn lähmten, ihm den Atem
nahmen und alles in ihm zusammendrückten.
Sebastian griff sein Schwert und folgte dem Weg durch das
Höhlenlabyrith, den Antarona ihm gezeigt hatte und der
am Fuße des Wasserfalls, an der sichtgeschützten Seite
des Sees in einer Öffnung aus der Felsbasis trat.
Deutlich hörte er noch ihre Warnung, tagsüber nicht auf
der Seite des Weges in den Felsen am Wasserfall zu
verharren. Die Gefahr, dass die Grotte entdeckt wurde,
war zu groß.
Er ging vorbei an dem riesigen Naturbrunnen, durch den
Felsspalt in den niedrigen Raum der Felsnadeln, an der
tiefen Schlucht entlang und trat schließlich durch die
lichtschimmernde Öffnung.
Der Schwemmboden lag unter ihm und er konnte von oben die
Spuren erkennen, die er und Antarona bei ihrem letzten
Besuch in der muschelartigen Grotte hinterlassen hatten.
Kein Wasser oder Luftzug hatte seither den feinen
Schwemmsand berührt.
Basti stieg hinunter und trat an die von der Natur
geformte Felsmauer, die das kleine unterirdische Paradies
umgab und das Wasser des Sees am Überfluten der riesigen
Sandfläche hinderte. Fast in Augenhöhe blickte er über
die Wasseroberfläche zum geschützten Strand hinüber...
Fasziniert hielt Sebastian den Atem an. Die Sonne
blendete, dennoch sah er genug, um seinen hämmernden
Herzschlag bis zu seinem Hals hinauf zu spüren.
Am Ufer des Sees kniete das Krähenmädchen im weichen
Sand. Ihre winzigen Kleidungsstücke und das Schwert
hatte sie in einiger Entfernung an einen Felsen gelegt,
bewacht von Tonka und Tekla.
Antaronas schlanker, reizender Körper glänzte
schlangengleich in der Sonne, während sie ihre
geheimnisvolle Kristallkugel dem Licht der Welt
entgegenhielt. Wie die Götter sie geschaffen hatten,
einer erstarrten Elfenfigur gleich, hob sie die Kugel
gegen den Himmel und rührte sich nicht. Die nassen Haare
klebten ihr an den Schultern und auf ihren Brüsten.
Wassertropfen wie funkelnde Diamanten wanderten von den
triefenden Haarsträhnen hinab über ihren Bauch und ihre
Schenkel und verschwanden im Sand. Der helle Schein der
Sonne lag so intensiv auf ihrer nackten Haut, dass man
vermuten konnte, sie bestünde aus reinem Gold.
Als würde sie ein Gedicht vortragen, bewegte sie
gleichmäßig den Mund. Doch nicht das Flüstern eines
Tones aus ihrer Kehle drang an Bastis Ohr. Trotz des
tosenden Wassers neben ihm vermutete er, dass sie die
Worte nur formte und nicht aussprach. Sebastian hörte
nichts, als das frohe Singen der Vögel, welches das
Rauschen des Wasserfalls gelegentlich durchbrach.
Er wünschte sich in diesem Moment nichts sehnlicher, als
Antarona so, wie sie war, in ihrer vollkommenen
Schönheit an sich zu ziehen, um jeden Zentimeter ihrer
Haut auf der seinen zu spüren. Er stellte sich vor, zu
ihr hinüber zu schwimmen und jeden Wassertropfen einzeln
von ihrem Leib zu küssen.
Doch seine Phantasie hielt ihn allein in seinem
sehnsuchtsvollen Verlangen und in seinen sich
überschlagenden Gefühlen gefangen. Jedes Detail des
atemberaubend schönen Bildes vor seinen Augen
verwandelte sich nach und nach in einen Ton und die
Klänge fügten sich in seinem Kopf zu einer sanften,
lieblichen Symphonie zusammen, die seine Sinne
berauschten.
Das Krähenmädchen schien den verborgenen Beobachter zu
ahnen. Sie erwachte aus ihrer Trance und wandte den Kopf
zum Wasserfall. Dann führte sie die Kugel an ihre Stirn.
Sie verhielt einen Augenblick in dieser Position, bevor
sie den geheimnisvollen Kristall zu ihrem Mund führte
und ihn ehrfürchtig küsste.
Dann ließ sie den schimmernden Ball langsam über ihre
Brüste gleiten und weiter hinab über den Bauch in ihren
Schoß. In Sebastians Kopf steigerte sich die Symphonie
bei diesem hinreißenden Anblick zu einem wilden
Krescendo, das in seinem Kopf zu explodieren drohte.
Antarona stand auf, hielt die wundersame Kugel vor ihren
Oberkörper und stieg in einer fließenden, grazilen
Bewegung in die Fluten des Sees. Als das Wasser ihren
Bauchnabel berührte, ließ sie sich wie ein Delfin ganz
hineingleiten und tauchte unter. Wasserringe breiteten
sich an der Stelle aus, wo Bastis schönster Anblick in
den Wogen des Sees verschwand. Hätte er es nicht besser
gewusst, so wäre ihm in den Sinn gekommen, eine
geheimnisvolle Fee beim Baden beobachtet zu haben.
Scheinbar aus einem seiner schönsten Träume gerissen,
zog Sebastian seine Kleidung bis auf die Unterhose aus,
stieg über den Felswall, tauchte in das eiskalte Wasser
und schwamm mit der Strömung, die der Wasserfall
erzeugte, an das sandige Ufer, an dem Antarona noch vor
einer Minute seine geheimsten Wünsche Purzelbäume
schlagen ließ.
Er legte sein Schwert und seine Kleidung zu Antaronas
Sachen an den Fels. Tonka und Tekla gefiel das gar nicht.
Sie hüpften auf dem Felsen von einem Bein auf das
andere, ließen ein ärgerliches Krooooh, kroooh hören,
unschlüssig, ob die den Störenfried attackieren, oder
willkommen heißen sollten. Sebastian redete ihnen ruhig
zu, er empfand Freundschaft und Bewunderung für die
beiden Krähen...
Es funktionierte! Die beiden schwarz Gefiederten
beruhigten sich und begannen, genüsslich ihre Federn in
der Sonne zu putzen.
Sebastian suchte sich einen Platz am Ufer, wo der Sand
besonders fein und einladend aussah und legte sich in die
junge Sonne. Ein angenehmes Gefühl durchflutete seinen
schmerzenden Körper, als er seine Glieder auf dem warmen
Sand ausstreckte. Um Antarona sorgte er sich nicht, sie
würde wieder auftauchen, wenn sie es für richtig hielt.
Er verschränkte seine Arme hinter dem Kopf, schloss die
Augen und lauschte den Geräuschen der Natur.
Unzählige Vogelarten konnte er aus dem Gezwitscher
heraushören, das aus dem nahen, dichten Wald drang.
Begleitet wurde dieses Konzert vom ständigen Donnern und
Rauschen des Wasserfalls, das keineswegs immer nur
gleichmäßig klang. Sebastian schrieb das dem Wind zu,
der die Töne mal mehr, mal weniger zu ihm herüber trug.
Beinahe glaubte er schon, in dem auf- und abschwellenden
Geräusch eine Melodie zu erkennen. Er bildete sich ein,
die Natur wollte ihm mit diesem Widerhall etwas
mitteilen.
Lauknitz horchte auf die Klangvariationen, die ihm das
Wasser bot, stellte sie sich als Begleitmusik vor und
begann im Geiste eine Melodie dazu zu komponieren. Etwas
störte plötzlich seinen träumerischen Frieden.
Regentropfen spürte er auf seinem Bauch, auf seinen
Beinen...
Regen.., Mist verd... Sebastian fluchte innerlich und
schlug die Augen auf. Wolkenloser Himmel überspannte
ihn. Doch die Sonne wurde verdeckt... Von Antaronas
Gesicht. Unbekleidet, wie sie aus dem See gestiegen war,
kniete sie im weichen Sand, halb über ihn gebeugt. Ihre
langen, tropfenden Haare glänzten schwarz, hingen in
Strähnen herab und ließen das Wasser des Sees auf
Bastis Körper regnen.
Er stützte sich auf seine Ellenbogen und sah das
Krähenmädchen verzückt an. Sie schien nicht eine
Sekunde lang überrascht zu sein, ihn bei ihrer Rückkehr
am Uferstrand zu finden. Amüsiert bemerkte sie, wie die
Wassertropfen aus ihren Haaren auf Sebastian fielen,
lachte ihn herausfordernd an und schüttelte heftig ihren
Kopf.
Augenblicklich war Basti von einer Spritzkaskade
eingedeckt. Aber es störte ihn nicht. Im Gegenteil! Er
genoss es. Völlig seines rationellen Denkens beraubt,
betrachtete er Antaronas anmutige, nackte Gestalt, die so
zwanglos vor ihm im Sand hockte, als sei es das Normalste
der Welt. Sein Blick, seine Gedanken und Gefühle, alles
von ihm war im Bann Antaronas berauschender Schönheit
gefangen.
Wie eine Flut aus Lava breitete sich eine heiße Welle in
Sebastians Bauch aus, die abwechselnd nach oben und nach
unten stieg, so dass er das Gefühl hatte, von innen
verbrennen zu müssen. Sein begehrendes Verlangen,
Antaronas Körper zu umfassen und ihn, so nass wie er
war, auf sich zu ziehen, war so unerträglich stark, dass
er spürte, wie sich alles in seinem Leib zusammenzog.
Noch widerstand er der wundervollsten Versuchung seines
Lebens.
Sebastians Herz schlug ihm bis zum Kopf hinauf und wie
durch ein Fenster der schönsten Träume lachte ihn
Antarona an, beugte sich noch tiefer zu ihm herab und
wedelte ihm mit ihren nassen Haaren über sein Gesicht.
Seine Augen füllten sich mit dem Wasser aus ihrer
schwarzen Mähne. Durch den verschwommenen Schleier
gewahrte er gerade noch, wie sich Antarona aufrichtete
und leichtfüßig, wie eine Antilope zu ihren fliegenden
Freunden hinüber ging.
Benommen und betrunken von ihrem aufreizenden Anblick
erhob sich Lauknitz. Schwankend stand er da und sah ihr
enttäuscht nach. Er hatte sich bereits mit ihr eng
umschlungen im Sand wälzen gesehen. Statt dessen
schmerzte ihn nun die Ernüchterung über den zerstörten
Wunschtraum.
Sebastians Gedanken zerwühlten sein Herz, dass gerade
aus einem Höhenrausch gerissen wurde. Was war das jetzt
wieder für ein Auftritt? Spielte sie nur mit ihm? War
sie so raffiniert, ihn so lange hinzuhalten, bis er sich
nicht mehr beherrschen konnte, oder war sie einfach nur
naiv?
Lauknitz nahm sich vor, nicht in die Gleichgültigkeit
der Entmutigung zu verfallen, sondern auf die nächste
Gelegenheit zu warten... Irgendwann musste Antarona ja
fühlen und begreifen, dass sie beide füreinander
bestimmt waren. Doch so sicher, wie er sich jetzt
einredete, war Basti ganz und gar nicht. Insgeheim hoffte
er auf die Hilfe des Mythos vom Mann der Götter.
Wenn sie mehr dem Mythos, als Sebastian Lauknitz zugetan
war, so hatte er zumindest die Gelegenheit, ihr seine
tiefe Liebe zu beweisen. Ob sie diese dann erwiderte...
Er sah sie leise mit den beiden Krähen sprechen, die
sich sogleich in die Lüfte erhoben und über dem
Wasserfall zwischen den Bäumen verschwanden. Danach band
sie sich ihre dürftige Lederkleidung um, in der sie noch
aufreizender aussah, als ohne Körperbedeckung.
Nachdem sie ihre Waffen aufgehoben hatte, strich sie sich
die nassen Haarstränge hinter die Ohren und sah
Sebastian auffordernd an. Dessen Stimmung jedoch war auf
einen Tiefpunkt gesunken. Betont gleichgültig hob er
seine Kleidung und sein Schwert auf. Doch innerlich
glaubte er explodieren zu müssen. Wenn Antarona auch nur
in seine Nähe kam, fühlte er sich von Kopf bis Fuß,
vom Herz bis zur Niere, durch und durch elektrisiert.
Doch er musste sie entbehren!
»Was habt ihr, Ba - shtie?«, fragte seine Gefährtin,
verwundert über seinen plötzlichen Stimmungswandel.
»Hat Sonnenherz euch verletzt..?«
»Ja.., quatsch, nein...«, stotterte Sebastian,
verunsichert durch Antaronas offene Frage, »natürlich
nicht.., es ist nur so...«, Basti suchte nach Worten,
die weder beleidigend klingen sollten, noch zusätzlich
die ungeklärte Beziehung zwischen ihnen belasten
würden, aber dennoch seine Gefühle ausdrückten.
Natürlich hatte sie ihn verletzt! Sie brachte ihn mit
ihren Reizen um den Verstand, brachte sein Blut zum
kochen und wies ihn dann zurück, oder war zumindest
nicht bereit, den letzten Schritt zu wagen. Ebenso wenig
ließ sie zu, dass Sebastian die Situation entschied. Sie
spielte mit seinen Gefühlen! Gereizt warf er plötzlich
alle Vorsicht und Zurückhaltung über den Haufen und
sagte mit vorwurfsvoller Stimme:
»Es ist so.., also ich wollte sagen, dass ich in meiner
Einfältigkeit geglaubt habe, du hast auch Gefühle für
mich, Antarona.« Er wusste nicht sofort, wie er es ihr
erklären sollte, sah sich um und fuhr mit den Armen
durch die Luft:
»Also.., das Wetter ist spitze, die Sonne knallt vom
Himmel, die Vögel singen, wir haben einen echt geilen
Badesee... Und sind allein!« Die letzten drei Worte
sprach Basti laut und auseinander gezogen, wie eine
Hymne. Antarona sah ihn mit großen Augen fragend an.
Bevor sie noch antworten konnte, fuhr Sebastian unsicher
fort:
»Was ich also damit sagen will...«, Basti rettete sich
nur mit Mühe und Not von einem Satz zum nächsten,
»...ist.., verdammt noch mal.., wir lieben uns doch,
fühlst du das nicht? Was spricht eigentlich dagegen,
wenn wir einfach hier in der Sonne liegen bleiben.., wir
baden.., du liegst in meinen Armen.., wir träumen, sehen
in die Wolken.., ich erzähle dir von mir und du...«
»Das, Ba - shtie - laug - nids...«, unterbrach sie ihn
und lächelte geheimnisvoll, »...sind die Worte, welche
die jungen Männer des Volkes zu uns sagen, wenn sie
wollen, dass sich unsere Leiber verbinden und unsere
Herzen eins werden und unser Geist gemeinsam hinauf
fliegt zu den...«
»Ja, und was ist falsch daran, wenn sich unsere Herzen
verbunden fühlen...?«, fuhr Sebastian dazwischen. Er
war von Antaronas Offenheit peinlich berührt. Doch
niemals in seinem Leben war er sich seiner Gefühle
sicherer, als in diesem Augenblick. Behutsam nahm er ihre
Hände und sah ihr tief und fest in die Augen.
»Antarona...«, begann er von neuem, »...du und ich..,
also, ich glaube, wir fühlen wie ein Herz... Warum
sollten wir nicht auf das hören, was uns unsere Gefühle
sagen, warum folgen wir nicht einfach unseren Herzen,
wenn sie sich verbinden wollen...« Sebastian wartete
nicht, bis Antarona etwas erwiderte.
»Ich liebe dich so sehr, dass mein Herz zu zerspringen
droht, wenn ich nicht in deiner Nähe sein kann und
ebenso ist es, wenn ich bei dir bin. So sehr bist du in
meinem Herzen, dass ich dich festhalten und niemals
wieder loslassen möchte. Ich werde für dich gegen alles
Mächtige und Böse kämpfen, das unsere Zweisamkeit
bedroht und...«
Antarona zog sich an Bastis Händen hoch und schenkte ihm
wieder nur einen so flüchtigen Kuss, wie zwischen
Geschwistern. Dann erwiderte sie seinen festen Blick und
hauchte, wie das Wispern des Windes:
»Ba - shtie.., mein Herz springt vor Freude, wenn ihr
mir nah seid... Aber jetzt ist nicht die Zeit, unsere
Herzen...«
»Doch, gerade jetzt ist die Zeit...«, entgegnete ihr
Lauknitz, ohne sie aussprechen zu lassen, »...wenn nicht
jetzt, wann denn dann, Antarona? Wollen wir warten, bis
Torbuks Truppen hier auftauchen, wollen wir uns lieben,
wenn Kareks Reiterscharen in eure Dörfer einfallen und
alles dem Erdboden gleich machen? Oh nein, Antarona..,
ich möchte wissen, wofür ich kämpfe...«
Antaronas Augen weiteten sich plötzlich und bekamen
einen gefährlichen Ausdruck. Ihr liebevolles Antlitz
verschwand. Statt dessen sprühte ihr Blick Funken und
Sebastian sah die Kämpferin in ihr aufflammen. In
aufwallendem Zorn schlug sie ihre Hände gegen Bastis
Brust und stieß ihn von sich.
»Ach so ist das.., Herr von den Göttern...«, giftete
sie ihn an, »...ihr hattet nie im Sinn, dem Volk zu
helfen, nicht wahr? Die Brüder und Schwestern, die
Mütter und Väter, die leiden und sterben.., sie sind
euch gleichgültig, was? Ihr wollt nur mich,
Sonnenherz.., ihr wollt meinen Leib, meinen Schoß.., ihr
wollt nur mein Herz.., aber ihr wollt nicht das, was zu
ihm gehört.., ist es so? ...Los, sprecht schon, sagt es
frei heraus... Mein Herz ist euer Preis dafür, dass ihr
mein Volk befreit, ich bin der Lohn.., das Vieh, das ihr
erhaltet, wenn ihr unsere Männer gegen Torbuk
führt..!«
Antarona redete sich in Rage und das Blut, dass ihr zu
Kopf stieg, ließ ihren dunklen Teint noch intensiver
erscheinen. Sie gebärdete sich wie ein wild gewordenes
Pferd und Sebastian befürchtete, dass sie ihm wieder
einmal ihr Schwert an die Kehle setzte:
»Oh ja, ich verstehe...«, tobte sie und hielt Basti zur
Einschüchterung ihre Krallen entgegen, »...Ihr zieht in
einen Krieg, der euch nichts angeht.., und glaubt, ihr
bekommt das dafür..!«
Damit riss sie sich in zwei blitzschnellen Handgriffen
die Kleidung vom Leib und stand in jeder Faser ihres
nackten Körpers bebend vor einem verdutzten Sebastian
Lauknitz. Noch ehe Basti sich verteidigen konnte, fuhr
sie mit ihrem Donnerwetter fort, indem sie ihm verachtend
und wutschnaubend in billiger Darstellung ihre Reize
präsentierte:
»Das ist es, was ihr wollt.., ja? Dann nehmt es euch
doch..!«, fauchte sie mit loderndem Blick, »...nehmt
euch, was euch gefällt, Mann von den Göttern... Aber
wartet nicht zu lange.., sonst kommen euch die schwarzen
Reiter zuvor.., die wollen nämlich das gleiche.., aber
was macht das schon... Es gibt noch viele Schwestern des
Volkes, die schön sind und euch belohnen können...«
Sebastian hob beschwichtigend seine Hände und wollte
einlenken. Das Krähenmädchen hatte sich jedoch in einen
nicht zu bremsenden Zorn gesteigert.
»Wagt es ja nicht..! Glaubt ihr etwa, nur weil ihr von
den Göttern gesandt seid.., ihr bekommt alles, was euch
beliebt..? Dann seht mal hier...« Damit sprang sie
Sebastian im Bruchteil einer Sekunde an und ihre
zierliche Hand fuhr brennend heiß, wie die Krallen eines
Raubtieres über seine Brust und hinterließ vier gar
nicht so zierliche, blutende Streifen.
Das war nun auch für Sebastians Gemüt deutlich zu viel!
Er nutzte die Gelegenheit, dass sie ihm bei ihrem
spontanen Angriff zu nahe kam. Bevor sie noch mehr Unheil
anrichten konnte, schnappte er sich Antarona und zog sie
so dicht und fest an sich heran, dass sie nach Luft
schnappte, mit den Beinen strampelte und wild mit ihren
Armen ruderte. Dabei verfing sich ihr Arm in der
Lederschnur, an der nach wie vor ihr Schwert hing.
Ihre andere, freie Hand zu einer Faust geformt, trommelte
in ungezügelter Wut auf seine Schulter herab. Sebastian
spürte auf einem Mal ungeahnte Kräfte in sich
aufsteigen, schlang seinen linken Arm ganz um Antaronas
Hüfte, zog sie noch etwas höher und fester an sich,
während er mit der anderen Hand ihren Hinterkopf fest
hielt. Kompromisslos drückte er seine Lippen auf ihren
halb geöffneten Mund, der eben noch einen neuen Schwall
wilder Flüche ausstoßen wollte...
Antaronas Augen wurden vor Überraschung und Entsetzen
weit und groß. Gehetzt tanzten ihre Pupillen umher,
suchten offenbar nach einem Ausweg aus Bastis
Umklammerung. Ihr rechter Arm stemmte sich gegen
Sebastians Schulter und er war erstaunt, wie viel Kraft
dieses zarte Wesen aufbringen konnte. Doch es nützte ihr
nichts. Basti hielt sie so fest im eisernen Griff, als
wäre sie mit ihm in einem Betonklotz eingegossen worden.
Ganz allmählich, Sebastian kam es wie eine Ewigkeit vor,
ließ ihr Widerstand nach. Ihr Blick erwärmte sich
wieder, schien sich in Bastis Augen zu bohren. Langsam
legte sie ihren Arm um seinen Hals und zog sich noch
fester an ihn. Gleichzeitig spürte Sebastian, wie sich
ihre Beine um ihn schlangen. Intuitiv griffen Sebastians
Hände ihr festes Gesäß, um sie zu halten. Mit bebenden
Lippen erwiderte sie seinen Kuss in einer Intensität und
verlangenden Leidenschaft, die er ihr nicht zugetraut
hatte. Sein Herz drohte aus seiner Brust zu springen, so
heftig schlug es.
Basti gab sich so sehr der Leidenschaft hin, dass sein
Krähenmädchen ihn fast überrumpelt hätte. Erst im
letzten Augenblick fühlte er, dass sich ihr Körper
wieder versteifte und er sah, dass ihre Augen einen
feurigen Glanz bekamen. Fast gleichzeitig, als Antarona
sich von ihm abstoßen wollte, zog er sie mit aller Kraft
an sich. Ihre Augen starrten ihm wild funkelnd ins
Gesicht und ihr Mund öffnete sich zu einem neuen
Wutausbruch.
Doch dazu kam sie nicht mehr. Völlig unverhofft griff
ihr Sebastian in die Hüften, hob sie hoch und stellte
sie so heftig vor sich auf den Boden, dass ihre Knie
einknickten und sie beinahe rücklings in ihr eigenes
Schwert gefallen wäre, wenn er sie nicht im letzten
Moment festgehalten hätte.
Antarona war so perplex, dass sie zunächst keinen Ton
über die Lippen brachte. Basti nutzte die Gelegenheit
und versuchte einen Zorn in seine Stimme zu legen, den er
jedoch in seiner Verliebtheit gar nicht empfand:
»So, und nun hörst du mir mal zu, du einfältiges,
verzogenes Gör.., und fang ja nicht wieder an zu
toben.., sonst werde ich mich auf dich draufsetzen, dich
einfach zusammenschnüren und so, wie du jetzt vor mir
stehst, zu deinem Vater bringen! Mal sehen, was der zu so
einem Überraschungspaket zu sagen hat...«
»Er wird euch erschlagen, wie einen räudigen,
tollwütigen Hund..!«, zischte sie ihn an, kaum, dass
sie ihre Stimme wieder gefunden hatte.
Mit einem Satz war Sebastian bei ihr, schnappte ihre
Handgelenke und hielt sie so fest, dass ihr beinahe die
Tränen in die Augen traten. Stolz, mit schnippischem
Gesichtsausdruck trotzte sie seiner körperlichen
Überlegenheit. Sebastian wurde augenblicklich bewusst,
dass er sehr fest zupackte und lockerte seinen Griff ein
wenig.
»Ich habe gesagt, du sollst damit aufhören..!, schrie
er sie an. Mit etwas verminderter Lautstärke fuhr er
fort: »...Sieh dich doch mal an.., wie eine tobsüchtige
Irre... Und das alles nur, weil ich dir sagen wollte, wie
sehr ich dich liebe...«
Ihr liebt mich, Laug - nids?«, beendete sie seine
Ansprache. »...Warum tut ihr mir dann weh?«, fragte sie
aufgebracht mit einem vorwurfsvollen Blick auf ihre
Handgelenke, die sich noch immer in Bastis Umklammerung
befanden.
»Also gut.., ich werde dich loslassen..«, versuchte es
Sebastian erneut, »...wenn du mir versprichst, nicht
wieder auf mich loszugehen und mir zuhören wirst..,
versprochen..?«
»Ja.., versprochen«, versicherte Antarona zerknirscht.
Dabei hob sie ihre Kleidungsstücke vom Boden auf und
band sich die staubig gewordenen Lederteile wieder um
Hüfte und Brüste.
»Antarona...«, begann Sebastian umständlich und es war
offensichtlich, dass er nun ganz den Faden verloren
hatte. In seiner Verzweiflung begann er noch mal von
Anfang an:
»Vielleicht verstehst du es nicht gleich, aber bitte..,
hör mir trotzdem zu, ja?« Er machte eine
gedanklich Pause und setzte sich in den Sand, in der
Hoffnung, Antarona würde seinem Beispiel folgen. Doch
sie blieb stehen, immer noch unentschlossen. Sebastian
sprach und rechnete nicht damit, dass Antarona seine
Geschichte begreifen würde, denn er verstand sie ja
selbst nicht...
»Also.., Antarona, es mag verrückt klingen, aber vor
vielen Sommern, in einer anderen Welt, da liebte ich dich
und du hast mich geliebt.., also unsere Herzen waren wie
für immer verbunden. Dann warst du sehr krank geworden
und bist in das Reich der Toten hinüber gegangen. Ich
habe lange geweint, weil du nicht mehr bei mir warst...«
Antarona sah Sebastian zweifelnd an, setzte sich aber
dennoch ihm gegenüber in den Ufersand, der inzwischen
von der Sonne aufgeheizt war.
Lauknitz rückte dichter neben sie, und nahm vorsichtig
ihre Hand: »Weißt du.., dann nach langer Zeit.., ich
hatte dich natürlich nie vergessen.., da war ich
plötzlich, und glaub mir, ich weiß nicht wie, bei
Högi Balmer.., mit gebrochenen Rippen, mit Prellungen..,
also mehr krank als gesund. Antarona, ich weiß nicht,
wie ich dort hin gekommen bin, aber so war das nun
einmal!« Sebastian machte eine kurze Pause, um Antaronas
Reaktion abzuwarten. Doch die rührte sich nicht, verzog
keine Miene und wartete geduldig, bis Basti weiter
sprach:
»Ich wollte wieder nach Hause, aber das war nicht
möglich. Statt dessen hatte ich den Eindruck, Vater
Balmer würde mich dort oben festhalten... Dann kam
dieser Doktor...«
»Andreas.., Falméras Medicus...«, sagte Antarona wie
in Gedanken, »...auch er begehrt Sonnenherz...«
Sebastian sah sie an, versuchte aber seine Überraschung
zu verbergen. War der Doktor der Grund für Antaronas
zögerliche Haltung ihm gegenüber?
»Ein paar Tage.., äh, Sonnen später...«, fuhr Basti
verunsichert fort, »...hatte ich die Begegnung mit dem
Drachen.., und wenn Rona und Reno mich nicht...«
»Ihr habt den Gor besiegt, Ba - shtie, Sonnenherz hat
davon gehört.., ihr habt ihn verjagt und habt Vater
Balmers Hund gerettet...«, rekapitulierte Antarona
weiter. Lauknitz Verwunderung nahm zu:
»Na sieh mal einer an.., gemessen an der Tatsache, dass
man mich dort oben auf Balmers Alm völlig isoliert
hatte, konnte sich die Geschichte ja erstaunlich schnell
herumsprechen, was?« Basti ließ es wie eine Frage
klingen, was sie freilich nicht war. Das Krähenmädchen
gab auch keinen weiteren Kommentar dazu ab.
»Wieso dieser Gor mich überhaupt angegriffen hatte,
werde ich wohl nie herausbekommen...« Basti ließ diesen
Satz im Raum stehen, in der Hoffnung, Antarona würde ihm
auch hier unaufgefordert eine Erklärung präsentieren.
»Gore greifen keine Menschenwesen an...«, sagte
Antarona leise und irgendwie abwesend. Sebastian sah sie
an und hakte nach:
»Das haben Balmer und der Doktor auch gesagt... Aber
dieser hats getan und wenn Balmers Hunde nicht
dazwischen gegangen wären, so könnte man mich jetzt
wohl als die Hinterlassenschaft aus dem südlichen Ende
eines nach Norden fliegenden Sauriers bezeichnen...«
Antarona sah ihn fragend an. Natürlich verstand sie
Sebastians Großstadthumor nicht. Statt dessen griff sie
ihren letzten Satz wieder auf:
»...Es sei denn.., sie selbst, oder eines ihrer Jungen
werden angegriffen... Aber da ist noch etwas...«
Antaronas Stimme verstummte und ihr Geist bewahrte die
letzten Worte als Geheimnis.
»Was ist da noch?«, bohrte Basti nach. Sie erwachte aus
ihrer scheinbaren Abwesenheit und sah ihn kopfschüttelnd
an:
»Nichts weiter.., gar nichts, Laug - nids.., Sonnenherz
denkt nur nach.., doch was hat das alles damit zu tun,
dass ihr vorgebt, Sonnenherz zu lieben...?« Sebastian
wollte den gedanklichen Anschluss an seine Ausführungen
nicht noch einmal verlieren und sprach schnell weiter:
»Also, zunächst mal gebe ich hier nichts vor, sondern
ich liebe dich wirklich und zwar mit meinen Händen, mit
meinem Herzen und mit meinem Geist, auch wenn du das
nicht wahrhaben willst...« Er gab Antarona erst gar
keine Gelegenheit zu protestieren. Unbeirrt fuhr er fort:
»Nachdem ich also diesem Monster entkommen war, geschah
erst mal eine ganze Weile gar nichts.« Seine
Erkundungstouren und die Entdeckung des verborgenen
Hochtales verschwieg er Antarona, einer inneren Eingebung
folgend. »Dann hielt ich es einfach nicht mehr aus..,
ich wollte nur noch nach Hause, in meine Welt..,
verstehst du..? Dorthin, was du auf den Bildern gesehen
hast, die unsere beiden Gesichter eingefangen haben,
erinnerst du dich?« Antarona nickte stumm. Natürlich
erinnerte sie sich.
Das Bild von ihr und Lauknitz, das sie beide in einer ihr
völlig fremden und skurrilen Umgebung gezeigt hatte,
würde sie wohl nie im Leben wieder vergessen. Es hatte
noch Wirkung. Der Gedanke an diese Unfassbarkeit lähmte
sie. Sebastian nutzte ihre Unsicherheit:
»So ging ich einfach los.., den Weg an der tiefen
Schlucht entlang, nach unten... Dort drüben am anderen
Ufer habe ich dich dann getroffen...« Er dachte kurz an
den Moment ihrer ersten Begegnung und schüttelte leicht
den Kopf. Er konnte dieses Wunder immer noch nicht recht
begreifen. Antarona saß neben ihm und hörte zunächst
kommentarlos zu, als er weiter sprach:
»Also.., als ich dich dort am Ufer stehen sah.., ich
meine, du warst da.., standst leibhaftig vor mir, was
eigentlich gar nicht sein konnte, denn ich hatte dich vor
vielen Jahren an das Tor zum Totenreich begleitet...«
Sebastian drückte leicht ihre Hand, um die Wichtigkeit
seiner Aussage zu unterstreichen.
»Verstehst du, Antarona, ich hatte dich viele Sommer
lang vermisst, ich hatte von dir geträumt, ich hatte
dich noch geliebt, als du schon lange fort warst, ich
konnte dich nie vergessen.., jede lange Nacht diese
Sehnsucht nach dir! Ich wollte freiwillig in das Reich
der Toten gehen, um bei dir zu sein...« Lauknitz
unterbrach seine Gedanken und sah sein Krähenmädchen
an. Sie erwiderte seinen Blick, doch viele Fragen standen
in ihren ungläubigen Augen. Verzweifelt, weil er
glaubte, nicht die richtigen Worte finden zu können,
fuhr Sebastian mit den Händen durch die Luft und schlug
sie schließlich ärgerlich klatschend auf seine
Oberschenkel. Und zu Antarona gewandt:
»Ich weiß, dass all dies ziemlich verrückt klingt..,
aber es ist wahr! Es ist so wahr, wie ich jetzt vor dir
sitze!« Basti dachte kurz nach, dann knüpfte er an
seine Erinnerungen an:
»...Also.., als du da so vor mir standst.., nach so
vielen Sommern und Wintern.., da warst du für mich ein
Wunder.., ein Geschenk der Götter, die uns wieder
zusammen geführt haben, weil sie sahen, dass ich dich so
sehr liebe! Antarona, glaub mir, da wusste ich noch
nichts von Torbuk und Karek.., davon, dass du gegen sie
und ihre Schergen kämpfst.., vom Leid deines Volkes...
Ab diesem Moment, wo wir beide uns am See begegneten,
wollte ich nur eines... Ich wollte wieder mit dir
zusammen sein, dich wieder in meinen Armen halten, dich
mit jeder Faser meines Körpers und meines Herzens
lieben.., dich nie wieder verlieren...« Die Unwissenheit
über das Böse in diesen Tälern war zum Teil gelogen,
denn Balmer hatte ihm bereits davon berichtet. Lauknitz
holte kurz Luft, bevor er weiter auf seine Gefährtin
einredete.
»Antarona.., glaub mir.., ich liebe dich so sehr,
dass ich Angst habe, wir könnten uns wieder verlieren...
Darum möchte ich jede Gelegenheit genießen, die uns das
Schicksal nur für uns zwei bereit hält... Ich will dich
nicht als Preis für irgend etwas und schon gar nicht
für..., also, wenn du dein Volk, dein Land so sehr
liebst, dann bleibe ich an deiner Seite, egal, ob du
meine Gefühle teilst, oder nicht.« Sebastian senkte
seine Stimme, bevor er noch anfügte:
»...Aber ich wäre sehr.., also so was von todtraurig
und enttäuscht, wenn ich kämpfen müsste, mit dem
Gedanken, dass du mich nicht liebst, oder dass ein
anderer Mann dein Herz besitzt. Doch ich glaube, ich
würde dennoch für dich kämpfen.., für dich und das
Volk.., aber mein Herz wäre ohne dich tot und leer, mein
Geist dunkel...« Sebastian erwachte aus seinem
Redefluss, wie aus einem bösen Traum. Er sah Antarona
an, als erwartete er von ihr ebenfalls eine Erklärung.
Als sie nicht gleich reagierte, sagte er:
»Ist es das.., Antarona.., du magst mich, wie einen
Bruder, achtest mich wie einen Kampfgefährten..? Aber du
liebst mich nicht..? Und du hast nicht den Mut, es mir zu
sagen.., ja.., ist es das? Also, du solltest schon
ehrlich sein.., egal, wie es ist.., ich werde es
akzeptieren... Ich meine, ich werde dich nicht hassen,
ich werde dennoch an deiner Seite kämpfen, wenn es so
ist...«
Antarona erwachte aus ihrer vermuteten Teilnahmslosigkeit
und blickte ihm so offen wie möglich in die Augen. Sie
sah ihn lange an und Basti hielt in sehnsüchtiger
Erwartung ihrem bohrenden Blick stand, bis sie sich ihm
offenbarte:
»Sonnenherz sagte es euch bereits...«, begann sie ohne
Umschweife, »...ihr Herz ist mit eurem verbunden... Aber
es ist auch mit dem Volk verbunden und mit dem Land,
welches das Volk ernährt... Diese Menschenwesen und
dieses Land, Ba - shtie - laug - nids, sie brauchen
Sonnenherz und sie brauchen euch! Es gibt keine Liebe in
diesen Tälern, solange Menschenwesen sterben und Mütter
und Töchter des Volkes die Saat des Bösen aufgezwungen
wird. Wir können nicht an eine Liebe zwischen uns
denken, Ba - shtie, wenn die Liebe des Volkes gebrochen
wird und zu unseren Füßen stirbt...«
Antaronas Blick ließ Sebastians Augen keine Sekunde lang
los, während sie sprach. Wie mit magischen Strahlen
schaute sie durch ihn hindurch, als bestünde er nur aus
Staub und Nebel.
»Wenn die Frauen des Volkes wieder ohne Sorge und Angst
die Saat der Liebe empfangen können und neue Herzen im
Frieden unter den ihren schlagen können.., dann.., Ba -
shtie.., darf sich unser Verlangen erfüllen und ein
neues Leben kann auch unter meinem Herzen erblühen...«
Sie legte ihre Hände auf Sebastians Arm und sagte
abschließend:
»Wenn das Volk befreit ist und dieses Land glücklich
ist, so werden auch wir unser Glück finden und ihr
werdet das Feuer der Liebe in meinem Leib erleben, wie
ihr es noch nie gefühlt habt...« damit erhob sie sich
und wandte sich dem See zu.
»Wir müssen nun gehen, Laug - nids.., der Achterrat
wünscht euch zu sehen..!« Ohne sich noch einmal
umzublicken, ließ sie sich in das kühle Wasser gleiten
und schwamm zur Höhle hinüber. Sebastian griff seine
Sachen und folgte ihr. Er war keineswegs zufrieden mit
Antaronas Ansicht.
Weshalb hatten sie sich eigentlich gestritten? Er empfand
für diese Frau nichts als reine Liebe und pures
Verlangen... Wieso warten, wenn sie ebenso empfand? Er
wartete bereits ein halbes Leben lang! Jetzt waren sie
wie durch ein Wunder wieder vereint. Wie lange sollte er
noch warten? Bis irgendein Schicksalsschlag sie wieder
gewaltsam trennte? Er vermutete noch irgend einen anderen
Grund für ihre Zurückhaltung. Was aber konnte das sein?
War sie schon einem anderen Mann versprochen? Bei
traditionsbewussten Völkern war so etwas durchaus
üblich...
Basti kam nicht mehr dazu, sein Gehirn in dieser Sache
weiter zu zermartern. Die kalten Sprühnebel des
Wasserfalls erfassten ihn und die Strudel der in den See
schießenden Wassermassen drohten ihn unter die Fluten zu
drücken. Er musste sämtliche Kräfte mobilisieren, um
nicht in die Mitte des Gewässers abgetrieben zu werden.
Mühsam erreichte er die Felskante zur Grotte, zog sich
darüber hinweg und plumpste ermattet in den weichen Sand
des Schwemmbodens. Antarona half ihm noch mit seinem
Schwert und der Kleidung, die natürlich nass geworden
war. Gemeinsam setzten sie den Weg durch das
unterirdische Labyrinth zur Wohnhöhle fort.
Das Krähenmädchen bereitete noch einen Teesud, während
Sebastian seinen Rucksack packte. Das kleine Biwakzelt
ließ er auf seinem Schlaflager liegen. Auf seinen
Schlafsack allerdings wollte er nicht verzichten. Er
beschloss seine Goldkassette in dem neuen Versteck zu
lassen. An diesem unzugänglichen Ort war sie am besten
verwahrt. In der Vordertasche des Rucksacks ertastete er
etwas, flaches, rundes, metallenes...
Die Kette mit dem Medaillon, das er dem Skelett auf dem
Weg ins Tal abgenommen hatte! Er versuchte es noch tiefer
in der Tasche, unter seine schmutzige Unterwäsche zu
vergraben. Wenn Antarona dieses Ding zu Gesicht bekam...
Ihre Beziehung zueinander war ohnehin von
Missverständnissen belastet. Sebastian wollte ihr nicht
noch den Grund liefern, anzunehmen, er sein ein Spion
Torbuks und Kareks.
Andererseits wollte er dieses seltene Stück behalten.
Nicht um seines materiellen Wertes willen, sondern vor
dem Gesichtspunkt, es vielleicht noch einmal gegen den
Feind einsetzen zu können. Irgendwie beschlich ihn ein
Gefühl, dass dieser schwere Anhänger noch einmal eine
Bedeutung haben würde...
Nach einer kurzen Stärkung mit Heusud und einem Stück
trockenen Brotes brachen sie auf. Entgegen Bastis
Erwartung nahmen sie nicht den Ausgang durch die obere
Grotte. Antarona schlug den Weg ein, der zurück durch
das Labyrinth und zur unteren Grotte am Schwemmboden
führte.
»Was.., den ganzen Weg noch mal zurück..?«, fragte
Sebastian erschrocken. Das Krähenmädchen drehte sich zu
ihm um und flüsterte, als hätte sie Angst vor
verborgenen Zuhörern:
»Den Weg durch das Tal können wir nicht mehr benutzen,
Ba - shtie. Wir müssen über die Berge gehen. In den
Tälern sind wir nun in Gefahr. Torbuks Männer werden
inzwischen ihre toten Reiter gefunden haben. In den
Dörfern gibt es Leute, die uns für ein paar Quarts
verraten würden.« Antarona ging in den großen
Höhlenraum mit dem Naturbrunnen. Ihre Fackel erleuchtete
mit zuckendem Licht die nähere Umgebung, Schatten
bewegten sich gespenstisch an den Felswänden. Im Gehen
erklärte sie weiter:
»Niemand, außer ganz wenigen Eingeweihten wissen, wo
der Achterrat zusammen kommt, Ba - shtie. Viele aus dem
Volk wissen, dass Sonnenherz ihrem Vater und dem
Achterrat berichten wird. Der Achterrat ist der letzte
Widerstand.., wir würden Verrätern den Weg weisen,
Torbuks Pferdesoldaten würden kommen und die letzten
mutigen und entschlossenen Männer des Volkes töten.«
»Aber wo ist dieser Achterrat.., wie weit müssen wir
gehen?«, wollte Lauknitz wissen. Seine Gefährtin ging
weiter ohne sich umzuschauen:
»Es ist der Weg eines langen Tages...«, teilte sie
Sebastian mit, »...durch die Dörfer... Über die Weiden
und Felsen der Berge gehen wir drei Tage!«
»Aber wer ist der Achterrat.., ich meine, wer gehört zu
diesem Verein.., und was soll ich denen denn sagen«
Sebastians Ratlosigkeit schien Antarona zu belustigen:
»Ihr werdet es sehen, Ba - shtie.., es ist nichts, wovor
ihr euch fürchten müsst... Seid ehrlich und bescheiden
in dem, was ihr sagt, dann werden sie euch zuhören. Euer
Mut eilt euch bereits voraus, beweist ihnen nur noch eure
Klugheit...« Mit diesen Worten steig sie durch die
schmale Öffnung in den niedrigen Raum der steinernen
Finger mit den Felsnadeln an Decke und Boden.
Mittlerweile schaffte Basti es, diesen Raum zu
durchqueren, ohne sich den Kopf anzuschlagen. Seine
Leistung an diesem Morgen war noch um einiges
bedeutsamer, da er seinen großen Rucksack durch die
Armee unzähliger Steinspitzen schleusen musste. An
einigen Stellen schrammte sein Gepäck mit Besorgnis
erregendem Geräusch an den Stalagmiten entlang. Antarona
indes hatte mit ihrem bescheidenen Fellbündel weitaus
weniger Schwierigkeiten mit der Passage.
Sebastian überlegte sich im Geiste die Strecke, die er
an zwei Tagen zurückgelegt hatte. Wenn sie im unwegsamen
Gelände der Berghänge drei Tage brauchten... Wo würde
dann ihr Ziel liegen? Hinter der großen Klamm? Bei
Fallwasser, oder Imflüh? Er musste zugeben, dass er kaum
in der Lage war, die Entfernungen abzuschätzen.
Diese Berge mit ihren weit ausladenden Alpweiden, sowie
den unendlichen bewaldeten Hängen besaßen einfach eine
andere Dimension, als die Täler des Wallis. Aus dem Tal
betrachtet mochte es den Anschein haben, die weißen
Gipfel ringsum reichten nicht höher in den Himmel, als
die der Westalpen. Doch von erhöhter Warte, das hatte
Basti schon erkannt, eröffnete sich ein ganz anderes
Bild. Gewann man einen besseren Überblick, so offenbarte
sich eine grenzenlose Weite und Größe, die selbst im
Gemüt eines erfahrenen Alpinisten wie Sebastian
Lauknitz, ein Gefühl der räumlichen Verlorenheit
auslöste.
»Wo werden wir denn da übernachten, wenn wir über die
Höhen wandern?«, wollte Basti von seiner Traumfrau
wissen. Er musste es ihr ins Ohr brüllen, denn sie
hatten gerade die Öffnung zur unterirdischen Schlucht
passiert und ein vielstimmiges Tosen drang aus der
schwarzen Tiefe herauf.
Antarona bedeutete ihm mit einer deutlichen Handbewegung,
auf den Weg zu achten und blieb ihm eine Antwort
schuldig. Zum dritten Mal an diesem Tag stieg Lauknitz
über das tückisch schmale Sims, unter dem ein
unendliches, schwarzes Nichts gähnte. Mit dem Rucksack
auf dem Rücken forderte der Balanceakt volle
Konzentration. Ein Ausrutscher und...
Immer deutlicher trat Basti ins Bewusstsein, wie sicher
dieses Versteck war. Wer immer auch zufällig die Grotte
mit dem Schwemmboden entdeckte, der fand jedoch nicht
zwangsläufig den großen Riss im Hintergrund. Doch
selbst, wenn er wider erwarten auch dieses Hindernis
bewältigte, kam kein halbwegs gescheiter Mensch auf den
Einfall, hinter dieser wahrscheinlich unpassierbaren
Tiefe eine geräumige Höhle vorzufinden.
Endlich standen sie an der Felskante, die den
Schwemmboden umgab. Antarona schwang sich über den
kleinen Steinwall in das kalte Wasser und schwamm auf das
Ufer zu, ihr Fellpaket vor sich herschiebend. Sebastian
hatte mit seinem Rucksack mehr Probleme. Bemüht, dass
seine Sachen nicht noch einmal nass wurden, stieg er
selbst in das kühle Nass und ließ den Rucksack
zunächst auf der Felsmauer liegen.
Basti hielt es für eine gute Idee, direkt an der
Felswand entlang zum Ufer zu waten. Diesen Weg hatten
Antarona und er benutzt, als sie ihm das Höhlensystem
zum ersten Mal zeigte. Umständlich zog er den Rucksack
vom Felsrand, kaum, dass er auf dem felsigen Grund Halt
fand. Mit aller Kraft stemmte er den Rucksack in die
Höhe und suchte mit den Füßen einen trittsicheren Weg
in Richtung Strand. Eine Weile ging das ganz gut,
neugierig von Antaronas Blicken beobachtet, die bereits
im warmen Ufersand saß.
Plötzlich griffen Bastis Füße ins Leere. Sein lauter
Fluch ertrank in einem Blubbern und Prusten. Verzweifelt
versuchte er seinen Rucksack über Wasser zu halten und
mit den Füßen neuen Halt zu finden. In diesem Moment
spürte er einen stechenden Schmerz am linken Fuß. In
Panik strampelte und platschte er ziellos herum und trieb
in den See hinaus.
Um die Situation vor Antaronas Augen noch zu retten,
benutzte er den Rucksack als Schwimmboje und paddelte mit
der ganzen Kraft seiner Füße ans rettende Ufer.
Belustigt nahm ihm das Krähenmädchen den halb mit
Wasser voll gelaufenen Rucksack ab. Schnaubend und
schimpfend zog sich Sebastian auf den feinen Sand und
betrachtete mit schmerzverzerrtem Gesicht seinen
lädierten Fuß.
Eine stark blutende, klaffende Schnittwunde zierte den
Fuß vom Kreuzband über den Knöchel zur Sohle. Das
heraussickernde Blut vermischte sich mit den
Wassertropfen, die an seinem Bein herab liefen und
versickerte in hellroten Schlieren im Sand.
»Lasst mich das ansehen, Ba - shtie«, forderte Antarona
und hockte sich vor ihm in den Sand. Sebastian winkte
geringschätzig ab:
»Ach, das ist nichts.., kaum der Rede wert.., n
kleiner Riss, mehr nicht...« Er zog sich seinen Rucksack
heran und wühlte in seinen teils nassen, teils trockenen
Sachen. Das kleine, in mehrere Plastiktüten gewickelte
Päckchen mit Verbandsmaterial war trocken geblieben.
Unter Antaronas neugierigen Blicken sprühte er sich
etwas Desinfektionsmittel auf die Wunde, die daraufhin
erneut stärker zu bluten begann.
Das Krähenmädchen staunte nicht schlecht, als er danach
einen Wundverband ausrollte und auf die Verletzung
wickelte. Vermutlich hatte sie einen so strahlend weißen
Stoff wie den Verband nie zuvor gesehen.
»Siehst du, mein Engelchen...« erklärte er ihr nicht
ganz ernsthaft, »...das kommt aus der Welt, in der
unsere Herzen einmal verbunden waren«. Wie zur
Bestätigung drückte er ihr die Verpackung des
Wundverbands in die Hand. Mit fragendem Blick besah sie
sich das bedruckte Plastikmaterial mit der Beschreibung.
Vorsichtig fuhr sie mit den Fingern darüber:
»...Die Zeichen der Götter.., Botschaft aus Wasser und
Luft...«, murmelte sie leise, indem sie das Stück Folie
in die Sonne hielt. »Ihr besitzt seltsame Dinge, Ba -
shtie.., was für ein Leder ist das..?«
»Mit diesem Leder, Antarona, müllen wir uns unsere
eigene Welt bis über beide Ohren zu...« Verständnislos
und staunend sah sie ihn aus großen Augen an. Trotz der
Schmerzen an seinem Fuß musste Sebastian schmunzeln.
»Das ist Müll.., mein Engelchen, ganz ordinärer
Abfall...«, erklärte er ihr und »...etwas, das niemand
mehr braucht, verstehst du, es ist wertlos...«
Antarona betrachtete fasziniert das leichte, glänzende
Stück Plastikmüll und drehte es ehrfürchtig zwischen
ihren Fingern hin und her.
»Wenn es niemand braucht und wertlos ist, Laug - nids..,
warum macht ihr es dann«, fragte sie ungläubig. Basti
dachte kurz nach. Ihm fiel keine plausible Erklärung
ein, die ein halb verwildertes Krähenmädchen verstanden
hätte. Nachdenklich antwortete er langsam:
»Ja das.., Antarona.., also das ist unser großes
Problem..!«
»Wie meint ihr denn das..?«, fragte sie, indem sie
neugierig versuchte, das Stück Plastik zu zerreißen,
was ihr freilich nicht gelang.
»Deshalb...«, sprach Basti geheimnisvoll und wies dabei
auf das glitzernde Stück in Antaronas Hand, »...es
lässt sich kaum zerstören und... Also pass mal auf..,
was geschieht mit einem Stück Leder, wenn du es auf dem
Waldboden liegen lässt?«
»Die Tiere des Waldes nehmen es fort!«, war Antaronas
prompte Antwort. Basti musste lächeln und setzte seine
Lehrstunde fort:
»Ja, das auch.., aber ich meinte etwas anderes... Stell
dir mal vor, du legst ein Stück Leder dorthin, wo Tiere,
ganz gleich welcher Art, es nicht erreichen können. Nur
die Sonne scheint darauf, Regen fällt darauf, der Wind
trocknet es wieder und im Winter der Schnee... Was also
geschieht damit, wenn es sehr lange dort liegt?«
»Es wird zu Erde..!« Sie musste nicht erst darüber
nachdenken. Für Antarona war es ein einfacher, immer
wiederkehrender Prozess, der, wie bei allen Naturvölkern
zu ihrem Lebensalltag gehörte.
»Es wird zu Erde...«, bestätigte Lauknitz bedeutsam
nickend, »...aber dieses hier...«, er nahm Antarona das
Plastik aus der Hand und rieb es zwischen den Fingern,
»...wird nicht zu Erde.., es bleibt! Verstehst du..,
wenn du nach zwei Sommern nachsehen gehst, ist es noch
genau so da, wie an dem Tag, als du es liegen gelassen
hast...« Sebastian ließ seine Worte wirken und gab ihr
den Müll zurück. Hatte sich Sebastian schon
eingebildet, seiner Gefährtin das Negative dieses
Materials klar gemacht zu haben, so wurde er nun eines
Besseren belehrt:
»Was ist schlecht daran, wenn das wasserklare Pergament
lange Zeit gut bleibt?«, fragte sie mit erstauntem
Blick. Mehr in sich selbst hinein sagte sie nachdenklich:
»Wenn das Volk vieles davon besitzt.., es kann Kräuter
und getrocknetes Fleisch hinein wickeln und andere
Dinge... Man sieht, was darin ist und muss keine Zeichen
auf die Bündel malen... Es ist gut.., es ist ein gutes
Zeug...«
»Ja.., ein gutes Zeug...«, bestätigte Basti mit
abwertender Ironie, »...in meinem Land machen sie so
viel von dem guten Zeug, dass sie nicht mehr wissen,
wohin sie es tun sollen, wenn sie es nicht mehr brauchen.
Wir haben so viel von diesem guten Zeug, dass es uns den
Platz zum Leben wegnimmt. Man kann es nur
verbrennen...«, erklärte er weiter, »...aber es macht
einen sehr giftigen Rauch, der ebenfalls nicht vergeht...
Er bleibt in der Luft, bis diese selbst giftig ist...«
»Aber warum macht ihr dann so viel davon, wenn ihr es
nicht braucht?«, fragte Antarona kopfschüttelnd. »Wenn
dieses Müll Zeug nicht kaputt geht, so kann man
wenige davon sehr lange für Vieles zum einwickeln haben,
Ba - shtie. Warum macht ihr dann noch mehr davon, das ist
nicht klug, oder?« Antaronas entwaffnende Naivität
besaß gesunden Menschenverstand, welcher Sebastians
eigener Kultur offenbar abhanden gekommen war.
»Weißt du, mein Glückskind...«, entfuhr es Basti mit
hoffnungsvoller Stimme, »...ich bringe dich mal zu
unserem Bundestag, da kannst du denen mal einfach und
unmissverständlich erklären, was sie falsch machen...
Vielleicht lernen die ja noch was...«
»Wer sind die, Bun - tes - tahg?«, wollte
Antarona nun wissen. »Sind das die Könige in deinem
Land der Götter?«
»Nein...«, lachte Basti, »...Könige oder Götter sind
das ganz gewiss nicht.., obwohl die sich alle dafür
halten... Ich glaube, sie sind eher so etwas, wie euer
Achterrat, Antarona.., nur sehr viele mehr, die alle
glauben, dass sie allein alles wissen und die sich
niemals einig werden...«
»Sie sind wohl zu viele, die das Volk führen, Ba -
shtie... Wenn der Achterrat mit vielen Männern des
Volkes berät, streiten sie auch oft viele Sonnen lang,
wissen aber nicht, was sie tun sollen. Vielleicht ist das
ebenso bei euch im Land der Götter?« Antarona konnte
nicht wissen, wie sie mit ihrer kindlichen Anschauung der
Wahrheit nahe kam, die in Bastis Welt niemanden
interessierte.
»Ja.., sie sind eindeutig zu viele...«, pflichtete er
ihr nachdenklich bei, »...weißt du, Engelchen, ich
glaube, du könntest für meine Welt eher eine Göttin
sein, als ich ein Gottgesandter in deinem Land...« Damit
nahm Sebastian sein Krähenmädchen bei den Schultern und
küsste sie dankbar, beinahe väterlich auf die Stirn.
Lauknitz begann sich seinen Stiefel über den dick
verbundenen Fuß zu ziehen. Es gelang ihm mit
schmerzhafter Grimasse und er ahnte, dass ihm die
Verletzung noch Sorgen bereiten würde, wenn sie länger
zu Fuß unterwegs waren.
»Wie macht man das?«, hörte er seine Begleiterin
fragen, die noch immer mit dem Stückchen Plastik
herumspielte.
»Tja.., also...«, begann Sebastian umständlich, um
Zeit zu gewinnen, denn er konnte ihre Frage nicht
beantworten. Er arbeitete mit Gips, Holz, Kalk und Sand,
gelegentlich auch mit Kautschuk... Von der
Kunststoffherstellung hatte er keinen blassen Schimmer!
»Also das ist so...«, rettete er sich aus der
Situation, »...das Material, das man zur Herstellung
für so etwas braucht, holen wir aus der Erde...«
»Das wächst in der Erde..?«, fragte Antarona
ungläubig. Dabei strich sie prüfend mit der Hand durch
den feinen Ufersand.
»Nein.., nicht direkt...«, erklärte ihr Basti, »...es
liegt tief unten in der Erde begraben, viel tiefer, als
der tiefste Ort in deiner Höhle dort drüben, es ist
eine schwarze Flüssigkeit, die wir bei uns Öl nennen...
Es ist so ähnlich, so fettig, wie das, was ihr in eure
Lampen tut und es brennt auch ebenso gut.«
»Aber wie kommt das Müll Zeug so tief unter die Erde?«
Antaronas Augen wurden immer ungläubiger. Sebastian
befürchtete, dass dieses Frage und Antwortspiel nun für
den Rest seines Lebens so weiter gehen würde und drehte
den Spieß kurzerhand um:
»Antarona.., was hältst du davon, wenn du mir zur
Abwechslung mal etwas über dich erzählst?« Er sah sie
erwartungsvoll an und als sie unschlüssig versuchte,
seinem Blick auszuweichen, ging Sebastian aufs Ganze:
»Zum Beispiel interessiert mich, was das für eine
blaue, leuchtende Kugel ist, die du immer dort aus dem
See holst...« Als sie noch immer zögerte, versuchte
Sebastian ihr Gewissen zu wecken:
»Sieh mal.., ich denke wir beide vertrauen uns? Ich habe
dir schon vieles gezeigt.., die Zauberbilder, wo wir
beide drauf sind.., die tanzenden Pfeile in dem kleinen
Kasten.., vieles habe ich dir aus meinem Land
bereichtet... Wenn wir gemeinsam Torbuk und Karek
besiegen wollen, Antarona, dann sollten wir nicht allzu
viele Geheimnisse voreinander haben.., oder?« Sie sah
ihn an und in ihren Augen stand so etwas wie
Enttäuschung. Leise und ein wenig traurig erwiderte sie:
»Ba - shtie.., warum zweifelt ihr an Sonnenherz..? Habe
ich nicht euch allein mein größtes Geheimnis verraten?
Die Festung im Berg ist der Ort, wo ich für mich sein
kann.., Ba - shtie.., versteht ihr das..? Es ist der Ort,
wo Sonnenherz nur Antarona sein darf... Ihr kennt diesen
Ort nun...« Vorwurfsvolle Blicke trafen Sebastian und er
schämte sich plötzlich für seine Äußerung.
»Du hast recht...«, räumte er ein, »vielleicht
verlange ich zu viel... Ich war lediglich neugierig, ob
diese Kugel eine Bedeutung haben könnte.., ich meine, ob
sie uns helfen könnte, wenn wir noch mal gegen Torbuks
Soldaten kämpfen müssen...« Sebastian nahm seinen
Rucksack auf und signalisierte damit seine Bereitschaft
zum Aufbruch. Wie ganz nebenbei und in unbedeutendem
Tonfall fügte er hinzu:
»Wenn du es mir irgendwann erzählen möchtest, kannst
du es ja tun...« Er wandte sich ab, ging zum Waldrand
hinüber und besah sich sehr genau die Bäume und
Büsche. Wenn er mit seiner Verletzung möglicherweise
Tage lang unterwegs sein würde, brauchte er einen
kräftigen Wanderstab. Plötzlich stand Antarona neben
ihm, ohne dass er sie hätte kommen hören. Sie besaß
die Fähigkeit, sich wie eine Raubkatze anzuschleichen
und musste sich dafür nicht einmal große Mühe geben.
»Wonach sucht ihr Laug - nids?« Antaronas Stimme klang
offen und interessiert, was Sebastian insofern beruhigte,
da er glaubte, sie vielleicht zu sehr bedrängt zu haben.
Aufatmend erklärte er, dass ihm die bevorstehende
Wanderung mit einem stabilen Stock leichter fallen
würde.
»Weiter oben im Wald findet ihr ein gutes, gerades Holz,
Ba - shtie, dort, wo die Bäume freier wachsen.., nicht
so dicht, wie hier am See...«, erklärte sie
bereitwillig, »...folgt mir einfach nach, Glanzauge...«
Glanzauge! So hatte sie ihn seit ihrer ersten Begegnung
nicht mehr genannt und Sebastian überlegte, ob sie
dieses Wort als Kosenamen, oder eher spöttisch
einsetzte.
Antarona ging voran und führte Sebastian in den dichten
Wald, der sofort in steilen Hängen hinaufzog. Weicher
und rutschiger Waldboden zwang Sebastian von Anfang an zu
akrobatischen Manövern, um nicht gleich nach den ersten
paar Metern den Halt zu verlieren. Abwechselnd zog er
sich an Zweigen, Wurzeln und Grasbüscheln höher, was
sein schwerer Rucksack zu verhindern versuchte.
Sein Krähenmädchen hingegen wanderte leichtfüßig
bergauf, als müsste sie keinerlei Steigung bewältigen.
Sie hatte ihre Beinlinge ausgezogen und drückte ihre
Zehen tief in den feuchten Boden, so dass sie wie auf
einer Treppe empor stieg. Das also war die Lösung.., so
einfach?
Basti überlegte, ob er sich ebenfalls seiner Stiefel
entledigen sollte, die mit ihrer festen Sohle und den
großen Auflageflächen auf Laub und feuchter Erde
hoffnungslos ausglitten. In Anbetracht seiner frischen
Fußverletzung verwarf er den Gedanken sofort wieder.
Schließlich holte er seinen Eispickel aus dem Rucksack,
den er bis dahin kaum beachtet hatte. Für Waldboden war
der wohl nicht gedacht...
Nach einer halben Stunde flachte das Gelände ab und sie
traten auf eine kleine, mit Gras bewachsene Lichtung. An
deren Ende erhoben sich zunächst kleine Felsen, die sich
aber nach oben hin zu einem ausgeprägten Grat
formierten. Sein First war stufig und nicht sehr steil,
teilweise durchsetzt mit Grasflecken. Antarona zog sich
wieder ihre Beinlinge an und folgte dem Felsgrat, der
sich durch den geschlossenen Wald weiter hinauf zog. Wie
ganz nebenbei, als gehörte es zum Programm, hieb sie mit
ihrem Schwert einen geraden, langen Ast von einem elegant
in die Höhe wachsenden Busch:
»Hier, Ba - shtie.., da habt ihr etwas, das euch beim
Gehen hilft...« Sofort fanden Sebastians Stiefel wieder
Halt. Auf diesem Untergrund war er zu Hause und mit der
Hilfe des Stockes wurde der Weg beinahe zum Vergnügen.
Dennoch fiel es ihm schwer, dem Krähenmädchen zu
folgen. Mit der Grazie einer Giraffe und der
Trittsicherheit eines Steinbocks stieg sie über
Felskanten und Steinplatten, wobei sie anscheinend die
Gabe besaß, im Voraus zu erkennen, welcher Stein
trittfest und welcher locker im Boden saß. Bislang nahm
Sebastian dieses Talent allein für sich in Anspruch.
Augenblicklich erinnerte er sich daran, dass er Janine
während ihrer letzten gemeinsamen Reise ins Wallis
beigebracht hatte, wie sich lockere Steinfallen erkennen
lassen. Janine erwies sich damals als gelehrige
Schülerin. War Antaronas Geschick also gar kein Zufall?
Bekam Sebastian hier eine weitere Bestätigung dafür,
dass Antarona seine verstorbene Janine war..? Als besaß
sie eine unsichtbare Verbindung zu ihm, unterbrach
Antarona seine Gedanken:
»Als ich noch sehr klein war, Ba - shtie, war ich oft an
diesem See...« Sie unterbrach ihre Geschichte und
überkletterte geschickt eine Felsnase, die luftig aus
dem Grat ragte. »Antarona war noch nicht Sonnenherz..,
meine Mutter war noch bei mir...« Auf dem Felsabsatz,
der wie eine Kanzel aus dem grünen Flor des Waldes ragte
und einen atemberaubenden Blick auf den in der Tiefe
schimmernden See freigab, blieb sie stehen. Ihre
Erinnerungen schienen in eine ferne Vergangenheit zu
reisen, ihr Blick träumte sich über Baumwipfel hinweg
zum See hinab und sie begann zu erzählen:
»Zu dieser Zeit, Ba - shtie, fuhr mein Vater oft in die
Stadt Quaronas. Ich erinnere mich noch an das alte Pferd
und den kleinen, klappernden Wagen, den wir besaßen.
Mein Vater hatte weiche Felle auf den Wagen gelegt und
meine Mutter saß mit mir darauf. Vater führte das
Pferd...« Antarona machte eine Pause und Sebastian sah
ein oder zwei Tränen auf ihrer Wange schimmern. Er
unterbrach sie nicht, wartete geduldig, bis sie weiter
sprechen würde. Ihr Herz berührte offenbar eine
Erinnerung, die sie sehr schmerzte, doch sie ließ es
sich nicht anmerken.
Wie eine stolze Kriegerin stand sie kerzengerade mit
wehenden Haaren auf dem luftigen Felsabsatz, ihren Blick
in eine unergründliche Ferne gerichtet... dann holte sie
tief Luft, als würde eine Umklammerung von ihrem Herzen
abfallen und berichtete weiter:
»Wir waren eine glückliche Familie.., meine Eltern,
mein Bruder und ich...« Sebastian sah sie erstaunt an.
»Wie jetzt.., du hast noch einen Bruder..?«, entführ
es ihm überrascht. Antarona reagierte nicht, sie
erzählte im gleichen Tonfall weiter, als hätte sie ihn
gar nicht gehört.
»Quaronas wurde zu dieser Zeit schon von Torbuk
beherrscht. Er wagte aber noch nicht, sich offen gegen
seinen Bruder König Bental zu stellen. Seine grausamen
Verbrechen ließ er heimlich von seinen Anhängern und
Soldaten ausführen. Eine Tochter oder Mutter des Volkes
war in der Stadt oder in ihrer Nähe nicht mehr sicher.
Mein Vater wusste das...« Sie machte eine kurze
Gedankenpause und Sebastian erwartete ungeduldig die
Fortsetzung ihrer Geschichte.
»Mein Vater hatte Angst, mich und meine Mutter mit in
die böse Stadt zu nehmen, die von Torbuks Burg
beherrscht wurde...«, fuhr sie fort, »...er setzte uns
jedes Mal dort unten am See ab und fuhr allein weiter.
Manchmal nahm er meinen Bruder mit. Auf dem Rückweg
holte er uns wieder am Ufer ab...«
Sebastian beobachtete sein Krähenmädchen und bemerkte,
dass sie weinte. Die Erinnerungen, die sich in ihr
zurück riefen, mussten als trauriges Erlebnis tief in
ihrem Herzen wie ein einsames Vermächtnis eine lange
Zeit verborgen gewesen sein.
»Einmal.., Ba - shtie, an einem schönen Tag wie heute
war das.., wir warteten auf die Rückkehr meines
Vaters.., da kamen Reiter... Es waren die schwarzen
Reiter Torbuks, seine Schergen... Sie verfolgten einen
Mann, der ohne Pferd war. Ich glaube, es war ein Mann des
Volkes. Meine Mutter versteckte sich mit mir in den
Felsen, nahe am Wasserfall. Wir konnten sehen, wie der
Mann oben auf dem Felsen stand und sein Schwert und einen
Stein den Göttern der Sonne anbot. Ich konnte sehen,
dass sein Schwert leuchtete und auch der Stein begann zu
leuchten... Dies war der Tag, an dem meine Mutter in das
Reich der Toten ging...« Antarona war tief in ihre
Erinnerung versunken und Basti konnte Bäche von Tränen
aus ihren Augen rinnen sehen. Doch sie selbst schien es
nicht zu bemerken...
»...Dann.., ich werde es niemals vergessen, Ba - shtie,
warf er das Schwert und den Stein in einem weiten Bogen
in die Tiefe. Ich sah, wo die Dinge in den See fielen und
versanken. Torbuks Reiter waren dicht hinter dem Mann,
aber sie mussten ihre Pferde den steilen Anstieg
hinaufführen. So sahen sie nicht, dass sein Schwert und
der Stein im See versunken waren. Als sie den Mann oben
auf dem Felsen erreichten, blieb der einfach stehen.., er
lief nicht fort. Er stellte sich vor ihnen hin und zeigte
keine Angst...« Antaronas Tränen fielen auf ihr
ledernes Oberteil, auf dem sich mehrere dunkle Flecken
ausbreiteten. Unbeirrt fuhr sie fort:
»...Die Reiter spannten ihre Bogen und der Mann stürzte
von vielen Pfeilen getroffen in die Felsen, ganz tief
hinab. Dann kamen die Reiter zurück, den Weg herab. Ich
musste husten... Versteht ihr, Ba - shtie.., ich war noch
klein, ich konnte nichts dafür.., ich wollte das doch
nicht...« Das Krähenmädchen begann laut zu schluchzen
und sank langsam in die Knie. Sebastian sprang hinzu,
wollte sie halten, weil er befürchtete, sie würde über
die Felskante rutschen. Doch sie wehrte ihn ab und setzte
sich auf die Felsplatte. Ihr Körper sank in sich
zusammen und bebend erzählte sie weiter...
»Meine Mutter fürchtete, die Reiter konnten mich
hören. Sie zitterte und sie hatte große Angst. Sie
stieg mit mir in die Felsen unter dem fallenden Wasser..,
wir wollten uns verstecken... Wir sahen die Grotte..,
meine Mutter schob mich in die Höhle hinauf und wartete
selbst unten in den Felsen. Ich glaube die Pferdesoldaten
hatten uns gehört... Sie kamen an den Strand. Meine
Mutter ging ihnen entgegen und ich wollte mit ihr
gehen.., aber sie stieß mich zurück und sagte, dass ich
auf Vater warten sollte...« Sebastian wusste, was nun
kommen würde und hörte tief ergriffen weiter zu.
»...Mutter ging zu den Reitern und sprach mit ihnen. Ich
glaube, sie hatten mich nicht gesehen... Sie wollten
etwas von meiner Mutter wissen, aber sie sagte nichts...
Dann stießen die Männer meine Mutter hin und her.., sie
fiel ins Wasser... Als sie wieder aufstand...« Antarona
schlug sich die Hände vor die Augen und weinte
hemmungslos, dass ihr zierlicher Körper zu zerspringen
drohte. Basti nahm sie in den Arm und hielt sie fest an
sich gedrückt.
»...Das war so furchtbar.., Ba - shtie...«, stammelte
sie mühevoll, »...sie zerrissen ihr die Kleider und
schlugen sie.., dann machten sie etwas sehr Böses mit
ihr... ich höre sie immer noch schreien... Und ich kann
die Soldaten noch hören, wie sie lachten und
spotteten... Es dauerte lange, sehr lange.., dann hörte
ich nur noch das laute Wasser. Ich habe lange geweint..,
ich hatte große Angst und traute mich nicht aus den
Felsen hervor... Ich weinte und wartete...« Sie strich
sich ein paar tränennasse Haare aus dem Gesicht und
setzte ihre Erzählung etwas gefasster fort:
»Ich war allein.., es war dunkel und furchtbar kalt...
Die Sonne stand tief, da hörte ich wieder jemanden
schreien... Es war mein Vater, er hatte meine Mutter
gefunden. Ich war aus den Felsen geklettert und zu ihm an
den Strand gelaufen. Meine Mutter lag, glaube ich, unter
einem Fell, ich konnte sie nicht sehen. Vater wollte
nicht, dass ich sie sehe. Ich zog und zerrte meinen Vater
an der Hand.., ich schrie ihn an.., ich wollte zu
Mutter.., ich wollte fort von diesem bösen Ort... Aber
mein Vater stand nur da und weinte... Er sah mich nicht
einmal an, er sah nur auf das Fell, unter dem Mutter lag
und weinte...« Antarona sah Sebastian mit aufgequollenen
Augen an und er hatte das Gefühl, als würde sie von
ihm, dem Mann von den Göttern, eine lang ersehnte
Antwort erwarten. Bevor Basti etwas sagen konnte,
berichtete sie weiter:
»Das.., Ba - shtie - laug - nids.., das war das letzte
Mal, an dem ich meinen Vater weinen sah... Ich sah ihn
nie wieder eine Träne vergießen.., er war seit diesem
Tag ein anderer Mann. Er war immer gut zu mir und meinem
Bruder.., ein sehr lieber Vater.., aber er lachte nie
wieder, er war nie mehr fröhlich, wenn ein neuer Sommer
begann und die Vögel zu singen anfingen... Mein Vater
hat ein gutes Herz, Ba - shtie.., aber er hat es tief in
sich eingeschlossen, wie ein Geheimnis in ein stilles
Verlies begraben.«
»Ja.., mein Engelchen.., das kenne ich...«, sagte
Sebastian mit einem tiefen Seufzer und zog sie noch
fester an sich, »...genauso ging es mir.., als ich dich
verloren hatte.., damals, in meinem Land... Ich kann so
sehr nachfühlen, was du erlebt hast, Antarona und wie es
deinem Vater ergangen ist, glaub mir, ich weiß genau,
wie das ist!« Er sah sie mitfühlend an und wollte noch
hinzufügen:
»Aber das Leben geht weiter, weißt du, Antarona...«
Sie stand überraschend auf, blickte wieder in die
unsichtbare Ferne und sprach wie in Trance:
»Ja.., das Leben geht weiter... Das Leben.., mein
Leben.., es ging weiter, ohne meine Mutter... Sie war
immer da, es gab nie einen Augenblick, an dem sie nicht
in meiner Nähe war... Nun war sie nicht mehr da... Mein
Leben ging weiter.., ohne sie...« Antarona kehrte aus
ihrer Vergangenheit zurück, wie man aus einem intensiven
Traum erwacht. Sie brauchte eine Weile, dann erzählte
sie mit ihrer gewohnten Gefasstheit und inneren Stärke:
»Das Leben ging weiter.., ich wuchs bei meinem Vater und
meinem Bruder auf. Doch das Erlebnis am See hatte ich nie
vergessen können. Noch viele Sommer später sah ich, wie
der Mann diese seltsamen Dinge in den See warf, wie er
zwischen die Felsen fiel und wie mich meine Mutter
versteckte. Es war seltsam, Ba - shtie, ich sah immer
weniger, was die Soldaten mit meiner Mutter machten, aber
immer deutlicher sah ich, wie der Mann das leuchtende
Schwert und den Stein in das Wasser warf... Was ich
wieder und wieder in Träumen sah, es quälte mich...«
Sebastian nahm ihre Hand und hörte ihr stumm zu.
»Als ich älter wurde, gerade mal, dass ich reiten
konnte, riss ich immer öfter vom Haus meines Vaters aus.
Immer wieder ging ich an den See, übernachtete in der
schützenden Höhle und betrachtete die Stelle, an der
die Dinge des Mannes im Wasser versunken waren. Meine
Neugier war so groß.., ich ging oft tief in das Wasser,
tauchte mein Gesicht hinein und versuchte, die Dinge auf
dem Grund des Sees zu entdecken. Oft saß ich lange Zeit
in der roten Sonne am Ufer und dachte an meine Mutter..,
Ba - shtie.., sie sprach dort zu mir...« Sebastian
wollte etwas sagen, doch Antarona schnitt ihm mit einer
Handbewegung das Wort ab:
» Wartet, Ba - shtie.., hört weiter, wie es war... An
einem Tag.., inzwischen wurde ich beim Volk Sonnenherz
genannt.., ich hatte wieder von meiner Mutter
geträumt... Das fallende Wasser trieb mich etwas weiter
in den See hinaus, da sah ich auf dem Grund etwas blinken
und leuchten. Ich wusste, dass es das Schwert des Mannes
war, den die schwarzen Reiter getötet hatten. Ich wollte
es haben... Ich spürte, dass ich es haben musste!«
»Ist es dieses Schwert..?«, fragte Sebastian und zeigte
auf die Waffe, die an ihrem Rücken baumelte. Antarona
nickte nur flüchtig und erzählte weiter:
»Ich konnte jedes Mal besser hinabtauchen und eines
Tages erreichte ich das Schwert. Aber es war zu schwer,
ich konnte es nicht herauf holen. Sehr oft versuchte ich
es und musste aufgeben. Einmal aber entdeckte ich dabei
den Stein der Wahrheit, den Stein des mutigen
Mannes. Er leuchtete ebenso wie das Schwert. Er war an
einer sandigen Stelle zwischen die Felsen gesunken. Die
Strömung dort ist sehr stark. Aber es war leicht, den
Stein herauf zu holen! Er tat, was ich wollte...«
»Was heißt das.., er tat, was du wolltest?«, fragte
Sebastian erstaunt. Antarona suchte nach Worten,
schließlich unterstrich sie ihren Bericht mit
ausschweifenden Gesten ihrer Arme.
Es ist so, wie mit den Tieren, Ba - shtie.., der Stein
fühlt, was ich denke, was ich mir wünsche... Ich
wünschte mir, ihn aus dem See zu holen.., und er machte
sich leicht. Ich wollte den Göttern danken und hielt ihn
zum Himmel, so, wie es der Mann getan hatte... Ich
wünschte mir, meine Mutter wieder zu sehen und.., ich
sah sie.., in dem Stein der Wahrheit... Ba - shtie, der
Stein des getöteten Mannes zeigt mir, was ich zu sehen
wünsche.., ich muss nur ganz fest daran denken...«
»Also ist dieser Stein der Wahrheit ein Kristall.., eine
Kristallkugel..?«, überlegte Sebastian nachdenklich.
Gleichzeitig kam ihm die Widersinnigkeit seiner
Überlegung in den Sinn. Kristallkugeln, die in eine
andere Zeit blicken ließen, gab es nur in Märchen! So
ein Phänomen wäre physikalisch auch kaum erklärbar.
Eher vermutete er, dass sich Antarona so stark in ihre
Gedanken steigerte, dass sie genau das sah, was sie
wollte. Andererseits... Eine Stein- oder Kristallkugel
dieser Größe hob selbst ein trainierter, kräftiger
Schwimmer nicht vom Grund des Sees zur Oberfläche
herauf...
»Hör mal, Antarona.., was hast du noch alles in
der Kugel gesehen.., kannst du mir davon erzählen?«
Antarona dachte kurz nach. Dann erklärte sie:
»Ich sah die schwarzen Reiter in Zumweyer, sie
schleppten die Töchter des Volkes fort.., es war an dem
Tag, als ich euch am See fand, Ba - shtie...« Lauknitz
sah das Krähenmädchen ungläubig an. Wahrscheinlich
brachte sie die Zeiten durcheinander, was bei den
Erlebnissen der letzten Tage durchaus verständlich
gewesen wäre. Doch Sebastian wollte es genau wissen:
»Das heißt aber nicht, dass du die Soldaten in Zumweyer
gesehen hast, bevor wir dorthin aufgebrochen waren..?«
Sie sah ihn ernst an und nickte zur Bestätigung.
»Ja, Ba - shtie, wenn ich es mir wünsche, zeigt mir der
Stein der Wahrheit, was geschehen wird, noch bevor es
geschieht... Der Stein will genau wissen, was ich zu
sehen wünsche, dann...«
»Der Kristall will etwas von dir wissen...«, unterbrach
sie Sebastian kopfschüttelnd, »...wie meinst du denn
das? Dieses Ding lebt doch nicht, das gibts doch
gar nicht..!«
»Ich weiß nicht...«, entgegnete sie verunsichert,
»...ich muss mir etwas ganz genau wünschen, dann zeigt
es mir der Stein... Er will wissen, was er mir sagen
soll...« Basti war skeptisch und überrascht zugleich.
»Jetzt erzähl mir bitte nicht, dass dieser Kristall
auch noch mit dir spricht... Das glaubt man doch nicht..,
entweder willst du mich auf den Arm nehmen, oder ich bin
wirklich in einer anderen Welt, in meiner Phantasie
gefangen...« Basti sah ihr eindringlich und forschend in
die Augen. Antarona erwiderte seinen Blick und ohne Spott
in den Augen bestätigte sie:
»Ja.., Ba - shtie.., ich glaube der Stein spricht zu
mir... Er besitzt keine Stimme, aber ich fühle, dass er
mit mir spricht, so wie das mit den Tieren ist.. Er
spricht in Bildern... Es ist so, wie mit meinem
Schwert.., es weiß, was Sonnenherz will und es hilft,
das zu tun, was ich wünsche!«
Sebastian fielen plötzlich die Scheuklappen von den
Augen... Er erinnerte sich an ihre erste Begegnung.
Antarona gab ihm ihr Schwert, bevor sie ins Wasser stieg,
um die Kugel aus den Fluten zu holen... Seid achtsam,
Ba - shtie - laug - nids, die Klinge ist scharf und
vermag selbst Stein zu schneiden... Das waren ihre
Worte, als sie ihm an diesem Tag ihr Schwert reichte. Ihm
fiel ein, dass er ein paar Probehiebe versucht und sogar
einen Felsen damit geritzt hatte. Sebastian hatte es sich
vorgestellt, weil Antarona es ihm vorher sagte und das
Schwert hatte es ausgeführt. Was, wenn er sich
vorgestellt hätte, den Felsen auseinander zu schlagen..?
War das möglich? Bestand die Möglichkeit, einer Materie
seinen eigenen Willen aufzuzwingen?
»Antarona.., sag mal.., wenn du dir wünscht, oder
vorstellst, mit deinem Schwert einen Baum in einem
einzigen Hieb zu fällen.., geht das? Ich meine, tut das
Schwert dann genau das?« Antarona sah Basti ratlos an.
»Warum sollte ich einen Baum töten, ohne sein Holz zu
bedürfen..?«, fragte sie unsicher. »Nein, Ba -
shtie.., das Schwert und der Stein der Wahrheit tun nur,
was man sich von Herzen wünscht...«, sie wusste
offenbar nicht, wie sie es ausdrücken sollte, »...das,
was Herz und Geist gleichsam wollen...« Sebastian
überlegte einen Moment. Er war so neugierig geworden,
als forsche er nach einem unermesslichen, verborgenen
Schatz.
»Antarona.., würdest du mir mal dein Schwert geben,
damit ich etwas ausprobieren kann?« Er gewahrte ihren
ängstlichen, skeptischen Blick und ihre Hand, die sich
schützend am Lederriemen verkrallte, der das Schwert auf
ihrem Rücken hielt. Beschwichtigend erklärte er:
»Wenn du recht hast, Antarona, dann wird dein Schwert
verhindern, dass ich damit einen Baum zerschlage, weil
dies nicht von meinem Herzen, von meiner tiefsten
Überzeugung kommt, weil ich Bäume im Grunde meines
Herzens liebe, weil mein Geist weiß, wie wertvoll sie
für uns Menschenwesen sind und ich sie sonst niemals
sinnlos zerstören würde...« Antarona zögerte und sah
Basti misstrauisch an.
»Bitte.., Antarona.., wenn du mir wirklich vertraust,
dann lass es mich versuchen.., ich werde nichts tun, was
du nicht willst.., versprochen!« Lauknitz setzte eine
bettelnde, flehende Mine auf, um sie zu erweichen.
Schließlich nahm sie das Schwert von ihren Schultern und
reichte es ihm langsam und bedächtig, immer noch
skeptisch.
Sebastian nahm die schimmernde Waffe in seine Hand und
spürte wieder diese unterstützende Kraft in jeder
Bewegung, die er damit ausführte. Dann, ganz
überraschend, hob er das Schwert über seinen Kopf und
wollte es gegen den am nächsten stehenden Baum schlagen.
Wie eine unsichtbare Bremse verlangsamte sich seine
Bewegung ungewollt, obwohl er seine ganze Kraft in den
Hieb legte. Das Schwert wurde plötzlich schwer, als
bestünde es aus Blei. Gleichzeitig wich jegliche Kraft
aus seinen Armen und Sebastian hatte das Gefühl, die
Waffe lähmte seine Glieder. Er ließ den blau
schimmernden Stahl zu Boden sinken und machte ein so
verdutztes Gesicht, das es sogar Antarona wieder ein
Lächeln entlockte.
Fassungslos schüttelte Sebastian seinen Kopf. Mit diesem
Phänomen war sein rationell und pragmatisch denkender
Geist schlicht überfordert! Diese Waffe schien eine
telepathische Verbindung zu der Person aufzubauen, die
sie führte. Sie integrierte sich in die Empfindungen
ihres Trägers! Betroffen und seltsam berührt gab er
Antarona das Schwert zurück.
Doch sein Verstand arbeitete schon wieder fieberhaft...
Was, wenn ein Mensch dieses Schwert in die Hand bekam,
der vom Grunde seines Wesens böse war. Jemand, der
zutiefst mit ganzer Seele hasste und den es befriedigte,
zu töten..? Ein Mensch wie Torbuk oder Karek, oder einer
ihrer schwarzen Soldaten? Würde das Schwert ihnen
gehorchen, oder seine Dienste versagen?
Allmählich dämmerte Sebastian, weshalb der verfolgte
Mann in Antaronas Erinnerung sterben musste. Er besaß
etwas, dass Torbuk und seinem missratenen Sohn eine fast
unangreifbare Macht versprach: Eine Kristallkugel, die
einem die Zukunft voraussagte und eine Waffe, die
möglicherweise mit der Gedankenkraft ihres Trägers
funktionierte.
Anscheinend wusste Torbuk von den Eigenschaften dieser
Gegenstände und wollte ihrer um jeden Preis habhaft
werden. Er musste vor Wut und Enttäuschung getobt haben,
als er die Nachricht bekam, dass die begehrten Objekte
verloren waren.
Statt dessen hütete ein kleines, dürres Mädchen über
viele Jahre hinweg das große, faszinierende Geheimnis,
bis sie es sich selbst zunutze machte. Sebastian dachte
nach...
Inzwischen musste Torbuk ziemlich genau wissen, wer das
Schwert und die Zauberkugel besaß. Weshalb sonst setzte
er so viel daran, Sonnenherz lebend in seine Klauen zu
bekommen? Er wollte nichts mehr dem Zufall überlassen...
Die Gegenstände allein genügten ihm nicht, er wollte
auch gleich eine Betriebsanleitung dazu: Antarona!
Sebastian wurde augenfällig bewusst, wie wertvoll diese
beiden Dinge waren, wie entscheidend sie sein konnten,
wenn es zu einem offenen Konflikt zwischen dem Volk und
Torbuks Sippe kam. Torbuk wusste das mit an Sicherheit
grenzender Wahrscheinlichkeit ebenfalls... Und noch ein
anderer Gedanke machte sich in Bastis Kopf breit: Was,
wenn noch mehr Waffen mit diesen Eigenschaften
existierten? Woher kamen das Schwert und die
Kristallkugel? Gab es an diesem Ort noch mehr davon? Was
geschah, wenn Torbuk die Möglichkeit bekam, seine ganze
Armee mit solchen Schwertern auszurüsten?
»Sag mal, Antarona...«, fragte Lauknitz und ließ die
Frage banal klingen, »...warum holst du die leuchtende
Steinkugel nicht aus dem Wasser und lässt sie in der
Höhle?« Antarona sah ihn zweifelnd an, antwortete dann
aber sehr selbstsicher:
»Dort, wo der Stein der Wahrheit jetzt ist, dort ist er
am sichersten.., Ba - shtie, glaubt mir!« Das was es
genau, was Sebastian hören wollte. Er nickte zustimmend
und sagte beschwörend:
»Das, mein Engelschen.., das ist eine gute und kluge
Entscheidung! Was auch immer geschehen mag, Antarona,
befrage den Stein, wenn es sein muss.., aber lass ihn
dort im Schutz des fallenden Wassers! Wenn du jemals
versuchst, den Stein an einen anderen Ort zu bringen,
dann bedeutet das eine große Gefahr für dein ganzes
Volk!« Sebastian versuchte so viel Dramatik als möglich
in seine Stimme zu legen, damit seine Gefährtin begriff,
wie schwerwiegend und von welcher Tragweite eine solche
Entscheidung sein konnte.
»Weißt du woher das Schwert kommt...«, wollte Lauknitz
weiter wissen, »...ich meine, weißt du wer es vor dem
Mann, den Torbuk verfolgen ließ, besessen hat, oder wer
es geschmiedet hat?«
»Es ist ein Schwert der Götter, Ba - shtie...«,
antwortete sie ohne zu zögern, »...ich glaube, es wurde
von Talris, dem Gott der Sonne und den Göttern des
Wassers, der Erde und der Luft gemeinsam geschmiedet, um
das Volk von allem Bösen zu befreien.« Sebastian hörte
aufmerksam zu und fragte weiter:
»Das mag sein, Antarona, aber weißt du wer das Schwert
von den Göttern auf die Erde gebracht hat und ob es noch
ein zweites, oder drittes Schwert gibt?« Sie sah Basti
entgeistert an. Wahrscheinlich ging sie davon aus, dass
ein Mann, der von den Göttern gesandt wurde, alles
darüber wusste. Sebastian Lauknitz begann das Spiel
mitzuspielen:
»Weißt du, mein Engelchen, alles erzählen die Götter
ihren Boten nicht.., da hätten sie ja viel zu tun...
Manches müssen wir eben selbst herausfinden, um den
Menschenwesen zu helfen...«
»Sonnenherz wusste, dass ihr von den Göttern kommt, Ba
- shtie, nun habt ihr es selbst gesagt...« Basti biss
sich vor Verlegenheit auf die Unterlippe. Ungewollt hatte
er den Mythos noch geschürt, dem die Frau verfallen war,
die er liebte. Hoffentlich gab es in ihrer Mythologie
kein Tabu, das eine Verbindung zwischen einem
Götterboten und einer Tochter des Volkes untersagte...
Ungeduldig fragte er noch einmal:
»Was ist nun damit, Antarona, weißt du, ob es noch mehr
von diesen Schwertern gibt? Und wenn ja, wo die sich
möglicherweise befinden?« Antaronas Blick schweifte in
weite Fernen und sie begann zu sprechen:
»An den Feuern erzählen sich die Alten eine Geschichte,
Ba - shtie. Die vier Götter schmiedeten auf den drei
Türmen des heiligen Berges im ewigen Eis.., dort wo das
Reich der Toten ist.., vier Schwerter aus einem Metall,
das dem gehorcht, der reinen Herzens ist. Sie gaben ihren
Waffen die Namen Tálinos, Nantakis, Vaventis und
Semparos. Diese Schwerter gaben sie den Königen von
Volossoda, damit sie immer Frieden untereinander halten
sollten. Es war in der alten Zeit, da sich vier Könige,
vier Brüder, das Land teilten. Jeder von ihnen bekam ein
Schwert und sollte gerecht und milde zum Volk sein.«
»Und.., waren sie es?«, fragte Basti, nachdem Antarona
zu reden aufhörte. Sie sah ihn geheimnisvoll an,
lächelte überlegen und erzählte weiter:
»Nein... Sie stritten untereinander, denn sie alle
begehrten die gleiche Frau. Sie war eine Tochter aus dem
Volk der Unbekleideten, im Land der wandernden Sonne...
Sie war von großer Schönheit und hatte Haare, die in
der Sonne leuchteten, wie die Tränen der Götter... So
gab es Krieg zwischen den Städten und viele Schlachten
wurden geschlagen und viele Menschenwesen des Volkes
gingen in das Reich der Toten...
...Endlich war nur noch ein Bruder am Leben. Er stand als
Letzter auf dem Feld des Kampfes, sein Schwert noch in
der Hand. Er verband sich mit der Tochter der
Unbekleideten und gründete ein neues Volk.., unser Volk,
Ba - shtie! Seinen Thron errichtete er auf dem Felsen von
Falméra, der aus dem großen Wasser ragt. Er ließ vier
hohe Türme bauen, zu Ehren der vier Götter und im
höchsten dieser Türme verschloss er ihr Schwert, denn
er wollte es niemals wieder gegen seines gleichen, oder
gegen Menschen aus dem Volk erheben. Dort ist das Schwert
der Götter noch immer, von König Bental und seinen
Treuesten gehütet. Die anderen drei Schwerter jedoch
waren seit dieser Zeit nicht mehr gesehen...«
»...Bis zu dem Tag, an dem du deine Mutter verloren
hast...«, beendete Sebastian die Geschichte für sie.
Antarona nickte stumm und kämpfte gegen neue Tränen an.
»Bleibt die Frage...«, setzte Basti ihrer beider
Gedanken fort, »...wo sind die beiden anderen Schwerter
abgeblieben..?«
»In den alten Geschichten des Volkes wird erzählt...«,
überlegte Antarona, »...dass die Götter die Schwerter
der gefallenen Könige wieder zu sich nahmen, damit sie
nicht in die Hände von einfachen, streitsüchtigen
Menschenwesen aus dem Volk fallen.« Sebastian dachte
kurz nach und musste dann lächeln. Sein Sarkasmus war
kaum noch zu bremsen:
»Na, da muss ja bei euren Göttern etwas fürchterlich
schief gelaufen sein... Mal abgesehen von der Tatsache,
dass die Schwerter offenbar versagt haben.., denn sie
hatten es ja nicht geschafft, Frieden zu halten, und
weiter abgesehen von dem Umstand, dass sich die alten
Könige benommen haben, wie liebestolle Jungen aus dem
Volk, kaum ihrer Verantwortung bewusst und angemessen,
glaube ich ganz offen gesagt nicht, Antarona, dass die
Götter die Schwerter wieder an sich genommen haben.« Er
machte eine Pause um sich zu vergewissern, dass Antarona
gedanklich folgen konnte.
»Eher glaube ich...«, setzte er seine Zweifel fort,
»...dass irgendjemand gezielt über das Schlachtfeld
gelaufen war und nach den Schwertern gesucht hat, um sich
selbst die Macht dieser Waffen anzueignen...«
»Ihr spottet den Überlieferungen unseres Volkes, Ba -
shtie...«, empörte sich Antarona und bekam wieder ihre
kampfeslustigen Augen, »...wie könnt ihr es wagen...«
Sebastian unterbrach sie, um nicht erneut Opfer einer
ihrer Launen zu werden:
»Ich spotte hier gar niemandem oder irgendetwas...«,
erklärte er etwas lauter als gewollt, »...ich stelle
hier nur etwas fest! Antarona, überleg doch mal.., die
alten Märchen erzählen euch, dass die Götter die
Schwerter der gefallen Könige wieder an sich nahmen...
Das kann doch gar nicht sein.., wo kommt denn dann
bitteschön dein Schwert her? Ist es den Göttern
versehentlich vom Himmel gefallen, oder was?« Das
Krähenmädchen blickte eine Weile düster vor sich hin.
Dann hellte sich ihre Mine plötzlich auf:
»Einer der Könige ist nicht getötet worden, Ba -
shtie.., er tat nur, als sei er tot, dann konnte er sein
Schwert behalten! Der Mann, den Sonnenherz als Kind auf
dem Felsen sah, war der Sohn des Sohnes, des Sohnes...«
Sebastian schüttelte zweifelnd den Kopf:
»Nun hör aber auf.., aus welcher Klamottenkiste hast du
das denn..?« Doch je mehr Sebastian darüber nachdachte,
desto mehr war er geneigt, selbst an diese Möglichkeit
zu glauben. Alte Überlieferungen waren stets fehlerhaft.
Irgendwer dichtete etwas dazu, die nächste Generation
vergaß vielleicht ein Detail...
»Es ist einfach, Ba - shtie...«, strahlte Antarona
plötzlich und Sebastian ahnte, dass nun wieder etwas
völlig Absurdes folgen würde. »...Ihr könnt die
Götter fragen, sie haben euch doch zu uns gesandt und da
müssten sie doch...«
»Jetzt ists aber gut, Antarona...«, unterbrach er
ihren Vorschlag, »...ich hatte dir bereits erklärt, wie
ich hierher gekommen bin! Also würdest du mir bitte
glauben... Also, die Götter erzählen mir nichts.., es
ist so.., ich werde selbst von den Göttern
geprüft...!« Sebastian wusste sich nicht mehr anders zu
helfen, als sich in Ausreden zu flüchten. Zu stark war
ihr Glaube an die Mythologie ihres Landes. Um sie von dem
Gedanken an die Götter abzubringen, lenkte er ihre
Überlegungen in eine andere, realistischere Richtung,
die ihm selbst eher zupass kam:
»Antarona.., wenn wir wissen wollen, wie es wirklich
war, dann gibt es wohl nur eine Möglichkeit.., wobei ich
dir gleich sagen muss, dass es nicht einfach werden wird
und dass es niemals eine Garantie gibt, tatsächlich die
Wahrheit zu erfahren... Allerdings sollten wir uns schon
ernsthafte Gedanken darüber machen, denn wenn es
irgendwo noch zwei solche Schwerter gibt.., dann will
Torbuk sie ganz sicher und um jeden Preis haben. Zwei
gefährliche Waffen in den Händen eines Wahnsinnigen...
Mal davon abgesehen, dass ich glaube, dass er ohnehin
versuchen wird, dein Schwert und das des Königs in
seinen Besitz zu bringen...«
»Er wird sie nicht bekommen, denn ihr seid nun hier.
Aber wie wollt ihr an dieses Wissen gelangen, Mann von
den Göttern.., wenn nicht von Talris selbst?« Antaronas
Einwand war naiv und Basti musste ein wenig lächeln.
Geduldig erklärte er ihr:
»Sieh mal, der einzige Weg etwas so Altes herauszufinden
ist, nicht dort mit der Suche anzufangen, wo es begann,
sondern dort, wo es endet...« Fragend sah sie ihn an.
»Zunächst müssten wir mal in Erfahrung bringen, wer
dieser Mann war, der in deinen Kindertagen das Schwert
und den Stein der Wahrheit, wie du ihn nennst, in den See
geworfen hat. Vielleicht hatte der Kinder und mit viel
Glück wissen die noch, dass ihr Vater ein seltsames
Schwert und einen Stein, wie die Sonne besessen hat.
Möglicherweise können die sich ja daran erinnern, woher
er diese Dinge hatte. Verstehst du, Antarona, man muss
den Weg dieser Gegenstände so weit wie möglich in die
alte Zeit zurück verfolgen... Obwohl...« Sebastian kam
ein glorreicher Einfall...
»Warum, Antarona, befragst du nicht den Stein der
Wahrheit? Wenn es dein tiefer Wunsch ist, dies zu
erfahren, dann wird er es dir doch zeigen, oder?« Sie
blickte Sebastian traurig und enttäuscht an:
»Sonnenherz hat das schon vor vielen Sonnen versucht...
Jedes Mal, wenn ich daran dachte und mir wünschte, das
zu erfahren, was geschehen ist, dann wurde der Stein
trüb und grau, sein Geist verfinsterte sich...«
Antarona dachte kurz nach...
»Aber wir werden meinen Vater und den Achterrat fragen,
wer an diesem Tag von Torbuks Soldaten getötet wurde..,
sie werden das wissen...« Sebastian kam sogleich ein
Gedanke:
»Dann können wir die ja auch gleich nach den Schwertern
und dem Stein der...« Weiter kam er nicht. Antarona
sprang mit einem Satz auf und sagte gefährlich leise:
»Untersteht euch, Ba - shtie, das Schwert und den Stein
der Wahrheit auch nur zu erwähnen! Niemand außer euch
weiß davon und Sonnenherz hat entschieden, dass dies so
bleibt!« Staunend sah Sebastian sie an. Wie wollte sie
das geheim halten, wenn sie das Schwert ständig auf
ihrem Rücken durch die Landschaft spazieren trug? Er
konnte sich die zwingende Frage nicht verkneifen:
»Aber dein Vater kennt doch dein Schwert, oder..? Er hat
es doch sicherlich schon oft gesehen? Und was ist mit all
den anderen Leuten aus dem Volk? Alle, denen du
begegnest, kennen diese Waffe..!« Ein hintergründiges
Lächeln zog auf ihrem Antlitz auf und verwirrte
Sebastian etwas.
»Mein Vater...«, erklärte sie geheimnisvoll,
»...sieht das, was er zu sehen glaubt, oder das, was ich
will, das er zu sehen glaubt... Das gilt auch für die
Männer vom Achterrat! Das Volk...«, sie machte eine
gleichgültige, fahrige Handbewegung, »...weiß kaum
etwas von diesen Gegenständen.., sie denken nicht
darüber nach, sie fragen nicht, weshalb ich so gut
kämpfe... Sie glauben, Sonnenherz ist eine von den
Göttern begünstigte Kriegerin...«
Sebastian sah das Krähenmädchen fasziniert an. Sie war
also keineswegs so naiv, wie er dachte! Allerdings fragte
er sich, wie sie das machte, dass niemand etwas
besonderes in ihrem Schwert sah. Noch etwas anderes
beschäftigte ihn, erfüllte ihn mit beruhigenden
Gedanken im Bezug auf seine Gefühle für sie.
Wenn er der einzige war, der von ihren Geheimnissen
wusste, wenn sie ihm als einzigem das Wissen um ihre
Höhle, um das Schwert, sowie die Kristallkugel
anvertraute... Warum tat sie das, obwohl sie beide sich
aus ihrer Sicht gerade erst begegnet waren? Glaubte sie
tatsächlich an den Sendboten von den Göttern, der das
Volk befreien soll?
Sebastian Lauknitz war selten derart verunsichert. Wie
sollte er sich verhalten? Wie musste er vor dem
geheimnisvollen Achterrat auftreten? Durfte er überhaupt
noch eine Schwäche zeigen, oder wurde er dann als
Hochstapler entlarvt? In diesem Fall konnte ihm sein
geliebtes Krähenmädchen auch nicht mehr helfen.
Wie um sich von wirren Vorstellungen zu befreien,
schüttelte er unmerklich den Kopf... Was tat er hier
eigentlich? Der Baustuckateur Sebastian Lauknitz aus der
langweiligsten Stadt in Deutschland, plante in
irgendeinem ihm unbekannten Entwicklungsland eine
Revolution... Wie paradox war das denn? Hatte ihm dieses
Naturkind Antarona schon so weit den Kopf verdreht, dass
ihm jedes realistische Urteilsvermögen abhanden gekommen
war?
Anstatt einen Weg zurück nach Hause zu suchen, ließ er
sich mit Halbwilden und mit Göttern ein, von denen er
nie zuvor gehört hatte! Aber er konnte sein Herz nicht
mehr von dem Antaronas lösen... Er liebte sie, er liebte
Janine.., oder beide.., ach egal... Je mehr er darüber
nachdachte, desto eher glaubte er, endgültig den
Verstand zu verlieren!
Doch so war es nun einmal... Er hatte sich in diese Frau
verliebt, ob nun in diesem, oder in einem früheren
Leben, oder in einem ihm völlig unbekannten Land und er
wusste, dass er sie niemals wieder loslassen würde,
egal, was er hinsichtlich seines derzeitigen
Aufenthaltsortes noch herausfinden würde...
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