Das Geheimnis von Val Mentiér
 
16. Kapitel
 
Der Holzer
 
ls Sebastian wieder zu sich kam, fror er. Die Kälte der Nacht umgab ihn und über seinem Gesicht funkelten millionenfach die Sterne. Er brauchte eine Minute um seine Gedanken zu ordnen. Dann fiel ihm alles wieder ein: Der Gang in die Hallen von Talris, das unsagbare Goldvorkommen, die Inschriften der Tafeln, das Erdbeben, ihre Flucht aus dem Berg... Antarona...
Antarona! Was war mit ihr? Besorgt wälzte sich Basti herum und sein Körper fühlte sich an, als wäre er die Niagara- Fälle hinunter gesprungen. Mühsam rappelte er sich auf die Knie und musste sich eingestehen, dass diese Welt ziemlich ungesund für ihn war.
Antarona lag zwei Meter von ihm entfernt im Gras. Auf allen Vieren robbte er zu ihr hinüber und befürchtete das Schlimmste. Ihre zarte Gestalt lag auf dem Rücken, wie tot. Sebastian wurde fast verrückt vor Angst, nahm ihren Körper in seine Arme, wischte ihr die langen Haare aus dem Gesicht und fühlte ihren Puls. Es war nichts zu spüren. Von Entsetzen gepackt legte er sein Ohr auf ihre Brust...
Erleichtert dankte er ihren Göttern, die sie offenbar beschützt hatten. Sie lebte.., und sie atmete! Aber sie würde sich in der nächtlichen Kälte eine Lungenentzündung holen, wenn er sie nicht warm hielt. Sebastian wusste nicht, wie lange sie beide vor dem Tor der mächtigen Felsenburg gelegen hatten. Bei Antaronas spärlicher Bekleidung musste sie bereits völlig unterkühlt sein. Augenblicklich war Wärme vonnöten.., und ihre Felle!
Unter Schmerzen zog Sebastian seine Geliebte in den Windschatten der Burgmauer, auf das weiche Gras, das er ausrupfte und als Lager aufhäufte. Anschließend wickelte er ihren immer noch teilnahmslosen Körper in ihre Felle ein und deckte sie gut zu. Nun brauchte er noch ein wärmendes Feuer.
Immer in Sichtweite von Antaronas Lager, lief er die Alpweide auf und ab, sammelte das auch noch so kleine Stückchen Wurzelholz und Latschkiefergestrüpp auf. Viel bekam er nicht zusammen, doch es würde für ein kleines Lagerfeuer reichen.
Wie er es stets bei seinen Bergtouren getan hatte, legte er ein paar Steine zu einem Kreis zusammen, entfernte darin den Grasbewuchs und häufte das spillerige Holz in der Mitte auf. Ein Stückchen Trockenspiritus aus seinem Rucksack sorgte dafür, das Reisig sicher in Brand zu setzen.
Erst, als das Feuerchen lustig vor sich hin knisterte, machte sich Basti auf, um noch mehr Holz zu suchen. Er folgte der Hangwiese bergab, wo er bei ihrer Ankunft Bäume gesehen hatte. Unterwegs fiel ihm ein, dass er durchaus auch Antaronas Fackeln hätte verbrennen können. Allein der Gedanke, noch einmal in das Innere dieses verteufelten Gemäuers zu müssen, hielt ihn davon ab. Obwohl der Berg inzwischen keinen Mucks mehr von sich gab, weigerte sich sein Verstand, diese Möglichkeit auch nur in Betracht zu ziehen. Das Rumpeln und Rumoren, das er in den Hallen von Talris deutlich zu spüren bekam, steckte ihm noch in den Knochen.
Zunächst fand Sebastian nur ein paar abgestorbene Zweige einer Arve. Doch dann entdeckte er den umgefallen, halb zerfallenen Überrest eines Baumes. So sehr ihn seine Glieder auch schmerzten, schleifte er das ganze Holzstück zum Lagerplatz.
Antarona hatte sich nicht gerührt. Sie schien in einer Art Koma oder Hypnose gefangen zu sein. Sebastian zerkleinerte das Brennholz, indem er einen großen Stein mit aller Wucht auf den Baumstamm schleuderte. Krachend flog das Holz auseinander. Der Baum war hohl. Doch seine Gefährtin schien den Lärm gar nicht wahr zu nehmen, sie schlief tief und fest.
»Der Schlaf der Unschuldigen und Gerechten«, murmelte Sebastian kopfschüttelnd und legte Holz nach. Mit einer kleinen, leeren Plastikflasche ging er los, um von dem letzten kleinen Bach, den sie auf dem Weg hierher übersprungen hatten, Wasser zu holen. Der Verschluss, sowie der obere Teil der Flasche waren geschmolzen. Das gute Stück befand sich in der Seitentasche seines Rucksacks, die der Kugelblitz lässig durchschlagen hatte.
Sebastian kochte das Wasser in seinem alten Armee- Geschirr ab, obwohl er glaubte, dass es um einiges sauberer war, als in den Gebirgsbächen der Schweiz. Mit Umweltverschmutzung, wie er sie kannte, schien das Volk Antaronas eher weniger Probleme zu haben.
Vorsichtig schob er Antarona etwas mehr zum Feuer hin und deckte die Felle von ihrem Körper. Erst im Schein des Feuers sah er die Verletzungen, die er ihr wahrscheinlich sogar selbst zugefügt hatte, als er versuchte, ihren Leib aus der Gefahr des Berges heraus zu schaffen.
Behutsam begann Sebastian die großen und kleinen Wunden mit einem Taschentuch und heißem Wasser zu säubern. Dabei betrachtete er ihre anmutige Schönheit und ahnte, dass er seine Stadt, seine Freunde und Kollegen, seine Eltern und Geschwister nicht wiedersehen würde. Sein Herz sagte ihm, dass er diese Frau niemals wieder allein lassen würde!
Nachdem er sich davon überzeugt hatte, dass sein Krähenmädchen wieder gut zugedeckt war, machte sich Lauknitz auf den Weg zu der Stelle, an der Antarona das Kraut für seine Fußwunde gefunden hatte. Die beiden angebrannten Fackeln, die er bis zuletzt bei ihrer Flucht aus dem Berg in der Hand gehalten hatte, ließen sich wieder anbrennen und waren eine dankbare Hilfe in der Dunkelheit.
Weit musste sich Basti nicht vom Feuer entfernen. Das gelb blühende Kraut fand er bereits in der Nähe des Lagers an einem Felsen. Er zerstampfte die Blätter mit dem Knauf seines Bowiemessers in seinem Feldgeschirr, gab etwas abgekochtes Wasser hinzu und bedeckte mit dem Püree Antaronas Wunden.
Aufatmend setzte sich Sebastian neben ihrem Lager an das Feuer. Einzig ihre andauernde Bewusstlosigkeit bereitete ihm Sorgen. Hatte sie vielleicht eine Gehirnerschütterung davongetragen, als er sie so rücksichtslos aus dem Berg heraus bugsierte?
Zum wiederholten Mal legte er ihr die Handfläche auf die Stirn, konnte aber keine erhöhte Temperatur feststellen. Eine tiefe Verzweiflung überkam ihn. Er konnte sich ihre Bewusstlosigkeit nicht erklären, war nicht mehr in der Lage, sie noch weit zu tragen und noch viel weniger konnte er sie einfach hier zurück lassen und Hilfe holen. Er wusste ja nicht einmal, wem in diesen Tälern er vertrauen konnte und wem er besser aus dem Weg gehen sollte.
Das einzige, was Sebastian im Augenblick tun konnte, war den Tag abzuwarten. Doch dann würde er eine Entscheidung treffen müssen! Einstweilen rollte er seinen Schlafsack aus, setzte sich an die Felsmauer und deckte sich damit zu.
Zur Vorsicht legte er Antaronas Waffen neben sich. Ihr Schwert glühte nicht mehr und soweit Sebastian das beurteilen konnte, hatte es auch keinen Schaden genommen. Nicht einmal einen Kratzer oder einen Fleck konnte er darauf erkennen, als hätte es nie als Blitzableiter gedient.
Was war überhaupt dort drinnen im Berg geschehen? Sebastian ließ das Erlebte noch einmal vor seinem geistigen Auge abspielen. An Götter, ihre Geister, oder irgendwelche Feuerdämonen glaubte er natürlich nicht! Doch irgendwer musste ihnen das Eindringen in die Hallen von Talris außerordentlich übel genommen haben.
Wer immer auch dieser Jemand war, in diesem Punkt war sich Basti sicher, war aus Fleisch und Blut, atmete Luft und trank Wasser! Es gab keine Götter, die an Bergen rüttelten und Blitze schleuderten, um Höhlenforschern das Lebenslicht auszublasen. Das konnte wer auch immer wesentlich einfacher haben!
Andererseits... An Feuer speiende Drachen und kleine flambierte Elfen hatte er ja ebenfalls nie geglaubt... Ach, das war ja Quatsch! Statt solch ausgemachten Blödsinn in Erwägung zu ziehen, sollte er zunächst das nach seinem Wissen Mögliche ausschließen können. Die tektonischen Platten der Erdkruste, die sich oft genug launisch verhielten und Erdbeben auslösten, konnte er schon mal nicht ausschließen. Ebenso wenig Vulkantätigkeit.
Selbst wenn Antarona noch nie ein Erdbeben, oder eine Eruption erlebt hatte! Wie alt war sie denn? Achtzehn.., Zwanzig..? Bisweilen vergingen Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte, bis es diesem Planeten einfiel, wieder mal einen Rülpser auszustoßen! Und wer konnte schon mit Sicherheit bestimmen, dass es bei solchen Gelegenheiten nicht zu einer Entzündung irgendwelcher, bläulichen Gase kam, oder zur statischen Entladung in Kugelblitzen? Und dass Metall Blitze anzog und im Sankt Elms- Feuer bläuliche Flämmchen erzeugte, hatte er bereits vor Jahren einmal an seinem Eispickel erfahren!
Allein die grenzenlosen Dimensionen der Hallen von Talris und die gigantischen Wände aus massivem Gold konnte Sebastian nicht rational erklären. Welche Mächte, oder wie viel tausend Sklaven einst da zu Werke gewesen sein mussten, entzog sich seiner Vorstellungskraft.
Das Nachdenken über solche Dinge war anstrengend. In einer philosophischen Diskussionsrunde konnte das Thema ja durchaus anregend sein. Doch hier draußen, in der Wildnis, nachdem man irgendwelchen missgelaunten Mächten entkommen war, empfand man es etwas anders. Sebastian überkam eine bleierne Müdigkeit. Zunächst wehrte er sich erfolgreich dagegen, denn er wollte Antarona nicht eine Sekunde aus den Augen lassen.
Irgendwann jedoch schlossen sich seine Augenlider und sein Wille war nicht mehr stark genug, sich dagegen aufzulehnen. Das leise Zirpen von Grillen, das verwehte Murmeln eines Baches und ein im Gemäuer der Burg wispernder Wind bezirzten seine Sinne und trugen ihn in das Reich der Träume...

Ein nervendes Brummen verlangte Einlass in Sebastians Gehör. Aber er war noch nicht wieder bereit, sich mit dem Leben auseinander zu setzen. Im Halbschlaf wischte er das Geräusch von seinem Ohr fort. Allerdings nur für kurze Zeit. Schon war es wieder da. Bastis Sinne begannen schleppend langsam ihre Arbeit aufzunehmen.
Sofort verspürte er den Schmerz in Schultern und Rücken. Alles war verspannt. In seinem Kopf schien sich eine schwere Masse zu befinden, die sich pausenlos drehte. Sein Schädel drohte zu zerplatzen und Übelkeit stieg in ihm hoch. Migräne! Seine Geißel des Lebens, die ihn ständig begleitete, seit er ein Kind war.
Er versuchte ruhig zu liegen, Schultern und Rücken zu entlasten. Er wagte nicht, seine Augen zu öffnen. Tröpfchenweise sickerte die Erinnerung in sein Gehirn zurück: Der Weg über die Berge... Der Gang in die dunkle Burg, in die Hallen von Talris.., das unglaublich viele Gold, die Inschriften der Tafeln, das blaue Feuer, ihre Flucht aus dem Berg... Antarona..!
Sebastian fuhr auf und augenblicklich schien sein Kopf zu explodieren. Er drückte sich die Fäuste gegen die Schläfen, um das dumpfe Hämmern in seinem Schädel zu mildern. Dann öffnete er verkniffen die Augen und blinzelte in die Sonne.
Antarona lag ruhig schlafend in ihren Fellen. Basti legte ihr seine Hand auf die Stirn. Fieber hatte sie nicht. Aber die Kriegerin, die in jeder Lebenssituation, selbst im Schlaf, auf dem Sprung war, immer in angespannter Bereitstellung, erwachte nicht. Ab und zu bewegte sie ihre Lippen, brachte jedoch keinen Ton hervor. Sie schien in einer Art Hypnose gefangen zu sein.
In seinem eigenen Zustand war Sebastian versucht, sich wieder auf seinen Schlafsack sinken zu lassen und sich der Schwere seines Hauptes zu ergeben. Doch die Angst um seine Gefährtin ließ ihn nicht los. Er kämpfte gegen das Aufbegehren seines Magens an, legte die kühlende Klinge Antaronas Schwertes an seine Stirn und rappelte sich hoch.
Er musste zum Bach. Das kühle Wasser würde ihm einen Teil seiner Lebensgeister zurück bringen! Von stechenden Sonnenstrahlen verfolgt nahm er sein Feldgeschirr und taumelte auf unsicheren Füßen über die hohe Alpweide. Jeder Fehltritt auf dem unebenen Gelände drohte seinen Kopf bersten zu lassen.
Dankbar kniete er vor dem klaren Gebirgswasser nieder und schöpfte mit den Händen immer wieder das eisige Nass gegen seine Schläfen. Jedes Mal betäubte die lähmende Kälte den Schmerz und Sebastian spürte eine leichte Linderung. Er nahm einen nassen, vom Wasser flach geschliffenen Stein und drückte ihn sich gegen den pochenden Kopf.
Gleichzeitig füllte er mit der anderen Hand sein Campinggeschirr mit Wasser und Kies. Bedächtig ließ er die Steinchen darin rotieren, bis der Blechnapf sauber war. Nur ja keine heftigen Bewegungen! Nicht die Migräne reizen!
Dabei stellte Basti fest, dass der Blick auf das monoton dahin fließende, in der Sonne blinkende Wasser seine Augen beruhigte und den Schmerz besänftigte. Das ruhige Plätschern und Gurgeln des Baches machte schläfrig. Plötzlich war da noch ein anderes Geräusch...
Sebastian nahm es erst gar nicht wahr. Dann drang der schnaufende Laut stärker in sein Bewusstsein und er sah auf. Völlig überrumpelt ließ er sein Feldgeschirr ins Wasser plumpsen. Wie von einer Schlange gebissen sprang er auf. Gleichzeitig verfing sich sein Fuß in der kleinen Böschung des Baches und ließ ihn rücklings zu Boden stürzen.
Auf der anderen Seite des Wasserlaufs, von der Morgensonne unwirklich in Szene gesetzt, stand ein Bär. Ein mächtiger Brocken von einem Bär! Er stand einfach nur da, schnaufte und blies stoßweise große Atemwolken in die kalte Morgenluft. Dabei wiegte er seinen Oberkörper mit dem wuchtigen Kopf hin und her, als wäre er unschlüssig, was er tun sollte.
Sebastians Kopfschmerzen waren plötzlich wie weggewischt. Erstarrt blieb er zunächst liegen und seine Gedanken überschlugen sich. Was würde als nächstes passieren? Würde das Biest ihn angreifen, oder seines Weges ziehen? Vielleicht wollte diese Bestie auch nur an den Bach, um Forellen zu fangen? Sebastian konnte sich aber nicht erinnern, Fische im Wasser gesehen zu haben.
Was sollte er tun, wenn das Tier plötzlich auf ihn los ging? Weglaufen? Auf den nächsten Felsen klettern? Und dann? Er stand zwischen dem Bären und ihrem Lager. Wenn er das Biest nicht daran hindern konnte, das Wasser zu überqueren, würde er ungehindert über Antarona herfallen. Sie lag ungeschützt und handlungsunfähig hinter der Felsmauer der Burg!
Nein, Sebastian war klar, dass er das Tier nicht über den Bach lassen durfte. Aber wie sollte er ihn aufhalten? Ohne Waffen! Er befand sich in der gleichen Situation, wie mit dem Gor. Die gleiche Situation wie mit dem Gor..?
Ihm blieb eine vage Hoffnung... Aber würde sich ein entschlossener Felsenbär von Steinwürfen beeindrucken lassen? Was den Gor und zum Teil auch die schwarzen Reiter Torbuks in die Flucht geschlagen hatte, musste einen Felsenbär nicht zwangsläufig auch stoppen.
Möglicherweise war es derselbe Bär, dem Sebastian in der Gewitternacht bei seiner Wanderung durch das Tal begegnet war. Er hatte erlebt, wie viel Kraft dieses Tier besaß. Und wenn der erst einmal Bastis Witterung hatte und sich an ihn erinnern konnte...
Ganz behutsam, den Bären immer im Auge behaltend, tastete er sich an den Bach heran. Dort lagen die dicksten, handlichsten Steine! Sebastian zögerte. Bären waren kluge Tiere. Was, wenn er seine Absicht durchschaute? Würde er sofort angreifen?
Lauknitz hatte mit seiner Hand beinahe den ersten Stein erreicht, da entdeckte der Felsenbär seine Bewegung. Hatte das Raubtier bislang nur gelangweilt in der Gegend herum geschnuppert, so machte er nun eindeutig klar, dass ihm Bastis Verhalten missfiel. Er trabte ein paar Sätze vorwärts, hieb mit seiner Pranke wütend in den Boden, dass Gras und Erde davon flogen und ließ mit einem markerschütternden, Furcht einflößenden Gebrüll die Luft erzittern.
Das war unmissverständlich! Rasch zog Sebastian seine Hand zurück. Den grauen Riesen beruhigte das jedoch keineswegs. Er richtete sich plötzlich auf, schlug mit seinen schaufelgroßen Tatzen durch die Luft und brüllte und fauchte in Sebastians Richtung, als könnte er ihn einfach wegpusten.
Nun war alles egal. Sebastian bückte sich rasch und hob drei handliche Geschosse auf. Wenn er das Vieh wenigstens an seiner Nase erwischen konnte. Da waren sie empfindlich, das wusste er aus Büchern. Ebenso wusste er aber auch, dass gereizte Bären, insbesondere die der Grizzly Klasse, nicht mehr von ihren Opfern abließen, solange die sich noch bewegten.
Immer noch stand der Bär aufrecht jenseits des Baches, wie eine riesige Statue. Wenn er schnell laufen würde.., so schnell wie noch nie... Er würde über den Bach springen, im weiten Bogen nach den Felsen hin an ihm vorbei und ihm dabei einen Stein an den fetten Schädel werfen. Das Biest würde versuchen ihn zu verfolgen. Doch wenn Basti in die steilen Felsen kletterte? Das Tier war schnell, aber eben auch plump! Die Gestaltung von Sebastians Plan wurde jäh unterbrochen...
»Ah ia to ene takii, noha ti ran uchana vu manatakii!« Unbekannte Worte, die Sebastian plötzlich laut hinter sich vernahm. Allein die Stimme kam ihm vertraut vor... Antarona!
Er drehte sich nicht um, sondern behielt die Bestie im Auge. Er war mit dieser neuen Situation völlig überfordert. Sprach Antarona mit ihm, oder mit dem Bären? Letzteres wäre ihm lieber gewesen und er betete, dass an den Legenden über das Krähenmädchen wenigstens ein Funke Wahrheit war.
»Ah ia to tonewaka takii, jinama vu ran manatakii ti ba shtie ka na tee!« Worte, die Sebastian nicht verstand, die aber zweifellos ihre Wirkung nicht verfehlten. Der Felsenbär ließ sich wieder auf die Vorderpfoten fallen und grunzte unzufrieden. Noch ein paar Mal wiegte er seinen Kopf hin und her, dann drehte er sich gemächlich um und trottete gelassen davon.
Sebastian stand wie versteinert da, verwirrt, die Felsgeschosse noch in der Hand. Zweifeln blickte er hinter dem grauen Monster her, bis dieser in einer Senke verschwand. Heilfroh drehte er sich zu Antarona um.
»Was tut ihr da, Ba - shtie.., was sollte das werden..? Wolltet ihr gegen einen Felsenbären kämpfen? Ihr wäret von ihm zerrissen worden, wie große Blätter im Sturm der schlafenden Sonne!« Antarona kam langsam auf Basti zu, ihre schlanke Gestalt hob sich kontrastreich von der Morgensonne ab und Sebastian bemerkte ihre geschmeidigen Bewegungen, die einer Raubkatze gleich kamen.
»Nein.., ich wollte diesen Gesellen zum Morgenmahl einladen...«, gab er bissig zurück, »...denn du warst ja einfach nicht wach zu kriegen!« Sebastian betrachtete seine Gefährtin im Licht des jungen Tages. Er bewunderte ihre Schönheit und empfand tiefe Dankbarkeit, dass sie wieder aus ihrem Tiefschlaf aufgewacht war.
»Ich bin froh, dass du wieder unter den Lebenden weilst, mein Engel.., ich hatte wirklich Angst, dich zu verlieren... Und jetzt hast du mir das Leben gerettet!«
»Sprecht keinen Unsinn, Ba - shtie.., ihr wart es, der mein Leben rettete, ihr habt mich vor den Dämonen der Götter beschützt, die Sonnenherz für ihren Frevel bestrafen wollten! Der Felsenbär wollte euch nicht nach dem Leben trachten.., er wollte zu den Höhlen von Talris... Er spürt die nahende Zeit des Schnees und sucht nur eine Schlafstelle...« Sebastian zweifelte an der Harmlosigkeit des Bärenauftritts. Er war sich nicht sicher, ob Antarona die ganze Sache nicht nur herunterspielen wollte.
»Also.., bei allem Respekt vor deinen Fähigkeiten.., aber das sah eben nicht so aus, als ob der Bär nur mal eben hier vorbeiziehen wollte.., ehrlich!« Antaronas Hände machten Sebastian eine vorwurfsvolle Geste:
»Was glaubt ihr denn.., wenn ihr auch gleich mit Steinen nach ihm werfen wolltet..! Ihr habt ihn als Feind begrüßt, was sollte er da anderes tun, als euch warnen? Ba - shtie - laug - nids.., ihr müsst noch viel lernen in der Welt der Menschenwesen...«, versöhnlich nahm sie seinen Kopf in ihre sanften Hände, »...ihr seid stets rasch mit Steinen bei der Hand!«, flüsterte sie und sah ihm tief in die Augen.
»Soweit ich mich erinnern kann...«, gab Basti nüchtern zurück und spielte auf den Zusammenstoß mit den schwarzen Reitern an, »...war das nicht immer das Schlechteste, oder?« Antarona küsste ihn flüchtig und Sebastian rätselte wieder einmal, ob das tiefe Zuneigung, oder wieder nur bloße Freundschaft gewesen sein sollte. Vielleicht auch nur eine Geste, die das Thema beenden sollte...
»Was hast du dem Bären eigentlich gesagt?«, wollte Sebastian wissen, als sie sich schon dem Bach zuwenden wollte. Antarona wandte sich noch einmal um, trat dicht an ihn heran und legte ihre Arme um seinen Hals:
»Sonnenherz hat ihm gesagt, dass ihr sein Freund seid, dass ihr das aber noch nicht wisst, Ba - shtie.., und dass in den Höhlen die Dämonen erwacht sind.., geweckt von den Geistern der Götter.., dass es dort nicht gut für ihn ist und er besser in die Wälder der schlafenden Sonne zurückkehrt...« Sie sprach darüber, als sei es das selbstverständlichste der Welt. Sebastian ließ nicht locker. Das alles hatten ihre wenigen Worte ausgedrückt?
»Aha.., und was hat der graue Riese darauf geantwortet?«, fragte Basti sarkastisch. Doch erwartete er auf diese Frage keine rationelle Antwort mehr. Verwundert sah Antarona ihn an.
»Ihr habt es doch gesehen, Ba - shtie.., ihr wart dabei... Er zog friedlich seiner Wege...« Damit war für das Krähenmädchen die Frage geklärt. Sie wandte ihm den Rücken zu, hockte sich an den Bach und begann sich im kalten Wasser ungeniert den Dreck der vergangenen Stunden von der Haut zu waschen. Dabei untersuchte sie aufmerksam ihre Wunden.
»Ihr habt das heilende Kraut auf Sonnenherz Wunden getan...«, stellte sie fest. Sebastian hob entschuldigend die Schultern.
»Du hast es mir gezeigt.., ich konnte im Augenblick nichts anderes tun.« Er dachte kurz nach, dann fragte er: »Was war das da eigentlich, in den Hallen von Talris..?« Als Antarona ihn fragend ansah, setzte er hinzu: »Ich meine das blaue Licht und die Blitze und dein Schwert...«
»Was ist mit meinem Schwert.., Ba - shtie, was meint ihr?«, fragte sie verblüfft über seine Bemerkung. Basti erzählte ihr in einfachen Worten, was sich bei ihrer Flucht zugetragen hatte, als er sie bewusstlos durch die Hallen nach draußen trug. Ausführlich berichtete er ihr von dem blauen Licht, von den todbringenden Blitzen und davon, dass sie beide ihrem Schwert ihr Leben verdanken.
Das Krähenmädchen hörte aufmerksam zu und Sebastian merkte sofort, dass sie von dieser vorteilhaften Eigenschaft ihres Schwertes noch gar nichts wusste. Erstaunlicherweise verfiel sie darüber auch nicht unbedingt in Verwunderung.
»Es ist ein Schwert der Götter...«, erklärte sie mehr für sich selbst, »...Es besitzt auch den Schutz der Götter...«, überlegte sie. Sebastian sah sie kopfschüttelnd an. Für sie war alles so fraglos einfach! Aus ihrer Sicht erklärte sich jede Begebenheit, jedes Ereignis und jedes Phänomen in dem Willen ihrer Götter.., basta!
Sebastian wollte das so nicht hinnehmen. Er achtete jeden Glauben, doch er wollte weder sein eigenes Leben, noch das des einzigen Menschen, den er liebte, an eine naive Borniertheit verlieren.
»Und wieso zum Kuckuck hast du dich da drinnen, in den Höhlen von Talris einfach deinem Schicksal ergeben? Wenn die Götter bestimmt haben, dass wir uns begegnen.., dass du den Mann, der von den Göttern gesandt wurde, zum Achterrat bringst und mit ihm gegen Torbuk und Karek ziehst...«, Basti machte eine Pause, um sich zu sammeln, »...wieso ergibst du dich dann so einem Feuerdämon, der von irgendwelchen Geistern geweckt wurde, anstatt dem zu folgen, den die Götter zu dir geschickt haben?«
»Sonnenherz vermag nicht alles zu lenken.., es war der Wille der...« Weiter kam sie nicht. Sebastian war mit einem Satz bei ihr, packte sie an ihren Schultern und riss sie aus dem kalten Wasser hoch. Er setzte jetzt alles auf eine Karte, zumal sie ihr Schwert nicht bei sich hatte, dass sie ihm wieder hätte unter die Nase halten können.
»...der Wille der Götter...«, beendete er ihren Satz. »Nicht wahr.., das wolltest du doch sagen? Es war der Wille der Götter...« Er schüttelte ihren nassen Körper, als wollte er den Götterglauben aus ihr herausschleudern. Antarona verspannte sich und versuchte sich gegen seinen Griff zu wehren. Doch Sebastian fasste um so derber zu.
»Dann will ich dir jetzt mal was sagen, mein Sonnenherz...«, ließ er seiner Standpauke freien Lauf, »...ich liebe dich.., du bist das wertvollste in meinem Herzen.., ich weiß nicht, ob dir das klar ist und ob du genau so empfindest... Aber bis ich das weiß, ist dein Leben auch mein Leben.., und ich werde dich niemals aufgeben.., geht das jetzt endlich in deinen Kopf..? Und außerdem werde ich es nicht zulassen, dass unser beider Leben den Launen irgendwelcher Geister oder Dämonen geopfert wird!« Antarona wollte aufbegehren, doch er ließ nicht locker.
»Antarona.., es ist nicht der Wille der Götter, dass du in das Reich der Toten gehst! Glaubst du, sie hätten dich dann so lange und erfolgreich gegen das Böse kämpfen lassen..? Glaubst du, sie hätten dich damals als Kind das Schwert und den Stein der Wahrheit finden lassen, wenn sie jetzt deinen Tod wollten? Du selbst hast gesagt, dass ich der bin, den die Götter geschickt haben! Wieso hast du mich dann gefunden.., na? Denk mal darüber nach! Ich will es dir sagen: Weil sie wollen, dass wir zusammen sind.., so ist das.., das ist der Wille der Götter!«
Sebastian ließ die Worte, an die er selbst nicht recht glaubte, auf das Krähenmädchen wirken. Er wusste, dass sie sich nicht würde einschüchtern lassen. Dennoch schienen Zweifel in ihr aufzusteigen, denn sie wehrte sich nicht mehr. Er nutzte ihre Unentschlossenheit. Rasch zog er sein Hemd aus, legte es ihr um die zitternden Schultern und nahm sie versöhnlich in den Arm. Tief blickte er ihr in die Augen, bevor er eindringlich weiter sprach:
»Antarona, sieh mal.., seit wir uns begegnet sind, haben wir Vieles erlebt, bei dem du am besten wusstest, was zu tun ist.., und ich bin dir gefolgt.., ich habe dir vertraut. Genauso kann es sein, dass ich weiß, was zu tun ist und dann möchte ich, dass auch du tust, was ich sage.., dass auch du mir vertraust.., verstehst du?« Sie schlug ihre Augen nieder und Basti wertete das als Zustimmung.
»Weißt du, dort in den Höhlen...«, erklärte er ruhig, »...das was wir dort erlebt haben.., ich kenne das. Dort, wo ich her komme, nennen wir das ein Erdbeben, oder eine seismische Eruption. Es ist ganz bestimmt kein Geist, der unbedingt töten will...«
»Aber es wollte uns töten, Ba - shtie«, bemerkte sie vorwurfsvoll. Sebastian holte tief Luft und entgegnete:
»Nein.., wollte es nicht! Ich weiß es.., Antarona, vertrau mir einfach.., ja? Diese Welt, in der wir leben, sie lebt selbst, das weißt du doch, oder?« Er wartete ihr stilles Nicken nicht ab, sondern fuhr ohne Pause fort:
»Diese Welt atmet wie wir, wie die Tiere, wie eben alles... Also sie tut es und manchmal kann es sein, dass sie sich verschluckt.., oder hustet, so, wie wir es auch gelegentlich tun. Dann passiert das, was wir im Berg erlebt haben. Der Körper der Welt, die Erde, die Berge, eben alles, was auf der Welt ist, wackelt. Es ist nicht der Wille der Götter, dass wir sterben, es ist ihr Wille, dass wir uns in Sicherheit bringen, wenn so etwas geschieht.., verstehst du?«
Nein, sie verstand nicht. Jedenfalls nicht alles. Sebastian bemerkte es an ihren zweifelnden Blicken. Wenn er nur erreicht hatte, dass sie ihm in künftigen, brisanten Situationen mehr vertraute, dann hatte er schon viel gewonnen. Mehr eigentlich, als er erwarten konnte!
Ihm wurde immer deutlicher vor Augen geführt, dass sie beide Vieles voneinander lernen konnten. Nein.., sogar mussten! Nur ließen ihnen die unvorhergesehenen Begebenheiten, in die sie ziemlich oft hinein gerieten, kaum genug Zeit dazu! Im Grunde jagte eine brenzlige Situation die andere, seit er von Högi Balmers Hütte aufgebrochen war. Dabei fiel ihm ein, dass der Doktor, Falméras Medicus, ihn gewarnt hatte: Tut, was euch Väterchen Balmer sagt und hört auf seinen Rat! Also unterlasst irgendwelche abenteuerlichen Alleingänge...
Er hatte die Warnungen in den Wind geschlagen. Er war im Alleingang aufgebrochen! Aber wäre er sonst Antarona begegnet.., seiner Janine, die er stärker vermisst hatte, als er sich all die vielen Jahre lang hatte eingestehen wollen? Nein! Es sollte so sein! Ohne die Gefahren, denen Antarona und er ausgesetzt waren, hätte er auch nichts über dieses Land erfahren. Vermutlich wäre er ahnungslos Torbuk und Karek oder deren Häschern in die Arme gelaufen. Wie wäre das wohl ausgegangen?
Sebastian seufzte tief und nahm die Hand des Krähenmädchens. »Komm.., lass uns zum Lager gehen.., mal sehen, ob wir noch etwas zu Beißen in unseren Bündeln finden...« Sein Feldgeschirr mit Wasser gefüllt, schritten sie beide Hand in Hand der steigenden Sonne entgegen...
Während sie ihre Sachen ordneten und für den Weitermarsch zusammen packten, kauten sie auf einem harten Stückchen Brot herum, das sich noch in Antaronas Tasche fand. Sebastian blickte gleichzeitig ehrfürchtig und verächtlich auf den Knust. Er hatte Hunger!
Das Piknickpaket des Wasserbauern waren die letzten Lebensmittel, die sie bekommen hatten. Er fragte sich, wann sich der Nahrungsmangel auf Kondition und Wanderleistung auswirken würden. Antarona beobachtete seine Blicke und durchschaute ihn sofort:
»Wenn die Sonne ein weiteres Mal in den Himmel steigt, erreichen wir meines Vaters Haus. Dann könnt ihr nach Belieben Schmausen, Ba - shtie!«
»Ach.., ist nicht so wichtig...«, log er, »...das Brot ist köstlich und ich habe gar nicht so’n großen Appetit!« Basti fühlte sich von ihr ertappt. Nun, so lange sie ohne Essen auskommen konnte, dann konnte er es ebenfalls! Um dieses Thema nicht weiter auszuschmücken, fragte er Antarona mit besorgter Mine:
»Sag mal, mein Engel.., du hast mir erzählt, dass du deinen Vater und den Achterrat von deiner Entdeckung, von den Hallen des Talris berichtet hast... Wie lange ist das her, als du mit ihnen darüber gesprochen hast?«
»Vor drei oder vier Sommern war das, warum wollt ihr das wissen, Ba - shtie?« Sie taxierte ihn mit skeptischem Blick, als vermutete sie eine böse Intrige. Basti ging nicht auf ihre Geste ein, sondern hakte nach:
»Kannst du dich daran erinnern, ob du erwähnt hast, dass die Tafeln von Talris und die Höhlen aus den Tränen der Götter gemacht sind?« Antarona musste nicht lange überlegen.
»Nein, Ba - shtie.., Sonnenherz musste das nicht sagen, denn jeder im Volk weiß es! Die Alten, welche die Geschichten von den Götterwesen kennen, erzählen schon den Kindern davon, dass die Hallen von Talris vom Glanz der Göttertränen erstrahlen.«
»Also in diesem Fall...«, überlegte Sebastian, »...sprich am besten nicht mehr über die Hallen von Talris.., ja? Und wenn dich noch mal jemand danach fragt, ist es vielleicht klüger zu behaupten, du hast lediglich eine kleine Grotte entdeckt und kannst dich nicht mehr daran erinnern, wo das war.« Antarona sah ihn verständnislos an.
Inzwischen waren sie bereit zum Aufbruch. Das Krähenmädchen schulterte ihre Waffen und ihr Bündel, während Sebastian noch versuchte, die Gurte seines Rucksacks hinter die Griffe seiner beiden Bowiemesser zu stopfen. Sie waren zwar keine sonderlich beeindruckenden Waffen, doch wenn er das alte rostige Schwert aus Antaronas Höhle verlieren sollte...
Lauknitz griff die Frage der Hallen von Talris wieder auf, nachdem sie die Felsenburg hinter sich gelassen hatten und ihren Weg auf dem Hochplateau fortsetzten.
»Antarona.., du sagst, jeder kennt die Legenden um die Hallen von Talris... Und du hast mir erzählt, dass Torbuk und Karek in den Tälern im Norden.., also in der schlafenden Sonne die Tränen der Götter aus den Bergen holen lassen.., dass Torbuk ganz verrückt nach diesem Zeug ist...« Seine Gefährtin ging neben ihm und hörte aufmerksam zu.
»Was glaubst du...«, fuhr Sebastian fort, »...würde Torbuk tun, wenn er hier irgendwo in diesen Tälern die Hallen von Talris vermuten würde..?« Er ließ seine Frage im Raum stehen und beobachtete Antarona von der Seite. In ihrem Kopf arbeitete es, das war deutlich zu erkennen.
»Torbuk wird die Hallen der Götter sehen wollen...«, gab sie offen zu. Lauknitz nickte zustimmend und orakelte:
»Ganz recht, mein Engelchen... Nur wird der sich nicht mit einer kleinen Erkundungsreise begnügen... Er hat in diesen Tälern das Schwert der Götter und den Stein der Wahrheit verloren. Dann hört er aus diesen Tälern von einem, der angeblich von den Göttern gesandt wurde und das Volk aufwiegelt. Und zu guter Letzt weiß er inzwischen, wer ihm vor ein paar Tagen ganz kräftig in den Hintern getreten hat.., nämlich du, die kleine Revolutionärin, die ihm schon lange ein Dorn im Auge ist...«
Er wartete die Wirkung seiner Worte ab. Antarona schwieg betreten. Aber er wusste, was nun in ihrem Kopf vorging. Nickend stimmte er ihren unausgesprochenen Gedanken zu und bekräftigte laut:
»Sehr richtig... Wenn der jetzt noch von einem Gerücht Wind bekommt, wonach sich die Hallen von Talris hier im Val Mentiér befinden, wird er nicht mehr bis zum nächsten Sommer warten... Der ist so fixiert auf das Gold.., ich meine auf die Tränen der Götter, dass er im Handumdrehen eine ganze Armee aufstellt und hier einmarschiert. Der wird nicht eher ruhen, bis er gefunden hat, wonach er sucht!« Sebastian erhaschte kurz Antaronas erschrockenen Gesichtsausdruck und wurde noch deutlicher, um ihr den Ernst der Sache plausibel zu machen.
»So wie ich das einschätze, nachdem, was du mir über diesen Verrückten erzählt hast, würde der sich jedes Dorf im Tal einzeln vorknöpfen. Er würde die Männer solange foltern und die Frauen und Mädchen so lange gegen ihren Willen nehmen lassen, bis ihm jemand das erzählt, was er wissen will... Und glaube mir, mein Engel.., so ehrenvoll und mutig die Menschenwesen deines Volkes auch sein mögen.., einen, oder eine wird es geben, der oder die aus Angst um ihre Kinder auspackt und ihm verrät, wo sich Sonnenherz aufhält, die Kriegerin, die sich ihm seit Jahren widersetzt und als einzige weiß, wo sich die Hallen von Talris befinden...«
»Sonnenherz wird sich von seinen Pferdesoldaten nicht fangen lassen und ihm auch nicht verraten, wo die Hallen der Götter sind...!«, fiel sie Sebastian trotzig ins Wort. »Das Volk wird kämpfen.., Ba - shtie, und sich niemals ergeben!« Offenbar glaubte sie fest daran. Lauknitz fiel es schwer, ihr die Illusionen zu nehmen, aber um ihrer und ihres Volkes Sicherheit willen, konnte er nicht anders.
»Nein...«, begann er prophetisch, »...du wirst dich sicher nicht fangen lassen... Du wirst freiwillig zu ihm gehen und ihm zeigen, was er begehrt!« Sebastian hatte es noch nicht ganz ausgesprochen, da stellte sich ihm das Krähenmädchen in den Weg und funkelte ihn aus wütenden Augen an.
»Niemals! Was redet ihr da, Ba - shtie.., niemals wird Sonnenherz das Erbe der Götter verraten und das Volk, und den, der unser wahrer König ist...«
»Doch.., wirst du, Antarona...«, entgegnete er ruhig und beinahe emotionslos. »Ich will dir auch sagen, warum!« Sebastian tat sich schwer mit dem Gedanken, den er ihr nun nicht mehr vorenthalten konnte.
»Torbuk und Karek brauchen dich gar nicht suchen zu lassen...«, erklärte er ihr sachlich, »...die treiben einfach alle Frauen und Kinder in den Dörfern zusammen, so, wie sie es schon mal getan haben, und fangen an, sie zu töten, oder tun ihnen noch Schlimmeres an. Das tun sie dann so lange, bis du freiwillig zu ihnen kommst und dich in ihre Hände begibst!« Sebastian machte eine kurze Pause und beobachtete das Krähenmädchen aus den Augenwinkeln, bevor er ihr den Rest der nüchternen Prophezeihung offenbarte.
»Und du wirst zu ihm gehen, Antarona.., ich weiß es! Denn du liebst dein Volk viel zu sehr, um mit ansehen zu können, wie es leidet und unter diesem Wahnsinnigen stirbt. Ich kenne dich inzwischen.., du würdest dich ohne zu zögern für dein Volk opfern!« Antarona sah stumm zu Boden. Sie wusste, dass Basti Recht hatte. Und sie war hilflos gegen diese Möglichkeit!
»Und das ist noch nicht alles...«, überraschte sie Sebastian mit einer weiteren Überlegung. »Dieser Irre wird sich nicht damit zufrieden geben, die Hallen von Talris gefunden zu haben. Dem sind die Götter, oder das Erbe des Volkes egal.., das hat er bereits bewiesen, indem er das Volk knechten lässt! Der will die Tränen der Götter! Er will sie für sich allein haben! Der würde das ganze Zeug in seine Burg schaffen wollen.., wie heißt sie noch gleich? Quartanas, Quaronas, oder so..?« Sebastian machte eine wegwerfende Handbewegung:
»Na unwichtig..! Auf jeden Fall würde er dein ganzes Volk versklaven und von deinen Leuten die Hallen von Talris auseinander reißen lassen. Der würde hier die gesamten Berge platt machen und nicht einen Stein auf dem anderen lassen, bis er auch die letzte Träne der Götter in seinen Händen hält!«
»Ba - shtie.., es sind Seen voller Tränen! Es sind zu viele von diesen glänzenden Steinen der Sonne, warum sollte er so viel davon haben wollen.., er kann sie nicht alle in seinen Schmiedefeuern verarbeiten.., er braucht sie nicht..!«, warf Antarona naiv ein.
»Das wird ihn trotzdem nicht davon abhalten, mein Engelchen...«, mahnte Sebastian. »Weißt du.., in dem Land, aus dem ich komme, gibt es viele Menschenwesen wie Torbuk und Karek.., nicht, dass sie das Volk ausschließlich unterdrücken und töten... Ich meine in dem Sinne, dass sie von Dingen, die ihnen wertvoll erscheinen nicht genug bekommen können...« Er wusste nicht recht, wie er es ihr veranschaulichen sollte...
»Also es gibt in meiner Welt viele Menschenwesen, die so viele Tränen der Götter besitzen, dass sie selbst nicht mehr ermessen können, wie viele davon sie tatsächlich besitzen. Aber sie hören nicht damit auf, noch mehr in ihren Besitz zu bringen. Sie alle wollen, dass sie davon noch mehr haben, als irgend jemand sonst und sie glauben, dass sie deshalb mächtiger sind, als alle anderen...« Sebastian suchte verzweifelt nach den richtigen Worten, die auch ein Naturkind wie Antarona verstehen konnte.
»Es ist so.., diese Menschen denken, wie auch Torbuk und Karek glauben, dass sie die Herrscher über alle Völker sind, wenn sie die meisten Tränen der Sonne besitzen. Verstehst du.., deshalb wollen sie immer mehr davon und es ist ihnen unwichtig, ob sie etwas damit anfangen können, oder nicht. Sie begehren es, solange noch etwas davon da ist, das sich vielleicht sonst ein anderer nehmen könnte!«
»So sind diese Menschenwesen nicht wie das Volk...«, stellte Antarona traurig fest, »...sie sind nicht gütig und klug, wie das Volk in unseren Tälern, die stets geben, wo ihre Nachbarn bedürfen.«
»Ja.., so ist das...«, pflichtete Sebastian ihr bei, »...die haben sicher nicht so ein sonniges Herz, wie du! Und wer hat schon behauptet, dass die Menschenwesen ohne Ausnahme klug und gütig sind? Menschen, die so sind wie du, oder der Wasserbauer, oder Väterchen Balmer.., die sind sehr dünn gesät, auf dieser Erde.., das kannst du mir glauben...« Noch bevor Antarona etwas dazu sagen konnte, erhob Lauknitz mahnend seine Stimme:
»Und eben aus diesem Grund, Antarona, darf niemand wissen, wo sich die Hallen von Talris befinden! Du musst es unter allen Umständen als ein dir anvertrautes Geheimnis schützen, wie eine Hüterin der Götterwesen das Erbe des Volkes bewahren.., verstehst du das?« Sebastian wartete keine Antwort ab, sondern fuhr eindringlich fort:
»Du darfst nicht einmal eine Andeutung machen, dass du etwas darüber weißt! Solange das Volk und alle anderen glauben, dass sich die Hallen von Talris bei den Göttern irgendwo im ewigen Eis befinden, wird es Torbuk und Karek nicht weiter interessieren. Sie werden weiterhin nur an eine Legende glauben, deren vermeintliche Schätze für sie unerreichbar sind... Du schützt dein Volk nur dann, Antarona, wenn du für alle Zeiten darüber schweigst!«
»Torbuk und Karek werden dennoch in die Täler reiten, denn wir haben ihre Pferdesoldaten angegriffen«, bemerkte Antarona zweifelnd. Sebastian nickte bedächtig, machte eine fahrige Handbewegung und stimmte ihr zu:
»Ja.., das denke ich auch... Aber ich glaube, wie du schon erwähnt hast, dass sie erst nach der Zeit von Schnee und Eis eine größere Aktion planen werden. Du hast gesagt, wir haben bereits die Zeit der fallenden Blätter...« Sebastian dachte nach. »In den Hochlagen hat es schon geschneit... Die werden wahrscheinlich erst mal getarnte Späher in die Dörfer schicken, um herauszufinden, was da vorgefallen war und wer dafür verantwortlich ist. Torbuk wird sich vorstellen können, dass nicht nur du allein seinen ganzen Reitertrupp vernichtet haben kannst.« Ein Blick zu Antarona zeigte ihm eine nicht ganz überzeugende Zustimmung.
»Dann kommt erst einmal der Schnee...«, resümierte Basti weiter, »...das heißt.., uns bleiben ein paar Monde Zeit, uns vorzubereiten. Torbuk hat im Moment alles, was er will. Er hat Sklaven, seine Bergwerke laufen und eigentlich gibt es hier für ihn im Moment nicht viel zu holen. Also.., warum sollte er sich das antun, sich in die Kälte zu begeben, wenn er auf seiner Burg mit dem Hintern vor’m Ofen hocken kann? ...Und wenn er es tatsächlich wagen sollte, im Winter in die Täler zu ziehen...«
Sebastian sprach den Satz nicht zu Ende. Statt dessen sah er sich um, fixierte interessiert die Berge mit ihren zum Teil steilen Hängen.
»Sag mal, Antarona.., hast du hier schon mal sehr viel Schnee ganz schnell von den Bergen herab kommen sehen?«, inszenierte er einen neuen Gedanken. Antarona sah ihn etwas verdutzt an, bestätigte aber seine Vermutung.
»In der Zeit des langen Schnees werfen die Götter sehr oft ganz viel Schnee in die Täler, früher verschwanden darunter die Hütten des Volkes, oder Reisende, die auf dem Weg nach Quaronas oder Falméra waren. Das Volk hat gelernt, wo der Schnee kommt und die Dörfer an anderer Stelle neu gebaut. Meist aber kommt der Schnee nur bis in die Wälder. Dort holen wir dann im Monat der erwachenden Blumen Holz für unsere Feuer und für den Bau unserer Hütten...«
»Das dachte ich mir«, unterbrach Basti sie zufrieden nickend. Und mehr zu sich selbst sprach er: »Die werden sich wundern, wenn ihnen einfällt, hier im Winter Stress zu machen...«
Eine Weile gingen sie schweigend nebeneinander her. Sebastian versuchte sich den Weg einzuprägen. Nur gab es eigentlich gar keinen Weg. Sie gingen durch das kurze Gras einer riesigen Hochalm, die sich wie ein Gürtel um die in den Himmel wachsenden Eisriesen herum zog. Immer neue Grate und Flanken tauchten bergwärts auf. Dazwischen leuchteten und blinkten Gletscherzungen und Schneefelder in der Sonne.
Auf der Talseite hingegen schien sich das Bild nicht zu verändern. Ausgedehnte Wälder und Schluchten schirmten die beiden Wandernden von den darunter liegenden Wiesen und Dörfern ab. Sebastian kam es beim Blick nach unten so vor, als traten sie auf der Stelle.
Ab und zu kamen Antaronas Krähen Tekla und Tonka angeflattert, oder saßen wie zufällig auf einem Felsen, an dem sie vorüber kamen. Lauknitz wusste, dass Antaronas gefiederte Freunde keineswegs irgendwo nur zufällig herumhockten. Sie waren Antaronas Augen, Ohren und Stimme zugleich über viele Kilometer hinweg.
Durch diese beiden Vögel war sie stets darüber informiert, was vor ihr, oder hinter ihr geschah. Sebastian malte sich aus, dass diese Tiere und natürlich Antaronas Fähigkeit mit ihnen zu kommunizieren, strategisch noch einmal sehr wichtig für sie werden würde.
Es wurde Nachmittag. Sie liefen Kilometer um Kilometer, doch das Landschaftsbild änderte sich kaum. Basti kannte diesen Eindruck noch von seinem Marsch, den er von Balmers Hütte aus unternommen hatte, um eine Stadt zu finden. Zu weitläufig und viel zu groß waren die Dimensionen.
Der Anblick dieses Landes täuschte über seine wahre Größe hinweg. Aus dem Grund der Täler betrachtet, schien es eine beschauliche und überschaubare Welt zu sein. Eine beengte, kleine Welt, von Felsen und Wald begrenzt.
Doch setzte man seinen Fuß auf die hohen Alpweiden und blickte hinab, so eröffnete sich einem eine Welt, die Grenzenlosigkeit vermittelte. In der Höhe wurde man von einer Verlorenheit ergriffen, die man rasch als endzeitig empfand. Sebastian schrieb das der enormen Höhe der Berge zu. Er hatte nie den Himalaya bereist, stellte sich aber vor, dort ein ähnliches Phänomen vorzufinden.
Eigentlich konnte er froh sein, denn er hatte ja Zeit seines Lebens so ein Fleckchen Erde zum Leben gesucht: Hohe Berge, eine überwältigende Landschaft, eine intakte Natur, fernab des Massentourismus. Doch in diesen Tälern gab es einige unschöne Tatsachen, die einem das friedliche Leben verleiden konnten, wie die schwarzen Reiter Torbuk und Kareks. Und Gore gehörten nach Sebastians Meinung auch nicht unbedingt in eine intakte alpine Natur!
Von einem zum anderen Mal blieben sie stehen und Antarona erklärte ihrem Mann von den Göttern die verschiedenen Kräuter und Pflanzen, sowie deren Anwendung. Nebenbei fragte er sie nach dem Land aus, über das sie schritten.
Lauknitz erfuhr mehr über die Mythologie und dass es ein gewisser Tramon war, der die Kriege der alten Könige überlebte und einst das Volk begründete. Antarona erzählte ihm von den drei Städten Quaronas, Falméra und Zarollon. Quaronas schien sich so gut wie vollständig in der Hand des verrückten Torbuk zu befinden. Falméra, eine Stadt auf einer Insel wurde offenbar von Bental, dem König des Landes regiert. Doch als Insel war die Stadt mitsamt ihrem Regenten von Torbuks Machenschaften und Intrigen mehr und mehr isoliert worden. Bentals Regentschaft besaß inzwischen nur noch rein akademischen Wert.
Zarollon, die Stadt im Norden war nach Antaronas Aussage neutral. Doch Sebastian konnte sich an zehn Fingern abzählen, wann Torbuk dort die Herrschaft übernahm, wenn Bental auf seinem Eiland isoliert blieb.
Doch bei all den Antworten, die er Antarona entlockte, blieb eine Frage nach wie vor ungeklärt. Nämlich diese, in welche, oder was für eine Welt Sebastian Lauknitz da geraten war. Je mehr er über dieses Land erfuhr, je mehr sich ihm über das Leben der Menschen in diesen Tälern offenbarte, desto skeptischer wurde er, überhaupt noch auf dem Planeten Erde zu sein.
Doch.., natürlich befand er sich auf der Erde! Es gab den Mond und die Sonne mit ihren bekannten Zyklen. Die meisten Pflanzen kannte er aus dem alpinen Raum seiner Heimat, wenn sie hier auch mit etwas mehr Üppigkeit gesegnet waren. Allein die Fauna bot unumstritten merkwürdige Mutanten.
In der Schule waren Geographie und Völkerkunde stets seine Lieblingsfächer. Er verschlang förmlich die Bücher, die ihm von fernen Ländern und der Entdeckung anderer Kulturen erzählten. Doch von einem Volk, das im 19. Jahrhundert noch derart mittelalterlich lebte und nicht einmal Spuren von moderner Zivilisation aufwies, hatte er nie gehört. Selbst zu den abgeschieden lebenden Naturvölkern Brasiliens und Neuguineas verirrte sich mal ein Kühlschrank, ein Autoreifen, oder ein altes Motorboot.
In Antaronas Welt schien es nicht nur solche Dinge nicht zu geben, die Menschen in diesen Tälern hatten offenbar auch noch nie technisches Gerät gesehen, oder davon gehört.
Es gab mittlerweile eine recht gute Sattelitenüberwachung des Planeten Erde, doch selbst die Amerikaner, die schon erkennen konnten, wenn ein sowjetischer Soldat gegen eine Atom-Rakete urinierte, hatten diese besiedelten Täler noch nicht entdeckt... Oder freilich die Preisgabe ihres Fundes der restlichen Welt vorenthalten.
Sebastian landete in seinen Theorien immer wieder dort, wo er schon einmal strandete: In einer Welt nach dem Tod.., so etwas, wie eine Prallelwelt, oder in einem groß angelegten Versuch irgendwo im Labyrinth des Himalaya, oder der Anden. Das Andengebirge erschien ihm aufgrund der von Antarona beschriebenen Nähe zum großen Wasser, einem Meer also, am plausibelsten.
Freilich konnte man einen so großen Versuch auf der Erde verstecken, wenn man das Gebiet exponiert genug auswählte und dafür sorgte, dass Satellitenbilder dieser Gegend nicht an die Öffentlichkeit gerieten. Aber das würde bedeuten, dass irgendeine Regierung auf diesem Planeten heimlich das größte völkerrechtliche Verbrechen seit Adolf Hitler beging!
Zwar wurden hier wohl keine Menschenmassen in Kammern vergast, doch Experimente mit ethnischen Gruppen, die viele Tote akzeptierten, waren auch nicht erlaubt! Wie passte diese Möglichkeit aber in das Bild der Vorstellung, dass Väterchen Balmer nach seiner Aussage bereits vor einer ganzen Generation unter Torbuks Gewaltherrschaft zu leiden hatte? Wie alt war dann dieses Experiment? Wollte hier jemand die Entwicklung der Menschheit an natürlichen Wesen in Echtzeit erforschen?
Sebastian war es fast lieber, in einer Welt nach dem Tod gelandet zu sein, als sich in einem groß angelegten, anthropologischen Experiment als Gefangener zu befinden, aus dem es kein Entfliehen gab, es sei denn...
Das Meer! Er musste sich mit Antarona zum Meer durchschlagen. Wenn es ihnen gelang, sich über den offenen Ozean weit genug von der Testzone zu entfernen... Oder war ein Fluchtweg durch dichte Wälder und über Gletscher sicherer?
Warum war noch niemand von außen in das Experiment eingedrungen? Wieso war bislang niemand aus dem Experiment ausgebrochen? Waren die Macher dieser Welt so mächtig, ein so großes Projekt, so lange geheim zu halten? Nun, die Nazis konnten ihre Vernichtungsanlagen in den KZ-Lagern auch für lange Zeit verbergen, bis alliierte Truppen diese fanden. Doch heute.., im Zeitalter von Satelliten?
Die Vereinigten Staaten von Amerika! Die mächtigste Regierung der Welt! Wer die Macht besaß, konnte auf diesem Planeten schalten und walten, wie es ihm beliebte, da war sich Sebastian sicher. Gab es da nicht schon in den fünfziger Jahren dieses Gerücht über ein Testgebiet in New Mexico.., über Außerirdische Lebensformen.., Area 51? Bis heute gab es darüber keine Klarheit. Das amerikanische Volk glaubte irgendwann den herbeigezogenen Wetterballon...
Was, wenn es dort schon erste Versuche gab? Pläne für ein primitives Volk, das man beobachten konnte, wie es mit Gore und mit übergroßen Felsenbären fertig wurde? Und wie lange es dauern würde, bis es sich gegen einen Tyrannen wie Torbuk auflehnte? Möglicherweise zu lange? Kam er, Sebastian Lauknitz ins Spiel, um die Entwicklung zu beschleunigen? Sollte er, Sebastian Lauknitz, eine Antwort auf die Fragen liefern: Was, wenn tatsächlich Götter.., Außerirdische eben, mit ihrer Technologie und ihrem Wissen die primitive Erdbevölkerung vor einigen tausend Jahren besucht hätten... Was hätte sich wie verändert? Ist unsere heutige Welt das Produkt eines Besuchs aus dem All?
Aber welche Rolle spielte dann Janine, oder Antarona in diesem Szenario? War sie die eingesetzte Garantie dafür, dass es einem Sebastian Lauknitz nicht einfiel, aus dem Projekt zu fliehen? Wurde hier seine Schwäche, seine Liebe zu ihr, schamlos ausgenutzt, um ihn an das vermeintliche Experiment zu binden? Konnte sie doch ein Klon sein, wie er es schon einmal vermutet hatte? Denn war es nicht ein unverschämter Zufall, dass ausgerechnet sie ihn am See gefunden hatte? Ein Zufall wie ein Lottogewinn! Forschend sah Basti seine Gefährtin von der Seite her an. Sie schien seinen bohrenden Blick zu spüren, lächelte ihn süß an und fragte:
»Was habt ihr, Ba - shtie.., warum seht ihr mich so seltsam an?« Er wusste nicht, was er sagen sollte und hätte am liebsten geschwiegen. Wäre da nicht Antaronas fordernder Blick gewesen.
»Sag mal...«, begann er umständlich seine Frage in Worte zu fassen, »...gibt es am großen Wasser, von dem du mir erzählt hast, Schiffe?«
»Was sind Shif -he?«, fragte sie mit staunendem Blick. Entweder war sie sehr raffiniert und ausgekocht, oder naiv und hatte tatsächlich keine Ahnung, wovon er sprach.
»Also.., Antarona, ich meine etwas, womit man auf dem großen Wasser fahren kann.., verstehst du? Wie kommen denn die Leute deines Volkes nach Falméra, auf die Insel des Königs? Sie werden ja wohl kaum über das Wasser laufen können, oder?«
»Ihr redet Unsinn, Ba - shtie.., niemand kann über Wasser laufen!« Antarona lachte ihn aus. Dabei fiel ihm auf, dass er Antarona das erste Mal richtig lachen sah, seit er ihr am See begegnet war. Stets gab sie sich nachdenklich, überlegen, traurig und geheimnisvoll. Jedoch nie fröhlich! In diesem Moment wurde ihm augenfällig, was er an ihr vermisst hatte, das er an Janine so schätzte: Der beinahe übermütige Schalk in ihrem Gesicht.., ihr Lachen! Bevor er sich noch darüber wundern konnte, klärte sie ihn auf:
»Ihr wisst nichts, Mann von den Göttern.., ihr wisst nicht, dass das Volk mit dem Wind auf den Wellen reitet! Das Volk hat Wagen und Karren, die mit Tüchern den Wind einfangen und ihm auf das große Wasser folgen und wieder zum Land zurück...« Plötzlich veränderte sich ihr Gesichtsausdruck und sie blickte nachdenklich, fast verzweifelt.
»Aber das Volk muss weit über das Wasser fahren, um nach Falméra zu kommen. Es geht auch nicht zu jeder Zeit, denn der Wind ist oft gegen uns und wir müssen lange warten, bis er sich einfangen lässt...«
»Also ist Falméra sehr weit vom Land entfernt, ja?«, unterbrach er sie. Antarona blieb stehen und wies mit der Hand zur gegenüber liegenden Bergkette hin.
»Es ist so weit, wie drei mal zur anderen Seite des Tals, in dem das Volk lebt, Ba - shtie. Torbuk und Karek haben dem Volk aber alle Wasserwagen genommen und bekämpfen alle Wagen, die versuchen, Falméra zu erreichen!«
»Aber wie...«, wunderte sich Lauknitz, »...kommt man dann auf die Insel zu König Bental?« Das Krähenmädchen hob die Hand und deutete über die Bergketten im Süden.
»Das Volk der Unbekleideten, das hinter den Bergen im Land der wachenden Sonne lebt, baut bessere Wasserwagen, als Torbuks Leute. Mit ihnen fährt das Volk in einem weiten Weg über das große Wasser nach Falméra. Die Unbekleideten bekommen dafür vom Volk Korn und Kräuter gegen die Fleckenkrankheit, oder Felle und Waffen. Aber manchmal gelingt es Torbuks Männern, die Wasserwagen der Unbekleideten zu zerstören und alle Menschenwesen müssen ertrinken!« Sebastian hörte aufmerksam zu und wollte gerade eine Frage stellen, als Antarona schon weiter erklärte:
»...nur die Vertrauten König Bentals müssen nicht über das Wasser fahren.., sie gehen unter dem großen Wasser hindurch zum Land und wieder zurück nach Falméra...«
»Ach, sieh mal an...«, unterbrach Basti ihren Bericht, »...und wie machen die das, ohne sich zu verschlucken? Da ist doch was faul.., aber ganz oberfaul!«, entfuhr es ihm. Antarona erwiderte mit unwissendem Blick:
»Sie können sicher unter dem großen Wasser atmen, wie die Wasserriesen und Fische... Aber niemand vom Volk hat sie jemals an Land kommen sehen.., sie sind einfach da und dann sind sie wieder weg.., nach Falméra!«
Sebastian sah seine Krähenfrau zweifelnd, ja fast schon belustigt an. Einerseits war sie analytisch, kritisch und außerordentlich lernfähig, auf der anderen Seite aber von einer kindlichen Einfältigkeit und Gutgläubigkeit, dass es schon an ausgemachte Dummheit grenzte.
»Also, pass mal auf, mein Sonnenherz...«, belehrte sie Sebastian, »...niemand, wenn er nicht ein Fisch ist, kann unter dem Wasser hindurch laufen. Schon der Druck des Wassers allein würde jedes Menschenwesen zerquetschen, wie eine Männerhand ein Stück nasses Brot! Also geht da irgend etwas nicht mit rechten Dingen zu!« Noch ehe Antarona antworten konnte, fragte Basti weiter:
»Was ist mit den Unbekleideten... Wer sind die.., und warum helfen die euch, nach Falméra zu kommen? Wieso nennst du sie die Unbekleideten
»Im Land der wandernden Sonne, wo die Unbekleideten leben, ist es so warm, dass kein Menschenwesen Kleider trägt, Ba - shtie. Das Volk und die Unbekleideten sind verbunden...«, klärte sie ihn auf, »...einst nahm sich Tramon eine schöne Tochter der Unbekleideten zur Frau, um die er mit seinen Königsbrüdern stritt. Der große, lange Krieg, Ba - shtie.., ich erzählte euch...«
»...Ja, ich erinnere mich, du hast davon berichtet, als wir über die heiligen Schwerter der Götter sprachen.«, warf Basti dazwischen, »...aber was hat diese Tochter der Unbekleideten mit Falméra zu tun?«
»Zu Ehren der schönen Tochter der Unbekleideten...«, erklärte Antarona unbeirrt weiter, »...welche Tramons Frau wurde, trugen seit dieser Zeit alle Mädchen und Frauen, die noch nicht einem Mann verbunden waren, das Gewand der Unbekleideten.., ihr seht es auch an mir, Ba - shtie! Dadurch sind unsere Völker auf ewig verbunden. Die Unbekleideten hassen Torbuk und Karek ebenso, wie das Volk sie hasst! Torbuks schwarze Reiter verschleppen viele aus dem Volk der Unbekleideten in die Berge, damit sie zusammen mit den Gefangenen aus dem Volk der Ival die Tränen der Götter aus dem Stein zu schlagen.«
»Warst du selbst einmal in Falméra?«, wollte Sebastian nun von ihr wissen. Denn ihm war nicht ganz klar, wie sie eine so lange Reise unternommen haben konnte, wenn sie kaum aus diesen Tälern heraus gekommen war.
»Zwei mal hat Sonnenherz Falméra besucht...«, überlegte sie, »...einmal mit einer Freundin und einmal allein.«
»Ach so, dann bist du also schon mal mit den Unbekleideten über das große Wasser gefahren«, stellte Sebastian fest.
»Nein...«, gab sie nüchtern zurück, »...Sonnenherz wurde von den Bewohnern des Meeres hinüber gebracht.« Sie sagte das mit einer Selbstverständlichkeit, dass Sebastian abrupt stehen blieb und sie ungläubig anglotzte.
»Wie soll ich das verstehen... Willst du etwa behaupten, die Fische hätten dich auf ihrem Rücken da hinüber getragen?«
»Ja, Ba - shtie.., die Fische, welche die Luft atmen, wie das Volk.., sie sind meine Freunde!« Was Antarona ihm da eröffnete, fiel im schwer zu glauben.
»Also.., Antarona, damit ich das jetzt richtig verstehe... Du schwimmst mit Walen, also mit den großen Tieren, die im großen Wasser leben, umher und brauchst gar keine Schiffe der Unbekleideten, um nach Falméra zu kommen?« In seinem Hinterkopf arbeitete es. Hatte nicht Vater Balmer davon berichtet, das Krähenmädchen sei einmal im Mondschein auf einem Meeresungeheuer durch die See reitend gesehen worden?
»Der Mond schien hell in der Nacht, als du auf dem Bewohner des großen Wassers heimlich nach Falméra geritten bist, nicht wahr, mein Engelchen.., war es nicht so?« Lauknitz wagte den Schuss ins Blaue und traf voll ins Schwarze! Zunächst war sie sichtlich verwirrt.
»Ihr wisst es...«, stellte sie dann entrüstet fest, »...die Götter haben es euch gesagt! Ba - shtie.., warum fragt ihr etwas, das ihr doch bereits wisst?« Das klang nicht wie eine Frage, eher war es ein Vorwurf.
»Na ja...«, schauspielerte Basti, »...der Gott, der mir das erzählt hat, war schon ziemlich alt, nicht mehr all zu flott mit den Füßen, aber um so mehr mit dem Mundwerk.« Aus Antaronas Gesicht sprach nach wie vor Verständnislosigkeit. Sie trug eine Ehrlichkeit und Natürlichkeit in sich, die Sebastian sehr schätzte.
Darin unterschied sie sich von Janine. Er musste sich eingestehen, dass Janine diese Eigenschaft nicht so ausgeprägt besessen hatte. Sie war wesentlich abgebrühter und auch mal bereit, eine Notlüge in Kauf zu nehmen, wenn es darum ging, sich einen Vorteil zu verschaffen.
»Was ist eigentlich mit diesem König Bental und den Menschen von Falméra.., haben die denn gar keine Schiffe.., äh, Wasserwagen mehr?«, wollte Sebastian wissen.
»Doch...«, bestätigte sie, »...aber die fahren nicht mehr an das Land von Quaronas. Die Shif - he von Falméra sind in einer Bucht, wo das große Wasser sehr wild ist und sie werden vom Volk bewacht. Sie fahren nur an den Tagen, wenn sich der Wind fangen lässt zum Land der Unbekleideten. Torbuk versucht die Shif - he zu zerstören, aber schafft das nicht oft. Seine Krieger können keine guten Shif - he bauen und sie können sie auch nicht wieder ganz machen, wenn sie in ein wildes Wasser geraten.«
»Aha...«, kombinierte Lauknitz laut, »...dann sind die Krieger von Quaronas also nicht unbedingt mit der größten Intelligenz ausgestattet.., das ist ja schon mal was...«
Er erinnerte sich an die Nacht, als sie die Frauen aus den Fängen von Torbuks Pferdesoldaten befreiten. Ihre Gefährlichkeit war sicher nicht zu unterschätzen, trotzdem verhielten sie sich wie ein dummer, unorganisierter Haufen Primaten. Keine großen Taktiker also.., jedenfalls nicht in den niederen Rängen... Das konnte dem Volk zum Vorteil gereichen, wenn...
Wenn es jemand fertig brachte, die gutmütigen Bauern des Volkes in Waffentechnik zu unterweisen, ihnen beibrachte, überlegt und im Team zu handeln, gnadenlos und konsequent einen Gegner anzugreifen und zu töten und vor allem, wenn jemand es schaffte, ihnen ein gesundes Selbstvertrauen beizubringen. Das zumindest schien ihnen gänzlich abhanden gekommen zu sein.
Kurz um, es bedurfte jemandes, der alle wehrhaften Männer der Dörfer neben ihrer handwerklichen und landwirtschaftlichen Arbeit zu guten Soldaten ausbildete. Für Antarona war das ziemlich einfach: Der Mann, den die Götter gesandt haben!
Doch dieser Mann von den Göttern war in seiner Welt nur ein passiver Wehrpflichtsoldat gewesen, der weitreichende Distanzwaffen im Frieden abgefeuert hatte. Krieg kannte er nur aus Fernsehfilmen. Sebastian war gespannt auf den Achterrat, den das Krähenmädchen ihm angekündigt hatte und wie dieser die Sache betrachtete.
»Sag mal, Antarona, wie weit ist es denn eigentlich noch bis zu diesem Achterrat?«, fragte er die Frau an seiner Seite.
»Dort, wo unser Weg auf dem Berg nach der erwachenden Sonne hin führt, werden wir in das Tal gehen. Ihr werdet dann meinen Vater sehen und den Achterrat«, war ihre knappe Antwort.
Nun war Basti ebenso schlau, wie zuvor. Woher sollte er wissen, wann der Weg nach Osten führen würde? Welcher Weg eigentlich? Sie marschierten nun schon zwei Tage lang durch die Wildnis dieser Berge und wenn es einen Weg gegeben hatte, so hatte Sebastian ihn schlicht übersehen.
Der einzige Vorteil, der sich aus dieser Route erwuchs, war das relativ überschaubare Gelände und das kurze Almgras, auf dem man sicherlich besser voran kam, als durch einen dichten, weglosen Wald, der dazu noch so unübersichtlich war, so dass hinter jedem Busch oder Baum eine Gefahr lauern konnte.
Sebastian lachte über seine eigenen Gedanken. Hier oben gab es natürlich keine Gefahr! Es gab keine hungrigen Felsenbären, keine blauen Blitze, die einem das Fell versengen möchten...
»Ihr freut euch, Ba - shtie..?«, fragte Antarona vergnügt, »...und seid guter Dinge?«, fügte sie noch hinzu, als er nicht gleich reagierte. Sebastian sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an und wurde sogleich ironisch:
»Ja.., natürlich.., ich bin unheimlich vergnügt..! Ich freue mich darüber, dass ich mit einem verletzten Fuß meilenweit über Berge latschen darf, deren Namen ich nicht mal kenne, dass mir irgend welche Riesenbären einen Heidenschreck einjagen, dass ich dreckig, hungrig, durstig und müde bin und dass man von mir erwartet, in einem Land, von dem ich so gut wie gar nichts weiß, eine Revolution mit einer Hand voll naiver Bauern anzuzetteln... Ja, mein sonniges Herz.., ich bin hoch erfreut und außerordentlich amüsiert!«
Sebastian ging davon aus, dass Antarona ihn wieder nicht verstehen würde, doch sein ansteigender, lauter werdender Tonfall ließ sie zumindest seine Stimmung erahnen.
Sie schwieg, denn sie spürte seine plötzliche Gereiztheit. Aber sie verstand ihn nicht. Er versprach ihr, in ihrem Kampf niemals von ihrer Seite zu weichen. Andererseits beklagte er sich ständig darüber, ihr helfen zu müssen. Sie kannte es ja von ihrem Vater und Bruder! Männer! Warum konnten sie nicht einfach etwas tun..? Warum mussten sie jedes Mal ein großes Aufhebens davon machen?
Insgeheim hatte sie gehofft, in Ba - shtie einen Mann an ihrer Seite zu haben, der Stärke und Mut bewies, der ein unerschrockener Krieger der Tat war, wie einst König Tramon. Heimlich bewunderte sie diesen König aus den überlieferten Geschichten, welche durch die Alten des Volkes bereits in die Ohren der Kinder gelangten. Tramon hatte sich für die Liebe zu einer Unbekleideten gegen alle Gesetze, sowie gegen seine eigenen Brüder gestellt und hatte unerschrocken mit jeder Faser seines Herzens um sie gekämpft. Dann legte er der schönen Prinzessin aus dem Land der wandernden Sonne sein Königreich zu Füßen und gründete mit ihr das Volk der Ival.
Sie träumte... Der Mann von den Götter befreite in einem mächtigen Handstreich ihr Volk. Dann konnte er in der Achtung des Volkes leben und sie würde mit ihm verbunden sein. Er würde ihren Kindern ein sicheres Zuhause geben, in dem alle Menschenwesen des Volkes in Frieden leben konnten und die Kinder würden die Geschichten hören, von dem Mann der Götter, der aus dem Reich der Toten kam, der das Volk befreit hat und sich eine Tochter des Volkes nahm, um sich mit ihr zu verbinden..., mit Sonnenherz, mit Antarona.., Antarona...
»Antarona..! Antarona.., hallo Engelchen.., bist du noch da?«, hörte sie den Mann an ihrer Seite plötzlich rufen. Wie kam er eigentlich dazu, sie andauernd En - el - hen zu nennen? Sie war Sonnenherz, die für das Volk kämpft! Nein.., im Grunde war sie nur wütend, weil er sie aus dem schönsten ihrer Träume gerissen hatte! Sie liebte die Stille über den Tälern, wo sie nach Herzenslust träumen, und der Stimme ihrer Mutter lauschen konnte...
Wieso fühlte ein Mann von den Göttern nicht die Stimmung, welche die Herzen der Menschenwesen fort trug, in eine andere Welt, ohne Torbuk und Karek, in der geliebte Brüder und Schwestern, Väter und Mütter noch vereint waren..?
»Antarona.., hörst du mich?«, klang Sebastians aufdringliche Stimme in ihre Gedanken vor, die gerade für einen Moment den ersehnten Frieden gefunden hatten. »Was ist mit dir? Wollen wir uns nicht langsam einen Lagerplatz suchen..? Es wird bald dunkel werden!« Allmählich nahm sie wieder das Land um sie herum wahr. Die Sonne stand bereits tief über den Bergen, wo sie zur Ruhe ging. Der Himmel und die einzelnen Wolken malten ein blutrotes Bild.
Sie blickte Sebastian an und lächelte ein wenig gekünstelt. Er trug einige trockene Hölzer in seinen Händen. Er hatte daran gedacht! Augenblicklich hob sich ihre Stimmung wieder.
Sebastian dachte daran, dass sie ein Feuer brauchen würden, wusste aber gleichzeitig, wie selten gutes Brennholz auf diesen Höhen zu finden war. Wo immer er ein Stück abgestorbenes, vertrocknetes Holz von Latschenkiefer oder Wacholder entdeckte, nahm er es mit. Stolz präsentierte er seiner Gefährtin die Reisigsammlung. Die quittierte sie mit einem anerkennenden Blick.
»Dort vorn, Ba - shtie, beim Tal der zornigen Götter.., dort werden wir die neue Sonne erwarten«, klärte sie ihn auf und wies mit ihrem Bogen voraus. Lauknitz dachte noch mit Schrecken an das Abenteuer, das sie gerade überlebt hatten und das Antarona vor einem Tag nüchtern mit Felsenburg angekündigt hatte. Was hatte er erst von zornigen Göttern zu erwarten?
»Was, o gütiger Himmel ist nun wieder das Tal der zornigen Götter?«, fragte Basti entsetzt. Antarona zeigte mit ihrem Bogen die Berghänge hinauf.
»Wir müssen das Tal schnell durchqueren. Wenn die Götter wütend werden, brechen sie große Stücke aus dem ewigen Eis und werfen damit nach den Menschenwesen, die zu nahe in ihre Welt vordringen!«
»Ach so ist das...«, brach Sebastian entrüstet in neuen Sarkasmus aus, »...tolle Götter sind das... Erst verbrennen sie einem den Pelz mit blauen Blitzen und dann schmeißen sie zur Abkühlung mit Eis! Ich bin echt beeindruckt.., ehrlich, Antarona! Eines kann ich dir garantieren: Wenn ich die Götter je wieder sehe, werde ich ihnen sagen, dass sie so etwas in Zukunft gefälligst lassen sollen!«
»Hinter dem Tal, wo das Eis liegt, das zu Stein wurde, werden wir unser Lager haben...«, setzte sie ihre Ausführungen unbeirrt fort. »Dort sind wir in der schlafenden Sonne sicher und geschützt!«
»Ach ja..?«, gab Basti knapp zurück. Er war es leid, seinem Krähenmädchen jede neue Überraschung auf ihrem Weg erst aus der Nase ziehen zu müssen. Entweder vergab sie solche Informationen bewusst wie Kostbarkeiten, oder sie war derart abgeklärt von ihrer Welt, dass sie an Eis werfenden Göttern nichts Ungewöhnliches mehr fand.
Sie gingen noch eine halbe Stunde der sich verabschiedenden Sonne entgegen, dann eröffnete sich Sebastian ein Anblick, der ihm wahrhaftig den Atem raubte. Ahnungslos war er Antarona über eine sanfte Erhebung gefolgt, als sich plötzlich eine große, etwa einen knappen Kilometer breite Senke vor ihnen auftat. Sie zog sich von den hohen Hängen der Berge herab, bis weit in das Tal hinein und war vermutlich das Relikt eines sehr alten Murgangs.
Oben am Berghang sah Lauknitz einen mächtigen Gletscher hängen. Die Eistürme und Firnflächen leuchteten orange und gold, als hätte sie jemand mit frischem Blut übergossen. Letzte Sonnenstrahlen lieferten sich im Chaos des Eisbruchs eine Schlacht, die alle nur erdenklichen Facetten des Lichts hervor brachten. Hier setzte die Natur ein optisches Abenteuer in Szene, das dem Betrachter ein flammendes Inferno suggerierte. Als wälzte sich ein sprühender Lavastrom den Berg herab, so spiegelte und brach sich das Licht der sterbenden Sonne in den Klüften, Eissäulen und Kristallen.
In die tiefer liegende Senke gelangten die Sonnenstrahlen nicht mehr. Doch erfassten sie noch häusergroße Eistrümmer, die wie rot glühende Riesendiamanten zu hunderten auf dem schattigen Teppich des Almgrases verstreut lagen. Wie von innen heraus leuchtende Steine boten die Eisblöcke ein faszinierendes Bild, das einem Naturkind wie Antarona sicherlich keine andere Erklärung bot, als die Allmacht ihrer Götter.
»Das Tal der zornigen Götter...«, raunte Antarona ehrfurchtsvoll, »...wir müssen langsam und vorsichtig gehen, Ba - shtie, um sie nicht zu wecken!«
»Nein...«, entgegnete Sebastian bestimmt, »...wir müssen schnell gehen.., damit sie uns nicht mit Eis bewerfen können!« Was für Antarona die unberechenbare Launen der Götter waren, entpuppte sich für Lauknitz als ein leicht zu erklärendes Phänomen der Natur, dessen Risiko kalkulierbar war. Je mehr die Intensität der Sonne abnahm, desto eher sank die Wahrscheinlichkeit des Eisschlags. Um so rascher man das Eistrümmerfeld durchquerte, desto sicherer gestaltete sich der Gang.
Eigenartigerweise folgte ihm das Krähenmädchen kommentarlos, als er ihr bedeutete, das Trümmerfeld zügig zu durchqueren. Dadurch, dass er sie aus dem Berg von Talris gerettet hatte, war ihr offenbar klar geworden, dass es gesünder war, ab und an auf den Mann von den Göttern zu hören.
Ohne zu halten marschierten sie durch die mächtigen Relikte des letzten Eisschlags. Hatte Sebastian geglaubt, im Handumdrehen das gefährdete Gebiet hinter sich bringen zu können, so war er einem großen Irrtum erlegen. Anderen Orts hätte diese Fehleinschätzung fatale Folgen haben können. Doch diesmal blieben die Götter friedlich.
Unbehelligt erreichten sie die andere Seite der Trümmersenke und befanden sich unvermittelt in einem Gewirr von einzeln daliegenden, meterhohen Felsbrocken, die der Gletscher irgendwann aus dem Moränenwall gebrochen und entlang der ganzen Rinne verteilt hatte. Zwei oder drei Steinwürfe weiter verschluckte tiefer Urwald das letzte Licht der Sonne. Wie eine schwarze Wand begrenzte er das Tal.
Gletscher und Eisbruch sahen aus dieser vertieften Perspektive noch bedrohlicher aus. Sebastian wusste jedoch, dass sie zwischen den Felsen relativ sicher sein würden, solange es dem Eispanzer nicht einfiel zu kalben. In einem solchen Fall würden Millionen Tonnen Eis und Firn zu Tal schieben, den Boden aufschrammen und alles niederwalzen, was sich im Weg befand.
Die Alternative, im Wald zu übernachten, empfand Basti als noch bedrohlicher. Er hatte bereits einen kleinen Vorgeschmack davon bekommen, welch seltsam entartete Fauna diese Welt für ihn bereit hielt. Weitere neue Überraschungen in dieser Hinsicht durften ruhig bis zum nächsten Morgen warten!
Im Schatten des bedrohlich wirkenden Waldes richteten sie sich zwischen grauen Steinriesen für die Nacht ein. Es wurde ein bescheidenes Lager. Sebastian sammelte etwas Holz und bemühte sich, dem finsteren Wald nicht zu nahe zu kommen. Antarona nahm unterdessen seine leeren Getränkeflaschen, die immer noch Objekt ihres Erstaunens waren und entfernte sich zu einem nahen Bach.
Lauknitz entfachte ein kleines Lagerfeuer und mit dem erwachen der Flammen wurde ihre kleine Welt zwischen den Felsen plötzlich wie abgeschieden. Der Gletscher, der Wald, selbst der letzte Schimmer der Sonne traten in den Hintergrund. Ein warmer, flackernder Schein legte sich über den grauen Stein der Felsen.
Während Antarona ein paar gesammelte Wurzeln zurecht schnitt und bemüht war, einigen Kräutern einen Tee zu entlocken, versuchte Sebastian sein Schwert zum Glänzen zu bringen. Diese Waffe, die er dem gesammelten Schrott in Antaronas Höhle entnommen hatte, war stumpf und von Flugrost übersät. Mit ein paar dem Basalt ähnlichen Steinen, die er bei der Felsenburg gefunden hatte, ließ sich die Schneide eher schlecht als recht anschleifen. Der oberflächliche Rost erwies sich als noch hartnäckiger. Wenn aus dieser Waffe ein blankes Schwert werden sollte, überlegte Basti, dann würde es noch reichlich Blasen an seinen Fingern geben. Doch dieses Stück Eisen gab ihm ein klein wenig Sicherheit in diesem Land voller unbekannter Gefahren. Er war froh über dieses Schwert, wenn es ihm auch viel zu schwer in der Hand lag.
»Macht die Klinge nicht zu scharf, Ba - shtie...«, sagte seine Gefährtin, die ihm interessiert zusah, »...sonst verletzt ihr euch eher selbst, als die Pferdesoldaten Torbuks.«
»Aber mit einer stumpfen Klinge kann man doch weder Haut noch Rüstung ritzen...«, warf Sebastian ein. Er sah nicht ein, dass sein ganzes Bemühen sinnlos sein sollte. Antarona nahm ihm sanft die Waffe aus der Hand und erklärte ihm:
»Ba - shtie.., ihr müsst sehen, wie der Feind kämpft.., ihr müsst eure Waffen nach dem Feind ausrichten, den ihr bekämpfen wollt. Die meisten von Torbuks Männer tragen Panzer, die sich biegen lassen, aber nicht schneiden. Wenn ihr das Schwert zu scharf und zu flach macht, ist es an der Schneide zu dünn. Es bekommt Dellen, oder bricht. Macht ihr aber eine starke Kante, so könnt ihr mit der Wucht eures Schlages dem Gegner die Knochen im Leib brechen, auch wenn er sich mit seinem Eisenhemd schützt.«
»Aber dein Schwert ist so scharf, es vermag sogar Stein zu schneiden...«, argumentierte er dagegen. Antarona sah in voller Stolz an.
»Nantakis vermag sogar die Panzer der Pferdesoldaten zu durchschneiden, wenn Antarona es will... Aber seht, Ba - shtie, es ist anders, als die Waffen der schwarzen Reiter... Es ist aus dem Metall der Götter gemacht, es ist unzerstörbar!«
»Nantakis?«, fragte Lauknitz verwundert, »...du gibst deinem Schwert einen Namen?« Sie nahm ihre Waffe so leicht in die Hand, wie zuvor Sebastians Plastikflaschen und strich ehrfürchtig mit ihrer zarten Hand über das kalte Metall. Dabei erklärte sie:
»Nantakis ist der Name dieses Schwertes, so, wie das des Königs Tálinos genannt wird. So haben alle vier Schwerter der Götter ihre Namen. Vaventis und Semparos, die anderen Schwerter hat Sonnenherz nie gesehen. Die Namen aber stehen in den alten Zeichen auf ihren Klingen geschrieben!« Sebastian nahm vorsichtig das Blatt Nantakis in die Hand und versuchte verzweifelt einen Schriftzug zu erkennen. Doch die Klinge war glatt, wie poliert.
»Aber dort steht doch gar nichts!«, gab er entrüstet zurück. Antarona hob ihre Waffe wie eine Feder zum Himmel und zielte mit der Spitze auf die Sichel des Mondes.
»Wenn die Sonne der Nacht.., der Mond, sich in volles Licht kleidet, Ba - shtie, werdet ihr die Worte sehen, die Nantakis jetzt noch verbirgt. Sie beschreiben den Weg zu den Götterwesen. Es sind die alten Zeichen aus der alten Zeit. Sonnenherz kann sie nicht lesen. Nur einige wenige der Alten wissen noch von der Schrift der Götter.«
Sebastian Lauknitz beließ es zunächst dabei. Er war purer Realist. Was er nicht sah und anfassen konnte, glaubte er nicht. Bis jetzt! Spätestens aber nach den Erlebnissen mit dem Gor und den Ereignissen in den Hallen von Talris geriet seine nüchterne, sachliche Weltanschauung mehr und mehr aus den Fugen. Mittlerweile wusste er auch, dass Antarona keineswegs das Wesen eines träumenden, phantasierenden Mädchens besaß.
Vieles vermochte sie nicht in Worte zu fassen und ihr Glaube an die Götter beeinflusste sie in allem, was sie tat. Dennoch stand sie dem Leben mit der nötigen Wirklichkeitsnähe gegenüber. So unwahrscheinlich es auch klingen mochte, wenn sie beschwor, das Schwert würde bei Vollmond eine Botschaft offenbaren, so zweifelte Sebastian keineswegs an der Wahrheit dieser Aussage. Mehr als einmal hatte ihm das Krähenmädchen bewiesen, dass ihre Worte ernst zu nehmen sind!
Im zuckenden Schein ihres Feuers verzehrten sie die Wurzeln und Antaronas Tee. Ein karges Mahl für Wanderer, die tagelang im Hochgebirge unterwegs waren! Der Tee schmeckte stark nach Minze und wärmte Bastis müden Körper. Die Wurzeln, die ihn vom Aussehen her an Sellerie erinnerten, entfalteten einen Geschmack, der dem eines Radis oder Rettichs gleich kam. Sie sättigten zwar nicht, gaben aber doch die Illusion, etwas im Magen zu haben.
Lauknitz mutmaßte, dass er mindestens zehn Kilo abgenommen hatte, seit er von Balmers Hütte aufgebrochen war. Ihn wunderte immer weniger, dass Antarona die Figur eines Models besaß. Auf sich bezogen befürchtete er allerdings, dass er spätestens in drei Wochen nur noch ein Strich in der Landschaft sein würde. Und diese Landschaft war groß! Sehr groß und weit!
Übermüdet und immer noch hungrig kroch er in seinen Schlafsack, nachdem er noch einige trockene Äste in das Feuer geworfen hatte. Antarona wühlte sich wie ein Eichhörnchen in ihre ausgebreiteten Felle, bis nur noch ein kleiner Schopf ihres rabenschwarzen Haares hervorlugte.
Sebastian ließ sich von der Phantasie hinreißen, ebenfalls zu Antarona unter die Felle zu kriechen. Eine unbeschreibliche Sehnsucht bohrte sich bei der Vorstellung in seinen Magen, ihre warme Haut an der seinen zu spüren. Dieser Gedanke ließ ihn nicht sofort einschlafen. Im Gegenteil hatte er das Gefühl, in ewig währenden Stunden sich nach Antaronas Wärme zu verzehren, bis die Müdigkeit ihn von seinen quälenden Gefühlen erlöste.

Irgendwann drang ein Geräusch an Sebastians Ohren, das nicht friedlich war. Es gehörte nicht in die Natur dieser einsamen weiten Landschaft. Ganz leise erst war es zu vernehmen und zunächst schien es wieder zu verstummen. Doch da war es wieder..., eindringlich, fordernd, bedrohlich. Es klang wie das Herannahen eines Güterzuges. Das Rauschen und Rumpeln setzte sich mit einer aufdringlichen Hartnäckigkeit in seinem Kopf fest.
Basti setzte sich benommen auf und sah sich um. Er war allein. Antaronas Schlafstelle lag verlassen da. Ihre Waffen fehlten ebenfalls. Lediglich ihre Felle lagen unordentlich herum, als wäre sie in panischer Hast aufgebrochen. Das Geräusch indes nahm allmählich an Stärke zu.
Sebastian wurde unruhig. Er konnte seine Geliebte nirgends entdecken. Statt dessen gewahrte er, dass dunkle Wolken am Horizont aufgezogen waren. Das Wetter hatte sich über Nacht geändert! Wie eine schwere düstere Last hingen die regenträchtigen Gebilde über dem weiten Land. In kürzester Zeit würde ein Gewitter über ihnen hereinbrechen. Und Antarona war fort, fast unbekleidet, der Gewalt des nahenden Unwetters ausgeliefert!
Lauknitz sah in der Ferne helle Blitze zucken. Jedoch donnerte es noch nicht. Nur das dröhnende Geräusch nahm an Stärke zu, schien sich wie die Apokalypse selbst, mit den finsteren Wolken über ihnen zusammenzubrauen. Schon kam ein kräftiger, kalter Wind auf, fuhr wie eine unsichtbare Macht über das Land, bog die Bäume und Sträucher nieder, hauste durch das Gras und wirbelte Blätter, Zweige und Staub auf. Wie ein vorüber huschender Geist legte er sich ebenso rasch, wie er aufgetreten war.
Kein Hauch regte sich mehr. Die Luft schien erstarrt. Einzig der zum Tosen angewachsene Lärm des Güterzuges blieb. Es kam unaufhaltsam näher, begleitet von den schwarzen, fast violetten Wolken, die ihren Schatten weit über das Land voraus warfen. Aus den Augenwinkeln gewahrte Sebastian eine Bewegung, unscheinbar nur in der Weite der Bergwelt, aber alarmierend genug. Antarona!
Etwa hundert Meter unter ihrem Lagerplatz stand sie auf dem Weg, den sie gestern gekommen waren. Wie die Statue einer göttlichen Kriegerin verharrte sie reglos, ihr Schwert in der Hand, dem nahen Waldrand und der schnell aufziehenden Wetterfront zugewandt.
Sebastian spürte nicht einen Luftzug, dennoch fuhr ein kräftiger Wind durch Antaronas Haar, wirbelte es auf und ließ es um ihre Schultern tanzen. Die nächste Böe griff in ihren kurzen Lendenschurz und schlug ihn ihr um die langen Beine. Das Krähenmädchen jedoch stand wie versteinert im aufwirbelnden Staub, als erwartete sie eine unsichtbare Bedrohung.
Das anfänglich hintergründige Geräusch steigerte sich binnen weniger Augenblicke zu einem infernalischen Lärm, einem donnernden Grollen, das aus den tief liegenden Wolken und dem Wald gleichermaßen hervorzudringen schien. Blitze, viel näher, als noch vor einer Minute, schossen aus dem Wolkengebräu und schlugen zwischen den Bäumen ein.
Sebastian wollte aufspringen und zu seiner Gefährtin laufen, doch irgend etwas hielt ihn fest, als wäre er von einer völligen Lähmung befallen. Je mehr er sich dagegen wehrte, desto stärker hemmte die unbekannte Macht seine Bewegungen. Er sah zu Antarona hinab, die sich in einer energischen Bewegung ihren Bogen und den Köcher mit den Pfeilen von der Schulter riss und neben sich in den Sand des Weges warf.
Nein..! Das durfte sie nicht! Sebastian spürte, dass sie ohne ihre einzige Distanzwaffe verloren war. Basti kam mühsam hoch, ein geheimnisvoller Magnet schien ihn zurück zu halten und er stemmte sich mit all seiner Kraft dagegen. Es wurde nur eine langsame, müde Geste.
»Antarona..!«, schrie er, so laut er konnte, gegen den Wind an, den er sehen konnte, aber nicht spürte, »...Antarona.., spann deinen Bogen.., da kommt irgend etwas.., nimm deinen Bogen.., ich komme zu dir..!«
Doch er kam nicht. Er konnte nicht. Die unbekannte Macht hemmte sein Bemühen, als bewegte er sich in sirupdicker Luft. Antarona musste seinen Schrei gehört haben. Sie drehte sich zu ihm um. Der Wind schlug den Lederschurz um ihre Hüfte und peitschte ihr das lange, schwarze Haar ins Gesicht. Sie hatte Mühe, sich die wehenden Strähnen aus den Augen zu wischen und sah angestrengt zu Sebastian herauf.
In diesem Moment brach plötzlich eine große Schar schwarzer Reiter aus dem Wald hervor, begleitet von schwarzen Wolken, aus denen Blitz und Donner auf die Erde fuhr. Torbuks wilde Horden! In rasendem Galopp und mit erhobenen Waffen ritten sie auf Antarona zu. Antarona jedoch sah die Bedrohung nicht, sie hörte sie auch nicht, blickte immer noch verwundert zu Sebastian herauf, in die Richtung, aus der sie seinen Schrei gehört hatte.
Ihre kaum bekleidete Gestalt mit den durcheinander wirbelnden Haaren erschien Sebastian so verletzlich, wie ein kleine, zierliche Elfe in einem wütenden Orkan. Sie sah nicht die Gefahr, die sich ihr rasend schnell näherte. Sebastian kämpfte mit der letzten Hoffnung eines Ertrinkenden gegen seine Lähmung an, um zu ihr zu laufen, um sie zu beschützen. Es gelang ihm nicht. Jede seiner Regungen wurde wider seinen Gedanken in einer willenlosen, kaum sichtbaren Anstrengung erstickt.
»Antarona..!«, brüllte er halb wahnsinnig vor Angst, »...Antarona.., pass auf.., sieh dich um.., komm hier rauf zu mir..!« Aber seine Gefährtin konnte ihn nicht hören. Sie starrte zu ihm herauf und bemerkte nicht den Reitertross, der auf sie zuhielt. Sebastian brüllte angesichts der Ausweglosigkeit, in der sich die Frau befand, die er so sehr liebte. Er schrie bis an seine Besinnungslosigkeit. Es nützte nichts. Hilflos musste er mit ansehen, was seinen unbarmherzigen Lauf nahm...
Wie ein Sturm kamen die Reiter auf Antarona zugeprescht. Kurz bevor sie das Krähenmädchen erreichten, rissen sie die Zügel grausam herum, so dass sich die Pferde in einem chaotischen Durcheinander aufbäumten. Die schwarzen Soldaten sprangen zielstrebig aus den Sätteln und schritten in geschlossener Front auf Antarona zu. Erst im allerletzten Augenblick gewahrte sie die drohenden Schatten der Reiter.
Sie wich erschrocken zurück, stolperte, und einen Lidschlag später schlug ihr Körper auf dem staubigen Boden auf. Sofort waren die Reiter über ihr. Den ersten spießte sie noch mit ihrem Schwert auf und warf ihn mit aller Kraft auf die Seite. Ihr Schwert blieb in dem zappelnden Leib stecken und wurde für sie unerreichbar. In wilder Verzweiflung drehte sie sich wirbelnd im Staub herum, versuchte sich ihren Bogen und den Pfeilköcher zu angeln. Doch sie erreichte die Waffen nicht mehr. Die ersten groben Hände umfassten ihre Fußknöchel und rissen sie gnadenlos durch den Staub zurück. Sie wehrte sich mit der Wildheit einer Raubkatze, strampelte und schlug mit den Armen um sich, aber es war hoffnungslos.
In fast animalischer Panik kratzte Antarona einem Reiter die Augen aus, der sich laut brüllend abwandte und sich seine tellergroßen Hände vor das Gesicht presste. Sofort griffen andere Hände nach ihren Beinen, ihrer Hüfte, ihren Schultern und nagelten sie auf dem Boden fest. Das Schicksal zwang Sebastian zuzusehen...
Quälend langsam kam er auf die Knie. Die lähmende Kraft verhinderte aber, dass er sich aufrichten konnte. Er gewahrte nur noch eine Staubwolke an der Stelle, wo er eben noch seine Antarona hatte verbissen kämpfen sehen. Ein Pulk von Soldaten beugte sich über die Stelle an der Sebastian sein Krähenmädchen vermutete. Ein Soldat riss Antaronas Schwert aus dem Staub in die Höhe. Sebastian erblickte entsetzt, wogegen sich sein Geist weiter wehrte. Ihr Lederschurz baumelte an der Spitze des Schwertes.., dann griff der Wind danach.., wirbelte das dünne Leder hoch und wehte es unbarmherzig in weiten, langsamen Wirbeln fort...
Sebastian Lauknitz schlug sich die Hände vor die Augen, wiegte seinen Körper auf den Knien hin und zurück und schrie. Er brüllte den Schmerz in diese unerbittliche Welt hinaus, die sein Leben, seine Hoffnungen und seine tiefe Liebe zerstörte und ihm das Herz aus der Brust riss. Benommen und doch wach war er gefangen in dem quälenden Zustand, das Schicksal ertragen zu müssen, das ihm soeben eine Kettenkugel in den Bauch gerammt und wieder herausgerissen hatte.
Im Sturm, der jetzt auch über ihn hereinbrach, streckte er dem Himmel seine Arme entgegen. Alle Verzweiflung, Wut und Trauer entfuhr ihm mit einem einzigen Satz, in sterbender Stimme an das gerichtet, was scheinbar über allem stand:
»Wieso..? Warum.., ihr auf ewig verfluchten Götter.., warum habt ihr sie mir wieder weggenommen..?« Dann stammelte nur noch seine zerbrochene, flüsternde Seele und sein Oberkörper senkte sich zitternd auf die Knie. »Warum so.., wieso auf diese Weise.., wa - rum..?«
Sebastian schlug flehend die Augen auf, in der Hoffnung, dass ihm sein Geist einen fürchterlichen Streich gespielt hatte. Sein starrer Blick richtete sich in unendliche Weite. Wie durch einen Nebel sah er die Pferdesoldaten zu ihm den Hang heraufkommen. Der Staub auf dem Weg darunter hatte sich verzogen. Ein dunkles, leicht mit Sand bedecktes Häuflein blieb hinter den Reitern achtlos auf dem Weg liegen. Hemmungslos rannen die Tränen stiller Schreie über Sebastians Gesicht.
Verschwommen sah er die schwarzen Männer auf sich zu hetzen. Es berührte ihn nicht mehr. Sebastian Lauknitz Weg war hier zu Ende. Sein Leben hatte aufgehört, als er Antarona unter der erdrückenden Masse brutaler, geifernder Soldaten verschwinden sah...
Der Soldat, der ihn als erstes erreichte, packte ihn bei den Schultern und schüttelte ihn gnadenlos durch, laut brüllend, etwas, das Sebastians Verstand jedoch nicht mehr wahr nahm. Er wollte nur noch im Nichts versinken! Mit müden Worten versuchte er sich gegen alle Einflüsse zu wehren:
»Was wollt ihr denn noch von mir..? Ihr habt mich bereits getötet.., lasst mich doch einfach los.., einfach nur in Ruhe...«
Das Schütteln an seinen Schultern hörte nicht auf. Wie aus weiter Ferne drang eine Stimme in seinen Kopf. Antaronas Stimme? Sprach sie schon aus einer anderen Welt zu ihm.., aus einer Welt nach dem Tod? Aber waren sie beide nicht schon in einer Welt nach dem Tod gewesen..? Sebastian wollte nicht mehr nachdenken. Doch etwas Unbestimmtes, Lästiges und Zähes, ein nicht Ruhe geben wollender Gedanke schleppte sich noch durch seine Gehirngänge... Er musste ihm zuhören!
»Ba - shtie.., was habt ihr.., kommt zu euch.., bitte.., wacht auf...« War das Antarona? Sebastian strengte seinen Kopf an. Wie konnte sie noch zu ihm sprechen, nachdem Torbuks Männer sie... Wieder das störende Schütteln, das fast seinen Kopf platzen ließ.
»Ba - shtie - laug - nids.., hört ihr mich..? Ihr müsst aufwachen.., ihr seid mit der Mutter der Nacht gewandert... Eure Wanderung ist nun vorbei! Ba - shtie, seht mich an..!« Zu der befehlenden Stimme verspürte er einen stechenden Schmerz auf seiner Wange. Erschrocken riss er seine Augen auf...
Herausgerissen aus endlos schwarzer Tiefe blinzelte Sebastian Lauknitz in die helle Sonne. Und in Antaronas besorgtes Gesicht. Er brauchte eine Minute, um zu begreifen. Plötzlich liefen ihm die Tränen in Bächen über das Gesicht.
Trotz ihres erstaunten, überraschten Blickes zog Sebastian den warmen Körper Antaronas mit zitternden Armen an sich. Seine Tränen zwängen sich zwischen die Hautpartien, die sich berührten und klebten ihre beiden Leiber zusammen.
»Antarona.., mein Gott.., du bist da.., du lebst...«, brachte er mit leiser, bebender Stimme hervor, »...ich habe geglaubt, dass ich dich für immer verloren habe... Ich bin so glücklich, dass du hier bist...« Er hielt sie zitternd fest, drückte dankbar sein Gesicht auf ihre Brust und ließ seinen Freudentränen hemmungslos freien Lauf. Antarona ließ es geschehen. Ihre Hände wanderten mütterlich behütend über seinen Kopf.
»Ihr seid mit der Mutter der Nacht gewandert, Ba - shtie.., es ist nun vorbei.., ihr dürft wieder in den Tag blicken...« Sebastian spürte ihren Atem, fühlte, wie sich ihre Brust hob und senkte. Er genoss das Gefühl, ins Leben zurück zu kehren. Eine tief empfundene Dankbarkeit ließ ihn beinahe fliegen. Die Dankbarkeit, dass alles nur ein böser Traum gewesen war. Antarona küsste ihn flüchtig und sah ihm dann tief in die Augen, ebenso, wie er in die ihren blickte. Er schaute in sie hinein, wie man in einem Buch der Erkenntnis las.
»Ba - shtie.., was auch immer die Mutter der Nacht euch hat sehen lassen.., es ist wahr!« Antarona sprach beinahe prophetisch.
»Es ist nicht so wahr, wie das Gras, die Bäume und der Regen...«, fuhr sie feierlich fort, »...es ist aber so wahr, wie die Gedanken, die man niemandem preis gibt, wie das, was in einem jeden Herzen verborgen wohnt..! Ihr müsst euch jetzt keine Sorgen mehr machen, Ba - shtie.., es ist vorbei!«
Sebastian zog sie wieder an sich heran, hielt sie so fest, wie eine heilige Reliquie, die unter allen Umständen vor allem Bösen beschützt werden musste und flüsterte bestimmt:
»Doch, mein Engelchen.., ich mache mir Sorgen.., denn es ist noch nicht vorbei..,« Erneut brachen Tränen aus ihm heraus. »...ich habe dich heute Nacht sterben sehen... Und dann ist mein Herz gestorben... Ich weiß, dass es eine Warnung war.., ich spüre es einfach, weißt du... Ja, ich mache mir Sorgen.., Sorgen um dich!«
Sebastian blickte sie ernst an, bis er sicher war, dass sie ihm zuhörte. Dann sprach er mit einer Sicherheit weiter, die einer Feststellung gleich kam:
»Antarona.., egal, was auch immer hier noch geschehen wird.., ich will nicht, dass du dich jemals wieder in Gefahr und vor allem nicht in die Nähe von Torbuks Soldaten bringst! Versprich mir das, ja?« Er wartete erst gar keine Antwort ab und redete leise weiter:
»...Ich liebe dich über alles.., und musste dich von der Hand der schwarzen Soldaten sterben sehen.., deine Mutter der Nacht hat es mir gezeigt... Es war das Schlimmste, was ich mir überhaupt vorstellen kann... Dann ist mein Herz gestorben.., ist einfach auseinander gerissen... Mein Engel.., das will ich niemals wirklich erleben.., hörst du..? Niemals! Ich möchte, dass du für immer bei mir bist und keine Macht dieser Welt uns trennt...«
Als Antarona nicht antwortete und ihre Augen seinem Blick auswichen, wusste Sebastian, dass sie sich in ihrem Kampf gegen Torbuk und alle anderen Ungerechtigkeiten gegen das Volk nie heraus halten würde. Er ahnte, dass er, Antarona und ein Herz unter ihrem Herzen erst dann möglich war, wenn Torbuks Macht gebrochen war. Bis dahin, das war ihm klar, war es ein weiter Weg. Vielleicht zu weit?
Dennoch. Sebastian spürte das immer stärker werdende, knisternde Verlangen zwischen ihnen. Und der Gedanke, dass es sich in gar nicht allzu ferner Zukunft entladen könnte, gab ihm Hoffnung. Doch die Frage, warum Antarona so lange zögerte, rüttelte ständig an der Mauer dieser Hoffnung. Diese bohrende Angst, irgend etwas, mit dem Basti noch nicht gerechnet hatte, könnte noch zwischen Ihnen stehen, und könnte ein Grund für Antaronas Unentschlossenheit sein...
Unter Antaronas besorgten Augen rappelte sich Sebastian hoch, noch benommen von dem Ereignis, das ihn die Mutter der Nacht hatte sehen lassen. Lauknitz war nüchterner Realist. Dennoch wusste er aus Lebenserfahrung um die Bedeutung von Träumen. Sie waren der Ablaufbehälter der Seele, der sich füllte, wenn das Überdruckventil des Geistes nachgab. Sehnsüchte, Ängste und Hoffnungen gestalteten sich im Geiste zu laufenden Bildern aus, wenn der Körper zur Ruhe kam.
Der Geist ruhte nie. Er war für Sebastian so etwas, wie eine heimliche Schatztruhe, in der man herumwühlte, wenn niemand zusah. All das, was in der Seele des Menschen im Verborgenen blieb, wurde herausgekramt, betrachtet, aufgearbeitet. Alles Unterdrückte wurde lebendig, nahm Gestalt an, lief ab, wie ein nie gezeigter, tief im Archiv versteckter Kinofilm.
Bislang glaubte Sebastian, ausschließlich allein die Fähigkeit zu besitzen, die Erinnerung an Träume in geheime Gefühle und Gedanken des Traumreisenden übersetzen zu können. Jetzt vermutete er, dass zumindest Antarona ebenfalls den Weg in die verborgenen Schatzkammern des menschlichen Geistes kannte...
Was für eine Frau! Sie zog ihn immer mehr in ihren süßen Bann! Aber wo war der Haken? War sie der perfekte Traum eines jeden Mannes? Nein, das konnte nicht sein.., es gab immer einen Haken.., er kannte ihn nur noch nicht! Fasziniert, gleichzeitig misstrauisch sah er sie an, als könnte er ein Makel an ihrer Engelhaftigkeit entdecken.
»Was seht ihr mich so an, Ba - shtie...«, fragte sie ihn fast vorwurfsvoll, als sie seinen forschenden Blick auf sich ruhen sah, »...weckt nicht die Mutter der Nacht in der Sonne des Tages, Mann von den Göttern.., sonst verliert ihr den Blick für das Leben...«
Was für eine Frau! Ein Poet hätte es nicht besser formulieren können. In ihrer Einfachheit verbarg sich eine Tiefsinnigkeit, die, einmal ans Licht gelangt, Gemüter bewegen konnte. Was für eine Frau! Sie trug etwas göttliches in ihrem Herzen. Etwas zwischen Mut, Entschlossenheit, Unbändigkeit und Güte, Einfühlsamkeit und Mütterlichkeit. Was für eine Frau..! Aber wo war der Haken?
Sebastian schüttelte unmerklich den Kopf, als wollte er alle negativen Möglichkeiten in Bezug auf die Frau, die er liebte und anhimmelte, als lästige Gedanken abschütteln. Was machte er sich überhaupt einen dicken Kopf darüber? Es stand sowieso für ihn fest, nicht mehr ohne Antarona durchs Leben zu gehen, egal welche Widrigkeiten sich ihm in den Weg stellen würden.
Er würde alles bekämpfen und beseitigen, was zwischen ihnen stand! Und im Augenblick war dies ein Tyrann, der mit seiner Armee ein ganzes Volk unterdrückte. Plötzlich war Sebastian entschlossen, Antaronas fixe Idee umzusetzen. Er war bereit, einen Krieg zu führen, der ihn im Grunde nichts anging und der, zumindest im Augenblick, aussichtslos erschien. Was Liebe so alles bewegen konnte... Was für eine Frau..!
Blauer Himmel und sommerliche Hitze bestimmten den Tag. Sebastian viel es schwer zu glauben, dass es bereits Herbst war. In der Welt, aus der er aufgebrochen war, seinen Schatz zu retten, sah der Herbst anders aus. Nasse Kälte bestimmte dort seine Tage auf dem Baugerüst. Zumindest in diesem Punkt hatte er es hier besser getroffen!
Ihre paar Habseligkeiten waren schnell zusammen gepackt und der böse Traum dorthin verbannt, von wo er gekommen war. Basti versuchte seine Ängste um Antarona zu verdrängen... Bis zur nächsten Nacht.
Mit knurrendem Magen, denn ihr Proviant hatte sich nun restlos in Luft aufgelöst, setzten sie ihren Weg fort. Die wärmenden Sonnenstrahlen im Rücken, traten sie in den Wald ein. Ein Blick zurück erzählte Sebastian, dass irgendwann in der Nacht, oder am frühen Morgen ein Eisschlag vom Gletscher herabgesaust kam. Schneeweiße, mächtige Eisbrocken glitzerten in der Morgensonne, die am Vortag noch nicht da waren. Das Donnergrollen aus seinem Traum!
Beflügelt durch das schöne Wetter verließen sie die Weiden und betraten den Wald. Eine völlig andere Welt verschluckte sie. Das grüne Dach, von dem sie augenblicklich umhüllt waren, erschien Sebastian als etwas lebendiges. Der leichte Höhenwind sorgte für millionenfache Bewegung über ihren Köpfen. Sonnenlicht traf sporadisch und ohne jede Regelmäßigkeit den Boden. In einem Spiel tanzender, hin und her springender Strahlenlanzen wurde selbst die frische Luft des beginnenden Tages lebendig.
Ein Konzert vom Gezwitscher der Vögel erfüllte die Umgebung. Es war die Klangfarbe der Stimmen, die Sebastian auch aus seinen heimischen Wäldern kannte, jedoch um ein vielfaches artenreicher und intensiver. Alles leuchtete. Der Wald, seine Geräusche, der Himmel... Sebastian hatte das Gefühl, aus einem langen Winter in einen erlösenden Frühling zu wandern. An diesem Morgen war so gar nichts von einem Herbsttag. Dieser Morgen strahlte und sang!
Einzig der Anblick seiner Gefährtin erinnerte ihn daran, dass sie sich durch unübersichtliches Gelände bewegten. Antarona hatte ihr Schwert in der Hand, bereit sich augenblicklich gegen einen möglichen Feind zu verteidigen. Ihre Sinne waren angespannt. Wie eine Raubtier drehte sie ständig den Kopf, um Geräusche besser wahrnehmen zu können. Jeder ungewöhnliche Laut ließ sie in der Bewegung erstarren und lauschen.
Dabei bewegte sie sich so gut wie lautlos durch das Unterholz. Einer Schlange gleich suchte sie sich ihren Weg, ihr biegsamer, trainierter Körper wich automatisch jedem Ast und jedem Zweig aus, huschte unter umgestürzten Baumriesen hindurch, wand sich durch dichtes Gestrüpp und verursachte dabei nicht mehr Lärm, als eine Eidechse bei der Futtersuche.
Das Krähenmädchen fühlte die Umgebung, wurde eins mit dem Wald. Sebastian war davon überzeugt, dass sie ihren Weg selbst mit verbundenen Augen unbeschadet hätte fortsetzen können. Ihre Sinne mussten schärfer sein, als Basti für möglich hielt. Als hätte sie seine Gedanken hören können, drehte sie sich plötzlich zu ihm um.
»Wenn ihr am frühen Tag den Wald betretet, dann werden euch die Blätter am Boden geräuschlos tragen, Ba - shtie...«, erklärte sie ihm leise, »...in der Zeit der hohen Sonne jedoch verraten sie euch!«
»Wieso das?«, wollte er wissen. Allerdings vermutete er bereits, auf welchen Gedanken sie hinaus wollte.
»Am Morgen ist alles am Boden weich und feucht von den Nebeln der Nacht. Ein jedes Blatt biegt sich ohne einen Laut, ein Zweig knickt und bricht nicht, Ba - shtie!«, kam die bestätigende Antwort. Einen Moment lang sah sie ihn an, eindringlich und bedeutsam, als würde der folgende Satz den wesentlicheren Teil ihrer Belehrung beinhalten und Sebastian vermutete, dass sie einen ganz bestimmten Zweck verfolgte.
»Wenn ihr in den Wäldern einen gefährlichen Feind sucht, Laug - nids, dann geht am besten bei Regen. Haltet aber eure Sinne offen! Und hütet euch davor, bei Regen in den Wäldern umher zu schleichen, wenn ihr selbst von einem gefährlichen Gegner gejagt werdet und die Angst spürt! Der Wald ist nur dann euer Freund, wenn ihr überlegen seid!«
Sebastian wähnte sich in die Lederstrumpf Geschichten entrückt, die er als Jugendlicher gelesen hatte. Antarona verkörperte für ihn das Bild des letzten Mohikaners. Was sie sagte, klang jedoch plausibel. Nur... Ob er in einer ernsten Situation noch Zeit hatte, an ihre Ratschläge zu denken?
Drei Stunden später entließ sie der Wald in eine neue Hochebene, scheinbar noch höher und ausgesetzter, als die, welche sie am Morgen verlassen hatten. Bis weit zu den Geröllfeldern und Eispanzern der Gletscher zogen sich die Hänge hinauf. Das ganze Land erstrahlte in der Sonne des Tages.
Weit unten, in der Tiefe des Talgrunds erkannte Sebastian winzig klein die Stelle, an welcher er bei seinem Marsch durch das Tal die Wäsche waschenden Frauen beobachtet hatte. Die Erkenntnis entsetze ihn. Weiter waren sie noch nicht gekommen? Was für einen Umweg nahmen sie mit der Bergroute in Kauf?
In Senken und Mulden, geschützt vor dem Wind, der von den Eisbergen kam, flimmerte die Luft. Hier staute sich die Hitze und Sebastian musste sich seiner Kleider entledigen, um keinen Hitzschlag zu erleiden. Er verstaute sein Hemd im Rucksack und war froh über die Luft, die plötzlich seinen Oberkörper umwehte.
Doch in seinen Bergstiefeln steckten dampfende Füße, und das Leder seiner Hose war bemüht, wie eine zweite Haut an ihm zu kleben. Der Schweiß nagelte das Leder an seine Beine und jeder Schritt spannte unangenehm. Antarona beobachtete eine Weile still schmunzelnd seine steife Gangart. Er versuchte krampfhaft seinen Ehrgeiz in einen eleganteren Schritt zu legen. Doch seine Beinkleider hafteten hartnäckig an jedem Millimeter seiner Haut.
Unverhofft blieb Antarona stehen und warf in einer raschen Bewegung Waffen und Felle achtlos ins Gras. Provokativ stellte sie sich Sebastian in den Weg, stemmte ihre kleinen Fäuste in die nackte Haut ihrer Hüfte und sah ihm auffordernd in die Augen. Sebastian war verwirrt und völlig überrumpelt. Andererseits aber auch angenehm überrascht. War endlich der Zeitpunkt gekommen, wo sie sich ihm hingab? War sie spontan bereit, seiner großen Sehnsucht nachzugeben?
»Zieht eure Beinkleider aus, Ba - shtie...«, forderte sie ihn kompromisslos auf. Sebastian war erschrocken. Er war nicht darauf vorbereitet. Seine heimlichsten Sehnsüchte so plötzlich und unkompliziert erfüllt zu sehen, verunsicherte ihn. Was ging in dieser Frau vor? Tagelang verschmähte sie seine Annäherungsversuche unter dem Vorwand immer neuer Gründe und nun wollte sie sich ihm in einer urplötzlichen, unromantischen Laune hingeben? Einfach so.., wie ganz nebenbei?
»Nun macht schon, Ba - shtie - laug - nids, wir besitzen nicht die Zeit der Ewigkeit! Eure Beinkleider...«, setzte sie nach, als er nicht sofort reagierte, »...zieht sie aus..!«
»Donnerwetter..!«, entfuhr es ihm verunsichert, »...du legst ja ein Tempo vor... Sag mal.., jetzt willst du es aber wissen.., was?« Sebastian empfand die ganze Situation mehr als befremdlich. Diesen Augenblick hatte er zwar lange herbeigesehnt, sich eigentlich jedoch anders vorgestellt. Antarona sollte in seinen Armen liegen und dahin schmelzen. Sie sollte sich seinen Zärtlichkeiten hingeben, seine Küsse genießen, die ihren ganzen Körper bedecken würden... Sie sollte den Worten lauschen, die er ihr ins Ohr flüsterte, dann würde er behutsam die Knoten ihrer Lederkleidung lösen...
»Was ist Ba - shtie.., ruft ihr schon wieder die Mutter der Nacht? Macht endlich.., eure Beinkleider!« Fordernd streckte sie ihm die offene Hand entgegen, um ihm die Hose abzunehmen.
»Sag mal, du hast ja eine Art... Bist du eigentlich immer so direkt..?« Basti schüttelte verständnislos den Kopf. »Du kommst wohl immer gleich zur Sache, was? Nur ja keine Zeit verlieren... Das hätte ich so einem Engelchen wie dir gar nicht zugetraut..!«
Sebastian versuchte lässig zu bleiben, eine Mine der Bewunderung aufzusetzen, obwohl er gar nicht mehr wusste, wie ihm geschah und sich innerlich vor Anspannung verkrampfte. Er schwitzte, denn er fürchtete, Antarona könnte ihm seine Unsicherheit anmerken. Seine Gefühle waren hin und her gerissen zwischen dem heißen Verlangen, jeden Zentimeter ihrer nackten Haut zu erkunden und der Ablehnung, den schönsten Augenblick zwischen ihnen auf so billige, profane Weise zu entweihen.
Er wollte sie nicht verärgern und im Grunde war dieser Platz ebenso gut wie jeder andere in dieser unbequemen Wildnis. Schließlich lag es an ihm, die Situation noch zu retten und in eine romantische Richtung zu lenken. Sebastian setzte seinen Rucksack ins Gras und machte sich daran, die Schnallen zu lösen. Sein Wollponcho würde das harte Gras auf der Haut etwas abmildern...
»Was tut ihr da, Ba - shtie - laug - nids...«, fragte Antarona ungeduldig und überrascht zugleich, »...ich will eure Beinkleider, die ihr gerade tragt, nicht welche, die ihr in eurem Bündel mit euch führt!« Basti unterbrach die Wühlerei im Durcheinander seines Rucksacks und fand die Stimmung nun vollends zerstört.
Mit zustimmendem Nicken wandte er sich zu ihr um und begann umständlich seine Hose auszuziehen. Er tat das nur noch mit dem reinen Interesse darauf, wie sich seine Gefährtin weiter verhalten würde. Hatte er bis jetzt Angst, die Kontrolle zu verlieren und sie dominieren zu lassen, so war er sich plötzlich seiner wieder erlangten Sicherheit bewusst.
Ganz unmissverständlich würde er nicht zulassen, dass sie den märchenhaftesten Augenblick ihrer Liebe auf einem ungeschützten Stück vertrockneten Rasens im Vorübergehen erlebten! Allein seine Neugier trieb ihn dazu, sich seiner Hose zu entledigen. Mehr belustigt, als beschämt übergab er dem Krähenmädchen seine Lederjeans.
Sebastian wusste nicht, was als nächstes folgen würde. Er rechnete mit allem. Er ahnte, dass Antarona seine Hose wie etwas Lästiges beiseite warf und sich ihm hemmungslos an den Hals warf. Doch was dann folgte, darauf war er ganz sicher nicht vorbereitet...
Sie nahm seine Hose, hielt sie vor sich hin, drehte sie, taxierte sie von allen Seiten, als sei nicht er, Sebastian Lauknitz, sondern seine verschwitzte Hose das Objekt ihrer Begierde. Ungeachtet Bastis empörten Blicken nahm sie das Kleidungsstück und breitete es auf dem staubigen Gras aus.
Dann griff sie sich ein zwei Ellen langes Bruchholz, das wie zufällig in der Landschaft herum lag und schob es zu Sebastians Erstaunen in das eine Hosenbein. Bevor er noch protestieren konnte, setzte sie die Spitze ihres Schwertes an der Außenseite des Hosenbeins an und schnitt es ohne zu zögern der Länge nach auf.
Sebastian sah sich völlig überrumpelt, hatte er doch heimlich auf eine ganz andere Absicht ihrerseits gehofft. Ehe er sich auf die neue Situation einstellen und Einwände einlegen konnte, hatte sie die Hose bereits gewendet und ihren kunstvollen Schnitt auch an der Innenseite angebracht. Das gute Stück, das ihn bei einem Western Versand über hundert Mark gekostet hatte, war in nur vier Sekunden verdorben!
»Sag mal, was tust du da eigentlich.., was soll das...«, entfuhr es ihm und er bemühte sich erst gar nicht, seine Entrüstung zu verbergen, »...willst du, dass ich mir hier oben den Hintern abfriere, wenn die Sonne verschwindet?« Fassungslos schüttelte er den Kopf. Diese Frau war in jeder Sekunde für eine neue Überraschung bereit. Das konnte ja noch was geben!
Antarona jedoch ließ sich von Sebastians Empörung nicht beeindrucken. Ungeniert machte sie sich zielstrebig daran, auch das andere Hosenbein in zwei Hälften zu schneiden. Als das zweifelhafte Kunstwerk vollbracht war überreichte sie ihrem Mann von den Göttern das fertige Produkt ihres skurrilen Einfalls.
Ein wunderlicheres Bild hatte diese Landschaft wohl noch nie zu sehen bekommen: Ein verdutzter Mann in Unterhosen, mit einer zerschnittenen Jeans in der Hand, der mit wirrem Blick vor einem halbnackten, wilden Indianermädchen stand...
Wäre es nicht um Bastis Beinkleid gegangen, er hätte sich totlachen können! So blickte er nur ratlos und verzweifelt an seiner zerstückelten Hose hinunter.
»Ihr könnt sie wieder anziehen, Ba - shtie...«, stellte Antarona nüchtern fest, »...sie wird euch nun nicht mehr hinderlich sein...«
»Wie bitte.., nicht mehr behindern..? Das ist jetzt aber nicht dein Ernst, oder..?«, erwiderte er perplex, »...das Teil schlägt mir doch jetzt ständig um die Beine! Du hast es ja sicher gut gemeint, mein Engelchen, aber das Ding ist doch wohl eindeutig im wahrsten Sinne des Wortes in die Hose gegangen!«
»Ba - shtie.., zieht sie wieder an, ihr werdet sehen, dass es nun besser ist«, prophezeite sie. Zögernd schlüpfte Basti in seine Hose, die keine mehr war. Kaum hatte er den Gürtel befestigt, kniete sich Antarona vor ihm hin, wie eine Schneiderin und begutachtete ihr Werk. Dann holte sie einen weißen, dünnen und gekrümmten Gegenstand aus einem ihrer Lederbeutelchen. An einem Ende durchbohrt, am anderen zugespitzt, ähnelte er einer Ahle aus Bein, wie sie Polsterer benutzten.
»Sag mal.., willst du mir jetzt auch noch die Haut aufschlitzen, damit es besser durchzieht?«, bemerkte Sebastian sarkastisch.
Das Krähenmädchen ging erst gar nicht darauf ein. Sie konzentrierte sich darauf, die vier entstandenen Beinlappen an den Rändern alle drei Zentimeter senkrecht zu durchstechen. Zum Schluss fädelte sie vier ihrer langen Lederschnüre über Kreuz durch die Löcher, bis die Hosenteile von diesem Geflecht über die ganze Länge luftig zusammengehalten wurden.
Skeptisch betrachtete Sebastian ihre Arbeit und ging ein paar Schritte auf und ab, um die Wirkung zu testen. Antarona blieb in der Hocke sitzen und beobachtete zufrieden seine staksigen Gehversuche im neuen Beinkleid. Basti hockte sich vor sie hin, nahm ihre Schultern in seine Hände und küsste sie dankbar auf die Stirn.
»Donnerwetter, Engelchen.., das hätte ich nicht gedacht...«, gab er anerkennend zu, »...du erstaunst mich doch immer wieder! Damit geht es entschieden bequemer!« Etwas verlegen sah er zur Seite, als er noch anfügte:
»...und ich dachte schon.., also ich hatte geglaubt, du wolltest mit mir...« Er sprach nicht weiter, sondern suchte nach den richtigen Worten und machte eine einladende Handbewegung zu dem Grasflecken hin, neben dem Antaronas Waffen lagen. »Also nicht, dass ich mir das nicht gewünscht hätte...«, stotterte er unbeholfen weiter, »Antarona, versteh mich nicht falsch.., aber.., na ja.., was ich damit zum Ausdruck bringen will, ist... Also es gibt sicherlich bessere Plätze und Gelegenheiten, um..., na, du weißt schon...«
Nein, wusste sie nicht! Jedenfalls tat sie so, als wusste sie nicht, wovon er da redete. Antarona setzte eine fragende, unschuldige Mine auf und sah ihn herausfordernd an. Das brachte Sebastian wieder völlig aus dem Ruder. Er fühlte sich peinlichst entlarvt!
Antarona sah ihn an, halb belustigt, halb enttäuscht. Ba - shtie war ein Mann der Götter. Warum verhielt er sich nicht so? Warum zeigte er ihr nicht seine Stärke? Warum sprach er so umständlich und sagte nicht, was er begehrte? Warum kämpfte er nicht gegen ihren Widerstand an, wenn er sie so liebte, wie er ständig beteuerte? Oder sagte er das nur, ohne es wirklich zu meinen, nur um ihr Vertrauen zu gewinnen, das er dann irgendwann ausnutzen wollte?
Heimlich hoffte sie, dass er einmal hemmungslos seinen Gefühlen nachgab, auch wenn sie ihn abwies. Sie war hin und her gerissen zwischen seiner rücksichtsvollen, feinsinnigen Art, die sie bei den Männern ihres Volkes vermisste, und ihrer Hoffnung auf einen Mann, der ihr Stärke, Entschlossenheit und ungezügelte Leidenschaft bewies, der aber auch akzeptierte, dass sie aktiv für ihr Volk kämpfte!
Antarona spürte, dass sie nie wieder einen anderen Mann lieben würde, aber sie wollte es ihm nicht zu leicht machen. Sie war Sonnenherz, die sich allein für das Volk gegen das Böse gestellt hatte. Sie wollte sich ihm nicht wie eine überreife Beere einem hungrigen Vogel aufdrängen... O ja, sie war stolz und sie wollte von einem Mann erobert werden, der sie in der Stärke des Willens noch übertraf! Erst dann wollte sie sich in die Arme eines Mannes fallen lassen und sich der Leidenschaft und dem Gefühl der Geborgenheit hingeben!
Ba - shtie - laug - nids kam von den Göttern. Aber er besaß nicht die Stärke der Götterwesen, oder er zeigte sie nicht. Statt dessen stammelte er vor ihr herum, als begehrte er sie nicht wirklich... Sie wollte seine Eroberung heftig spüren, sie nicht in seinen Andeutungen erraten! Sie wollte von ihrem Helden, der Torbuk besiegen konnte, auf ein Lager getragen werden und sich ihm dort hingeben und es mit jeder Faser ihres Körpers genießen, in der Gewissheit, dass er sie und das Herz unter ihrem Herzen gegen alles Böse beschützen konnte...
Eigentlich wusste sie selbst noch nicht, wann sie bereit für ihn war, für Ba - shtie - laug - nids, den Mann mit den Zeichen der Götter. Ihre eigene Zögerlichkeit missstimmte sie. Wenn er ihr die Entscheidung abnehmen würde.., mit einer Entschlossenheit, die sie wirklich überzeugen konnte...
Abrupt stand sie auf, ihr liebevolles Antlitz gefror zu einer teilnahmslosen, desinteressierten Maske, mit der sie sich wieder ihre Waffen umhängte. Sebastian empfand deutlich die plötzliche Abkühlung zwischen ihnen beiden. Er war offensichtlich zu weit gegangen!
Er ärgerte sich über sich selbst. Hätte er sich doch nur diese Andeutungen verkniffen! Was, wenn er seine Geliebte nun verschreckt hatte, und sie nichts mehr von ihm wissen wollte? Still in sich hinein fluchend schalt er sich einen Narren ob seines Unvermögens, sich zu entscheiden. Einerseits wollte er dem Verlangen nach ihrer Wärme nachgeben, andererseits wollte er sie nicht durch eine unüberlegte, unsensible Handlung wieder verlieren. Wenn er ihr doch nur unmissverständlich beweisen konnte, wie stark seine Liebe und sein Verlangen nach ihr waren...
Zumindest fand er die Luftigkeit seiner Hosen angenehm. Warum war er nicht selbst darauf gekommen? Sebastian blickte in die sengende Sonne. Unerbittlich brannte sie vom Zenit. Die Hitze und der lange Weg hinterließen bei ihm deutliche Spuren. Basti fühlte sich ausgezehrt und total erschöpft. Dennoch hielt er mit Antarona Schritt, der all diese Strapazen nichts auszumachen schien.
Bis zum Mittag veränderte sich das Landschaftsbild nur wenig. Kurzes, gelbbraunes Gras, ein paar verkrüppelte, winzige Lärchen, oder Arvenbäume, die im Kontrast zum blauen Himmel unnatürlich gelb leuchteten... Ansonsten nur Felsen und blinkende Eiskappen darüber. Zweimal stiegen sie durch dichten Wald in tiefe, weit einmündende Täler hinab. Unter schweißtreibender Anstrengung mussten sie sich jedes Mal wieder auf die Hochebene hinauf quälen. Im Wallis hatte sich Sebastian oft eine solche Weite gewünscht, um den vielen Touristen zu entfliehen. Hier jedoch zehrte sie ihn aus, machte ihn zu einem einsamen Wanderer in einem Nichts ohne Ende. Er befand sich in einer grenzenlosen Welt, in der sich ein Tal an das andere reihte, in der hinter jedem Berg ein noch viel höherer aufragte.
Einmal hielten sie an einem Bach, der munter sprudelnd ihren Weg kreuzte. Sebastian hätte sich am liebsten ohne zu zögern in all seinen Sachen hineingeworfen. Allein sein gesunder Menschenverstand bewahrte ihn davor, seinen überhitzten Körper dem eiskalten Gletscherwasser preiszugeben.
Sie füllten ihren Wasservorrat auf und legten eine kleine Pause ein. Der Hunger nagte an Sebastians Eingeweiden und nachdem er einen Schluck kühles Wasser getrunken hatte, bohrte das Leergefühl so stark in seinem Magen, dass dieser die seltsamsten Töne von sich gab. Antarona ließ ihm keine Zeit, darüber nachzudenken.
Geschmeidig wie eine Pantherin setzte sie sich wieder in Bewegung. Schwerfällig, wie ein Bergtroll folgte ihr Lauknitz. Als Alpinist war er gut konditioniert und genoss sogar unter Bergführern einen guten Ruf. Doch was seine Gefährtin hier an Leistung vorgab, stellte alles ihm Bekannte in den Schatten!
Wie winzige Käfer auf einer riesigen Torte, zogen sie weiter ihre Bahn über das Land, dessen Weite für Sebastian immer neue Überraschungen bereit hielt. Die Sicht aus der Höhe gab den Blick in Seitentäler frei, die endlos in die Bergmassive schnitten. Täler, die offenbar ungenutzt dalagen, reich an Weideland, reich am Holz der Wälder und wahrscheinlich auch in mineralogischer Hinsicht beachtenswert.
Eigentlich war es ein Paradies. Ein Land, das ein Mann sich nehmen konnte, wenn er die Gewalt der Berge nicht fürchtete. Sebastian träumte. Mit einer Frau wie Antarona an seiner Seite konnte er hier gut leben, Vieh züchten, Holz machen, Gold schürfen und Kinder groß ziehen. Wasser und Wild gab es zudem im Überfluss! Doch wo war der Haken an diesem verlockenden Angebot, das ihm das Leben hier in den Schoß warf?
Torbuk. Und Karek! Hatte nicht bereits Antarona gesagt, dass ihr Volk in Frieden leben würde, wenn diese beiden Marodeure erst einmal besiegt waren? Aber Sebastian machte sich nichts vor... Selbst wenn diese unliebsamen Zeitgenossen eines Tages verschwunden waren, würde es neue Torbuks und Kareks geben. Es gab sie immer, egal wo und in welchem Land! Ein friedliches Leben musste ständig aufs Neue gegen Neider verteidigt werden, dieser Kampf hörte niemals auf!
Trotzdem war sich Sebastian sicher: Für dieses Krähenmädchen wollte er den Kampf aufnehmen! Mit einer Frau wie Antarona an seiner Seite war er bereit, gegen alles zu kämpfen, was ihm seine Freiheit, seinen Frieden und seine Individualität streitig machen wollte.
Er träumte davon, sich mit Antarona in einem dieser riesigen, weiten Seitentäler niederzulassen. Es war ein fruchtbares Land, das er unter sich ausgestreckt liegen sah. Es konnte einen Mann einen Sommer lang beschäftigen und bequem eine Familie ernähren. Er konnte Pferde züchten, vielleicht eine ausdauernde, robuste Rasse, denen die Winter in den hohen Bergen nichts anhaben konnten. Oder widerstandsfähige Rinder, die das ganze Volk ernähren konnten...
Zwei schwarze Schatten, die an seinem Gesicht vorbei schossen, unterbrachen die Träumerei. Tonka und Tekla, Antaronas getreue Krähen, landeten einige Meter vor ihren Füßen und stolzierten herum, als galt es, das Hoheitsgebiet eines Landes abzuschreiten. Ein langgezogenes Kroooh, Kroooh signalisierte eine wichtige Botschaft, denn sofort hockte sich ihre menschliche Freundin ins trockene Gras und begrüßte die beiden schwarz glänzenden Vögel mit ein paar restlichen Brotkrumen aus ihrem Beutel.
Fasziniert beobachtete Sebastian die Szene. In der Sonne schimmerte Antaronas Haar ebenso bläulich schwarz, wie das Gefieder ihrer Freundinnen. Basti kam nicht umhin, die Assoziation zuzulassen, Antarona wäre mit der Gattung der Krähenvögel blutsverwandt. Zumindest war sie ebenso Klug und mutig, wie diese Tiere.
»A ha iona.., ie tera nama tola. Ya ha ora samis, no ha te res vi te...«, hörte er seine Gefährtin leise murmeln. Sebastian verstand nicht eine Silbe! Diese Sprache hatte nicht einmal eine andeutungsweise Ähnlichkeit mit der, welche das Volk benutzte. Es waren eher tiefe, gutturale Laute, die tatsächlich mehr dem Knurren oder Krächzen von Tieren ähnelte, als den melodischen Lauten, die Menschen hervorbrachten.
Als sich Antarona wieder erhob, flatterten die beiden Krähen auf, zogen einen weiten Kreis, als wollten sie sich verabschieden und segelten über eine Senke talwärts davon. Sebastian sah seine Gefährtin fragend an. Die deutete in grober Richtung hinab, dorthin, wo das Tal nach Bastis Einschätzung einen Bogen beschrieb.
»Sonnenherz’ Vater weiß, dass wir kommen.., er wartet zur gehenden Sonne auf uns«, war die knappe Erklärung. Sebastians Neugier war dadurch keineswegs gestillt. Seine Augen ruhten nach wie vor fragend auf Antarona.
»Und mehr ist da nicht...«, hakte er nach, »...mehr haben dir Tonka und Tekla nicht erzählt? Was ist mit Torbuks Soldaten? Haben die schon etwas unternommen.., haben die überhaupt schon gemerkt, dass wir ihre Kumpane ins Reich der Toten geschickt haben?«
»Ba - shtie.., das Land des Volkes, Volossoda, ist ein weites Land und Val Mentiér ist ein großes Tal... Selbst Tekla und Tonka vermögen nicht überall zu sein. Wir werden es erfahren, wenn Gefahr droht. Die Zusammenkunft des Achterrates ist nun für das Volk von Bedeutung!«
»Von wirklicher Bedeutung für das Volk ist in aller erster Linie, die nächsten Schritte Torbuks zu kennen«, entgegnete Lauknitz. Er wollte nicht noch einmal erleben, wie schwarze Soldaten in ein unvorbereitetes Dorf einfielen, ungehindert mordeten, vergewaltigten und Menschen verschleppten. Wenn das Volk schon die Möglichkeit einer Fernaufklärung besaß, dann sollte sie nicht dazu vergeudet werden, zwischen Vater und Tochter zu koordinieren, wann die Suppe auf dem Tisch stand!
»Sieh mal, Antarona...«, versuchte er es noch einmal, »...wenn wir verhindern können, dass die schwarzen Reiter noch einmal überraschend ein Dorf angreifen, dann können wir vielleicht zumindest ausschließen, dass wieder einige deiner Freundinnen in die Hände der wilden Horden fallen.«
Antarona legte ihm beschwichtigend ihre Hand auf den Arm. Der durchdringende Blick ihrer großen Augen traf ihn. Ihre Tiefgründigkeit schien von ihm Besitz zu ergreifen. Wie tiefe Seen besaßen sie etwas magisches, das ihn widerstandslos in ihren Bann zog.
»Es würde nichts ändern, Ba - shtie.., ihr habt es selbst gesehen.., die Männer des Volkes sind keine Krieger, sie sind gute Väter, gute Handwerker und Bauern... Und wohin sollten sie auch fliehen, wohin Torbuks Soldaten ihnen nicht folgen könnten? Vor allem, wie sollten sie fliehen? Mit all ihren kleinen Kindern und mit den Alten, die nicht mehr gut zu Fuß sind? Ihr habt gesehen, wie rasch die Pferdesoldaten angreifen... Sie würden die Flüchtenden einfach nieder reiten und erschlagen, weil sie weglaufen!« Sie überlegte kurz, bevor sie feststellte:
»Nein, die Männer des Volkes können nicht zusammen kämpfen, ohne, dass ein Mann sie führt! Ihr seid dieser Mann, Ba - shtie - laug - nids, ihr seid von den Göttern gesandt, ihr müsst den Achterrat gewinnen und die Windreiter und das Volk! Sie alle müssen euch vertrauen, Ba - shtie.., ihr müsst ihnen die verlorene Hoffnung zurück geben.., dann wird das Volk die Hand der Götter sehen und mit eurer Führung bereit sein, für die Freiheit und für ein Leben in Frieden zu kämpfen!«
»Aber du hast ihnen doch weit vor meiner Ankunft gezeigt, wie es geht!«, widersprach Basti, »Du hast ihnen doch bereits klar gemacht, dass die Macht Torbuks verletzlich ist! Du hast den schwarzen Horden immer wieder in den Hintern getreten und sie lächerlich gemacht, soweit sogar, dass sie dich am liebsten als Warnung für alle Rebellen an die Wand nageln möchten! Hat dein Volk nichts von deinem selbstlosen Beispiel gelernt? Sind die so dumm.., ja..? Haben die solche Tomaten auf den Augen?«
Sebastian redete sich geradezu in Rage und vergaß ganz, dass Antarona Tomaten womöglich gar nicht kannte. Doch sie ging erst gar nicht auf seine Randbemerkung ein. Statt dessen verstärkte sie den Druck auf seinen Arm.
»Seid nicht ungerecht und albern, Ba - shtie.., Sonnenherz ist in den Augen der Männer ein ungehorsames, unzüchtiges Mädchen, das nicht erwachsen werden will... Sie ehren mich für die Taten, sie sind dankbar, wenn ich einige ihrer Töchter zurück bringe und sie bewundern mich für meinen Mut und für meine Geschicklichkeit im Kampf...«, dabei tätschelte sie bescheiden lächelnd ihr wundersames Schwert. »Aber sie verachten mich auch. Ihre geheimen Gedanken spotten meiner, weil ich inzwischen eine Frau bin, weil ich dem Volk Kinder schenken sollte und es nicht tue, weil ich mich gegen das Böse stelle, wozu den Männern der Mut fehlt. Sie verachten mich, Ba - shtie, weil ich sie beschäme, weil ich etwas tue, das ihre Ehre kränkt!« Sie holte tief Luft und fuhr dann leiser fort:
»Sie verstehen es nicht, Ba - shtie... Ich musste ohne meine Mutter in das Leben gehen und ich vermisste sie so oft und ebenso oft zerbrach mir das Herz darüber. Und niemand tat etwas.., es geschah jeden Tag wieder, in jedem Lauf der Sonne wurde einem Kind die Mutter genommen und sie sahen nur stumm zu!« Plötzlich legte sich eine steinerne Unerbittlichkeit in Antaronas Stimme, die puren Trotz zum Ausdruck brachte.
»Darum, Ba - shtie.., wenn einmal ein Herz unter dem von Sonnenherz schlagen soll, dann will ich, dass es eine Mutter hat, die es in das Leben begleitet! Dafür kämpfe ich! Und das tue ich so lange, bis alle Mütter des Volkes ihre Kinder in Frieden und Liebe auf das Leben vorbereiten können! Bis dieser Kampf nicht vorüber ist, wird Sonnenherz weiter das Gewand der Unbekleideten tragen, wie einst die schöne Geliebte des Tramon! Es ist Sonnenherz gleich, was die Männer über sie denken!« Sebastian hörte ihr nachdenklich zu, während ihre Stimme wieder sanfter klang.
»Doch ich kann nur allein, für mich kämpfen, versteht ihr das? Ich kann ein oder zwei Soldaten allein und aus dem Hinterhalt töten... Sonnenherz kann aber nicht eine Gruppe von vielen Männern auf dem Schlachtfeld gegen Torbuks Armee führen... Sie würden mir nicht folgen! Ihr aber könnt das, Ba - shtie, Sonnenherz weiß es!«
Sebastian sah das Krähenmädchen nachdenklich an. Ihr Vertrauen in ihn belastete ihn mehr, als es ihn aufmunterte, denn er war sich nicht recht im Klaren darüber, ob er ihrer Hoffnung gerecht werden konnte. Konnte er es nicht, würde er sie als Frau, die er liebte, verlieren? Er ahnte, dass sie ihm bereits ohne es zu wissen, selbst die einzige Taktik vermittelt hatte, mit der Torbuks Truppen zu besiegen waren: Guerillakrieg! Doch würde der Achterrat einer in dieser Gegend offenbar als unpopulär und unehrenhaft geltenden Art zu kämpfen zustimmen? Andererseits taten sie es ja schon, denn sowohl die Windreiter als auch Antarona selbst bedienten sich bereits dieser Methode.
Das konnte ja noch eine Prozedur werden! Dabei machte sich Sebastian weniger Sorgen darüber, wie er den Achterrat und die Windreiter von seiner aus dem Hinterhalt zuschlagen und verschwinden Taktik überzeugen sollte, als darüber, wie seine Angebetete solch einen Vorschlag aufnehmen würde.
»Gut.., reden wir erst einmal mit deinem Vater und dem Achterrat, bevor wir irgendwelche Gedanken spinnen, ja?« Mit diesem Satz versuchte Basti das Thema zunächst zu beenden, ohne sich Antarona gegenüber festlegen zu müssen. Konnte er den Achterrat überzeugen, würde sich sein rebellisches Krähenmädchen schon fügen!
Wann aber würden sie ihr Ziel erreichen, fragte er sich skeptisch. Seiner Einschätzung nach waren sie so weit vom Tal entfernt, sie hätten sich ebenso gut auf einem anderen Planeten befinden können. Ein Weg über Berge bedeutete oftmals eine Abkürzung. In diesem Land war es offenbar ein Umweg von dreifacher Länge. Und wären nicht Hunger und Müdigkeit zu seiner Geißel geworden, so hätte Sebastian Lauknitz diesen Ausflug als spektakulärste Wanderung seines Lebens genießen können.
»Wann, denkst du, werden wir bei deinem Vater sein?«, brach er die erhabene Stille der himmelnahen Wildnis und fügte noch rasch hinzu: »...und wird dein Vater nicht überrascht sein, dass du in Begleitung kommst?«
»Er weiß es, Ba - shtie.., habt ihr Tonka und Tekla aus dem Krähenvolk vergessen? Sonnenherz Vater erwartet den Mann, der von den Göttern kommt und er wird euch willkommen heißen!« Sie sagte das mit einer Sicherheit, die keinen Zweifel an ihrer Aussage zuließ. Dennoch war es Sebastian ziemlich mulmig um die Magengegend herum.
»Wie jetzt...«, fragte er verblüfft, »...kann dein Vater etwa auch mit den Tieren sprechen.., das ist in eurer Familie wohl gar nichts Besonderes, oder?« Antarona setzte ihr süßes Lächeln auf, dieses Lächeln, das sie stets zeigte, wenn sie ihm überlegen war und das in vollen Zügen genoss. Ein wenig Spott war wohl auch darin enthalten.
Sie griff in eines ihrer Lederbeutelchen, zog etwas Gelbliches heraus und reichte es ihm. Ein kleines, längliches Stückchen Papier! Es war extrem dünn und filigran. Sebastian befürchtete, es würde bei der geringsten Berührung zerfallen. Doch dieses Papier war überraschend fest und strapazierfähig! Basti rieb es zwischen den Fingern und vermochte es dennoch nicht zu zerbröseln.
Lauknitz war beeindruckt. Solches Papier würde wohl durch keinen Kopierer gehen, doch wenn man daraus ein Buch band, konnte das sicher fünftausend Seiten bei der Stärke eines normalen Taschenbuchs beinhalten. Er nickte Antarona gleichzeitig anerkennend und fragend zu.
»Tekla trägt die Botschaft am Bein über die Täler.., bis nach Falméra, wenn es mein Wunsch ist«, erklärte sie, stolz darauf, den Mann von den Göttern zu beeindrucken. Damit holte sie ein zweites Zettelchen aus ihrem Beutel, das mit winzigen Hieroglyphen beschriftet war.
Aha.., also doch keine Hexerei! Sebastian lächelte still in sich hinein. Brieftauben, oder besser Briefkrähen! Er ließ Antarona ihren heimlichen Triumph. Was hätte es gebracht, ihr zu erklären, dass sich seine Kultur bereits dreitausend Jahre früher dieser Nachrichtenübermittlung bediente?
»Donnerwetter, Engelchen...«, zollte er ihr Respekt. »Aber womit hast du das beschrieben?«, wollte er wissen. Und das interessierte ihn wirklich! Sofort zauberte das Krähenmädchen etwas zu Tage, das einer Zeichenkohle ähnelte. Allerdings war es sehr viel fester und schrieb feiner und farbintensiver.
»Es ist gemacht aus zerriebenen Knochen, verbrannten Steinen und dem Saft der Pflanze, welche die Unbekleideten Viele Arme nennen und welche in der wandernden Sonne wächst«, erklärte sie bereitwillig. Sebastian versuchte die naive Sprache zu entschlüsseln. Die Knochen gingen ja noch in sein Verständnis, doch was waren verbrannte Steine und eine Blume namens Viele Arme aus dem Land der Unbekleideten?
Er gab es auf, alles Geheimnisse dieses Landes auf einem Mal ergründen zu wollen. Im Augenblick interessierte ihn mehr die Zeit:
»Wann, also denkst du, Antarona, werden wir deinen Vater sehen?«, setzte er noch einmal nach. Antarona lebte Zeit offenbar mit sehr viel mehr Ungezwungenheit. Ihre Antwort klang so nebensächlich, wie die Erwähnung einer Ameise an einem Felsen: »Zur schlafenden Sonne werden wir dort sein!«
Sebastian fixierte sich auf diese Aussage und glaubte, nur noch ein paar Kilometer abwärts wandern zu müssen. Was Antarona ihm jedoch verschwiegen hatte, tauchte wie ganz nebenbei nach einer Stunde vor ihnen auf. Zwei mächtige Taleinschnitte, die sich weit zur schlafenden Sonne hin durch die weißen Berge zogen, versperrten ihnen den Weg.
In weit ausholenden Serpentinen mussten sie erneut in die Talgründe steigen, um sich auf der anderen Seite wieder empor zu quälen. Der erfahrene Bergführer Sebastian Lauknitz geriet an seine Grenzen. Beim Aufstieg aus dem zweiten Talboden setzte er sich ermattet auf einen Stein. Seine Beine zitterten und ihm wurde abwechselnd heiß und kalt.
Er glaubte nicht einmal mehr die Energie zu besitzen, hinter Antarona her zu rufen, die unermüdlich weiter ging, als hätte ihre Wanderung eben erst begonnen. Kraftlos hob er sein Schwert und ließ es gegen den Felsen schlagen. Das Geräusch ließ Antarona auf der Stelle herumwirbeln. Wie von Zauberhand hielt sie ihr Schwert in der Hand, das gerade noch auf ihrem Rücken baumelte.
»Was ist, Ba - shtie, habt ihr euch verletzt?« Schon war sie heran und ihr besorgter Blick ruhte auf dem erschöpften Gefährten. Sebastian schüttelte nur den Kopf. Mit einer ausholenden, stummen Geste versuchte er ihr klar zu machen, dass dieses Land einfach zu groß war. Es war für einen Lauknitz zu weit, um mal eben nebenbei das Tal auszumessen.
Es blieb ihm ein Rätsel, wie das Krähenmädchen nach Stunden immer noch frisch und ausgeruht genug war, um ohne Pause einen tausendsechshundert Meter hohen Hang hinauf zu hetzen. Als ob der Wind selbst sie tragen würde, mit solcher Leichtigkeit flog sie hinauf.
Antarona sah mit einem Blick, was mit Sebastian los war. Sie legte ihre Waffen ab und zog ihr kleines Messer aus der Scheide, die an ihrem Lendenband baumelte. Suchend sah sie sich um, von Sebastians erstaunten Blicken verfolgt. Sie wand sich wie eine Schlange an einem Felsen empor und kratzte mit der Klinge etwas Weißes aus dem Stein.
Sebastian sah sie an, wie ein Kind, das zum ersten Mal einen Elefanten zu Gesicht bekam. Antarona, sich ihrer Überlegenheit bewusst, setzte wieder das süße Lächeln auf, von dem Lauknitz nicht wusste, ob es mütterliches Mitleid war, oder Spott. Sie verteilte das weiße Pulver gleichmäßig auf ihrer Handfläche. Anschließend sah sie sich nach einer Pflanze um, die große, pikförmige Blätter besaß und in einem tiefen Kelch in den Stängel mündete.
Antarona bog das Blatt mit einer erschlagenden Selbstverständlichkeit herunter und unter Bastis staunenden Augen entließ das Blatt ein paar Tropfen Wasser in ihre Hand. Mit dem Finger vermischte sie Wasser und Pulver zu einem Brei, der Sebastian stark an Gips erinnerte. Zuletzt fingerte das Krähenmädchen eine kleine, etwa daumengroße, grüne Kugel aus einem ihrer Beutelchen und wälzte sie in der weißen Masse.
»Nehmt das in den Mund, Ba - shtie...«, forderte sie ihn auf, »...kaut darauf herum, schluckt aber nur den Saft hinunter!« Sebastian sah sie skeptisch an.
»Was wird das denn jetzt, Engelchen.., gibt es jetzt panierten Kot von irgendeinem Tier.., sind wir schon so weit heruntergekommen?«
»Ihr redet Unsinn, Ba - shtie - laug - nids!«, empörte sie sich, und etwas versöhnlicher fuhr sie fort: »Kaut das und ihr werdet euch gleich besser fühlen!« Sebastian schob das runde Etwas zögerlich in seinen Mund und hätte er in einem Wiener Kaffeehaus gesessen, so wäre ihm das gar nicht befremdlich vorgekommen. Pralinees mit Zuckerguss, redete er sich ein und begann tapfer darauf herum zu kauen.
Zunächst erfuhr er einen süßlich bitteren Geschmack und der Zuckerguss saugte seinen Speichel auf wie ein Schwamm. Dann wechselte Süßbitter in nur Bitter. Dafür setzte in seinem Mund plötzlich ein unnatürlich großzügiger Speichelfluss ein. Sebastian verzog das Gesicht zu einer Grimasse, seine Nackenhaare stellten sich auf und er kaute mit verzogenem, offenen Mund auf dem Blatt herum, wie ein Breitmaulfrosch auf einer viel zu großen Spinne.
»Was zum Teufel ist das für ein Zeug..?«, quetschte er zwischen langen Zähnen hervor, »...ich muss schon sagen, euer Kaugummi lässt doch sehr zu wünschen übrig! Gallebitter, das Zeug, weißt du das eigentlich, mein Engelchen, gal - le - bit - ter!« Sebastian schüttelte sich, als musste er eine Armee von Termiten von seinem Körper fern halten.
»Das ist echt übel...«, schimpfte er in sich hinein, »...als wollte man mich vergiften! Ich bin doch keine Ziege! Und nun noch etwas essen, das wahrscheinlich aus dem südlichen Ende eines nach Norden ziehenden Tieres kommt.., das glaubt man doch wohl nicht...«
»Seid still, Ba - shtie, kaut lieber!«, ermahnte ihn seine Gefährtin und drückte ihm liebevoll das Kinn nach oben, als befürchtete sie, das bittere Mahl könnte wieder aus seinem Mund heraus springen. Dabei sah sie sich forschend nach allen Seiten um. Ihr Blick durchdrang das Blätterwerk der Sträucher und Bäume.
»Wir sollten nicht hier sein...«, sagte sie mehr zu sich selbst, »...es ist nicht gut, hier im Wald zu verweilen...«
»Ja.., wir sollten wirklich nicht hier sein, mein sonniges Herz...«, presste Sebastian kauend hervor, »...wir hätten erst gar nicht so weit absteigen sollen... Wir schleichen hier in der Gegend herum, wie Verbrecher! Das ist doch nicht normal!«
»Auf dem Weg durch das Tal hätten wir leicht in einen Hinterhalt geraten können...«, gab Antarona zu bedenken, »...wir haben viele von Torbuks Soldaten getötet, Ba - shtie, er wird...«
»Ich weiß, ich weiß.., er wird nach uns suchen lassen...«, unterbrach er sie, »... erzähl mir etwas, das ich noch nicht weiß!«, setzte er missgelaunt hinzu.
Antarona baute sich vor ihm auf, stemmte ihre kleinen Fäuste provokativ in ihre Hüfte und sah ihren wiederkäuenden Schützling von oben herab an.
»Etwas, das ihr noch nicht wisst, Ba - shtie, ist, dass es hier in den Wäldern der schlafenden Sonne viele Robrums gibt...« Sebastian ließ sie erst gar nicht ausreden:
»Ach.., sieh mal an... Lass mich raten, ja..? Die sind groß, kräftig und gefräßig und obendrein noch ziemlich sauer, dass wir durch ihren Wald latschen, habe ich recht?« Mehr für sich selbst murmelte Sebastian:
»Wäre ja auch mal’n Wunder, wenn uns nicht ständig irgendeine Kreatur auf die Hühneraugen treten wollte...« Ungeduldig sah Sebastian sein Engelchen an und fragte gereizt:
»Wir werden mit diesen Robrums fertig.., oder..?« Sebastian erwartete an dieser Stelle wieder ihre Angriffslust. Statt dessen wurde sie eher traurig und nachdenklich.
»Robrums sind ebenfalls Geschöpfe der Götter.., wie wir.., Ba - shtie, vergesst das nicht! Es ist nicht nötig, dass wir einen von ihnen verletzen müssen!« Sebastian schüttelte ungläubig den Kopf.
»Wie bitte..? Diese Dinger können uns angreifen.., habe ich das richtig verstanden? Aber es ist nicht nötig, dass wir einen von ihnen verletzen..? Hilf mir mal, Antarona, irgend etwas habe ich da wohl nicht richtig mitbekommen!« Sein Sarkasmus war kaum noch zu zügeln.
Antarona hockte sich vor ihn hin, legte sanft ihre Hände auf seine Knie und sah ihm intensiv in die Augen, so dass ihm die Ernsthaftigkeit ihres Anliegens schlagartig bewusst wurde.
»Ba - shtie - laug - nids.., seht mich an und hört mir zu!«, forderte sie eindringlich und ihre Augen funkelten ihn an. »...Robrums, Felsenbären, Gore, Elsiren.., sie alle sind ein Teil des Ganzen. Sie alle teilen sich dieses Land mit dem Volk und alle können voneinander lernen!« Sie machte eine kleine Pause, um nach den richtigen Worten zu suchen.
»Wir alle sind Kinder der Götterwesen und sollten keinen Streit untereinander suchen, sondern ihm aus dem Weg gehen! Das Volk ist klug. Es weiß, dass in diesen Wäldern Robrums leben, die leicht zu reizen sind und angreifen, wenn sie sich bedroht fühlen. Also geht ihnen das Volk aus dem Weg. Das Volk fürchtet Robrums nicht, aber es achtet sie als einen Teil des großen Kreislaufs von Talris. Nur wer sehr dumm ist, und keine Achtung besitzt vor jedem Leben, das die Götterwesen in dieses Land geboren haben, wird ein Zusammentreffen mit diesen Geschöpfen riskieren... Es ist nicht nötig, zu warten, bis man sich verteidigen muss, wenn man es verhindern kann! Habt ihr das verstanden.., Mann mit den Zeichen der Götter?«
Er hatte es verstanden. Er hatte sich bislang nicht die Mühe gemacht, diese Täler aus dieser Sicht zu betrachten. Für Sebastian waren die Täler, Wälder und Berge bisher nur etwas, das ihn von seinem Zuhause trennte und das er überwinden musste. Allmählich begann er zu begreifen...
Für Antarona und das Volk war diese Welt, mit all ihren Facetten das Leben. Jedes Geschöpf, jede Pflanze und jeder Stein hatte seinen Platz im großen Kreis des Talris, des Lebens, und hatte seine Daseinsberechtigung! Alles, was lebte, besaß die Achtung der Menschenwesen, denen es aufgrund ihrer Intelligenz gegeben war, Achtenswertes zu schützen. Für das Volk waren selbst die Steine, das Wasser und der Himmel lebendig. Ein jedes Element dieser Welt verdiente den gegenseitigen Respekt voreinander!
O ja, Sebastian verstand es! Und er schämte sich, aus einem Land zu kommen, wo diese Werte längst der eigenen Übervorteilung der bequemen, herrschsüchtigen Menschen geopfert worden waren. Er hielt es für klüger, seiner Gefährtin vorerst nicht allzu viel von seinem eigenen Land zu erzählen...
Inzwischen fühlte Sebastian, wie sich sein Körper langsam erholte. Antaronas Wundermedizin hatte die Wirkung eines überstarken Kaffees. Er fühlte sich wie aufgeputscht. Mit neuem Auftrieb stellte er sich dem Rest des Weges.
Zwei Stunden lang stiegen sie noch bergauf, immer im Schutz des Waldes. Dann entließ sie das dichte Blätterwerk erneut auf die hohe Terrasse der kargen, Fels durchsetzten Alpweiden. Die flimmernde Hitze des Tages schlug über ihnen zusammen und nur der leichte Wind von den Eispanzern der Gletscher verschaffte gelegentlich etwas Kühlung.
Unmerklich begann sich das Gelände zu neigen. Vorbei an kleinen, klaren Bergseen wanderten sie auf einen weiteren, ausgedehnten Wald zu, der eine scheinbar unendliche Hügellandschaft zu bevölkern schien. Als die größte Mittagshitze bereits nachließ, nahm sie ein stark nach Harz duftender Nadelwald auf. Ihre Schritte knisterten auf einem dicken Teppich getrockneter Tannennadeln, der jeden Schritt angenehm abfederte.
Seit Stunden ging es nun nicht mehr sehr steil bergan und Sebastian beflügelte ein Gefühl grenzenlosen Antriebs. Der Wald wurde üppiger, dichter und grüner. Seit einiger Zeit kreuzten sie dünne Pfadspuren, die sich sporadisch durch die Baumstämme hindurch wanden. Sebastian wollte gerade die Stille brechen, um Antarona danach zu fragen, da blieb ihm der Gedanke buchstäblich im Hals stecken...
Das goldene Licht der schräg stehenden Sonne flutete durch die rotbraunen Säulen des Waldes.., dann standen sie unvermittelt auf einer grünen Wiese, die durchsetzt war von tausend und abertausend bunten Blüten. Vor ihrem Blick breitete sich ein Land aus, das Frieden, Ruhe und Harmonie vermittelte. Weite, hügelige Wiesen von sattem Grün wurden durchbrochen von kleinen Obsthainen, von blühenden Hecken und glitzernden Bächen. Das saftige, kniehohe Gras erinnerte Sebastian an die Viehweiden im Allgäu. Weit entfernt, in der nähe eines kleinen Wäldchens, sah er eine dünne Rauchsäule sich kräuselnd in den Himmel steigen.
Auf der gegenüberliegenden Talseite erhoben sich über den Wäldern erneut steile Felsfluchten und darüber himmelhohe, weiße Berge, die wie gigantische Wächter erhaben über dem fruchtbaren Land thronten. Sebastian hatte nie ein schöneres, gewaltigeres und lieblicheres Land zugleich gesehen. Er stand einfach nur da und bewunderte, was ihm seine Augen präsentierten. Mit einem Schlag wurde ihm klar, warum Antarona diese Täler so sehr liebte: Hier konnte man zuhause sein!
Schweigend standen sie nebeneinander am Waldrand in der abendlichen Sonne und ließen das Bild auf sich wirken. Ergriffen von diesem Moment suchte Sebastian die Hand seiner Gefährtin. In stillem Einvernehmen berührten sich ihre Finger und verschlangen sich im Ausdruck plötzlicher Sehnsucht ineinander. In diesem Augenblick waren sie wie ein Herz. Sie beide fühlten es gleichsam: Glückseeligkeit!
Ein paar Minuten lang bewegten sie sich nicht, standen nur stumm, Hand in Hand da und weder Sebastian, noch Antarona wagten, den Frieden und das Glück dieses Moments auch nur mit einer einzigen Bemerkung zu entweihen. Sebastian Lauknitz empfand in diesem Augenblick etwas, das er sich mehr als alles andere auf der Welt ersehnte: Die Zuneigung zu diesem Krähenmädchen, die sehr viel tiefer war, als bloße Freundschaft!
Eine Ewigkeit später deutete Antarona mit der freien Hand auf die Rauchsäule, die in ziemlicher Entfernung friedlich in den Himmel stieg und sich im Sonnenuntergang verlor. Ihre Stimme klang sanft, warm, fast feierlich:
»Sonnenherz’ Vater wartet, seine Tochter zu sehen!« Sebastian nickte still und drückte zur Bestätigung sanft ihre Hand...
Beinahe ehrfürchtig gingen sie Hand in Hand dem aufsteigenden Rauch und der sterbenden Sonne entgegen. Vorbei an gemähten Wiesen, aufgeworfenen Heuständern und einsam dastehende Vorratshütten, die auf abenteuerlichste Stein- und Holzkonstruktionen errichtet waren. Eine feierliche Stille legte sich über diese scheinbar friedliche Welt im goldenen Licht.
Während der letzten Meter gelangten sie auf einen breiten Weg, der gepflegter aussah, als manche Asphaltstraße in Sebastians Land. In diesem Augenblick ging die Sonne unter. Sofort begannen hunderte von Vögeln, die sich in den umliegenden Bäumen versammelt hatten, mit einem lauten Gezwitscher und Geflatter, als begrüßten sie die sehnsuchtsvoll erwartete Nacht. Sie veranstalteten einen Lärm, dass Sebastian befürchtete, sie könnten über ihn und Antarona herfallen. Doch kaum war die Sonne hinter den Bergen verschwunden, da beruhigten sie sich schlagartig wieder.
Ebenso, wie auf ein geheimes Kommando, setzte das Zirpen unzähliger Grillen und Zikaden ein. Es begleitete sie wie ein beruhigendes Konzert durch die beginnende Nacht. So etwas kannte Sebastian aus mediterranen Ländern, nicht jedoch aus Hochgebirgsregionen. Um so romantischer aber empfand er diese Stimmung. Hunger und Müdigkeit traten in den Hintergrund. Plötzlich verspürte er ein seltsames Hochgefühl und er hätte noch Stunden lang mit Antarona so weiter gehen können...
Auf einem Mal ließ Antarona Bastis Hand los. Zielstrebig verließ sie den Weg in Richtung einer Baumgruppe, die um einige, von der Natur hingewürfelte Felsen wuchsen. Zu Sebastians verblüfftem Gesicht nahm sie ihr Schwert ab und schob es in einen schmalen Felsriss, der von einem Baumstamm verdeckt wurde. In der gleichen Bewegung zog sie ein anderes Schwert heraus, das ihrem bis ins Detail glich. Lediglich der bläuliche Schimmer des Metalls war verschwunden.
»Na sieh mal einer an...«, fühlte sich Sebastian bestätigt, »...dir ist also doch nicht ganz wohl bei dem Gedanken, jemand könnte das Geheimnis deines Schwertes enthüllen und es als Nantakis erkennen, was?«
Antarona hängte sich die Replik ihres Schwertes um die Schulter und lächelte Sebastian süß und überlegen an. Sie griff seine hand und zog ihn mit sich zurück auf den Weg.
»Sonnenherz fürchtet nicht die neidischen Blicke, die Nantakis erkennen könnten...«, erklärte sie dann, »...aber es ist nicht nötig, Neugier zu schüren und ein Verlangen zu wecken, durch welches Nantakis in die falschen Hände gelangen könnte! Das Volk, Ba - shtie, braucht Nantakis, aber es weiß nichts von seiner Kraft. Torbuk hingegen kennt dieses Schwert, nicht aber wie es zu führen ist. Er begehrt es, aber er ahnt nur, das Sonnenherz es führt. Wenn Spione des Volkes ihm berichten, es ist eine ganz übliche Waffe, so zweifelt er an seinen Gedanken und seine Soldaten haben Respekt vor des Schwertes Trägerin, nicht vor dem Schwert.«
»Gibt es so viele Spione unter dem Volk in den Tälern?«, fragte Sebastian erstaunt. Antarona sah ihn lächelnd an und die Tatsache schien ihr keine Sorgen zu bereiten:
»Ja, Ba - shtie.., selbst unter den Vertrauten meines Vaters sind Torbuks Leute!« Sie zuckte gleichgültig mit den Schultern.
»Wir vermuten schon lange Zeit einen oder zwei Verräter unter uns. Aber wir wissen nicht, wer es ist...«
»Vielleicht sogar jemand aus dem Achterrat?«, warf Sebastian dazwischen. »Antarona, warum befragst du dazu nicht den Stein der Wahrheit?« Basti sah sie herausfordernd an.
»Im Stein der Wahrheit sind die Bilder von dem, was gewesen ist, von dem, was ist und was sein wird. Er ist kein Weiser, den man fragen kann, Ba - shtie, versteht ihr? Er lässt Sonnenherz Menschenwesen sehen, nicht aber ihre Gesichter. Der Stein der Götter lässt aber besondere Kleidung und Dinge sehen...«
»So, wie bei mir...«, unterbrach er sie mit forschendem Blick, »...als du meine Ankunft in eurem Land gesehen hast?« Antarona blieb stehen und berührte wie in einer Offenbarung seine Oberarme.
»Ja, Ba - shtie, ich sah das Zeichen von Talris auf eurer Haut, die Zeichen, die euch die Götter gaben, ich sah eure Kleidung, die sich nicht im Wind bewegte und die Schale mit dem kreisenden Stab. Doch ich sah nicht eure Augen, ob sie gut waren, oder verschlagen...«
»...darum hast du mich verfolgt, hast mich gesucht, um dir sicher zu sein, wer ich bin?«, setzte Sebastian ihren Gedanken fort. Antarona nickte stumm. Sie dachte einen Moment lang nach, bevor sie ihm anvertraute:
»Sonnenherz musste wissen, ob ihr dieser seid, welcher uns in der Prophezeihung von Talris verheißen ist. Ihr seid die letzte Hoffnung des Volkes, Ba - shtie.., Sonnenherz wollte als erste an eurer Seite stehen, wenn ihr euch gegen die Bedrohung des Volkes stellt.«
Sebastian antwortete nicht. Er wollte sich nicht schon wieder auf eine Diskussion einlassen, deren Verlauf er vielleicht nicht mehr steuern konnte und der neue Missverständnisse hervor rief. Statt dessen nickte er nur und nahm Antaronas Hand beschützend in die seine. Er wollte sich in seiner Entscheidung, Bergbauern in einen unbekannten Kampf zu führen nicht festlegen. Das jedoch konnte er ihr nicht sagen, denn er liebte sie und hatte nicht dem Mut, zu riskieren, dass sie ihn verachtete.
Schweigend gingen sie um einen Hügel herum. Nichts ahnend hing Sebastian seinen Gedanken nach, als vor ihnen ein windschiefes, zweistöckiges Haus auftauchte. Es stand in einer Senke, umgeben von ein paar alten, mächtigen Bäumen. Das Haus war alt, teils aus Felssteinen, teils aus dunkelbraunem Holz errichtet. Graue Steinschindeln bedeckten das Dach, das um einiges steiler war, als die Dächer der Häuser, die Sebastian bisher gesehen hatte.
Einige große und kleine Hütten standen um einen Platz vor dem Haus herum. Sie besaßen die typischen Dächer der Dörfer im Tal. Ein grober Zaun umgab einen Teil des Platzes, während der hintere Teil des Hofes von einem großen See begrenzt wurde, der sich in die Wiesen hinein zog.
Vor dem urigen, alten Haus, das Heimeligkeit und Geborgenheit vermittelte, stand eine grob gezimmerte Bank auf der ein ebenso grob scheinender, fast hünenhafter Mann saß. Als er Antarona und Sebastian erblickte, stand er auf und trat ein paar Schritte hervor.
Der Mann, der dort in die Höhe wuchs, war riesig, gewiss einen Kopf größer, als Sebastian. Auf einem stämmigen, keineswegs dicken Körper thronte ein großer kantiger Kopf. Volles, weißes Haar, sowie ein mächtiger, weißer Bart umrahmten das Haupt des Mannes und ließ ihn noch gewaltiger erscheinen.
In dem wirren und zerzaust wirkenden Haarwuchs ruhte ein mürrisches, Sorgen gepeinigtes, aber entschlossenes Gesicht. Große, wache Augen stachen aus gebräunter Haut hervor und beobachteten die beiden näher kommenden. Dabei stemmte der Mann seine kräftigen, furcht einflößenden Arme mit groben Fäusten in die Hüfte. Sebastian war davon überzeugt, dass diese Fäuste einen Felsenbären mit einem Schlag niederstrecken konnten.
»Mein Vater...«, flüsterte Antarona ihrem Begleiter ehrfürchtig zu. Wieso war Sebastian wohl bereits selbst darauf gekommen? Ihm klang noch in den Ohren, was der Wasserbauer zu ihm sagte: ...sie ist des Holzers liebstes Kind, sein ganzer Stolz... Der Holzer ist ein guter Mann.., aber verstockt und eigensinnig. Eine raue, harte Schale umgibt sein Herz, das vor Kummer krank ist! Seid ihr so stark, Herr, dass ihr ihm die einzige Rosenknospe in seinem Garten nehmen könnt, ohne, dass er euch den Schädel einschlägt?
Dort stand sie nun, die raue, harte Schale, der Mann, dessen einzige Tochter Sebastian über alles liebte. Und die heimliche Liebe zu Antarona war es wohl, die ihn beim Anblick dieser starken Autorität nicht sofort vor Angst weiche Knie bekommen ließ. Ein mulmiges Gefühl in seinem Bauch ließ Sebastian seinen Schritt verlangsamen, während Antarona seine Hand los ließ und ihren Gang beschleunigte.
Ihr Vater stand starr vor seinem Haus und wartete. Sein leinenfarbenes Hemd schien ihm viel zu eng zu sein, denn es klaffte an einer Schnürleiste weit auseinander und ein dichter Wald von weißen Brusthaaren quoll daraus hervor. Eine derbe Lederschürze verhinderte wohl, dass der mächtige Körperbau des Mannes den Stoff einfach sprengte. Beine wie Baumstämme steckten in derben Lederstiefeln und Sebastian vermutete, dass ein ausgewachsener Ochse seine Haut dafür lassen musste.
Der Holzer breitete langsam seine mächtigen Arme aus, um seine Tochter zu begrüßen. Als er Antarona wie eine Stoffpuppe an sich drückte und hoch hob, befürchtete Sebastian schon, die riesigen Pranken dieses Mannes würden seine Geliebte schlicht zerquetschen.
Ein Blick, der abwechselnd seine Tochter ansah und dann wieder argwöhnisch auf Sebastian viel, sprach Bände. Antarona wurde von ihres Vaters Augen begutachtet, als vermutete dieser, Sebastian hätte heimlich ein Stück aus seinem Töchterchen herausgeschnitten. Als er festgestellt hatte, dass sein Kind noch all seine Gliedmaßen besaß, stellte er sie unsanft wieder auf den Boden.
Mit donnernder Stimme fragte er sie etwas, das Sebastian nicht verstand. Doch die Frage schien Antarona nicht sehr zu gefallen, denn sie antwortete nur knapp und deutete auf Sebastian, der in einiger Entfernung nervös von einem Bein auf das andere trat. Ihr Vater schien Sebastian gar nicht wahr zu nehmen, er ignorierte ihn völlig. Statt dessen redete er in vorwurfsvollem Ton auf seine Tochter ein.
Antarona ließ sich aber nicht im Mindesten von ihrem Vater einschüchtern. Sie trat einen Schritt von ihm zurück, streckte ihm beinahe feindselig die Handflächen entgegen und fauchte ihn gefährlich an. Sebastian kannte ihre Art so zu reagieren und wusste, dass es besser war, sie in diesem Zustand nicht noch mehr zu provozieren. Offenbar kannte auch der Holzer diese Marotte seiner Tochter.
Er setzte eine verzweifelte Mine auf und redete beruhigend auf sie ein. Doch wenn Antarona erst einmal richtig in Fahrt geriet, war es fast unmöglich, sie wieder zu besänftigen. Blitzschnell, dass Sebastian der Schreck in die Glieder fuhr, packten des Holzers Pranken zu! Er hob seine Tochter wie ein welkes Blatt hoch und schüttelte sie, wohl um sie zur Besinnung zu bringen.
Doch erreichte er damit lediglich, dass sie noch wütender wurde. Ihre kleinen Fäuste trommelten gegen seine breite Brust und sie zischte ihm dabei Worte wie Gift und Galle ins Gesicht. Angesichts dieser nicht zu bändigenden Furie setzte er sie resigniert wieder ab, jedoch so heftig, dass sie in den Staub des Hofes fiel. Sebastian wollte gerade vortreten und der rüden Art ihres Vaters Einhalt gebieten, doch Antarona kam ihm zuvor.
Wie ein Panther sprang sie auf die Füße und schrie ihren Vater aufgebracht an, dass sich ihre Stimme beinahe überschlug. Dann drehte sie sich demonstrativ um, stampfte in energischen Schritten zu Sebastian hinüber und legte übertrieben liebevoll ihre Arme um dessen Hals. Dabei sah sie ihren Vater mit herausfordernden, funkelnden Augen unmissverständlich an.
Sebastian war von der ganzen Situation überrumpelt und völlig verunsichert. Aber er ahnte, dass es um ihn ging und sah seine einzige Chance, die Sympathie dieses Mannes zu gewinnen, darin, sich zwar mit Antarona zu solidarisieren, aber ihrem Vater im gleichen Zuge Verständnis und Respekt entgegen zu bringen.
Der Holzer indes wusste sich angesichts der Starrköpfigkeit seiner Tochter nicht anders zu helfen, als ihr ihren Willen zu lassen und sich mit ihrem Eigensinn zu arrangieren. Er stand unschlüssig und ziemlich verdattert da und suchte nach Worten. Das war Sebastians Gelegenheit, die Aufmerksamkeit des Holzers auf sich zu lenken.
Versöhnlich küsste er Antarona auf die Stirn und sah ihr tief in die Augen. In deutlichem Ton, so dass ihr Vater ihn hören konnte, sagte er:
»Lass mich deinen Vater begrüßen... Er hat ein Recht zu wissen, wen seine Tochter vor seinen Augen umarmt...« Damit ließ er Antarona los und ging ein paar Schritte auf den Mann zu, der ihn um Kopfes Größe überragte und ihm skeptisch und prüfend entgegen blickte. Sebastian spürte deutlich die Ablehnung, die ihm Antaronas Vater entgegen warf. Doch er ließ sich davon nicht einschüchtern, entwickelte sogar im Bruchteil von Sekunden eine innere Sicherheit, die ihn selbst erstaunte. Lauknitz streckte dem verblüfften Mann die Hände entgegen.
»Guten Abend.., mein Name ist Sebastian Lauknitz...« Weiter kam er nicht. Der Holzer sah mit eingefrorenem Blick durch Basti hindurch, drehte sich dann tonlos um und ging langsam in Richtung Haus davon.
Sebastian sah ihm verzweifelt nach, als er Antaronas Stimme hinter sich vernahm. Sie sprach in ruhigem, entschlossenem Ton nur einen einzigen Satz. Doch ihre Worte ließen den Vater gegen eine unsichtbare Wand laufen. Er blieb abrupt stehen und drehte sich zögerlich um...
Zwei oder drei Tränen rannen aus seinen Augen, suchten sich ihren Weg über seine zerfurchten Wangen und verschwanden in seinem dichten Bart. Mit einem Mal wirkte er nicht mehr so kraftvoll und unnahbar. Seine Mächtigkeit schien augenblicklich in ein Häuflein Elend zu verfallen. Antaronas Worte mussten ihn so tief getroffen haben, wie die Schneide ihres Schwertes.
»Was um Himmels Willen hast du ihm gesagt?«, fragte Sebastian sie erschrocken. Plötzlich empfand er Mitleid für diesen großen Mann, der ihn gerade noch mit Missachtung strafte.
»Sonnenherz hat ihrem Vater gesagt, dass sie nicht mehr seine Tochter ist, wenn er euch, Ba - shtie, nicht in seinem Haus willkommen heißt...« Sie setzte eine entschlossene, schmollende Mine auf, bevor sie fort fuhr: »...ich habe ihm gesagt, dass er seine Tochter niemals wiedersehen wird, wenn er den Mann missachtet, den sie in das Heim ihres Vaters bringt!«
»Das meinst du doch nicht ernst.., oder?« Sebastian war mehr erschüttert, als verwundert. Eigentlich hätte er froh sein können, dass die Frau, die er über alles liebte, so konsequent zu ihm stand. Dass sie jedoch bereit war, dafür ihren eigenen Vater zu verstoßen, konnte er nicht begreifen.
»Er ist ein alter Dickkopf...«, versicherte ihm Antarona nachdrücklich, »...aber er ist guten Herzens... Darum muss man ihn ein ums andere Mal zum Guten zwingen. Ich tue es nicht gern, aber ich liebe meinen Vater und ich liebe mein Volk... Er begreift es nicht anders!«
Aha, dachte Sebastian... Sie liebt ihren Vater und ihr Volk... Wo blieb dann er, Sebastian Lauknitz? War er tatsächlich nur das Werkzeug, dass sie brauchte, um ihr geliebtes Volk zu verteidigen? Es war offensichtlich, was ihr Vater dachte... Und Sebastian wünschte sich, Antarona würde augenblicklich den möglichen Verdacht zerstreuen, ein fremder Mann hätte sie verführt, damit ihr Vater dem Mann der Götter vertraute und ihm zuhören würde. Sie wollte, dass Sebastian das Volk gegen Torbuk führte und der Schlüssel dazu war nun einmal ihr Vater und der Achterrat!
Der Gedanke, dass seine Liebe nur einseitig war, entmutigte Sebastian auf der Stelle. Antaronas Vater schien Gedanken lesen zu können. Als spürte er Sebastians plötzliche Schwäche, ging er unvermittelt offen auf ihn zu, blieb zwei Schritte breitbeinig vor ihm stehen und musterte ihn von Kopf bis Fuß. Er nahm Sebastians Schwert in die Hand, prüfte es kurz und ließ es mit geringschätzigem Blick wieder los.
»Befreit den Fell.., wer ihr sagt, sein will...« Er sprach mit einer Unsicherheit, als musste er jedes Wort einzeln aus seinem Gehirnkasten zusammensuchen. Sebastian war irritiert. Er verstand wohl die Worte, konnte aber rein gar nichts damit anfangen. Fragenden Blickes schaute er sich zu Antarona um.
»Mein Vater will die Zeichen der Götter sehen, die ihr auf der Haut tragt, Ba - shtie...«, erklärte sie ihm, »...er kann es nicht besser sagen, denn er kennt nur wenige Worte der Sprache aus dem Reich der Toten.«
Sebastian nickte und kam dem Wunsch ihres Vaters nach. Umständlich zog er sich das Lederhemd über den Kopf. Der Holzer blieb zunächst mit versteinerter Mine vor ihm stehen. Erst als ihm Sebastian ein einladendes Zeichen gab, begann er ihn neugierig zu umrunden. Seine Augen blieben dabei teilnahmslos, kalt und leer, bis er Sebastians rechten Arm in Augenschein nahm.
Beim Anblick der eintätowierten Sonnenkachina erschrak er, wich einen Schritt zurück und sein Gesicht nahm für einen Moment den Ausdruck nackten Entsetzens an. Augenblicklich gewann er seine Fassung zurück, nahm mit derbem Griff Sebastians Oberarm und rieb an der Haut. Ähnlich wie Antarona bei ihrem ersten Zusammentreffen, glaubte er wohl, die Zeichen waren aufgemalt.
»Du hat von Bild in Sonnenherz...«, stotterte er zusammen, packte noch fester zu, so dass Sebastian die Tränen in die Augen traten und zerrte ihn rücksichtslos an die Seite seiner Tochter, die beide ratlos ansah. Er sagte etwas in der Sprache des Volkes, das wie ein Befehl klang und Antarona einen Schritt zurückweichen ließ. Sie antwortete ihm aufgebracht. Sebastian konnte deutlich den Klang von Empörung heraushören. Doch ihr Vater blieb unnachgiebig, deutete auf den Boden und wiederholte seine Anweisung.
Sebastian Lauknitz staunte nicht schlecht, als seine Gefährtin damit anfing, die Knoten an ihrem Hüftschurz zu lösen. Was sollte das nun wieder werden? Wollte der Alte ihren Dickkopf brechen, indem er sie beide zwang, sich vor seinen Augen zu vereinen? Sebastian schossen die skurrilsten Gedanken durch den Kopf. Immerhin verging seit seinem Sturz am Zwischbergenpass kein Tag ohne irgendeine unfassbare Überraschung. Man gewöhnte sich ja an so einiges...
Schließlich fiel Antaronas Bekleidung in den Staub und enthüllte ihren Unterleib. Sebastian wollte peinlich berührt wegschauen, doch der Holzer zwang ihn mit eisernem Griff seine Tochter anzusehen. Antarona selbst stand mit leeren Augen da, als blickte sie in eine endlose Weite.
Sebastian entdeckte gut fünfzehn Zentimeter schräg unter ihrem Bauchnabel eine braune, rund gezackte Hautverfärbung, die seinem Tattoo, seiner Sonnenkachina fast bis ins Detail ähnelte. Verblüfft starrte er darauf und bemerkte nicht, wie sich seine neue Freundin immer mehr verkrampfte. Erst als ihr Vater beide Zeichen prüfend miteinander verglich, wurde Sebastian bewusst, welche Erniedrigung Antarona über sich ergehen lassen musste.
Er riss sich mit einem Ruck aus dem Griff ihres Vaters und stieß diesen zur Seite. Ohne zu überlegen hob Sebastian sein Lederhemd vom Boden auf und band es Antarona mit den Ärmeln um die Hüfte. Der Holzer wollte aufbegehren und trat einen Schritt vor. Jedoch nur einen einzigen Schritt...
»Das reicht jetzt aber!«, schnauzte ihn Sebastian an, »...Sonnenherz mag eure Tochter sein.., doch wer im Namen der Götter gibt euch das Recht, sie zu behandeln, als wäre sie ein Stück von eurem Vieh?« Er stellte sich schützend vor Antarona und beobachtete ein gefährliches Blitzen in den Augen des großen, alten Mannes. Das schüchterte Sebastian aber nicht mehr ein. Statt dessen redete er sich geradezu in eine Rage, dass der Holzer vor Erstaunen in seiner Bewegung innehielt.
»Ich will dir jetzt mal etwas sagen, alter Mann... Dein Kind.., Sonnenherz, hat lange Zeit das getan, was eigentlich deine Aufgabe gewesen wäre, ist dir das klar? Sie allein besitzt den Mut, den die Männer in diesem Tal haben sollten! Hat ihr je einer geholfen, wenn sie Tag und Nacht versucht hat, die Töchter des Volkes aus Torbuks Hand zu befreien, hat je einer von euch den Mut gehabt, das zu tun, was sie getan hat? Ihr solltet sie nicht so respektlos behandeln, Herr Holzer, denn sie ist mehr Krieger, als ihr alle zusammen genommen!« Sebastian musste schon nach Atem ringen. Er beruhigte sich kurz etwas, bevor er leise und gefährlich langsam hinzufügte:
»Und wenn du Antarona noch einmal so behandelst, dann leg - ich - dich - um!« Die letzten Worte sprach Sebastian mit Betonung auf jeder Silbe, um dem Holzer die Ernsthaftigkeit seiner Worte deutlich zu machen. Gleichzeitig wurde ihm jedoch bewusst, dass der Alte ihn wahrscheinlich gar nicht verstand. Und er malte sich aus, was geschehen wäre, wenn Antaronas Vater seine Worte verstanden hätte. In dem Fall würde Sebastian Lauknitz jetzt wohl an einem ausgestreckten Arm hängen...
Basti verspürte trotzdem noch genug Empörung in sich, um diesem ungehobelten Klotz noch etwas in Bezug auf seine Verstocktheit und Unfreundlichkeit aufzutischen. Doch Antarona, die inzwischen ihre Überlegenheit zurückgewonnen hatte, legte ihm besänftigend die Hand auf seinen Arm.
»Lasst es gut sein, Ba - shtie.., mein Vater meint es nicht so... Sonnenherz kann ihn verstehen. Er sorgt sich um sein Kind und vergeht vor Angst, wenn seine Tochter durch das Land streift.«
»Mag sein...«, entgegnete Sebastian versöhnlich, »...aber wenn du seine einzige Tochter bist, dann sollte er dich nicht so mit dir umspringen!« Auf einem Mal viel Sebastian wieder ein, was der Alte von seiner Tochter verlangt hatte und drehte sich abrupt zu ihm um.
»Sagt mal, Herr Holzer.., was sollte das denn eigentlich werden.., die eigene, erwachsene Tochter dazu zwingen, sich vor einem Fremden zu entblößen? Dort, wo ich herkomme, landet man für so etwas vor Gericht...«
»Ba - shtie...«, unterbrach ihn das Krähenmädchen hastig, »...es ist genug! Mein Vater wollte euch nur zeigen, dass auch ich das Zeichen der Götter trage. Es ist nicht von der Farbe der Blumen, wie das eure, aber ich trug es von jener Zeit an, wo ich unter dem Herzen meiner Mutter die Sonne erblickte. Ich kam mit dem Zeichen Talris auf diese Welt und mein Vater hat seither Angst, Torbuk könnte von diesem Geheimnis erfahren und mich töten wollen, weil er um seine Macht fürchtet.«
»Na, das ist ja mal was ganz Neues...«, polterte Sebastian in seinem berühmten Sarkasmus los, »...überleg mal, mein Engelchen.., du hast nicht zufällig schon längst dazu beigetragen, dass dich dieser Mordbrenner liebend gern in die Finger kriegen möchte?« Forschend sah er sie an, bevor er weiter sprach. »So wie ich das sehe, hast du ihm bereits so gehörig auf die Hühneraugen getreten, dass er nicht erst von einem verborgenen Hautfleck erfahren muss, um dich in seinen tiefsten Kerker zu wünschen. Und das sollte inzwischen auch deinem Vater klar sein!«
Kopfschüttelnd wandte sich Sebastian wieder ihrem Vater zu und wollte diesem zur Versöhnung die Hand reichen. Der jedoch erwachte aus seiner kurzen Passivität, drehte sich stur um und marschierte zum Eingang seines Hauses. Tonlos warf er ihnen noch ein paar Worte über die Schulter zu.
»Was hat er gesagt?«, fragte Sebastian seine Gefährtin. Antarona hob ihren Hüftschurz und ihre Waffen auf und trat neben ihn.
»Er hat gesagt, wir sollen hereinkommen, er hat uns ein Nachtmahl bereitet...« Sebastian sah sie verdutzt an.
»Uns.., habe ich das richtig verstanden, hat er uns gesagt? Meint er wirklich dich und mich?«, fragte Basti übertrieben betont.
»Ja, Ba - shtie, er meint uns beide!« Antarona lächelte ihn liebevoll an. »Von Tekla und Tonka wusste er bereits, dass wir kommen und er wollte uns beide in seinem Haus willkommen heißen, so, wie er stets alle Freunde von Sonnenherz begrüßt. Der Kummer tief in seinem Herzen lässt ihn das aber ein um’s andere Mal vergessen. So erinnert ihn Sonnenherz wieder an das Gute in seinem Herzen...«
»...Wie gerade eben...«, beendete Sebastian ungefragt den Satz für sie. Seine Gefährtin antwortete nicht, zog ihn statt dessen an der Hand mit sich und hinter ihrem Vater her. Sebastian folgte ihr in das Haus des Holzers und war angenehm überrascht.
Hatte er, ähnlich wie bei Högi Balmer, eine armselige, chaotische Behausung vermutet, so irrte er sich gewaltig. Antaronas Vater war zwar ebenso einfach, doch mit erstaunlich penibler Ordnung eingerichtet. Sie traten zunächst in einen geräumigen Flur, der verschiedene Kleidungsstücke, Schuhe und Geräte beherbergte. Die Wände bestanden aus einer schlichten, groben Aufeinanderreihung von geschälten Holzstämmen. Mäntel, Jacken und Westen aus Fell waren sauber an Wandhaken aufgereiht, Schuhe und Stiefel mit militärischer Genauigkeit darunter gestellt.
Diverse Werkzeuge, welche der Hausherr offenbar ständig brauchte, hingen in einheitlicher Höhe an der gegenüberliegenden Wand. Der Holzer ging voran in einen weiteren, viel größeren Raum, der Sebastian sofort an die niedrige, gemütliche Gaststube einer alten Kandersteger Wirtschaft erinnerte.
In einem verhältnismäßig großen Kamin knisterte ein Feuer, das Licht und Wärme angenehm im Raum verteilte. Ein aus Hirschgeweihen kunstvoll gearbeiteter Kronleuchter spendete zusätzliche Helligkeit. Darunter stand ein Tisch, der für einen Riesen gemacht schien. Eine sechs Zentimeter dicke, polierte Naturholzplatte ruhte auf sechs stämmigen, grob behauenen Beinen, deren Oberfläche ebenfalls spiegelglatt war.
Auf dem Tisch standen neben drei Gedecken die verschiedensten Speisen und zogen Sebastians hungrigen Blick in ihren Bann. Die ebenmäßig geschnitzten Stühle, die den Tisch umgaben, passten so gar nicht zu der rustikalen Note, versprachen aber müden Gliedern ein angenehmes Mahl.
Mächtige, von der Last des oberen Stockwerks durchgebogene Holzbalken überspannten die Tafel. An ihnen hingen die verschiedensten Holzschnitzereien, von einer Gesichtsmaske bis hin zum Modell eines seltsam geformten Schiffes. Schränke, ein weiterer Tisch und etwas gemütlichere, niedrigere Stühle füllten den Rest des Raumes, dessen Wände mit natürlichem, glattem Holz vertäfelt waren. Ein ganzes Sammelsurium von Waffen, Fellen, Pfeifen und schön geschnitzten Regalen sorgten dafür, dass den Betrachter keine kahle Fläche anglotzte.
Die Wand neben der Eingangstür war mit verschiedenen Fellen behängt. Darunter standen aneinandergereiht Truhen aus Holz. Sie waren so zusammen geschoben worden, dass sie eine durchgehende Bank ergaben, deren Sitzfläche ebenfalls üppig mit Fellen ausgestattet war.
Kleine Butzenfenster, die wie ein weiteres Einrichtungsaccessoire in der Vielfalt der Gegenstände an der Wand untergingen, besaßen sogar Vorhänge aus grobem Leinenstoff, die Sebastian erzählten, dass hier eine Frau ihre gestalterische Hand an die Stube gelegt hatte. Selbst der Fußboden bestand, anders, als in Balmers Hütte, aus derben, in der Oberfläche aber glatt gehobelten Dielen. Alles in allem machte das Innere der Hütte einen gemütlichen Eindruck und lud zu Geborgenheit ein.
Lauknitz registrierte noch zwei Türen, von denen eine offen stand und wohl in eine Art Küche führte. Dort hinein war der Holzer verschwunden. Sebastian hörte ihn mit allerlei Dingen hantieren.
»Ba - shtie.., setzt euch und labt eure müden Beine... Sonnenherz bringt ihr Bündel und ihre Waffen in ihr Gemach...« Damit ließ sie ihn stehen und verschwand durch die zweite Tür. Er hörte Holz knarren und vermutete, dass Antarona eine Stiege hinauf ging.
Plötzlich war er mit seinen Gedanken allein. Ein befremdendes Gefühl beschlich ihn. Es war dieses Empfinden, das einen heimsuchte, wenn man nicht weiß, ob man willkommen ist, oder nur als Anhängsel geduldet. Sebastian zwang sich, die ganze Situation mit Gelassenheit zu ertragen, obwohl er am liebsten sofort zurück in die Wälder geflüchtet wäre. Möglicherweise war es auch der Grad seiner Erschöpfung, der ihn sich in sein Schicksal ergeben ließ.
Vorsichtig wanderte er durch die Wohnstube des Holzers und sah sich genauer um. Jeder Gegenstand, den Sebastian entdeckte, war er nun nützlich, oder als bloße Dekoration zu betrachten, besaß Charakter. Alles war von sehr einfacher Herstellungsweise, dennoch aber mit viel Liebe und Sorgfalt gefertigt.
Ein fein geschnitztes, hölzernes Gefäß, nach unten wie ein Füllhorn verjüngt, hing in einem geschmiedeten Ring an der Wand. Offenbar diente es als eine Art Vase, oder Kerzenhalter. An anderer Stelle gewahrte Sebastian eine mit reicher Schnitzerei versehene Tafel, die in mehreren Feldern angeordnete Symbole zeigte. Jedes Symbol besaß eine kleine Bohrung, in die eine kleine Figur gesteckt werden konnte. Dieses Gebilde glich sehr einem Kalender.
Handgeschnitzte, mit roter und gelber Farbe bemalte Figuren teilten sich den Platz mit kunstvoll gefertigten Tabakspfeifen und vielen schmalen Regalen, die mit allerlei Kleingegenständen gefüllt waren. In einem größeren Regal standen Bücher...
Sebastian musste zwei Mal hinsehen. Bücher hätte er nach seiner bisherigen Erfahrung in dieser Welt als letztes vermutet. Doch dort reihten sich dicke, in feines Leder gebundene Werke mit eigentümlichen Schriftzeichen aneinander. Darüber waren Papierrollen gestapelt.
Behutsam griff Sebastian nach einem dicken Buch. Ganz langsam zog er es aus der Reihe der gesammelten Werke... Mit einem hohlen Rascheln fiel das Gebäude der aufeinander gestapelten Papierrollen in sich zusammen. Das Regal überließ die verschieden großen Rollen der Schwerkraft und ließ sie über den Boden tanzen.
Das dicke Buch noch in der Hand, stand Sebastian versteinert da. Das musste ausgerechnet wieder ihm passieren! Im Stillen verfluchte er seine Neugier, die ihn immer wieder in solche Situationen brachte.
Gebannt lauschte er auf die Geräusche in der Küche. Offenbar hatte der Holzer nichts von seinem Missgeschick bemerkt, obwohl Basti hätte schwören können, dass die Papierrollen einen Höllenlärm verursacht hatten. Rasch stellte er das Buch wieder in die Reihe zurück, gerade, dass er noch ein geprägtes Symbol auf dem Buchdeckel erkennen konnte, das er schon zwei Mal gesehen hatte...
Dieses Symbol des Drachenreiters erblickte er zum ersten Mal auf seinem Weg von Balmers Hütte hinab in das Tal. Den großen, silbernen Anhänger, den er einem Skelett abgenommen hatte, der eben genau dieses Zeichen trug, verbarg er noch immer in der Seitentasche seines Rucksacks. Das zweite Mal sah er dieses Symbol aufgenäht auf den schwarzen Rüsthemden von Torbuks Pferdesoldaten!
Sebastian war versucht, das Buch noch einmal aus dem Regal zu ziehen und der Sache auf den Grund zu gehen. Seine Neugier konnte jedoch jeden Augenblick entdeckt werden! Also zügelte er seinen Wissensdurst. Dennoch dachte er über seine Entdeckung nach, während er versuchte, die Papierrollen wieder in das Regal zu verfrachten. Die schienen ein Eigenleben zu besitzen und Sebastian fragte sich, mit welch geheimnisvoller Kraft sie zuvor auf den Büchern liegen geblieben waren.
Endlich lag wieder jedes Teil an seinem Platz. Das Symbol des Drachen ging Sebastian jedoch nicht mehr aus dem Kopf. Die Tatsache, dass Torbuks Soldaten dieses Zeichen auf ihren Waffenhemden trugen, ließ ihn das Symbol untrennbar mit der Macht dieses Raubritters, sowie mit diesem selbst in Verbindung bringen. Wieso aber stand ein Buch mit dem Symbol Torbuks ausgerechnet im Regal des Mannes, der seine geliebte Frau durch eben diesen Unterdrücker gewaltsam verloren hatte? Wusste Antarona davon? Sebastian überlegte, ob er sie danach fragen sollte.
Er dachte noch über diese Frage nach, als er schon das nächste Stück erblickte, das seine Neugier weckte. Über dem Kamin hingen drei kunstvoll geschmiedete Schwerter. Zwei besaßen eine schlichte, blank geputzte Klinge, sowie einfach verzierte Griffstücke. Das dritte aber schien etwas Besonderes zu sein. In seinen Griff, insbesondere in sein Parierstück waren Symbole aus schwarz glänzendem Stein als Einlegearbeit eingelassen. Es waren die gleichen Symbole, die er in den Tafeln von Talris, sowie in dem Obelisken am Bergweg entdeckt hatte.
Sebastian musste nicht lange überlegen, um auf den Gedanken zu kommen, dass dieses Schwert etwas besonderes war. Er wurde das unbestimmte Gefühl nicht los, dass diese Waffe noch einmal von entscheidender Bedeutung für ihn werden sollte. Heimlich fasste er den Entschluss, die nächste Gelegenheit zu nutzen und die Schriftzeichen des Schwertes in sein Tagebuch zu übertragen.
Das Knarren von Holzdielen verriet ihm, dass Antarona zurück kam. Die Holztür öffnete sich und Sebastian blieb die Sprache weg. Sonnenherz hatte ihren ledernen Bikini abgelegt. Anstelle der aufreizenden, wilden Bekleidung trug sie nun einen schlichten, biederen Rock aus feinem, ungebleichten Leinen, das ihr bis zu den Knöcheln reichte und in einer unauffälligen Bordüre endete.
Das Oberteil aus gleichem Stoff erinnerte Basti an Märchenfilme. Ähnlich einem mittelalterlichen Mieder war die ärmellose Bluse im Rücken mittels Kreuzschnürung zusammengebunden. Antarona musste dieses Stück bereits einige Zeit besitzen, denn es war ihr offensichtlich zu klein geworden.
Sie musste sich mit aller Macht in dieses Kleidungsstück gezwängt haben, denn ihre Brüste sprengten beinahe den Ausschnitt. Dazu saß das Teil so hoch, dass es kaum ihren Bauch bedeckte und Sebastian sich fragte, wozu sie sich überhaupt umgezogen hatte. Wahrscheinlich trug Antarona fast ausschließlich ihren Lederbikini, so dass sie ihrer anderen Kleidung inzwischen entwachsen war.
Dennoch sah sie faszinierend aus. Ihr unbändiges Haar hatte sie grob geflochten und mit ihrem Federschmuck nach hinten gesteckt. Damit erinnerte sie Sebastian nun vollends an die Märchengestalt Pocahontas. Er war sicher, dass sie selbst in Lumpen gekleidet noch seine Sinne betören konnte.
Spontan nahm er sie bei den Händen und musterte sie anerkennend. Antarona wollte beschämt zur Seite sehen, doch Sebastian hob ihr Kinn an und blickte ihr tief in die Augen.
»Du bist so schön, wie eine Prinzessin, mein Engelchen.., wie die schönste, leuchtendste Blume auf den Wiesen...«
Sein schwärmerisches Kompliment wurde jäh unterbrochen. Antaronas Vater kam lautstark in die Stube gepoltert und stellte einen riesigen, dampfenden Kupfertopf auf den Tisch. Ein unverständliches Murmeln entrang sich seiner Kehle und er wies auf die jungfräulichen Stühle am Tisch, bevor er am kürzeren Ende der Tafel Platz nahm.
»Wir sollen uns setzen und mein Vater wünscht, dass wir alle seine Speisen probieren«, übersetzte Antarona. Sebastian verbeugte sich zu dem Alten hin und bedankte sich. Da er die Sprache des Volkes nicht beherrschte, unterstrich er seinen Dank mit einer ausholenden Geste seiner Hand.
Der Holzer jedoch würdigte ihn keines Blickes. Mit mürrischem Gesicht schaufelte er sich das Essen auf den hölzernen Teller und sah seine Tochter erwartungsvoll an, bis auch sie sich aus dem großen Topf bediente. Schließlich reichte sie Basti den groben Löffel, der sicherlich einmal als Kohlenschaufel sein Dasein gefristet hatte. Ihr auffordernder Blick genügte Sebastian, um sich ebenfalls den Teller recht großzügig zu füllen.
Die zähe, klebrige Masse, die Sebastian Mühe hatte, auf seinen Teller zu bekommen, erinnerte ihn an Kartoffelbrei. Nur war diese Speise etwas fester und von angerösteten Zwiebeln und Speck durchsetzt. Sebastian verspürte ein riesiges Loch in seinem Magen, das sich beim Anblick des dampfenden Essens mit schmerzender Leere füllte. Ohne lange zu überlegen stopfte er das Gericht in sich hinein, wie ein ausgehungerter Wolf.
Verstohlene Blicke des Holzers beobachteten ihn. Zunächst nahm es Sebastian gar nicht wahr, doch nach mehrmaligem Hinsehen erkannte er, dass sich die Mine des Alten deutlich aufhellte. Je mehr Essen er in sich hinein schob, desto freundlicher wurde das Gesicht des Vaters. Basti nickte anerkennend zu ihm hinüber und beschrieb mit seiner Hand eine Kreisbewegung vor seinem Bauch, um diesem die Schmackhaftigkeit des Gerichts zu bestätigen.
Da geschah etwas, was Sebastian kaum noch für möglich gehalten hatte. Ein plötzliches, strahlendes Lächeln erhellte des Holzers Gesicht.
»Essen viel alles in Abend jetzt...«, brachte er freudig kauend hervor. Auf einem Mal schien er wie verwandelt. In einer ausholenden Bewegung deutete er mit seinem Löffel über den Tisch und sagte etwas zu Antarona in der Sprache des Volkes. Sie schien an die Wankelmütigkeit ihres Vaters gewöhnt zu sein und übersetzte eher teilnahmslos:
»Ba - shtie.., nehmt auch von den anderen Speisen, mein Vater freut sich, wenn es euch mundet!« Das ließ sich Sebastian Lauknitz nicht zwei Mal sagen. So ausgehungert wie er nach dem tagelangen Marsch über die Berge war, hätte er einen ganzen Ochsen mitsamt Hörnern und Hufen verschlingen können.
Sebastian versuchte einen Braten, der wie Hühnchen schmeckte, kostete von einem Gemüse, das einem Kohlrabi nicht unähnlich war und vertilgte vier große Stücke von einem Apfelkuchen, der mit scharfen, weihnachtlichen Gewürzen einen unbekannten aber interessanten Geschmack besaß. Das alles spülte er mit einer Art Traubensaft hinunter, den der Holzer in einem dickbäuchigen, schweren Krug servierte.
Nachdem Sebastian den fünften, bis zum Rand mit Most gefüllten Becher einer Wafankeule hinterher in seinen Schlund gegossen hatte, lehnte er sich völlig ermattet zurück. So vorzüglich das opulente Nachtmahl auch war, er bekam keinen Bissen mehr hinunter. Sein Bauch fühlte sich an, als müsste er jeden Augenblick explodieren. Mit beiden Händen hielt er sich seinen gesättigten Leib und bedeutete Antaronas Vater, dass er nie bessere Speisen gekostet hatte.
Der freute sich darüber, wie ein kleines Kind über ein neues Spielzeug. Vergnügt holte er eine der Pfeifen von der Wand und drückte sie bis zum Rand mit Tabak voll. Dabei bedeutete er Sebastian, sich ebenfalls eine Pfeife auszusuchen und warf ihm ohne große Umschweife seinen Tabaksbeutel zu.
Basti kramte seine eigene Pfeife aus der Tasche und begann sie mit dem angebotenen Kraut zu stopfen. Als Antaronas Vater dies sah, musste er lachen. Sein ganzer, massiger Körper bebte im Zweitakt seines Humors und je unverständlicher Sebastian ihn mit fragendem Blick ansah, desto mehr musste sich der Alte vor Lachen schütteln, bis ihm die Tränen aus den Augen kullerten. Dabei stieß er abgehackte Laute hervor, die dann auch Antarona ein flüchtiges Lächeln entlockten.
»Was ist daran eigentlich so komisch...«, fragte Basti beinahe beleidigt und sah Antarona an, »...hat dein Vater seinen Tabak aus Kuhmist hergestellt, oder warum macht er sich über mich lustig?«
»Er lacht nicht über euch, Ba - shtie...«, erklärte sie ihm, »...er findet eure Pfeife nur reichlich seltsam.., sie ist so klein... Mein Vater befürchtet, dass ihr sie mit dem Rauch zusammen einsaugt, weil sie so winzig ist...«
Nun musste auch er lachen. Allerdings weniger über seine Pfeife, die er für ganz normal hielt. Sebastian amüsierte sich eher über den Gedanken des Holzers, der offenbar glaubte, dass man eine kleine Pfeife versehentlich verschlucken könnte.
Sebastian besaß zwar nicht des Holzers Auswahl an Riesenpfeifen, doch er wollte ihm schon zeigen, dass er ebenfalls eine gute Pfeife nach dem Mahl genießen konnte. Demonstrativ drückte er noch einen zusätzlichen Büschel Tabak in den Pfeifenkopf und holte mit offenem Triumph sein Feuerzeug aus der Tasche.
Selbstsicher setzte er den Tabak in Brand und tat gleich einige große Züge, um Antaronas Vater mit Raum füllenden Paffwolken zu beeindrucken. Das hätte er besser nicht getan...
Zunächst verspürte Sebastian ein Würgen, dass sich aus der Tiefe seiner Lunge nach oben, zur Kehle hin, ausbreitete. Gleich danach signalisierte ihm seine Nase einen kaum auszuhaltenden, fürchterlichen Gestank, der ihm die Tränen in die Augen trieb. Er schnappte nach Luft, ruderte mit den Armen und dann überfiel ihn ein Hustenreiz, der die Wände seines überfüllten Bauches zum Bersten bringen wollte.
Es dauerte eine Weile, bis sich Sebastian Lauknitz wieder in der Gewalt hatte. Sein Gesicht musste eine blassgrüne Verfärbung angenommen haben, denn der alte Holzer bog sich vor Lachen auf seinem Stuhl vor und zurück und wollte sich gar nicht mehr beruhigen. Lediglich Antarona blickte ihren neuen Freund besorgt an.
Sebastian musste zugeben, dass ihm ein solch Ekel erregendes Kraut noch nicht untergekommen war. Vermutlich stellte es Antaronas Vater tatsächlich aus Kuhmist her. Einige Minuten nach den beherzten Zügen an der Pfeife fühlte sich Basti immer noch hundeelend. Er versuchte den Brechreiz zu unterdrücken, der ihm deutlich damit drohte, das üppige Nachtmahl unverdaut wieder aus seinem Magen zu verbannen.
»Kommt, Ba - shtie, frische Luft wird euch gut tun..!« Antarona war aufgestanden und zog Sebastian zur Tür. Er bemerkte, wie sie ihrem Vater einen wütenden Blick zuwarf. Dessen Heiterkeit wollte kein Ende finden. Er steigerte sich in eine Schadenfreude hinein und nahm gar nicht mehr wahr, dass der Gast von seinem Töchterchen entführt wurde. Dröhnendes Lachen begleitete sie hinaus.
Heftig warf Antarona die Tür zu. Anscheinend verstand sie keinen Spaß, wenn es um die Gesundheit ihres Götterboten ging. Sebastian stellte das mit Zufriedenheit fest, den es zeigte ihm, dass er Antarona etwas bedeutete!
Ein kühler Abendwind fuhr ihnen ins Gesicht. Sebastian sog die klare Luft in seine Lungen und erholte sich rasch von der übel riechenden Attacke. Von drinnen her ertönte noch immer das Gelächter des Holzers. Antarona sah sich aufgebracht um, als wäre die Tür Ursache ihres Ärgers.
»Sonnenherz muss sich für ihren Vater schämen...«, versuchte sie sich zu entschuldigen, »...er ist nicht freundlich zu seinem Gast...«
»Ach lass mal...«, beruhigte Basti sie, »...dein Vater ist schon ganz in Ordnung, glaub’ ich. Weißt du, es wird auch für ihn nicht einfach sein, wenn seine einzige Tochter, an der er sehr hängt und um die er so lange gebangt hat, plötzlich mit einem fremden Mann bei ihm auftaucht. Er hat ganz einfach Angst um dich. Er will dich nicht verlieren und vor allem Bösen bewahren. Natürlich wird er mich auf die Probe stellen, um zu verstehen, was ich für ein Mann bin.« Sebastian machte eine kurze Pause und suchte nach den treffenden Worten.
»Sieh mal, mein Engelchen.., dein Vater kann nicht mit mir reden, weil wir eine verschiedene Sprache sprechen, also versucht er auf seine Weise etwas über mich zu erfahren.., ob ich genau so lachen kann, wie er.., oder wie ich mit Schwierigkeiten fertig werde. Und das sollten wir ihm verzeihen, auch wenn er sich im Augenblick etwas grob verhält, findest du nicht auch?«
Antaronas Augen leuchteten im Mondschein wie große Perlen. Sanft berührte ihre Hand sein Gesicht. »Ba - shtie - laug - nids.., ihr seid groß im Herzen und weise im Verstand... Sonnenherz’ Vater wird euch mögen, auch wenn er dies nicht zeigt. Seid gewiss, er achtet euch.., sonst hätte er euch bereits davon gejagt!«
Sebastian nickte still, nahm ihre Hand und führte sie über den Hof durch eine silbern verzauberte Welt im Schein des Mondes. Kaum wagte er die friedliche Ruhe zu brechen:
»Komm, lass uns noch ein Stück durch die Nacht gehen...« Ihre Hände suchten sich und schweigend schlenderten sie zur matt schimmernden Platte des Sees hinüber, der sich hinter dem Haus wie eine Fläche aus Quecksilber erstreckte. Schwarze Silhouetten der Schilfhalme wiegten sich im Takt des Windes. Wie stumme, schlanke Wächter bewachten sie das Ufer. Frösche quakten im dunklen Dickicht und irgendwo zeterte ein Vogel, der sich in seiner Nachtruhe gestört fühlte.
Als helle Flecken standen die Gletscher und Firnflanken der Berge über dem Schwarz der Wälder und verschmolzen mit kleinen zerfaserten Wolken. Sebastian ließ sich von seiner Begleiterin um den See herum führen. Sie folgten dem Verlauf des Ufers durch knietiefes, sumpfiges Gras. Es raschelte geheimnisvoll und das lange Gras piekste unter die Fußsohlen und zwischen den Zehen. Doch weder Antarona, noch Sebastian wagte es, die romantische, feierliche Stille zu brechen.
Bald erreichten sie eine Stelle am See, wo ein kleines Wäldchen bis an das Ufer reichte. Ein mächtiger, flacher Felsen lag dort im Gras und ragte drei bis vier Meter weit in das dunkle Wasser hinaus. Antarona schien diesen Platz zu lieben. Sie stieg behände auf die Steinplatte und bedeutete Sebastian ihr zu folgen.
Wie im Märchen saßen sie schließlich am Rand der glatten Felsplatte nebeneinander und ließen die Füße im Wasser baumeln. Leises Plätschern begleitete ihre Gedanken. Der Mond malte ein helles, funkelndes Bild auf das Wasser, wo der Wind die spiegelnde Oberfläche unterbrach.
Sebastian spürte, wie ein kaum wahrnehmbares Zittern durch Antaronas Körper lief. Sein Arm legte sich um ihre Hüfte und zog sie an sich. Antarona genoss diesen Moment und schmiegte sich an ihn, wie eine Katze am warmen Ofen. Heimlich dachte Sebastian darüber nach, wie weit er diese romantische Stimmung ausnutzen konnte, ohne sie zu zerstören.
Plötzlich und unerwartet wurde seine Aufmerksamkeit auf etwas gelenkt, das aussah, wie ein in der Ferne umher irrender Kugelblitz. Zunächst stand das winzige, helle Licht unbeweglich über der Wasseroberfläche am dichten Schilfgürtel und Sebastian glaubte schon an eine Spiegelung des Mondlichts. Dieses Licht jedoch war heller. Dann bewegte es sich. Basti kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können.
Tatsächlich, das Licht flog in unregelmäßigen, ruckartigen Bewegungen hin und her. Als fühlte es sich beobachtet, floh es plötzlich zur Seite und verschwand in der Finsternis des Wäldchens. Sebastian blickte neben sich, um festzustellen, ob Antarona es ebenfalls gesehen hatte. Doch sein Krähenmädchen hatte die Augen geschlossen. Ihr Kopf ruhte an seiner Schulter und ihr Mund bewegte sich, als formte sie mit den Lippen leise Worte.
Sebastian sah wieder auf den See hinaus. Das Licht blieb verschwunden. Er wagte auch nicht, die süße, stille Vertrautheit zwischen ihnen dadurch zu stören, indem er seiner Gefährtin von einem Licht erzählte, das gar nicht da war.
»Es ist ein schönes Land, in dem ihr hier lebt...«, flüsterte er ihr nachdenklich ins Ohr, um ihre Stimmung zu ergründen, »...es kann einen fleißigen Mann einen Sommer lang beschäftigen. Es ist ein Land, in dem Kinder glücklich aufwachsen können, ein Land für das es sich zu Kämpfen lohnt.., wenn...« Sebastian ließ den Satz bewusst offen. Er hoffte, dass Antarona in das Boot seiner Gedanken einstieg.
Es verging eine Weile, die angefüllt war mit den Geräuschen der Nacht. Die Frösche lieferten dem Mond ein verhaltenes Konzert, das Wasser plätscherte gegen die größeren Steine am Ufer und irgendwelche Vögel meinten, sich noch in später Stunde die Erlebnisse des Tages erzählen zu müssen.
»Wenn was?«, hauchte Antarona unvermittelt und Sebastian spürte ihren warmen Atem an seinem Ohr. Sebastian wandte sich ihr zu und fast berührten sich ihre Lippen. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals und er sah in ein paar leuchtende Augen, die ihn strahlend und erwartungsvoll anblickten. Aus Erfahrung wusste er, dass ein falsches Wort an dieser Stelle die romantische Stunde beenden würde. Offen sah er sie an und flüsterte:
»Wenn ich eine Frau an meiner Seite hätte, die mich liebt.., die bereit ist, mit mir ein Stück Land zu einem Zuhause zu machen... Dafür würde ich einen Torbuk bis in den letzten Winkel des ewigen Eises jagen! Ich würde eines der vielen Täler hier auswählen und dort ein schönes Haus bauen.., wie gesagt, wenn ich wüsste, dass eine Frau mich ehrlich liebt...«
Mitten im Satz gewahrte er plötzlich zwei Lichter, die erneut am Schilfgürtel auftauchten. Sebastian unterbrach für einen Augenblick seinen Zukunftstraum und sah auf. Wie aus dem Nichts erschienen noch zwei weitere Lichtpunkte, die sich in das Auf und Ab eines rhythmischen Tanzes einreihten und sich dabei langsam im Kreis drehten.
Antarona folgte seinem Blick und richtete sich etwas auf, umfasste Sebastian aber noch fester, als wollte sie ihn fest an sich binden. Ihre Lippen berührten sanft und weich sein Ohr. Ein heißer Strom durchfuhr seinen ganzen Körper und schien sich in seinem Magen zu konzentrieren. Ihre Berührung elektrisierte ihn so stark, dass er kaum ihre flüsternden Worte verstand:
»Elsiren.., Ba - shtie.., das sind Elsiren... Nur ein oder zwei Mal im Leben eines Menschenwesen kommen sie so weit die Täler hinauf.., meist, wenn viel Sonne und warme Tage zu erwarten sind«, erklärte sie ihm. Sebastian war ein wenig verärgert, dass die Elsiren ihre Aufmerksamkeit nun mehr in Anspruch nahm, als sein Versuch, ihr ein Liebesgeständnis zu entlocken.
»Das ist ein Zeichen von Glück und Liebe...«, flüsterte sie ihm weiter zu. »Menschenwesen, denen Elsiren wohl gesonnen sind, erfahren das höchste Glück. Sie erscheinen den Menschenwesen in den warmen Nächten, in denen die Sonne der Nacht hell am Himmel steht.«
Sebastian war enttäuscht und niedergeschlagen. Er sah seine bisher beste Chance, Antarona näher zu kommen, durch eine Handvoll Glühwürmchen zerstört. Am liebsten wollte er sich auf der Stelle selbst verprügeln, weil er Antarona mit seiner Geste auf die Lichter aufmerksam machte.
In den Augen Antaronas aber leuchtete plötzlich eine Begeisterung und Freude, die Sebastian wiederum ansteckte. Sein Ärger war mit einem Mal verflogen. Das Krähenmädchen stand auf, griff Sebastians Hand und zog ihn mit sich. Sie verließen den Felsen und gingen zügig, aber vorsichtig und leise am Seeufer entlang. Während sie sich den Lichtern näherten, stellte Sebastian fest, dass sich immer mehr leuchtende Punkte den tanzenden Elsiren anschlossen und sich in die Formation einreihten.
Antarona und Sebastian erreichten den Schilfgürtel und augenblicklich waren die Elsiren ihren Blicken entschwunden. Das hohe Schilf verdeckte die Sicht auf den See. Ohne noch ein Wort darüber zu verlieren stieg Antarona ins Wasser, das ihr sofort bis an die Hüfte reichte. Sebastian zögerte. Er war nicht unbedingt ein Freund von tiefem Gewässer, dem er nicht auf den Grund sehen konnte.
»Was ist, Ba - shtie.., kommt...«, raunte sie ihm zu und zog ihn unweigerlich in das kühle Nass. »Seid jetzt still und bewegt euch nicht zu heftig, sonst vertreibt ihr das Glück!« Damit zog sie ihn hinter sich her. Behutsam teilte Antarona das Schilfgeflecht und watete immer tiefer in den See hinaus.
Das Wasser reichte ihnen bereits bis zum Bauch und Sebastian erinnerte sich lebhaft an den Moment, da er in Antaronas See am Wasserfall mitsamt seinem Rucksack den Halt verlor und sich den Fuß aufschlug. Der Grund dieses Sees aber war nicht felsig. Sebastian spürte Sand und feinen Schlamm unter seinen Füßen, was ihn aber nicht unbedingt beruhigte. Tapfer schob er sich durch den Schilfwald hinter seiner heimlichen Geliebten her.
Plötzlich sah er einige Lichtkugeln durch die Schilfhalme huschen. Er hielt den Atem an und auch Antarona blieb sofort stehen. Die Lichtpunkte schwirrten in irrsinnig schneller Bewegung heran umkreisten kurz ihre Köpfe und zischten dann auf den See hinaus.
In diesem Augenblick war Sebastian klar, was er im Wald gesehen hatte, und das er zunächst für ein Raubtier mit glühenden Augen hielt, als er von Balmers Hütte ins Tal unterwegs war. Es waren Elsiren! Er wollte Antarona davon erzählen und hielt sie an der Hand zurück. Doch bevor er noch einen Ton heraus brachte, legte sie ihm ihre nasse Hand auf den Mund.
»Sprecht jetzt nicht, Ba - shtie, sonst vertreibt ihr die Töchter der Göttin, welche alles künftiges Leben in sich trägt.., schweigt jetzt still und folgt mir!« Was blieb Sebastian auch anderes übrig? Ohne sein Krähenmädchen würde er sich in diesem Sumpf hoffnungslos verirren und wahrscheinlich irgendwo absaufen!
Bis auf Brusthöhe versanken sie bereits im Wasser, als sich das Schilf allmählich lichtete. Nur noch vereinzelt wucherte das lange Gras in den See hinaus. Näher, als Sebastian vermutete hätte, erblickten sie die Elsiren in einer kleinen Einbuchtung des Schilfgürtels.
Hunderte von kleinen Wesen, die als flammende Lichter im Kreis über dem Wasser tanzten. Leichter Dunst stieg aus dem Wasser auf, der den Schein der Elsiren geheimnisvoll verbreitete. Gleichzeitig nahm Sebastian einen süßlichen Geruch wahr, der angenehm in der Luft lag. Ein betörender Duft zwischen Vanille, Weihrauch und irgendwelchen tropischen Früchten oder Blüten ließen Sebastians Phantasien unverhofft freien Lauf. Augenblicklich hatten sich all seine Bedenken und Ängste in Nichts aufgelöst.
Wie von Zauberei fühlte er plötzlich eine unerklärbare und tiefe, innere Zufriedenheit, gleichzeitig aber eine starke Sehnsucht nach Harmonie und Liebe, die sich in seinem Körper ausbreitete. Das kalte Wasser, dem er zunächst mit Skepsis begegnet war, empfand er mit einem Mal wie eine schützende, warme und angenehme Atmosphäre, die ihn umgab.
Antarona blieb stehen und ließ seine Hand los. Elfengleich, fast schwebend ging sie noch ein kleines Stück auf die tanzenden Elsiren zu. Dann hob sie ihre Arme und streckte dem Reigen der Lichtergestalten ihre Hände entgegen. Sebastian stand fasziniert hinter ihr und was er sah, versetzte ihn in eine Zauberwelt der Legenden und Märchen.
Erst eine, dann zögerlich immer mehr und schließlich der ganze Elsirenreigen näherte sich Antarona und umtanzte sie. Sie hielt still und schien in eine andere Welt zu versinken. Ihre Arme, ihr Oberkörper, sowie das Wasser um sie herum nahm einen glühenden Schimmer an und erinnerte Sebastian an St. Elmsfeuer, das kurz vor einem Gewitter auftritt. Es war das gleiche Licht, das Antaronas Schwert in den Hallen von Talris umflutete.
Sehr langsam und vorsichtig drehte sich Antarona um und winkte ihm auffordernd zu. Sebastian folgte ihrer Geste und stellte sich, einer fremden, anziehenden Macht folgend neben sie. Unverhofft durchzog ihn eine innere Leichtigkeit, die er nie zuvor empfunden hatte. Antarona nahm seine Hand und bedeutete ihm, seine Arme ebenfalls den Elsiren entgegen zu strecken.
Hunderte von kleinen Lichtelfen umtanzten die beiden Menschenwesen, die sich mit erhobenen Armen im Wasser an den Händen hielten. Antarona bewegte leicht ihre Lippen, als sprach sie ein stilles Gebet. Zunächst vorsichtig und aufgeregt, dann immer näher und zutraulicher wurden sie von den Elsiren umschwärmt.
Sie waren kleine, acht bis zwanzig Zentimeter große, leuchtende, beinahe durchscheinende Wesen, mit menschlicher Gestalt und sehr femininem Aussehen, wie hübsche, zierliche Jungfrauen. Einige waren nackt, andere, meist die größeren, hatten sich mit Blütenblättern, oder Pflanzenfasern bekleidet. Ihre Flügelchen, welche ihre Körper mit unheimlich schnellen Bewegungen in der Luft hielten, ähnelten den der Fledermäuse. Sie schienen aus fast durchsichtigen, seidenen Flughäuten zu bestehen. Das Licht, das aus ihnen strahlte, besaß den gleichen bläulichen Schimmer, wie die todbringenden Kugelblitze in den Hallen von Talris.
Sebastian blickte in unzählige, glimmende Gesichtchen, die ihn freundlich anlächelten. Einige Elsiren zogen übermütige Grimmassen, oder bliesen ihn mit gespitztem Mund an, dem ein Wölkchen aus feinem Funkenregen entwich. Jedes Mal, wenn ihn dieser Feenstaub traf, verspürte Sebastian eine Benommenheit, die ihn aber nicht lähmte, sondern ihn wie reines Glück erschauern ließ. Wie im Wald oberhalb Balmers Alp bemerkte er eine glühende Hitze, sobald ihn eines dieser geheimnisvollen Wesen beinahe berührte.
Eine Elsire setzte sich plötzlich auf Antaronas Handfläche. Sie ließ ihre Beinchen baumeln und faltete die Flügelchen ein. Sobald sie Antarona berührte, fühlte Sebastian eine leichtes Zittern in ihrer Hand. Antarona schien die Berührung mit dem Lichtwesen zu gefallen. Nach und nach ließen sich drei weitere, kleine Elsiren erst auf ihrer Hand, dann auf ihren Schultern und ihrem Kopf nieder.
Bevor Sebastian noch darüber nachdenken konnte, landete auch auf seiner Handfläche eine dieser filigranen Elfen. Augenblicklich durchströmte ihn ein nie gekanntes Glücksgefühl, das ihm erst einmal eine Gänsehaut über den Rücken jagte. Doch es war nur die Überraschung des ersten Kontakts. Sofort breitete sich in seinem gesamten Körper eine wohlige Wärme aus, sein Herz schien vor Glück zu zerspringen und eine Sehnsucht nach erfüllter Liebe, die in ihm aufstieg, steigerte sich nahezu in Ekstase.
Sebastian fühlte, wie sich sein Unterleib vor angenehm kribbelnder Hitze verkrampfte, als würde ihm jemand einen heißen Draht durch Bauch und Lenden ziehen. Er hatte das plötzliche Bedürfnis, die ganze Welt zu umarmen und zu liebkosen. Doch die ganze Welt war nicht da... Aber seine heimliche Liebe, Antarona!
Immer mehr verspürte er ein starkes Verlangen nach ihrem Körper, nach ihrem Duft, nach ihren Berührungen, nach der Wärme ihrer samtenen Haut. Je mehr Elsiren sich auf seinen Schultern und seinem Kopf niederließen, desto unerträglicher wurden Sehnsucht und Begehren nach diesem Krähenmädchen. Seine Haut schien das Wasser des Sees um ihn herum zum kochen zu bringen, so erhitzten ihn seine Phantasien, in denen Antarona eine erotisierende Hauptrolle spielte.
Sebastian wagte es und wandte sich langsam seiner Gefährtin zu. Wie durch eine wundersame Fügung tat sie dasselbe. Sie fassten sich an beiden Händen, bemüht, die darauf sitzenden Elsiren nicht zu verjagen und sahen sich tief in die Augen. Die nasse Kleidung ihrer Oberkörper dampfte in der kühlen Nachtluft, vom Mondlicht und dem Glimmen der Elsiren mystisch beleuchtet.
Nur ein Schritt trennte noch ihre beiden Körper. Das Wasser zwischen ihnen erreichte scheinbar den Siedepunkt. Im Rasen seines Herzens schwanden Sebastian beinahe die Sinne. Antarona sah ihn mit verklärtem Gesicht an und er wusste, dass sie in diesem Augenblick ebenso empfand und das Gleiche wollte.
Einen Lidschlag später umfassten seine Hände Antaronas Hüfte und er zog sie fordernd an sich. Ihre Arme schlangen sich um seinen Hals, als sich ihre erhitzten Körper berührten. Ihre Lippen fanden sich zu einer ersten Berührung, die sie beide elektrisierte und zu verschlingen drohte. Das heimliche, gegenseitige Begehren der letzten Tage entlud sich in immer leidenschaftlicheren, wilderen Küssen, die nicht enden wollten.
Sebastians Hände glitten unter Wasser über ihre Hüfte abwärts. Das nasse Kleid klebte wie eine zweite Haut auf ihren reizvollen Kurven und gab seinen Händen jedes Detail ihrer Formen preis. Sebastian spürte intensiv, wie Antarona auf seine Berührungen mit leichten Schauern reagierte. Sie hatte ihre Augen geschlossen, ihre Lider flatterten vor Erregung und sie atmete schneller als sonst.
Die Elsiren flogen von ihren erhitzten Körpern auf und begannen über ihren Köpfen einen wilden Reigen zu tanzen. Antarona und Sebastian bemerkten es nicht mehr. Sie waren in einer Welt versunken, in der es nur noch sie beide gab. Als der gegenseitige, sanfte Druck ihrer Leiber aneinander das Wasser des Sees beinahe wie ein Geysir explodieren ließ, behielt Basti mit einem Arm ihre Taille fest umschlungen, mit der anderen Hand öffnete er, erst zögernd, die Verschnürung ihres Oberteils.
Antarona versteifte sich ein wenig. Er hielt inne und sah sie an. Doch sie lächelte ihn verträumt an, zeigte ihm, dass sie es genau so wollte. Behutsam öffnete er ein weiteres Bändchen. Antarona sah ihn vertrauensvoll und verlangend zugleich an. Wieder küssten sie sich, indem Sebastian eine weitere Schlaufe löste, dann noch eine und noch eine und verhielt erst, als ihr das Kleidungsstück von den Schultern ins Wasser glitt.
Mit offenem Mund küsste Sebastian sie auf die Schultern, fuhr mit der Zunge auf ihrer aromatisch duftenden, nassen Haut hin und her und spürte deutlich, wie Antarona erschauderte. Zärtlich fuhr er ihr mit Küssen über Hals und Schultern, wobei er seine Hände über ihr Rückgrat abwärts wandern ließ, die dünnen Kordeln ihres Rockes löste, den Stoff ganz herunter streifte und ihn dem See überließ.
Antarona brachte es irgendwie fertig, dass auch Sebastians Kleidung geheimnisvoll plötzlich neben ihrem Rock im Wasser schwebte. Mit einem süßen, aufreizenden Lächeln zog sie Sebastian in seichteres Wasser. Kaum umgab sie der Mantel dichter Schilfblätter, umschlangen sich ihre erregten, nassen Körper in unwiderstehlichem Verlangen, als würde ein mächtiger, innerer Magnet sie zusammenziehen.
Die Sterne senkten bereits ihre funkelnden Augen über das Wasser, ließen ihr Blinken mit dem Mondlicht und dem Leuchten der Elsiren verschmelzen. Ein Märchenhafter Schein ließ lange Schatten über das weite Tal und den See gleiten und umschmeichelte ihre nackten, aufgeheizten Körper mit wohliger Wärme. Die Fichten am Ufer schwiegen, das hohe, trockene Schilfgras wiegte sich leicht raschelnd im fächelnden Nachtföhn und das bläuliche Licht der Gestirne und der Elsiren floss an ihren Körpern herab und ließ ihre Haut silbern schimmern.
Hingerissen von Antaronas nackter Schönheit, streichelte Sebastian ihren grazil anziehenden Körper, fühlte die Fülle ihrer Brüste, ertastete die Grube ihres Nabels, die sanfte Wölbung ihrer Hüfte und die Samtigkeit ihrer Oberschenkel. Sie erbebte unter seinen Berührungen. Verträumt hielt sie ihre Augen geschlossen und stöhnte leise. Ganz vorsichtig küsste Basti ihren Bauchnabel. Sie schlug die Augen auf und lächelte glücklich.
Mit heißen Küssen bedeckte er ihren Körper. Antarona erzitterte, als sie sich für einen Moment verkrampfte. Keuchend und leise stöhnend ging ihr Atem und ihr Gesicht glühte wie in einem Fieberwahn. Mit einer sanften Kraft, die Sebastian ihr nicht zugetraut hatte, schlang sie ihre langen, geschmeidigen Beine um seinen Leib und drängte sich in Ekstase mit jedem Nerv, mit jeder Faser ihres schlanken Körpers an den seinen.
Jeder ihrer Atemzügen wurde ein Ausdruck höchsten Glücksgefühls, ihr Atem raste und drohte sich zu überschlagen. In einem alles mit sich reißenden Rausch wurden sie mit einem rasenden Strom aus Funkenregen weit in eine eigene Welt davon getragen...
Dann hörten sie nur noch ihren jagenden Atem, den leisen Wind und das Summen irgendwelcher Insekten. Sebastian nahm ich ihren nackten, verletzlichen Körper in seine Arme und trug ihn durch den Schilfgürtel ans Ufer. Behutsam bette er seine Geliebte auf das Moos. Zärtlich fuhren seine Finger über ihr Gesicht. Seine Lippen und seine Zunge erforschten jeden Zentimeter ihrer nass schimmernden Haut. Augenblicklich lagen ihre erhitzten Körper wieder eng ineinander verschlungen im Gras. Eine weitere Welle des nicht enden wollenden Verlangens umspülte ihre Sinne und katapultierte sie in eine weite, leuchtende Welt, aus reiner, tiefer Glückseligkeit. Nur die Elsiren waren stille Zeugen der unerschöpflichen Leidenschaft, die zwei Schicksale aus zwei Welten miteinander verschmelzen ließ...
Zwei Lichtpunkte schossen zwischen den Gestirnen hindurch über den schwarzen Samtmantel der Nacht. Kalt glitzerten Millionen von Sternen auf zwei dampfende, nackte und keuchende Menschenwesen herab, die erschöpft nebeneinander im Ufergras lagen und mit ihren Blicken den Sternschnuppen folgten, bis sie über der gespenstischen, finsteren Silhouette der Fichten verschwanden.
Zwei Brustkörbe hoben und senkten sich in gleichem Takt und ihr Atem beruhigte sich allmählich. Zwei Hände suchten sich, fanden sich und verkrampften sich ineinander, hielten sich fest für die Ewigkeit. Eine Stimme durchbrach das friedliche, leise Raunen der geheimnisvollen Nacht.
»Was war das gerade, Antarona... War das ein Traum?« Sebastian seufzte tief und dachte laut. »Wenn es einer war, dann war es der schönste und wunderbarste Traum in meinem Leben... Drück’ meine Hand, Engelchen.., drück’ sie ganz fest, damit ich weiß, dass es nicht nur ein schöner Traum war!«
Antarona drehte sich halb auf ihn und ihre feuchtwarme, nass glänzende Haut schmiegte sich an seinen Körper, wie eine weiche, aufgeheizte Decke. Ihre langen, nassen Haare fielen ihm auf die Brust. Seine Hände tasteten nach ihren schmalen Hüften und beschützend umschloss er sie mit den Armen. Ihre Augen, ihr Mund, alles an ihr verzauberte ihn, während sie ihm flüsternd gestand:
»Das, Ba - shtie.., waren unsere tiefsten Wünsche, unser höchstes Glück! Unsere Herzen haben sich verbunden unter dem heiligen Schutz der Töchter der Fruchtbarkeit. Ja.., Ba - shtie, es war ein Traum und war aber doch keiner. Das Glück, das uns die Elsiren heute Nacht geschenkt haben, ist so selten, wie die Sterne die vom Himmel fallen. Die Menschenwesen glauben, dass ein solches Glück ewig zwischen zwei Liebenden währt, die es in der Gunst der Elsiren empfangen haben.«
Sebastian war heilfroh und überglücklich über diese Fügung des Schicksals, die ihm seine Liebe schenkte, die er sich so sehnsüchtig erhofft hatte. Dennoch fragte er sich, was Antarona zu so plötzlichem Sinneswandel bewegt haben mochte. Waren es diese seltsamen, leuchtenden Wesen? Was für eine Macht besaßen diese kleinen, leuchtenden Wesen?
Ein angenehmer Schauer überzog seine Haut, als er daran dachte, mit welchem Glücksgefühl diese kleinen Geister ihre Leiber beseelt hatten. In tiefer Dankbarkeit drückte er Antarona sanft in das Gras und übersäte ihre bebende, nackte Gestalt mit zärtlichen Küssen. Sie spürte seine Lippen auf jedem Millimeter ihrer erregten Haut und genoss es in einem tiefen, beglückenden Frieden.
»Und du wolltest die Verbindung unserer Herzen erst nicht zulassen, mein Engelchen...«, sprach Sebastian beinahe feierlich, »...und jetzt hat mich deine Liebe einfach von den Beinen gerissen! Ich kann es gar nicht ausdrücken, so sehr liebe ich dich. Und ich werde dich niemals allein lassen, mein Engelchen.., das verspreche ich dir!«
Mit einer geschmeidigen Bewegung wand sich das Krähenmädchen unter Bastis Liebkosungen hervor und schwang sich gespielt überlegen auf ihn. Ihre Schenkel umklammerten seinen Brustkorb und drückten seinen Rücken in das kühle, feuchte Gras. Ihre Hände auf seinen Schultern nagelte sie ihn an die Erde ihrer Welt. Über ihr sanftmütiges Gesicht huschte ein kurzes, übermütiges Lächeln.
»Die Elsiren sind das Zeichen, dass unsere Herzen bereit sind, sich miteinander zu verbinden«, flüsterte sie geheimnisvoll. »Die Götter haben Sonnenherz die Elsiren gesandt, um ihr den Weg zum Glück zu zeigen. Ihr seid das Glück, Ba - shtie!«
Sebastian griff mit seinen Händen in ihre langen, schwarzen Haare, die mit ihren Spitzen in seinem Gesicht kitzelten. So sehr er in der Vergangenheit Antaronas unerschütterlichen Glauben an diese unbequemen Götter auch verflucht hatte, jetzt war er den Götterwesen dankbar. Sie hatten ihm mit diesen Elsiren seinen sehnsüchtigsten Wunsch erfüllt: Die Liebe Antaronas!
»Sag mal, mein Engelchen, was sind das für Wesen, diese Elsiren? So etwas habe ich nie zuvor in meinem Leben gesehen. Was sind sie?« Antarona streckte ihren schlanke Gestalt auf Sebastians Körper aus, kuschelte sich an ihn und ertränkte seine Frage in einem leidenschaftlichen Kuss. Dann spürte er ihren warmen Hauch an seinem Ohr.
»Sie sind das Glück.., Ba - shtie! Sie sind ebenfalls Kinder der Götterwesen, wie die Menschenwesen. Sie helfen den Menschen sich zu verbinden, wenn diese ihre Bestimmung nicht erkennen. Eine Verbindung unter dem Schutz der Elsiren ist heilig und darf von niemandem verhindert werden!«
»Dann sind wir zwei jetzt für immer verbunden...?«, fragte er skeptisch, »...und selbst dein Vater kann unsere Liebe nicht verbieten?«
Das Glück brach so unerwartet und schnell über Sebastian Lauknitz herein, dass es ihm schwer fiel, es einfach fraglos hinzunehmen. Freilich war er in diesem Augenblick der glücklichste Mensch auf der Erde, aber er musste es erst einmal begreifen. Wie, um sich sicher zu sein, dass sein Geist keiner Einbildung unterlag, erforschten seine Hände den Leib, der warm und feucht auf ihm lag.
Antarona wand sich leicht auf ihm hin und her, um einen noch intensiveren Hautkontakt herzustellen und Sebastian fühlte sich bestätigt, dass dies kein Traum mehr sein konnte. Er wusste nun, was er wollte. Plötzlich war es ihm egal, wo er sich befand. Ob in einem Leben nach dem Tod, in einer anderen Welt, oder in einem fernen, abgeschiedenen Land...
Er wollte Antarona, ein Leben mit ihr! Mit jeder Faser seines Daseins wollte er dafür kämpfen, dass sie immer zusammen sein konnten und nichts auf der Welt sie je wieder würde trennen können! Sebastian hatte keinerlei Verlangen mehr, in seine Welt zurückzukehren, er war bereit für ein anderes, neues Leben! Antarona war die Kraft, die ihm den Mut dazu gab!
Sanft rollte er sie neben sich auf das Moos und küsste ihren Bauch. Ihre verträumten Augen himmelten ihn an und sie schien immer noch im Rausch ihrer Vereinigung zu schweben. Die Nacht wehte kühle Luft auf ihre Körper und Antarona zitterte leicht. Sebastian stand auf und konnte seine Augen nicht von ihrer aufreizenden, nackten Schönheit lösen.
»Ich werde mal unser Kleider aus dem Wasser fischen...«, sprach er, indem er sich zwang, seinen Blick von seiner Geliebten abzuwenden. Sofort fiel ihm die Dunkelheit auf, die nur noch vom Mondlicht gebrochen wurde. Die Elsiren waren verschwunden! Wo eben noch hunderte von strahlenden Lichtkugeln tanzten und die Wasserfläche in einen Fackelzauber verwandelten, gähnte nur noch schwarze Tiefe, aus der nächtlicher Dunst empor stieg.
Wie ausgebleichte Leichen schwebten ihre Kleidungsstücke im Wasser. Sie hatten sich im Schilf verfangen. Sebastian sammelte jedes Teil ein und trug den triefenden Haufen an Land, wo er ihn achtlos neben Antarona ins Gras warf.
Sie lag auf der Seite, den Kopf auf ihren Arm gestützt und sah ihm erwartungsvoll entgegen. Ihr Anblick erinnerte Sebastian an das Gemälde einer Mondgöttig, die ihn einmal aus einer Illustriertenseite heraus angelächelt hatte.
So verletzlich und unschuldig lag sie dort am Ufer des Sees, dass er kaum glauben wollte, dass sie es war, die einen Soldaten mit einem kalt berechneten Schuss ihres Bogens getötet hatte. So leidenschaftlich und anschmiegsam, wie sie sich in dieser Nacht gezeigt hatte, wäre Sebastian niemals in den Sinn gekommen, eine rebellische Kriegerin vor sich zu haben.
»Die Sachen sind pitschnass.., wir werden uns den Tod holen«, bemerkte Basti, als Antarona keinerlei Anstalten machte, sich aus dem Gras zu erheben. Er zuckte mit den Achseln und legte sich wieder neben sie. Der Boden war wärmer, als die Luft, denn er hatte sich den Tag über aufgeheizt. Doch mit jeder Minute kroch die Kälte mehr unter ihre Haut.
»Wir gehen.., bevor die Sonne der Nacht hinter den Bergen versinkt«, bestimmte sie plötzlich. Mit einem Satz war sie auf den Beinen und angelte sich ihren Rock und das Oberteil aus dem nassen Stoffhaufen.
»Kommt, müder Krieger, morgen wird ein aufregender Tag.., lasst uns noch etwas schlafen...« Damit warf sie Sebastian Hemd und Hose zu.
Der reagierte jedoch nicht schnell genug. Klatschend landete das tropfende, kalte Zeug auf einem sehr empfindlichen Körperteil. Mit einem Satz sprang Sebastian aus dem Gras auf.
»Sag mal, hast du sie nicht mehr alle?«, erboste er sich. Antarona sah ihn erst erschrocken, dann belustigt an und nahm seine Hand. »Los, kommt schon, stellt euch nicht so an.., es ist nur Wasser!«
»Ich weiß, dass es nur Wasser ist.., aber saukalt«, gab er entrüstet zurück. »...Wollen wir uns nicht wieder anziehen?«, fragte er verwundert, als Antarona ihn hinter sich her zog.
»Später, Ba - shtie.., später«, antwortete sie, »...werft erst einmal das Wasser aus euren Beinkleidern!« Damit schwang sie ihre Kleider über dem Kopf im Kreis herum und Sebastian stand augenblicklich im Regen. Lachend sprang sie am Ufer davon. In der Anmut ihrer Bewegungen hätte sie eine große Schwester der Elsiren sein können, dachte Basti und setzte ihr nach.
»Na warte.., das machst du nicht noch einmal!« Er begann ebenfalls seine Sachen über dem Kopf zu schleudern und diesmal war es Antarona, die den Schauer von Wassertropfen über sich ergehen lassen musste. Sie blieb stehen, nahm gezielt Maß und klatschte ihre Sachen um Sebastians Lenden. Sie quiekte vor Vergnügen, wie ein kleines Kind.
Sebastian, sowieso schon von oben bis unten nass, machte das ausgelassene Spiel mit. Seine Kleidung in einer Hand zielte er kurz, dann sauste seine Hose um Antaronas Beine. Wie eine flüchtende Antilope, die von der Kugel ihres Jägers eingeholt wurde, purzelte sie durch das Gras.
Sebastian hechtete hinterher und wollte sich auf sie werfen, doch im letzten Augenblick rollte sie sich zur Seite. Basti landete am Boden. Dafür war Antarona sofort über ihm, drückte ihn mit der Klammer ihrer Schenkel in den Ufersand, stemmte ihre kleinen Fäuste auf seine Schultern und sah ihn herausfordernd an.
»Nun, großer Götterkrieger, was wollt ihr jetzt tun?« Sebastian umfasste ihre Hüfte mit seinen kräftigen Armen und zog sie zu sich herab. »Ich werde dir zeigen, was ich tun kann...«
Irgendwann, mitten in der Nacht, schlichen zwei überglückliche Menschenwesen unter dem Glitzerkuppel der Gestirne über den Hof des Holzers, der Haustür zu. Ihre nasse Kleidung hatten sie erst in Sichtweite des Hauses angelegt. Der Mond hatte sich bereits verabschiedet und war auf seiner Bahn weiter gezogen.
Sebastian hoffte, dass sie im Schutz der Dunkelheit ins Haus huschen konnten, ohne Antaronas Vater etwas erklären zu müssen. Sie hatten die Tür beinahe erreicht, als unverhofft ein Licht aufflammte. Eine primitive Blechlaterne ließ die hünenhafte Gestalt des Holzers im zuckenden Licht aus dem Boden wachsen. Seine Augen verrieten aufgestauten Ärger und sein Bart zitterte vor innerlicher Anspannung. Mit gemischten Gefühlen erwartete Sebastian das Donnern seiner Stimme in der nächtlichen Stille.
Doch Antaronas Vater ließ sich zu keinem Verbalen Ausbruch hinreißen. Offenbar war ihm klar, dass Lauknitz ihn kaum verstanden hätte. Statt dessen sprach er gefährlich ruhig zu seiner Tochter. Die sah betreten auf den Boden und ihre Hand verkrampfte sich in der Sebastians. Geduldig ließ sie den Vortrag ihres Vaters über sich ergehen, bevor sie ihm antwortete. Sie blickte den Holzer dabei mit erhobenem Kopf an und ihre Stimme klang gereizt und eigensinnig.
Mehrmals vernahm Sebastian das Wort Elsiren. Er wusste jedoch nicht, ob Antarona ihrem Vater alles bis ins Detail beichtete. Um sie vor dem Unmut ihres Vaters in Schutz zu nehmen, trat Sebastian einen Schritt vor und versuchte ihm mit einer unmissverständlichen Geste die Situation zu erklären.
»Ich war am Ufer des Sees abgerutscht und ins Wasser gefallen.., Antarona wollte mich wieder heraus...«
»Es ist gut, Ba - shtie.., er versteht es sowieso nicht«, fiel sie ihm ins Wort. »Er weiß, dass unsere Herzen sich verbunden haben und er ist traurig, weil er glaubt, dass ihr ihn betrogen habt. Ich habe ihm gesagt, er wird mich nicht verlieren und ihr wolltet ihn niemals hintergehen. Zeigt ihm, dass er einen neuen Sohn gewonnen hat, Ba - shtie, dann wird er es verstehen!«
Sebastian ging erst einmal nicht auf ihre Forderung ein, denn ihre Worte schwirrten noch durch seinen Kopf: Er weiß, dass unsere Herzen sich verbunden haben...
»Sag mal, kann es sein, dass uns dein Vater nachgeschlichen ist und uns beobachtet hat?« Er brachte diese Frage voller Entrüstung heraus und Antarona musste lächeln.
»Nein, so etwas tut Sonnenherz’ Vater nicht...«, erklärte sie bestimmt, »...er hat die Elsiren tanzen gesehen und er weiß, wie sie auf junge, heimlich Verliebte Menschenwesen wirken...«
Sebastian tat erstaunt: »Ja, aber er konnte doch gar nicht wissen...« Sebastian wagte nicht den Satz auszusprechen. Antarona legte ihm liebevoll ihre Hände auf die Schultern und versicherte ihm:
»Das konnte er sehr wohl, Mann von den Göttern... Ihm bleibt nur selten etwas verborgen. Ihr müsst wissen, Ba - shtie, auch mein Vater war einmal sehr verliebt gewesen.., er kennt den Blick von Verliebten und es braucht für ihn keine Worte, Begehren in den Augen zu erkennen.«
»Aha«, bestätigte er, dass er verstanden hatte, fügte aber noch hinzu: »Und hat er die heimliche Sehnsucht nur in meinen Augen gesehen, oder auch in deinen, mein Engelchen?« Dabei sah er seine Geliebte forschend an. Antarona antwortete nicht. Sie warf ihm statt dessen ein geheimnisvolles, süßes Lächeln zu, das jede beliebige Aussage beinhalten konnte.
Sebastian fragte sich, ob sie seine Zuneigung bereits vor dem Auftauchen der Elsiren heimlich erwiderte. Wahrscheinlich würde er nie dahinter kommen. Zu ihrem Vater gewandt beschrieb er mit seiner Hand eine Geste von Antaronas Herzen zu seinem, in der Hoffnung, dass der Holzer diese Gebärde besser verstand, als Bastis Worte.
Ein flüchtiges Lächeln flog über das Gesicht des Alten und mit einer Handbewegung bat er Sebastian Lauknitz in sein Haus. Bastis Arm legte sich um die Taille seiner Gefährtin und gemeinsam folgten sie ihrem Vater durch die Tür.
Als Sebastian seiner Geliebten die Stiege hinauf folgen wollte, was er nun für ganz selbstverständlich hielt, spürte er einen festen Griff an seinem Gürtel, der ihn aufhielt. Aha... So weit ging das Verständnis des Holzers also doch nicht!
Der Alte zog Sebastian sanft aber unmissverständlich zurück und schob ihn ohne Worte vor sich her, durch die Küche und von dort durch eine weitere Tür. Sebastian fand sich in einem Kämmerchen wieder, gerade groß genug, dass er sich darin umdrehen konnte. Eine einfache Pritsche und ein grober Stuhl waren das einzige Mobiliar.
Antaronas Vater reichte ihm freundlich lächelnd eine unförmige, tropfende Kerze in einer messingfarbenen Halterung und ließ ihn dann allein. Sebastian war erstaunt, hinter der Pritsche seinen Rucksack zu finden. Ein paar Decken und Felle lagen säuberlich zusammengelegt am Fußende der Liege. Auf dem Stuhl stand ein Krug mit frischem Wasser und darunter entdeckte Basti eine große, zerbeulte Kupferschüssel.
Auch ohne einen Spiegel wusste Sebastian, dass ihm seine Enttäuschung ins Gesicht geschrieben stand. Er hatte gehofft, mit Antarona unter eine Decke kriechen zu können und es zu genießen, dass sich sein Krähenmädchen sanft an ihn kuschelte.
Anstelle des warmen, weichen Körpers seiner Geliebten, musste er mit einsamer Sehnsucht in einer kalten Kammer vorlieb nehmen. Sebastian ergab sich dennoch halbwegs glücklich in sein Schicksal. Er hatte an diesem Abend mehr geschenkt bekommen, als er sich hätte in kühnsten Träumen ausmalen können. Auch wenn es ihm schwer fiel, musste seine Liebe bis zum Morgen warten!
Wie sollte er die langen Stunden bis zum Sonnenaufgang überstehen? Um einen erholsamen Schlaf zu finden, war er viel zu aufgeregt! Ständig kreisten seine Gedanken um Antarona. Ihre anmutige Gestalt drehte sich vor seinen Augen, wand sich in aufreizenden Posen, lächelte ihn mit wehenden Haaren an und irgendwann entführte ihn ihr Antlitz in einen unruhigen Schlaf und wirre Träume...
  Wichtiger Hinweis: Die Texte des Autors Frank Adlung, insbesondere die des Romans "Das Geheimnis von Val Mentiér", sind durch notarielle Hinterlegung urheberrechtlich geschützt. Ein Herunterladen und Ausdrucken ist nur für den privaten Zweck des Lesens gestattet. Kommerzielle Nutzung, öffentlicher Vortrag, oder Vervielfältigung und Verfälschung des Inhalts, sowie öffentliche Verbreitung ohne Genehmigung des Autors sind untersagt und werden zur Anzeige gebracht.
   
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