Das Geheimnis von Val Mentiér
 
17. Kapitel
 
Der Achterrat
 
timmen holten Sebastian Lauknitz aus der Welt seiner Träume. Es bedurfte allerdings einer kleinen Ewigkeit, bis sein Kopf bereit war, den Dienst aufzunehmen. Nach und nach sickerten die Ereignisse, die seine letzten Tage und Wochen bestimmt hatten und sein Leben aus den Fugen geraten ließen, in seine Gedankenwelt zurück.
Sebastian spürte jeden seiner Knochen, als hätte er mit einer Lokomotive gerungen. Genüsslich streckte er seine Glieder aus und dachte mit geschlossenen Augen nach. Als erstes fielen ihm die romantischen Stunden der letzten Nacht ein. War er tatsächlich mit Antarona am See und erfüllte sich dort, unter dem ekstatischen Tanz der Elsiren seine Sehnsucht? Oder war es wieder einmal nur ein Traum?
In diesem Land, in das er wer weiß wie geraten war, schienen Traum und Wirklichkeit immer mehr zu verschwimmen. Einer Eingebung folgend, tastete er nach seiner Kleidung. Sie konnte kaum während ein paar Stunden Schlaf getrocknet sein. Wie lange hatte er eigentlich geschlafen? War es früher Morgen, Mittag, oder bereits wieder Abend?
Seine Hand ertastete Leder und Stoff. Sie waren trocken. Nicht einmal eine Idee von Feuchtigkeit konnte er fühlen. Also war die Nacht mit Antarona nichts weiter, als ein wunderschöner, erotischer Traum gewesen? Enttäuscht zog Sebastian seinen Arm zurück.
Aber was war dann geschehen? Er wusste noch, dass ihm der Holzer seinen Tabak angeboten hatte, ein Kraut, von dem ihm beinahe schwarz vor Augen geworden war. Beinahe..? Verließ ihn bereits da der wache Verstand? War der Rest bloße Einbildung? War es der Tabakrausch, der ihn in diese Phantasie entführt hatte?
Augenblicklich ernüchterte sich Sebastians Verstand. Ein böser Verdacht stieg in ihm auf. War in der Welt von geistig abgedrifteten, notorischen Kiffern gelandet? Waren Antarona, ihr Vater, der alte Balmer und der Doktor lediglich eine benebelte Gesellschaft Gras rauchender Hippies?
Das konnte nicht sein! Denn Torbuks Reiter, das urzeitliche Drachenmonster und diesen Riesenwald hatte Sebastian ja im vollen Bewusstsein seiner geistigen Kräfte erlebt. Was aber war hier falsch? Erneut suchte seine Hand den Weg zu den Kleidungsstücken, in denen er Antarona ins Wasser des Sees gefolgt war.
Sebastian fühlte Leder, jedoch nicht den Gürtel, den er trug. Seine Finger befühlten einen groben Stoff, doch er hatte ein Fransenlederhemd getragen. Unter dem Stuhl tastete er wiederum nach Leder, doch er hatte seine derben Bergstiefel angehabt... Dies waren definitiv nicht seine Sachen!
Mit einem Satz schwang er sich von der Liege herunter. Die quittierte sein hastiges Aufstehen damit, dass sie mit lautem Poltern gegen die Holzwand stieß. Sofort verstummten die Stimmen jenseits der Wand, die ihn aus dem Schlaf gerissen hatten. Sebastian erstarrte in seiner Bewegung. So etwas hatte er eigentlich zu vermeiden versucht. Unschlüssig verhielt er in unbequemer Pose und erwartete, dass jemand die Tür zu seiner Kammer öffnete. Doch zunächst geschah nichts dergleichen.
Verhaltener als zuvor, nahmen die Stimmen im benachbarten Raum wieder ihr Gespräch auf. Sebastian löste sich aus seiner Starre und schlich zur Tür. Ein Lichtschimmer viel durch den dünnen Fußspalt. Er reichte aber kaum aus, um die nächsten fünfzehn Zentimeter des Bodens zu erleuchten. Vorsichtig nahm Sebastian den Riegel und schob ihn Millimeter um Millimeter hoch.
Leise zog er die Tür einen Spalt breit auf, gerade so viel, dass er sich in seiner Kammer umsehen konnte. Er fand eine Hose aus weichem, hellem Leder. Sie war an der Seite geschlitzt und mit einem ledernen Flechtband zusammengehalten. Eine verzierte Kordel, offenbar aus der Haut des gleichen Tieres gefertigt, diente als Gürtel. Der Geruch von frisch gegerbtem Leder sagte ihm, dass das gute Stück neu angefertigt wurde.
Darunter lag ein grobes, weißes Leinenhemd, wie er es beim Holzer gesehen hatte. Nur war dieses mit feiner Stickerei verziert. Zwei sich gegenüberstehende, gekrönte Drachen füllten die Brustteile der Vorderseite aus. Den Rückenteil zierte ein Blättergeflecht, das sich um eine stattliche Königskrone über einem Wappen rankte. Das Wappenschild war vertikal dreigeteilt und wies in den äußeren Teilen jeweils zwei Sterne auf.
Anstelle Sebastians Bergschuhe lag ein Paar Beinlinge unter dem Stuhl, hochschäftige Mokkasins, die unter dem Kniegelenk mit einer Lederschnur gebunden werden konnten. Sie waren in der Art gearbeitet, wie Antarona sie trug. Jedoch fehlten die Blumen als Verzierung, die Antaronas Beinlinge zu einem echten Hingucker machten.
Außen an den Schäften waren lange, schmale Taschen und Lederschnüre angenäht, in denen man bequem an jeder Wade ein Messer tragen und fixieren konnte. Die kräftige Ledersohle war glatt und verriet Sebastian, dass auch diese Beinlinge neu waren.
Ungläubig schüttelte er den Kopf. Wer um alles in der Welt hatte sich mitten in der Nacht die Mühe gemacht, sich heimlich in seine Kammer zu schleichen und seine nassen Sachen gegen neue Kleidung auszutauschen, ohne dass er etwas davon mitbekommen hatte?
Skeptisch betrachtete Sebastian seine neuen Klamotten. Zögernd stieg er in die Hose, dann in die Beinlinge. Sie passten so perfekt, als hätte sie jemand extra für ihn genäht. Aber in tiefer Nacht?
Auch das Hemd war offenbar extra für ihn geschneidert worden. Doch wer hatte wann bei ihm Maß genommen? Plötzlich schoss Sebastian ein Gedanke durch den Kopf...
Er förderte aus seinem Rucksack seine beiden Bowiemesser zu Tage und steckte sie in die seitlichen Lederscheiden der Beinlinge. Sie glitten passgenau hinein! Sebastian sah zweifelnd an sich herunter. Das alles grenzte an Zauberei!
Ein knarrendes Geräusch ließ ihn herumfahren und augenblicklich flutete Licht in die Kammer. Im Schein des Tages stand die mächtige Silhouette des Holzers. Seine Gestalt füllte beinahe die ganze Türöffnung aus. Mit donnernder Stimme wollte er etwas mitteilen, doch Sebastian verstand die Worte nicht. Als Antaronas Vater dies bemerkte, führte er seine grobe Pranke zum Mund und machte eine Bewegung, als stopfte er sich irgendetwas in den Hals.
Lauknitz interpretierte die unbeholfene Geste dahingehend, dass wohl sein Frühstück auf dem Tisch stand und darauf wartete, verzehrt zu werden. Er nickte zustimmend und entlockte dem Holzer damit ein flüchtiges, zufriedenes Lächeln. Der forderte ihn mit einer Handbewegung auf, ihm zu folgen.
Sebastian trat hinter dem Alten in den Wohnraum und stellte fest, dass der Tisch tatsächlich mit reichlich Essbarem gedeckt war. An der Tafel saßen bereits zwei ältere Männer, die sich bei Sebastians Eintreten von ihren Stühlen erhoben, sich tief verbeugten und ihn beinahe ehrfürchtig begrüßten. Er war beschämt, denn so viel Freundlichkeit hatte er nicht erwartet. Er verneigte sich ebenfalls, erntete aber nur scheue, auf den Boden gerichtete Blicke.
Während Antaronas Vater wie unbeteiligt in der Tür zur Küche stehen blieb, legten die zwei anderen ein besseres Benehmen an den Tag. Sebastian wurde von ihnen geradezu hofiert. Einen der beiden, ein weißhaariger, integer wirkender Mann schob ihm freundlich lächelnd einen Stuhl zurecht.
Sebastian kannte ihn. Dieser Mann war es, der in Zumweyer mit mächtiger Stimme dem Blutrausch an dem gefallenen schwarzen Pferdesoldaten Einhalt gebot. Er schien in diesem Tal einen nicht geringen Einfluss auf die Bewohner zu haben.
Unter seinen dichten, weißen Haaren, die kurz und gepflegt aussahen, glänzten ein paar wasserblaue wache, ehrliche Augen. Güte und Freundlichkeit sprach aus ihnen und wer diesem Mann gegenüber trat, musste ihm einfach sofort vertrauen. Weiß glitzernde Bartstoppeln umrahmten seine Kinnpartie und ließen ihn vermutlich älter erscheinen, als er war.
An seiner leicht gebeugten Haltung und seinem etwas schwerfälligem Gang erkannte Sebastian, dass er sein ganzes Leben lang hart gearbeitet hatte. Auch seine Kleidung bestätigte diese Vermutung. Ein derbes, schlichtes Hemd, das viel zu groß für ihn war, hing von seinen Schultern. Es war, wie auch die Hose, der Mode dieser Täler angepasst.
Auch der zweite Gast kleidete sich in der Art der Dörfler, mit Ausnahme von ein paar klobigen Lederstiefeln, die eher einem deutschen Landser des ersten Weltkriegs hätte gehören können. In diesem steif wirkenden Schuhwerk steckte ein stattlicher, kräftiger Körper, der dem des Holzers in nichts nachstand.
Sebastian schätzte den Mann auf fünfzig bis sechzig Jahre. Er hatte kurz geschnittene, weiße Haare und einen sauber gestutzten Vollbart. Sein Gesicht verriet Entschlossenheit. Dieser Mann war gewohnt, Befehle zu erteilen. Augen und Mund waren von Falten eingerahmt, die weder Traurigkeit noch Fröhlichkeit vermittelten. Sie waren geprägt von einem harten, entbehrungsreichen Dasein.
Dennoch strahlte dieses Gesicht eine so große Sicherheit und Zuverlässigkeit aus, die einem Fremden auf Anhieb suggerierte, diesen Mann in einer Krise an seiner Seite haben zu wollen. Sebastian vermutete, dass sich hinter der bäuerlichen Fassade trotz des hohen Alters ein ernst zu nehmender Krieger verbarg, den man besser nicht zum Feind haben sollte.
Ungeniert griff Sebastian zu und bediente sich vom reichhaltigen Frühstück. Es gab kalten Braten und Schinken, gebratene und gekochte Eier, Rahm, Käse und frisches Brot, das so knusprig, würzig und locker war, dass es sogar einen Sebastian Lauknitz beeindruckte. Dazu standen drei große Holzschalen gefüllt mit Obst auf dem Tisch.
Das Leben in diesem Tal mochte von harter Arbeit geprägt sein, doch das Land wusste seine Bewohner durchaus zu ernähren, das stand fest! Es konnte ein Paradies sein. Der übliche Haken an der Geschichte waren offenbar Torbuk und sein missratener Sohn Karek...
Wie ein ausgehungerter Wolf stopfte sich Sebastian die Speisen in den Mund. Wer konnte schon sagen, wann er die nächste Mahlzeit bekam? Vielleicht war es schon am nächsten Tag wieder vorbei, mit dem Überfluss an Nahrung. Was Basti erst einmal im Bauch hatte, konnte ihm keiner mehr nehmen!
Während er das Essen hinunter schlang, wurde er vom Holzer und seinen beiden Gästen wohlwollend beobachtet. Ab und zu machte einer der Drei eine Bemerkung, die sofort Gelächter auslöste. Sebastian verstand freilich nicht den Sinn des jeweiligen Kommentars, doch er musste kein gelehrter sein, um zu verstehen, dass es um seine Person ging. Er fühlte sich als Objekt der allgemeinen Belustigung und wünschte sich nichts sehnlicher, als dass Antarona auf der Bildfläche erschien und ihn aus dieser Situation rettete.
Von dem Krähenmädchen aber war nichts zu hören oder zu sehen. Ohne sie fühlte sich Sebastian in der Gesellschaft der fremdsprachigen Männer mehr als unbehaglich. Ihre Blicke beobachteten jede seiner Bewegungen und er war der fremden Atmosphäre hilflos ausgeliefert.
Nach einer Weile schob Sebastian den Holzteller demonstrativ von sich und erklärte sich damit auch ohne Worte als gesättigt. Dabei sah er den Holzer fragend an und deutete auf die Tür zur Treppe, die Antarona in der Nacht emporgestiegen war:
»Guter Mann.., wo ist eure Tochter, Antarona? Schläft sie noch?« Unbeholfener konnte Sebastian dieser Situation gar nicht begegnen. Und ungeachtet des Umstandes, dass die Anwesenden seine Worte kaum verstehen würden, forschte er weiter:
»Und woher sind diese Sachen? Und wo ist meine eigene Kleidung?« Sebastian erwartete nicht wirklich eine Antwort und sprach nur weiter, um sich nicht fortwährend den stillen, prüfenden Blicken der drei alten Männer aussetzen zu müssen, die ihn nunmehr fragend ansahen.
Natürlich konnten sie ihn nicht verstehen. Sebastian erinnerte sich an Antaronas Bemerkung, dass nur wenige Menschenwesen des Volkes die Sprache aus dem Reich der Toten beherrschten. Die beiden Besucher gehörten offenbar nicht dazu.
Lediglich Antaronas Vater konnte ein paar Brocken Deutsch sprechen. Es bedurfte aber einiger Phantasie, den Sinn seiner Worte zu entschlüsseln. Wahrscheinlich hatte er sich nur einige laute und deren Bedeutung eingeprägt.
Sebastian wiederholte seine Frage nach dem Verbleib Antaronas und unterstützte seine Worte mit großzügiger Gestik, um endlich verstanden zu werden. Die Augen des Alten leuchteten auf, was Sebastian als Zeichen des Verstehens wertete.
»Toch - ter sind ge - hen Baum ge - hen Wasser, fra - gen So - ne...«, war die unbeholfene Antwort. Basti wusste nicht recht, ob er die Aussage des Holzers richtig interpretierte, trotzdem lief es ihm vor Schreck kalt den Rücken hinunter.
War Antarona tatsächlich auf dem Weg zurück zu ihrer Höhle am See, um ihren Stein der Wahrheit zu befragen? Hatte sie ihn in der Obhut ihres Vaters, in der fremden Umgebung einfach allein gelassen?
Aber woher wusste dann ihr Vater von der Kristallkugel, die in der Sonne leuchtete? Sagte nicht Antarona, dass nur sie allein von der Existenz dieser Kugel wusste? Und welchen Baum meinte er? Noch eine Nuance verunsicherter, als zuvor hakte Sebastian nach und wandte sich mit einer drehenden Bewegung fragend in alle Himmelsrichtungen. »Wo Tochter.., wohin?«
Mit spöttischem Grinsen löste sich der Holzer aus dem Türrahmen, den er seit geraumer Zeit ausfüllte und schob Sebastian dem Hütteneingang zu. Draußen schubste er Sebastian sanft in die Richtung des Sees hinter dem Haus und brummte freundlich:
»Dort sind Toch - ter.., dort sind Wasser...« Sebastian fiel ein Stein vom Herzen. Was für eine Frage! Der Alte meinte natürlich den See hinter seinem Haus, den See, an dem sich am Abend zuvor Sebastians lang gehegte Sehnsucht erfüllt hatte... Oder nicht? Nach wie vor war Basti von seinen eigenen Zweifeln geplagt. Hatte er, oder hatte er nicht sein Engelchen bis zur Erschöpfung geliebt?
Ohne weiter darüber nachzudenken, lenkte er seine Schritte zum See. Innerlich aufgewühlt, wie ein kurz vor seinem Ausbruch stehender Vulkan, dachte er nur noch daran, Antarona in seine Arme zu schließen. Dennoch entging ihm nicht, mit welch schönem Tag die Götter das Tal der Menschenwesen gesegnet hatten.
Obwohl es nach Antaronas Aussage bereits Herbst sein sollte, bestach der Tag mit klarem Himmel und Sonnenschein. Die Vögel zwitscherten und Blumen blühten in allen Farben, wohin Sebastian auch blickte. Das Gras der Viehweiden wogte im leichten Wind, wie das Wasser eines Ozeans. Alles war voller Lebensenergie und Sebastian vergaß völlig, dass ein großes Leid über diesen Tälern lag.
Er folgte dem Ufer des Sees, ließ seine Seele treiben und träumte von seiner Geliebten. Heimlich versuchte er die Stelle wieder zu finden, an dem sie sich in der Nacht ihren Gefühlen hingaben und in rauschender Ekstase versanken.
Den weit in den See ragenden Felsen, auf dem sie gesessen und in die Sterne geblickt hatten, fand er verwaist vor. Nichts war von der Frau zu sehen, die sein Herz erobert hatte. Doch plötzlich fühlte Sebastian, dass es keine Einbildung war. Die Elsiren, ihre erhitzten Körper im Wasser, die sich verlangend einander hingaben, ihr keuchender Atem, der sich fast überschlug... Es war kein Traum, er hatte es wirklich erlebt!
Für ein paar Minuten ließ er sich auf dem Felsen nieder, schloss die Augen, lauschte den Geräuschen der Natur und überlegte, wo er Antarona finden konnte. Irgendwo im Schilf quakten Frösche, und ein unbekannter Vogel ließ ein zufriedenes Krächzen erklingen. Diese Klänge und die Sonne machten müde. Allein die Sehnsucht nach Antarona ließ Sebastian wieder aufstehen und weiter am See entlang schlendern.
Einige Zeit später gelangte er an eine Stelle des Ufers, wo das Gras niedergedrückt war. Es war zweifelsohne der Platz, wo er Antarona in der Nacht geliebt hatte. Vor seinem geistigen Auge ließ er diesen Moment noch einmal ablaufen und konnte sich kaum noch aus der Erinnerung lösen. Erst zwei Schatten, die im Bruchteil einer Sekunde an ihm vorüber huschten, rissen ihn in die Gegenwart zurück. Tonka und Tekla!
Die Krähen Antaronas waren die beiden einzigen Vögel in dieser Welt, die Sebastian so synchron aufeinander abgestimmt hatte fliegen sehen. Sein Blick folgte ihnen. Wo sie durch die Lüfte rauschten, konnte ihre menschliche Schwester nicht weit sein. Die beiden Gefiederten zogen eine ausladende Bahn über den See und steuerten am gegenüberliegenden Ufer ein kleines Wäldchen an, aus dem heraus ein einzelner, mächtiger Baum alles überragte.
Nun wusste Sebastian, wo sich das Mädchen befand, nach dem sich sein Verlangen verzehrte. Ihr Vater selbst hatte es ihm verraten: Toch - ter sind ge - hen Baum ge - hen Wasser, fra - gen So - ne... Beharrlich kämpfte er sich weiter durch das Dickicht des Seeufers, bis er einsah, dass es zwecklos war. Das Gelände wurde immer sumpfiger und undurchdringlicher. Auf diesem Weg kam er nicht weiter!
Verzweifelt sah er sich um. Wie war Antarona an das andere Ufer gelangt? Sebastian hatte bereits am Wasserfall festgestellt, dass sie eine ausgezeichnete Schwimmerin war. Da er selbst nicht viel besser schwimmen konnte, als eine bleierne Ente, bestand wenig Aussicht darauf, dass er ihr üben See hinweg folgen konnte.
Ihm fiel ein umgestürzter, abgebrochener Baumstamm auf. Einen Versuch war es wert! Unter Einsatz seiner ganzen Kraft zog Basti das Bruchholz ans Ufer und durch den Schilfgürtel. Anschließend zog er seine Sachen aus, wickelte alles in sein Hemd und band sich das Bündel auf den Nacken.
Vorsichtig schob er das Holz ins tiefere Wasser, legte die Arme darauf und begann mit den Füßen zu paddeln. Er mochte vielleicht aussehen wie eine gestrandete und nach Luft ringende Amphibie, doch die Methode hatte Erfolg. Er kam rascher vorwärts, als zuvor an Land.
Immer in Ufernähe schwamm er um den halben See herum, den kleinen Hain mit dem hohen Baum in seiner Mitte stets im Blick. Nur langsam kam das Wäldchen näher und Sebastian erkannte inzwischen, das der See gar nicht so klein war, wie er angenommen hatte. Meter um Meter zogen sich dahin, ohne dass sich das Landschaftsbild deutlich veränderte.
Allmählich schob sich das Waldstück auf den See hinaus, gab zwischen sich und dem Ufer Wasser frei und ließ es Sebastian wie Schuppen von den Augen fallen, dass es tatsächlich eine kleine Insel war. Sie lag etwa dreihundert Meter vom Ufer entfernt in nicht allzu tiefem Wasser. An der zum Festland gewandten Seite reichte der Schilfgürtel beinahe an das Inselchen heran.
In dem das Wasser immer flacher wurde, blieb Sebastian nichts weiter übrig, als ans Ufer zu waten. Unter seinen Füßen spürte er schlammigen Grund, so dass er froh war, endlich auf festem Boden zu stehen. Junge Birken und Brombeersträucher bildeten den hauptsächlichen Pflanzenbestand.
Fast geräuschlos schob sich Sebastian durch das Dickicht, bemüht, seine Haut nicht mit den Dornen der Büsche in Berührung zu bringen. Dann stand er unverhofft auf einer kleinen Lichtung, die von einem massigen, hoch gewachsenen Baum beherrscht wurde, dessen kräftige Äste bereits einen Meter über dem Boden weit um sich griffen. Das enorme Blätterdach warf einen Schatten vom Ausmaß eines sechsstöckigen Hauses. Die raue, zerfurchte Borke erinnerte ihn an eine Eiche, während das Blattwerk eher dem einer Linde gleich kam.
Selten hatte Sebastian einen so großen Baum zu Gesicht bekommen und er vermutete, dass es einer der Mammutbäume war, die er bereits in dem Riesenwald entdeckt hatte. Leise schlich er um den mehrere Meter dicken Stamm herum und überkletterte Wurzelarme, die erst weit vom Zentrum des Baums in der Erde verschwanden. Dabei musste er sich tief bücken, um sich nicht den Kopf am Geäst einzuschlagen.
Zwischen zwei der überdimensionalen Wurzeln sah Basti plötzlich etwas Helles auf dem Boden. Es waren eindeutig Antaronas Kleidungsstücke, die da achtlos weggeworfen herum lagen, als wären sie wie reife Früchte aus den Zweigen gefallen. Sebastian stand unschlüssig da, seine Kleider unter dem Arm geklemmt und sah sich um.
»Was steht ihr dort unten herum...«, überraschte ihn Antaronas Stimme aus dem Nichts, »...kommt schon endlich herauf, Ba - shtie!« Sein Blick wanderte am Stamm entlang aufwärts, verlor sich im mächtigen Gerüst der Äste und versuchte das Grün der Blätter zu durchdringen. Ein leises, schadenfrohes Kichern kam von oben.
»Worauf wartet ihr, Mann von den Göttern.., steigt einfach über die Äste herauf.., Nephtir, die Mutter der Bäume wird euch nicht fressen!« Ein übermütiges Lachen folgte und Sebastian wähnte sich im Spiel seiner Gedanken schon als das Opfer eines neckischen Streichs irgendeines Baumgeistes. Freilich wusste er genau, wer diesen Schabernack mit ihm trieb.
Ziellos kletterte er auf den ersten dicken Arm des riesigen Baumes, stemmte den Fuß in einen Wulst in der Rinde und zog sich auf den nächsten Ast und weiter auf einen dritten. Rasch gelangte Sebastian mehrere Meter hoch über den Boden. Doch immer noch neckte ihn seine unsichtbare Geliebte mit spöttischen Zurufen aus dem unendlichen Labyrinth raschelnder Blätter.
Weiter und weiter stieg Basti parallel zum Stamm höher und die Äste, selbst dick, wie Baumstämme, boten ihm mit ihrer rauen Rinde eine trittsichere Leiter. Bereits nach kurzer Zeit konnte er in schwindelnde Tiefe hinab sehen. Aber immer noch erklang Antaronas Stimme von oben und er hatte das Gefühl, dass sie ihn bewusst immer weiter hinauf lockte.
»Nun komm schon, mein Engelchen.., was soll das.., wo steckst du..?«, rief Sebastian in das Blätterwerk hinauf.., und erschrak. Er hatte nicht sehr laut gesprochen, denn er vermutete Antarona ganz in seiner Nähe. Dennoch dröhnte sein Ruf durch das Geäst, als hätte das Holz des Baumes den Klang seiner Stimme, wie durch einen riesigen Resonanzkörper, um ein vielfaches verstärkt.
Sebastian probierte es noch einmal aus. Leise, fast im Flüsterton sagte er: »Antarona, ich liebe dich und ich will mein Leben mit dir teilen!« Prompt hörte er den Klang seiner Worte so laut, als hätte er sie aus voller Brust heraus gerufen. Sebastian überlegte. Wenn das Holz des Baumes jeden Laut derart verstärkte, dann konnte seine Geliebte wer weiß wo stecken.
»Warum spielt sie immer Katz’ und Maus mit mir.., ich will endlich zu ihr, sie überall küssen und mein Gesicht in ihrer nackten Haut vergraben...« Sebastian biss sich vor Schreck und Scham beinahe auf die Zunge. Er hatte das nur gedacht! Doch hier in diesem Blätterwald wurden selbst seine intimsten Gedanken zu weithin hörbaren Worten. Hatte er es hier mit Hexerei zu tun?
»Wenn Antarona das nun gehört hatte...« Wieder erklang seine Stimme ungewollt klar und deutlich. Wiederum war Sebastian einem Herzstillstand nahe. Er hatte Angst. Wenn dieser Baum die Fähigkeit besaß, seine Gedanken offen zu legen, so konnte er möglicherweise ihre gerade entstandene Liebe zerstören...
»Nein, Ba - shtie.., Nephtir spricht aus eurer Seele...«, hörte er Antaronas Stimme von oben, »...und wenn ihr reinen und ehrlichen Herzens seid, so wird sie unsere Liebe nicht zerstören können, denn sie spricht ohne Falsch aus reinem Herzen... Nun kommt endlich herauf, mein Leib brennt und verlangt nach eurem Atem auf meiner Haut... Eilt euch, denn ich verzehre mich nach eurer Zärtlichkeit..!«
Es war Sebastian aufs höchste peinlich, dass ihre geheimsten Gefühle und Wünsche vom Baum offenbart wurden und er bemühte sich, nichts mehr zu denken. Sein Blick heftete sich starr an die Rinde des Baumes, er versuchte sich einzubilden, die zerfurchte Oberfläche wäre ein Gebirge. Er gab den Bergen und Tälern in Gedanken Namen...
»Plattengrat.., darüber die Drachenspitze, ein gewaltiger Erdriss durch das Tal.., Antaronas Sachen liegen unten auf dem Boden.., sie ist nackt.., ihre schlangengleichen Beine.., ihre sonnengebräunte, glatte Haut.., die Hitze ihres Körpers...« Sebastians Fuß griff ins Leere. Seine Gedanken rissen abrupt ab. Der Schreck fuhr ihm in alle Glieder, denn beinahe wäre er zwischen den Ästen abgestürzt.
»Ba - shtie.., bei den Göttern.., achtet gefälligst darauf, wohin ihr tretet.., mein Herz stirbt ohne euch! Ihr dürft Sonnenherz und die Ival nicht verlassen! Mein Herz wird dunkel, wenn er nicht mehr ist. Ich will ihn fühlen, eins mit ihm werden.., jetzt gleich.., für immer.., bei den Göttern, mein Leib brennt!«
Sebastian konnte nicht mehr unterscheiden zwischen dem, was Antarona dachte, und den Worten, die sie wirklich aussprach. Die ganze Situation irritierte ihn und er konzentrierte sich starr auf die Rinde des Baumes und die Äste, die ihm den Weg hinauf ermöglichten.
Er zwang sich, das Lichterspiel der Blätter in eine musikalische Komposition umzusetzen, um nicht noch mehr von seinen intimsten Wünschen und seinem heimlichen Verlangen preiszugeben. Eine liebliche, verträumte Musik entstand in seinem Kopf und erklang zwischen den dichten Zweigen. Doch so sehr er sich auch zusammenriss, die Noten verformten sich immer wieder aufs neue in Antaronas anmutige Gestalt, die sich aufreizend vor ihm bewegte. Er konnte seine eigenen Gedanken nicht verhindern!
Völlig berauscht von der Vorstellung Antaronas Anblicks hangelte er sich wie von einer fremden Macht gelenkt eine weitere Asthöhe hinauf, als er sich unverhofft dem Ziel seiner Sehnsüchte gegenüber sah. Antarona lag mit geschlossenen Augen auf einer gigantischen Gabel von drei Ästen, deren großzügige Fläche sie mit Fellen ausgelegt hatte. Sie war lediglich mit dem winzigen Leder ihres Hüftschurzes bekleidet. Ihre nackte Haut glänzte im Spiel zwischen den sich bewegenden Schatten der Blätter und dem Licht der Sonne.
Nephtir sprach Sebastians sehnsüchtigen Blick auf Antaronas hüllenlosen Körper offen aus. Antarona musste nicht einmal ihre Augen öffnen, um zu erfahren, mit welch begierigen Blicken Sebastian ihre Reize verschlang. Der Baum verkündete es mit schonungsloser Ehrlichkeit.
Beide konnte ihre Gefühle und ihr Verlangen nacheinander nicht mehr verbergen. Antarona streichelte leidenschaftlich ihre nackte Haut und Sebastian erfuhr von Nephtir, dass sie sich Bastis Lippen anstelle ihrer Finger herbeisehnte. Alles war so einfach, es gab keine Geheimnisse, keine Missverständnisse... Beide Seelen wussten, was sich die andere von ihr wünschte.
Ohne auf die Ausgesetztheit ihres himmelhohen Lagers zu achten, kroch Sebastian auf dem breiten Ast zum süßen Objekt seiner Begierde. Nephtir offenbarte ihm Antaronas geheimsten Leidenschaften und Träume, und er genoss es, ihren Körper unter seinen Liebkosungen erbeben zu sehen.
Zwischendurch war Sebastian immer wieder überrascht, mit welchen Phantasien dieses stets so naiv wirkende Krähenmädchen seine Zärtlichkeiten auf ihrer feuchtwarmen Haut steuerte. Die Offenbarungen zwischen ihnen kannte durch Nephtir keine Hemmungen mehr und Sebastian ließ alle Vorsicht und Behutsamkeit fallen, die in seinen Berührungen eines so anziehenden Frauenkörpers unter normalen Umständen noch den Einschränkungen sittlicher Grenzen unterlagen.
Seine Lippen und Finger wanderten fast gleichzeitig mit Antaronas entstehenden Wünschen über jeden Zentimeter ihrer erregten Haut und er war wie betäubt von dem Anblick, wie sich ihr Körper unter seinen Berührungen aufbäumte und sich wie eine Schlange hin und her wand. Als jeder Fingerbreit ihrer zitternden Haut sich gegenseitig berührten und sie beide nur noch den heißen Wellen folgten, die durch ihre verkrampften Leiber hindurch jagten, verloren sie sich in einer Explosion der Empfindungen, die sie davon trug in einen Zustand der Ekstase, in dem es keine Gedanken mehr gab, sondern nur noch unkontrollierte, zügellose Lust.
Eine Stunde später lagen zwei schwitzende, erschöpfte Körper eng umschlungen beieinander, in der Gewissheit und Genugtuung, sich jedes gegenseitige Verlangen bis zur vollständigen Hingabe erfüllt zu haben. Es gab kein Denken mehr und hätte Nephtir reine Glückseeligkeit erklingen lassen können, so wäre die Luft zum Erzittern erfüllt gewesen von einem monumentalen Konzert mit Pauken und Trompeten.
Antarona und Sebastian blickten verträumt hinauf in die leise raschelnden Blätter, durch die ab und zu ein winziges Stückchen blauer Himmel blinkte. Aus der verklärten Apathie, in die sie versunken waren, wurden neue Gedanken geboren. Es waren Zukunftsträume, Hoffnungen und Wünsche für ein gemeinsames Leben in Frieden und Freiheit. Aber Sebastian, wie auch Antarona wussten, dass der Weg zur Erfüllung solcher Aussichten ein sehr langer, mühsamer und blutiger sein konnte.
Sebastian beschäftigte im Augenblick aber mehr das Naturphänomen Nephtir, dem er sich gerade ausgesetzt sah.
»Was, mein Engelchen, ist das für ein Zauber, der mich deine Gedanken hören lässt? Ich habe so etwas noch nie erlebt, es ist so berauschend schön, aber auch genauso erschreckend.«
»Das ist kein Zauber, das ist Nephtir, die Mutter der Bäume und die Mutter der Wahrheit. Ihr könnt lügen, Ba - shtie.., oder etwas heimlich in eurem Kopf verbergen. Nephtir aber spricht, was wirklich in eurem Kopf und eurem Herzen ist. Nur ganz wenige Ival kennen die Mutter der Bäume, in der die Wahrheit wohnt...« Antarona machte eine Gedankenpause, bevor sie weiter sprach.
»Nicht oft suchen die Ival die Wahrheit in Nephtir und dass zwei verbundene Menschenwesen die Wahrheit ihrer Herzen bei Nephtir suchen und sich einander öffnen, ist so selten, wie das Feuer, das aus einem Berg kommt.« Sebastian wickelte sich spielerisch Antaronas langes, schwarzes Haar um die Finger und dachte, was Nephtir sofort aussprach:
»Aber so könnten sich doch alle Liebenden die Ehrlichkeit ihrer Herzen und Gefühle beweisen...« Sebastian dachte noch weiter, doch noch bevor Nephtir seine Gedanken vollends wiedergeben konnte, antwortete Antarona bereits.
»Nein, Ba - shtie.., ich habe euch nicht hierher gelockt, um die Ehrlichkeit eurer Liebe zu prüfen. Die fühlte ich schon vorher...« Vor Peinlichkeit biss sich Sebastian auf die Unterlippe. Er wollte Antarona nicht wirklich des Misstrauens gegen ihn bezichtigen. Antarona nahm auch diesen Gedanken, von Nephtir sofort preisgegeben, auf und sagte:
»Darum ist es nicht gut, wenn zwei Menschenwesen, die miteinander verbunden sind, zur Mutter der Bäume kommen...« Den Rest des Satzes ließ Nephtir aus Antaronas Gedächtnis verlauten. »...denn tief in einem jeden Herz verborgen ruhen Geheimnisse, tief verschlossen für die Ewigkeit. Sie mögen zwei Herzen festigen, oder aber trennen. Doch schon die Angst, sie könnten eine Verbindung der Herzen zerstören, sät zwischen zwei Verbundenen unter Nephtirs Dach Zweifel, die das Glück vernichten können.«
Tief konzentriert auf seine Gefühle, die er für Antarona empfand, hörte er die Mutter der Bäume aus seinem Herzen sprechen. »...aber für dich, mein Engelchen, gehe ich mit einem Lächeln auf den Lippen in den Tod, wenn du nur dafür weiterleben kannst...«
»Es gibt Menschen...«, dachte Basti mit der Hilfe Nephtirs so laut, dass es beinahe wie eine Predigt klang, »...die tragen einen Kummer, oder Hoffnungen so tief in sich verschlossen, dass sie diese selbst nicht mehr erkennen. Möglicherweise hören sie von diesem Baum genau das, was sie sich selbst nicht eingestehen wollen. Sie finden bei Nephtir vielleicht die Antworten, die ihnen eine schwere Last von Herz und Seele nehmen...«
Danach schwieg die Mutter der Bäume. Alle Gedanken waren ausgesprochen, zwei verbundene Menschenwesen aus zwei unterschiedlichen Völkern träumten in stiller Zweisamkeit vor sich hin und waren einfach nur glücklich, beieinander zu sein.
Die verträumte Ruhe wurde plötzlich zerrissen. Aus weiter Ferne erklang ein Geräusch, das Sebastian an ein Alphorn erinnerte. Dreimal ertönte der Klang in gleichem Abstand. Sebastian setzte sich auf und blickte Antarona fragend an, die sich ebenfalls erhob. Ohne dass Basti eine Frage stellen musste, erklärte ihm seine Gefährtin:
»Das ist das Horn des Achterrats, Ba - shtie.., es ruft die Vertreter des Volkes zur Beratung. Wir müssen uns jetzt beeilen, der Achterrat will euch sehen!« Mit diesen Worten kletterte Antarona wie eine Bergziege den Baum hinab, dass Sebastian Mühe hatte, ihr zu folgen.
»Sind die denn so nahe...«, wunderte er sich, »...dass ein Ruf des Horns ausreicht, um alle Berater herbei zu holen?«
»Die sind alle schon da...«, gab Antarona wie selbstverständlich zurück, »...sie alle kannten die Zentare des Treffens seit zweimal die Sonne erwacht war und einige waren seither unterwegs zu meines Vaters Haus. Der Ruf des Horns galt uns, Ba - shtie, der Achterrat ist versammelt und wartet neugierig auf euch.., auf Areos, den Mann von den Göttern.«
»Wer zum Donnerwetter ist nun wieder Areos?«, fragte Basti aufgebracht. »Dieser Doktor von Falméra hat auch schon so geheimnisvoll davon gefaselt...«
Antarona sah ihn auf einem Mal ehrfürchtig an, als konnte sie selbst nicht glauben, was sie sprach. Sie legte ihre Arme um Sebastians Hals, sah ihm tief in die Augen und flüsterte:
»Ihr, Mann von den Göttern.., ihr seid Areos, der Sohn unseres Königs Bental, der zurückgekehrt ist aus dem Reich der Toten, um das Land von Torbuk und Karek zu befreien...«
»Also, einen Augenblick mal...«, fiel ihr Sebastian ins Wort, »...wie um alles in der Welt kommst du denn jetzt plötzlich auf so etwas? Du weißt doch wer ich bin... Sebastian Lauknitz.., aus einem anderen Land.., du hast doch die Bilder aus meiner Tasche gesehen...« Antaronas Stimme bekam einen Unterton von Traurigkeit.
»Mein Vater hat es mir gesagt. Ihr seid der Areos, der bei der großen Schlacht der Ival gegen Torbuk getötet wurde und an das Tor zum Reich der Toten gebracht wurde. Ihr seid der Areos, der von den Göttern aus dem Totenreich zurück geschickt wurde, um das Volk der Ival, das Volk der Menschenwesen zu befreien. Mein Vater, Falméras Medicus, Vater Balmer und einige andere des Volkes kannten Areos. Sie waren bei der großen Schlacht dabei. Sie alle sagen, ihr seid Areos, Bentals Sohn...« Antarona verstummte für einen Augenblick, ihre Augen füllten sich mit Tränen, bevor sie mit leiser Stimme sagte:
»Aber für Sonnenherz seid ihr Ba - shtie - laug - nids.., mein Herz ist mit eurem verbunden.., aber es darf nicht sein...« Ein Sturzbach von Tränen rann ihr über das Gesicht und tropfte auf ihre unbedeckten Brüste. Sebastian sah sie ratlos und verwundert an.
»Was redest du denn da, mein Engelchen.., was darf nicht sein?« Er fasste sie an den Schultern und bewegte sanft ihren Oberkörper, als könnte er des Rätsels Lösung aus ihr herausschütteln. »Was ist das eigentlich alles für ein Blödsinn... Areos.., du und ich, was nicht sein darf.., was soll das alles bedeuten? Du hast doch selbst gesagt, dass ich von den Göttern gekommen bin, um dein Volk gegen Torbuk zu führen! Was soll jetzt plötzlich anders sein?« Antarona blickte beschämt und verzweifelt zu Boden.
»Ihr seid Areos, des Königs Sohn.., ihr werdet nach Falméra zurückkehren, ihr dürft euch nicht mit einer aus dem Volk verbinden...«
»Wer erzählt hier eigentlich so ein dummes Zeug...«, entfuhr es Sebastian, bevor Antarona weiter sprechen konnte, »...mag sein, ich bin Areos, mag sein, ich bin es nicht.., wer weiß das schon. Aber wenn ich es sein soll, wenn ich das Volk führen soll, dann habe ich auch die Macht, zu entscheiden, wie ich sein darf und wie nicht! Und ich werde selbst entscheiden, mit welchem Herz sich das meine verbindet!« Sebastian schlang seine Arme um Antaronas warmen, nackten Körper und zog sie ganz fest an sich und hielt sie fest. Seine beruhigende Stimme klang fest und sicher.
»Was auch immer geschehen wird und was immer man auch von mir verlangen wird.., unsere Herzen bleiben miteinander verbunden, egal, ob ich nun Bentals Sohn bin, ein Götterbote, oder nur ein Gestrandeter in eurem Land. Ich werde dich niemals aufgeben, oder allein lassen. Und egal, welche Macht uns jemals trennen will, ich werde immer dafür kämpfen, bei dir zu sein... Das, mein Herz, das verspreche ich dir!«
Tränenverklebte, große Augen sahen ihn traurig an und es schien, als hatte sie ihre Fassung zurück gewonnen.
»Das wird nicht in unserer Macht liegen, Ba - shtie. Der König und der Achterrat werden entscheiden und wir müssen uns ihrem Urteil beugen, ob wir wollen, oder nicht!« Antarona wurde mit jedem Wort ruhiger und, so empfand es Sebastian, etwas distanzierter.
»Wir müssen uns gar keiner Entscheidung beugen, wenn wir es nicht wollen!«, stellte Sebastian laut fest, um seiner Geliebten seinen sicheren Standpunkt zu vermitteln. »Die Entscheidung, mein Engelchen, liegt letztlich bei dir selbst! Wenn du fühlst, dass dein Herz zu meinem gehört, dann wirst du dich für uns entscheiden.., auch gegen das Urteil eines Achterrats! Es gibt immer eine Lösung. Wir können beide zusammen für das Volk stehen, wenn wir auf unsere Herzen hören. Das Volk ist dir ohnehin schon zu Dank verpflichtet und viele in den Dorfern achten dich. Euer König ist weit weg und zur Tatenlosigkeit verurteilt; er mag froh sein, wenn überhaupt jemand für ihn und die Ival kämpft!«
Sebastian redete selbstsicher im Glauben, alle Hindernisse bewältigen zu können. Jedoch spürte er, dass in diesem Land etwas zwischen ihnen stand, das es in seiner eigenen freiheitlich orientierten Welt nicht gab, und das machte ihm Angst. Es waren der anerzogene, fraglos akzeptierte Glaube und die Unterwürfigkeit eines naiven Naturkindes den Gesetzen ihres Volkes gegenüber. Würde sie sich trotz aller Gebote ihres Volkes für ihn entscheiden, oder sich unglücklich den gesellschaftlichen Zwängen ihrer Welt unterwerfen?
Antarona glaubte an die Mythologie ihres Volkes, doch sie war auch eine mutige Rebellin. Darauf setzte Sebastian. Sie hatte bereits bewiesen, dass sie bereit war, neue Wege zu beschreiten, denn sie stellte sich allein gegen Torbuk und seine Häscher.
Ungewissheit breitete sich in Sebastian aus. Er hatte Angst, Antarona an das Volk der Ival zu verlieren. Aber einzig Antarona war der Grund, warum er sich überhaupt in die Probleme dieser Leute einmischte! Ohne sie wäre er wahrscheinlich bereits in eine Stadt gelangt und auf dem Weg nach Hause. Allein für Antarona dachte er daran, diese Täler als sein Zuhause anzusehen!
Das Krähenmädchen sagte nichts mehr und Sebastian hatte das Gefühl, dass sie sich vor ihm und der anstehenden Auseinandersetzung mit dem Achterrat verschloss. Am Fuß des sprechenden Baumes zog sie sich ihr Kleid an. Basti sah ihr fasziniert zu. Nein.., diese Frau war etwas, das einem Mann nur einmal im Leben beschert wurde! Um keinen Preis der Welt würde er sie jemals aufgeben!
Stumm und wie geistig abwesend nahm Antarona ihren Dolch auf und verbarg ihn unter ihrem Kleid. Mit starrem Blick forderte sie Sebastian auf:
»Kommt, Ba - shtie, das Volk erwartet uns!« Sie war in einer Stimmung versunken, in der sie am liebsten sterben würde. Worauf hatte sie gehofft? Dass ihr Vater schützend seine Hand über ihre Verbindung mit Ba - shtie halten würde, entgegen allem, was vorbestimmt war?
Nie zuvor hatte ihr Herz etwas empfunden, was sie fühlte, wenn Ba - shtie in ihrer Nähe war. Ihr Leben würde aufhören, wenn er sie verlassen würde. Was wäre dann? Sie war eine Tochter der Ival und sie musste den Gesetzen des Volkes gehorchen. Sie wusste, dass sie sich niemals hätte Ba - shtie hingeben dürfen. Er war zu wichtig für das Volk!
Aber ihr Herz gehorchte nicht. Es wollte Ba - shtie, doch sie wusste, es durfte nicht sein... Dann, wie ein Wunder waren die Elsiren gekommen. Seit hundert Jahren waren sie nicht mehr an diesem See gesehen worden! Die Götter hatten ihre Gebete erhört und sie gesandt, damit sich ihre Herzen verbinden konnten. Eine Verbindung der Herzen unter dem Schutz der Elsiren war heilig und durfte selbst vom Volk nicht verurteilt werden.
Ihr Vater aber sprach im Zorn über ihre Verbindung. O ja, sie wusste, dass er froh war, dass sie sich endlich einem Mann verbunden fühlte... Aber sie erwählte sich den, der vorgesehen war, das Volk zu retten! Nach der Prophezeihung aber wählte sich Areos selbst erst dann eine Tochter des Volkes, wenn Torbuk besiegt war. Hatte sie gegen das Gesetz des Volkes verstoßen? Warum hatten ihr die Götter dann aber die Elsiren gesandt, gerade, als ihre Sehnsucht nach Ba - shties Verständnis und Leidenschaft am unerträglichsten wurde? Nein, die Götter führten sie zusammen.., das Volk und auch der König durften sie nicht trennen! Auch das war Gesetz!
Ba - shtie wollte um sie kämpfen... Sie würde das gleiche für ihn tun. Sie wollte das wunderbare erregende Kribbeln in ihrem Bauch nicht mehr vermissen, wenn sie beisammen waren. In den Armen ihres Glanzauges, wie sie Ba - shtie heimlich nannte, fühlte sie sich so angenehm hochgehoben und umhergewirbelt, dass sie am liebsten vor Glück schreien wollte.
In seiner Nähe spürte sie ein forderndes, heißes Ziehen in ihrem Bauch, dass durch ihren Leib nach oben kroch und ihr Herz umklammerte, so dass es ihr bis zum Hals pochte und sie nicht mehr klar denken konnte. Sie liebte die Ival, ihr Volk, aber ihr Herz liebte, verlangte und begehrte den Mann von den Göttern, Areos, der aus dem Reich der Toten kam.
Sie hatte Angst. Die Furcht davor, das Volk, das sie als Zuhause liebte, könnte einmal zwischen ihr und Ba - shtie stehen, ließ sie sich bereits jetzt hin und her gerissen fühlen. Sie würde kämpfen! Gegen Torbuk und Karek, gegen veraltete, dumme Gebote, die alte, dumme Männer des Volkes hoch hielten und gegen jeden, der ihrem Glück im Weg stehen konnte. Sie wagte es kaum zu denken, aber sie war sogar bereit, Ba - shtie notfalls gegen den Willen ihres Königs zu lieben!
»Lasst uns etwas schneller gehen, Ba - shtie«, sagte sie bestimmt zu Sebastian. Der wunderte sich, wie rasch seine Geliebte wieder ihre gewohnte Überlegenheit zurück gewonnen hatte. Mehr noch dachte er daran, was ihn im Haus des Holzers erwarten würde.
Antarona ging voran und arbeitete sich mit den Armen durch den Schilfgürtel. Basti folgte ihr so gut er konnte und fragte sich, weshalb sie erst ihr Kleid angezogen hatte, wenn sie doch ohnehin durch dieses Moderwasser waten mussten. Etwas Braunes tauchte vor ihnen im Gestrüpp der Halme auf und entpuppte sich als eine Art Boot.
Aha.., also doch nicht geschwommen, dachte Sebastian, als er das braune Etwas näher betrachtete, das sie beide ans andere Ufer bringen sollte. Es war weniger ein Boot, als denn mehr ein zweieinhalb Meter langes Stück Holz, aus dem so etwas wie ein Einbaum herausgeschlagen wurde. Ein unförmiges, von Hand geschnitztes Paddel lag darin. Ebenso unförmig war das Boot selbst. Unebene Kanten und Ecken ließen darauf schließen, dass es von einem Betrunkenen mit einer Riesenaxt gefertigt worden sein musste. Grobe Bearbeitungsspuren, durch die viele Benutzung rund geschliffen, gaben dem Boot ein Aussehen, das eher einer hässlichen, verwarzten Kröte ähnelte.
»Nein, vergiss es.., ich steig da nicht rein...«, empörte sich Sebastian, als Antarona ihm den Vortritt lassen wollte und die Kröte an ihrem Ende fest hielt. »Du glaubst doch wohl nicht, dass uns das Ding da beide tragen kann? Nach den ersten drei Metern saufen wir ab.., hundertprozentig!«
»Ihr verhaltet euch wie ein Kind, Ba - shtie - laug - nids...«, warf sie ihm vor, »...das Nar - vul ist mehr als zehn mal zehn Sommer alt und gehörte schon Sonnenherz Großvater...« Sebastian ließ sie erst gar nicht ausreden.
»Nar - vul, Zehn mal zehn Sommer..? Ja, mein Engelchen, genau das ist es, was mir Sorgen macht... Gibt es keinen anderen Weg, als mit deinem Narvul quer über den See?« Sebastian ahnte es bereits, denn er musste sich ja schon auf dem Hinweg mit einem Holzklumpen im seichten Wasser nahe dem Ufer entlang schleichen. Schilf und Dickicht waren einfach unbezwingbar.
»Es ist der schnellste und einfachste Weg, Ba - shtie, macht schon, steigt hinein, mit den Füßen zur Mitte!«
Skeptisch sah sich Sebastian die Kröte an, griff an die Bordkante und schüttelte sie, um zu prüfen, ob sie nicht doch gleich bei der ersten Berührung in sich zusammen fiel. Immer weniger wunderten ihn die alten Mythen von indianischen Entstehungsgeschichten, wo ein Mensch von einer Schildkröte, oder einem Delfin an neue Ufer gebracht wurde, um ein Volk zu gründen. Allerdings... Wenn alle Delfine und Kröten so aussahen, wie das Narvul, so fand er es schon erstaunlich, dass überhaupt Völker gegründet wurden und die Menschen nicht bereits ausgestorben waren.
»Was zögert ihr noch, Ba - shtie, wollt ihr meinen Vater verärgern? Er hat euch inzwischen akzeptiert.., macht es nicht, dass er wieder erzürnt.., steigt endlich in das Narvul!«
Die Kröte wackelte ärgerlich und drohte, ihn augenblicklich ins Wasser zu werfen, als Sebastian mit zitternden Knien hinein stieg. Seine Hände verkrampften sich in der Bordwand und erst als Antarona mit der leichten Bewegung einer Katze vor ihm in den Rumpf sprang, beruhigte sich das urzeitliche Gefährt.
Gleichmäßig, wie ein gut eingestellter Motor, begann sie das Paddel in das Wasser zu tauchen. Ein Schlag links.., ein Schlag rechts.., ein Schlag links... Die alte Kröte schoss erstaunlich schnell über die glitzernde Wasserfläche und lag zudem noch ziemlich ruhig in ihrer Bahn.
Interessiert beobachtete Sebastian sein Krähenmädchen. Die rhythmische Paddeltechnik war ihr offenbar angeboren, so perfekt waren ihre Bewegungen ausgerichtet. Mit der Wendigkeit ihrer Hüfte glich sie jeden Schlag des Paddels sauber aus.
Gerade hatten sie Neftirs kleines Eiland umrundet und steuerten den offenen See an, als erneut das Horn ihres Vaters ertönte. Diesmal schon näher.
»Sag mal, jetzt übertreibt der aber...«, erboste sich Basti, »...was glaubt der eigentlich.., dass du sein Hund bist, den er zurückpfeifen kann, wann es ihm beliebt? Und überhaupt... Er behandelt dich, als wärst du eine Sklavin und nicht seine Tochter. Ist das hier bei euch so üblich?« Zunächst sah es so aus, als hätte Antarona ihn nicht gehört, denn sie paddelte ohne Unterbrechung gleichmäßig weiter. Doch dann antwortete sie in ruhigem Ton:
»Sprecht nicht so von ihm, Ba - shtie.., er ist ein alter Mann und sein Herz ist seit vielen Sommern voll Traurigkeit. Er war Sonnenherz immer ein guter Vater. Oft tut er, als sei er zornig, doch tief in seinem Herzen ist er gütig und voll Liebe für seine Kinder und das Volk.« Sie blieb vier Paddelschläge lang stumm, dann fügte sie hinzu:
»Er mag euch, Ba - shtie, er zeigt es nur nicht, da sein Herz sich verschlossen und verkrampft hat. Er ist so, weil er Angst hat, die Menschenwesen, denen er sehr verbunden ist, wieder zu verlieren.., wie meine Mutter.«
Sebastian dachte darüber nach und kam zu dem Schluss, dass Antarona das Verhalten ihres Vaters wohl richtig interpretiert hatte. Er musste sich eingestehen, dass er sich selbst ziemlich unzugänglich gab, nachdem er Janine verloren hatte. Es war die Angst vor einem erneuten Verlust, die ihn dazu brachte, Gefühle nur noch wie Beschützenswertes, Kostbares zu verschenken.
Ein dumpfer Klang, ein Ruck! Sebastian erwachte aus seinen Gedanken. Starr war sein Blick auf Antaronas Rückenpartie geheftet, die geschickt und geschmeidig das Narvul vorwärts trieb. Er bemerkte gar nicht, wie rasch sie sich dem Ufer hinter ihres Vaters Haus genähert hatten. Mit einem kaum spürbaren Satz war Antarona aus dem Einbaum ins Wasser gesprungen.
Sebastians Ausstieg gestaltete sich weniger Elegant. Das Narvul muckte störrisch, rollte sich unverhofft zur Seite und entließ Sebastians Gewicht in die Obhut der Schwerkraft. Der Held von den Göttern ruderte wild mit den Armen, bevor sein von der Sonne aufgeheizter Körper platschend im kühlen See versank.
Prustend durchbrach er drei Sekunden später die Wasseroberfläche. Die Reihe seiner Flüche fand sich kaum in Antaronas Wortschatz. Die stemmte ihre kleinen Fäuste in die Hüfte und bog sich vor Lachen demonstrativ nach hinten.
Sebastian stand wie ein begossener Pudel hüfttief im See, ein Algenkränzchen saß schief auf seinem Haupt und mit einem Dreizack wäre Neptun perfekt gewesen. Das Narvul dümpelte höhnisch neben ihm im Wasser und Sebastian hätte schwören können, dass es ihn schadenfroh angrinste.
Antarona saß mit hoch gerefftem Kleid an der Uferböschung und hielt sich vor Lachen die Lenden. Dicke Freudentränen kullerten ihr über die Wangen und sie wollte sich gar nicht mehr einkriegen. Sebastian warf sich neben sie ins Gras und angesichts ihrer nicht enden wollenden Heiterkeit musste auch er lachen.
Einige Augenblicke später angelte Basti sein Kleiderbündel aus der Kröte, dass er vorsichtshalber im Bug verstaut hatte. Ein Satz nasser Kleider in zwei Tagen genügten ihm völlig. Rasch schlüpfte er in die Hose und warf sich das Hemd über. Fragend zupfte er am Hemdsaum.
»Sag mal, wo kommen eigentlich diese Sachen her? Die sehen echt stark aus.., und bequem sind sie obendrein!« Dabei strich er mit beiden Händen behutsam über seine neue Gewandung, als wäre diese ein lebendiges Wesen.
»Sonnenherz hat sie euch gemacht, während ihr im Schoß von Mutter Nacht weiltet«, verkündete sie stolz. Vorsichtig strich sie ebenfalls über sein Hemd, als wollte sie sicher sein, dass es auch perfekt saß. Sebastian blickte sie verständnislos an.
»Wie jetzt... Du hast das alles gemacht? Das alles heute Nacht?« Skeptisch griff er sich an jedes einzelne Stück, das so schmeichelnd seine Gestalt zierte und begutachtete es, als betrachtete er es zum ersten Mal. »Das kannst du doch nicht alles in den paar Stunden gemacht haben...«, schüttelte Sebastian verwundert den Kopf, »...kein Mensch schafft das! Allein diese Stickerei.., wie aufwendig die ist.., mindestens eines Königs würdig, so etwas!«
»Ihr seid ein König, Ba - shtie.., ihr seid Areos, der Sohn Bentals... Sonnenherz wird nicht zulassen, dass ihr wie ein Robrum vor den Achterrat tretet.«
»Ja aber dann hast du ja gar nicht geschlafen!« Sebastian ließ diese Feststellung wie eine Frage klingen, in der ein Unterton gespielten Ärgers mitklang. Er fasste sie an den Schultern und blickte ungläubig in ihre großen Augen.
»Du hast die ganze Nacht lang an diesen Sachen gearbeitet..? Für mich..?« Sebastian war fassungslos. Wie groß musste eine Liebe sein, wenn sie ein so aufwendiges und selbstloses Geschenk hervorbrachte! Oder hatte sie das alles nur für das Wohl des Volkes getan?
Nein.., Sebastian ohrfeigte sich im Stillen für diesen ketzerischen Gedanken. Wie konnte er noch zweifeln? Etwas derartiges konnte eine Frau nur aus Liebe tun! Eine solche Arbeit war viel zu wertvoll für eine bloße freundschaftliche Geste.
Sebastian zog den Saum des Hemdes nach vorn und betrachtete noch einmal die feine Arbeit. Faden an Faden fügten sich wie ein Mosaik in unendlichen Stichen zu einem gestickten Wappen zusammen. Die Farben leuchteten in der Sonne. Diese Applikation war professionell ausgeführt und sah keineswegs verspielt aus. Erst jetzt wurde ihm bewusst, welch edles Gewand seine Haut bedeckte.
Überwältigt vor Ehrfurcht und Ergriffenheit traten Sebastian Tränen in die Augen. Er umarmte sein Krähenmädchen, zog sie so fest an sich und küsste sie, dass ihre geblähten Nasenflügen panisch nach Luft schnappten. Sanft entwand sie sich seiner Umklammerung.
Ba - shtie...«, keuchte sie atemlos, »...ihr liebt mich ja zu Tode...« Dann lächelte sie glücklich und es schien, als wäre ihr ein kürbisgroßer Stein vom Herzen gefallen. »Sonnenherz ist froh, dass euch das neue Gewand gefällt.«
»Gefällt...?« Sebastian zog kopfschüttelnd die Augenbrauen hoch. »Das ist das großartigste, wunderschönste und liebste Geschenk, das ich jemals in meinem Leben bekomme habe.., es ist... Mir fehlen einfach die Worte!« Er sah sie verzaubert an. »Du hast mir eine so große Freude damit gemacht, das kann ich gar nicht sagen!«
Antarona hockte sich plötzlich vor ihm auf die Knie, senkte seitlich etwas beschämt ihren Blick zu Boden und sagte bescheiden:
»Sonnenherz ist glücklich, dem Sohn des Königs dienen zu dürfen...« Sebastian war peinlich berührt und auch ein klein wenig verärgert über so viel Zurückhaltung und Unterwürfigkeit, die Antarona seiner Meinung nach gar nicht nötig hatte. Im Gegenteil! Eigentlich wäre es an ihm gewesen, ihr solche Ehrbezeugung entgegen zu bringen.
Er stand auf, zog sie an den Händen hoch und hob ihr Kinn an, um ihr in die Augen zu sehen. Mit so froher, ungezwungener Stimme, wie es ihm möglich war, versuchte er seine eigene peinliche Berührtheit zu überspielen.
»Nun mal nicht so bescheiden, mein Engelchen! Ohne dich wäre ich keine drei Tage weit gekommen! Wahrscheinlich wäre ich unweigerlich Torbuks Soldaten in die Hände gestolpert, wenn du mich nicht gefunden hättest. Und außerdem... Du hast es selbst gesagt und hattest recht damit: Für dich bin ich Basti Lauknitz. Und der werde ich auch immer bleiben! Mögen dein Vater und alle hier das anders sehen.., aber ich bin nicht der Sohn von irgendeinem König. Ich bin der Mann, der dich liebt und der mit dir sein Leben teilen möchte, in Freude genau so, wie im Leid!« Sebastian holte tief Luft und stellte feierlich fest:
»Antarona.., ich liebe dich mehr, als mein Leben und du bist für mich das Allerwichtigste auf der Welt!« Etwas nüchterner fügte er hinzu:
»Darum möchte ich, dass du niemals wieder vor mir in die Knie gehst, dich vor mir verneigst, oder dich in irgend einer Form unter mich stellst. Jeder darf deutlich sehen, dass du meine Königin bist!« Er schüttelte sie leicht an den Armen, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen.
»Du - bist - nicht - meine - Dienerin, ist das jetzt klar? Du bist jetzt meine Frau, auch wenn die Verbindung unserer Herzen noch nicht von deinem Volk akzeptiert wurde!« Forschend sah er Antarona an.
»Natürlich nur, wenn du das auch willst... Aber wenn das für dich ein Problem sein sollte...« Er ließ den Satz offen und sie ergänzte mit plötzlich aufgehellter Mine:
»Mein Herz will es ebenso, Ba - shtie, doch nach dem Gebot der Götter und den Gesetzen meines Volkes...« Sebastian ließ sie erst gar nicht ausreden. Er wollte jeden Zweifel, der eventuell noch zwischen ihnen stand, ausrotten.
»Unsere Herzen, Antarona.., unsere Herzen allein sind für uns Gebot und Gesetz! Wenn du wirklich daran glaubst, dann wird unsere Liebe stärker sein, als jedes Gesetz irgend eines Volkes oder Königs. Lass dir dein Herz sagen, was richtig ist! Denk an die Elsiren! Die Götter sind mit uns.., verstehst du das?« Eine Antwort wartete Basti nicht erst ab.
Entschlossen nahm er ihre Hand, zog sie die Uferböschung herauf und legte ihr den Arm um die Hüfte. Er wollte sicher gehen, dass ab sofort jeder klar erkennen konnte, dass sie zusammen gehörten und sich mit gegenseitigem, gleichen Respekt achteten.
»So.., und jetzt wollen wir denen mal’n Auftritt hinlegen, dass ihnen Hören und Sehen vergeht!«, kündigte er unerschrocken an und führte Antarona wie eine Prinzessin über den Hof ihres Vaters, dem lauernden Unbekannten entgegen.
Weit kamen sie nicht. Gerade erreichten sie den ersten von Holzers drei Vorratsschuppen, als Sebastian erschrocken zurück wich. Zwei dunkle Geschöpfe kamen aus dem Schatten der Holzhütte hervor geschossen, jagten um die beiden Verliebten herum und sprangen sie an, dass Sebastian beinahe den Halt verlor und rückwärts hin fiel.
Es waren zwei alte Bekannte, die ihm hechelnd ihren stinkenden Atem ins Gesicht bliesen. Rona und Reno! Sebastian war sichtlich irritiert und sah Antarona an, die von der Situation kaum beeindruckt schien. Reno links, Rona rechts, kraulte er ihnen zur Begrüßung das Fell. Offenbar hatten sie diese Zuwendung vermisst, denn ihre Schwänze führten einen Freudentanz auf, als wollten sie den gesamten Hof des Holzers auffegen.
»Na sagt mal, ihr beiden Ausreißer, wo kommt ihr denn her?« Anstelle der Hunde antwortete Antarona und Basti wusste nicht recht, ob sie telepathischen Zugang zu ihnen hatte, oder einfach bereits wusste, dass Balmer erwartet wurde.
»Sie sind mit Väterchen Balmer gekommen und haben euch erwartet, Ba - shtie. Ihre Freude, euch zu sehen, ist sehr groß. Die beiden haben euch vermisst.., sie waren traurig, dass ihr so plötzlich verschwunden seid.«
»Ich wusste nicht, dass Högi Balmer ebenfalls zu deinem Vater kommt...«, brachte Sebastian gehetzt hervor, denn die beiden Hunde ließen ihm nun keine Ruhe mehr. Übermütig tollten sie um Bastis Beine herum, brachten ein dickes Aststück, legten es ihm vor die Füße und erwarteten, dass er es fort warf.
»Väterchen Balmer ist ein Mitglied des Achterrats, Ba - shtie, es war sicher, dass er kommen würde.« Sebastian stoppte den Wurf des Holzstücks mitten in der Bewegung und sah seine Gefährtin verwundert an.
»Ach.., na das ist ja interessant«, bemerkte er vorwurfsvoll, »...und das erzählst du mir jetzt.., mal eben so nebenbei..?« Reno setzte zum Sprung an und schnappte sich im Flug den Stock aus Sebastians Hand. Dieser stolperte einen Schritt zur Seite, registrierte das aber nur am Rande. Viel zu überrascht war er von der Tatsache, dass ihm Antarona Högi Balmers Kommen verschwiegen hatte.
Noch erstaunter war er darüber, dass Balmer ein Mitglied des Achterrats sein sollte. Was zum Kuckuck wurde hier gespielt? Wusste der ganze Achterrat, einschließlich Antaronas Vater, dass er, Sebastian Lauknitz, beim Alten oben auf der Alm festgehalten wurde? Hatte es Antarona am Ende selbst gewusst? Gehörte sie etwa mit zu dieser Verschwörung, wegen derer man ihn in dieses Land verschleppt hatte?
Sebastian schwirrte der Kopf. Er bemerkte nicht einmal mehr, wie die beiden Hunde um ihn herum tobten und mit ihm spielen wollten. Plötzlich bekam die Mauer des Vertrauens zwischen ihm und Antarona einen gewaltigen Riss!
Auf einem Mal fiel ihm wieder ein, was ihm Antarona bei ihrer ersten Begegnung gesagt hatte. Ba - shtie.., ihr habt mich nicht gesucht..! Ich habe euch gesucht.., ich habe euch gefunden!
War Antarona, das Krähenmädchen, in das er sich unsterblich verliebt hatte, in alles eingeweiht? Wobei sich Sebastian eingestehen musste, dass er nicht einmal wusste, was alles zu bedeuten hatte. War Antarona losgeschickt worden, ihn zu finden, als Balmer seine Flucht bemerkt hatte? Hatte man ein halbnacktes, verführerisches Mädchen wie einen Köder auf seine Fährte angesetzt, um seiner wieder habhaft zu werden?
Skeptisch, mit zusammen gekniffenen Augen sah er seine Gefährtin an, die nun ihrerseits Mühe hatte, den Spieldrang von Reno und Rona abzuwehren. Sebastian ignorierte die Hunde. Er wollte Klarheit, und zwar auf der Stelle!
»Antarona Holzer...«, begann er in vorwurfsvollem Ton, »...jetzt möchte ich bitte von dir wissen, wie du wirklich zu mir stehst! Du hast gewusst, dass ich heimlich von Balmers Hütte abgehauen bin, nicht wahr? Und sie haben dich hinter mir her geschickt, damit du mich wieder einfängst.., stimmt’s.., hab ich Recht?« Sebastian schüttelte ungläubig den Kopf, denn es fiel ihm schwer, zu glauben, dass Antarona ihn ganz simpel verraten und ihm die große Liebe nur vorgespielt hatte.
Antarona machte eine Handbewegung und Rona und Reno trotteten davon. Wahrscheinlich hatte sie ihnen auf ihre Weise gesagt, dass sie woanders weiter spielen sollten. Sie wollte etwas sagen, doch Sebastian fuhr ihr aufgebracht über den Mund.
»Verdammt noch mal, jetzt sag mir endlich die Wahrheit! Hat es eigentlich viel Überwindung gekostet, dich auszuziehen und dich tagelang halb nackt zu präsentieren, um den naiven Basti Lauknitz mit deinen Reizen einzufangen.., oder hat es dir am Ende noch Spaß gemacht.., was? Erzähl mir mal, wie es wirklich war! Was haben sie dir dafür versprochen.., na?« Sebastian empfand Enttäuschung und Liebe zugleich, was ihn immer wütender werden ließ.
»Na, wie war es denn nun.., oder hat es dir dein Vater einfach befohlen, mir wie eine Schlange den Kopf zu verdrehen und mich hier her zu bringen.., oder vielleicht deine komischen Götter..?« Antarona stand sprachlos vor ihm und sah ihn entsetzt an. Für Sebastian war es eindeutig die Bestätigung, dass sie sich ertappt fühlte und er setzte sofort nach:
»Was war das da eigentlich gestern, am See.., mit den Elsiren..? Hat dir das viel Spaß gemacht, dem blöden Basti die große Sehnsucht vorzuspielen? Und heute, da oben im Baum, der Trick mit den Stimmen..? Findest wohl langsam Gefallen daran, mich regelmäßig für eure Ziele zu verführen, was? Klappt das gut..? Wenn der Lauknitz Zicken macht, gibt’s einfach mal wieder ne Portion Sex und Liebe, dann läuft der wieder rund, wie?«
Sebastian hob ihr verzweifelt seine Hände entgegen und sagte etwas ruhiger, aber mit tiefer Enttäuschung in der Stimme: »Sag mal, habt ihr das eigentlich alles geplant, oder ist euch das nur so nach und nach eingefallen..?«
»Weder das eine, noch das andere...«, fiel ihm eine bekannte Stimme ins Wort. Sebastian fuhr herum. Andreas, Falméras Medicus stand mit vor der Brust verschränkten Armen wie aus dem Boden gewachsen in der Mitte des Hofes und sah ihn überlegen an.
»Na, das hätte ich mir ja denken können...«, entfuhr es Sebastian ohne sich noch groß zu wundern, »...sagt mir, lieber Herr Doktor.., warum bin ich eigentlich nicht überrascht, euch hier zu sehen? Wisst ihr.., es hätte mir so etwas von klar sein müssen, dass ihr hier alle unter einer Decke steckt...«
»Na, na, na.., jetzt beruhigt euch mal wieder, Sebastian...«, wollt der Doktor beschwichtigen und machte einen Schritt auf Basti zu.
»Beruhigen?«, fragte Sebastian angriffslustig, »...na dann passt mal auf.., ich fange jetzt erst richtig an!« Etwas gefasster fuhr Sebastian dann fort.
»Ich hab euch wohl einen richtig fetten Strich durch die Rechnung gemacht, was? Habt wohl nicht gedacht, dass der angeschlagene Sebastian Lauknitz einfach bei Nacht und Nebel verschwindet, hm? Zugegeben, es hat eine Weile gedauert, bis ich dahinter gekommen bin, was hier gespielt wird...«
»Sebastian.., niemand spielt euch hier etwas vor, glaubt mir.., wir wollten nur, dass ihr euch nicht unnötig in Gefahr begebt...«, versuchte Andreas zu erklären. Doch Sebastian glaubte ihm kein Wort mehr.
»Ach ja..? Ich höre wohl nicht recht!«, erboste sich Basti. »Lasst mich mal überlegen, liebster Doktor.., wie war das doch gleich..? Dreißig bis vierzig Tage sollte ich Ruhe halten und auf den alten Balmer hören, nicht wahr? Und was dann.., he? Was wäre dann passiert? Wieder ein Gor.., ein Felsenbär.., oder zur Abwechslung mal ein paar schwarze Reiter? Und Balmer..? Wollte mir weiß machen, es gibt nur den einen Weg ins Tal.., den ihr gekommen seid! Aber den breiten Fahrweg jenseits der Schlucht, an den habt ihr beide nicht gedacht.., wohl einfach vergessen, was?« Sebastian machte eine kleine Pause, ließ dem Doktor aber keine Chance zu antworten.
»Ich will euch mal etwas sagen, Herr Medicus! Ich habe die Nase voll von diesem Verein hier, ich werde jetzt das tun, was ich sofort hätte tun sollen.., nach Hause gehen! Und versucht ja nicht, mich aufzuhalten, dann werde ich noch richtig sauer, das kann ich euch sagen!«
Zu Antarona gewandt, die gerade einen Schritt auf ihn zu machen wollte, sagte Sebastian traurig: »Weißt du, mein Engelchen.., ich liebe dich immer noch.., das kann ich nicht so einfach wegwischen, wie ein lästiges Insekt, auch wenn du mich, ehrlich gesagt, ziemlich enttäuscht hast. Aber wenn nur ein Funke Ehrlichkeit an deiner Liebe zu mir war, dann kannst du es mir beweisen, indem du deine Siebensachen zusammen packst und mit mir kommst. Vielleicht haben sie dich ja nur benutzt.., dann will ich nicht mehr darüber reden...«
»Sie wird nirgendwo mit euch hingehen...«, mischte sich Andreas ein und trat zwischen Sebastian und Antarona.
»Ach, na sieh mal einer an...«, unkte Sebastian sarkastisch, »...und ihr glaubt, das habt ausgerechnet ihr zu entscheiden, was?«
»Ja...«, entgegnete der Doktor selbstsicher, »...und ihr solltet auch nicht einfach gehen... Was, wenn ihr den Reitern Torbuks begegnet, hm? Was macht ihr dann?« Falméras Medicus sah ihn mit hochgezogenen Augen erwartungsvoll an.
»Die sollen mal kommen.., denen haue ich die Rüstung in Brand, dass die Heide wackelt!«, schnaubte Sebastian wütend.
Der Doktor zuckte mit den Achseln und blickte abwechselnd zu Antarona und wieder zu Sebastian herüber. Dann wiegte er bedächtig seinen Kopf hin und her und meinte nachdenklich:
»Na ja.., habt denen ja ganz schön den Pelz weich geklopft, ihr beiden... Aber noch mal schafft ihr das nicht. Die sind jetzt gewarnt!« Dann wurde er lauter und deutlicher.
»Was glaubt ihr, Sebastian, machen die mit euch, wenn sie euch noch mal zu fassen kriegen? Und das wird früher oder später der Fall sein, wenn ihr mutterseelenallein im Lande umher lauft!« Sebastian wollte etwas sagen, doch nun war es der Doktor, der ihn nicht zu Wort kommen ließ.
»Sebastian Lauknitz.., ich mache euch einen Vorschlag. Kommt erst einmal zum Holzer herein und hört euch an, was der Achterrat zu sagen hat. Was habt ihr schon zu verlieren?« Sebastian überlegte. Andreas nutzte sein Zögern, um nachzuhaken:
»Also.., kommt jetzt herein und hört euch an, was die da drinnen zu sagen haben, und ich verspreche euch...«, er machte eine unbestimmte Geste, »...also, wenn ihr dann immer noch weg wollt, wird euch niemand aufhalten. Ihr könnt dann frei nach Belieben eurer Wege ziehen.., allerdings ohne Hedarons Töchterchen.., das werdet ihr hoffentlich verstehen...«
Sebastian drehte sich langsam zu Antarona um und sah ihr in die Augen. Konnten diese Augen mit so unschuldigem Blick lügen? War sie tatsächlich eine so raffinierte Schauspielerin? Antarona nickte zustimmend und wandte ihren Blick traurig zu Boden.
»Also gut.., ihr habt mich zunächst mal überzeugt...«, gab Sebastian zu, »...anhören schadet ja nichts... Doch, was Antarona betrifft, so soll sie gefälligst selbst entscheiden!« Damit streckte er der Frau, die er trotz der veränderten Situation noch liebte, die Hand entgegen. Er wollte jedem, aber vor allem ihr selbst zeigen, dass er immer noch zu ihr stand und sich mit ihr verbunden fühlte. Zögernd legte Antarona ihre Hand auf seinen Arm und ließ sich bereitwillig am Doktor vorbei zur Tür ihres Elternhauses führen.
Drinnen schlugen ihnen bereits im Flur viele aufgeregte Stimmen aus dem Wohnraum entgegen. Der Raum war belagert von alten und jungen Männern, die am Tisch und auf der Bank saßen, oder an den Wänden herumstanden. Sie redeten lautstark durcheinander und jeder schien seinem Nachbarn die eigene Meinung aufzwängen zu wollen.
Als Sebastian mit Antarona durch die Tür trat, wurde es schlagartig still. Erwartungsvolle Blicke starrten ihnen entgegen. Gelegentlich war noch ein Flüstern oder Murmeln zu hören und Sebastian spürte förmlich die Spannung, die den Raum beherrschte.
Antaronas Vater trat aus einer Gruppe älterer Männer hervor und ergriff das Wort. Nach wie vor verstand Sebastian kein Wort dieser Sprache, doch anhand der Gesten und des Tonfalls war es nicht schwer, den Inhalt zu interpretieren. Der Holzer präsentierte seinen Achterrats- Mitgliedern den Mann von den Göttern, der das Volk retten sollte.
Sebastian Lauknitz wurde von einem zum anderen gereicht und Medicus Andreas, der plötzlich wie ein Geist hinter ihm stand, führte ihn den Männern vor, die offenbar die Repräsentanten, Dorfältesten und Clanführer des Tales waren. Mit großer Verbeugung, wie bei einem heiligen Zelebrat stellte ihm der Doktor jeden einzelnen Anwesenden vor und erklärte ihm, warum dieser und jeder für die Ival so wichtig waren.
Antarona blieb in der Nähe der Tür zurück. Geschickt hatte es der Doktor eingefädelt sie beide zu trennen. Er stubste Sebastian von einem Neugierigen zum nächsten und wenn er versuchte, Antaronas Blick zu erhaschen, so stand Andreas wie zufällig dazwischen. Sebastian wollte sie lieber an seiner Seite haben, um unmissverständlich klar zu stellen, dass sie verbunden waren.
Der Mann, der aus dem Totenreich zurückgekehrt war und Areos sein sollte, wurde mit Fragen überhäuft, die der Doktor übersetzen musste. Vor allem aber gebot ihm jeder Anwesende einen übertrieben höfischen Respekt, verneigte sich tief vor ihm und einige, insbesondere die Windreiter, schienen darauf zu brennen, ihm die Füße küssen zu dürfen.
Vor ihm stand der alte, weißhaarige Mann, den Sebastian bereits beim Frühstück kennen gelernt hatte. Es war jener Mann, der das grausige Schauspiel in Zumweyer beendet hatte, als das Volk einen der Schwarzen Reiter bis zur Unkenntlichkeit zerstückelte. Pantheoton war der weise Sprecher des Dorfes und als Abgesandter und Mitglied des Achterrats gekommen.
Trotz seines Gebrechens verbeugte sich der Alte tief vor Sebastian und wollte dessen Hemdzipfel küssen. Lauknitz nahm ihn bei den Schultern und richtete ihn wieder auf. Er musste ihn leicht schütteln, denn sein Blick war demütig zu Boden gerichtet. Als ihn der Mann erstaunt ansah, lachte ihm Sebastian freundlich ins Gesicht und reichte ihm die Hand. Pantheoton sprach und der Doktor übersetzte:
»Die Ival sind froh, dass ihr wieder zurück seid, Herr. Das Volk wird euch folgen, wohin ihr es auch führen mögt. Jeder Mann wird euch treu ergeben sein, bis in den Tod!«
Sebastian sah den Mann an und er spürte, dass dieser Alte neue Hoffnungen in das Wunder legte, dass der Sohn seines Königs aus dem Reich der Toten wiedergekehrt war. Wahrscheinlich wurde er auch von Sebastians Erscheinungsbild beeinflusst, woran Antarona nicht ganz unschuldig war. Die Wappen und gestickten Verzierungen auf seinem Gewand machten zweifellos Eindruck.
Die Menschen in diesem Raum wollten ein Wunder, ja sie erwarteten geradezu einen veränderten, im Reich der Toten gefestigten, mit dem Mut der Götter gesegneten Areos. Nun, den sollten sie haben! Zu aller Überraschung, den Doktor eingeschlossen, trat Sebastian einen Schritt vor und umarmte den Weißhaarigen. Zu Andreas sagte er:
»Los, Doktor.., übersetzt das«, und allen anderen zugewandt ließ er deutlich hörbar verlauten: »Hier wird niemand mehr sinnlos in den Tod gehen! Es reicht, wenn viele Töchter der Ival, die auf Kareks Burg verschleppt wurden, ein Leben in Dunkelheit führen müssen, es genügt, wenn die Söhne der Ival für die Tränen der Götter in den Bergwerken Torbuks sterben müssen. Das Volk hat bereits genug gelitten! Kein Mann, keine Frau und kein Kind soll in Zukunft sinnlos geopfert werden! Sonnenherz hat euch bereits gezeigt, dass mit Mut und Klugheit auch den schwarzen Reitern beizukommen ist! Nehmt euch ein Beispiel an des Holzers Tochter und... Ja.., und dann werden eines Tages Freiheit und Frieden in den Tälern der Ival einziehen!«
Von der Geste und seinen Worten überrascht, gab zunächst niemand einen Ton von sich und Sebastian glaubte schon, irgendeinen dummen Fehler begangen zu haben. Doch plötzlich trat ein schlanker, junger Mann in die Mitte des Raumes, streckte sein Schwert in die Höhe, dass es in die Holzdecke stieß und rief etwas, das wie ein Schlachtruf klang. Einer nach dem anderen fielen die Anführer und Gesandten des Volkes mit ein und Sebastian brandete eine offene Welle der Anerkennung entgegen, die er nicht für möglich gehalten hatte.
Von einem Augenblick zum nächsten war es vorbei, mit Andreas kontrollierter Präsentation des neuen, von den Toten auferstandenen Areos. Alle drängten sich ihm begeistert entgegen, umringten ihren Areos und zupften an seinem königlichen Hemd, als würde die bloße Berührung sie glücklich machen.
Sebastian nutzte die Situation aus und kämpfte sich im Ansturm auf seine Person zu Antarona durch. Er schnappte das verdutzte Krähenmädchen mit einem Arm um die Oberschenkel und hob sie hoch. In der entstandenen Euphorie ignorierte er das geringe Gewicht ihrer zierlichen Gestalt. Sie ruderte mit den Armen und musste sich auf Sebastians Schulter abstützen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.
Anschließend dreht sich Basti zu dem jungen Mann um, dessen Ruf das Eis gebrochen hatte. Er setzte Antarona wieder auf die Füße, legte ihr demonstrativ seinen Arm um die Hüfte und flüsterte ihr ins Ohr:
»Du wirst übersetzen, mein Engelchen.., nicht der Medicus von Falméra!« Sebastians Augen suchten im Gedränge den Blick des spontanen Rufers, der noch bemüht war, die Spitze seines Schwertes aus der Hausdecke des Holzers zu befreien. Antarona erfasste wie durch Telepathie Sebastians Gedanken.
»Das ist Arrak, der Anführer der Windreiter. Mein Vater sagt, Arrak war euer bester Freund und Vertrauter, Areos, als ihr noch die Truppen eures Vaters, König Bentals, anführtet...«
»Was soll das.., mit Areos..? Ich bin dein Ba - shtie.., schon vergessen? Für dich bleibe ich immer Ba - shtie - laug - nids, oder Glanzauge, das wird sich nicht ändern, egal, was die hier alle denken«, versprach er ihr. Er wartete ihre Reaktion nicht ab, sondern ging auf Arrak zu und zollte ihm ebenso Respekt, wie Pantheoton. Er reichte Arrak die Hand. Der jedoch umarmte Sebastian wie einen guten Freund und setzte für alle ein Zeichen. Es drückte Achtung und Vertrauen aus, etwas, das in diesen Tälern als offene Geste scheinbar lange nicht mehr gepflegt wurde.
Arrak war ein Mann mit offenem Blick und wachen Augen. Keine übertriebene Fröhlichkeit, sondern entwaffnende Aufrichtigkeit prägten sein Gesicht, das auf Anhieb Vertrauen weckte. Es besaß eine jugendliche Ausstrahlung, jedoch nicht so schalkhaft, wie bei Andreas. Die Erfahrungen des Lebens hatten bei diesem jungen Mann bereits Spuren hinterlassen. Die kleinen Fältchen um Mund und Augen, die ihn jedoch keineswegs älter erscheinen ließen, erzählten von Vernunft, Mut und Entschlossenheit.
Als Anführer der Windreiter war er schlank, aber nicht übermäßig groß und muskulös. Kraft und Stärke schienen sich aus seinem Wesen zu schöpfen, nicht aus seinem Körper. Dennoch war sich Sebastian sicher, dass er ein exzellenter Kämpfer war, der seinem Feind keine Chance einräumte. Ein Mann mit solcher Ausstrahlung besaß Führungsqualitäten.
Allein schon Arraks Kleidung zog Sebastians Blick auf sich. Er trug einen dunklen, fast schwarzen Waffenrock aus Leder, der Sebastian in Form und Ausführung an das Gewand eines römischen Tribun erinnerte. Der Brustteil, sowie der über die Hüfte reichende untere Teil war mit Applikationen aus Metallplättchen besetzt und ergaben in ihrer Gesamtheit das Wappen, welches Antarona auch auf sein Hemd gestickt hatte. Über dem Wappen schwebten zusätzlich zwei gekreuzte Schwerter, die eine Krone hoch hielten.
Seine verhältnismäßig langen Beine steckten in weiten, hochschäftigen Reitstiefeln, die sich bis an die Knie über eine großzügig geschnittene, weiße Hose stülpten, in deren Gesäßteil ein großer Lederflicken eingenäht war. Quer über den Rücken trug er eine lederne Scheide, in der sein Schwert ruhte, wenn es nicht gerade in einer Holzdecke feststeckte. Seine ganze Gestalt vermittelte neben aller Integrität ein kriegerisches Aussehen.
»Herr, es ist für mich eine hohe Ehre, wenn ich wiederum Seite an Seite mit euch gegen das Böse kämpfen darf. Die Windreiter...«, dabei wandte er sich um, wo sich eine Vielzahl junger Männer aufgebaut hatte, die ähnliche Kampfgewänder trugen, wie er selbst, »...werden euch zu Diensten sein, wo und wann immer ihr unser bedürft. Herr befehlt und wir folgen!« Nachdem Antarona übersetzt hatte, verneigte er sich vor Sebastian und legte ihm sein Schwert vor die Füße. Basti hob die einfache Waffe auf und reichte sie Arrak in einer feierlich anmutenden Geste.
»Arrak.., eure Stunde und die eurer Reiter wird kommen. Und ich bin davon überzeugt, dass ihr für die Ival und das Land von Volossoda mit mutigem Herzen und sicherer Hand streiten werdet. Das Gebot aber ist, auch mit klugem Kopf zu streiten. Darum lasst uns zunächst beraten, bevor wir Taten sprechen lassen.., was meint ihr dazu?«
»Herr, was immer euer Wunsch ist..!«, übersetzte Antarona. Sebastian entging allerdings nicht, dass sich eine Spur der Enttäuschung über das Gesicht Arraks legte. Offenbar brannten die Reiter darauf, unter der neu erwachten, hoffnungsvollen Führung Areos sofort in den Krieg zu ziehen und den schwarzen Reitern Torbuks in die Flanke zu fallen.
Andererseits war Sebastian froh, dass es in diesen Tälern noch Mutige gab, die bereit waren, ihr Leben für Freiheit und Frieden einzusetzen. Als er mit Antarona in Zumweyer gegen Torbuks Häscher kämpfte, hatte er etwas anderes gesehen: Verzweiflung, Perspektivlosigkeit und Passivität. An Männern wie Arraks Windreitern war es, das Volk der Ival wieder zu neuem Mut zu bewegen, sie mitzureißen, ihnen das Selbstvertrauen zurück zu geben, sie zu motivieren!
Am Beispiel von Arrak und Antarona musste er dem Volk bewusst machen, wie es sich von einem Tyrannen wie Torbuk und Karek befreien konnte. Das Volk musste es selbst tun! Er, Sebastian, Areos, oder wie auch immer, konnte ihnen lediglich seinen Rat und seine Führung anbieten. Kämpfen mussten sie selbst! Es nützte rein gar nichts, wenn eine Gruppe von Kämpfern sie befreien würde, oder sich gar bei diesem Versuch verheizen ließen. Das Volk würde wieder in seine Lethargie zurück fallen und sich in Trauer und Angst seinem Schicksal ergeben.
Für Sebastian, der die Geschichte der Menschen schon aus der Schule seiner gelernten Zivilisation kannte, war klar, dass sich dieses Volk der Ival selbst befreien musste. Jeder Einzelne von ihnen musste sein Opfer für ein Leben in Frieden und Freiheit erbringen, damit ihm der Wert dieses hohen Gutes stets bewusst war und er es auch in Zukunft gegen alles Böse zu verteidigen bereit war.
Sebastian hatte nicht vor, die Rolle eines Schlachtenlenkers und Feldherrn zu übernehmen, um die Ival zum Sieg über Torbuk und Karek zu führen. Viel mehr wollte er in diesen Menschenwesen das Bewusstsein und den eigenen Wunsch wecken, sich dieser gefährlichen Landplage zu entledigen, um künftig mit Stolz ihre Kinder großziehen zu können.
Antarona übernahm nun wie ganz selbstverständlich die Rolle des Doktors und stellte ihren Ba - shtie den Vertretern des Volkes vor. Andreas indes stand plötzlich wie verloren, mit düsterer Mine zwischen denen, die Sebastian ehrfürchtig umdrängten.
Ein hoch gewachsener Mann mittleren Alters stand nun vor ihnen, der sich, Sebastian zunächst keines Blickes würdigend, tief vor Antarona verbeugte, als wäre sie seine Königin. Er schien bislang der einzige zu sein, der ihr die Achtung entgegenbrachte, die sie für ihren Mut und ihre Entschlossenheit bei ihren Alleingängen gegen Torbuks Reiter verdiente.
Antarona schob Sebastian in den Vordergrund, so dass sich die beiden Männer gegenüber standen. Sie selbst blieb knapp hinter Basti stehen und versuchte die vielen durcheinander redenden Münder zu übertönen:
»Das ist Acheron, Ba - shtie, der Jäger von Imflüh. Es gibt keinen Pfad durch die Täler und über die Berge Volossodas, welche er nicht kennt. Er vermag euch zu beobachten und seine Waffe auf euch anzulegen, doch ihr würdet ihn nicht sehen. Kein Ort in unseren Tälern ist ihm verborgen...«
Sebastian sah Acheron in die Augen und bemerkte, dass dieser ihn bereits mit seinem Blick prüfte. Kannte dieser stattliche Mann tatsächlich jeden Zentimeter dieser Welt, in welche Sebastian erst nach und nach vordrang? Wie gut kannte sich Acheron wirklich in den Wäldern und Tälern aus? Wusste dieser Jäger von Antaronas Höhle, kannte er das verborgene Hochtal oberhalb Högi Balmers Hütte? Und hatte er eine Ahnung, wo sich die Hallen von Talris befanden?
Fragen, die Sebastian ganz spontan beschäftigten, während ihre zwei Augenpaare sich musterten und gegenseitig abschätzten. Dann trat Acheron einen Schritt zurück und wollte sich vor ihm verbeugen. Doch Sebastian fasste den Jäger bei den Schultern und hielt ihn auf.
»Hier wird sich niemand mehr einem anderen erniedrigen, Acheron...«, übersetzte Antarona dem verdutzten Mann, ...»wir kämpfen alle gemeinsam für das gleiche Ziel! Ein friedliches, glückliches Leben in Freiheit! Ein Land, in dem sich jeder frei äußern kann und in dem niemand je wieder von einem anderen beherrscht wird...«
»Aber, Herr.., ihr seid Areos, Bentals Sohn.., der Sohn des Königs, es ist seit Alters her das Land eures Geschlechts! An euch ist es zu herrschen, euer Vater besitzt das vererbte Recht, dieses Land zu regieren und ihr werdet ihm einmal nachfolgen, wie auch er seinem Vater nachgefolgt war und dieser wiederum...«
Mit Blick zu Antarona und einer Handbewegung zu Acheron unterbrach Sebastian die seiner Meinung nach völlig überzogene Ehrerbietung des Jägers:
»Antarona, bitte übersetz das für alle!« Damit wandte er sich an die Versammelten und machte eine ausholende Geste, um sich die nötige Aufmerksamkeit zu verschaffen.
»Ich bin kein großer Krieger. Und den meisten von euch ist die Kunde, ein Schwert oder einen Bogen zu führen, so fremd, wie einer Elsire der Tanz in der Sonne. Dennoch...«, Sebastian machte eine kurze Pause, um seine Worte wirken zu lassen, »...Jeder Mann, jede Frau und jedes Kind der Ival besitzt eine Fähigkeit.., niemand ist hier nutzlos! Einer mag vielleicht gut mit dem Bogen umgehen, ein anderer ist ein guter Schwertkämpfer...« Sebastian deutete im Klang seiner Worte auf Acheron, Arrak und Antarona.
»...Ein anderer wiederum ist möglicherweise mit keiner Kampftechnik vertraut, züchtet aber gute Pferde, oder Tiere, welches gutes Fleisch geben und die Krieger des Volkes ernähren können, oder er stellt gute Waffen her. Der nächste mag kräftig sein und das Holz der Bäume beschaffen. Kinder und Frauen können Waffenröcke nähen, welche den Krieger beim Kampf nicht behindern.«
Wieder unterbrach Basti sein Ode an die Ival, die noch nicht recht begriffen, worauf er hinaus wollte. Doch alle starrten gebannt auf den Fremden Sebastian Lauknitz und er nahm es als Bestätigung, dass er sie beeindrucken und begeistern konnte. Würdevoll wanderte im inneren Kreis der Umstehenden herum und sah jedem direkt in die Augen, denn jeder von ihnen sollte sich persönlich angesprochen fühlen. Mit flammenden Worten führte er seinen Vortrag fort und Antarona hatte Mühe, mit der Übersetzung nachzukommen.
»...Aber jene unter euch, die meinen, im Kampf um Freiheit, Frieden und Gerechtigkeit nichts beitragen zu können, irren sich! Denn sie benötigen nur den Mut, zu lernen. Ganz gleich, wozu sie sich berufen fühlen, oder glauben, etwas nachahmen zu können, sie werden etwas zur Sache beitragen! Es gibt also niemanden im Volk der Ival, der nichts tun kann, wenn er nur den Willen dazu aufbringt!«
Sebastian sah sich gezielt nach Pantheoton, dem weißhaarigen Alten aus Zumweyer um, ging auf ihn zu und zog ihn am Arm in die Mitte des Kreises.
»Sagt mir, Pantheoton, wie gut vermögt ihr das Schwert zu führen?« Der Alte trat verlegen von einem Bein auf das andere. Ehe er etwas sagen konnte, antwortete Antarona für ihn:
»Pantheoton war in den Jahren seiner Jugend, und noch viele Jahre danach, ein großer Kämpfer mit dem Schwert und ein sicherer Schütze mit dem Bogen...! Er hat die Kämpfe seines Lebens gefochten und hat den Ival stets zur Ehre gereicht. Ba - shtie.., ihr könnt nicht fordern, dass er noch einmal die Waffen zur Hand nimmt und in eine Schlacht gegen Torbuks Soldaten zieht...«
»Eben das ist es, was ich meinte...«, unterbrach sie Sebastian, »...er kann auf diese Weise nicht mehr erfolgreich kämpfen. Dennoch steht er in diesen Zeiten für die Brüder und Schwestern von Zumweyer in diesem Raum... Und warum ist das so..?« Sebastian blickte auffordernd in die Runde, als erwartete er die Antwort vom Achterrat.
»Nun, ich will es euch sagen! Pantheoton steht hier, weil er weise ist, weil er vieles in seinem Leben gesehen und erfahren hat und daraus gelernt hat! Das Wissen seines Lebens ist seine Waffe im Kampf um die Freiheit! Die Ival in seinem Dorf achten ihn und vertrauen ihm. Warum..? Weil er vieles weiß, weil er mit seinem Wissen für sie sprechen kann!«
Einige Männer nickten zustimmend mit den Köpfen und tuschelten miteinander. Hier und dort vernahm Basti eine anerkennende Stimme, oder lobenden Zuruf. Einen Augenblick ließ Sebastian den Nachhall seiner Rede auf den Achterrat nieder rieseln, bevor er zum Finale anhob. Er wandte sich an Pantheoton, sprach aber alle Anwesenden gleichermaßen an. Ein aufforderndes Nicken war das Zeichen für Antarona, erneut zu dolmetschen.
»Es wird die Zeit des Kampfes kommen, Pantheoton.., da werdet ihr vielleicht nicht so mithalten können, wie euer Herz es sich wünscht, denn die Sommer eurer Jugend sind vergangen. Doch nach dem Kampf kommt die Zeit des Redens und der Gedanken. Wenn das Böse einmal besiegt ist, braucht es Männer wie euch, Pantheoton.., Männer, die mit der Erfahrung eines Lebens dafür einstehen, die Ival in ein friedliches Miteinander zu führen, sie zu leiten und zu beraten. Der König sitzt in seiner Burg.., weit weg. Er vermag nicht zu sehen, was das Volk begehrt, was es braucht und wie es fühlt. Ihr braucht keinen König, der euch Befehle erteilt, die ohne Sinn sind, weil er nicht sieht, was in euren Dörfern geschieht. Die Ival brauchen Männer wie Pantheoton, wie Antaronas Vater Hedaron und andere mit Erfahrung, die mit ihrer Weißheit beim Volk sind... Sie brauchen Männer wie Arrak und Acheron, die den Mut besitzen, die Ival mit Waffen zu schützen und Streitereien untereinander zu trennen. Und die Ival brauchen Männer, Frauen und Kinder, die etwas aufbauen können, wenn die Angst vor Torbuk und Karek einmal gebannt ist und die Herzen frei sind!«
Einen Augenblick lang übersetzte Antarona noch. Dann lag tiefes, betretenes Schweigen im Raum. Niemand wagte zunächst auch nur aufzublicken. Dann schob Hedaron, der Holzer seinen mächtigen Körper durch die Umstehenden. Er schob seine Tochter sanft beiseite und baute sich neben Sebastian auf, wie ein wütender Bär vor einem Wolf. Seine Stimme klang mächtig, doch seine Worte, die Antarona für Sebastian übersetzte, waren erfüllt von Zweifeln und Angst.
»Wie könnt ihr es wagen, euch gegen den König zu stellen, Herr..? Ihr seid sein Sohn, Areos, der Sohn des Bental, dessen Vorfahren die Herrschaft über dieses Land von den Göttern erhalten haben. Es ist euer Land.., oder wird es einmal sein..., es ist eure Bestimmung, eure Pflicht! Wie könnt ihr euch, oder euren König Vater mit dem Volk gleich messen? Ihr steht über dem Volk der Ival, das euch treu ergeben dient! Ohne euren Befehl wird kein Mann des Volkes die Waffe erheben.., weder gegen Torbuk, noch gegen sonst wen!«
»Hedaron spricht wahr!« Es war nur ein Ruf aus der Mitte der Versammelten, ein anonymer Ruf, doch ihm folgte eine Brandung empörter Stimmen gegen Sebastian. Es war die Stimme der Ival. Sebastian vernahm die Stimme eines Volkes, das stets nur Befehle und Anordnungen von einer fernen Macht befolgte und sich blind in sein Schicksal ergab. Ein Volk, das resignierte, wenn das Böse seine Schwingen über ihm ausbreitete. Denn der König war niemals wirklich da.
Sebastian stand vor Menschenwesen, die nie gelernt hatten, eigene Verantwortung für ihre Gemeinschaft zu übernehmen. Er sah sich plötzlich einem unselbstständigen und im Grunde verängstigten Haufen Menschen gegenüber, die es bequemer fanden, von einem König geführt zu werden, auch wenn dieser eigentlich unerreichbar war, sich eben wie ein Mythos, auf einer von Schutzmauern umgebenen Insel verschanzt hatte. Sie kannten es nicht anders!
Eine solche Passivität war Sebastian unbegreiflich und er ahnte allmählich, welcher Geduld es bedurfte, wenn er im Bewusstsein dieser Menschen eine Änderung oder Umkehr herbeiführen wollte. Sebastian breitete beide Arme über seinem Kopf aus, um sich wieder Gehör zu verschaffen. Nur zögernd kamen die Mitglieder des Achterrats zur Ruhe. Basti atmete tief durch, überlegte kurz und fuhr den Männern anschließend mit lauter und deutlicher Stimme ins Gewissen. Er gewährte Antarona ausreichend Zeit, seine Worte in die Sprache des Volkes umzuwandeln, um sicher zu sein, dass ihn auch jeder verstand.
»Niemand will hier den König seines Thrones berauben.., und ich schon gar nicht! Der König mag sein Volk weiterhin führen! Aber er sollte es nicht beherrschen!« Wieder erntete Lauknitz vorwurfsvolle Äußerungen und hatte Mühe, die nötige Ruhe für die Übersetzungen des Krähenmädchens wieder her zu stellen.
»Wo ist denn euer König..? Er ist da und doch nicht da!« Basti wartete die Wirkung seiner Worte ab. Alle sahen sich fragend an, niemand mehr erhob die Stimme. Sebastian knüpfte voller Hoffnung daran an:
»Der König sitzt machtlos auf der Insel Falméra. Er sieht tatenlos zu, wie die Ival von Torbuks Männern versklavt werden. Mag sein, dass er nichts tun kann und dass er, genau wie die Ival, auf einen Boten der Götter wartet, der ihn und sein Volk aus der ausweglosen Lage führt. Nun.., ihr glaubt, der Bote ist da! Was denkt ihr euch? Dass ich Blitze auf Quaronas und Torbuk schießen lasse und augenblicklich ist das Böse fort?«
Sebastian wanderte im Kreis herum und sah jedem herausfordernd in die Augen. Dann klatschte er so überraschend und laut in die Hände, dass die Anwesenden erschrocken zusammenfuhren.
»Nein.., so einfach geht das nicht! Ich will euch etwas verraten! Talris und seine Götter sind sehr erzürnt. Sie sind jedoch nicht erzürnt über Torbuk und Karek.., auch nicht über König Bental, dem es nicht gelungen ist, Gerechtigkeit, Ordnung und Frieden wiederherzustellen. Die Götter sind über euch erzürnt.., über die Ival, die es an Mut haben fehlen lassen, ihrem König zu helfen, gegen Torbuk vorzugehen! Ihr habt eurem König nicht treu gedient, denn ihr habt zugelassen, dass er in Falméra, auf seiner Insel gefangen ist. Ihr selbst habt euren König die treue versagt!«
Augenblicklich wurden empörte Stimmen laut. »Was sollen wir denn tun, wir sind nur arme Bauern?«, und »Torbuk hat erfahrene Krieger, wie sollen wir gegen die ankommen?« Sebastian erstickte die Klagen aber sofort mit einer energischen Geste im Keim. Er setzte seine Ansprache fort und legte seine ganzen Emotionen und eine gut gespielte Missachtung gegen den Achterrat in seine Stimme.
»Kämpft, verdammt noch mal.., ihr müsst kämpfen! Ich kann euch helfen, kann euch beraten.., aber kämpfen müsst ihr schon selber! Jeder einzelne von euch und euren Familien muss bereit sein, für Freiheit und Frieden notfalls sein Leben zu geben. Ich kann euch zeigen, wie ihr es machen müsst, aber tun müsst ihr es selbst!«
»Aber wie und womit?«, ertönte eine ängstliche Stimme aus der Mitte, »...wir haben nur Messer, Knüppel und Äxte.., Torbuks Armee hat Schwerter, Bögen und Lanzen im Überfluss!«
»Und wenn sie noch so viele Schwerter mit sich herumtragen«, entgegnete Sebastian.
»Ihr habt etwas, das Torbuks Männer nicht haben! Ihr besitzt einen wachen Verstand und kennt jeden Stein und jeden Baum in den Tälern. Ihr habt eure Familien, ihr habt Phantasie und nicht zuletzt den Mut der Verzweifelten. Und ihr wisst, wofür ihr kämpft! Es ist euer Land und es sind eure Frauen und Kinder, die ihr verteidigt! Was haben Torbuks Soldaten? Einen fragwürdigen Sold.., allenthalben. Ihr seid klar im Vorteil, ihr müsst nur lernen das zu erkennen!« Sebastian wartete, bis wieder jedes Ohr gespannt seinen Worten lauschte.
»Und ihr habt noch etwas. Ihr habt zunächst mal die Überraschung auf eurer Seite! Das haben wir mit dem Reitertrupp bewiesen, der Zumweyer überfallen hat. Die rechnen nicht damit, dass ihr euch plötzlich wehrt und werden erst mal ganz schön damit zu tun haben, das zu begreifen. Was glaubt ihr, was geschieht, wenn ihr ihnen ein paar Mal eine Niederlage beibringt? Torbuk wird alle Hände voll zu tun haben, seinen aufgescheuchten Haufen wieder zu formieren. Ihr könnt diese Schwäche ausnutzen und ihnen ganz schön Dampf unter den Füßen machen!«
»Das klingt ja alles ganz gut und schön...«, drängte sich nun Falméras Medicus in den Vordergrund. »Aber diese Männer hier.., und da beziehe ich die Windreiter, Arrak, Acheron und Sonnenherz mit ein, haben keinerlei Erfahrungen auf dem Schlachtfeld. Die letzte große Schlacht liegt einige Sommer zurück und die meisten von uns haben das Gemetzel noch als fürchterliches Grauen in Erinnerung. Zwischen Mut und Wahnsinn gibt es noch einen Unterschied, Herr von Sebastian! Niemand hier und niemand in den Dörfern stellt sich noch einmal in einer Schlacht den schwarzen Reitern, da dürft ihr versichert sein!«
»Es wird auch keine Schlacht geben, Herr von Medicus«, widersprach Sebastian bissig. Das letzte, was er in diesem Stadium gebrauchen konnte, war jemand, der die gerade keimenden Hoffnungen der Ival mit düsteren Prophezeiungen bremste.
»Keine Schlacht.., soso... Und wie gedenkt ihr Torbuks Armee aufzuhalten, wenn die erst einmal anrückt.., na, wie? Wollt ihr euch ihnen als Mann der Götter entgegenstellen und sie mit den bunten, lächerlichen Bildchen auf eurem Gewand in die Flucht schlagen?« Andreas wurde plötzlich bewusst, zu welchen Worten er sich hatte hinreißen lassen, denn unvermittelt trafen ihn ganz offen Antaronas vernichtende Blicke wie Feuerpfeile. Sie sah ihn mit dem Sturm ihres ganzen Zorns an und hätte sie ihr Schwert zur Hand gehabt, so würde dessen Klinge wohl schon vor Andreas Nasenspitze bedrohlich auf und ab tanzen.
Sebastian nutzte die Situation unverzüglich für sich aus. Er warf nur ein müdes Lächeln zum Doktor hinüber und zeigte ihm damit unverhohlen, wer augenblicklich die Sympathien auf seiner Seite hatte.
»Solche kindischen Argumente sind doch wohl eines Medicus nicht würdig, oder?« An die übrigen Männer des Achterrats gewandt sprach er:
»Wenn ich sage, es wird keine Schlacht geben, so meinte ich damit nicht, dass ihr nicht kämpfen müsst! Euer Medicus hat allerdings in einem Punkt recht. Einer Armee Torbuks können die Ival in einer offenen Schlacht nicht begegnen. Die Krieger des Volkes würden in kürzester Zeit aufgerieben und die Familien wären der zügellosen Rache Torbuks schutzlos ausgeliefert. Aber mit verdeckten Angriffen aus dem Hinterhalt, oder mit schnell geführten Attacken auf ihre Flanken lassen sich die Reihen der schwarzen Soldaten schon ganz gehörig lichten und die eigenen Verluste in Grenzen halten! Angreifen, wo sie es nicht erwarten.., Zuschlagen und wie Geister wieder verschwinden.., das ist die Taktik! Torbuks Männer müssen sich schon beim bloßen Gedanken an das Eindringen in die Täler des Val Mentiér zu Tode fürchten.«
»Sollen wir etwa aus dem Hinterhalt, ehrlos wie Eishunde kämpfen?« Sebastian hörte den Zuruf und suchte nach der Stimme im Hintergrund.
»Wer hat das gesagt.., zeigt euch und ich will es erklären«, warf Sebastian in die Menge. Zwei Männer traten vor. Ein älterer, mittelgroßer Mann mit eng sitzenden, wieselhaften Augen. Er besaß offenbar einen leichten Hang zur Feistheit, denn weder sein Bauch, noch sein Gesicht konnten verbergen, dass er gerne, viel und gut aß. Der andere war das Gegenteil, zumindest, was den Umfang betraf. Er war schlank und trotz seiner mittelmäßigen Größe eine stattliche Erscheinung, was möglicherweise daran lag, dass er den Waffenrock der Windreiter trug.
Sebastian musterte die beiden und kam auf Anhieb zu der Erkenntnis, dass er Vater und Sohn vor sich hatte. Die kleinen Wieselaugen des Sohnes konnte der Vater nicht leugnen. Auch die kleine, gebogene Nase und der schmale, beinahe lippenlose Mund des Jüngeren fand sich im Antlitz des Vaters wieder.
Das ist Raminor, Ba - shtie, Clanführer von Mittelau und sein Sohn Ofrin«, erklärte Antarona. Sebastian stemmte seine Arme in die Hüfte und sein Blick wanderte an beiden herunter und wieder hinauf. Er wusste, welchen Menschenschlag er da vor sich hatte. Stets gelang es ihm mit auffallender Sicherheit, einen Charakter aus Augen und Gesicht herauszulesen. Diese Gabe war nicht erklärbar und auch keiner Regel unterworfen. Analytische Beobachtung und Bauchgefühl waren das erfolgsträchtige Rezept.
»Lasst mich raten...«, begann Sebastian mit ein wenig Verachtung in der Stimme, »...ihr, Ofrin, wolltet immer ein Windreiter sein, doch Charakter und Fähigkeiten reichten hinten und vorne nicht, um bei den Windreitern aufgenommen zu werden.., habe ich recht?« Aus den Augenwinkeln warf Sebastian einen Blick zu den anderen Reitern der Elitetruppe, die im hinteren Teil des Raumes zusammen standen. Das versteckte Grinsen, das die Gesichter der Krieger und selbst das Arraks überflog, entging Sebastian nicht.
»Und ihr, Raminor.., euch war es als Vater natürlich Verpflichtung, eurem Sohn mit Einfluss und Reichtum die Tür zu dieser ehrwürdigen Reitertruppe zu öffnen, nicht wahr? Verratet ihr mir, wie viele Quarts nötig sind, den Sohn in die Gemeinschaft der Windreiter einzukaufen? Oder habt ihr statt des Geldes mit Waffen bezahlt?«
Im Raum wurde es so still, dass man eine Feder hätte zu Boden sinken hören. Die Luft selbst schien sich anzuspannen, um jeden Augenblick zu explodieren. Die Blicke der meisten Anwesenden richteten sich peinlich berührt zu Boden.
Raminor ballte seine fleischigen Hände zu klopsartigen Fäusten und zitterte vor Anspannung, während sein Sohn nur ziemlich dumm drein schaute. Dann stieg dem einflussreichen Clanchef das Blut in den Kopf, dass man ihn leicht hätte mit der Aufgabe eines Leuchtturmes betrauen können. Sein rot angelaufenes Gesicht quoll etwas auf und drohte zu platzen. Sein hasserfüllter Blick traf Sebastian, dann grabschte er nach dem Arm seines Sohnes und zog ihn hinter sich her durch die Menge. Wutschnaubend verschwanden sie nach draußen.
»Das war nicht unbedingt nötig«, unterbrach Andreas die Stille im Raum. Er ging zwei Schritte auf Sebastian zu, stoppte jedoch gleich wieder, angesichts Antaronas gefährlichen Blickes. Sie hatte ihm die Bemerkung über ihre Stickerei inzwischen keineswegs verziehen.
»Es ist nicht klug, dass ihr euch schon jetzt offene Feinde unter den Mitgliedern des Achterrats verschafft, Sebastian«, tadelte er. Insgeheim hoffte er wohl, dass Antarona seine in der Sprache des Totenreichs gesprochenen Worte übersetzte und wartete einen Moment. Doch dem Krähenmädchen fiel es nicht ein, auch noch für jenen die Übersetzerin zu spielen, der ihre mühevolle Stickarbeit als lächerliche, bunte Bildchen bezeichnet hatte. Mit einem Achselzucken stellte er beinahe gleichgültig fest:
»Auf diese Weise werdet ihr wohl nicht sehr viele Freunde bei den Ival finden...« Doch damit sollte er sich irren.
»Wieso.., habe ich etwa nicht recht..?« Sebastian sah offen in die Runde. Er wusste, dass seine Bloßstellung eines Mitglieds des Achterrats ein unkalkulierbares Risiko war. Doch die Reaktionen der Windreiter sagten ihm, dass er lediglich eine allgemein totgeschwiegene Wahrheit offen ausgesprochen hatte, gegen die sich niemand sonst aufzulehnen wagte.
Da in dieser Sache niemand mehr das Wort ergriff, ging Basti davon aus, dass Raminor bei seinen Ratsmitgliedern nicht sehr beliebt war, jedoch wegen seiner begüterten Stellung akzeptiert wurde. Augenfällig war zudem, dass sich keiner seiner Kameraden für Ofrin eingesetzt hatte. Auch der Sohn war also nur geduldet. Sebastian wollte das leidige Thema beenden, allerdings nicht ohne seinen grundlegenden Standpunkt klar zu machen.
»Das allerletzte, das wir hier gebrauchen können, wenn wir versuchen wollen, Torbuks Einfluss aus dem Val Mentiér zu vertreiben, ist Unaufrichtigkeit und Bestechlichkeit untereinander. Das schafft Neid und Unzufriedenheit. Wenn ich euch bei einer so großen Sache, wie der Befreiung der Ival helfen soll, dann muss eines zwischen uns klar sein: Jeder muss jedem vertrauen können! Vertrauen jedoch erwirbt man sich nicht mit Quarts, oder den Tränen der Götter, oder anderem Wohlhaben. Das Vertrauen, das für den Kampf gegen das Böse und gegen die Unterdrückung nötig ist, wird aus Liebe, Ehrlichkeit und Opferbereitschaft geboren! In einem solchen Kampf zählt auch der Ärmste unter euch, wenn er nur Mut und Ehrlichkeit im Herzen trägt!«
Antarona übersetzte und Sebastian wartete die Wirkung seiner Worte ab. Leises, zustimmendes Gemurmel verriet ihm, dass er nicht ganz den falschen Ton getroffen hatte. Dennoch wuchsen die Zweifel an dem, was er hier tat. Maßte er sich nicht zuviel an? Durfte er ein ganzes Volk dazu animieren, in einen Krieg gegen einen Gegner zu ziehen, dessen Stärke er nicht einmal genau kannte? Er beruhigte sein Gewissen damit, dass er eigentlich gar keinen Krieg unterstützen wollte. Statt dessen versuchte er die Verteidigung dieser Menschen gegen eine übermächtige Terrorarmee zu verbessern. Aber hatten sie ihn nicht schon längst.., den Krieg?
»Gut.., lassen wir das...«, begann Sebastian von neuem und versuchte das Thema der Kriegstaktik neu aufzugreifen. Er wartete, bis ihm alle Anwesenden wieder ihre Aufmerksamkeit widmeten.
»Raminor hat mich gefragt, ob ihr ehrlos, wie Hunde aus dem Hinterhalt angreifen sollt...« Er ließ Antarona Zeit zu übersetzen.
»Ich will euch etwas fragen.., danach könnt ihr Raminors Frage wahrscheinlich selbst beantworten«, begann er. »Wie ehrenvoll ist es denn von Torbuks Soldaten, sich an unbewaffneten Frauen und Kindern zu vergreifen? Wie ehrenvoll ist es von den schwarzen Reitern eure Töchter zu verschleppen, zu schänden und zu töten?«
Sebastian wartete. Jeder Kopf und jedes Herz in diesem Rat sollte sich den Sinn seiner Worte genau verinnerlichen. Sebastian sprach nun mit dem Enthusiasmus eines Mannes, der fest entschlossen war, das Herz eines ganzen Volkes zu erobern:
»Oh nein.., ich sage euch etwas! Das Ehrenvolle an diesem Kampf ist längst untergegangen! Torbuk und sein missratener Sohn haben die Ehre und Tapferkeit, welche die Eigenschaft von stolzen Kriegern ist, in den Dreck getreten! Es gibt sie nicht mehr. Und es wird sie so lange nicht mehr geben, bis Torbuks Macht gebrochen ist!«
Sebastian blickte seinen Zuhörern in die Augen und sah etwas, das ihm Hoffnung gab. Ein Funke, ein winziges Feuer lohte in den Augen derer auf, die eben noch niedergeschlagen auf den Boden blickten. Sebastian wusste, dass es das Feuer war, welches er zu einem Flächenbrand schüren konnte, wenn er seine Worte richtig wählte.
»Wollt ihr die Söhne der Ival in den sicheren Tod schicken, für eine Ehre, die es nicht mehr gibt? Wollt ihr denen Ehre bezeugen, die eure Familien dahinmetzeln, als seien sie Vieh? Wollt ihr das wirklich?«
Er gab ihnen keine Chance mehr für Einwände, sondern setzte seinen Siegeszug in die Herzen der Anwesenden fort:
»Hiermit versichere ich euch feierlich: Ihr verlasst den Boden der Ehre nicht, wenn ihr Angriffe aus dem Hinterhalt führt, um eure Familien und euer Land zu schützen! Im Gegenteil. Es ehrt euch, wenn ihr für die Herzen eurer Frauen, Söhne und Töchter eure Kampfesweise ändert, die euch nicht sinnlos in den Tod führt! Ich sage euch: Schlagt nicht eine große Schlacht, die ihr verlieren werdet.., sondern führt viele kleine Angriffe, aus denen ihr siegreich hervor geht! Es liegt bei euch, was ihr wollt.., eine große Schlacht, nach der sich eure Frauen die Augen ausweinen, weil ihr in das Reich der Toten gegangen seid, oder wollt ihr Kämpfe, nach denen ihr jedes Mal voller Stolz zu euren Familien zurückkehren könnt?« Sebastian schaute in die Runde und wartete auf eine Antwort.
»Wir wollen kämpfen und leben!« Es war die Stimme Arraks, die sich erhob und die verkrampfte Zurückhaltung des Achterrats durchbrach. »Und unser Kampf wird ehrenvoll sein, denn dieser Kampf wird uns von denen aufgezwungen, die keine Ehre besitzen! Wir haben ihn nicht gesucht, diesen Kampf, aber wir werden auch nicht vor ihm davonlaufen, wir werden nicht weichen!«
Zustimmendes Gejohle der zumeist jungen Windreiter-Krieger brandete auf und riss die Honoratioren des Achterrats mit. Nach und nach fiel jeder in die Euphorie mit ein, bis Sebastian eine geschlossene Begeisterung entgegen schlug. Diese Einigkeit durfte er unter keinen Umständen wieder sterben lassen!
»Genau das ist der Weg, der die Ival in die Freiheit führen wird!«, heizte Sebastian die Stimmung weiter an. »Antarona hat euch seit langem gezeigt, wie es geht...«, dabei schob Sebastian seine Geliebte in den Vordergrund, denn er kannte die Sympathie, die ihr jeder im Val Mentiér entgegen brachte.
»So könnt ihr Torbuks Truppen gezielt treffen, ohne selbst große Opfer beklagen zu müssen: Mit leichten Waffen aus schützender Deckung heraus angreifen.., blitzschnell zuschlagen, Verwirrung stiften und ebenso schnell wieder in der Deckung des Waldes, oder der Felsen verschwinden! Die Pferdesoldaten in ihren schweren Rüstungen werden kaum zur Gegenwehr fähig sein! Angreifen.., Verschwinden.., Angreifen.., Verschwinden.., immer und immer wieder, bis sich Torbuks Soldaten vor Angst die Hälse verrenken, weil sie hinter jedem Baum, hinter jedem Felsen einen Krieger der Ival fürchten!«
Begeisterte Zurufe hallten Lauknitz entgegen. Er aber ahnte, dass die Rufenden noch gar nicht begriffen haben konnten, wie diese Taktik in der Realität wirken konnte. Sebastian setzte nach, solange das Feuer der eben geborenen patriotischen Leidenschaft hoch flammte.
»Was glaubt ihr, wird geschehen, wenn ihr auf diese Weise kämpft? Ich werde es euch sagen! Es wird die Siegessicherheit Torbuks Truppe zerstören! Seine Soldaten werden die Angst kennen lernen! Denn sie kämpfen nicht für ihre Familien, oder ihr Land, sondern für ein paar Quarts, oder für die Tränen der Götter. Was nützt ihnen dieser Lohn, wenn sie ihn nicht mehr eintauschen können, weil sie tot sind?
Ihr aber, ihr kämpft für etwas, das bleibt! Ihr kämpft für eure Söhne und Töchter, die weiterleben und die Werte eurer Herzen weiter tragen, in den Herzen ihrer Kinder und deren Kinder. Das, wofür ihr kämpft, wird niemals sterben.., das Volk der Ival!« Sebastian musste nun abwarten bis sich der lautstarke Beifall gelegt hatte.
»Es wir keinen König geben, der euch in diesen Kampf führt, denn ihr müsst euren König erst wieder befreien! Ihr werdet euch selbst in den Kampf führen und ich werde euch beibringen, wie ihr eure Stärken am besten gegen die Pferdesoldaten einsetzen könnt! Und jeder einzelne von Euch, ob er nun ein Schwert führen kann oder nicht, wird kämpfen und wenn er nur Pfeile und Schwerter herstellt! Gemeinsam und miteinander könnt ihr Torbuk besiegen, auch wenn ihr gemessen an seinen Truppen nur Wenige seid!
Und vergesst nicht: Die schwarzen Reiter kämpfen nur für die Quarts des Torbuk.., ihr aber kämpft für euer aller Herzen, die in der Brust eurer Familien schlagen!«
»Ja.., wir wollen kämpfen.., doch womit sollen wir kämpfen? Wir besitzen nur sehr wenige Waffen!« Mit diesem Ruf trat eine junge Frau aus dem Kreis. Allmählich verebbten überschwänglicher Beifall und Jubel.
»Sollen wir mit bloßen Händen gegen Schwerter, Pfeile und Lanzen kämpfen?«, fragte die Frau einen erstaunten Sebastian. Er blickte ihr offen entgegen und stellte fest, dass sie in Schönheit und Anmut seiner Antarona in nichts nachstand. Sebastian kam der Gedanke, das sie durchaus Antaronas Schwester sein könnte.
»Wie ist euer Name, wenn die Frage erlaubt ist?«, erkundigte er sich. Die Unbekannte trat einen Schritt vor und sprach deutlich in der Sprache des Totenreichs:
»Man nennt mich Veniaphalis.., ich bin hier an Stelle der Waldlerin. Ihre Gedanken sind beim Rat der Acht sehr geschätzt. Sie ist nicht mehr gut zu Füßen, darum trage ich ihre Stimme in meinem Herzen in die Mitte des Achterrats!«
»Nun, Veniaphalis...«, sagte Sebastian selbstsicher, »...ich werde dir und allen anderen deine Frage beantworten. Wir werden uns Waffen bauen.., und die wir nicht sofort bauen können, nehmen wir von den gefallenen Soldaten Torbuks. Und kommt mir jetzt ja nicht wieder mit Ehre...«, mahnte er gleich im Voraus.
»Es ist sehr wohl ehrenvoll, wenn ihr denen die Verbrechen an euren Familien mit ihren eigenen Waffen heimzahlt. Sie sollen deutlich spüren, wie viel Schmerz ihre Waffen in die Dörfer der Ival getragen haben! Sie sollen ihre eigenen Waffen fürchten lernen! Und ihr selbst werdet es sie lehren!«
Wieder brandete nicht enden wollender Beifall an Sebastians Ohr. Veniaphalis nickte ihm ehrerbietig und bescheiden zu und trat zurück in den Kreis des Rates. Sebastian hob beide Hände, um sich noch einmal Gehör zu verschaffen.
»Irgendwann.., und manch einer von uns wird es vielleicht nicht mehr erleben.., wird die Zeit der Kämpfe vorüber und Torbuk und Karek besiegt sein.« Zuversichtlich Stimmen unterstrichen Sebastians Gedanken.
»Dann wird es Zeit sein, darüber nachzudenken, wer zukünftig das Volk der Ival regieren wird...«
»König Bental wird wieder herrschen, oder ihr, sein Sohn, so wie es in alter Zeit vorbestimmt und gewesen ist!« So oder ähnlich klangen die Zurufe aus der Mitte des Achterrats und Sebastian hatte nichts anderes erwartet. Aber so einfach sollten sie ihm nicht davonkommen, die Männer, die für sich beanspruchten, das Schicksal eines Volkes zu entscheiden!
»Nein.., weder König Bental, noch sein Sohn Areos wird das Volk der Ival beherrschen! Niemand wird jemals wieder über die Ival herrschen!« Mit großen Gesten musste Sebastian immer lauter werdenden Protest unterdrücken.
»Ihr selbst kämpft für euch, für eure Familien, für euer Land und nicht zuletzt für euren König, der in diesem Kampf machtlos ist. Mag euch in Zukunft, in hoffentlich friedlichen Zeiten auch euer König wieder führen, so sollte er euch jedoch nicht beherrschen! Er sollte euch führen nach den Wünschen und Begehren des Volkes. Er sollte Augen und Ohren haben für das, was das Volk will. Ihr werdet euer Leben geben, damit euer König wieder regieren kann, also habt ihr auch das Recht, selbst zu bestimmen, wie er regieren soll! Jedes Dorf und jede Gemeinschaft im Volossoda sollte einen Vertreter ihres Clans an den Hof des Königs senden, und jeder sollte im Willen seines Clans die Entscheidungen des Königs mitbestimmen! Für dieses Recht werdet ihr kämpfen und sterben!«
Beflügelt vom Erfolg seiner Rede ging Sebastian nun aufs Ganze, wohl wissend der Zweifel, die sich in seinem Kopf eingruben und unbequeme Fragen an sein Gewissen stellten. Wieder musste er mit Geduld um Ruhe bitten. Dann sagte er etwas, das eine einschlagende Wirkung im Rat erzielte, obwohl er nicht hundertprozentig mit dem Herzen an den Erfolg glaubte.
»Es ist der Wunsch der Götter, dass ihr, das Volk der Ival, euch selbst regiert, durch einen König, der euch als Volk mit allen Wünschen und Forderungen verpflichtet ist! Talris selbst hat mir aufgetragen, dafür zu sorgen, dass es so geschieht! Euer König, wer immer es auch in der Zukunft sein mag, wird euch regieren, doch die Götter werden ihren Zorn spüren lassen, wenn er nicht im Einklang mit dem Volk handelt! Ihr selbst bestimmt die Gesetze, nach denen ihr von eurem König regiert werdet.. Das ist der Wille der Götter! Sie nennen das Demokratie und ihr werdet bereits im Kampf um die Freiheit eurer Familien danach handeln! Tut ihr es nicht, so wendet ihr euch gegen die Götter und ich werde euch nicht helfen und wieder in das Reich der Toten zurück gehen!«
Eine betretene Ruhe lastete im Raum und legte sich auf die Gesichter, die fragend und unsicher auf Sebastian blickten. Pantheoton fand als erster seine Worte wieder.
»Herr, wie machen wir das De - mo - chra -zie? Wie sollen wir jedes einzelne Begehren unserem König vortragen und es so tun, dass er danach handelt?« Gespannt sahen die Mitglieder ihren vermeintlichen neuen Führer an.
»Nun, wir müssen König Bental natürlich unsere Absicht vortragen, dass wir Torbuk Einhalt gebieten wollen. Wir versichern ihm, treu für das Land zu kämpfen und fordern gleichzeitig sein Versprechen, nach dem Kampf das Land und das Volk mit ihm gemeinsam verwalten zu können.«
»Aber wer wird den gefährlichen Weg auf sich nehmen und zu ihm gehen?«, fragte Pantheoton, »...kein Menschenwesen kommt nach Falméra, ohne von Torbuks Männern entdeckt zu werden. Sie haben alle Strände und Klippen unter ihren Waffen. Der Weg über die Berge und durch die Sümpfe zu den Unbekleideten würde bis in die Monde des Schnees dauern und nur die besten Krieger wären kräftig genug, es zu wagen!« Noch bevor Sebastian antworten konnte, trat Antarona einen Schritt vor und verkündete mit einer Sicherheit, die ihm Angst machte:
»Wir werden gehen.., Sonnenherz und Glanzauge...« Augenblicklich mischte sich ihr Vater ein. Hedaron trat hinter seine Tochter, packte sie am fest am Arm und zog sie zur Seite. Mit harter Stimme sprach er zu ihr und wenn Sebastian auch die Sprache des Volkes nicht verstand, so ahnte er doch, worum es ging. Offenbar hatte es der Holzer ein für allemal satt, sich um seine Tochter zu ängstigen, die sich immer wieder in Gefahr brachte und wie eine streunende Kriegerin in der Gegend herum zog.
Doch der arme Hedaron besaß wenig Autorität. Antarona giftete ihren Vater an, strampelte, versuchte sich aus seinem Griff zu befreien und gebärdete sich wie eine Verrückte. Sebastian befürchtete, dass sie ihrem Vater im nächsten Moment die Augen auskratzen würde. Der Achterrat hingegen blickte wieder einmal betreten auf die Dielen.
Unvermittelt stand Andreas neben Sebastian. Er musste sich in der Aufregung unauffällig angeschlichen haben. Sebastian hörte seine Stimme dicht an seinem Ohr, gerade noch so laut, dass sie das peinliche Gezänk zwischen Vater und Tochter durchdrang.
»Na.., Mann von den Göttern.., seht euch das ganz genau an... Wollt ihr diese Kratzbürste immer noch an eurer Seite wissen?« Er machte eine kleine Pause und bevor Sebastian reagieren konnte, setzte er nach:
»Dieses verzogene Weibsstück ist eine gefährliche Waffe.., meint ihr, dass ihr damit umgehen könnt, ohne euch zu schneiden?« Sebastian drehte sich zu ihm um und versetzte ihm einen leichten Stoß.
»Redet nicht so ein dummes Zeug, Doktor.., sie ist schließlich die einzige, die bisher genug Mut hatte, den brutalen Soldaten Torbuks entgegen zu treten.« Mit seinen eigenen Worten kam ihm spontan eine Idee. So laut, dass er vom Familienzwist seiner Geliebten ablenkte, sagte er zum Medicus:
»So, Herr Medicus.., und was habt ihr für einen Vorschlag?« Alle Augen richteten sich plötzlich auf die neue Quelle lauter Auseinandersetzung. Der Holzer ließ sich ablenken, sein tobendes Töchterchen entwand sich seinem Griff und der Doktor sah Sebastian an, als hätte er einen Geist gesehen.
»Ach, ihr seid ja alle beide verrückt...«, brach es plötzlich aus ihm hervor, »...ihr und diese übergeschnappte Furie dort drüben.., ihr wollt die Welt verändern, ja? Dann will ich euch mal etwas sagen«, dabei machte er eine ausholende Geste in Richtung der Mitglieder des Achterrats, »...seht sie euch an.., seht ihnen in die Augen.., ein verängstigter Haufen Bauern! Die werden niemals für eine unsichere Sache kämpfen, wie ihr es euch vorstellt.., denn dann würde ja ihre Ernte auf den Feldern bleiben, ihr Vieh müsste verhungern und ihre geliebten, armseligen Häuser würden in Flammen aufgehen... Sie würden umkippen.., einer nach dem anderen.., und zum Schluss steht ihr mit dieser halbnackten, zügellosen Wilden allein auf dem Schlachtfeld...«
Das Interesse an Antaronas Enthusiasmus, zum König nach Falméra zu reisen, war verflogen. Alle Aufmerksamkeit richtete sich nun auf Andreas und Sebastian. Antarona huschte zu ihrem Göttermann hinüber und lehnte sich demonstrativ an seine Schulter. Doch Sebastian schien es nicht einmal zu bemerken, denn er holte zum nächsten verbalen Schlag aus.
»Na, das ist ja ganz toll, lieber Herr Doktor! Dann erzählt mir mal, was ihr all die ganze Zeit getan habt, als die zügellose Halbwilde ihr Leben riskiert hat, um die Töchter der Ival aus den Lagern der schwarzen Reiter zu befreien! Na.., fällt es euch ein?« Sebastian sah sich kurz um und stellte zufrieden fest, dass jeder im Raum aufmerksam zuhörte. Andreas wollte etwas erwidern, doch Sebastian ließ ihm keine Chance für Gegenargumente.
»Habt ihr je versucht, was Sonneherz versucht hat? Habt ihr je den Mut aufgebracht, mutterseelenallein, in sengender Sonne und unter kaltem Mond hinter den brutalen Schlächtern her zu hetzen.., habt ihr jemals auch nur an Widerstand gedacht, während Hedarons Tochter für ihr Volk, für die Ival, mit Leib und Leben eingetreten ist? Nein.., ihr habt euch damit begnügt, die Wunden des Volkes zu lecken, nachdem Torbuks Truppen wieder einmal durch die Dörfer gezogen waren! Ihr habt zwischen aufgegebener Hoffnung und Mestas gelebt, so steht die Sache!« Sebastian musste nach Luft schnappen, ließ sich aber nicht von dem Versuch des Medicus beirren, gegenzuhalten.
»Und nun zieht ihr die Frau ins Lächerliche, die erst gar nicht mehr beweisen muss, dass sie nahezu als einzige in der Lage ist, sich zu König Bental durchzuschlagen..!«
»Was wisst ihr denn überhaupt schon von diesem Land, was?«, konterte Andreas, der drauf und dran war, sein Gesicht im Achterrat zu verlieren. »Ihr seid gerade erst aus dem Reich der Toten zurückgekehrt und jeder hier weiß, dass die Zurückgekehrten wirres Zeug reden... Was wisst ihr denn noch von unseren Tälern, he? Was wisst ihr von eurem Vater.., na?« Er winkte abwertend mit der Hand in Sebastians Richtung.
»Ihr wisst ja nicht einmal mehr, wer ihr selbst seid! Oder stimmt’s etwa nicht? Erzählt doch mal, wie es in der Burg eures Vaters aussieht? Beschreibt doch mal das Antlitz des Königs, dessen Sohn ihr zu sein vorgebt, oder erzählt uns mal etwas von den Göttern, die euch angeblich aus dem Reich der Toten zum Volk der Ival geschickt haben, um einen Krieg wieder aufleben zu lassen, von dem ihr rein gar nichts wisst, der seit langer Zeit verloren ist!«
Falméras Medicus stand selbstsicher und von sich überzeugt zwischen dem Achterrat und Antarona, die sich weiterhin an Sebastians Arm festhielt, als wollte sie sich dahinter verstecken. Lauknitz allein wusste, dass es nur eine Geste war, um jedem im Raum deutlich zu zeigen, welcher Meinung sie sich zugehörig fühlte. Sebastian ließ sich aber keineswegs von des Doktors Worten aus der Bahn werfen.
»Oh nein.., ich will euch etwas sagen, lieber Medicus.., ich will euch allen hier etwas sagen! Dieses Krähenmädchen hier hat mehr Schneid, als alle zusammen hier.., sie trägt mehr Mut und Liebe zu ihrem Volk im Herzen, als ihr alle zusammengenommen! Sie hat euch allen immer wieder bewiesen, das der Krieg keineswegs verloren ist! Sie hat den Kampf gegen die Ungerechtigkeit und gegen das Böse aufgenommen und niemals aufgegeben!«
Der Doktor holte tief Luft und wollte antworten, doch Sebastian wollte ihm nicht noch einmal Gelegenheit geben, die Meinung des immer noch verunsicherten Rates für seine Ansicht zu gewinnen.
»Wenn Sonnenherz zu König Bental geht, so werde ich sie begleiten, egal, wie beschwerlich der Weg ist. Und wer sich uns anschließen will, mag mit uns gehen..!«
»Es sollten nicht zu viele gehen...«, übersetzte Antarona die Worte Pantheotons, der sich wieder einmischte, »...wenn mehrere gehen und viele davon wissen, wird auch bald Torbuk wissen, dass ein Bote mit einer wichtigen Nachricht zum König unterwegs ist. Je mehr gehen, desto schwieriger wird es, nach Falméra durchzukommen.«
Sebastian nickte bedächtig. Pantheoton hatte recht. Im Grunde wussten bereits viel zu viele von der Absicht, den König zu unterrichten. Einen Spitzel konnte es selbst im Achterrat geben. Dennoch wandte er sich offen an Antarona, dass es jeder hören konnte.
»Wird Sonnenherz bereit sein, mit mir den Weg zum König nach Falméra zu gehen?« Antarona drehte sich zu ihm um, legte ihm für alle sichtbar ihre Hände auf den Arm und bestätigte:
»Was immer für das Volk getan werden muss, Sonnenherz wird es mit Stolz und Freude tun. Sonnenherz wird Areos begleiten, wenn er aufbricht, seinem König Vater die Botschaft der Ival zu überbringen!«
Augenblicklich trat der Holzer mit entschlossenem Blick an ihre Seite und Sebastian war klar, mit welcher Absicht. Hedaron hatte nicht vor, seine einzige Tochter noch einmal ziehen zu lassen, noch dazu in einer so gefährlichen und unsicheren Mission. Bevor Antaronas Vater dazu kam, seiner Tochter diesen waghalsigen Auftrag zu verbieten, ergriff Andreas das Wort.
»Denkt ihr etwa, dass ihr einfach so an Torbuks Wachen vorüber kommt, wo es bereits mir schwer fällt, nach Falméra zu gelangen? Ihr müsst zumindest nahe an Quaronas vorbei und je näher ihr der Stadt Torbuks kommt, so wahrscheinlicher ist, dass ihr entdeckt werdet. Nach eurem Handstreich gegen den Reitertrupp wird Torbuk alle Wege doppelt gut bewachen lassen.., und glaubt mir.., der brennt jetzt richtig darauf, euch in seine Gewalt zu bekommen...«
Auf einem Mal trat ein weiterer Mann aus dem Kreis des Rates. Erst zögerlich, ängstlich, dann entschlossener, mit dem Mut, der offensichtlich Überwindung kostete.
»Herr.., ich will meinem König gern eure Botschaft bringen. Ich diene euch, wie ich eurem Vater diene und werde die Worte des Rates niemals verraten, eher werde ich sterben...«, übersetzte Antarona.
»Ihr werdet ganz sicher sterben, wenn ihr versucht, noch einmal an Torbuks Wächtern vorüber zu kommen...«, unterbrach ihn der Medicus, »...ihr habt doch schon auf dem Weg hierher großes Glück gehabt, dass ihr nicht entdeckt wurdet!« Der Mann nickte dem Doktor unterwürfig zu und wollte sich rückwärts wieder in den Kreis der Anwesenden zurückziehen.
»Einen Augenblick mal...«, hielt Sebastian ihn auf, »...wer seid ihr, dass ihr glaubt, mit einer so wichtigen Nachricht zu König Bental durchzukommen?«
»Er wird niemals nach Falméra gelangen...«, fiel Andreas dazwischen, »...er wird vor Angst dermaßen zittern, dass ihn Torbuks Männer schon von weitem...« Sebastian brachte den Doktor mit einer Handbewegung zum Schweigen.
»Verehrter Herr Doktor.., hättet ihr wohl die Güte, mal für einen Moment den Mund zu halten«, sagte er, ließ es aber eher wie eine Aufforderung, als eine Frage klingen. Zu dem schmächtigen, schüchtern wirkenden Mann gewandt, fuhr er fort:
»Also.., was glaubt ihr, was euch dazu befähigt, diese wichtige Botschaft zum König nach Falméra zu bringen?« Gleichzeitig musterte Sebastian den furchtsam blickenden Mann, der nun völlig verunsichert im Rampenlicht aller stand. Er war ein gebeugtes, hageres Männlein mit gutmütigem, offenem Gesicht, aus dem eine gewisse Feinsinnigkeit sprach. Sein braunes, ausgeblichenes Gewand war abgerissen und löchrig und erinnerte mehr an einen Bettler, als an jemanden, er Zugang zum Hofe eines Königs hatte.
»Das ist Koratan, Ba - shtie.., der Vertraute König Bentals...«, flüsterte ihm Antarona zu, »...Falméras Medicus mag aber Recht haben, wenn er glaubt, dass Koratans Rückkehr nach Falméra nicht gelingt. Torbuks Soldaten werden jetzt jedes Menschenwesen durchsuchen, dem sie begegnen...«
»Ihr seid also der Gesandte des Königs...«, sprach ihn Sebastian direkt an, »...dann mögt ihr mir bitte erklären, wie ihr nach Falméra zurück gelangen wolltet, wenn ihr bereits unter der Gefahr eures Lebens und mit viel Glück den Weg zu dieser Versammlung gefunden habt?«
»Er war bereits in Zumweyer, Sebastian, als ihr der glorreichen Tat von Sonnenherz gefolgt seid und Torbuks Reiter ins Reich der Toten geschickt habt«, rief Andreas dazwischen. »Damit habt ihr ohne Zweifel seinen Zorn und seine verstärkte Aufmerksamkeit heraufbeschworen...«
»Ach ja?«, unterbrach ihn Sebastian, »...dann wäre es wohl besser gewesen, die Töchter Zumweyers ihrem grausamen Schicksal zu überlassen, damit auch ja alles schön ruhig bleibt und der große Torbuk nicht noch unnötig gereizt wird, was?« Sebastian konnte sich die Ironie in seinen Worten nicht verkneifen. Wieder Koratan zugewandt sagte Sebastian etwas ruhiger:
»Koratan.., glaubt ihr, dass ihr unter diesen Umständen noch unentdeckt nach Falméra zurückkommen könnt? Könnt ihr garantieren, dass ihr eine Botschaft für den König sicher auf seine Insel bringen könnt, ohne, dass sie Torbuk in die Hände fällt?« Koratan machte einen Schritt rückwärts und sah verschämt zu Boden.
»Ihr könnt es also nicht...«, beantwortete Sebastian die Frage für ihn, »...das wird euch auch niemand anlasten, denn wenn ihr sinnlos und leichtfertig euer Leben opfert, so nützt das weder dem Achterrat, noch unserer Sache und am allerwenigsten eurem König!« Sebastian blickte in die Runde und in ratlose Gesichter.
»Also werden Sonnenherz und ich gehen!«, stellte er entschieden fest. »Die Männer hier...«, Sebastian forderte mit einer weiten Geste alle Anwesenden zum Handeln auf, »...werden noch über alles beraten und ich will mich der Entscheidung des Achterrats beugen. Ich werde warten, bis ihr wisst, was ihr tun wollt. Entscheidet also klug! Es liegt allein bei euch, ob es einen Widerstand gegen Torbuk geben wird, oder nicht.., ob eure Kinder einmal glücklich und in Frieden aufwachsen können!«
Damit nahm Basti sein Krähenmädchen an die Hand und führte sie nach draußen. Hinter sich hörten sie Stimmen laut werden und in heillosem Durcheinander diskutieren.
»Damit sind die erst mal eine Weile beschäftigt«, sprach er seine Gedanken laut aus. Etwas lauter fragte er Antarona:
»Sag mal.., denkst du wirklich, dass wir zu diesem König.., äh, zu meinem Vater gehen können und ihm die Botschaft des Achterrats vortragen können, vorausgesetzt, die treffen eine Entscheidung?«
»Seid ohne Sorge, Ba - shtie, Sonnenherz kennt einen Weg nach Falméra zu gelangen, den die Soldaten Torbuks nicht gehen können!« Sebastian nickte müde. Ihm genügte die Zusage des Krähenmädchens, denn sie hatte mehrmals bewiesen, dass sie wusste, wovon sie redete.
Plötzlich fiel die Dynamik, mit welcher er seine Rede gehalten und sich das Wortgefecht mit dem Doktor geliefert hatte, wie ein schwerer Mantel von ihm ab. Sebastian wurde nachdenklich und registrierte nur am Rande, dass ihn Antarona auf eine der Sonnenweiden am See, hinter ihres Vaters Haus führte.
Nebeneinander legten sie sich ins Gras, streckten ihre Glieder am See in die Sonne und lauschten den Lauten der Natur, die selbst hier im Tal zu vielstimmigen Konzerten fähig waren. Plätschernd leckten die kleinen Wellen an die Graskante des Seeufers und inszenierten mit dem monotonen Summen der Insekten einen beruhigenden Grundklang. Ein Frosch, der irgendwo im Schilf saß, begann seine Arie, ein immer wiederkehrender Gesang, wie in einem nicht enden wollendem Requiem.
Irgendein Hühnervogel viel mit ein und gab das Signal für den großen Räuber am Himmel, der mit einem lang gezogenen Plüüüüf..., Plüüüüf unter der Sonne seine Kreise zog. Die Singvögel flöteten mit ihren hellen Gesängen ineinander greifende, beschwingte und verträumte Melodien einer leichten Operette. Das Land lud zum Träumen ein.
Sebastian suchte nach der Hand Antaronas und dachte darüber nach, wie schön es sich in diesem Land würde leben lassen, wenn erst einmal rings umher Frieden herrschte. Doch was er bisher über das Val Mentiér und Volossoda wusste, erzählte ihm, dass es noch ein sehr langer Weg war, bis zum Frieden. Der Preis für seine große Liebe war so hoch, dass er sich zwischendurch, in ketzerischen Phasen fragte, ob er nicht sein bisheriges, monotones und gesichertes Leben diesem Abenteuer vorziehen sollte...
Doch da war Antarona, die mit ihren Reizen immer wieder ein aufwühlendes, angenehmes Rumoren in seinem Bauch hervorrief. Das Gefühl ihr hoffnungslos verfallen zu sein, gefiel ihm und er genoss jeden Augenblick, den sie zusammen waren. Ohne Antarona würde er nur noch als halber Mensch durchs Leben gehen.
Es gab aber auch Zweifel in seinen Gedanken. Wie weit konnte er für die Liebe zu einer Frau gehen? Die Menschen in diesem Land waren gerade dabei, ihn zum Werkzeug ihres Krieges zu machen und die Frau, die er begehrte, die Sehnsucht seiner Phantasien war, konnte er nur gewinnen, wenn er sich auf etwas einließ, wovor er am meisten Angst hatte... In einen Krieg ziehen, Menschen töten, oder selbst getötet, oder verletzt zu werden.
Ein irrer Alptraum war das, in dem er anscheinend fest saß... Aber war er das wirklich? Empfand er das nicht nur so, weil er in einer behüteten Gesellschaft aufgewachsen und gelebt hatte, die er nur als unangreifbar kannte? Empfand er diese Welt nicht nur deshalb als unnormal, weil er die tägliche, direkte Bedrohung durch Soldaten, oder fremde Mächte, nie kennen gelernt hatte? War nicht die gerade Welt, aus der er sich verirrt hatte, die Täuschung, der von falscher Sicherheit suggerierte Traum?
In Sebastians Kopf entstand eine fürchterliche Erkenntnis... Noch vor gut fünfzig Jahren wurde sein eigenes Heimatland von einer Macht regiert, die der Torbuks nicht unähnlich war. An der Straße, die er morgens auf dem Weg zu seiner Baustelle mit dem Fahrrad entlang fuhr, wurden gerade mal eineinhalb Generationen zuvor noch unschuldige Menschen hingerichtet. Man hängte sie einfach an ihrem Hals links und rechts an die Alleebäume!
Und täglich sah er im Fernsehen, wie auf dem afrikanischen Kontinent ganze Dörfer hingemetzelt und ausgelöscht wurden... Nein.., im Grunde hatte sich nichts geändert! Er, Sebastian Lauknitz, hatte nur das große Glück, in einem Land aufzuwachsen, das sich mit seinem technologischen Fortschritt eine in der Weltgeschichte winzige Phase lang, gegen innere und äußere Aggressoren schützen konnte.
Er, Sebastian Lauknitz, war das kleine, bequeme Puzzleteilchen, das im großen Gefüge nicht normal war! Er hatte sich so sehr daran gewöhnt, vor der Gefahr gegen Leib und Leben von einer Gesellschaft behütet und geschützt zu werden, dass ihm gar nicht mehr in den Sinn kam, dies könnte einmal anders sein, ungeachtet der Tatsache, dass es in vielen Ländern um ihn herum bereits anders war!
Sebastian wachte auf. Bisher hatte er geschlafen! Tief und fest schlummerte er in einem friedlichen Traum, dessen Bedrohung er real gar nicht wahr genommen hatte, der aber ständig existierte! Wie einfach hatte er sich das gemacht... Der kalte Krieg, die Bedrohung durch die Atommacht des Warschauer Paktes... Binnen Minuten hätte jederzeit alles vorbei sein können, hätte sein ganzer Frieden pulverisiert werden können!
Er hing jahrelang seinen Träumen hinterher, fluchte über seine Arbeit, schimpfte über das Fernsehprogramm und ahnte eine Katastrophe, wenn mal ein Wasserhahn in seiner kleinen Wohnung tropfte. Hinter der schützenden Fassade lebte er sein Leben und kam niemals auf den Gedanken, dass zuvor ganze Armeen von Menschen für diese Sorglosigkeit ihr Leben gegeben haben. Und viele Einzelne gaben es noch, um das bequeme, sichere Leben des Baustuckateurs Basti Lauknitz zu schützen.
Plötzlich wurde Sebastian bewusst, dass er die Botschaft, welche er dem Achterrat in seiner flammenden Rede vorgetragen hatte, lediglich als Phrasen aus seinem rhetorischen Lebensschatz heraus gezogen hatte. Selbst, mit mutigen Taten praktisch erarbeitet, mit seinem Leben verteidigt, hatte er diese Weisheiten nicht! Er stützte sich einfach auf die Erfahrungen anderer, auf die Erkenntnisse der Weltgeschichte, die aus der Hingabe anderer Mutiger geboren wurde. Nun war er plötzlich gefordert, selbst einer dieser Mutigen zu sein!
Zum ersten Mal in seinem noch nicht ganz dreißigjährigen Leben hatte er diesen Mut aus Liebe aufgebracht, als er mit Antarona, Ravid und Daffel gegen den Reitertrupp Torbuks kämpfte. Allmählich sickerte etwas in Sebastians Kopf... Diese Tat bekam für ihn plötzlich einen anderen Wert. Er sonnte sich nicht mehr nur in der Sicherheit und Geborgenheit seiner zivilisierten Welt, sondern war gezwungen, selbst an der Geschichte einer zivilisierten, friedlichen Welt mit zu schreiben!
»Ja.., wir werden nach Falméra gehen, mein Engelchen, und wir werden diese Täler zu einer Welt machen, in der wir in Frieden und in Freude leben können!« Antarona erhob sich halb, stützte sich auf ihren Ellenbogen und sah Sebastian erstaunt an, ob seiner unverhofften Prophezeihung.
»Weißt du...«, sinnierte er weiter, »...es musste mir selbst erst klar werden.., aber jetzt weiß ich, wohin ich gehöre... Bisher habe ich immer geglaubt, das Leben.., eine Familie.., ein Stück Land, wo man Kinder groß ziehen kann, das wird schon alles irgendwann, irgendwie kommen. Das war ziemlich einfältig von mir... Jetzt weiß ich, dass man etwas dafür tun muss, dass man manchmal mehr dafür bewegen muss, als nur einen Stein, oder Baum.., dass man dafür sein Leben einsetzen muss...«
Antarona blickte ihm mit großen fragenden Augen ins Gesicht. Sebastian lächelte, zog sie zu sich heran und küsste sie. Dann drückte er sie sanft ins Gras und schaute seinerseits auf ihr Antlitz herab.
»Mit anderen Worten.., wir werden alle Torbuks und Kareks aus diesen Tälern hinaus werfen und mit all unseren Freunden, Nachbarn und mit unser aller Wünsche und Träume ein friedliches Leben aufbauen! Wir werden Kinder haben.., wenn du willst.., und zusehen, wie sie die schöne Welt entdecken, wie sie spielen, wie sie wachsen...« Sebastian atmete tief durch, bestätigte seine Worte mit einem leichten Nicken und fügte hinzu:
»Es wird ein langer, harter und schwerer Weg werden.., aber wir werden es schaffen.., das heißt... Wenn du es willst, mein Engelchen...« Antarona schlug die Augenlider auf, die sie vor den intensiven Sonnenstrahlen geschlossen hatte und strahlte ihren Mann von den Göttern zuversichtlich an.
»Ja.., das will ich!«, hauchte sie ihm entgegen. Sebastian sank neben ihr zurück ins Gras und träumte weiter...
»...wir werden uns ein schönes Seitental vom Val Mentiér suchen.., oder ein paar schöne Weiden oberhalb von Zumweyer oder Fallwasser.., an einem klaren Bach.., ich werde uns ein wunderschönes Haus bauen, mit viel Platz für viele Kinder.., einen Stall für unsere Tiere, eine Scheune für unsere Ernte, so, wie Högi Balmer eine hat.., ich werde es machen, dass klares Quellwasser in unser Haus fließt...«
Ihr romantischer Traum wurde abrupt unterbrochen. Stimmen wurden auf einem Mal laut und wie auf Bestellung kamen Rona und Reno von wer weiß woher angetobt. Sie umrundeten das träumende Paar einige Male, dann schossen sie um die Ecke des Holzers Scheune, dem Ort der plötzlichen Unruhe.
»Na ja, dann wollen wir unseren Traum mal in die Wirklichkeit umsetzen, was?«, sagte Sebastian lächelnd zu seinem Krähenmädchen und reichte ihr die Hand, um sie aus dem Gras hoch zu ziehen. Die Hände ineinander verschlungen, traten sie auf den Hof Antaronas Vaters, der inzwischen einem Marktplatz glich. Jemand hatte Tische mit Getränken und Speisen in den Staub des Platzes gestellt und die vielen Mitglieder des Rates umringten die dargebotenen Erfrischungen.
Reno und Rona jagten zwischen den Beinen der Ratsmitglieder herum, wohl in der Hoffnung, einen leckeren Bissen erhaschen zu können. Beinahe rissen sie einen Tisch um, auf dem Schalen mit Obst standen. Ein scharfer Zuruf Högi Balmers beendete ihren Übermut. Beleidigt trollten sie sich unter einen großen Laubbaum und legten sich in seinen Schatten, um das Treiben von dort aus zu beobachten.
Als Antarona und Sebastian ins Blickfeld der Versammlung traten, verstummten alle Gespräche und die Anwesenden wandten sich ihnen zu. Andreas, Falméras Medicus, trat vor. Offenbar fühlte er sich als Sprecher des Rates berufen. Die Sprache des Totenreichs war ihm jedenfalls wie keinem anderen in der Runde geläufig.
»Wenn ihr noch vor habt, nach Falméra zu gehen, dann geht ihr mit dem Wunsch und der Hoffnung des Achterrats...«, proklamierte der Doktor übertrieben würdevoll und Sebastian vermutete, dass dies nicht unbedingt ein einstimmiger Beschluss war. Andreas beschrieb ein aufforderndes Handzeichen nach hinten, wo sich ein älterer, stämmiger Mann aus der Menge der Versammelten löste und sich neben ihn stellte. Er war für die Verhältnisse dieses Landes außerordentlich gut gekleidet und machte den Eindruck eines wohlhabenden, zufriedenen Mannes, was Sebastian misstrauisch werden ließ. In diesen Zeiten war kein Menschenwesen der Ival zufrieden, oder gar glücklich!
Dieser jedoch schien es zu sein. In seinen sauberen Händen, die nicht nach schwerer Arbeit aussahen, hielt er ein blank poliertes Schwert, das in einer edlen Lederscheide steckte, sowie eine mit einem Band versiegelte Schriftrolle. Mit wichtiger Mine reichte er Sebastian und Antarona die Gegenstände, die anscheinend eine wichtige Bedeutung haben mussten.
»Tebidor aus Zarollon, Sprecher für den Achterrat...«, sprach Andreas feierlich, »...übergibt euch als Zeichen des Rates diese Dinge, die ihr dem König überbringen werdet. König Bental wird somit wissen, dass ihr für den Achterrat sprecht.« Der Doktor gab wieder ein Zeichen nach hinten und zwei weitere Männer stellten sich zu ihm.
Sie waren das, was Sebastian im Vergleich zu den Menschen des Volkes als paradiesisch bezeichnen würde. Beide bestachen durch eine dunklere Hautfarbe, ähnlich der eines Inders und trugen eine Art Rock, der an die Kleidung der Pharaonen des alten Ägypten erinnerte. Ihre Oberkörper hatten sie lediglich mit einem Fell behangen, dass mit zwei metallenen Broschen und einer groben Kette daran gehindert wurde, von ihrer Haut zu rutschen.
Wie Brüder trugen sie beide die gleichen kurzen Schwerter am Gürtel. Ihre Beine steckten in luftigen Sandalen, die aus einem filigranen Geflecht von Lederstreifen bestanden, die sie bis unter ihre Knie gebunden hatten. Ihre freundlichen Gesichter lachten Sebastian offen an. Ihre schwarzen Haare und tiefen, geheimnisvollen Augen erinnerten Sebastian an die seiner Gefährtin. Dabei wurde ihm bewusst, dass auch Antarona einen dunkleren Teint besaß, als ihn die Frauen der Ival üblicherweise zeigten. Entweder war dies die Folge von ihrem ständigen Aufenthalt in der Sonne, oder...
»Dies sind Paranubo und Onafinte...«, erklärte Andreas weiter, »...sie sind die Abgesandten des Königs der Unbekl.., äh.., der Oranuti aus dem Reich der wandernden Sonne.«
Sebastian sah bei Andreas Versprecher kurz erstaunt zu Antarona. Sie gewahrte seinen fragenden Blick und flüsterte ihm rasch zu:
»Die Unbekleideten ist ein Wort, dass die Ival für die Oranuti benutzen. Es ist aber nicht ehrenvoll, dieses Wort vor ihnen zu gebrauchen, denn manchmal wird es als Schimpfwort verstanden!«
»Paranubo und Onafinte werden euch in das Reich der wandernden Sonne begleiten...«, ließ der Doktor verlauten, »...und sie werden euch sicher durch die Sümpfe der Elsiren zu einem Wasserwagen bringen, welcher euch...«
»Nein, das werden sie nicht!«, unterbrach ihn Antarona. »Sonnenherz und Glanzauge werden allein gehen! Zwei Menschenwesen werden nicht so schnell entdeckt, wie vier. Wir werden auch nicht durch die Sümpfe gehen.., wir werden einen Weg gehen, den nur Sonnenherz kennt!«
Andreas sah sie mit einem überlegenen Grinsen in den Augen an und wies hinter sich, wo er die Versammelten des Achterrats wusste.
»Doch.., ihr werdet sie mitnehmen.., der Rat hat es so beschlossen! Und ihr werdet den Weg gehen, den euch Tebidor nennen wird.., und ihr werdet in der Flanke stets von den Windreitern begleitet. Ihr werdet sie nicht sehen, doch sie werden bis zu den Sümpfen der Elsiren über euch wachen und euch zu Hilfe kommen, solltet ihr in Gefahr geraten!«
»Wir werden ganz sicher in Gefahr geraten, lieber Doktor...«, mischte sich nun Sebastian ein, »...wenn wir mit einer halben Armee durch die Täler ziehen. Was nützt uns der Schutz der Windreiter, wenn wir spätestens in Mittelau entdeckt werden, weil wir mit dreißig Mann und Pferden durch das Land ziehen? Antarona hat recht. Wenn wir allein und zu Fuß auf einem nur uns bekannten Weg gehen, werden wir erst gar nicht entdeckt, weil wir jedem Hindernis leicht ausweichen können!«
Falméras Medicus verschränkte seine Arme vor der Brust und sah Sebastian geringschätzig an. Sebastian spürte deutlich, dass der Doktor mehr und mehr selbst ein Hindernis wurde.
»Ihr findet wohl alles richtig, was euch Sonnenherz in die Ohren legt, was?« Andreas ließ seine Arme wieder baumeln und ging einen Schritt auf Sebastian zu.
»Es ist vom Rat der Acht beschlossen worden, dass ihr die gesandten Paranubo und Onafinte unter euren Schutz nehmt und in das Land der wandernden Sonne zurück geleitet.., schließlich haben wir es euch und eurer eigenmächtigen Befreiungstat zu danken, dass Torbuk jetzt mehr denn je herausgefordert ist...«
Sebastian schnappte nach Luft. Er konnte nicht glauben, was er da hörte. All jene, die tatenlos zusahen, wie ihre Töchter verschleppt wurden, maßten sich nun an, über die zu urteilen, die ihr Leben für die Befreiung eben dieser Töchter riskierten? Gerade wollte er sich ob solcher Widersinnigkeit Luft machen, da kam ihm seine Gefährtin zuvor.
Wie von einem Katapult geschossen, schnellte sie am Doktor, Tebidor und den beiden Oranuti vorbei und baute sich vor ihrem Vater auf, der in der ersten Reihe des Rates stand. Sie schüttelte ihre kleinen Fäuste vor den versammelten Männern und ließ ein Donnerwetter los, das Sebastian an eine wütende Bärenmutter erinnerte, die ihre Kinder gegen einen gefährlichen Feind verteidigte.
Hedaron stand stumm, unentschlossen und mit verstörtem Blick da, während zumindest die älteren Ratsmitglieder peinlich berührt in den Staub des Hofes starrten. Dann beging ihr Vater den Fehler, sein eigensinniges Kind in die Schranken weisen zu wollen. Er zeigte mit dem Finger auf die Erde und begann, seine Tochter mit Vorwürfen einzudecken, die Sebastian freilich nur in der Geste des Holzers erraten konnte.
Antarona stand mit ihren in die Hüfte gestemmten Fäusten vor ihm und Basti spürte förmlich, wie ihr der Zorn in den Kopf stieg. In einer urplötzlichen Bewegung bückte sie sich, griff mit beiden Händen in den Sand des Hofes.
Dann machte sie zwei Schritte auf ihren Vater zu und fauchte ihn an, dass Sebastian meinte, sie wollte ihm ins Gesicht springen. Statt dessen schleuderte sie ihm den Sand in ihren kleinen Händen abwechselnd und in tiefer Verachtung so heftig vor die Füße, dass es mächtig staubte. Der Holzer fuhr erschrocken ein Stück zurück und rempelte einen hinter ihm stehenden Mann an.
Er löste eine Kettenreaktion aus, die beinahe die gesamte Versammlung zu Fall gebracht hätte. Einige wichen so weit zurück, dass sie gegen die aufgebauten Tische stießen und die Flaschen und Krüge durcheinander purzeln ließen. Das war denn wohl auch für den Holzer zu viel.
Drohend baute er sich vor seiner Tochter auf und Sebastian beobachtete schmunzelnd, wie ihr Vater verzweifelt versuchte, seine Autorität wieder zu gewinnen. Sein donnernder Bass allein konnte seine tobende Tochter nicht einschüchtern. Doch was er sagte, musste einen gewissen Eindruck machen, denn allmählich beruhigte sich Antarona. Hedaron brachte es fertig, dass sie ihm irgendwann zuhörte, ohne einen weiteren Zornesausbruch hinzulegen.
Andreas, der immer noch dicht vor Sebastian stand, bemerkte belustigt und eindeutig für Sebastian bestimmt:
»Die braucht dringend einen Mann, der sie im Zaum zu halten weiß... Wer ihr Herz erobern will, hat bereits einen Krieg und braucht Torbuk und Karek nicht mehr...« Sebastian sah den Doktor wütend an und sagte für alle hörbar:
»Andreas Medicus.., könntet ihr euch möglicherweise um eure Kranken kümmern, ja.., und Antarona in Ruhe lassen?« Gefährlich leise und übertrieben ausgeschmückt, nur für die Ohren des Doktors bestimmt, setzte er hinzu:
»Solltet ihr euch allerdings berufen fühlen, Antarona zu belästigen, oder ihr auch nur ein Haar zu krümmen, oder ihr das Leben in sonst irgend einer Weise schwer zu machen, lieber Doktor.., dann seid versichert, dass ich es vermag, euch sehr kräftig in den Hintern zu treten! Falls ihr es noch nicht mitgekriegt habt.., Antarona ist durch die Macht der Elsiren mit mir verbunden und sollte euch einfallen, das zu missachten, so werdet ihr einen ganz persönlichen Krieg bekommen.., einen, den ihr niemals begreifen werdet..! Habe ich mich da klar ausgedrückt?«
Andreas wollte etwas erwidern, doch in diesem Augenblick kam Antarona mit niedergeschlagenem Blick zu Sebastian zurück.
»Sonnenherz muss nach dem Wunsch des Rates handeln, Ba – shtie – laug – nids...«, sprach sie eingeschüchtert, »...wir müssen die beiden Oranuti in ihr Land geleiten.., der Rat der Acht wünscht es so. Der Rat fürchtet, der König der Oranuti könnte dem Volk der Ival seine Hilfe im Kampf gegen Torbuk versagen, wenn wir seine Gesandten nicht zu schützen wissen.«
»Aber was hat das mit uns zu tun.., mit unserer Mission..?«, empörte sich Sebastian so laut, dass jeder es hören konnte, »...die Windreiter sind doch wohl in der Lage, die beiden ohne uns ins Land der wandernden Sonne zu begleiten, oder?« Bevor ihm jemand ins Wort fallen konnte, fügte er hinzu:
»Wie kann man mit so einer unlogischen Entscheidung das Schicksal des eigenen Volkes aufs Spiel setzen?«
»Das Schicksal dieser Menschen habt nur ihr allein aufs Spiel gesetzt, Herr von den Göttern...«, mischte sich Andreas erneut ein, »...schon, indem ihr nicht auf mich gehört habt und den Schutz von Högi Balmers Land verlassen habt und nicht zuletzt mit eurem Überfall auf Torbuks Truppe. Hättet ihr es uns, dem Achterrat überlassen, zu entscheiden, wann ihr dem Volk vorgestellt werdet, dann...«
»...dann würden die Töchter der Ival jetzt die verdorbene Saat der Pferdesoldaten in ihrem Leib tragen.., oder bereits im Reich der Toten sein, was für sie eine Erlösung wäre!«, giftete Antarona den Doktor an, in dem sie seinen Satz beendete.
»Dann...«, ließ sich Andreas keineswegs von Antaronas Ausbruch beirren, »...hätten wir ohne Torbuk aufzuschrecken, in aller Stille unseren Widerstand aufbauen können. Natürlich hätten wir gewisse Opfer noch eine Weile ertragen müssen, aber...«
»Eine Weile...?«, unterbrach ihn Sebastian. »Ihr habt die Opfer bereits viel zu lange ertragen! Ihr brauchtet nicht erst auf einen Mann der Götter zu warten, um in aller Seelenruhe einen Widerstand ins Leben zu rufen... Seid ihr eigentlich blind.., allesamt? Hier war Sonnenherz, hier waren die Windreiter.., ihr hättet ihnen nur zu folgen brauchen.., sie kannten bereits den Weg des Widerstandes, den Weg in die Freiheit!«
»Ja, ja.., ich weiß...«, konterte der Doktor, »...hinterrücks ein paar schwarze Reiter abschießen...« Sebastian schnitt ihm gehässig das Wort ab.
»Sie haben aber etwas getan, während ihr nur beraten habt. Wie lange wolltet ihr noch zusammensitzen und Beraten.., na? Drei Sonnen.., drei Sommer.., dreißig Sommer? Oh nein, Doktor von Falméra.., erzählt mir hier nichts von Widerstand! Ihr hattet euch in euer Schicksal ergeben, basta! Und wenn Antarona und die Windreiter nicht...« Auf einem Mal kam Unruhe in die Zusammenkunft, die das Wortgefecht beendete.
Das Interesse aller Anwesenden lenkte sich auf etwas, das Sebastian nicht erkennen konnte. Jedes Augenpaar richtete sich auf den Weg, der vom Tal her zu des Holzers Anwesen führte.
»Tark.., es ist Tark!«, schrie jemand, als verkündete er den wirklichen Befreier dieses Landes. Dann vielen andere aufgeregt in die Rufe mit ein.
»Tark ist gekommen.., wo ist Sonnenherz.., Sonnenherz..! Euer Tark ist da.., er kommt den Weg herauf.., er ist es!«
Sebastian sah Antarona an und gewahrte gerade noch, wie sie in jeder ihrer Regungen inne hielt und sich kurz versteifte, als hätte man ihr einen Geist angekündigt. Dann löste sie sich aus ihrer Starre und bahnte sich einen Weg durch die Umstehenden. Sebastian wollte ihr folgen, doch eine Stimme ganz nah an seinem Ohr hielt ihn auf:
»Nun werdet ihr wohl nicht mehr der große Held dieser verwöhnten, kleinen Hexe sein, mein Bester...« Sebastian sah sich um und blickte in das hämisch grinsende Gesicht des Doktors.
»Was soll das Doktor.., wer ist das eigentlich.., Tark?« Andreas antwortete nicht, nickte nur geheimnisvoll in Antaronas Richtung, die gerade die Grenze ihres Vaters Grundstücks erreicht hatte. Sebastian warf noch rasch einen abwertenden Blick auf Andreas, dann folgte er seinem Krähenmädchen, die ihn plötzlich gänzlich vergessen zu haben schien.
»Wer ist das.., Tark?«, wollte Sebastian wissen, als er Antarona erreicht hatte, die gebannt auf den Weg ins Tal blickte. Doch seine Geliebte reagierte nicht. Wie von einem Traum gefangen, flüsterte sie leise:
»Mein geliebter Tark ist zurück...« Einer fremden Magie folgend setzte sie sich wie in Trance in Bewegung und ging erwartungsvoll den Weg hinab. Sebastians Blick folgte ihr und entdeckte weit unten, noch einige hundert Meter entfernt einen Mann, der zielstrebig herauf kam. Antarona begann zu laufen, immer schneller, letztlich rannte sie dem Fremden entgegen. Sebastian sah sich fragend um, doch aller Augen richteten sich auf die herzliche Begrüßungsszene, die sich auf dem Weg unter ihnen abspielte.
Antarona flog dem Unbekannten die letzten Meter mit ausgebreiteten Armen entgegen. Dieser ließ einen großen Gegenstand achtlos auf den Weg fallen, schloss sie in seine Arme und wirbelte sie in einem wahren Freudentanz durch die Luft. Das Krähenmädchen warf ihre Arme um seinen Hals und ihre schlanken Beine um die Hüfte des Mannes, als wollte sie sich für den Rest ihres Lebens wie eine Klette an ihn hängen.
Sebastian blieb die Luft weg, bis ihm beinahe die Sinne schwanden. Die Stimmen um ihn herum hörte er plötzlich nur noch wie durch ein weites Rohr. Er kämpfte gegen das Schwindelgefühl an und beobachtete mit Entsetzen, wie seine Geliebte und der fremde Mann sich gegenseitig leidenschaftlich abküssten und gar nicht mehr voneinander lassen konnten.
Erwartungsvoll sahen alle dem im Freudentaumel versunkenen Paar entgegen. Sebastian Lauknitz war vergessen! Benommen, als hätte ihm eine geheimnisvolle Macht den Boden unter den Füßen fortgerissen, schwankte er zur Seite und lehnte sich etwas abseits gegen einen der dicken Bäume, die den Hof des Holzers begrenzten.
Dann musste er mit ansehen, wie der Mann Antarona in seine mächtigen Arme legte, als wollte er sie über einen tiefen Bach tragen. Er hob den Gegenstand auf, den er hatte fallen lassen und trug sie den Weg hinauf. Antarona hatte ihre Arme um seinen Hals gelegt und schmiegte ihre weiblichen Rundungen genüsslich an den kräftigen Körper des unerwarteten Besuchers.
Kein Mensch nahm mehr Notiz von dem Mann, den angeblich die Götter geschickt hatten. Statt dessen gingen die Versammelten dem neuen Liebespaar neugierig entgegen. Sebastian fühlte sich, als wäre er von einer Sekunde zur anderen ausgeweidet worden und war nicht mehr in der Lage wahrzunehmen, was um ihn herum geschah. Verzweifelt sah der nur dem neuen Paar entgegen. Sein Blick verschwamm unter Tränen, die er zu unterdrücken versuchte.
Zwischen den Zuschauern hindurch erhaschte er ein paar Blicke auf das ankommende Paar, das sofort von allen umringt und überschwänglich begrüßt wurde. Der Fremde war ein wahrer Hüne von einem Mann, groß, kräftig, ohne ein Gramm Fett am Körper. Er verkörperte die stattliche Erscheinung, der wohl kaum eine Frau widerstehen konnte. Er trug irgendwelche Fellteile am Leib, die auf seinen breiten Schultern eher verloren wirkten. Sein teilweise bloßer, muskulöser Körper war mit Ledergurten und irgendwelchen Schwertern behangen. Oberbeine, die eher an einen Elefanten erinnerten, als an einen normalen Mann, ragten unter einem ledernen Rock hervor, der mit allerlei metallenen Verzierungen behangen war. Seine Füße steckten bis unter die Knie in Fellstiefeln, die von einem Lederband umwunden waren.
Sebastian nahm gerade noch wahr, wie der Riese, den alle Tark nannten, Antarona sanft auf den Boden stellte und sich einen Gegenstand auf den Kopf setzte. Bastis Herz stand plötzlich still...
Auf Tarks mächtigem Schädel saßen zwei große, bedrohlich wirkende Hörner, die zu einer Art Wikingerhelm gehörten und die Sebastian nicht zum ersten Mal sah. Es waren die selben Hörner, die das Wesen trug, das er bei seinem Absturz am Zwischbergenpass gesehen hatte. Und es waren die Hörner, die der Mann trug, der die Prozession anführte, deren hundeartige Kreatur auf dem Weg von Högi Balmers Alm seinen Proviant verschlungen hatte. Es war dieser Tark!
In welchem miesen Traum Sebastian gefangen war, konnte er nicht mehr nachvollziehen. Sein Herz raste und sein Bauch schien nur noch eine schmerzende Hülle um eine innere Leere zu sein, die ihm Übelkeit bereitete und ihn in einen tiefen Abgrund zu ziehen drohte.
Er hatte immer die Angst im Herzen getragen, Antarona eines Tages wieder verlieren zu können... Doch auf diese Weise? Was hatte er getan, dass ihn sein Schicksal so grausam niedermetzelte? Warum hatte ihn Antarona so belogen, so gemein hintergangen?
Durch eine unüberwindliche Wand aus stehender Luft und Dunst hörte er Antaronas Stimme.., verzerrt, gedämpft, von einem vielstimmigen Echo zurückgeworfen, wie aus einer anderen Welt. Sebastian spürte, dass er jeden Augenblick das Bewusstsein verlieren würde, seine Augen nahmen nur noch einen weißen Nebel wahr. Er war blind! Verzweifelt tastete er sich vom Baum an den Zaun, der die angrenzende Viehweide umgab und folgte seinen Händen, die ihm den Weg suchten. In seinem Kopf hatte ein lähmendes Summen Einzug gehalten.
Eine bekannte Stimme riss ihn plötzlich aus seiner Benommenheit. Sie tauchte so deutlich und nah neben seinem Ohr auf, dass er vor Schreck in sich zusammenfuhr.
»Na.., hat euch die kleine Kratzbürste links liegen lassen? Fühlt sich wohl in Tarks starken Armen geborgener, als bei euch, was? Ihr seht so überrascht aus...«
Vor Sebastians Gesicht verzog sich der Nebel und gab Andreas schadenfrohe Fratze frei. Sebastian taumelte einen Schritt zurück, fing sich aber gleich wieder. Er spürte, wie seine tiefe Enttäuschung in blanke Wut umschlug. Unvermittelt stieß er dem Doktor seine Hände so heftig vor die Brust, dass dieser rückwärts stolperte und der Länge nach hinschlug.
Sebastian kümmerte sich nicht weiter um den Medicus und ging einfach vorwärts.., ziellos.., nur weg von all diesem Unbegreiflichen! Niemand kümmerte sich um ihn. Er ging, hörte die Stimmen in seinem Rücken schwächer werden, folgte nur noch dem Klang seiner eigenen Schritte!
Er dachte nicht mehr, fühlte nicht mehr, setzte nur einen Fuß vor den anderen. Links und rechts sah er die Blätter der Bäume sich im Wind bewegen, doch er hörte das Rascheln nicht. Vögel saßen in den Zweigen, doch er konnte ihren Gesang nicht mehr wahrnehmen. Er war nur noch eine dünne, leere Hülle voll von Schmerz, der alles in ihm zusammenzog; ein leeres Etwas, das ziellos umherirrte und nach einem Ort suchte, an dem es sich vor der ganzen Welt verkriechen konnte.
Ganz allmählich wurde die Welt wieder plastisch. Seine Enttäuschung kämpfte mit der Sehnsucht nach Antarona. Liebe, Begehren und Hass stiegen gleichzeitig in Sebastian hoch, vereinten sich zu etwas, das er nicht erfassen konnte und entluden sich in einem Anfall purer Verzweiflung. Zitternd hielt er sich an einem Felsen fest. Über sich gewahrte er aus den Augenwinkeln eine Bewegung...
Blätter.., es waren ganz einfach Blätter, die sich im Wind regten. Lauknitz stand unter einer kleinen Baumgruppe. Und der Fels vor ihm. Plötzlich spürte er einen heftigen Stich in sein Herz. Er kannte diesen Stein! Es war der Fels, in dessen Riss Antarona ihr Schwert verborgen hatte, bevor sie zu ihres Vaters Haus gingen.
In der Wut seiner Enttäuschung zog Sebastian das Schwert aus dem Felsspalt, überlegte nicht lange, wog es kurz in der Hand und holte mit all seiner Kraft aus. Funken stieben seitwärts davon, als es mühelos und mit hellem Klang in den harten Stein eindrang und gut zwanzig Zentimeter tief darin versank.
Doch bereits in dem Augenblick, da er es im Fels stecken sah, tat es ihm schon wieder leid. Sebastians Kopf begann wieder rationell zu arbeiten. Trotz der tiefen Enttäuschung, die ihn die Kontrolle über sich verlieren ließ, fühlte er die ungebrochene Liebe zu Antarona. Hin und her gerissen zwischen beiden Gefühlen wusste er, dass er Antarona nichts böses antun wollte. Dennoch war es ihm ein Bedürfnis gewesen, seiner Verzweiflung Luft zu machen und ihr einen Denkzettel zu verpassen.
Natürlich wollte er Antaronas Leben nicht gefährden, dazu war seine Liebe zu ihr viel zu stark, selbst wenn sie sich letztlich zu einem anderen Mann hingezogen fühlte. Sebastian überlegte kurz. Ohne ihr Schwert war Antarona in ständiger Gefahr. Das war es nicht, was er gewollt hatte!
Vorsichtig fasste er das Schwert am Griff. Er wollte es wieder in den Felsspalt legen und betete, dass es bei seiner emotionalen Entgleisung keinen Schaden genommen hatte. Erst sachte, dann etwas fester, versuchte Lauknitz das Schwert wieder aus dem Felsen zu ziehen.., erfolglos. Es klemmte viel zu tief im Stein und hatte bei seinem Eindringen nur einen schmalen Riss geschaffen, der kaum Spielraum bot.
Fluchend zerrte, zog und bog Sebastian an der Waffe herum, doch sie rührte sich nicht, saß fest, wie einbetoniert. In seiner Verzweiflung hob er einen herumliegenden Stein auf und drosch damit auf dem Riss herum, den die Wunderwaffe im Fels hinterlassen hatte. Vergeblich! Den einzigen Erfolg, den er damit erreichte, war ein Geruch von Schwefel und Staub, sowie ein paar winzige Steinsplitter, die in alle Richtungen davon flogen.
Völlig außer Atem gab er es auf. Kraftlos ließ er sich mit dem Rücken am Fels hinab gleiten und saß beinahe apathisch da. Was hatte er da bloß angerichtet? Warum war er nicht einfach gegangen? Andererseits hatte Antarona eine kleine Rache verdient! Die angeblich unumstößliche Verbindung ihrer Herzen unter dem Bann der Elsiren... Pah! Sie war nicht anders, als die verwöhnten Frauen in seinem eigenen Land. Sie hatte ihn als Pausenfüller benutzt, als willkommenen Liebhaber, bis ihr Tark wieder da war. Jetzt durfte der wieder übernehmen!
Sebastian schüttelte wütend den Kopf. Sollte doch der starke Tark, der Supermuskelmann, ihr das Schwert aus dem Felsen ziehen.., dann würde sie ja sehen, was der so drauf hat! Ihn, Sebastian, wollte sie ja nicht mehr! Also sollte sie gefälligst zusehen, wie sie mit dem dummen Riesen klar kam! Wenn der sie so liebte, konnte sie den doch dafür einspannen, das Volk zu retten! Wozu brauchte sie überhaupt einen Sebastian Lauknitz, wenn sie diese Kampfmaschine hatte?
Nach und nach steigerte sich Basti wieder in das ohnmächtige Wechselbad der Gefühle hinein, das ihn wie einen Spielball zwischen Verlangen, tief empfundener Liebe, und der Wut über die Enttäuschung hin und her warf. Benommen vom inneren Zwiespalt stand er auf und ging los. Wohin, war ihm egal. Sein altes Leben wollte er hinter sich lassen und mit Antarona ein neues aufbauen. Doch das hatte sie ihm nun zerstört! Was blieb ihm noch?
Lauknitz ging. Wie ein Traktor, dessen Lenkrad und Gaspedal man festgestellt hatte, marschierte er immer geradeaus, überwand jedes Hindernis, das sich ihm in den Weg stellte und nahm links und rechts nichts mehr wahr. Er sah und hörte nichts, ließ sich in das große, betäubende Loch seines Kummers fallen und ging.
Ziellos setzte er seinen Weg fort, schwelgte nur noch in seiner Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit, einen Fuß vor den anderen setzend. Er aß nicht, trank nicht, bemerkte nicht, dass die Sonne versank und wieder aufging. Seine Augen füllten sich mit Tränen, verschleierten ihm den Blick.., er bemerkte es nicht. Er stolperte, schlug hin, schrammte sich Arme und Schultern blutig, doch er spürte keinen Schmerz. Sebastian Lauknitz war nur noch eine leere, leblose, wandelnde Hülle...

Irgendwann wurde es kalt. Sebastian fror. Zitternd und völlig durchnässt stand er in der Dunkelheit. Es regnete. Nein.., es goss in Strömen vom Himmel! Das Wasser rann in Bächen von seinem dampfenden Körper. Allmählich nahm er das monotone Rauschen wahr, das immer stärker in sein Bewusstsein drang und ihm sagte: Du bist noch nicht tot!
Erwachend sah er sich um, versuchte die ihn umgebende, schwarze Wand zu durchdringen. Doch vor seinen Augen fielen nur Regentropfen wie Fäden aus den Schleusen der Wolken. Sie prasselten auf Gras. Weit konnte er nicht sehen und was er sah, war Gras. Er stand auf einer Wiese. Und er brauchte Schutz, denn er fror so erbärmlich, dass seine Zähne klappernd aufeinander schlugen.
Unwillig setzte sich sein Körper wieder in Bewegung. Sebastian versuchte den Regenvorhang mit den seinen Blicken zu durchdringen. Zwecklos! Er sah keine drei Meter weit und hatte schlicht die Orientierung verloren. Er stolperte vorwärts, trat in verborgene Pfützen, fiel hin, rappelte sich wieder hoch, triefend vor Nässe.
Wieder trat er ins Leere und wieder landete er im Wasser. Doch plötzlich schlugen die Fluten über ihm zusammen! Panisch schnappte er nach Luft und ruderte wild mit den Armen. Mühsam richtete er sich wieder auf, spürte aber eine starke Strömung, die eiskalt seine Hüfte und Beine umfloss.
Von Angst getrieben hastete er zum Ufer zurück, rutschte aus, tauchte erneut unter und versuchte sich schließlich an Grasbüscheln die Böschung hinauf zu ziehen. Das Gras riss mitsamt den Wurzeln aus dem aufgeweichten Boden und Sebastian musste einige Male verzweifelt zugrabschen, um endlich Halt zu finden.
Abgekämpft blieb er einen Moment lang auf der Weide liegen, war versucht, sich in sein Schicksal zu ergeben. Die Regentropfen trommelten mit pochenden Geräuschen auf seine nasse Kleidung. Sebastian spürte, wie sie sein Hemd kalt durchdrangen und unter dem Stoff über seine Haut liefen. So durchnässt, wie er bereits war, machte ihm das nur noch sehr wenig aus. Unangenehmer war da schon die Kälte, die an seinen Knochen zu nagen begann.
Aus Erfahrung wusste Sebastian, dass er dringend einen Unterschlupf finden musste, um nicht zu unterkühlen und sich eine Lungenentzündung einzuhandeln. Aber es viel ihm so schwer, sich aus seiner Position zu lösen. Mit jeder Bewegung verursachte seine nasse Kleidung ein unangenehmes, eiskaltes Gefühl auf der Haut. Allein sein Verstand zwang ihn in die Höhe.
Frierend presste Sebastian die Arme vor seine Brust und stolperte weiter, ohne Aussicht, jemals aus dieser Nässe entkommen zu können. Krampfhaft versuchte er konstant eine bestimmte Richtung beizubehalten, um nicht sinnlos im Kreis herum zu irren.
Nach einer gefühlten Ewigkeit tauchte etwas hohes, nach oben hin abgerundetes vor ihm auf. Es war Heu, oder Stroh, zum trocknen über Stangen geworfen. Voller Hoffnung kroch Sebastian darunter und war enttäuscht. Die Garben waren dermaßen durchnässt, dass sie keinen Schutz mehr boten. In kleinen Bächen rann das Wasser zwischen den Halmen hervor.
In stoischer Gleichgültigkeit latschte Sebastian weiter durch den anhaltenden Regen dahin. Nur in Bewegung bleiben, ja nicht auskühlen... Was für ein Fortschritt, wo ihm doch eigentlich egal gewesen war, ob er starb, oder lebte! Was hatte sich geändert? Gar nichts! Antarona liebte einen anderen! Wann war das.., als sein Glück zerbrach?
Er stellte fest, dass er völlig das Zeitgefühl verloren hatte. Aber was bedeutete in diesem primitiven Land schon Zeit? Sebastian dachte daran, dass er in der Zeit, wo es dunkel war, gewöhnlich in seiner kleinen Wohnung im warmen, weichen Bett lag und sich für den nächsten Arbeitstag ausschlief. Gewöhnlich...
Plötzlich, von Antarona verschmäht, rückte der Wunsch, nach Hause zu kommen, wieder näher in Sebastians Bewusstsein. Wie lange war er eigentlich von Zuhause fort? Basti zählte in Gedanken nach. Ein Tag die fahrt ins Wallis, zwei Tage im Zwischbergental, dann bei Högi Balmer.., wie lange war er dort gefangen? Zwei Wochen.., vier Wochen? Dann die Tage mit Antarona... Er kam ungefähr auf sechs bis acht Wochen.
Wurde man nach dieser Zeit bereits als verschollen erklärt? Was war mit seinem Job, wenn er so lange ohne Lebenszeichen seiner Arbeit fern blieb? Was wurde aus seiner Wohnung, wenn der Abtrag nicht mehr gezahlt wurde? Würde sein ganzes Hab und Gut versteigert werden.., seine Bücher.., seine Kleidung.., seine Bilder und Fotos? Würde er sämtliche Erinnerungen verlieren, seine Andenken an Janine?
Vor seinen Augen erschien Antaronas Gesicht. Wenn er auch Trost in dem Bemühen fand, sich wieder seiner kleinen Welt als Baustuckateur zuzuwenden, so geisterte doch Antarona ungehindert durch seinen Kopf. Sie ließ sich nicht mehr abschütteln. Noch immer hielt sie mit ihren zarten Händen fest sein schmerzendes Herz umklammert!
Sebastian verfiel wieder in die Gleichgültigkeit, in die Unfähigkeit, eine Entscheidung zu treffen. Er war enttäuscht und wollte nur fort aus dieser Welt. Doch sein Herz hing nach wie vor untrennbar mit dem Antaronas zusammen. Angesichts der verzweifelten Situation wollte er nur eines: Wieder nach Hause! Doch Antarona, das halb verwilderte Naturkind hielt ihn noch mit ihren Reizen gefangen!
Sebastian war eine Stunde gelaufen, oder drei, er wusste es nicht. Der Regen verwischte jeglichen Anhaltspunkt. Irgendwann tauchte etwas schemenhaft Dunkles im Regenvorhang auf, das in seiner Form nicht in die Landschaft passte. Ein kleiner alter Stall oder ein Vorratshaus versperrte ihm den Weg. Die Wände aus rohen Felsstücken errichtet, das Dach mit großen Steinschuppen eingedeckt, sah es eher aus, wie eine Notunterkunft für Weidetiere.
Fenster gab es keine, stellte Sebastian rasch fest. Lediglich an einer Seite gähnte ein rechteckiges schwarzes Loch als Tür. Was mochte dieser Unterschlupf in seinem Innern verbergen? Jede Überraschung war möglich, vom schlafenden Raubritter bis hin zu einem Felsenbären. Sebastian allerdings hatte die Nase gestrichen voll von Überraschungen!
Automatisch griff er nach seinem Schwert... Es war nicht da! Einzig seine Bowiemesser, die er sich in die Taschen seiner neuen Beinlinge gesteckt hatte, ließen sich ertasten. Plötzlich wurde ihm bewusst, dass er seinen Rucksack, sowie seine Waffen in des Holzers Hütte zurückgelassen hatte. Gerade Letztere waren in diesem Land unerlässlich, das hatte er bereits lernen müssen.
Vorsichtig zog Lauknitz sein Messer und suchte gleichzeitig nach einem Wurfgeschoss. Große und kleine Steine lagen verstreut um den Verschlag herum. Sie waren offenbar vom Baumaterial übrig geblieben. Sebastian hob einen auf und feuerte ihn in die dunkle Öffnung. Das klackernde Geräusch ging im Rauschen des Regens unter. Nichts rührte sich. Er wiederholte den Versuch noch zwei Mal aus einem anderen Winkel, mit gleichem Ergebnis.
Auf alles gefasst fischte er sein Feuerzeug aus der Hosentasche und huschte in den Eingang. Das kleine Flämmchen klärte die Situation. Die Hütte war leer. Festgetretene Erde, Staub und etwas getrocknetes Stroh bedeckten den Boden. Ein muffiger Geruch stach in Sebastians Nase. Der Regen aber blieb draußen! Dafür pfiff der Wind durch alle Ritzen und Löcher. Der Erbauer hatte sich nicht die Mühe gemacht, die aufgeschichteten Wände mit Lehm oder Grassoden abzudichten.
Gleich neben dem Eingang häufte Sebastian das Stroh zusammen und setzte sich dankbar darauf. Sollte ein wildes Tier, oder ein feindseliger Mensch Leib und Leben des Basti Lauknitz bedrohen, so konnte er rasch nach draußen entwischen. Erschöpft atmete er durch. Was hätte er in diesem Augenblick für ein Feuer gegeben? Doch das wenige Stroh reichte kaum aus, um halbwegs bequem darauf zu sitzen. Als Brennmaterial hätte es sich bereits nach ein paar Minuten in Rauch aufgelöst!
Mit seinem Gesicht zum Eingang rollte sich Sebastian zusammen und lauschte dem eintönigen Rauchen des Regens, der sich mal mehr, mal weniger auf das Land ergoss. Das Auf- und Abschwellen des Niederschlags, sowie das leise Klatschen der Wassertropfen schläferten seine Sinne ein. Irgendwann hatte Sebastian eine Stellung gefunden, die ihn mehr schlecht als recht vom Durchzug verschonte. Die Müdigkeit siegte über die Kälte und bald fand er in einen dösenden Halbschlaf...

Plötzlich schreckte Sebastian hoch. Ein schriller Schrei hatte ihn geweckt. Er war eingeschlafen! Wie leicht hätte er überrumpelt werden können! Gebannt lauschte er in die Stille hinaus. Ein diffuser Schimmer drang in sein Versteck. Schlaftrunken suchte er nach einem Spalt in der lose aufgeschichteten Mauer und lugte hinaus. Es begann zu dämmern. Ein kalter Luftzug drang durch den Riss und sogleich wurde ihm die Stille bewusst. Der Regen hatte aufgehört!
Da..., wieder ein Schrei... Nein, es klang eher wie das Wiehern eines Pferdes! Sofort fielen Sebastian Torbuks Reiter ein, die ohne weiteres in der Gegend herumstreifen konnten. Wenn die ihn in dieser Steinhütte entdeckten... Gehetzt rappelte Basti sich hoch und wollte aus seinem Versteck schlüpfen, als er Stimmen vernahm, die sich schnell näherten. Mehrere Männer sprachen leise miteinander. Ihre Unterhaltung, kaum mehr als ein Murmeln, wurde teilweise von einem hölzernen Klappern und metallischen Klirren übertönt, das sie begleitete.
Sebastian wagte nicht mehr, seinen Unterschlupf zu verlassen und überlegte fieberhaft, wie er sich der drohenden Gefahr entziehen konnte. Wieder hörte er das Schnauben und Wiehern eines Pferdes, diesmal ziemlich nahe. Gleichzeitig drang ein Schrei an sein Ohr und ließ ihn zusammenfahren. Es war der Schrei einer Frau! Zentimeterweise schob er sich an die Öffnung heran und spähte um die Ecke. Was Sebastian in der Morgendämmerung sah, ließ ihn zusammenzucken.
In einiger Entfernung von seinem schützenden Verschlag hatte ein Pferdegespann gehalten. Trotzdem die Pferde gehalten hatten, klapperte der niedrige Wagen weiter, dessen Ladefläche nur von vier dünnen Pfosten begrenzt war. Irgendetwas war an die Pfosten gebunden und versuchte sich vergeblich mit heftigen Bewegungen der Fesseln zu entledigen. Sebastian konnte keine Einzelheiten erkennen, denn eine Schar schwarzer Reiter umringten auf nervös tänzelnden Rappen das Fuhrwerk.
Da er fürchtete, entdeckt zu werden, zog er sich in seinen Steinverschlag zurück und suchte die Wand nach einer Lücke ab, durch die er den seltsamen Aufzug draußen beobachten konnte, ohne gesehen zu werden. Vorsichtig zog er an geeigneter Stelle einen lockeren Stein aus der Mauer.
Durch das Loch sah er die Reiter, die von ihren Pferden stiegen und die Zügel einem ihrer Gefährten überließen. Wie es aussah, wollten sie unweit von Sebastians Versteck rasten. Es war nur eine Frage der Zeit, bis einer der Soldaten ihn aufspürte. Wie sollte er sich der Gefahr entziehen? Konnte er an der hinteren Wand seines Unterschlupfes so viele Steine herausnehmen, dass er durch die Öffnung hindurch passte? Würde dabei nicht das ganze Gefüge der Konstruktion zusammenbrechen?
Während er noch darüber nachdachte, versammelten sich Torbuks Reitersoldaten hinter dem Gespann, hockten sich auf eine kahle Fläche am Boden und schienen sich zu beraten. Sebastian hatte nun ungehinderten Blick auf den Wagen. Etwas gebärdete sich wie wild auf den Planken, um sich zu befreien. Ketten rasselten und der Leiterwagen klapperte in allen Fugen. Sebastian sah genauer hin und auf einem Mal lief es ihm heiß und kalt den Rücken hinunter.
Was sich da an Händen und Füßen an die vier Pfeiler der Ladefläche gekettet aufbäumte und sich verzweifelt loszureißen versuchte, war ein Mensch! Deutlich konnte Sebastian die langen schwarzen Haare erkennen, die jedes Mal durch die Luft flogen. Eine Frau! Als sie sich erneut unter den Fesseln wand, erkannte er, dass sie bis auf den beim Volk üblichen Hüftschurz nackt war.
Diese brutalen Gesellen hatten wahrscheinlich eine junge Frau entführt und brachten sie zu ihrem Anführer. Sebastian schüttelte unverständlich den Kopf. Gewöhnlich betrieben die schwarzen Reiter keinen so großen Aufwand, wenn es darum ging, junge Frauen der Ival zu rauben. Wenn sie eine einzelne Gefangene mit so viel Aufhebens fesselten und transportierten, musste die schon etwas besonderes sein!
Die Reiter indes hatten anscheinend ihre Unterhaltung beendet. Sie erhoben sich und standen planlos herum. Zwei der finsteren Kerle schlenderten zu ihrem Kameraden hinüber, der die Pferde bewachte. Ein weiterer großer, kräftiger Reiter löste sich aus der Gruppe und ging um den Wagen herum. Dabei setzte er sich etwas auf den Kopf. Sebastian fuhr erschrocken zurück!
Dieser Reiter dort drüben, in der schwarzen Tracht der Pferdesoldaten Torbuks, trug einen gehörnten Helm. Er trug den Helm! Es war zweifellos derselbe Mann, den Antarona so stürmisch als Tark begrüßt hatte und jener, den Lauknitz bei seinem Sturz am Zwischbergenpass sah! Sebastian blieb der Atem wie ein Kloß im Hals stecken. War die gefesselte Frau auf dem Wagen etwa...
Wie zur Bestätigung griff der große Hörnermann auf die Ladefläche und zog etwas Langes, Blinkendes hervor. Er wog es in seiner riesigen Pranke und warf es in hohem Bogen achtlos fort. Das Schwert wirbelte durch die Luft, drehte sich ein paar Mal und blieb nur wenige Meter vor Sebastians steinernem Verschlag zitternd im Boden stecken. Basti erkannte es genau. Antaronas Schwert!
Sebastian drehte sich plötzlich der Magen um. Wer immer auch dieser Mann war, er besaß Antaronas Vertrauen und hatte es schamlos missbraucht. Er hatte sie heimtückisch verraten! Sebastian fand sich in der Benommenheit zwischen Wut, Angst und ohnmächtiger Hilflosigkeit wieder. Er wollte Antarona befreien, ihr helfen, sie beschützen... Doch wenn er sich aus seinem Versteck wagte, ohne Waffen, würden ihn die Soldaten mühelos überwältigen. Dann konnte er seiner Geliebten erst recht nicht mehr helfen...
Vielleicht konnte er die Soldaten ablenken und mit Antarona fliehen? Er musste einen passenden Augenblick abwarten! Dazu war es nötig, alle Männer gleichzeitig im Blick zu behalten, was durch die kleine Luke, durch die er spähte, nicht möglich war. Behutsam versuchte Sebastian einen weiteren Stein aus der Öffnung zu lösen. Leise legte er das herausgenommene Segment zu Boden. Noch einen weiteren Stein entfernte er, um auch die Reiter bei den Pferden im Blickfeld zu haben...
Da! Ein lautes Knirschen und die ganze Wand des steinernen Stalls sackte um ein paar Zentimeter in sich zusammen. Sebastian hielt den Atem an. Der Mann mit dem Hörnerhelm wollte sich gerade über Antarona beugen, hielt aber bei dem knackenden Geräusch inne und wandte sich suchend um. Erst jetzt schien ihm die kleine Steinhütte aufzufallen. Langsam, mit skeptischen Augen ging er auf Bastis Versteck zu.
In einer panischen Bewegung wich Sebastian von seinem Guckloch zurück, machte einen unkontrollierten Schritt rückwärts und stolperte über den Stein, den er aus der Wand genommen hatte. Um nicht laut hinzuschlagen, riss er die Arme nach vorn und stützte sich an der Wand ab. Das war für die labil zusammengefügte Steinmauer zu viel. Die aufgeschichteten Steine gaben nach, Sebastian viel vornüber und spürte nur noch, wie Staub und Felsstücke auf seinen Rücken nieder prasselten. Schützend hielt er sich die Hände über den Kopf.
Eigenartigerweise spürte er keinen Schmerz. Die Steine schienen das Gewicht von Federn zu besitzen. Der ganze Zusammensturz der Steinhütte war irgendwie unrealistisch. Um so realistischer waren die plötzlich aufgescheuchten Pferdesoldaten.
Er fühlte sich von mehreren Händen gepackt und grob aus den Trümmern hervorgezogen. Dabei verursachten die Steine kein einziges Geräusch. Sebastian hörte nur das Klappern des Leiterwagens, das Rasseln und Klirren der Ketten, an denen Antarona wie viergeteilt hing und das ruhige Murmeln, die Stimmen von Torbuks Schergen. Deren Fäuste zerrten Sebastians widerstandslosen Körper über den Platz und zu einem Baum, nahe dem Wagen. Er fühlte sich hochgehoben, doch er spürte keinerlei Berührung durch die Männer in Schwarz.
Unversehens fand sich Sebastian, die Hände nach hinten an den Baum gefesselt, wieder. Die Stricke oder Riemen selbst konnte er nicht wahrnehmen, aber rühren konnte er sich ebenso wenig. Er fühlte sich wie gelähmt. Vor ihm stand der Pferdekarren mit Antarona. Sie war mit breiten, eisernen Handschellen mit je einem Fuß und einer Hand an die vier Pfosten gekettet. Ihn, Basti, konnte sie nicht sehen, denn der Wagen stand mit dem Kopfende schräg zu seinem Baum. Sebastian wollte ihr zurufen, doch kein Ton entkam seiner Kehle. Seine Stimme schien ihre Kraft verloren zu haben. Stumm, verzweifelt und machtlos lag sein ängstlicher Blick auf Antaronas schutzlosem Körper.
Ihre Haare hingen ihr in verfilzten, wirren Strähnen ins Gesicht, das lederne Oberteil war ihr von den Brüsten über den Bauch zur Hüfte gerutscht. Blutig und aufgeschrammt lugten ihre Fuß- und Handgelenke unter den eisernen Ringen der Fesseln hervor. Trotzdem zerrte sie an den Ketten herum und wand sich in wilden Bewegungen, als könnte sie die Eisenringe, die ihre Gelenke umklammert hielten, mit Leichtigkeit sprengen.
Doch sie hatte keine Chance, sich aus ihrer Lage zu befreien. Sebastian bot sich ein irrealer Eindruck. Antarona, die sich verzweifelt gegen ihre Situation wehrte, seine eigene Unfähigkeit, einzugreifen und die herumlungernden Soldaten, die offenbar keinen Plan besaßen, was sie als Nächstes tun sollten.
Bei alledem drangen immer wieder nur vier Geräusche an Sebastians Ohr: Das Rasseln der Ketten und Klappern des Wagens, wenn Antarona versuchte, sich mit heftigen Verrenkungen ihrer Fesseln zu entwinden, das Wiehern der Pferde und das monotone Gemurmel der schwarzen Reiter, die unnatürlich leise miteinander redeten.
Es mochte vielleicht eine halbe Stunde vergangen sein, als Bewegung in die Reiter kam. Der Hüne mit dem Hörnerhelm trat zu Sebastian an den Baum, grinste ihn schadenfroh an und sagte in bestem Hochdeutsch:
»So.., wollen mal sehen, wie wild die kleine Schlampe wirklich ist, was? Hat Torbuk ganz schön zum Narren gehalten. Der will sie lebend haben...«, dabei lachte er höhnisch, »...aber in welchem Zustand.., das hat er nicht gesagt..!« Damit ging er um den Holzkarren herum und begann die Pferde auszuspannen. Zwischendurch traktierte er Antarona, indem er abwechselnd grob an ihren vier Ketten zog.
Antarona bespuckte ihn wie eine angriffslustige Kobra und ließ die wahrscheinlich schlimmsten Flüche auf ihren Peiniger herabregnen, was den freilich gar nicht beeindruckte. Im Gegenteil. Je wilder sich Antarona gebärdete, desto mehr spornte sie den Hornmann zu weiteren Gemeinheiten an. Sebastian wünschte sich um ihretwillen inständig, sie würde aufhören, den Soldaten zu provozieren.
Mit einem Klaps auf das Hinterteil der Pferde beendete der Reiter das Ausschirren und die Tiere trotteten mit hängenden Köpfen zu ihren Artgenossen hinüber, einen Teil des Geschirrs hinter sich her ziehend. Dann stellte sich der Hornmann am Fußende vor den Wagen und betrachtete Antarona fasziniert, wie sie immer wieder vergeblich versuchte, ihre eisernen Fesseln abzustreifen.
Er schüttelte verständnislos seinen großen, kantigen Kopf und rief etwas zu seinen Kameraden hinüber. Die ließen sich leicht für seine Bosheiten animieren. Sie bewaffneten sich mit dem, was gerade herumlag. Ein abgefallener Zweig, ein dorniges Blätterbüschel, oder auch nur mit einer Hand voll nasser Erde. Mit ekelhaft grinsenden Fratzen näherten sie sich dem Wagen.
Der Hörnermann nahm inzwischen einen fingergroßen Schlüssel zur Hand und befreite Antaronas Füße von den Fesseln. Den Schellen ihrer Handgelenke schenkte er jedoch keine weitere Beachtung. Sebastian war augenblicklich klar, was dies zu bedeuten hatte. Und nun war er es, der zu toben begann.
»Lasst sie gefälligst in Ruhe, ihr miesen, verfaulten Schweine...«, schrie er, »...ich bin es doch, den ihr wollt.., Areos.., Bentals Sohn!« Sein verbaler Ausbruch hatte aber nur zur Folge, dass sich einige Reiter gelangweilt zu ihm umdrehten und ihn höhnisch verspotteten. Das Objekt ihres Interesses war im Augenblick Antarona. Sebastian suchte verzweifelt nach einem Ausweg, Antarona das zu ersparen, was Torbuks Männer offensichtlich mit ihr vor hatten.
Mit rasendem Herzen und halb benommen vor ohnmächtiger Wut musste er mit ansehen, wie der Hörnermann Antaronas Fußgelenke ergriff und sie langsam zu sich heran zog. Sie schrie vor Schmerz auf, als die groben Handschellen ihre Hände nicht freigeben wollten und die Ketten sich spannten. Grölendes Gelächter war die Antwort.
Einer der Soldaten nahm seinen Stock, den er im Unterholz gefunden hatte und bohrte ihn Antarona spielerisch in den Bauchnabel, von den Zurufen seiner Mitgesellen angestachelt. Sebastian verlor bei diesem Anblick fast den Verstand. Mit aller Macht stemmte er sich gegen den Baum, an den er gebunden war, in der Hoffnung, die Riemen und Stricke etwas zu lockern. Dabei spürte er einige faustgroße Steine unter seinen Füßen und in seinem Kopf entstand plötzlich eine letzter, hoffnungsvoller Plan.
Inzwischen hatte der Mann mit den Hörnern seinen Helm abgenommen und ihn achtlos zur Seite geworfen. Seine groben Hände hatten Antaronas letztes Kleidungsstück zum Ziel. Doch er konnte ihren Hüftschurz nicht erreichen, denn sie hatte sich auf den Planken des Wagens rasch wieder aus seiner Reichweite geschoben.
Der Riese grunzte wütend, packte erneut ihre Fußgelenke und riss sie brutal wieder zurück. Die Ketten knallten durch den Schwung auf und ab und Antarona stieß einen spitzen Schrei aus, der nur Sebastians Seele Schmerzen bereitete. Einer der Reiter fand es unheimlich unterhaltsam, Antarona mit nassem Dreck zu bewerfen. Sie riss angewidert ihren Kopf hin und her, um Augen und Mund zu schützen. Dabei strampelte sie so wild und unkontrolliert mit den Beinen, dass sie den großen Mann, der sich bereits über sie gebeugt hatte, zufällig am Kinn erwischte.
Eigentlich hätte ihr zierlicher Fuß kaum Schaden anrichten dürfen. Doch sie traf den Reiter mit der vollen Wucht ihrer Ferse an seinem Unterkiefer und offenbar in einem so günstigen Winkel, dass selbst Sebastian das hässliche Knirschen nicht überhören konnte. Der Getroffene fasste sich mit seiner Pranke ans Kinn, taumelte zurück und brüllte vor Schmerz und Zorn.
Unterdessen hatte sich Sebastian seine Beinlinge abgestreift und den nackten Fuß in die Erde unter den Stein gebohrt. Die Soldaten hatten es versäumt ihn auch mit den Füßen an den Baum zu binden. Das würde ihnen noch leid tun! Ungeduldig bewegte er die Zehen im Erdreich hin und her, bis er den Stein auf seinem Vorderfuß spürte. Um mehr Kraft entwickeln zu können, stemmte er seinen Rücken an den Baumstamm und holte mit dem Bein aus.
Dreck flog auf und ein kleiner schwarzer Schatten verließ den Boden, flog in einem eleganten, weiten Bogen durch die Luft. Mit einem dumpfen Schlag landete das Geschoss am Hinterkopf des Reiters, der Antarona mit dem Stock traktiert hatte. Er machte einen Satz nach vorn, knickte ein und knallte mit dem Gesicht auf die mit Metall beschlagene Kante des hinteren Wagenrades.
Die übrigen Soldaten waren angesichts ihrer gestrauchelten Kameraden zunächst verunsichert und blickten sich erstaunt zum Urheber der Steinschleuder um, der so unschuldig wie möglich tat. Das gespielte Unschuldslamm kauften sie ihm aber nicht ab. Ihren verletzten Kameraden überließen sie seinem Schicksal und wandten sich drohend Sebastian zu.
Dessen Fuß schoss erneut vor und ein weiterer Stein, der eben noch friedlich im Gras ruhte, sauste einem Reiter unverhofft an den Kopf. Eine lange Schramme zog sich von seiner Wange zu seinem Ohr und färbte sich dunkelrot. Der Mann brüllte mehr aus Wut, als vor Schmerz und wollte gerade auf Sebastian losgehen, als ein Schrei Antaronas ihn stoppte.
Alle widmeten sich wieder ihrem ursprünglichen Interesse. Der Hörnermann hielt sich noch immer das ausgerenkte Kinn. Seine andere Hand jedoch presste sein ganzes Gewicht mit roher Gewalt auf Antaronas nackten Bauch, dass ihr schlicht die Luft weg blieb. Blanker Hass blitzte aus seinen Augen und verriet unmissverständlich, dass die Gefangene nun keine Gnade mehr zu erwarten hatte.
Antarona ruderte im Kampf nach Atemluft wild mit den Beinen und riss mit den Armen an den Ketten, die sie nieder hielten. Sie konnte aber den seitlich von ihr stehenden Riesen nicht mehr erreichen. Gnadenlos drückte ihr der Muskel bepackte Arm des Soldaten mit aller Kraft das Leben aus dem Leib.
Sebastian unternahm einen letzten, verzweifelten Versuch. Ein ziemlich unförmiger, kantiger Stein, der schlecht auf seinem Fuß lag, flog auf und beschrieb seine Bahn in Richtung Antaronas Peiniger. Aber eben nur in die grobe Richtung. Er touchierte einen nahe stehenden Reiter lediglich harmlos an der Schulter. Der reagierte jedoch mit ungehaltenem Zorn auf diesen Angriff und stürmte zielstrebig auf den gefesselten Schützen los.
Das letzte, das Sebastian bewusst mitbekam, war Antaronas immer schwächer werdender Widerstand und ihr Versuch, sich von der Faust des Riesen zu befreien. In einer letzten Auflehnung zog sie ihre Arme so heftig zurück, dass ihr das Blut an den durchgescheuerten Gelenken herab lief. Dann verließen sie ihre Kräfte. Gleichzeitig war der vom Stein getroffene Pferdesoldat heran und Sebastian spürte nur noch einen harten Schlag gegen seinen Kopf...

Es war dunkel und kalt, als Sebastian wieder zu sich kam. Sein Schädel hämmerte und kündigte eine heftige Migräne an. Er richtete sich auf und sofort überkam ihn ein Schwindelgefühl, das von einem stechenden Schmerz begleitet war. Vorsichtig betastete er seinen Kopf und spürte eine blutverkrustete Wunde über der linken Schläfe.
Was war passiert? Der Reitersoldat hatte ihm irgend etwas hart über den Schädel geschlagen, das war passiert! Aber was war mit Antarona? Auf einem Mal ergriff Sebastian panische Angst. Gebannt lauschte er in die Dunkelheit. Nach wie vor vernahm er das Klappern des Holzkarrens und das Klirren der Ketten. Also war Antarona noch am Leben!
Da durchdrang ein stöhnender Schrei die Finsternis. Das war kein Wiehern, sondern der raue Schrei eines heiseren Menschen! Sein Magen wurde von einer unsichtbaren Macht zusammengedrückt. Angst stieg wieder in ihm hoch. In seinen Gedanken malte er sich aus, wie die primitiven Soldaten mit seiner Antarona ihre schmutzigen Phantasien befriedigten. Er musste das verhindern!
Sebastian wollte sich hochstemmen und aufstehen, da spürte er die von Steinen zusammengefügte Mauer in seinem Rücken. Aber die war doch eingestürzt? Ungeduldig tastete er sich daran hoch. Befand er sich in einem anderen Stall? Hatten ihn die Soldaten in dieses Verlies verfrachtet, als er bewusstlos war?
Mit zusammengebissenen Zähnen zwang sich Sebastian aufzustehen. Rechts erkannte er die Öffnung seines Verschlages. In diesem Augenblick drang ein weiterer Schrei Antaronas an sein Ohr. Ein lang gezogener, kreischender und zugleich klagender Schrei, der Sebastian einen kalten Schauer über den Rücken laufen ließ. Das war zuviel!
Plötzlich war ihm gleichgültig, was mit ihm geschah, wenn Torbuks Häscher nur von Antarona abließen! Mit einem Satz stolperte er aus seinem Steinverschlag und stand auf dem Platz vor seinem Unterschlupf, bereit gegen alles den Kampf aufzunehmen, was sein geliebtes Krähenmädchen bedrohte...
Doch da war nichts. Verlassen erstreckte sich die Wiese bis hinüber zu den Bäumen. Keine Bewegung war auszumachen. Selbst der Regen hatte aufgehört und von Osten kroch die Dämmerung herauf. Eine seltsame Stille sprang Sebastian an. Verwirrt sah er sich um. Nicht einmal eine Spur war zu erkennen, welche auf die Anwesenheit eines Pferdegespanns oder eines Reitertrupps hätte schließen lassen.
Sebastian versuchte mit seinen Sinnen die lastende Stille zu durchdringen. Da! Plötzlich wieder ein Schrei! Der immer wieder drehende, leichte Wind trug ihn herüber. Ein verwehtes Holzklappern und Klirren von Ketten war zu hören und Basti glaubte dazu die Stimmen der Reiter zu erkennen. Die Geräusche kamen von jenseits des Steinverhaus.
Lauknitz drehte sich um und war überrascht. Der aus Steinen zusammengefügte Stall, der über ihm zusammengebrochen war, stand unversehrt auf der Wiese. Er war gerade eben aus diesen vier Wänden hervor getaumelt. Deutlich hatte er aber gespürt, wie die Steine auf seinen Rücken purzelten und die groben Hände der Reiter ihn aus den Trümmern zogen! Wie konnte diese Butze nun wieder heil vor ihm stehen?
Insgeheim fragte sich Sebastian, was in diesem Land noch alles möglich war. Kugelblitze, wilde Drachen, Zauberschwerter und sich von selbst wieder errichtende Bauten. Das alles überstieg sein Fassungsvermögen! Antarona und seine Liebe zu ihr, war das einzige, das er wirklich akzeptierte und als real annahm.
Wieder trug der Wind Antaronas Schrei herüber, gleichzeitig wieherte ein Pferd. Das begleitende Klappern und Rasseln wurde vom Wind unterbrochen, der sogleich wieder seine Richtung wechselte. Sebastian zögerte aber nicht mehr. Er ging um die Hütte herum und in die Richtung, aus der er Antarona schreien gehört hatte. Hinter der Steinbutze hob er noch einige tennisballgroße Steine auf. Ein paar gefährliche Wurfgeschosse konnten nicht schaden, wenn er die Reiter von Antarona ablenken wollte.
Geduckt und auf leichten Sohlen folgte er der Richtung, aus welcher das leidvolle Klagen herüber drang. Sebastian versuchte jede Deckung auszunutzen und war froh, als hinter dem Verschlag einige Büsche und Bäume auftauchten. Erst in diesem Moment fiel ihm auf, dass er seine Beinlinge trug, die Antarona ihm gemacht hatte. Doch wie konnte das sein? Er hatte sie doch abgestreift, als er mit seinem Fuß Steine auf die Soldaten schleuderte! Egal, das war im Augenblick Nebensache!
Achtsam jeden Zweig zur Seite drückend, um ja kein verräterisches Geräusch zu verursachen, wand sich Sebastian durch den winzigen Hain. Jenseits davon betrat er wieder eine Wiese, die aber vor kurzem abgemäht worden war. Dahinter stand ein langgezogenes, von dunklen Balken durchzogenes Haus, beachtlich groß. Es war zweistöckig und besaß noch ein Dachgeschoss. Solch ein Gebäude hatte Sebastian in diesem Land bisher nur in Gestalt von Balmers Vorratshaus gesehen.
Erneut hörte er Antaronas klagenden Schrei. Gleichzeitig schien sie heftig an ihren Ketten zu reißen, denn das Rasseln und Klappern verstärkte sich kurz. Die eintönigen Stimmen der Reitersoldaten murmelten weiter so ruhig vor sich hin, als würden sich die Kerle leise über Belanglosigkeiten unterhalten. Jedoch wurden sie nun ständig von einem klatschenden Geräusch begleitet.
Sebastian interpretierte es als Schläge auf Antaronas nackte Haut und sofort rumorte wieder die Angst um sie in seinem Bauch. Er musste nun schnellstens handeln, um sie aus der Gewalt der Männer zu befreien, bevor ihre Situation noch schlimmer wurde, als sie ohnehin schon war.
Ohne lange zu überlegen spurtete er los, geradewegs über die Wiese. Die Hausfassade musste ihm erst einmal Deckung bieten, bis er sich neu orientieren konnte. Kurz bevor er das Gebäude erreichte, stoppte ihn ein neues Hindernis. Urplötzlich tat sich die Erde auf und ein zwei Meter breiter Wassergraben verlief quer über das Grün. Den hatte Sebastian nicht gesehen! Die Überraschung war so groß, dass er nicht mehr dazu kam, zum Sprung anzusetzen.
Der Fluch auf seinen Lippen nützte ihm ebenso wenig, wie der verzweifelte Versuch, den Bachlauf im letzten Moment zu überspringen, was normalerweise keine Schwierigkeit gewesen wäre. Sebastian flog mit beiden Beinen in den steinigen Graben, Wasser spritzte auf, ein fürchterliches Stechen attackierte seinen Fuß und er schlug mit dem Oberkörper hart gegen das jenseitige Ufer.
Das eisige Wasser linderte etwas den viehischen Schmerz im Fuß, doch der heftige Aufprall auf die Böschung nahm ihm kurz den Atem. Wiederholt hörte er Antarona schreien und wusste, dass er sich in diesem Bach nicht ausruhen durfte. Verbissen versuchte er seinen Schmerz zu unterdrücken, hechtete die Böschung hinauf und lief zur Hauswand hinüber.
Aus vollem Lauf warf er sich gegen das mit Lehm verstrichene Fachwerk und ließ sich mit dem Rücken an der Fassade hinabrutschen. Das Gesicht von Schmerz verzerrt, massierte er mit beiden Händen seinen verstauchten Fuß und überlegte sein weiteres Vorgehen. Sebastian wusste, dass er sich beeilen musste; jede Verzögerung bedeutete für Antarona ungeahnte Folter und Qual!
Mit dieser Angst trieb er sich erneut an. Humpelnd huschte er an der Hauswand entlang, in den Händen die Steine, von denen er nur noch zwei besaß. Die anderen lagen im Bachbett. Rasch blickte er um die Hausecke, zog aber sofort wieder seinen Kopf zurück. Ein Fenster konnte er auf der Giebelseite nicht erkennen, jedoch einen oder zwei weitere Bäche, die dicht an der Rückseite des Hauses vorbei flossen. Der Boden war unbewachsen und festgetreten, so dass Sebastian deutlich die Gräben erkennen konnte.
Wieder ein Hindernis. Aber jetzt musste es sein! Er durfte nicht mehr warten! Entschlossen nahm Sebastian all seine Kraft zusammen, sprang um die Ecke und lief los. Mit einigen Sätzen erreichte er die gegenüberliegende Hausecke und setzte mit zwei, drei großen Sprüngen über die beiden Bäche. Einen Lidschlag später stand er auf einem freien Platz... Allein!
Verwirrt sah er sich um. Er wusste nicht genau, was er wirklich erwartet hatte, jedoch sicher nicht, auf einem verlassenen Hof zu stehen! Da klang wieder Antaronas Schrei auf, heiser, klagend, ganz deutlich und ganz in der Nähe. Das Rasseln der Fesseln und Klappern des Pferdekarrens bohrte sich unaufhörlich in Bastis Gehör.
Das Haus besaß eine Reihe von kleinen Fenstern, eine Tür, sowie ein größeres Tor. Alles war verschlossen, die Läden waren vor die Fenster geklappt und das ganze Anwesen machte den Eindruck, als schliefe es seit unendlicher Zeit. Doch die Geräusche blieben!
Suchend wanderten Sebastians Augen an der Hauswand entlang. So etwas wie ein größerer Schuppen, oder Holzremise verdeckte das hintere Drittel der Fassade und reichte mit seinem Bretterdach bis an das Haus. Dessen Ziegeldach ragte darüber hinaus und ließ Sebastian vermuten, wo das Fachwerkhaus endete. Aus dem engen Raum zwischen Schuppen und Haupthaus, gerade mal drei bis vier Meter breit, strömten die beiden Bäche. Sie flossen mit hoher Geschwindigkeit an der Hausfassade entlang und wurden nur an den beiden Eingängen von je einem schmalen Holzsteg überbrückt.
Der Hof wurde von Wiesen und lockerem Baumbestand eingegrenzt. Sebastian horchte angestrengt. Doch nur das Holzgeklapper, das Klatschen von Schlägen auf nackter Haut und das Murmeln der Bäche bestimmte die Geräuschkulisse. Letzteres klang wie die leisen Stimmen von Torbuks Soldaten, die er gehört hatte. Nein.., es klang genau so!
Sebastian schüttelte ungläubig den Kopf. Das war nicht möglich.., so konnte er sich nicht irren! Seine Hand wanderte automatisch zur Wunde über seiner Schläfe, die ihm der wütende Reiter beigebracht hatte. Sie war noch da! Ebenso, wie das permanente Klappern, wie wenn Holz gegen Holz schlug. In diesem Augenblick wurden seine Überlegungen unterbrochen. Wieder ein Schrei! Diesmal direkt vor ihm! Aber wo zum Teufel...
Wie angewurzelt stand Sebastian in der Mitte des Hofes und starrte auf den Durchgang zwischen Haus und Schuppen, aus dem das Wasser der Gräben hervor geschossen kam. Dort mussten die Reiter sein Krähenmädchen gefangen halten. Aber wo waren ihre Pferde geblieben?
Wie elektrisiert setzte sich Sebastian in Bewegung und brachte seinen angeschlagenen Körper mit ein paar Sätzen in den Schatten der Schuppenwand. Gebannt drückte er sein Ohr an das alte, verwitterte Holz. Deutlich hörte er das Rasseln und Klingeln der Ketten, mit denen Antarona gefesselt war! Er hörte die Schläge, die unablässig auf ihren Körper nieder gingen. Sie hatten sie also in die Remise gebracht! Zitternd dachte Basti daran, was diese Dreckskerle dort drinnen mit seiner Geliebten anstellten, oder bereits mit ihr getan hatten.
Einem Katapultstart gleich, schoss er um die Ecke des Schuppens, die Hände mit den Steinen zum Wurf angewinkelt. Sein Blick irrte umher. Aber ein Ziel gab es nicht... Es gab überhaupt nichts! Der große Schuppen war zur Hausseite hin offen. Allerlei Gerümpel und ein paar graue Säcke stapelten sich an den Holzwänden.
In der Mitte des Schuppens lagen zwei mächtige steinerne Mühlräder, aus deren Mitte ein kräftiger, mit Metall beschlagener Holzbalken ragte, der in einer Holzkonstruktion an der Decke hing. Zwei riesige Wasserräder aus Holz drehten sich zwischen dem Schuppen und dem Haus im dahinströmenden Wasser der Bäche. Sie waren mit einem komplizierten Gestänge aus Latten und Balken mit der Aufhängung der Mahlsteine verbunden.
Stoisch bewegten sich die großen Wasserräder und tauchten klatschend ihre breiten Blätter in die endlos antreibenden Fluten. Kein Peitschenhieb malträtierte Antaronas nackte Haut! Genauso wenig schrie seine Geliebte um Hilfe. Es war das alte, rostige Lager der Wasserräder, das bei jeder endlos dauernden Umdrehung in seiner Verankerung quietschte und kreischte.
Einige Bretter hatten sich vom Schuppendach gelöst und hingen lose über den Wasserrädern herab. Das ewige Geklapper, verursacht von den Wasserblättern, die permanent gegen die Bretter schlugen, würde wohl nicht eher enden, bis sich die Dachsegmente irgendwann vollständig lösten, herab fielen und die Wasserräder zum Stillstand brachten. Rostige Ketten aus irgendwelchen Flaschenzügen baumelten im Wind, gerieten ab und zu mit den Haken an ihren Enden zwischen die rotierenden Räder und wurden rasselnd zurückgeschleudert.
Fassungslos stand Sebastian Lauknitz vor der gespenstischen Szenerie. Er hatte sich von einem sich selbst überlassenen Werk einer Wassermühle narren lassen... Oder doch nicht? Noch einmal befühlte er seine Kopfverletzung. Sie schmerzte! Also war er wach und bei vollem Verstand! Aber es gab keine fiesen Soldaten, keine gepeinigte Geliebte, die gerettet werden musste, keine Pferde! Nur Sebastian Lauknitz und eine alte, verlassene Mühle, die wer weiß wie lange schon dem ewigen Strömen des Wassers gehorchte und trotz aller Einflüsse, Tag wie Nacht, gleichsam ihre Räder drehte.
Unschlüssig, wie verloren stand Sebastian vor der Gefahr, die keine mehr war. Hatte er das alles nur geträumt? Der Hörnermann, der Antarona quälte, die Reiter, die sich daran weideten.., alles nur geträumt? Seine innere Anspannung sackte plötzlich weg. Mit zitternden Knien ließ er sich auf einem ausgetrockneten Baumstumpf nieder, der offenbar zum Holzhacken benutzt wurde.
Anscheinend verließ Sebastian nach und nach die Fähigkeit, zwischen Traum und Realität zu unterscheiden. Das war bedenklich! Er befand sich in einem fremden Land, dessen Sprache er nicht beherrschte und verlor allmählich den Verstand. Schlimmer konnte es kaum noch kommen! Oder doch?
Irgendwo bellte ein Hund! Weiter entfernt, aber nahe genug, als dass er sich keine Sorgen gemacht hätte. Das hatte ihm noch gefehlt! Gehetzt blickte er sich um. Die ganze Gegend schien verlassen. Da! Wieder das Bellen! Oder träumte er das wieder nur? Zweifelnd sah er zum Wasserrad hinüber, das weiter gelangweilt seine ewigen Runden drehte.
Das Gebell kam von jenseits des Hofes. Es entfernte sich nicht, kam aber auch nicht näher. Sebastian war nicht sicher, ob ihn das beruhigen, oder erneut in Angst versetzen sollte. Widerwillig erhob er sich von seinem Holzklotz und humpelte über den Hof. Dort, wo die festgetretene Erde endete, spähte er mit verkniffenen Augen über die Wiese in die Richtung, aus der er den Hund gehört hatte. Tief liegender Nebel schlich in Schwaden darüber hin und behinderte die Sicht. Es war Hell geworden. Der Himmel hatte sich dazu durchgerungen, seine Schleusen zu schließen. Graue Wolken bedeckten jedoch immer noch das Firmament.
Endlich entschloss sich Sebastian, dorthin zurückzuziehen, von wo er gekommen war. Zum kleinen, steinernen Stall, der ihn vor dem Regen Schutz geboten hatte. Wer weiß.., vielleicht tauchte der Besitzer der Mühle gerade jetzt mit seinem Hund auf und war womöglich nicht sehr erbaut davon, dass ein Fremder auf seinem Anwesen herum schlich.
Als er den steinernen Verschlag erreicht hatte, war es endgültig mäßig hell geworden. Die Sonne konnte sich noch nicht durch die Wolken kämpfen und die ganze Welt blieb wie in einem Dämmerzustand.
Immer noch zweifelnd begann Sebastian die Wiese nach Spuren abzusuchen. Er wollte ganz sicher gehen, dass er nur einem bösen Traum aufgesessen war. Er fand weder Wagenspuren, noch Hufabdrücke. Definitiv war er der einzige, der in tiefer Nacht über die Wiese gelatscht kam! Doch das beruhigte ihn noch nicht.
Erst in dem Steinverhau, der ihn in der Nacht beherbergte, fand er eine annähernd plausible Erklärung. Neben dem Platz, an dem er gesessen hatte, lag ein kopfgroßer Stein. Den hatte er in der Dunkelheit gar nicht wahr genommen. An seiner unförmigen Kante klebte Blut und erzählte Sebastian, was wirklich geschehen war.
Basti musste wohl eingeschlafen sein, so hoffnungslos übermüdet, wie er war. Irgendwann hatte er wohl im Sitzen den Halt verloren und war mit dem Kopf gegen diesen unglückseligen Stein geschlagen. Ein Traum, der Spiegel seiner Seele spielte ihm dann einen Film vor. So deutlich, so realistisch, dass er beinahe die Wirklichkeit verloren hatte.
Wer aber garantierte ihm, dass Antarona nicht doch in Gefahr war und sein Traum nicht doch eine innere Warnung, ein Hilferuf bedeuten sollte? Schließlich hatte er ihre einzige Waffe, die sie beschützen konnte, so gut wie unbrauchbar gemacht. Was, wenn sie nun in eine Falle lief? War ihm das tatsächlich so gleichgültig?
Nein.., wahrscheinlicher war, dass sie gerade mit Tark unter ihren Fellen lag und diesen Muskelberg mit ihren Reizen verwöhnte. Natürlich war das so! Warum sollte sie sich mit dem mittelmäßigen Sebastian Lauknitz abgeben, wenn sie einen Tark mit Luxus- Astralkörper haben konnte, der bei den Ival offenbar noch ein hohes Ansehen genoss?
Sebastian fühlte bis in die letzte Faser seines Körpers eine selbst zerfressende, wühlende Eifersucht hoch steigen. Sollte doch dieser Tark ihr Schwert aus dem Stein ziehen! Tark war ja stark.., wozu hatte der sonst diese Kraftpakete an seinen Armen und Beinen? Sollte der doch das Volk retten und die Ival in eine Demokratie führen! Mal sehen, wie weit er dabei mit all seinen Muskeln kam!
Trotz aller Enttäuschung und gleichzeitig aufkeimender Wut, stiegen Sebastian die Tränen in die Augen. Sein Kopf schwirrte und sein Herz brannte. Irgend etwas in ihm konnte Antarona nicht los lassen. Eine Liebe kommt manchmal so überraschend und heftig, wie ein Windstoß. Doch wenn sie stirbt, kann es ein langes Trauerspiel werden, bis auch das Herz dies akzeptiert!
Deprimiert versuchte sich Sebastian damit zu beruhigen, dass er ja ohnehin nach Hause wollte. Aber es funktionierte nicht so richtig. Ständig geisterte das Bild des freizügig bekleideten Krähenmädchens in seinem Kopf herum.
Möglicherweise hatte sie es nicht so ernst genommen, mit ihrer beider Verbundenheit unter dem Schutz der Elsiren. Vielleicht war es für Holzers Töchterchen nur ein Spiel, ein naives, unbedachtes Ausprobieren von Gefühlen unter dem Mantel der Romantik?
Für Basti war es jedoch eine Hochzeit. Auch ohne Zeugen, Standesbeamte und Gäste war ihm das heimliche Ritual am See wie eine Trauung vorgekommen. Hatte er alledem zu viel Wert beigemessen? Desto enttäuschter fühlte er sich nun und empfand ihr Verhalten als Verrat! Doch die Sehnsucht, das Verlangen, sie wollten sich nicht einfach so abschalten lassen. Die Liebe wollte nicht sterben!
Im Zwiespalt seiner Empfindungen verließ Sebastian die Steinhütte. Seine Kleidung war noch klamm vom Regen der Nacht. Unentschlossenheit machte sich in ihm breit.
Wohin sollte er sich wenden? Ohne seinen Rucksack, Waffen und Lebensmittel konnte er nicht sehr lange überleben! Er konnte nicht einfach zu Antaronas Höhle laufen, sein Gold aus dem Raum der tanzenden Schatten holen und mit der Kassette unter dem Arm zur Küste laufen. Wie weit würde er wohl kommen, bis Torbuks Reiter ihn aufgespürt hatten?
Ihm wurde klar, dass er zunächst einmal einen sicheren Unterschlupf finden musste, in dem er seine Sachen trocknen und in Ruhe seine nächsten Schritte überdenken konnte. War es möglich, heimlich des Holzers Haus zu beobachten, um in einem geeigneten Augenblick seinen Rucksack zu holen? Er verwarf diese Idee schneller, als sie ihm in den Sinn gekommen war. Niemals käme er dort ungesehen hinein und wieder heraus!
Gleichzeitig beschäftigte ihn noch eine andere Überlegung: War zu erwarten, dass Antarona ihn suchte? War sie bereit, ihn mit dem Geheimnis ihrer Höhle und den Hallen von Talris einfach so ziehen zu lassen? Für sie stand das Volk über allem. Wie weit würde sie gehen, um die Ival zu schützen? Finden würde sie ihn auf jeden Fall. Ein Blick in ihre Kristallkugel würde Sebastian verraten, wo immer er sich auch aufhielt!
Wo - immer - er - sich - aufhielt..? Sebastian ließ die Worte noch einmal durch seinen Kopf wandern. War diese Fähigkeit nur auf dieses Land, oder auf diese Täler begrenzt? Warum sah sie dann nicht, woher Sebastian wirklich kam? Interessierte es sie gar nicht, weil sie sich selbst nicht den Mythos vom Mann, den die Götter geschickt haben zerstören wollte? Fragen, auf die er wieder mal keine Antwort fand.
Seinem Bauchgefühl folgend, schlug Sebastian die Richtung zu den Bergen ein, die mit ihrer unnahbaren, himmelhohen Kette den Süden des Haupttals begrenzten. Bei der Wanderung mit Antarona über die Nordhänge hatte er viele Seitentäler gesehen, die bis weit in die Gletscherregionen hinauf reichten. Irgendwo ließ sich doch wohl ein Versteck finden, in dem er ungestört seine Gedankenwelt ordnen konnte!
Nicht einmal zwei Stunden vergingen, da stand Sebastian vor der Mündung eines Baches, der aus einem der südlichen Täler den Weg in den Mentiérbach fand. Allzu weit wollte er sich noch nicht von Antarona entfernen. Also änderte er abrupt seine Richtung im scharfen Winkel und folgte gleich diesem ersten Wildwasser, das ihn in eines der verschwiegenen Seitentäler führen würde.
Bis in den Vormittag hinein stieg Sebastian über die sanften Hügel grüner Weiden und wunderte sich über die Ausdehnung, die er von erhöhter Warte nicht so eingeschätzt hatte. Längst hatte er das Haupttal verlassen und stieg stetig höher. Links und rechts zogen sich steile Hänge hinauf, bewaldet, teilweise aber auch von nackten Felswänden durchzogen.
Aus Angst, sich in den unbekannten, steilen Waldhängen zu verlieren, hielt sich der einsame Wanderer immer in der Nähe des Baches. Wo sein Sprühwasser zu Tal schoss, säumten üppige Wiesen mit hoch stehenden Kräutern sein Bachbett. Oft zog sich eine Waldzunge bis an das Ufer des Gebirgsbaches heran und Sebastian musste sich mühsam einen Weg durch das Unterholz erkämpfen.
Einmal hörte er noch weit entfernt einen Hund bellen. Das Gefühl, von irgend Jemandem verfolgt zu werden, löste sich aber bald auf. Sebastian hörte nur noch die Stimmen der Natur. Vögel zwitscherten ungestört in den Bäumen, Insekten summten und zirpten tausendfach und der Wind strich mit leisem Rascheln durch die Wipfel naher Bäume. Über sich sah Basti ein Greifvogelpaar seine synchronen Kreise unter den Wolken ziehen.
Je höher er in das Tal vordrang, desto öfter riss die Wolkendecke auf und die Sonne gab sich für ein paar Minuten ein Stelldichein. Als wollte sie ab und zu nachschauen, dass sich der Wanderer unter ihr nicht in dem weiten Land verlor. Immer öfter und länger begleitete ihn ein Stück blauer Himmel, vor den sich dann aber wieder eine Wolke schob. Die sonnigen Abschnitte genügten aber, um Sebastians Kleidung trocknen zu lassen.
Am Nachmittag, die Sonne beglückte ihn mit immer größeren, wärmeren Wolkenlücken, endete das Weideland. Der Wald, der im Laufe des Tages immer näher an den Bach herangerückt war, schloss sich zu einer dunklen Wand aus Bäumen und schien das Tal damit abzuschließen. Als silbrige Ader schoss der Bach unter den Bäumen des Waldrandes hervor. Hier war der Weg zu Ende.
Sebastian drehte sich um und setzte sich auf einen aus dem hohen Gras ragenden Felsen. In sanften, abwärts geneigten Wellen breitete sich das Tal unter ihm aus. Ein riesiges, lang gestrecktes Weideland, das nur darauf wartete, dass ein mutiger Mann mit einer Hand voll Vieh herauf kam und es nutzte. Doch dieser Traum war zwischenzeitlich in weite Ferne gerückt.
Traurig talwärts blickend überlegte Basti, was er nun tun sollte. Den ganzen Tag war er hier herauf gelatscht und nun sah es so aus, als fände er nicht einmal einen Unterschlupf zum Schlafen. Und die Nächte wurden mittlerweile empfindlich kalt. Ja, nicht einmal eine Decke, oder ein Fell besaß er, mit denen er sich hätte vor niedrigen Temperaturen schützen können. Feuerzeuge hatte er in der Tasche; doch würde er nach dem Regen der letzten Nacht genügend trockenes Holz finden, das für ein wärmendes Lagerfeuer ausreichte?
Möglicherweise gab es weiter oben, über den bewaldeten Hängen noch versteckte Wiesen, die im Schein der Sonne den penetranten Duft von Kräutern frei setzten und von der Höhensonne getrocknete Plätze boten. Sebastian hatte aber nicht den Mut, diese zu finden und zu riskieren, sich in den unbekannten Wäldern und Schluchten zu verirren.
Er wollte bereits aufgeben und wieder kehrt machen, um weiter unten im Tal einen Unterschlupf zu finden, oder zu Antaronas Höhle zu gelangen. In der geheimen Grotte konnte er sich wenigstens in einem der seitlichen Gänge verstecken und zumindest trocken die Nacht überstehen. Doch sein letzter Blick zum Waldrand erhaschte etwas, das von einer Sekunde zur anderen seine Neugier weckte.
Aus einer scheinbar unbedeutenden Waldschneise lugten ein paar Hölzer hervor, die bei einem ungeübten Auge keine besondere Aufmerksamkeit erregt hätten. Sebastian fiel jedoch die gerade Anordnung sowie die Farbe auf. Ein blassgraues, rundes Holz ohne Äste und Zweige stak nahezu waagerecht hinter den Bäumen hervor und stützte sich auf ein vertikal frei stehendes, Holz gleicher Art. So etwas bastelte Mutter Natur allein nicht zusammen!
Augenblicklich war jegliche Lethargie aus Sebastians Geist gewichen. Er suchte eine geeignete Stelle und schritt auf wackeligen, nassen Steinen durch den Bach. Auf der anderen Seite stieg er den leicht geneigten Hang hinauf. Ein paar Minuten später gaben die Bäume den Blick auf eine kleine Wiese frei, die sich wie eine versteckte Bucht in den Wald schob. Sebastian war überrascht...
Da stand, aus rohen Baumstämmen zusammen gezimmert, eine kleine Hütte. In ihrer Form ähnelte sie der des Högi Balmer. Nur besaß diese hier keinen festgetretenen Vorplatz. Das Gras der Wiese reichte bis an die Hüttenwand heran. Sie schien verlassen, denn die Läden der Fenster waren verschlossen.
In einiger Entfernung des Blockhauses hatte jemand ein Viehgatter errichtet, ohne das Sebastian die Hütte niemals entdeckt hätte. Es war stellenweise zusammengebrochen, oder von beinahe mannshohem
Unkraut überwuchert.
Sebastian frohlockte. Ein Dach über dem Kopf! Diese Nacht würde er nicht nass werden! Voller Erwartung, welche Hinterhältigkeit er wohl im Innern des Häuschens wieder zu erwarten hatte, legte er den groben, verrosteten Riegel um und zog die Tür langsam auf.
Mit aller Kraft musste er ziehen, dann gab das Türblatt schwer nach. Knarrend und knackend ließ sich das alte Holz ruckartig in seiner Aufhängung bewegen. Staub rieselte aus den Fugen und uralte, eiserne Scharniere ächzten und widerstrebten dem unberechtigten Eindringen.
Innen war es stockfinster. Ein schwarzes Loch gähnte Sebastian entgegen. Er zögerte. Das ganze war ihm nicht geheuer. An zu viele Überraschungen hatte er sich in diesem Land schon gewöhnen müssen. Es war keine Schande, vorsichtig zu sein! Basti blickte sich nach einem Stück Holz um, das trocken genug war, um als Fackel seinen Dienst zu tun.
Als sich ihm weit und breit kein brauchbares Holz anbot, riss er einfach einen großen, abgespaltenen Span aus einem der Fensterläden. Ungeduldig hielt er sein Feuerzeug an dessen Spitze und war überzeugt, dass er sich seine Finger verbrannt hatte, bevor sich dieses unglückselige Stück Holz entflammen ließ. Unentschlossen fraß sich ein kleines Flämmchen den Span entlang, wurde größer, räucherte mächtig und versprach dann halbwegs zuverlässig zu brennen.
Die Fackel voran, betrat Sebastian die geheimnisvolle Hütte.
  Wichtiger Hinweis: Die Texte des Autors Frank Adlung, insbesondere die des Romans "Das Geheimnis von Val Mentiér", sind durch notarielle Hinterlegung urheberrechtlich geschützt. Ein Herunterladen und Ausdrucken ist nur für den privaten Zweck des Lesens gestattet. Kommerzielle Nutzung, öffentlicher Vortrag, oder Vervielfältigung und Verfälschung des Inhalts, sowie öffentliche Verbreitung ohne Genehmigung des Autors sind untersagt und werden zur Anzeige gebracht.
 
 
   
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