Das Geheimnis von Val Mentiér
 
18. Kapitel
 
Das Vermächtnis des Unbekannten
 
anzendes Licht breitete sich im Raum aus. Sebastian drang in eine graue und kalte Welt vor. Das Innenleben der Hütte schien unter einer Decke von Staub erstarrt. Es gab nichts farbiges. Jedes Einrichtungsstück, jeder Gegenstand, war mit einer Zentimeter dicken Staubschicht überzogen, als hätte jemand den ganzen Raum in eine graue Wolldecke gehüllt.
Sebastian sah auf den Boden. Wo seine Füße hintraten, hinterließen sie neben einer deutlichen Spur auch kleine Wölkchen, die sich aber sofort wieder legten. Die Hütte war offenbar vor vielen Monaten, wenn nicht sogar vor Jahren das letzte Mal betreten worden. Wenn er in diesem Refugium übernachten wollte, hatte er bis zur Dämmerung noch ein gutes Stück Arbeit vor sich.
Zunächst musste mal Licht herein! Von außen hatte Sebastian zwei kleine, geschlossene Fensterläden entdeckt. Mit erhobener Fackel tastete er sich an der Wand entlang. Mächtige Spinnenweben wurden ein Opfer des gierigen Feuers, flammten auf und vielen als schwarze Teilchen zu Boden. Basti machte sich Sorgen. Was, wenn der dicke Staub Feuer fing? Stand dann augenblicklich die ganze Hütte in Flammen?
Doch dazu kam es nicht. Sebastian fand das erste Fenster, verdeckt von einigen Seilen, die ordentlich zusammengebunden an der Decke hingen. Mit einem dumpfen Schlag vielen sie zu Boden, als er sie nur leicht anhob. Eine dichte, nach Schimmel riechende Staubwolke hüllte ihn ein und er hielt den Atem an. Verzweifelt versuchte er den verrosteten Riegel des Fensters nach oben zu drücken. Vergeblich. Dabei stieß er mit der Fackel gegen ein weiteres Seil, das sich ebenfalls der Schwerkraft überließ und sich mit noch mehr Staub zu seinem Artgenossen gesellte.
Nach Luft ringend stolperte Sebastian aus der Hütte. Eine graue Fahne flüchtigen Staubes begleitete ihn. So ging das nicht! Lauknitz dachte nach. Als erstes musste mal Durchzug her, um den gröbsten Dreck nach draußen zu bekommen. Aber wie? Für diesen widerspenstigen Riegel brauchte er eine Zange, einen Hammer, oder... Einen Stein!
Stolz auf seinen grandiosen Einfall ging Sebastian rasch zum Bach zurück und fischte einen rund geschliffenen Brocken aus dem kalten Gebirgswasser. Mit diesem primitiven Werkzeug, das ihm plötzlich wie die größte Errungenschaft der Menschheit vorkam, stürmte er die Hütte. Ungeachtet der erneuten Staubentwicklung ging er zielstrebig auf den Riegel los. Ein präziser Schlag von unten, das angerostete Eisen flog herum und das Fenster ließ sich aufstoßen.
Erleichtert beobachtete er, wie Staub und Spinnennetze nach draußen wehten. Sebastian Lauknitz eroberte seine eigene Hütte! Mit dem weichenden Dreck flutete Licht herein und enthüllte das zweite Fenster, an der gegenüber liegenden Wand. Dessen Riegel war nicht so verrottet, vermutlich, weil das Fenster zur Wetter abgewandten Seite lag. Nachdem auch dieser Fensterladen nach außen schwang, bestand die berechtigte, wenn auch vorsichtige Hoffnung, die Hütte wieder halbwegs bewohnbar zu bekommen.
Voll neuem Mut trat Sebastian aus der Tür und sah sich um. Ein feinblättriger Busch wurde das Ziel seines Interesses. Entschlossen zog er sein Bowiemesser aus dem Schaft seiner Beinlinge und schlug einen buschigen Zweig ab. Damit rückte er dem Staub in der Hütte auf den Pelz. Das Hemd bis über die Nase hoch gezogen, wedelte er den Jahrzehnte alten Dreck von Tisch, Stühlen und Regalen und bemerkte zufrieden, wie die durchziehende Luft den Staub hinaus wirbelte.
So sehr steigerte er sich in den Ehrgeiz hinein, die Hütte sauber zu bekommen, dass er seinen Kummer über Antarona schlicht vergaß. Eine wahre Putzwut packte ihn, welche auch die Tatsache nicht bremsen konnte, dass er bereits nach wenigen Augenblicken völlig eingestaubt und verdreckt war. Nun, der Bach war gerade mal einen Steinwurf von der neuen Behausung entfernt und das Wasser war sauber und klar! Dass es auch erbärmlich kalt sein würde, daran dachte er im Augenblick nicht.
Unter der Staubschicht einer halben Ewigkeit verbarg sich so Einiges. Als erstes befreite Sebastian verschiedene Gebrauchsgegenstände aus ihrer Mumifizierung. Irdene Teller, Becher und Schalen gab der Schmutz frei. Dazu allerlei Gerät, wie hölzerne Rechen, Hacken und Pflanzstöcke.
Über dem einfach gemauerten Kamin, den Lauknitz unter dem Staub zunächst für einen Schrank gehalten hatte, waren vier Schwerter aufgehängt. Sie waren vom Rost angefressen, nach gründlicher Überarbeitung jedoch durchaus noch recht brauchbar.
An der Wetter abgewandten Seite befreite Basti ein Bettgestell vom Staub. Es war aus rohen Hölzern gezimmert und stand mit dem Kopfende in der Raumecke. Das Fußende reichte fast bis an das Fenster heran. Wer immer es auch benutzt hatte, musste größer als Sebastian gewesen sein. Das Bett besaß großzügige Ausmaße. Eine Decke und ein großes Fell verbargen etwas, das sich darunter wölbte. Sicher einige Strohsäcke, die offenbar als Matratze gedient hatten.
Sebastian riss zunächst das Fell vom Schlaflager, ließ es herum schwingen und beförderte es in der gleichen Bewegung aus dem Fenster. Mochte das alte Ding draußen herumstauben! Dann zog er die von Motten angefressene Decke zurück. Gleichzeitig fuhr ihm der blanke Schrecken in die Glieder...
Sebastian fuhr so heftig zurück, dass er gegen Tisch und Stühle stieß, die laut polternd umfielen. Er verlor den Halt und landete ebenfalls im aufgewühlten Staub. Nach Atem ringend rappelte er sich hoch und stürzte nach draußen auf die Wiese. Ein paar Mal atmete er tief durch, bevor er sich wieder der Hütte zuwandte und auf die düsteren Öffnungen starrte. Wie von Geisterhand waberte der Staub aus Fenster und Tür, wurde vom leichten Wind erfasst und wie ein Bild gewordener Fluch davon getragen.
Was war das, was dort drinnen auf dem Bett lag und ihn mit schwarzen, leeren Augen und einem ledernen, grotesken Gesicht angestarrt hatte? Was auch immer es war, Sebastian glaubte nie im Leben etwas Schrecklicheres gesehen zu haben. Aber vor allem.., es lebte! Deutlich hatte er gesehen, wie sich Kopf und Arm bewegt hatten!
Aber wie konnte es noch leben, wenn es jahrelang in der Hütte unter einem Fell gelegen hatte und von einer fingerdicken Staubschicht bedeckt war? Alles mögliche schoss Sebastian blitzschnell durch den Kopf. Von Gespenstern über Zombies, bis hin zu Außerirdischen. Zweifelnd schüttelte er den Kopf. An solche Hirngespinste glaubte er nicht!
Während er immer noch die Tür der Hütte beobachtete, stieg erneute Skepsis in ihm hoch. An Drachen, Feuerelfen und Zauberschwerter hatte er auch nie geglaubt. Dennoch gab es sie.., zumindest in diesem Land! Warum nicht auch einen Untoten, der sich nun in seiner Ruhe gestört fühlte?
Sebastian verharrte und lauschte. Nichts rührte sich in der Hütte. Aber er hatte deutlich eine gruselige Gestalt auf dem Bett liegen sehen, die sich bewegt hatte! Oder narrte ihn wieder einmal seine Einbildung? War sein Geist mit all den Erlebnissen seit seinem Aufbruch ins Zwischbergental überfordert? War er am Ende doch einfach nur verrückt geworden?
Vorsichtig klopfte er sich den Staub von der Kleidung. Die kunstvolle Stickerei auf seinem Hemd kam zum Vorschein. Nein... Sebastian Lauknitz war nach wie vor bei klarem Verstand! Was er in der Hütte auch gesehen hatte, unterlag ebenso den biologischen und physikalischen Gesetzen dieses Planeten, wie er selbst! Was so lange unter Staub begraben lag, lebte definitiv nicht mehr!
Trotzdem suchte er sich im Gebüsch einen dicken Knüppel, bevor er die Hütte wieder betrat. Nur, um sich nicht die Finger schmutzig zu machen, redete er sich ein. Sein Gewissen wusste es besser. Er hatte Angst! Angst vor einem Toten.., vor Unerklärbarem.., oder vor der Wahrheit, die möglicherweise phantastischer ausfiel, als ihm lieb war?
Wenig später stand er wieder vor dem Schlaflager und dem mumifizierten Leichnam. Der Mann, der an dieser Stelle vor langer Zeit seinen Schöpfer gefunden hatte, trug noch seine Kleider. Die Sachen waren alt und schienen aus einer Zeit zu stammen, als elektrisches Licht noch Traum war. Es war aber auch keine Kleidung, wie das Volk sie trug.
Die Hose wies einen Schnitt auf, wie ihn Sebastian noch von seinem Großvater her kannte. Die Jacke mochte ebenfalls zwei bis drei Generationen überdauert haben. Sie bestand aus schwerem, grünen Filzstoff, der mit verzierenden Applikationen an Kragen und Seitentaschen bestickt war. Naturbelassene Hirschhornknöpfe zierten das Kleidungsstück und erinnerten Basti an eine alte Bayrische oder Tiroler Jägertracht.
Der Tote war nicht vollständig skelettiert. Dunkelgraue Haut überspannte seine Knochen, wie feines Leder und sein Kopf besaß noch ein paar Haare, die sich wirr und unordentlich an die ausgetrocknete Haut gelegt hatten, um ihrem Träger bis in die Ewigkeit treu zu bleiben. Die Augenhöhlen glichen schwarzen Löchern, die Sebastian eindringlich und furchteinflößend anstarrten. Sie waren eingefallen und sahen aus, als hätte jemand die Augen zum Zeitpunkt des Todes mit Gewalt in den Schädel gedrückt.
Seine Hände hatte der Tote wie zum Gebet auf seiner Brust gefaltet. Etwas Kantiges lugte darunter hervor, das halb in der Knopfleiste der Trachtenjacke verschwand. Seine Füße hingegen waren mit einem Tuch bedeckt, das einmal weiß gewesen sein musste. Die Zeit hatte es in einen fleckigen, braunen Fetzen verwandelt. Wahrscheinlich war der Verstorbene zum Zeitpunkt seines Ablebens mit einfachsten Mitteln auf seinem Sterbebett aufgebahrt worden.
Unschlüssig stand Sebastian vor der Leiche und überlegte, ob er es wagen konnte, die Ruhe des Toten zu stören. Möglicherweise war die Hütte aus eben diesem Grunde nicht mehr bewohnt worden. Jemand aber musste sie wie ein Grabmal in Stand gehalten haben, sonst hätten Wetter und Zeit kaum mehr als einen Haufen verrottetes Holz davon übrig gelassen. Folglich gab es jemanden, dem die Ruhe dieses Toten heilig war!
Andererseits erzählte ihm die fingerdicke Staubschicht, dass seit Langem niemand mehr das Innere dieser Behausung betreten hatte. Der Hüter dieses ungewöhnlichen Grabmals begnügte sich offenbar damit, die Hütte nur von außen vor dem Verfall zu bewahren. Aber warum? Hatte er Angst, das Gemach des Toten zu betreten? Fürchtete der Grabpfleger die Rache des Bestatteten?
Sebastian brauchte dringend eine schützende Unterkunft für die Nacht. Er zögerte jedoch, diese Hütte in Besitz zu nehmen. Dabei fürchtete er als rationell denkender Mensch weniger den Toten, als den Zorn des vielleicht noch lebenden Grabwächters.
»Im Zweifelsfall für die Lebenden!« Sebastian sagte diese Worte feierlich vor sich hin, wohl um sich selbst einzureden, dass er nichts Böses tun wollte und um den Verstorbenen um Vergebung zu bitten; nur für den Fall, dass es nach dem Sterben doch noch mehr gab, als nur eine verwesende, biologische Masse.
Mit ängstlichem Respekt, der im absoluten Gegensatz zu Lauknitz Auffassung über Leben und Tod stand, stubste er den Leichnam vorsichtig mit dem Knüppel an.
Sofort rutschte der Arm von der Brust der Mumie herunter und blieb pendelnd neben dem Bett hängen. Wie bei einem Klappmesser fiel der Unterarmknochen aus dem Ärmel der Jacke, schlug mit einem Ende auf den Boden und blieb mit dem Rest im Kleidungsstück hängen. Die Hand des Toten blieb nach wie vor trotzig auf seiner Brust liegen, mit der anderen im Gebet verschränkt, als würde sie sich dem eindringenden Grabschänder widersetzen.
Sebastian blickte entsetzt auf den Toten. Die Knochen gehorchten lediglich der Schwerkraft! Dennoch empfand er es fast wie eine Warnung. Seltsam... Trotzdem er nicht an Geister, Seelenwanderung und ein Leben nach dem Tod glaubte, hatte ihm das Dasein in einer gläubigen Gesellschaft einen gehörigen Respekt vor den Verstorbenen beigebracht. Seinen Umgang mit dem Tod bestimmte er nicht allein! Die Gesellschaft, in der er aufgewachsen war und in die er hineinintegriert war, prägte ihn mehr, als er zugeben wollte. Oder war es einfach nur die Achtung vor anders Denkenden?
Wie auch immer... Sebastian stellte sich die Aufgabe, den Toten ordentlich zu begraben. So musste er nicht mehr darüber nachdenken, ob er etwas Frevelhaftes betrieb. Seinem Respekt dem Glauben gegenüber hatte er dann genug getan! Dennoch... Ein eigenartiger Beigeschmack blieb!
Entschlossen, seine Entscheidung umzusetzen, stöberte Sebastian die Geräte der Hütte durch, bis er etwas Brauchbares fand, das sich mehr schlecht als recht zum Graben eignete. Das Ding, das er nach endlosem Suchen in der Hand hielt und zweifelnd betrachtete, war der Versuch irgend eines Handwerkers, einen Spaten herzustellen. Das einfache Eisenblatt war mit einer Art Hufnägel auf einen viel zu dicken Hartholzstiel geschlagen worden.
Mit dem Gerät, das viel zu schwer war, um vernünftig damit arbeiten zu können, ging Sebastian um die Hütte herum. Ein ordentliches Grab befand sich stets hinter einer Hütte. Das hatte er mehr als einmal in Wildwestfilmen gesehen. Also konnte der Platz nicht unbedingt falsch sein!
Prüfend betrachtete Sebastian das Gelände hinter dem Holzhaus. Die Wiese mit hoch stehendem Gras zog sich etwa hundert Meter bis zum Waldrand hinauf. Ungefähr in der Mitte sah er eine Gruppe kleinerer Felsen, die der Frost wohl irgendwann aus den Felswänden gelöst und der Gravitation überlassen hatte. So würde der Tote auch noch seinen Grabstein bekommen! In diesem Gedanken marschierte Sebastian auf die Steingruppe zu.
Verdutzt stand er Minuten später im Kreise der Felsen, die beinahe einen steinernen Ring bildeten. An dem größten der Steine war ein hölzernes Kreuz aufgestellt. Obwohl ihm Regen und Sonne schwer zugesetzt hatten, war es noch gut erhalten und stand windschief hinter einigen aufgeschichteten Steinbrocken, die das hohe Gras beinahe überwuchert hatte. Hier, an dieser Stelle, in einem Land, das keine Kirchen kannte, war jemand in einem christlichen Grab beerdigt worden!
Kaum wurde Sebastian die Tragweite seiner Entdeckung bewusst. Augenblicklich zählte für ihn und sein Gewissen nur die Tatsache, eine Grabstelle für den unbekannten Toten gefunden zu haben, dessen bescheidene, hölzerne Gruft er zum Schutz vor Nacht und Wetter selbst benötigte.
Wer immer an dieser Stelle beerdigt war, er würde nun Gesellschaft bekommen! Sebastian wählte einen benachbarten Felsen aus und stieß den schweren, groben Eisenspaten in die Erde. Ein dumpfes Geräusch war der einzige Erfolg, den er damit erzielte. Das Ungetüm von einem Werkzeug drang nicht einmal fünf Zentimeter in den Boden ein. Das Ding war einfach zu stumpf, das Material zu dick und viel zu verrostet!
Unter stillen Flüchen schmetterte er das unförmige Grabgerät gegen den nächsten Felsen. In der gleichen Bewegung schnaubte er zur Hütte zurück und griff sich eine langstielige Hacke, die einem alten, ägyptischen Feldwerkzeug glich. Damit ging es leidlich. Dennoch brauchte Sebastian zwei geschlagene Stunden, bis das Grab wenigstens auf einen knappen Meter ausgehoben war.
Schwitzend stand er da und begutachtete sein Werk. Es war tief genug! Da es sich nicht um eine frische Leiche handelte, die vielleicht einen Felsenbären oder Monsterhund zum Frühstück hätte einladen können, betrachtete er seinen Aushub als beendet. Zufrieden lenkte er seine Schritte zur Hütte, um den zu Bestattenden zu holen. Auf dem Rückweg nahm er das verstaubte Fell, welches er aus dem Fenster geworfen hatte, schüttelte es gründlich aus und nahm es mit.
Er breitete es vor dem Bett aus und schob anschließend die Mumie mit einem Stock über die Bettkante. Es war nur ein Toter, der vor wer weiß wie langer Zeit in das Reich der Toten gegangen war, doch Sebastian scheute sich, ihn mit den Händen anzufassen. Das Skelett fiel von der Kante und blieb als chaotischer Haufen auf dem Fell liegen. Nur der Kopf schien sich zu weigern, in die neue Ruhestatt umzuziehen. Er rollte trotzig davon und blieb unter dem Tisch liegen.
Sebastian wurde allmählich ungeduldig, denn er hatte schon zu viel Zeit mit dieser Leiche vertan. Er packte den Tisch und wollte ihn mit einem Ruck beiseite schieben. In diesem Moment ertönte ein knackendes Geräusch und die Dielen unter seinen Füßen gaben plötzlich nach. Augenblicklich stand Sebastian in eine Staubwolke gehüllt, einen haben Meter tiefer. Der Schreck, der in seine Glieder gefahren war, ließ seine Knie zittern.
Vorsichtig setzte er sich auf die entstandene Kante und zog jedes Bein einzeln aus dem großen Loch, das nun den Hüttenboden zierte. Das Holz war wohl über die Jahre morsch geworden. Kein Wunder, dass es irgendwann aufgab, den Belastungen zu trotzen. Der Staub hatte sich verzogen und Sebastian blickte sich um. Der Schädel des Toten war verschwunden!
»Der wird doch wohl nicht etwa...«, fluchte er laut vor sich hin. Doch! Das Haupt der unbekannten Mumie war in das Loch im Boden geplumpst. Großartig! Nun sollte er auch noch hinter einem ausgetrockneten Schädel her krabbeln! Von wegen! Entschlossen sah sich Sebastian um und ergriff dann einen kräftigen Stock, der in der Ecke beim Werkzeug stand.
Vor dem gezackten Loch kniend, stocherte er im dunklen Zwischenraum herum. Plötzlich stieß sein verlängerter Arm gegen etwas, das auf gar keinen Fall der Kopf des Toten sein konnte. Das Etwas gab ein hohles, hölzernes Geräusch von sich. Sebastian schob es in den einfallenden Lichtkegel und staunte nicht schlecht.
Zwischen trockenem Laub und Dreck stand eine etwa zwanzig mal dreißig Zentimeter große, ungefähr handbreit hohe Holzkiste. Neugierig zog Sebastian das Kästchen aus der Finsternis heraus. Der widerspenstige Kopf des Toten war erst einmal vergessen.
Um sie besser begutachten zu können, trug Sebastian die schlichte Kassette aus hartem, dunklen Holz auf das Fensterbrett. Sie war hoffnungslos von Wurmstichen durchlöchert, aber immer noch massiv genug, um den Inhalt vor Sebastians Blicken zu verbergen. Ein völlig verrottetes, klotzartiges Schloss hing an einem ebenso vergammelten Beschlag. Behutsam schüttelte er den geheimnisvollen Kasten. Irgend etwas schweres, weiches rollte darin hin und her, schlug sanft gegen die Wände des Kästchens.
Sebastian verschob die Überlegung, wie er die Schatulle am ehesten öffnen konnte, ohne den Inhalt zu beschädigen. Die Sonne stand bereits so tief am Himmel, dass er befürchtete, die Leiche des Unbekannten nicht rechtzeitig vor Dunkelheit unter die Erde zu bringen. Kurz entschlossen stellte er seinen geheimnisvollen Fund auf den Tisch und machte sich daran, mit dem Stock den Schädel des Verblichenen ans Tageslicht zu holen.
Es gelang ihm nach einigen Versuchen, das gruselige Relikt in den Lichtkegel zu rollen. Anschließend musste er sein Ekelgefühl überwinden und das Leichenteil mit den Händen herauf heben. Der nötige Ansporn dazu erwuchs sich wohl eher aus seiner Neugier auf den Inhalt der Kassette, als aus praktischen Gründen.
Als Basti Gewissheit hatte, alle Teile des Toten auf dem Fell liegen zu haben, raffte er die Tierhaut zusammen und trug die Mumie zum Grab hinaus. Dort versuchte er vergeblich, die einzelnen Gliedmaßen so zu ordnen, dass einer würdigen Bestattung nichts mehr im Wege stand. Doch mittlerweile waren die Knochen und Kleidungsreste in ein heilloses Durcheinander geraten. Also warf er das ganze Fellbündel so, wie es war in die Grube.
Auf den Gedanken, sich der Grabschändung schuldig gemacht zu haben, kam Lauknitz erst gar nicht. In einem Land, wo Tote einfach ins Unterholz oder in Bergwerksstollen verfrachtet wurden, musste er wohl keine Rücksicht auf Ästhetik nehmen! Inzwischen gebot auch die tief stehende Sonne zur Eile. Wollte er seine Herberge für die Nacht noch halbwegs bezugsfertig bekommen, musste er sich sputen!
»Ruhe also in Frieden...«, sprach Sebastian leise, als er im goldenen Schimmer der sich verabschiedenden Sonne die letzte Hand voll Erde auf das Grab warf. Dann beeilte er sich zur Hütte zu kommen. Fieberhaft versuchte er den restlichen Staub nach draußen zu verbannen, und sich etwas Feuerholz zusammen zu suchen. Nachdem dies erledigt war, schlug er mit seinem Messer einige Tannenzweige von den nahe stehenden Bäumen und polsterte damit das Bettgestell aus.
Eine halbe Stunde später stand ein in einsamer Bergwelt gestrandeter Sebastian Lauknitz nackt auf der Wiese am Bach, schlug den Staub aus seiner Kleidung und wusch sich im eiskalten Wasser des Wildbachs, bis die Kälte begann, weh zu tun. Was er allerdings nicht bedacht hatte, wurde schlagartig zum Problem. Die Sonne, die seinen triefend nassen Körper hätte trocknen können, war hinter den Baumwipfeln verschwunden!
Sofort wurde es unangenehm kühl. Leichter Wind kam auf. Sebastian fror erbärmlich. Zähneklappernd raffte er in aller Eile seine Sachen zusammen und flüchtete in den Windschatten seiner neuen Behausung. Dort trocknete er sich mit seinem Hemd ab, das anschließend klamm über seinen Schultern hing. Wenigstens war er jetzt sauber, zumindest für die Verhältnisse eines Landes, in dem es keine Duschen gab.
Eigentlich hätte Sebastian nun zufrieden sein können. Er besaß ein Dach über dem Kopf, ein Bett und einen Kamin, der ihm Licht und Wärme spenden konnte. Doch das Loch im Hüttenboden störte ihn. In ihm bohrte das unerklärbare Bedürfnis, die Hütte, während er schlief, geschlossen zu wissen. Jedes Tier, das die Größe eines Hundes besaß, konnte auf diesem Weg eindringen und über ihn herfallen.
Seine Blicke blieben am Tisch hängen. Es war zwar keine sehr große Tafel, aber das Ding war stabil und schwer. Kurzerhand drehte Sebastian das Möbelstück auf die Platte und schob es über das Loch. Zum Test trat er vorsichtig mit dem Fuß darauf. Die Tischplatte lag fest über dem eingebrochenen Boden.
Endlich konnte sich Basti mit der geheimnisvollen Kassette beschäftigen. Er setzte sich auf das Bettgestell, das selbst nach so langer Zeit noch erstaunlich stabil war und betrachtete sein Fundstück von allen Seiten. Es wäre ein Leichtes gewesen, das Kästchen mit einem faustgroßen Stein einfach zu zertrümmern. Doch er befürchtete, dabei den Inhalt zu beschädigen.
An Schloss und Beschlägen hatte erfolgreich der Zahn der Zeit genagt. Sebastian zog sein Bowiemesser und setzte einen gezielten, kurzen Hieb mit dem Knauf auf das Schloss. Mit einem lauten Klappern fiel es zu Boden. Der ganze Beschlag hatte sich mitsamt des Vorhangriegels gelöst. Das Kästchen war offen!
Beinahe feierlich hob Lauknitz den Deckel an. Mit leisem Knacken widerstrebten die Scharniere der ungewohnten Bewegung. Erwartungsvoll bog er die Abdeckung bis nach hinten auf starrte auf das Geheimnis, das nun keines mehr war.
Vier kleine, mit Lederschnüren gebundene Päckchen fielen Sebastian als erstes ins Auge. Sie waren kaum größer als die Hand eines Kindes und bestanden aus einer Art Leder, oder mit Öl beschichtetem, festem Papier. Darunter schien nur noch Papier den Boden des Kästchens zu bedecken. Vorsichtig nahm Sebastian die kleinen Bündel aus der Kassette und legte sie neben sich auf das Tannengrün des Bettgestells. Drei der Päckchen waren für ihre Größe recht schwer, während das dritte ungewöhnlich leicht wog.
Schon wollte er das Kästchen achtlos auf den Fußboden stellen, als das Papier im Schatullenboden seine Aufmerksamkeit erregte. Es handelte sich um große, gefalzte Blätter, die auf der Rückseite durch aufgeleimten Stoff verstärkt waren. Das Papier selbst war leicht vergilbt und Sebastian wunderte sich, dass es ihm nicht sofort in den Händen zerfiel.
Neugierig faltete er die Bögen auseinander. Auf einem war mit einer bräunlichen Tinte oder Farbe ein seltsames Gebilde gemalt und mit den Schriftsymbolen des Volkes versehen worden. Basti drehte das Papier hin und her, konnte aber mit der skurrilen Form dieser Zeichnung nicht viel anfangen.
Enttäuscht nahm er sich den nächsten Papierbogen vor. Auf diesem war deutlich eine Karte zu erkennen. Obwohl auch diese mit den Zeichen der Ival beschriftet wurde, waren deutlich Flüsse und Seen, Berge, Täler und sogar Ansiedlungen zu erkennen. Diese sehr detaillierte Karte war mit der gleichen Tinte gezeichnet, wie das Gebilde auf der ersten. Sebastian drehte das Papier zweimal, dann war er sich sicher. Auf seinen Knien lag eine ausführliche Landkarte Antaronas Heimat!
Allmählich konnte Sebastian Antaronas See erkennen, die Dörfer des Val Mentiér, sowie die Küste Volossodas und die Insel Falméra. Doch allmählich begannen seine Augen zu tränen. Die Sonne war bereits seit geraumer Zeit untergegangen und hatte das Tageslicht der Dämmerung geopfert. Im diffusen Halbdunkel der Hütte konnte Sebastian seine Augen anstrengen, so gut er wollte, sehen konnte er nicht mehr viel. Und den Komfort einer Öllampe schien diese Behausung nicht zu kennen.
Enttäuscht faltete er die Karten wieder zusammen und verstaute sie genauso in der Holzkiste, wie er sie vorgefunden hatte. Sie würden ja nicht weglaufen! Am Morgen, wenn der Feuerball einen neuen Tag begrüßt, konnte er immer noch die Einzelheiten dieser Dokumente studieren. Dafür widmete er seine Aufmerksamkeit nun den vier Päckchen.
Sebastian musste sich nicht die Mühe machen, die Lederschnüre aufzuknoten. Sie waren im Laufe der Zeit so brüchig geworden, dass er sie nur zu berühren brauchte und sie fielen in kleinen Teilchen ab. Als erstes wickelte er ein winziges, in grünes Leder gebundenes Büchlein aus dem Ölpapier. Deckel und Rückseite waren mit Blumensymbolen geprägt. Die Seiten aus grobem, dicken Papier waren mit den Zeichen der Ival voll geschrieben, die Basti nicht deuten konnte.
Die drei anderen, schweren Päckchen enthielten jeweils eine Art Münzstempel aus Bronze oder Messing, in die verschiedene Wappen eingeschnitten waren. Sie maßen vier bis acht Zentimeter in der Höhe. Es waren außerordentlich feine Arbeiten und offensichtlich handwerkliche Unikate. Ein Stempel, der ein gekröntes Wappen mit zwei Schwertern zeigte, bestand vollständig aus Metall, das von einer dunklen Patina überzogen war. In seinen reich verzierten Schaft war eine kleine, graue Marmorkugel eingearbeitet.
Ein anderer Stempel, der ein behelmtes Wappen mit vier Sternen aufwies, besaß als Griffstück eine grüne, ebenfalls marmorierte Kugel. Der Griff des dritten Wappenstempels war aus einem rauen blauweißen Stein gefertigt. Dieses Wappen trug eine Krone im unteren Teil des Schildes. Das konnte Sebastian gerade noch erkennen. Weitere Details blieben ihm wegen der zunehmenden Dunkelheit verborgen.
Gewissenhaft wickelte er die einzelnen Stücke wieder in das Ölpapier und verstaute sie in dem Kästchen. Am Tag wollte er sie sich noch einmal genauer ansehen! Im Augenblick war ihm wichtiger, Tür und Fenster zu schließen und den Kamin in Gang zu setzen. Selbst in der Hütte wurde es inzwischen spürbar kühler.
Außerdem stellte sich ein alter Freund ein, der ihn immer wieder begleitete, seit es ihn in dieses Land verschlagen hatte. Der Hunger! Sebastian besaß nichts, das diesen Störenfried in seinem Bauch hätte besänftigen können. Auch das Feuer bekam er nur zögernd in Gang und befürchtete schon, sein Feuerzeug würde ihm den Dienst versagen.
Zu guter Letzt fiel es ihm wie Schuppen von den Augen, dass er zwar ein, den Umständen entsprechend bequemes Bett hatte, jedoch nichts, womit er sich hätte zudecken können. Plötzlich wurde ihm bewusst, wie sehr ihm sein Rucksack fehlte! Aber der stand im gut beheizten Haus des Holzers. Vermutlich durchstöberte dieser Tark gerade in diesem Augenblick Sebastians Eigentum! Das einzige, das ihn in diesem Moment beruhigte, war die Tatsache, dass seine Kassette mit den Goldmünzen in Antaronas Höhle verborgen lag.
Um in der Nacht nicht frieren zu müssen und keine Erkältung zu bekommen, schob Sebastian kurz entschlossen das Bett vor den Kamin. Er glaubte, je näher er dem Feuer war, desto wärmer würde er sich fühlen. Die Praxis sah anders aus. Seine der Feuerstelle zugewandte Seite glühte, während der abgewandte Körperteil fror. Drehte er sich um, wiederholte sich das Spiel. Schlief er ein, brannte das Feuer herunter und spendete gar keine Wärme mehr. So verbrachte er eine Nacht zwischen Herumwälzen im Halbschlaf und Holz nachlegen.

Als endlich der neue Tag hereinbrach, fühlte sich Sebastian zerschlagen und todmüde. Wie betrunken wankte er vor die Hütte. Wie zur Entschädigung kündigte sich bestes Wetter an. Unter strahlend blauem Himmel erwachte die Sonne und ließ die höchsten Spitzen der Felswände aufleuchten. Doch unten im Tal, bei der Hütte, überzog ein leichter Bodenfrost das Gras. Es würden noch Stunden vergehen, bis die Sonnenstrahlen den Grund des engen Tals erreichen und die Luft erwärmen konnten.
Missmutig kehrte Sebastian in die schützenden vier Wände zurück, legte noch einmal Holz nach und rollte sich auf dem Bettgestell zusammen, um der Kälte eine möglichst geringe Angriffsfläche zu bieten...
Irgendwann erwachte Sebastian, weil sich sein Rücken wie gelähmt anfühlte. Der Versuch, sich auszustrecken, wurde von seiner Wirbelsäule mit einem viehischen Schmerz quittiert. Benommen rollte er sich vom Bett herunter und setzte sich auf die Kante. Erinnerungen sickerten nur allmählich in seinen Kopf zurück. Zumindest aber musste er nicht mehr frieren.
Verwundert nahm er die angenehme Temperatur zur Kenntnis. Das Feuer im Kamin war erloschen. Trotzdem war die Kälte verschwunden, die in der Nacht an seinen Gliedern gezehrt hatte. Mit neuer Hoffnung im Herzen und knurrendem Magen trat Basti vor die Hütte.
Gleißendes Sonnenlicht lag auf den Wiesen und ein angenehm warmer Wind empfing ihn. Der Sommer war offenbar noch einmal zurückgekehrt. Ohne dass es ihm bewusst geworden war, musste er noch einige Stunden geschlafen haben. Der glitzernde, weiße Reifüberzug, der noch am frühen Morgen die Wiese zierte, war verschwunden. Statt dessen schwirrten Tausende von Insekten umher und bevölkerten die vielfältige, bunte Flora der Alpweiden.
Ein Duft von Kräutern und Nadelholz lag in der Luft. Die krassen Temperaturunterschiede zwischen Tag und Nacht waren für Sebastian ungewohnt. Vermutlich heizten sich die hohen Felswände des schmalen Tals bei direkter Sonneneinstrahlung derart auf, dass der Talboden wie ein Backofen wirkte. Aber ebenso schnell kühlte es sich am Abend wieder ab, wenn nur ein kleines Lüftchen wehte, das die Wärme davontrug. Von den Gletschern hoch oben floss dann die kühlere Luft herab und der Backofen wurde zum Eisschrank.
Doch jetzt, im Licht des Tages, hätte Sebastian zufrieden sein können, wenn nicht der Hunger immer stärker in sein Bewusstsein gedrungen wäre. Er hatte nur noch zwei Alternativen. Entweder kehrte er wieder zum Holzer zurück, oder es gelang ihm, sich aus der Natur mit warmer Kleidung und Nahrung zu versorgen. Letzteres hatte er nie gelernt.
Immer deutlicher wurde Sebastian vor Augen geführt, dass er in einer romantischen Welt gefangen war, die so gar nichts von der Romantik besaß, wie sie in seiner Vorstellung existierte. Basti Lauknitz war gewohnt, einen Einkaufsmarkt an der nächsten Straßenecke zu wissen, in dem er sich mit allem Nötigen zur Befriedigung seiner Bedürfnisse eindecken konnte. In diesen Tälern musste er die simpelsten Überlebensstrategien selbst erlernen und jeden Artikel seiner Grundbedürfnisse physisch und geistig unter härtesten Bedingungen erarbeiten.
Inzwischen war er wieder an dem Punkt angelangt, an dem er bereits war, als er Antarona das erste Mal getroffen hatte. Sie brachte ihn in ihre Gesellschaft, die ihm, auch wenn sie noch so primitiv erschien, zumindest ein Überleben ermöglichte. Allein und auf sich gestellt, musste er verhungern, weil er nie gelernt hatte, ohne den Schutz und die Vorzüge einer hoch technisierten Gesellschaft zu überleben.
So bitter ihm die Wahrheit auch ins Gesicht sprang, er musste sich erniedrigen und zum Hof des Holzers zurückkehren. Er musste um Nahrung betteln! Diese Welt hatte mit seinem bisherigen Leben so wenig gemein, wie ein Kamel mit einem Fisch. Er besaß Kenntnis von dem größten Goldschatz der Menschheit, der in nur wenigen Kilometern Luftlinie vor sich hin schlummerte und mit dem er jede Lebensmittelmarktkette kaufen konnte, hatte aber nicht einmal einen trockenen Kanten Brot, um seinen ärgsten Hunger zu stillen!
Sebastian saß vor der Hütte des Unbekannten auf einem Stein in der Sonne und überlegte. Konnte er einfach in das Haus des Holzers spazieren und so tun, als sei nichts gewesen? Würde Antarona ihn einfach seinen Rucksack holen und unbehelligt ziehen lassen? Er hatte ihr Schwert unbrauchbar gemacht und kannte ihr Versteck, dass sie wie etwas Heiliges hütete. Er malte sich aus, was geschehen würde, wenn Tark ihn ernsthaft in die Mangel nahm.
Eine andere Überlegung war, sich heimlich auf Balmers Alm zurück schleichen. Er konnte sich eine kurze Zeit lang in dem versteckten Hochtal verbergen und von Högi Balmers Vorräten leben. Wenn er es geschickt anstellte und sich nur das Nötigste nahm, würde der Alte mit etwas Glück eine ganze Weile brauchen, bis er bemerkte, dass sich jemand an seinen Vorräten bediente. Vielleicht würde ihn der Alte ja auch mit offenen Armen empfangen?
Das einzige Problem an seiner ganzen verfahrenen Situation war, dass er Antarona noch immer liebte und dass er den Weg zu Högi Balmer zurück ohne Nahrung unmöglich schaffen konnte. Außerdem musste er seine Kassette mit den Goldmünzen aus Antaronas Höhle holen, bevor ihr irgend ein Mittel einfiel, ihm den Zugang zu verwehren.
Einen frevelhaften Gedanken an die Hallen von Talris verwarf Sebastian sofort wieder. Ohne Geräusche zu verursachen, war an das Gold dort oben nicht heran zu kommen. Und wie die geheimnisvollen Mächte der Götter darauf reagierten, hatte er am eigenen Leibe erlebt!
Mit einem Mal fiel Sebastian wieder die Karte ein, die er Tags zuvor unter dem Fußboden der Hütte gefunden hatte. Möglicherweise eröffnete ihm dieses alte Papier noch eine andere Alternative! Bevor er eine Entscheidung traf, wollte er genau wissen, welche Optionen ihm dieses Land bot.
Basti wollte gerade aufstehen, um das Kästchen mit den Karten und den Münzstöcken zu holen, als etwas an sein Ohr drang, das ihn augenblicklich in der Bewegung erstarren ließ. Talwärts, noch ziemlich weit entfernt, vernahm er das Bellen von Hunden. Das hatte ihm noch gefehlt!
Vermutlich kam der heimliche Pfleger des Grabmals herauf, um die Hütte zu inspizieren. Wie dieser reagieren würde, wenn er feststellte, dass sich ein gestrandeter Fremder darin eingenistet hatte, konnte er sich nur allzu gut ausmalen. Wie man in diesen Tälern mit Menschen umging, die man als Feinde betrachtete, hatte er bereits festgestellt.
Gehetzt blickte sich Sebastian um. Wie viel Zeit blieb ihm noch? Am Beispiel von Balmers Hunden Reno und Rona hatte er gelernt, dass sie schneller auftauchen konnten, als einem lieb war. Natürlich wollte er unter gar keinen Umständen das Opfer ihres Jagdtriebes werden.
Eilig huschte er in die Hütte und schnappte sich das gefundene Kästchen. Auf die Enthüllungen der entdeckten Landkarte wollte keinesfalls verzichten. Diese Karte konnte über Leben und Tod entscheiden! Dabei hoffte er, dass er diesem Papierstück nicht irrtümlich mehr Bedeutung beimaß, als ihm zukam.
Das Kästchen erwies sich als ziemlich sperrig. Basti musste es in den Händen tragen, denn in diesem Land schien es weder Rucksäcke, noch Plastiktragetaschen zu geben. In der ganzen Hütte fand sich nichts Brauchbares, in das er hätte die Schatulle verschwinden lassen können. Kurz entschlossen zog er sein Hemd aus und knotete die beiden Karten und die Münzstempel darin ein. Anschließend band er sich alles mit den Ärmeln um die Hüfte.
Dann zog er die Tür zu und beeilte sich, zum Bach zu gelangen. Er hoffte, die Hunde würden seine Witterung verlieren, wenn er sich einige hundert Meter im Wasser fort bewegte. An die Temperatur von Gebirgsbächen dachte er nicht. Die riefen sich schneller in Erinnerung, als er vermutete.
Sebastian hatte kaum den Waldrand erreicht, da waren seine Füße bereits gefühllos, nachdem sie ihm zuvor schmerzhaft mitgeteilt hatten, dass sie Gletscherwasser nicht mögen. Nach nur wenigen Metern war er gezwungen, auf dem Waldboden weiter zu gehen. Dennoch versuchte er die verfolgenden Vierbeiner in die Irre zu führen, indem er mehrmals das Ufer wechselte. Mit bescheidenem Erfolg, wie sich herausstellte, denn das Gebell kam ungehindert näher.
Als letzten Ausweg wusste sich Sebastian nicht anders zu helfen, als den Bachlauf zu verlassen und zu versuchen die nahen Felswände zu erreichen. Hunde konnten nicht klettern, das wusste er definitiv! Er brauchte gerade mal eine Viertelstunde, dann war sein Weg zu Ende. Der Wald hörte einfach auf, als hätte ihn jemand mit einer riesigen Sense abgeschnitten. Eine steile, kurzgrasige Wiese zog sich etwa fünfzig Meter bis zu den ersten Felsen hinauf. Mächtige Steinblöcke bevölkerten das Rasenstück und zeugten davon, wie Witterungseinflüsse an den senkrechten Steinwänden wirkten.
Wie aus dem Boden gewachsen erhoben sich die felsigen Fluchten, ließen nur auf Bändern und Absätzen Gras und kleine Bäumchen gedeihen. Sebastian bot sein ganzes Können als Alpinkletterer auf, um rasch viele Höhenmeter zwischen sich und die Hunde zu bringen, die er bereits sehr nahe hören konnte. Inzwischen wurde ihr aufgeregtes Gekläffe vielfach von den Felsen zurückgeworfen.
Gleich am Fuße der sonnigen Wand entdeckte er einen Riss, der schräg nach oben führte und an einem schmalen Sims endete. Zwei Meter rechts davon zog sich ein Kamin hinauf. In ihm überkletterte Basti zwei Absätze und steckte dann erst einmal fest. Der Kamin mündete in ein fast senkrechtes Couloir, das nur wenig Halt bot und brüchigen Fels aufwies. Ohne Sicherung genügte in diesem Gelände ein einziger Fehltritt und die Sache mit den Hunden hatte sich erledigt!
Skeptisch begutachtete Sebastian die beiden Kanten links und rechts, die nach einigen Metern wieder in die Wand hinaus liefen. Die linke schien durch einige Absätze gegliedert, welche ein paar Griffe und Tritte versprach. Mit der rechten Hand in einem schmalen Riss verkeilt, reckte sich Sebastian mit geschlossenen Augen nach links hinüber und versuchte sich nur noch auf seine Fingerspitzen zu konzentrieren. Vorsichtig erfühlte er die Kante, tastete sich weiter hinauf, vier Zentimeter, fünf Zentimeter...
Endlich fand er Halt an einem vorspringenden Absatz, auf dem nicht einmal eine Tasse Platz gefunden hätte. Doch sie genügte für so viel Sicherheit, dass er nun mit seinem Fuß nach einem Tritt suchen konnte. Doch an jeder Stelle, die er versuchte, mit der Fußspitze zu belasten, bröckelte der Fels und drohte damit, den Kletterer aus der Wand zu werfen.
Bäche von Schweiß rannen Basti über das Gesicht, vereinten sich in seinen Augenhöhlen und verursachten beißend die Eintrübung seiner Sehkraft. Bei dem Versuch, das Gesicht am nackten Arm abzuwischen, verlor er beinahe den Griff, an dem sein Leben hing.
Jeden Zentimeter Fels betastete er mit den Zehenspitzen, bis er einen kleinen, unscheinbaren Vorsprung spürte, der gerade mal ausreichte, für einen Moment sein Gewicht zu entlasten. Doch das genügte, um die rechte Hand aus dem Riss frei zu bekommen, die inzwischen blutige Schrammen aufwies. Darum konnte er sich später kümmern.
Sebastian schwang den Arm über den Kopf und klammerte sich nun mit beiden Händen an den selben Griff. Er wusste, das sollte man niemals tun, wenn man nicht mit beiden Füßen genügend Halt hatte! In dieser Situation jedoch ignorierte er die lehrbuchmäßigen Regeln. Mittlerweile ging es nicht mehr darum, den Hunden zu entkommen, sondern, nicht abzustürzen.
Sein Fuß suchte indes jenseits der Kante den Fels ab. Endlich spürte er einen Riss, der genügte, um sich dagegen zu stemmen. Umständlich drückte er sich höher und bekam mit der rechten Hand einen Absatz zu fassen, der einem breiten Band vorgelagert war. Dieses war beinahe einen halben Meter breit, vorn mit Gras bewachsen und zur Felswand hin mit losem Schutt angefüllt.
Links zeigte sich ein aus der Wand ragendes Gratstück aus gut griffigem Fels, das Sebastian ein rasches Höherkommen versprach. Doch bevor er hinüber queren konnte, sah er plötzlich unten die Hunde aus dem Wald preschen. Zwei waren es und sie ähnelten sehr seinen beiden Freunden Rona und Reno. Inzwischen war Sebastian jedoch so weit in die Felsen hinauf gestiegen, dass er die beiden Tiere nicht genau erkennen konnte.
Er entschied sich, zunächst auf dem Felssims abzuwarten. Waren es Högi Balmers Hunde, so würde der Alte in der nächsten halben Stunde ebenfalls aus den dicht stehenden Bäumen hervor gehumpelt kommen. Zeigte sich am Waldrand aber ein Feind, so war er bereits hoch genug, um diesem leicht zu entkommen. Sebastian vertraute einfach darauf, dass in diesem Land kaum jemand mit seinen bergsteigerischen Fähigkeiten mithalten konnte.
Ganz sicher kam in dieser Gegend niemand auf den törichten Einfall, durch eine fast senkrechte Steinwand zu steigen, wenn nicht gerade sein Überleben davon abhing. Und Torbuks Soldaten schienen nicht einmal die Ausdauer zu besitzen, sich überhaupt in eines der Seitentäler des Val Mentiér vorzuwagen. Wohin diese Marodeure mit ihren Pferden nicht reiten konnten, dorthin bewegten sie sich selten, soviel hatte Sebastian mittlerweile begriffen.
Unten sprangen die beiden Hunde wild kläffend an der Felsbasis herum. Offenbar waren sie verärgert darüber, ihr Jagdwild nicht erwischt zu haben. Sebastian überlegte gerade, wie er sich auf seinem Wandabsatz unsichtbar machen konnte, als zwei Schatten über die Felsen huschten. Mit einem lang gezogenen Kroooh, Kroooh, segelten zwei schwarze Vögel vor seiner Nase vorbei, ließen sich im Aufwind abkippen und landeten elegant ein paar Meter von ihm entfernt auf dem Sims.
Tekla und Tonka! In diesem Augenblick wusste Sebastian, dass es nicht der alte Balmer war, der ihm folgte. Und wie zur Bestätigung trat weit unter ihm eine zierliche, dunkelhaarige Gestalt aus dem Wald. Antarona! Sie trug wieder ihren gewohnten Hüftschurz. Bewaffnet war sie lediglich mit ihrem Bogen und dem einfachen Messer. Also steckte ihr Schwert nach wie vor in dem Felsen, unweit ihres Vaters Anwesen.
Sebastian war auf so ziemlich alles vorbereitet, nur nicht darauf, dass ausgerechnet sein Krähenmädchen dort unten auftauchen würde. Noch viel weniger hätte er geglaubt, dass sie ihm allein gefolgt war. Oder wartete Tark bereits in der Deckung der Bäume darauf, über ihn her zu fallen? Dass Antarona ihn so schnell gefunden hatte, überraschte ihn indes weniger. Reno und Rona waren im Zusammenspiel mit Tonka und Tekla unschlagbare Fernaufklärer.
Die beiden Krähen ließen noch ein heiseres Krächzen erklingen, dann breiteten sie die Flügel aus und glitten in einem eleganten Bogen auf die Wiese, direkt zu Füßen ihrer menschlichen Freundin. Antarona musste nicht erst die Ankunft ihrer gefiederten Begleiter abwarten, um festzustellen, wo sich Sebastian befand.
Mit der Hand schirmte sie ihre Augen gegen die Sonne ab und sah zu ihm herauf. Dann hallte ihre Stimme durch die Felsen und er fuhr erschrocken zusammen. Die Felsen warfen den Ton vielfach zurück und wirkten dabei wie ein Verstärker.
»Was tut ihr dort oben, Ba - shtie?« Sebastian wusste zunächst nicht, wie er sich verhalten sollte. Hätte Antarona vor gehabt, ihn mit Gewalt daran zu hindern, noch höher zusteigen, so hätte sie ihn sicher ohne große Umschweife mit einem Pfeil aus der Wand geholt. Er zweifelte keinen Moment daran, dass sie trotz der großen Höhe, in der er sich befand, einen gezielten Schuss hätte anbringen können, wenn dies ihre Absicht gewesen wäre.
»Sucht ihr den Weg zu den Göttern?«, klang erneut ihre Stimme von unten herauf. Sebastian hatte nicht den Eindruck, dass sie ihm böse gesonnen war, oder vielleicht sogar wütend. Er konnte sich ihr Verhalten nicht erklären und war ziemlich verunsichert. Er hatte ihr Schwert in einen Felsen gerammt und war ohne ein Wort verschwunden. Zwangsläufig hatte er angenommen, zumindest eine ziemliche Standpauke von ihr zu empfangen. Doch Antarona schien es als ganz selbstverständlich anzusehen, dass er inmitten einer steilen Felswand herum stieg. Ihre Reaktion war, gemessen an der Situation, mehr als unlogisch.
Immer noch unentschlossen, was er nun tun sollte, tat Sebastian so, als suchte er einen Weg zu ihr hinab. Eigentlich wollte er nur Zeit gewinnen, um festzustellen, in welcher Stimmung Antarona war. Nahm sie ihm die Sache mit dem Schwert nicht weiter übel, dann konnte er damit umgehen. Doch war sie über seine Tat erzürnt, so musste er damit rechnen, gehörig von ihr gemaßregelt zu werden.
Was ihn ein wenig beruhigte, war die Tatsache, dass er von Tark weit und breit nichts entdecken konnte. Heimlich hegte Basti die Hoffnung, dass dieser Muskelmann gar nicht in der Nähe war. Das konnte dafür sprechen, dass ihm Antarona noch freundlich angetan war.
Außerdem waren da noch Rona und Reno. Hätte sie die Hunde mitgenommen, wenn sie ihm hätte einen Pfeil durch den Leib schießen wollen? Sie musste schließlich wissen, dass ihm die beiden Hunde nichts tun, ja mehr noch, ihn in jeder Situation beschützen würden.
Schließlich entschied er sich dazu, das Versteckspiel aufzugeben. Es machte wenig Sinn, in der Felswand hocken zu bleiben und darauf zuwarten, dass sich Antaronas tatsächliche Stimmung von selbst offenbarte. Und überhaupt... Fürchtete er sich nun schon vor jener Frau, die er liebte, mit der er gemeinsam durchs Leben gehen wollte, egal, in welchem Land?
»Warte einen Moment, ich komme herunter...« Sebastian versuchte seine Stimmlage ebenfalls gleichgültig klingen zu lassen, musste sich jedoch eingestehen, dass es lediglich bei einem peinlichen Versuch blieb.
Vorsichtig spähte er über die Felsen hinab, bemüht eine einigermaßen sichere Abstiegsroute zu finden. Hätte er ein Seil besessen, wäre es eine Sache von Minuten gewesen, zu seinem Krähenmädchen zu gelangen. So aber musste er sich wieder Griff um Griff hinabhangeln, bis er nach einer halben Ewigkeit vor Antarona stand. Er vermochte nicht zu sagen, wer von ihnen beiden den anderen erstaunter ansah. Sie standen sich gegenüber und weder sie noch er hatten den Mut, ein klärendes Gespräch zu beginnen.
Letztlich war es Antarona, die mit ihrer unkomplizierten Art den Anfang machte und die Situation rettete. Achtlos warf sie ihre Waffen ins Gras, ging auf ihn zu, legte ihre Arme um seinen Hals und küsste ihn. Sebastian stand immer noch stocksteif da, wusste nicht recht, wie er mit der neuen Lage umgehen sollte.
Antarona nahm ihm die Entscheidung ab. Sie zog sich an ihm hoch und schmiegte ihren warmen Körper an den seinen. Dann spürte er nur noch ihre langen Beine, die sich kräftig um seinen Leib schlangen, als wollten sie ihn auf der Stelle verzehren. Nun konnte auch Sebastian nicht mehr passiv bleiben.
Er griff in ihre Hüften und zog sie so fest an sich, dass ihr beinahe die Luft weg blieb. Einer solchen femininen Verführung konnte er nicht widerstehen, selbst nach ihrer Szene mit Tark nicht. Alle Ängste und Befürchtungen waren plötzlich wie weggewischt. Diese Frau konnte seine Sinne von einer Sekunde zur anderen völlig vernebeln. Er spürte ihre Lippen auf seinen, sog tief ihren betörenden Duft ein und fühlte sich schon wieder betrogen, als sie sich langsam von ihm löste.
»Ba - shtie, was tut ihr dort oben am Berg?«, fragte sie verwundert. Mit ratlosen Augen stand sie vor ihm, als hätte niemals etwas, oder irgend jemand zwischen ihnen gestanden. Die tiefen Seen ihrer Augen schienen ihn zu durchdringen und Sebastian wähnte sich ertappt, obwohl er sich rein gar nichts vorzuwerfen hatte. Ebenso verdutzt blickte er Antarona an.
So dumm konnte sie doch nicht sein, dass sie nicht inzwischen mitbekommen hatte, weshalb er plötzlich verschwunden war. Des Katz und Maus Spiels allmählich überdrüssig, wollte er ihr die Wahrheit sagen, jedenfalls beinahe.
»Na ja.., ich dachte, solange du mit deinem Mann mit dem gehörnten Helm beschäftigt bist, brauchst du mich nicht mehr. Da hielt ich es für eine gute Idee, mir mal die Seitentäler anzusehen... Vielleicht finde ich hier ja irgendwann einmal eine Frau, die mich wirklich liebt, ohne zwischendurch irgendwelche überzüchteten Muskelmänner abzuküssen. Dann ist es gut zu wissen, wo man ein Stück Land findet, auf dem man mit seiner Familie gut leben kann.« Er ließ in diesem Satz bewusst Eifersucht und Sarkasmus gleichermaßen mitschwingen, um Antarona eine Aussage bezüglich Tark’s zu entlocken.
»Ja, Ba - shtie.., vielleicht findet ihr einmal diese Frau, welche ihr sucht...«, antwortete Antarona plötzlich sehr kühl und ihre Augen bekamen einen traurigen Glanz.
»Ihr habt unsere Verbindung unter dem Schein der Elsiren vergessen?« fragte sie zurückhaltend, während ihr einige Tränen über die Wangen liefen. Sebastian verstand nun gar nichts mehr. Erst warf sie sich vor seinen Augen diesem halbnackten, in Felle gewickelten Riesen an den Hals und nun besann sie sich auf einem Mal wieder auf die Tatsache, dass sie, zumindest vor dem Gebot ihrer Götter, die sie so hoch schätzte, bereits so etwas wie verheiratet war. Und zwar mit ihm, Sebastian Lauknitz, dem Mann, der aus dem Reich der Toten kam und von den Göttern gesandt wurde!
»Nein...«, antwortete er mit fester Stimme und sah sie durch ehrliche Augen an, »...ich habe unsere Verbindung unter dem Segen der Elsiren nicht vergessen, denn es war für mich der schönste Moment meines Lebens. Aber du, mein Engelchen.., ich dachte du hast sie vergessen, oder nicht so ernst genommen. Oder wie sollte ich das einordnen, dass du dich gleich am nächsten Morgen dem erst besten, dahergelaufenen Mann an den Hals wirfst und mich völlig vergisst?« Antarona sah ihn entgeistert an.
Sebastian glaubte in diesem Augenblick, dass sie sich plötzlich zu recht ertappt fühlte und setzte gleich nach:
»Und das mit Nantakis.., ich meine, dass dein Schwert jetzt im Stein steckt, das hast du auch deinem sorglosen Umgang mit unserer Verbindung zu verdanken. Du hast meine ehrliche Liebe zu dir mit Füßen getreten.., ich war so enttäuscht und so wütend.., ich wusste einfach nicht mehr, was ich tat... Tut mir leid.., aber ich kann nun einmal nicht damit leben, dass die Frau, die mich liebt, und die ich liebe, und der ich vertraue.., dass diese Frau noch andere Männer neben mir liebt. So ist das, Punkt!«
Er hatte sich nach und nach in einen Rausch der Vorwürfe geredet und musste erst einmal Luft holen. Antarona sah ihn immer noch mit großem Staunen an. Sebastian befürchtete schon, dass sie ihren Verstand verloren hatte. Ihr Blick schien einfach durch ihn hindurch zu gehen und in ihrem schönen Köpfchen schien es heftig zu arbeiten.
»Tark...?«, fragte sie mit einem Mal verwundert und schüttelte langsam den Kopf, »...ihr meint Tark, Ba - shtie.., ist es das? Ihr seid erbost darüber, dass ich Tark umarmt habe, der sehr lange fort war, um das Tor zum Reich der Toten zu bewachen?« Ihr Blick hellte sich wieder auf, was wiederum in Sebastian Unverständnis auslöste.
»Ja, Ba - shtie, ich liebe Tark sehr...«, gestand sie ihm offen und für Sebastian brach nun vollends die Welt zusammen. Zunächst stand er da, wie vom Blitz berührt, dann schwanden ihm beinahe die Sinne und er musste sich ins Gras setzen, weil er befürchtete, dass ihm schwarz vor Augen wurde. Sein Kopf drehte sich und alle Geräusche schienen nur noch aus weiter Ferne an sein Ohr zu dringen.
»Ja, Ba - shtie, ich liebe Tark sehr...«, vernahm er wie durch eine unsichtbare Wand ihre Stimme sich wiederholen, »...wie eine Schwester ihren Bruder lieben sollte und es ihm zeigen sollte, wenn er nach vielen Zentaren zu seiner Familie zurückkehrt...«
In Bastis Kopf rauschte es so stark, dass ihre Worte eine Weile brauchten, um von seinem Ohr in die Windungen des Gehirns zu gelangen.
... wie eine Schwester ihren Bruder lieben sollte und es ihm zeigen sollte, wenn er nach vielen Zentaren zu seiner Familie zurückkehrt... Sebastian glotzte Antarona an, wie ein Erdmännchen eine Kobra, das nicht glauben wollte, im nächsten Augenblick in ihrem Maul zu verschwinden.
»Tark.., dieser Riese.., Tark ist dein Bruder? Du hast einen Bruder?«, fragte Basti ungläubig, mit dem Klang einer wiederkehrenden Hoffnung in der Stimme.
»Ba - shtie.., was ist mit euch.., ihr wisst, dass ich einen Bruder habe! Ich hatte es euch gesagt, als ich euch von meiner Mutter berichtet hatte, aus der Zeit, da ich noch ein Kind war. Wisst ihr es denn nicht mehr..? An dem Tag, da wir zu meinem Vater aufbrachen.., auf dem Felsen über dem See...« Antarona sah ihn zweifelnd, ja beinahe enttäuscht an.
Langsam dämmerte es Sebastian... Er erinnerte sich dünn, von ihr gehört zu haben, dass ihr Vater mit ihrem Bruder nach Quaronas fuhren und sie mit ihrer Mutter am See zurück ließ, weil ihm die Stadt für seine Frau und Tochter zu gefährlich erschien. Ihre anschließende Erzählung, wie sie ihr Schwert und den Stein der Wahrheit entdeckte, war für ihn so spektakulär gewesen, dass er die Tatsache, dass Antarona einen Bruder hatte, gänzlich überhörte.
Plötzlich wurde ihm einiges klar! Er war das Opfer seiner eigenen, übertriebenen Eifersucht geworden! Umständlich stand Sebastian aus dem Gras auf und blickte beschämt zu Boden.
»Es tut mir leid.., also.., dass ich so von dir dachte...«, brachte er stotternd hervor, »...und das mit deinem Schwert.., ich meine , mit dem Felsen.., wenn ich doch nur geahnt hätte...« Er kam nicht mehr dazu den Satz zu beenden. Mit einem Satz war Antarona bei ihm und hängte sich wieder wie eine Klette an seinen Körper.
»Oh, Ba - shtie - laug - nids.., Antaronas Herz springt vor Freude...«, flüsterte sie ihm heiß ins Ohr, dann zogen sich ihre Lippen gegenseitig an, als wären sie magnetisch geworden. Sebastian verlor wieder das Gleichgewicht und Sekunden später wälzten sie sich durch das warme, kurze Gras. Heiß und stürmisch küssten sie sich, vergaßen die Welt um sich herum und die großen Missverständnisse, die sie immer wieder behinderten, ein verbundenes, glückliches Paar zu sein.
Leidenschaftlich schloss er sie in seine Arme und sie küssten sich immer wilder und drehten sich im Gras, bis ihn Antarona mit den Schenkeln sanft auf den Boden drückte. Unwillkürlich, oder auch beabsichtigt, schmiegte sie ihren schlangengleichen Körper an ihn. Fast wie von selbst bewegte sie ihre Hüften dabei leicht hin und her und drückte ihren Schoß immer fordernder gegen sein Bein. Basti spürte, wie ihre knappe Lederkleidung verrutschte und ließ seine Hände über ihre entblößte Haut gleiten. Beide fühlten sie eine Welle der atemlosen Erregung in sich aufsteigen, sie waren wie elektrisiert.
Plötzlich schienen die Felswand, die Bäume, der Wind und jedes Geräusch hinter einem Vorhang aus sehnsüchtigem Verlangen zu versinken. Eng umschlungen lagen sie in der Sonne, während die Begierde in ihnen immer heftiger wurde und sie sich ihr hemmungslos hingaben. Nichts existierte mehr, als das überrollende Glücksgefühl, das die beiden Liebenden mit sich fort riss, in eine andere Welt...
Später, als ihre Sinne allmählich wieder Boden gewannen, nahm Sebastian ihren nackten, verletzlich wirkenden Körper in die Arme und gegenseitig streichelten sie sich zärtlich in eine unendliche Zeit, bis das Feuer der Sonne zu verlöschen drohte und sie sich genötigt sahen, die Nähe der kühlen Felswand zu verlassen.
Sie traten in den Schatten des Waldes ein und wie Geister, die sich aus den Bäumen lösten gesellten sich Rona, Reno, Tonka und Tekla zu ihnen. Sebastian deutete auf die beiden Hunde und die sie umkreisenden Krähen und bemerkte:
»Ich muss wohl nicht erst fragen, wie du mich gefunden hast, oder?« Er grinste seine Gefährtin offen an. Antarona schien aber mit ihren Gedanken ganz woanders zu sein. Sie ging erst gar nicht auf seine Bemerkung ein. Doch im nächsten Moment offenbarte sie ihm, was sie bewegte.
»Ba - shtie.., warum habt ihr geglaubt, dass die Verbindung unserer Herzen nicht so fest ist? Wieso habt ihr gezweifelt? Habt ihr die Zeichen der Elsiren vergessen? Habt ihr Nephtir vergessen, die Mutter der Bäume und der Wahrheit? Wisst ihr nicht mehr, was sie aus unseren Herzen gesprochen hatte? Weshalb seid ihr einfach fort gegangen, ohne ein Wort eures Herzens..?« Sie schüttelte unmerklich den Kopf als Zeichen ihrer Unverständlichkeit über sein Handeln.
Sebastian hielt an, nahm ihren Arm und drehte sie zu sich um. Er zog sie an den Hüften ganz nah an sich heran und blickte ihr tief in die Augen, um sicher zu gehen, dass sie die Ehrlichkeit seiner Worte sah.
»Tut mir leid, mein Engelchen, es tut mir wirklich aufrichtig leid, dass ich an deinen Gefühlen gezweifelt habe...«, begann er, »...aber in dem Land, aus dem ich komme, sind die Versprechen zweier Herzen, die sich lieben, oft nur für kurze Zeit ehrlich. Manchmal kommt es vor, dass sich ein Herz irrt und das andere gar nicht wirklich liebt, sondern nur geglaubt hat, dass es so ist...«
»Wie kann das sein, Ba - shtie? Wie soll ein Herz sich irren, wenn es Liebe fühlt.., wenn es lieber sterben möchte, als ohne das andere zu sein? Wenn ein Herz für das andere schlägt und mit ihm verbunden ist, dann kann es nicht zweifeln!« Sebastian war fasziniert von der klaren, unkomplizierten Sicht Antaronas. Offenbar war es aber die Anschauung einer unerfahrenen, jungen Frau, die wohl Erfahrungen im offenen Kampf auf Leben und Tod besaß, von den intriganten Sinnen und Fähigkeiten der Menschen jedoch noch nichts wusste.
Wie sollte er dieser unbefleckten Seele erklären, dass Menschen manchmal sogar Liebe vortäuschten, um ihre anderweitigen Ziele zu erreichen? Er versuchte es gar nicht erst. Vermutlich würde sie diese Erfahrung im Laufe ihres Lebens selbst irgendwann machen. Gleichzeitig aber hoffte er, dass es niemals dazu kommen würde!
»Du hast wie immer die Wahrheit gesprochen, mein Sternchen, verzeih mir, dass ich gezweifelt habe. Ein Herz sollte es fühlen und wissen, wenn es für immer mit einem anderen verbunden sein will und diese Verbindung nie in Frage stellen«, bestätigte er ihr. Dann küsste er sie zärtlich und versicherte:
»Nie wieder werde ich die Verbindung unserer Herzen vergessen oder den Glauben daran verlieren.., das verspreche ich dir!« Damit nahm er sie an der Hand und führte sie durch den Wald in die Richtung zu der Hütte des Unbekannten und war froh, dass sie nicht weiter nachfragte.
Die Sonne sandte ihre letzten Strahlen auf das Land, in das Sebastian Lauknitz gestolpert war, erreichte aber nicht mehr den Talboden. Ein rotes Lichtband lag zum Abschied des Tages auf den höchsten Zinnen der Felswände, die zu beiden Seiten das enge Tal begrenzten. Deutlich spürte Basti die kühlere Luft, die allmählich von den Gletschern herab drängte und unaufhaltsam jeden Winkel dieser Abgeschiedenheit eroberte.
Fröstelnd knüpfte er die Ärmel seines Hemdes auseinander. Er wollte es Antarona um die Schultern hängen, denn sie musste in ihrer Kleidung, die kaum etwas ihres Körpers bedeckte, um so mehr frieren. Mit einem leisen Geräusch fielen die Münzstöcke und Landkarten auf den Laub bedeckten Waldboden. An die hatte er gar nicht mehr gedacht!
»Was sind das für Dinge?«, fragte seine Begleiterin neugierig, als Sebastian die Teile aufhob. Während er sich die Karten unter den Arm klemmte, versuchte er die Päckchen mit den Bronzeteilen in seine Hosentaschen zu stopfen. Antarona sah ihn fragend an.
»Woher habt ihr das alles, Ba - shtie? Gaben euch die Götter diese Dinge, seid ihr deshalb in die Felsen gestiegen?«
»Nein...«, gab er offen zu, »...die Sachen stammen aus der Hütte unten am Bach! Kennst du die Hütte, die dort am Waldrand steht?« Forschend sah er Antarona an.
»Antarona hat das kleine Haus gesehen, als sie eurer Spur folgte, Ba - shtie. Das Haus kannte ich nicht... Wer wohnt darin, Ba - shtie?« Ihre Frage klang glaubwürdig und inzwischen bezweifelte er, dass überhaupt jemand im Tal von der Existenz der Hütte wusste.
»Na ja.., also, in der letzten Nacht hatte ich darin gewohnt...« Basti überlegte kurz, entschied sich dann dafür, ihr alles zu erzählen. Er wollte ihre gerade wieder entflammte Liebe nicht gleich mit neuem Misstrauen belasten. »...nachdem ich einen Toten darin gefunden hatte...«, fügte er nach ein paar Sekunden hinzu.
»Wer war er, der in das Reich der Toten ging...«, wollte sie wissen, »...habt ihr ihn getötet, Ba - shtie?« Sebastian legte im Gehen sein Hemd um ihren Oberkörper und erwiderte:
»Nein.., ich sagte doch, ich hatte ihn dort gefunden! Er muss eine sehr lange Zeit dort gelegen haben und irgend jemand war bei ihm gewesen, als er starb. Das konnte ich daran erkennen, wie er auf dem Schlafgestell lag.«
»Was habt ihr mit ihm gemacht, Ba - shtie?«, fragte sie weiter. Sebastian sah sie beinahe belustigt an. Na, was hätte er schon mit einem Toten anfangen sollen... Ihn zum Abendessen einladen?
»Ich habe ihn natürlich beerdigt«, stellte er klar. Damit konnte nun Antarona nicht viel anfangen. Prompt kam ihre Frage:
»Was ist Be - erd - ikt?« Sebastian gewöhnte sich langsam daran, ihr klare, knappe Antworten zu geben. Je ausschweifender seine Erklärungen ausfielen, desto mehr Fragen stellte sie. In dieser Hinsicht war sie vom Wesen eines Kindes nicht sehr weit entfernt.
»Ich habe ihn vergraben.., in der Erde.., verstehst du?« Nein, tat sie nicht. Sie hielt an und bemerkte mit einer Spur Entrüstung in der Stimme:
»Aber, wenn es ein Menschenwesen des Volkes war, so sollte er in das Reich der Toten gehen, zu den Ahnen und zu den Göttern!«
»Na.., ich denke, da ist er schon«, lächelte Sebastian versöhnlich. Nun war es Antarona, die ihn plötzlich am Arm festhielt und mahnend erklärte:
»Nein , Ba - shtie, so meinte ich es nicht! Als einer vom Volk der Ival sollte er zum ewigen Eis an das Tor zum Totenreich gebracht werden, damit er den Weg zu den Göttern findet. Vergrabt ihr ihn im Boden, so wird er in ewiger Zeit einsam in den Tälern umher wandern und niemals Ruhe finden!« Sebastian hörte ihr interessiert zu. Ihm wurde bewusst, wie ernst sie das meinte und er würde es nicht mehr wagen, ihr zu widersprechen.
Er konnte und wollte als vermeintlicher Bote ihrer Götter nicht gegen deren Gebot und gegen den Glauben der Ival verstoßen. Tat er es, so würde er nicht nur das gerade erst geborene Vertrauen der Menschen in diesen Tälern verlieren, sondern auch seine große Liebe Antarona.
»Wo ist denn dieses Tor im ewigen Eis, das zu den Toten führen soll und zu den Göttern der Ival..?«, stellte Sebastian die berechtigte Frage, die er jedoch gleich wieder bereute, als Antarona ihn entgeistert ansah.
»Ba - shtie.., ihr wisst es nicht?«, fragte sie erstaunt. »Aber ihr kamt doch von dort.., ihr wurdet doch von den Göttern als Bote zu uns gesandt, sie schickten euch aus dem Reich der Toten zum Volk zurück, um die Ival zu retten und das Böse zu vertreiben! Und ihr wisst das nicht mehr?« Antarona schien fassungslos.
Sebastian biss sich vor Verlegenheit auf die Unterlippe. Irgendwie musste er sich aus dieser verzwickten Situation heraus reden. Irgend etwas musste er ihr sagen, das ihre Zweifel zerstreuen konnte. Andernfalls lief er Gefahr, seine Glaubwürdigkeit zu verlieren und, was ihm letztlich einzig am Herzen lag, sein geliebtes Krähenmädchen!
»Na ja...«, beschwichtigte er sie, »...ich meine natürlich, ich weiß nicht mehr genau, wo sich das Tor zum Totenreich befindet... Diese Täler sind so verzweigt, das Land so weitläufig, dass man sich schon mal verirren kann.., das hast du selbst gesagt, mein Engelchen!« Er wartete auf eine Reaktion von ihr, um die Glaubhaftigkeit seiner Ausrede abzuschätzen. Als sie ihn aber im unklaren ließ und ihn nur forschend anstarrte, wurde er deutlicher.
»Hör mal, Antarona.., wir haben in den letzten Tagen so viel zusammen erlebt, sind von einer Überraschung in die nächste gestolpert und sind kaum zur Ruhe gekommen.., da habe ich einfach den Weg dorthin vergessen! Ist das so schwer zu verstehen?« Immer noch lag Antaronas ungläubiger Blick auf ihm und er spürte unangenehm ihre heimlichen Zweifel, die er selbst gestreut hatte.
»Ihr habt den Weg vergessen, den ihr unter der Last eures Rückenbündels gekommen seid?«, schüttelte sie skeptisch den Kopf. Und in diesem Augenblick fügten sich die vielen bisher unverständlichen Teilchen in Sebastians Kopf zu einem überschaubaren Bild zusammen.
Hatte Antarona nicht davon gesprochen, dass ihr Bruder Tark lange fort war, um das Tor zum Totenreich zu bewachen? Plötzlich fiel es Basti wie Schuppen von den Augen. Tark war der Mann mit dem Hörnerhelm! Er trug dieses Ding, als er den Weg zu des Holzers Haus herauf kam. Und es war der gleiche Mann, der die seltsame Prozession anführte, die Sebastian auf dem Weg von Balmers Alm ins Tal gesehen hatte.
Auf einem Mal erinnerte sich Sebastian wieder an seinen Sturz am Zwischbergenpass. Auch dort begegnete ihm der Hörnermann. War das ebenfalls Antaronas Bruder? War er womöglich dafür verantwortlich, dass Sebastian in diesem Teil der Erde gefangen war? Wie aber um alles in der Welt hätte Tark ihn über Tausende von Kilometern in ein anderes Land entführen können?
Fragen, die Sebastian in Sekunden durch den Kopf schossen. Jedenfalls, das wurde ihm nun klar, spielte Tark eine nicht unwesentliche Schlüsselrolle in Bezug auf seinen Aufenthalt in diesem Land. Blieb nur die Frage, ob und wie viel Antarona davon wusste. Möglicherweise war sie auch nur eine naive, unwissende Figur in einem großen Geschehen, das er vielleicht nie begreifen würde. Benutzte man sie als Köder, von dem man wusste, dass Sebastian ihm nicht widerstehen konnte?
»Ba - shtie.., hört ihr mir zu?« Ihre Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. Er sah sie an und ahnte im gleichen Moment, dass sie ihm noch einiges verschwieg, obwohl sie ihre Rolle als Unschuldige durchaus perfekt beherrschte. Dennoch schien ihre Liebe echt zu sein, das fühlte er! Ihr Vorwurf jedenfalls war nicht gespielt.
»Wie konntet ihr den Weg vergessen, der euch in das Tal führte? Es ist der gleiche Weg, der zum Reich der Toten und der Götter führt!« Sebastian hatte bereits vermutet, dass sie etwas mehr darüber wusste und war nicht mehr sonderlich erstaunt.
»Weißt du, Antarona.., der Weg war so lang und ich war so müde... Aber, wo wir schon dabei sind, weißt du eigentlich, wie ich zu Högi Balmer gekommen war?« Er versuchte die Frage so banal klingen zu lassen, als wäre es eine Nebensächlichkeit ohne Bedeutung. Antarona wunderte sich dennoch über seine Frage.
»Ihr wisst auch das nicht mehr?« Ihre Skepsis löste sich aber rasch in ein Lächeln auf. »Tark hatte schon davon berichtet, dass jene, die aus dem Reich der Toten zurückkehren und durch das Tor gehen, eine lange Zeit nicht ganz bei Sinnen sind.«
»Ja.., davon sprach Högi Balmer auch ständig«, gab Sebastian zu. »Mag sein, ich habe einiges vergessen, auf meiner Reise. Deshalb möchte ich es gerne erfahren, vielleicht erinnere ich mich besser, wenn du mir hilfst, verstehst du?« Seine Augen lagen lauernd auf seiner Geliebten, in der Hoffnung, sie würde ihm noch mehr verraten.
»Ich kann euch nur das sagen, was Tark meinem Vater Kunde getan hatte...«, begann sie zu berichten, »...Ihr kamt aus dem ewigen Eis, aus dem Reich der Toten und vom Sitz der Götter... Tark hat euch dort gefunden, als ihr durch das Tor gefallen seid...«
»Ich war durch das Tor gefallen...«, wiederholte Basti verblüfft, ».. .wie meinst du denn das? Was ist das denn für ein Tor, wie sieht das aus?«
»Ich kann euch nur sagen, was ich von meinem Vater weiß und er kennt nur, was ihm Tark berichtet hat, nachdem er von dort zurückgekehrt war. Tark ist der Wächter des Tores, welches in das Reich der Toten und der Götter führt. Mein Bruder erkannte euch sogleich, Ba - shtie, aber er wusste, dass ihr als Areos, König Bentals Sohn, in großer Gefahr wart. Darum brachten sie euch zu Högi Balmer, um zu warten, bis ihr eure Gedanken wieder erlangt habt und berichten konntet, was die Götter euch aufgetragen haben.«
In Sebastians Kopf arbeitete es fieberhaft. Was Antarona ihm da offenbarte, war so unglaublich, so phantastisch, dass es kaum der Realität nahe kommen konnte. Für dieses einfache Volk war er also ein gefallener Königssohn, der von den Göttern aus dem Totenreich zurück geschickt wurde, um sein Volk gegen das Böse zu verteidigen!
»Das gibt’s doch nicht... Ich bin in einem verdammten Märchen gefangen!«, unkte Sebastian, obwohl ihm im Grunde gar nicht zum Spaßen zumute war.
»Aber in einem unglaublich schönen, faszinierenden Märchen...«, fügte er noch hinzu und strahlte dabei Antarona von oben bis unten an. Dann wurde er wieder nachdenklicher.
»Sag mal, mein Engelchen, hast du das alles gewusst, als wir uns am See getroffen hatten, oder wie konntest du mich finden?« Antarona lächelte süß, dann gestand sie:
»Sonnenherz hatte gehört, was nicht für ihre Ohren gedacht war...«, gab sie zu, »...ihr Vater, Andreas und Tark sprachen über euch, Ba - shtie.., über Areos. Sie sagten, des Königs Sohn sei aus dem Reich der Toten zurückgekehrt und von den Göttern gesandt worden. Sie sagten, die Prophezeiung würde sich nun endlich erfüllen, aber sie mussten euch verstecken, weil ihr durch das Tor noch geschwächt wart und Torbuk nichts davon wissen durfte. Hätte er es erfahren, so wärt ihr alsbald gefangen genommen und getötet worden.«
Sie machte eine Pause und blickte betreten zu Boden. Wahrscheinlich schämte sie sich dafür, ihren Vater, ihren Bruder und den Doktor belauscht zu haben. Etwas leiser erzählte sie weiter.
»Dann sagten sie, ihr wärt verschwunden.., oder von Torbuks Männern entführt worden. Sie waren sehr aufgeregt, weil sie nicht wussten, wo ihr wart. Sonnenherz wollte zum See gehen und den Stein der Wahrheit befragen, als sie eure Fährte entdeckte. Tekla und Tonka fanden euch kurz darauf am Ufer.«
So war das also, dachte Sebastian. Sie alle hielten ihn tatsächlich für den Sohn des Königs. Seine Ähnlichkeit mit diesem Areos musste verblüffend sein! Blieb noch die Frage, was es mit diesem seltsamen Tor zum Reich der Toten und der Götter auf sich hatte, und wie er, Sebastian Lauknitz, dorthin gelangte.
Inzwischen hatten sie die Hütte des unbekannten Toten erreicht. Vor der Eingangstür lag Antaronas Fellbündel, das sie immer mit sich trug, wenn sie längere Strecken unterwegs war. Anscheinend hatte sie ziemlich schnell herausgefunden, dass er in dieser Behausung Unterschlupf gefunden hatte.
Sie setzte sich auf ihre Felle und sah Sebastian an, als erwartete sie eine Entscheidung von ihm. Er aber wiederholte noch einmal die Frage, die sie ihm schuldig blieb und hatte den Eindruck, dass sie nicht darüber sprechen wollte, oder durfte.
»Was ist das für ein Tor, von dem du immer wieder sprichst, Antarona; dieses Tor zum Reich der Toten und Götter? Weißt du, wie es aussieht? Ist es ein Portal in einer Mauer, oder ein Pass in den Bergen.., oder was ist es? Vor allem, wozu ist es da? Wer geht denn durch dieses Tor?«
Sebastian befürchtete, dass er sein Krähenmädchen mit den Fragen überforderte, wenn er immer weiter bohrte. Vermutlich wusste sie weniger über dieses Tor, als er angenommen hatte. Ihre Antwort, die nur zögernd über ihre Lippen kam, schien das zu bestätigen. Vielleicht war sie es auch leid, dem Sohn ihres Königs in langwierigen Gesprächen das Gedächtnis zurück zu geben.
»Jene Menschenwesen der Ival, die aus dem Leben gehen, werden eine kurze Zeit den Göttern empfohlen. Sie werden an bestimmte Orte gebracht und auf Himmelswagen gelegt, bis die Götter sie in das Reich der Toten rufen. Dann werden sie vom Wächter des Tores, also von meinem Bruder und einigen Auserwählten des Volkes zum Tor gefahren und hindurch geleitet.«
»Wie.., ihr bringt sie in das Reich der Toten hinüber?«, wollte Basti wissen. Antarona machte eine entgegnende Handbewegung und berichtigte ihn.
»Nein, Ba - shtie, die Wächter gehen niemals weiter durch das Tor, als eine Pferdelänge. Es kann sonst geschehen, dass sie nicht zurück finden und für immer im Reich der Toten gefangen sind.« Danach schwieg Antarona eine Weile und schien zu überlegen. Einige Minuten später stand sie auf und sah Basti ratlos an.
»Wie das Tor aussieht, kann euch Antarona nicht sagen, sie hat es niemals gesehen. Nur die Auserwählten gehen dorthin, wo das Reich der Götter und der Toten beginnt und wo das ewige Eis alles Leben von den Lebenden nimmt.«
»Also ist niemand jemals über das ewige Eis gegangen? Hat nie einer versucht, die Götter zu finden, oder von ihnen Hilfe zu erbitten?« Sebastian stellte ihr diese Frage bewusst. Er wollte herausfinden, ob es möglicherweise einen Weg über die Gletscher gab, einen Weg aus diesem Land, einen Weg nach Hause!
»Nein, Ba - shtie.., man kann nicht in das ewige Eis gehen...«, stellte sie unumstritten fest, ».. .wer in das ewige Eis ging, um die Götter zu suchen, kehrte nie zurück!« Basti legte seine Hand auf ihren Arm und bedrängte sie, mehr zu erzählen.
»Aber es haben schon welche versucht.., ja? Und wie, mein Engelchen, erklärst du dir, dass ich aus dem ewigen Eis zurück gekommen bin, wenn es doch niemandem möglich ist?« forschte er weiter. Doch Antarona resignierte angesichts des nicht enden wollenden Verhörs.
»Fragt nicht weiter, Ba - shtie, Antarona weiß es nicht! Fragt meinen Bruder Tark, wenn ihr dies erfahren wollt. Aber ihr solltet wissen, dass er vom Volk auserwählt wurde, das Geheimnis zu hüten, welches das Tor zum Reich der Götter und der Toten erhält. Er verrät es nicht einmal mir, seiner Schwester!«
»Und dein Stein der Wahrheit.., Antarona, hast du den mal gefragt?« versuchte es Basti ein letztes Mal. Doch er ahnte bereits, dass er auf diesem Weg nicht weiter kam.
»Der Stein der Wahrheit ist ein Stein der Götter, Ba - shtie, er lässt diese Dinge nicht erkennen!«, war ihre prompte Antwort. Sebastian glaubte ihr. Sie hatte sich wahrscheinlich nie mit solchen Fragen beschäftigt. Wozu auch? Wenn jemand starb, dann ging er eben in das Reich der Toten, so einfach war das!
Wenn er mehr über dieses geheimnisvolle Tor erfahren wollte, musste er sich wohl oder übel an Tark halten, jenen Hörnermann, den er anfangs glaubte, nur im Traum gesehen zu haben. Inzwischen war Sebastian davon überzeugt, das es kein Traum war, sondern die nüchterne Realität.
Immer wieder kreisten seine Gedanken um den Zwischbergenpass, einem Ort, der an einem der größten Touristenzentren der Schweiz lag. In all den vielen Jahren, die er als Bergsteiger im Wallis unterwegs war, hatte er nie jemanden von einem seltsamen Tor berichten hören, oder von eigenartigen, gehörnten Wesen, die in Nebeln auftauchten und Bergwanderer entführten.
Dennoch war er am Zwischbergenpass diesem Tark begegnet und ihm offenbar in das Land Volossoda gefolgt, von dem er nie auch nur eine Menschenseele hatte erzählen hören. Aber er war hier! Er war im Val Mentiér.., er verliebte sich in Antarona, eine amazonenartige Kriegerin, er sah Drachen, kleine Feuerelfen und er tötete schwarze Ritter... Alles ganz real!
Der Haken an der Sache war, das all dies im krassen Gegensatz zum fundamentalen Wissen der Menschheit stand. Und er, Sebastian Lauknitz, ein unbedeutender Handwerker, der nie vor hatte, seine kleinbürgerliche Welt zu verlassen, stand plötzlich dazwischen und war kurz davor, überzuschnappen! Allein Antarona und seine bedingungslose Liebe zu ihr, ließ ihn all das Fremdartige ertragen, das ihm in diesem Land begegnete.
Antarona hatte mittlerweile ihre Felle in die Hütte getragen und ein Feuer im Kamin entfacht. Rona und Reno tollten durch die Wiesen und waren damit beschäftigt, irgend welche Insekten zu schnappen. Tekla und Tonka saßen auf den Stangen, die einmal ein Zaun gewesen waren. Die Welt schien in Ordnung... Wenn es Sebastians Welt gewesen wäre!
Als die Nacht das letzte Licht aus der Dämmerung des zur Ruhe gehenden Tages saugte, zog es Sebastian in die Hütte. Die herbstliche Kälte, die vom Gletscher herab kroch, war nun doch realistisch genug. Das zumindest konnte er nicht in Zweifel ziehen! Lange hatte er noch vor dem Holzhaus gestanden und hinab in den Einschnitt gestarrt, der das Seitental in das Val Mentiér münden ließ.
Er fragte sich, ob er in diesem Teil der Welt, die ihm so fremd war, mit Antarona leben und mit ihr dauerhaft glücklich sein konnte. Die Einfachheit und Gutmütigkeit der Menschen beeindruckte ihn, die Landschaft faszinierte ihn und ein gewisses Krähenmädchen besaß die Gabe, ihn immer wieder zu verzaubern! Wenn man von Torbuk und seinen Mordbrennern einmal absah, konnte es dann noch etwas Schöneres geben?
Sicher nicht! Aber wo war der Haken? Eben an dem Punkt, an dem Basti mit seinem gesunden Menschenverstand und seiner Logik nicht weiter kam! Da war Tark, das Tor im ewigen Eis, ein Drache, der Feuer spie, eine Höhle voll von Unmengen von Gold und blauen Blitzen, sowie Zauberschwerter und eine Wunderkugel. Zu viele Haken für Sebastians Geschmack!
Wenn er diese störenden Elemente ausschließen konnte, dann hatte er das gefunden, wonach er die letzten Jahre verzweifelt gesucht hatte. Ein Zuhause! Dieser Gedanke brachte ihm in Erinnerung, dass in der Hütte bereits ein wärmendes Feuer brannte.
Rona und Reno spürten wohl, dass es an der Zeit war, sich zur Ruhe zu begeben, stürmten heran und wollten sich vor Sebastian durch die Tür drängen. Doch er gebot ihnen mit kurzem Befehl, sich vor der Tür einen Platz zu suchen. Sie konnten ruhig die Wache übernehmen!
Ohne Vorahnung war er durch die Tür getreten und nach dem ersten Schritt staunend stehen geblieben. Der Innenraum war in warmes, flackerndes Licht getaucht, das sich lebendig an den Wänden ausbreitete. Der Tisch, den Basti mit der Platte über das Loch geschoben hatte, stand wieder auf seinen Füßen. Auf ihm lagen Brot, getrocknetes Fleisch, Käse und zwei kleine Kürbisflaschen.
Doch das Verführerischste entdeckte Sebastian vor dem Kamin. Antarona hatte ihre Felle vor dem knisternden Feuer ausgebreitet und sich selbst als bezaubernde Dekoration darauf ausgesteckt. Sie trug nichts, als ihre samtene Haut, die im Schein des Ofens kupfern schimmerte. Mit einem verträumten Lächeln erwartete sie ihn. Betörend sahen ihn ihre großen Augen an und sie drehte sich spielerisch aufreizend um sich selbst, dass ihm schon vom bloßen Anblick heiß wurde und ihm der Atem weg blieb.
»Kommt, Ba - shtie, jetzt werdet ihr sehen, wie die Töchter der Ival in der Zeit des langen Schnees ihren verbundenen Herzen die Wärme ihres Schoßes schenken«, forderte sie ihn auf. Sebastian war verwirrt, oder besser, er war nicht darauf vorbereitet. Aber er konnte sich dieser aufreizenden Verführung nicht entziehen.
War ihm schon am Tag zu jeder Stunde bewusst, wie wunderschön sein Krähenmädchen war, so raubte ihm ihr Anblick im Schein des Kamins endgültig den Verstand. Das Herz begann ihm aus der Brust zu springen und in seinem Hals heftiger weiter zu schlagen. Er betrachtete sie wie ein seltenes Wunder vollkommener Sinnlichkeit und sie schien es in vollen Zügen zu genießen.
Mit sanfter Gewalt zog sie ihn auf das weiche Lager der Felle und schloss in sehnsüchtiger Erwartung ihre Augen. Sebastian spürte, wie ein Schauer ihren Leib erzittern ließ, als er ihre zarte Haut mit seinen Lippen berührte. Sie schmeckte leicht nach Salz und ihr Duft nach irgend welchen geheimnisvollen Kräutern benebelten seine Sinne. Jeden Zentimeter ihres bereits glühenden Körpers verwandelte er mit seinen Küssen in einen Vulkanausbruch und brachte ihre Lungen zu einem atemlosen, wilden Keuchen.
Dann ließen sie sich nur noch von ihrem hemmungslosen Verlangen treiben, bis sie sich gegenseitig in einer Explosion der Gefühle zu verzehren schienen. Sie vergaßen die Welt, die Kälte der Nacht, ja sie bemerkten nicht einmal, dass sich die Glut im Kamin mit weißer Asche bedeckte und allmählich verglomm.
Irgendwann lagen sie nackt und eng umschlungen in Antaronas Felle gewickelt. Sebastian spielte mit ihrem wunderschönen, langen Haar und sie genoss seine nicht enden wollenden, zärtlichen Berührungen, die ihr die Geborgenheit gaben, welche sie in ihrer Kindheit und Jugend so oft vermisst hatte. Sie blickten sich gegenseitig in glänzende, dankbare Augen, ihr Atem beruhigte sich allmählich und sang die zwei überglücklich erfüllten Seelen in einen friedlichen Schlaf...

Der Morgen begrüßte Sebastian mit ernüchternder Kälte. Er kroch aus dem unüberschaubaren Gewühl von Fellen und vergewisserte sich, dass Antarona warm eingepackt blieb. Wie sie so schlummernd da lag, mit einem glücklichen und zufriedenen Ausdruck auf ihrem Antlitz, erschien sie ihm so engelhaft und verletzlich, dass er kaum wagte, sie eine Minute allein zu lassen. Mit dem süßen Lächeln eines wunderbaren Traumes auf den Lippen lugte ihr Gesicht aus den Tierdecken hervor. Ihre wilde, verfilzte Haarmähne verteilte sich unbändig um sie herum, wie ein umhüllender Kokon.
Leise schlich sich Sebastian aus der Hütte, um neues Feuerholz zu holen. Draußen erwartete ihn ein Wetter, wie es ein Weltuntergang hätte nicht schauriger in Szene setzen können. Kräftiger, kalter Wind trieb gussartigen Regen vor sich her, der das kleine Tal in eine Wasserwelt verwandelte. Es musste bereits Vormittag sein, doch es war noch so dunkel, als hätte die Dämmerung verschlafen.
Rona und Reno saßen Leib an Leib an die Hüttenwand gekauert. Sie hoben nur die Köpfe und wagten nicht, sich zu rühren. Von Tekla und Tonka war nichts zu sehen. Sie hatten wohl in den Felsen einen Unterschlupf gefunden.
Nur mit seiner Hose bekleidet huschte Basti barfüßig zu dem Holzstapel hin, den er gesammelt hatte und der rapide an Größe abnahm. Frierend und zitternd sehnte sich er nach Antaronas Hitze unter den Fellen zurück. Er raffte, was ging in seine Arme und flüchtete zur Hütte zurück. Zu Reno und Rona machte er nur eine einladende Kopfbewegung und sie huschten vor ihm durch die Tür.
Sie taten ihm leid und Sebastian fand nichts dabei, sie in einer Ecke der Hütte zu dulden. Zähneklappernd machte er sich daran, den Ofen wieder in Gang zu bringen. Angesichts des nass geregneten Holzes wuchs sich dieses Vorhaben zu einem größeren Unternehmen aus. Erst, als er die abgebrochenen Bodendielen aus dem entstandenen Loch hervorholte und einem unterernährten Flämmchen zum Fraß anbot, flackerte das Feuer endlich auf.
Zufrieden kroch er wieder zu Antarona unter die Felle. Sie kuschelten sich Wärme suchend Haut an Haut aneinander und schliefen noch einmal tief und fest ein.
Aus weit entfernten Träumen schreckte Sebastian auf. Abrupt wurden sie aus dem Schlaf gerissen! Reno und Rona sprangen wütend und bellend an der Tür hoch und gebärdeten sich, als befände sich ein ganzer Sack voller Katzen vor der Hütte. Selten hatte Basti die beiden Hunde so toben gesehen. Soweit er sich erinnern konnte, war es das letzte Mal, als er von dem Gor angegriffen wurde.
Schlaftrunken taumelte er hoch und gewahrte gerade noch aus den Augenwinkeln, wie Antarona blitzschnell zu ihrem Bogen griff. Den Bruchteil einer Sekunde später stand sie so nackt, wie sie aus den Fellen gesprungen war, an der Tür, einen Pfeil bereits an die Sehne gelegt.
Sebastian wunderte sich immer weniger darüber, wie sie in den vielen Jahren des Kampfes gegen Torbuks Soldaten überlebt hatte, ohne in deren Fänge zu geraten. Ihre Blöße schien sie völlig zu ignorieren. Angespannt konzentrierten sich ihre Sinne ausschließlich auf das, was offenbar draußen herum schlich. Unsicher und fragend sah er seine Kriegerin an.
»Schhhhhht«, flüsterte sie ihm zu und versuchte gleichzeitig, sich die wirr um ihren Kopf fliegenden Haarsträhnen in ungezügelten Bewegungen aus dem Gesicht zu schütteln. Wäre sie die Eingeborene eines Papua-Stammes gewesen, sie hätte wilder nicht aussehen können.
»Vielleicht einige von Torbuks Reitern, die vor dem Unwetter Schutz suchen und die Hütte entdeckt haben?«, rätselte Sebastian vor sich hin. Antarona schüttelte zweifelnd den Kopf und flüsterte:
»Die kommen nicht so weit in die Berge. Bei diesem Wetter bleiben sie unter den Dächern Quaronas, Ba - shtie!«
»Aber was kann dann...« Weiter kam er nicht. Draußen erklang ein Grunzen, wie von einer ganzen Herde Wildschweinen. Dazwischen hörte er abgehackte, gutturale Laute, die an simpelste Urformen der Kommunikation erinnerten. Antarona ließ langsam ihren Bogen sinken und nahm den Pfeil von der Sehne, der bereits auf sein Opfer gewartet hatte.
»Robrums. . . «‚ sagte sie sichtlich erleichtert, ». . .wenn es kalt wird, ziehen sie in die Wälder weiter unten, wo es besseren Schutz gegen Wind und Schnee gibt.« Sebastian sah sie immer noch fragend an, während sie ihren Hüftschurz und das Oberteil anzog, diese kaum etwas von ihren Reizen bedeckende Kleidung, die bei diesem Wetter wohl lediglich dekorativen Charakter besaß.
»Was bei den Göttern sind nun wieder Robrums?«, wollte er wissen und machte sich daran den Türriegel zurück zu schieben, um nachzusehen. Mit einem Satz war Antarona neben ihm, um genau das zu verhindern. Doch zu spät! Die Tür schwang einen halben Meter weit auf und wie von einem Katapult geschnellt, schossen Rona und Reno aus der Hütte.
Aufgeregt bellend hetzten sie auf etwas los, das Sebastian als einen Riesenaffen bezeichnet hätte. Ein etwa zweieinhalb bis drei Meter großes, aufrecht gehendes Wesen mit zotteligem Pelz versuchte die beiden Hunde abzuwehren, indem es ihnen seine beiden Pranken rudernd entgegen streckte. Sebastian reagierte sofort und rief die Hunde energisch zurück. Aber die dachten gar nicht daran, von dem Robrum abzulassen.
Zunächst tat Basti das große Zottelwesen leid, denn er hatte noch gut in Erinnerung, wie Rona und Reno den Gor angegangen waren. Schneller aber, als ihm bewusst wurde, änderte sich das Kräfteverhältnis! Aus dem nahen Wald brachen plötzlich zwei weitere Gestalten in eindeutiger Absicht hervor. Sie grunzten wild und kamen ihrem bedrängten Artgenossen zu Hilfe.
Noch ehe sich Sebastian versah, hatte einer der haarigen Riesen Rona gepackt. Högi Balmers Hündin hatte keine Chance. Aufjaulend versuchte Rona nach dem Arm des Affenmonsters zu schnappen, doch das hielt sie in eisernem Griff und schien immer fester zuzudrücken.
Da zischte der erste Pfeil von Antaronas Bogensehne. Basti hörte nur das sirrende Geräusch, als das Geschoss schon im Nacken des Monsters steckte. Wild kreischend ließ der Robrum sein Opfer fahren und wandte sich zur Hütte. Der zweite Pfeil schlug ihm in den Brustkorb und Sebastian wunderte sich, wie rasch hintereinander seine Gefährtin mit dem Bogen zu schießen vermochte.
Wütend riss sich das Zotteltier den Pfeil aus der Brust und trabte nun laut brüllend auf Sebastian los, der wehrlos in der Hüttentür stand. Plötzlich erhielt Basti einen kräftigen Stoß von hinten und fiel vornüber in den regennassen Dreck. Gleichzeitig hörte er einen dritten Pfeil von Antaronas Bogen schnellen. Der bohrte sich zielsicher direkt in die Stirn des Riesenaffen.
Das Tier machte noch zwei Schritte und brach dann zusammen. Sein mächtiger Leib schlug genau vor Sebastian auf den Boden. Schlamm spritzte ihm ins Gesicht und er hielt sich schützend die Arme über den Kopf.
Als er sich den Dreck aus den Augen gewischt hatte, lag der Robrum regungslos vor ihm. Regen trommelte auf das Fell des dampfenden Körpers. Die anderen Robrums hatten inzwischen das Weite gesucht. Reno und Rona kamen herangetrottet und beschnüffelten den leblosen Körper des Tieres, das in etwa so aussah, wie sich Sebastian stets einen Yeti vorgestellt hatte. Umständlich erhob er sich aus der schlammigen Pfütze und versuchte, die nasse Erde von seinem Körper zu wischen; mit wenig Erfolg.
Antarona huschte an ihm vorbei und untersuchte den reglosen Körper des Robrum. Vorsichtig, beinahe liebevoll betastete sie das Fell und die Einschussstellen ihrer Pfeile.
»Der wird wohl tot sein, so zielsicher, wie du mit Pfeil und Bogen umgehst...«, wollte ihr Sebastian ein Kompliment machen. Überraschend drehte sich sein Krähenmädchen zu ihm um und zischte ihn vorwurfsvoll an:
»Natürlich ist der tot..! Wäre er es nicht, so wärt ihr es jetzt.., dummer, großer Junge!« Sebastian war perplex. Was sollte das nun wieder? War es etwa seine Schuld, dass diese Viecher ausgerechnet an dieser Stelle aus dem Wald gestolpert kamen? Entschuldigend hob er seine Hände an, in der Hoffnung, seine Geliebte wieder zu besänftigen. Doch die geriet erst richtig in Fahrt!
»Das war nicht nötig, Ba - shtie - laug - nids! Was sollte das.., einfach die Tür öffnen?« Sebastian sah in ihre Augen, die blanke Entrüstung verrieten.
»Aber ich dachte...« Antarona ließ ihn erst gar nicht ausreden. Sie schnitt ihm die Worte mit einer schnellen Geste ihrer Hand ab.
»Nein.., ihr dachtet nicht! Wenn ihr gedacht hättet, Mann von den Göttern, dann hättet ihr euch still verhalten und die Robrums wären in Frieden abgezogen! Nun ist ein Wesen von Mutter Erde tot und ihr tragt daran Schuld!« Sebastian Lauknitz starrte betreten zu Boden und zählte die Wassertropfen in einer Pfütze, um ihr nicht in die Augen sehen zu müssen.
»Ich wusste ehrlich gesagt nicht, dass dir so viel an diesen Tieren liegt, Antarona.., die sind doch alles andere, als freundlich gewesen...« Antarona blickte ihn mit flammenden Augen an, die aber im nächsten Moment wieder einen versöhnlicheren Schimmer bekamen.
»Darum geht es nicht, Ba - shtie... Alle Wesen in Volossoda sind Geschöpfe der Götter und erfüllen ihren Sinn im großen Kreis des Lebens. Sie mögen wild sein, Ba - shtie.., aber wir Menschenwesen sind klug! Deshalb ist es an uns, ihnen aus dem Weg zu gehen, so wird kein Geschöpf der Götter getötet und alle leben im friedlichen Einklang miteinander in den Wäldern und den Bergen, versteht ihr?«
»Aber der Robrum hat mich angegriffen... « Sebastian versuchte sein unüberlegtes Handeln zu rechtfertigen, musste sich inzwischen jedoch eingestehen, dass Antaronas Sichtweise, wenn auch sehr einfach, wohl aber die vernünftigere war!
»Er fühlte sich bedroht, Ba - shtie, darum hat er angegriffen! Sie wären einfach fort gegangen, hättet ihr nicht die Tür geöffnet.« Dann lächelte sie plötzlich und sagte mit bestimmendem Unterton:
»Lernt daraus, Ba - shtie - laug - nids, und ihr werdet ein besserer Anführer und König werden, als ihr ein Krieger und Sohn Bentals wart.«
Damit wandte sie sich um und ging zu dem toten Robrum hinüber. Sie kniete sich zu der Leiche in den Schlamm, legte dem Tier ihren Bogen auf das Fell und es schien ihr gar nichts auszumachen, dass sie der Regen bis auf die Knochen durchnässte.
Anschließend zelebrierte Antarona etwas, das Sebastian als Vergebungsritus vor ihren Göttern verstand. Ihre Arme gen Himmel hebend, wippte sie mit ihrem Oberkörper vor und zurück. Dabei stimmte sie leise einen melodischen Singsang an, der so lieblich und schön klang, dass sich Sebastian ermutigt sah, sich ihrem Gebet anzuschließen.
Er zog sich bis auf seine Unterhose aus, die ohnehin nur noch fadenscheinig war und ließ sich neben seiner Gefährtin in den aufgeweichten Boden sinken. Freilich verstand er die Worte nicht, die sie sang, dennoch versuchte er die Melodie mitzusummen.
Das Lied welches Antarona für den gefallenen Robrum, oder für die Götter der Ival, oder auch für beide anstimmte, brachte Sebastian beinahe in einen tranceähnlichen Zustand. Doch der Verstand siegte über die Gefühlswelt und sagte ihm, dass sie beide sich wahrscheinlich eine Lungenentzündung holen würden, wenn sie nicht bald vor dem kalten Regen Schutz suchten.
Mit ein wenig schlechtem Gewissen brach Sebastian die Zeremonie ab, ging in die Hütte zurück und machte erneut Feuer. Dafür riss er im hinteren Teil des Raumes, den sie nicht benutzten, erneut Dielen aus dem Fußboden, denn das Holz vor der Hütte war wegen des Dauerregens unbrauchbar geworden.
Als das Feuer im Kamin den Hüttenraum wärmte und Antarona ihr Gebet noch immer nicht beendet hatte, wurde Sebastian ungeduldig. Er wollte ihr Ritual aber nicht unterbrechen und sich erneut ihren Unmut auf sich ziehen. Da fielen ihm Reno und Rona ein. Sie wurden das Opfer seiner Trickkiste.
Ein leiser Pfiff durch die Zähne und sie kamen herangehetzt, schüttelten ihren Pelz aus, dass der regen in alles Richtungen spritzte und setzten sich voller Erwartung vor ihn hin. Sebastian deutete auf Antarona, machte mit den Armen eine einnehmende Geste und sagte leise:
»Los.., holt sie da aus dem Dreckwetter raus.., macht schon!« Als ob die Hunde ihn verstanden hätten, liefen sie zu Antarona hinüber, streunten um sie herum und behinderten ihre rituellen Bewegungen. Endlich schien sie aus ihrem Traumgebet aufzuwachen, nahm ihre Waffen auf und kam in die Hütte.
Triefend nass, mit in ihrem Gesicht klebenden Haarsträhnen und am ganzen Körper zitternd kam sie in die Hütte. Sebastian schnappte sein Hemd, dass vor dem Kamin einigermaßen getrocknet war und trocknete sie damit ab. Sie ließ es einfach kommentarlos geschehen und war so steif gefroren, dass sie sich kaum rührte. Basti schüttelte den Kopf vor so viel Dummheit. Es wollte ihm beim besten Willen nicht in den Kopf gehen, warum Menschen, gerade dort, wo sie im beinahen Einklang mit der Natur lebten, für ihren Glauben ihre Gesundheit aufs Spiel setzten!
Sebastian knotete ihren Hüftschurz auf, streifte ihn über ihre Beine und Füße. Dann schob er ihr das Oberteil von den Brüsten und über den Kopf. Seine Phantasie schlug dabei Purzelbäume, doch das musste warten! Sanft hob er die kleine Kriegerin der Ival hoch, legte sie auf die Felle vor dem Ofen und wickelte sie darin ein.
Nachdem er noch einmal Holz aufgelegt hatte, kroch er selbst zu ihr unter die Decken, schmiegte seinen Körper an ihren und begann, sie mit den Händen warm zu reiben. Es dauerte nicht lange, dann glühte ihr Körper nicht nur von der Wärme der Felle. Fordernd drängte sie sich an ihn, legte ihm die Arme um den Hals und Sebastian betete inständig, dass Rona und Reno, die wieder in ihrer Ecke lagen, ihre sinnliche Zweisamkeit nicht wieder stören würden...

Am nächsten Tag lies der Niederschlag nach. Es tropfte nur noch von den Bäumen und die Welt schien sich nach dem anstrengenden Weinkrampf auszuruhen. Graue Gewölbe schlossen den Himmel ab. Windstille und Kälte machten den Aufenthalt im Freien noch unangenehmer, als er es schon während des Regens war. Sebastian wäre gern noch einen weiteren Tag unter Antaronas Fellen liegen geblieben.
Doch das Krähenmädchen drängte zum Aufbruch. Sie erinnerte Sebastian an die Entscheidung des Achterrats, wonach sie beide die gefährliche Reise zum Regentensitz nach Falméra antreten mussten, die Basti ja selbst vorgeschlagen hatte.
Nun, da er die schönste Frau in diesen Tälern wieder an seiner Seite wusste, kehrte wie durch ein Wunder auch seine Motivation zurück. Er wusste wieder, wofür er kämpfte. Für Antarona würde er durch jedes, egal wie kalte Land ziehen und sich selbst gegen den Teufel stellen. Und dieser wartete offenbar bereits in Gestalt von Karek und Torbuk.
Um die Mittagsstunde brachen sie auf. Ein seltsames Gespann stieg das Seitental hinab. Zwei Menschenwesen, zwei Hunde und zwei Krähen. Letztere flogen voraus, klärten das Gelände und informierten ihre Herrin über möglicherweise ungebetene Besucher in den Tälern. Rona und Reno dachte Sebastian die Nahaufklärung zu.
Die jedoch gewannen mehr und mehr Spaß daran, Wasels zu jagen, eine genetische Mischung aus Ratte, Kaninchen, und Biber. Jedes Mal, wenn die beiden glaubten, einen dieser Riesennager gestellt und in die Enge getrieben zu haben, entwischte der in verborgene Böschungsgänge des Baches. Dann standen sie jeweils wütend kläffend am Ufer und bemerkten nicht, dass sie von ihrem vermeintlichen Opfer in die Irre geführt wurden. Denn irgendwo hinter ihrem Rücken verließ der Wasel ungeniert seinen Bau und widmete sich in aller Seelenruhe wieder seinem ursprünglichen Vorhaben.
Sebastian sah den beiden Hunden kopfschüttelnd zu und amüsierte sich köstlich. Antarona widmete dem komischen Schauspiel weniger Beachtung. Ihre Aufmerksamkeit richtete sich breit gefächert auf das Gelände vor ihnen. Entgegen ihrer gewohnten Art schlug sie auch kein sehr rasche Tempo an.
Sie erklärte es damit, dass viele Tiere, gefährliche und auch solche, die man wegen ihrer Scheue nicht stören sollte, durch den starken Regen von den Höhen in Talnähe gezogen waren. Es war ihrer Meinung nach nicht nötig, diese Wesen, welche ebenfalls Kinder der Götter waren, unnötig aufzuscheuchen.
Sebastian musste immer wieder über ihre sensible Haltung gegenüber der Natur und ihrer Flora und Fauna staunen. Stets war sie bemüht, im völligen Einklang mit ihrer Umwelt zu leben. Ihr ganzes Denken und Handeln richtete sie danach aus. Wie ein Geist vermochte sie sich durch das Land zu bewegen. Wie ein Blitz aus heiterem Himmel musste sie über ihre Feinde kommen, wenn diese ihr keine andere Möglichkeit ließen.
So kurz entschlossen und schnell sie zu handeln verstand, wenn es um Leben oder Tod ging, so geräuschlos und bedächtig konnte sie auch vorgehen, wenn Vorsicht geboten war. Sebastian beobachtete heimlich jede ihrer Bewegungen. Obwohl sie sich wegen der Kälte zwei rasch aneinander genähte, schwere Felle umgeworfen hatte, bewegte sie sich mit der Anmut und Grazie einer Antilope durch das kniehohe, nasse Gras.
Als die Sonne für einen Moment überraschend durch die Wolkendecke brach und das kleine Tal in einen dampfenden, grünen Kessel verwandelte, rasteten sie auf einem flachen Felsen, der wie eine erhöhte Kanzel über das Ufer des Baches ragte. Antarona packte den kärglichen Rest ihres Proviants aus und teilte ihn in zwei Hälften.
Basti nutzte die Pause und breitete die gefundenen Landkarten auf seinen Knien aus. Neugierig beobachtete ihn das Krähenmädchen.
»Was sind das für Zeichen, Ba - shtie«, wollte sie wissen. Sebastian blickte von der Karte auf und versuchte seine Erklärung in für sie verständliche Worte zu fassen.
»Also.., wie es aussieht, Engelchen, ist das ein Papier, welches euer Volossoda zeigt, wie es die Götter sehen...« Er drehte die Karte herum und Antarona betrachtete sie aufmerksam. Basti fuhr mit dem Finger über die beschriftete Zeichnung, während er versuchte, die Einzelheiten zu entziffern.
»Dies hier...«, und er verhielt mit dem Finger auf einem weißen Fleck, »...wird wohl der See sein, an dem deine Höhle liegt...«
»Großes Talwasser...« Langsam buchstabierte Antarona die an dieser Stelle eingetragenen Zeichen. Basti blickte erstaunt auf, obwohl er sich denken konnte, dass die Karte in der Schrift des Volkes bezeichnet war. Hatte er dem Naturkind Antarona die Kunst des Lesens nicht zugetraut? Spätestens zu diesem Zeitpunkt wurde er eines Besseren belehrt.
Automatisch ergänzten sich zwei verliebte Augenpaare. Sebastians Finger wanderte auf der Karte hin und her, während Antarona die dazugehörige Bezeichnung vorlas. Begriffe wie wandernde Steine, Festung der Toten, fliehende Wasser, Tanz der Elsiren und brennende Felsen fanden sich ebenso darin, wie schluckende Erde, Robrums Säulen, oder schreiender Berg.
Die nächste Erläuterung, die Antarona entzifferte und die neben der Darstellung eines Turmes stand, ließ sie beide sich überrascht und entsetzt anstarren. Hallen von Talris stand an der Stelle geschrieben, an der Sebastian seinem Krähenmädchen in die Burg der Götter gefolgt war. Wer immer diese Karte gezeichnet hatte, dem war das Geheimnis der Hallen von Talris zumindest örtlich bekannt!
Fragend sah Sebastian seine Gefährtin an. Sie begriff sofort, an was er dachte und schüttelte nachdenklich ihren Kopf.
»Nein, Ba - shtie, niemand weiß, wo sich die Hallen von Talris befinden!«, stellte sie entschieden fest. Bastis blickte sie zweifelnd und mit übertrieben hochgezogenen Augenbrauen von der Seite her an.
»Na ja.., so wie es aussieht... Dieser hier weiß oder wusste offensichtlich etwas davon, oder?« Sie dachte nach und antwortete nicht gleich. Sein Einwand schien sie zumindest zu beunruhigen.
»Vielleicht gehörten diese Karten dem Toten...«, überlegte Sebastian beschwichtigend, »...wenn wir Glück haben, hat er sein Wissen mit ins Grab genommen und niemand sonst weiß von der Existenz dieser Dokumente und von den Hallen von Talris. Und im Moment sieht es so aus!«
»Was meint ihr, Ba - shtie...«, fragte Antarona, die sich inzwischen ein eigenes Bild von der Situation gemacht hatte.
»Ich meine...«, prophezeite er nachdenklich, »...dass es eine Katastrophe gibt, wenn die falschen Menschen dieses Zeug hier in die Finger bekommen!« Sebastian beobachtete sie von der Seite und vermisste ihre energische Entschlossenheit, die sie sonst in wichtigen Entscheidungen bewiesen hatte.
»Um es auf den Punkt zu bringen...«, erklärte er weiter, »...diese Landkarten hier können deinem Volk helfen, oder es vernichten! Sie sind gefährlich und wichtig zugleich. Darum sollten wir sie an einem absolut sicheren Ort aufbewahren, den nur wir beide kennen, verstehst du?« Nach kurzem Zögern nickte Antarona zustimmend. Dann zog sie die zweite Karte hervor und betrachtete sie eingehend.
Sebastian warf ebenfalls seinen analytischen Blick darauf, konnte aber mit der skurrilen Zeichnung nicht viel anfangen. Zwei längliche Gebilde von gleicher Ausdehnung waren darauf verzeichnet, die aber verschiedene Figuren darstellten. Die Formen erinnerten an lange, verzweigte Seen mit unzähligen Armen und Zuflüssen, wie etwa die Fjorde Schwedens und Norwegens.
Wie herum Basti die Karte auch drehte, er sah in den Zeichnungen immer nur wieder irgend welche Gewässer, oder Küstenstreifen, die Antarona von der Form her aber nicht zuordnen konnte. Also versuchten sie die Bezeichnungen der vielen Seitenarme und Buchten zu entschlüsseln. Die ganze Karte las sich selbst wie ein Abenteuerroman: Rauschende Wasser, Volk der Zwerge, Strahl der Sonne, Quell des Lebens, Halle unter dem Wasser, Wald aus Stein...
An einem Ende jeweils beider Darstellungen entzifferte Antarona wiederum den Begriff Hallen von Talris. Doch die Hallen von Talris befanden sich weit oben an den Hängen der Berge und nicht am Ende eines Sees oder gar an einer Küste!
Sebastian überlegte fieberhaft, wie diese seltsamen Karten zu deuten waren. Sollten die beiden Gebilde den See des Tales in verschiedenen Hochwasserständen zeigen? Kopfschüttelnd verwarf er den Gedanken sofort wieder. Wozu zeichnete jemand die Hochwasserzonen eines Sees und fügte dort einen Ort ein, der mindestens eineinhalb Tausend Meter höher und drei bis viertausend Meter entfernt lag? Das machte alles keinen Sinn!
»Ba - shtie.., sind das die Berge?«, fragte Antarona und zeichnete mit dem Finger die Formen auf der Karte nach. Nachdenklich blickte Sebastian in Richtung der hohen Bergkulisse im Norden, die aber noch hinter einer dicken, grauen Wolkenschicht verborgen lag. Seine Hand beschrieb eine unsichere Geste über die Karte hinweg.
»Berge, die sich zwischen zwei Formen hin und her verändern?« Ungläubig sah er seine Gefährtin an. »Davon habe ich noch nie im Leben etwas gehört!« So sehr sie ihren Geist auch bemühten, sie vermochten mit der zweiten Karte rein gar nichts anfangen. Eines aber wurde beiden klar. Das Vermächtnis des verstorbenen, unbekannten Hüttenbewohners war möglicherweise derart brisant, dass es an einen geheimen Ort gebracht werden sollte, wo es vor Torbuk oder anderen Machthungrigen verborgen blieb!
»Wir bringen diese Dinge zu eurem Vater, König Bental, Ba - shtie«, schlug Antarona vor. Aber davon wollte Sebastian nichts hören.
»Das ist, glaube ich, keine so gute Idee! Was ist, wenn wir nicht durch kommen, wenn wir von Torbuks Männern gefangen genommen werden? Dann ist das Volk der Ival in großer Gefahr! Wenn dieser Verrückte die Karte in die Hände bekommt und weiß, wo sich die Hallen von Talris befinden, dann werden die Ival sterben! Und die Oranutu werden wahrscheinlich versklavt, denn es braucht viele Hände, die Tränen der Götter aus dem Berg zu holen.«
Antarona nickte nachdenklich. Bevor sie noch etwas sagen konnte, spann Basti seine Befürchtungen weiter.
»Und König Bental... Weißt du genau, dass du ihm vertrauen kannst? Ich meine, ihm sicherlich schon...«, gab er zu bedenken, »...doch was ist mit seinen Vertrauten, mit seinen Beratern? Weißt du, ob die alle dicht halten?«
»Auf Falméra werden die wichtigen Dinge sicher sein...«, glaubte Antarona, »...das große wilde Wasser beschützt sie!«
»Was...«, fragte Basti erschrocken, »...das Wasser.., das Meer?« Er machte eine wegwerfende Handbewegung.
»Das Wasser, mein Engelchen, glaub’ mir, das wird Torbuk nicht aufhalten! Bisher war ihm Falméra nicht wichtig genug, sonst säße er bereits auf Bentals Thron! Oder glaubst du im Ernst, dass irgend etwas ihn davon abhalten könnte, auf Falméra zu landen, wenn er es wirklich wollte? Dass seine Leute nicht gut mit Schiffen umgehen können, würde ihn ebenso wenig daran hindern. Wenn der den unermesslichen Reichtum der Tafeln von Talris wittert, das kannst du mir glauben, dann wird er jemanden finden, der gut genug damit umzugehen weiß!«
»Dann werfen wir die Ka - then eben ins Feuer und sehen zu, wie sie verbrennen!«, wollte Antarona das Problem trotzig lösen. Sebastian fürchtete schon, sie hätte ihr Vorhaben gleich in die Tat umsetzen können. Rasch lenkte er ein.
»Das würde ich nicht tun! Jedenfalls nicht, bevor wir ganz genau wissen, was uns die Karten verraten. Vielleicht können sie ja dem Volk helfen? Womöglich ist in ihnen der Weg zu den Göttern beschrieben?«
»Ba - shtie...«, sagte sie mir vorwurfsvollem Blick, »...ihr kommt von den Göttern.., ihr braucht diese Ka - then nicht, wenn ihr euch erst wieder erinnern könnt!«
»Das kann schon sein...«, lenkte er schnell ein, »...aber was, wenn mir diese Karten helfen können, mich an alles zu erinnern? Vielleicht sollten wir sie an einem Ort in deiner Höhle verstecken, den nur wir beide kennen, dort wären sie sicher!« Antarona sagte nichts mehr und die Sache galt für Sebastian als beschlossen. Um ganz sicher zu gehen, legte er gleich einen Plan fest.
»Wir können diese Dinge ja in die Höhle bringen, wenn wir zu König Bental aufbrechen! Und bis dahin können wir versuchen, das eine oder andere Geheimnis daraus zu entschlüsseln.., was meinst du?«
»Antarona warf einen geringschätzigen Blick auf die Päckchen mit Münzstempeln und auf die Landkarten. Dann sagte sie müde und gereizt:
»Immer wollt ihr etwas erforschen, ergründen.., stets ist euer Gedanke, hinter ein Geheimnis zu sehen... Ba - shtie.., seht, was wirklich ist! Seht, wie das Volk der Ival leidet, seht, wo das Böse ist, das besiegt werden muss, seht...«
»Ja, genau das sehe ich, mein Engelchen...«, unterbrach er sie, »...und darum halte ich es für wichtig, diese Dinge aufzubewahren, weil ich glaube, dass sie uns einmal helfen können, weil ich vermute, dass in ihnen ein Geheimnis schlummert, das wir gegen Torbuk einsetzen können...«
»Wir brauchen solche Geheimnisse nicht, Ba - shtie, sie bringen den Ival nur Unglück!« Antarona schien das Vermächtnis des ehemaligen Hüttenbewohners als eine potentielle Gefahr anzusehen, die es sofort zu vernichten galt. Sie wollte nicht erst das Risiko eingehen, die Dinge irgendwo an irgend einem geheimen Ort zu verbergen. Sebastian hingegen, wollte zunächst hinter das Wissen der Karten gelangen, die möglicherweise darüber Aufschluss geben konnten, wo sich der Sitz der Götter befand. Aber noch mehr interessierte es ihn, ob diese Landkarten einen Weg nach Hause beschrieben, dorthin, von wo Sebastian in dieses Land gestolpert war!
Er wollte dieses Material unbedingt erhalten, denn es konnte eine Rückfahrkarte in sein monotones, sicheres Stadtleben sein, in das er und Antarona sich vielleicht flüchten konnten, falls die Situation mit Torbuk eskalierte und aussichtslos wurde.
»Wir werden diese Dinge an einen sicheren Ort bringen, aber wir werden sie nicht verbrennen, damit das klar ist!«, bestimmte Basti energisch und erntete die staunenden Blicke seiner Gefährtin. So konsequent hatte sie ihn bislang noch nicht erlebt.
Antarona dachte nach. Sie entschied sich dafür, ihm nicht zu widersprechen. Viel zu lange hatte sie darauf gewartet, dass er ihr einmal eine Entscheidung abnahm. Er war der Mann! Ein Mann traf die Entscheidungen für die Familie, so war es seit Alters her! Doch die Ival schienen ihren Stolz verloren zu haben. Die Männer wurden träge, ängstlich und scheuten sich davor, das Volk mit Taten zu führen, so, wie sie es zur Zeit der alten Könige getan hatten.
Nun war er da.., Areos, Bentals Sohn, den die Götter als Ba - shtie - laug - nids zum Volk gesandt hatten. Und sie wunderte sich darüber, dass er ebenso, wie die meisten Männer des Volkes untätig blieb, nur redete und die Entscheidungen ihr überließ.
Sie wollte einen Ba - shtie, der sie mit starker Hand führte, der die Ival mit klugen Entscheidungen lenkte und sie wollte an seiner Seite sein, ihm gehorchen, ihm eine treue, liebende Frau sein, die ihm, wenn es Zeit dafür war, einen Sohn schenken wollte. Aber er musste führen! Er sollte ihr zeigen, dass er um sie kämpfte, dass er ihr Herz erobern konnte und die Herzen des Volkes!
Es hatte sie bereits geärgert, dass er wegen ihrer Begrüßung Tarks einfach fort gegangen war, ohne sich der Situation zu stellen. Sie wollte ihn voller Stolz mit ihrem Bruder bekannt machen. Ba - shtie aber versteckte sich wie ein schmollendes Kind. Sie verstand ihn oft einfach gar nicht!
Als Bentals Sohn noch Areos, der Anführer der Truppen des Königs war, hatte sie ihn heimlich bewundert. Nein, geliebt hatte sie ihn nicht. Er war grob, egoistisch und unehrlich gewesen. Er dachte mehr an sich selbst, als an das Volk. Der Areos, den die Götter zurück schickten war anders. Areos schien wie verwandelt. Plötzlich sah er sie, die er früher nicht eines Blickes würdigte. Dafür besaß er nicht mehr die kämpferische Entschlossenheit, die ihm bei der königlichen Truppe Achtung verschaffte.
Antarona fühlte sich wie zwischen zwei Welten hin und her gerissen und ärgerte sich darüber, dass sie nicht das bekam, was sie sich vorgestellt hatte. Sie liebte Ba - shtie und wollte jederzeit für ihn sterben, doch sie vermisste seinen draufgängerischen Mut und seine Entschlossenheit. Die hatte sie an Areos so sehr bewundert. Doch den konnte sie nicht lieben, der sie nur als kleines, trotziges Mädchen sah und sich in seiner Überheblichkeit sonnte.
Sie wollte Areos und Ba - shtie in einem, mit den Vorzügen von beiden! Er sollte ihr zeigen, dass er immer bereit war, sie wieder zu erobern, er sollte die Herzen ihres Volkes erobern und er sollte sich seinen Thron und sein Land zurück erobern! Heimlich wünschte sie sich, er würde zu seinem Wesen und seiner Klugheit die Stärke und Sicherheit besitzen, die sie an ihrem Vater und ihrem Bruder Tark bewunderte.
Sie war nun mit Ba - shtie verbunden und sie wollte sich auch an die Gebote der Ival und der Götter halten. Ihr Herz sagte es ihr! Doch sie war sich unsicher, ob sie ihn tatsächlich so liebte, dass diese Liebe sie ein Leben lang erfüllen konnte.
Sebastian faltete geräuschvoll die Landkarten zusammen und unterbrach Antaronas Gedanken. Die Sonne stand am Zenit und es fiel ihr immer weniger schwer, sich einen Weg durch die Wolkendecke zu bahnen. Hin und wieder leuchtete weit oben, unter den weißen Gipfeln ein Firnfeld auf, wenn die Wolken an den gezackten Graten und eisigen Gipfeln auseinander rissen und den Strahlen des Feuerballs für einen Moment den Zugang zur Erde gewährten.
Allmählich trauten sich auch die Insekten wieder aus ihren Schlupflöchern. In ganzen Armeen tanzten die Plagegeister über den noch dampfenden Wiesen und fielen über die beiden Wandernden her, die sich kaum dagegen zu wehren wussten. Basti hatte den Eindruck, als wollten sich die kleinen Blutsauger eine Entschädigung für ihre Zurückhaltung während des Regens holen.
Zunächst versuchte er die hungrigen Mücken mit der Handfläche daran zu hindern, sich an seinem Lebenssaft zu bedienen. Mit wenig Erfolg. Ein abgebrochener Blätterzweig zeigte da schon mehr Wirkung. Allerdings war es Sebastian bald leid, mit einem Strauch um sich zu schlagen, als wollte er sich selbst geißeln.
Reno und Rona kannten solche Probleme nicht. Ihr Fell schützte sie vor unliebsamen Besuchern. Ausgelassen tollten die beiden Hunde durch das Gras und schienen nicht müde zu werden, immer wieder Wasel aufzuscheuchen, denen sie laut bellend und erfolglos hinterher hetzten.
Die Lösung gegen die fliegenden Parasiten brachte Antarona. Sie lenkte ihren Weg immer wieder in die Nähe des Waldrands oder steuerte kleine Baumgruppen auf den Wiesen an. Jedes mal untersuchte sie die Bäume und Sträucher, besah sich die Form der Blätter und betastete sie. Dann schien sie gefunden zu haben, wonach sie suchte.
An einem dünnen Baum mit knorriger Rinde hielt sie an und pflückte seine Blätter. Sie stopfte sich so viele davon in ihren Beutel, dass Sebastian meinte, sie wollte diese an ihres Vaters Vieh verfüttern. Er hatte sich bereits daran gewöhnt, dass seine Gefährtin, wo immer sie unterwegs waren, irgend welche Pflanzen, Rinden, oder Pilze sammelte und fragte nicht weiter nach.
Das nächste Mal verhielt sie an einem Strauch, der eine Vielzahl von violetten bis schwarzen, bereits vertrockneten Blütenrispen trug. Auch von dieser Pflanze sammelte sie einen nicht gerade bescheidenen Vorrat von Blättern, die sie in einen anderen Beutel steckte.
Als sie meinte, sich genug an Mutter Natur bedient zu haben, wandte sie sich wieder dem Ufer des Baches zu. Dort suchte sie sich zwei ziemlich flache, vom fließenden Wasser abgerundete Steine heraus. Anschließend legte sie die Blätter des knorrigen Baumes dazwischen und begann sie zu einem Brei zu zermahlen. Dabei tropfte sie immer wieder Wasser in den Brei, so dass dieser eine flüssige Konsistenz behielt.
Die Flüssigkeit, die sie dann aus dem Brei quetschte, ließ sie in die Mulde eines großen Blattes tropfen, das sie vorher in den weichen Boden gedrückt hatte. Diese Arbeit betrieb sie mit Hingabe, bis sich das Blatt gut halb gefüllt hatte.
»Zieht eure Kleider aus, Ba - shtie...«, brach sie plötzlich ihr Schweigen, »...und reibt euch mit dem Saft ein. Er vertreibt die kleinen, lästigen Diebe des Blutes!« Antarona blickte ihn auffordernd an. Sebastian nickte dankbar, zog sich das Hemd über den Kopf und wollte sich zu ihrer Blätterschale hinunter beugen.
»Nein.., ihr müsst alles ausziehen und euch ganz damit einreiben, Ba - shtie, sonst wirkt es nicht!«, belehrte sie ihn. Basti blickte sie entsetzt an.
»Wie.., jetzt.., hier? Ganz nackt?« Er sah sich peinlich berührt um, als suchte er eine Umkleidekabine, wie beim Jeanskauf im heimischen Konfektionsgeschäft. Antarona wurde zusehends ungeduldig.
»Natürlich hier! Nun macht schon..! Während der schlafenden Sonne am Feuer in der Hütte hattet ihr kein Hadern damit«, warf sie ihm grinsend vor. Umständlich machte er sich an seiner Hose zu schaffen. Er hatte das Gefühl, von hunderten Schaulustiger beobachtet zu werden, als er sich schließlich von Kopf bis Fuß mit der Flüssigkeit einrieb. Sebastian glaubte sogar, Rona und Reno würden sich an seinem komischen Anblick ergötzen.
Der Saft, den Antarona aus den Blättern gepresst hatte, roch unangenehm, beinahe wie ranziges Fett. Das Zeug produzierte einen feinen öligen Film und ließ seine Haut leicht bronzen schimmern. Die Wirkung aber war unbestritten. Augenblicklich machten die Mücken einen großen Bogen um Sebastian Lauknitz.
Nachdem sich Antarona ungeniert entkleidet hatte, was bei ihrer spärlichen Bedeckung eine Sache von Sekunden war, massierte sie sich ebenfalls den fettigen Saft auf die Haut. Danach, sie hielt sich erst gar nicht damit auf, wieder ihre Kleider anzulegen, verarbeitete sie die Blätter aus dem zweiten Beutel in ähnlicher Weise. Der einzige Unterschied bestand darin, dass sie nicht nur den Saft, sondern den ganzen Pflanzenbrei in die Blätterschale gab.
Zuletzt nahm sie die stark, aber angenehm herb duftende Paste in die Finger und trug sie auf die Insektenstiche in Bastis Haut auf. Er bemerkte ein kurzes Brennen, spürte dann aber, wie der Brei angenehm kühlte und den Juckreiz abklingen ließ. Die Behandlung war eine Sache von vielleicht zwanzig Minuten, die Wirkung jedoch hielt den ganzen Tag an.
Bald erreichten sie die alte Wassermühle, deren Geräusche Sebastian gehörig Angst eingejagt hatten. Antarona gegenüber erwähnte er nichts von seinem virtuellen Abenteuer. Er wusste, dass sie Träume ernst nahm und wollte sie nicht unnötig beunruhigen.
Die Sonne senkte sich bereits über die Bergspitzen, da näherten sie sich der Baumgruppe mit den Felsen, in denen nun Antaronas Schwert Nantakis steckte. Sebastian plagte sein schlechtes Gewissen und er wäre am liebsten in weitem Bogen um diesen Ort herum geschlichen.
Das Krähenmädchen indes schien ihm seine Entgleisung nicht weiter übel zu nehmen. Sie ging schnurgerade auf die Felsengruppe zu, als gab es dort nichts Ungewöhnliches. Basti folgte ihr wie ein begossener Pudel. Zunächst fand er das Schwert gar nicht wieder.
Dann bemerkte er, dass es jemand mit Zweigen und Blättern gut getarnt hatte. Wahrscheinlich war es Antarona selbst, die es vor allzu neugierigen Blicken zu verbergen versuchte. Zielstrebig deckte sie die Tarnung von ihrer Waffe ab und sah sich dann zu Sebastian um. Der zuckte nur entschuldigend mit den Achseln.
»Ja, das tut mir jetzt wirklich sehr, sehr leid, Antarona...«, druckste er herum, »...aber ich habe das alles schon versucht.., es steckt einfach zu tief drin. Ohne Hilfe bekommen wir das da nicht wieder heraus!« Heimlich hoffte er, dass Antarona eine Lösung parat hatte, doch im Grunde erwartete er, dass sie ihm schwere Vorwürfe machen würde. Doch nichts dergleichen geschah.
»Versucht es noch mal«, sagte sie nur und lächelte ihn süß an. Es war jenes Lächeln, das sie stets an den Tag legte, wenn sie wusste, dass sie ihm überlegen war und welches ihm immer wieder deutlich machte, wie wenig er über ihre Welt wusste. Zögernd trat er an das Schwert heran und sah sich fragend zu seiner Geliebten um.
»Versucht noch einmal es heraus zu ziehen, Ba - shtie, tut es einfach!«, machte sie ihm Mut. Dabei kam sich Sebastian vor, wie ein dummer Junge, der nicht den Mut hatte, eine Aufgabe seiner Lehrerin zu lösen. Er sah ihren auffordernden Blick und schämte sich.
Trotzig, weil er wusste, dass dieses Ding wirklich unwiderruflich fest steckte, packte er demonstrativ den Griff der Waffe und wollte mit einer übertrieben gespielten Geste daran ziehen, um Antarona von der Aussichtslosigkeit des Versuchs zu überzeugen.
Plötzlich flammte Nantakis bläulich auf, löste sich mit einer nicht erwarteten Leichtigkeit aus dem Stein und ließ Sebastians Arm in die Höhe fliegen. Augenblicklich verlor er das Gleichgewicht, stolperte rückwärts und schlug unsanft auf dem Boden auf. Das Schwert beschrieb noch einen Salto und blieb neben seinem Kopf wippend in der Erde stecken.
Völlig verdutzt rappelte sich Basti hoch und blickte ungläubig auf die Waffe. Antarona kam lachend auf ihn zu, schlang ihre Arme um seinen Hals und ihre sinnlichen Lippen verführten ihn zu einem leidenschaftlichen Kuss, der ihn fast noch einmal von den Beinen riss. Egal, in welcher Situation er sich befand; ihren Reizen war er immer und überall hilflos ausgeliefert!
Noch ehe er wieder klar denken konnte, nahm sie ihre Waffe auf verbarg sie wieder im Spalt zwischen den Felsen. Sebastian glaubte an einen Trick, oder an irgend eine Zauberei und sah immer noch ziemlich verdattert drein.
»Was zum Teufel war das nun wieder? Was hast du damit gemacht? Ich hatte wieder und wieder versucht, das Ding da raus zu bekommen, hab’ gezogen, gedrückt, hab’ alles versucht... Und jetzt auf einem mal springt das Teil fast von selbst aus dem Stein? So etwas gibt es doch gar nicht!«
»Es ist die Macht der Götter, Ba - shtie...«, klärte sie ihn auf, »...Nantakis tut, was jener denkt, der es führt! Ihr hattet es im Zorn in den Fels geschlagen und es löste sich nicht, weil euer Zorn gegen Sonnenherz noch in euch war. Ihr wolltet nicht wirklich, dass es sich wieder heraus ziehen lässt.« Antarona lächelte ihn versöhnlich an und erklärte weiter.
»Dann haben sich unsere Herzen wieder gefunden und die Liebe hat euren Zorn besiegt. Nun war es euer tiefer Wunsch, Nantakis wieder aus dem Stein zu befreien. Nantakis spürte das und lies sich heraus ziehen!«
»Aber ein Schwert kann nicht denken.., es lebt nicht!«, entgegnete er, überzeugt von seinem Wissen. Antarona sah ihn durchdringend an.
»Nantakis besitzt die Kraft der Götter, Ba - shtie - laug - nids, es ist eines der Schwerter der Götterwesen. Nantakis ist nicht, wie andere Schwerter!«
Nun, das hätte er sich denken können! Antarona hinterfragte nichts, was ihren Glauben an die Götter anging. Die Ival waren ein einfaches Volk. Konnten sie etwas nicht mit rationellem Verstand erklären, dann waren die Götter dafür verantwortlich.
Die meisten Naturvölker der Erde schrieben Dinge, die sie mit ihrem Verstand nicht erfassen konnten, der Willkür ihrer Götter zu. Und selbst er, Sebastian Lauknitz, neigte ja bereits dazu, Antaronas Geschichte von den Götterwesen teilweise anzunehmen. Denn wo sonst kamen die blauen Blitze, die Hallen von Talris und diese Schwerter mit unerklärlichen Kräften her? Dinge, die von Menschenhand sicher nicht erschaffen wurden!
Doch darüber zu philosophieren war nicht der richtige Zeitpunkt. Sebastian war müde, hungrig und verdreckt! Der Wunsch, sich in die Obhut irgendeiner halbwegs zivilisierten Geborgenheit zu begeben, war stärker, als die Angst vor Antaronas Vater. Was erwartete ihn in den vier Wänden des Holzers? Wie reagierte ein Vater, der widerwillig mit ansehen musste, wie seine einzige Tochter einem seltsamen Fremden nachlief, als wäre sie ihm hörig?
Sebastian lernte, dass die Ival unkomplizierter waren, als er es sich hätte vorstellen können. Sie kamen auf den Hof des Holzers, als dieser gerade mit einer großen Ladung Holzstangen auf seinen Schultern aus einer seiner Scheunen trat. Ungeachtet des entstehenden Lärms ließ er das Holz achtlos zu Boden poltern und ging mit energischen Schritten auf die beiden Verliebten zu.
Schon sah sich Basti am ausgestreckten Arm eines wütenden Vaters hin und her baumeln, wie am Klüverbaum eines sturmgepeitschten Segelschiffes. Die mächtigen Pranken dieses Mannes würden ihm einfach das Leben aus dem Leib drücken. Aber nichts von Sebastians Vorstellung geschah.
Statt dessen hob Hedaron seine Tochter mit einem Arm hoch und legte den anderen freundschaftlich um Sebastians Schultern. Dann führte er sie beide in den Wohnraum seines verhältnismäßig komfortablen Hauses. Drinnen saßen drei bekannte Männer am Tisch über einen glänzenden Gegenstand gebeugt.
»Na sieh mal an...«, begrüßte sie Falméras Medicus mit spöttischer Stimme, »...der verlorene Sohn ist zurückgekehrt. Und wo der ist, ist das Töchterchen auch nicht weit, nicht wahr?«
Sebastian hätte Andreas am liebsten eine schallende Ohrfeige verpasst. Doch Tark und Högi Balmer blickten ihn prüfend an. Solch ein Verhalten hätten sie ihm möglicherweise als Schwäche ausgelegt. Tark und Hedaron hatten die Worte des Doktors wahrscheinlich sowieso nicht verstanden. Högi Balmer war zwar der Sprache des Totenreichs mächtig, doch ob er den sarkastischen Sinn verstanden hatte, blieb für Basti zweifelhaft.
Zumindest die zwischen Sebastian und dem Doktor entstandene Spannung blieb den anderen nicht verborgen. Hedaron stellte seine Tochter sanft auf den Boden und blickte neugierig in die Runde. Provozierend langsam ging Sebastian auf den Doktor zu. Er wünschte sich, dieser würde auch nur mit den Händen zucken...
Tark entschärfte die Situation in dem Augenblick, als sich Andreas gerade von seinem Stuhl erheben wollte. Ob Tark die plötzliche Feindseligkeit zwischen Basti und dem Doktor spürte, wer weiß!
Jedenfalls war er schneller als Andreas. Spontan stand er von seinem Platz auf und kam um den Tisch herum. Dass Sebastian vor Schreck einen Schritt zurück wich, ignorierte er. Vor Andreas staunendem Blick schloss er Sebastian in seine Arme, wie einen Bruder, den er lange nicht gesehen hatte.
Plötzlich war dem Doktor der Wind aus den Segeln genommen. In Anbetracht der Tatsache, dass Sebastian von Antaronas Familie akzeptiert wurde, und auch Högi Balmer nichts gegen den Mann von den Göttern vorzubringen hatte, hielt es Andreas für klüger, seine immer öfter aufkeimende Antipathie gegen Sebastian hinunter zu schlucken. Lauknitz fragte sich insgeheim, woher diese plötzliche, gegenseitige Ablehnung kam und fand nur eine Erklärung.
Vage erinnerte er sich an sein Gespräch mit Balmer und dem Doktor, als Högi das erste Mal von Sonnenherz sprach. Andreas wurde bei der Erwähnung Antaronas plötzlich still und zurückhaltend. War er selbst schon seit langer Zeit heimlich in Antarona verliebt? Nun, abwegig war das keineswegs. Welcher Mann konnte sich der faszinierenden Schönheit einer solch attraktiven, jungen Frau schon entziehen?
War Sebastian unwissend den heimlichen Hoffnungen des Doktors in Bezug auf Antarona in den Weg getreten? Dann war es nicht weiter verwunderlich, dass ihn Andreas wie jemanden behandelte, der ihm das Liebste auf der Welt wegnehmen wollte. Blieb die Frage, ob er die Verbindung zwischen Antarona und Sebastian Lauknitz akzeptieren würde. Wie weit würde Falméras Medicus gehen, um seine heimliche Liebe dennoch zu bekommen?
Diese Frage wurde erst einmal gegenstandslos, denn er musste sich zunächst gegen die Herzlichkeit seines neuen Bruders erwehren. Tark drückte und umarmte ihn so fest, dass ihm beinahe schwarz vor Augen wurde. Sebastian nahm es dankbar in Kauf. Viel wichtiger erschien ihm, dass Tark offenbar die Liebe seiner Schwester zu dem Fremden unterstützte!
Ausgerechnet der Mann, den Sebastian selbst als seinen Konkurrenten bei der Eroberung Antaronas Herzens angesehen hatte, sicherte ihm nun die nötige Anerkennung als des Lebensgefährten seiner Schwester. Der Aufenthalt in diesem Land hielt für Sebastian zu jeder Stunde neue, überraschende Wendungen bereit!
Tark schlug ihm anschließend freundlich auf die Schulter und sagte etwas, das er wegen seiner mangelnden Sprachkenntnisse nicht verstand. Hilfe suchend drehte er sich zu Antarona um.
»Mein Bruder freut sich den Mann zu umarmen, der seine Schwester glücklich macht«, übersetzte sie wahrheitsgemäß. »Tark möchte, das ihr sein Bruder seid, Ba - shtie, und ein guter Freund!«
Froh über diese glückliche Fügung der Umstände, ergriff Sebastian lachend Tarks Hand und schüttelte sie freundlich. Er wäre sich lächerlich vorgekommen, ihn ebenfalls zu umarmen. Ein Zwerg umarmt einen Riesen! Antaronas Bruder hätte es wahrscheinlich als eine ganz normale Geste verstanden, doch dem Doktor wollte er dieses Schauspiel nicht gönnen!
Falméras Medicus stand inzwischen die pure Missgunst in den Augen geschrieben. Sehr schnell wurde Sebastian klar, dass Andreas plötzlich zu allem bereit war, ihn vor Antarona, ihrer Familie und den Ival zu denunzieren. Ausgerechnet jener distanzierte sich auf einem Mal von Sebastian, der einmal seine letzte Hoffnung gewesen war.
»Es braucht eine ganze Weile, bis man sich dazu entschließen kann.., und man überlegt es sich dreimal, bis man heimlich die persönlichen Dinge eines Gastes durchsucht...«, begann Andreas hinterlistig und nahm den Gegenstand auf dem Tisch in seine Hand, »...aber manchmal lohnt es sich!« Gewichtig drehte er das Etwas hin und her und hielt es dann ins Licht, so dass es jeder im Raum erkennen konnte.
Sebastian stand beinahe das Herz still! Der Doktor hielt das schwere Medaillon mit der Kette in der Hand, das Sebastian dem Skelett am Wegesrand abgenommen hatte, als er von Balmers Alm ins Tal unterwegs gewesen war.
»Na.., erkennt ihr das wieder, Mann von den Göttern...«, tönte er siegessicher, »...oder sollte ich besser sagen: Spion Torbuks von Quaronas?« Damit warf die Metallscheibe aus dem Handgelenk auf den Boden. Klirrend blieb der Schmuck zu Füßen des Holzers liegen.
»Erzählt eurer Liebsten doch mal, wie das war! Hat euch Torbuk sein Wappen selbst verliehen, oder habt ihr es von einem seiner Heerführer erhalten?« Er grinste hämisch über das ganze Gesicht, während Antarona und ihr Vater entsetzt auf den Orden hinab starrten. Nur Högi Balmer und Tark schienen eher unbeteiligt.
»Sagt mir mal...«, hetzte der Doktor weiter, »...was habt ihr dafür tun müssen, um diese Auszeichnung von Torbuk zu bekommen? Na.., welches waren eure Heldentaten? Wie viele Ival habt ihr dafür getötet? Oder habt ihr nur ein paar Mädchen des Volkes geschändet? Sagt schon.., wie war das?« Andreas ergötzte sich daran, wie seine Worte auf Antarona und Hedaron wirkten.
Letzterer bückte sich betont langsam, ohne Sebastian auch nur einen Augenblick lang aus den Augen zu lassen. Stumm hob er den Gegenstand von den Dielen auf und betrachtete ihn skeptisch. Mit finsterer Miene blickte er dann Sebastian an.
Bevor er noch etwas sagen konnte, trat Antarona neben ihren Vater und nahm ihm den Beweis für Sebastians vermeintlichen Verrat aus der Hand. Sie sah sich das Stück genau an und Basti rechnete fest damit, dass er nun endgültig ihr Vertrauen verloren hatte.
»Ba - shtie, ist es wahr, dass der Medicus dies bei euren Dingen fand?« Sie stellte ihm nur diese eine Frage und sah ihm dabei tief in die Augen. Ihre Stimme klang fest und sicher, aber Sebastian spürte eine tiefe Unsicherheit in ihr. Doch niemand sonst schien die Zweifel zu bemerken, die sich in ihr ausbreiteten.
Fast wäre er versucht gewesen, irgend eine Lüge zu erfinden, um die Sache herunter zu spielen. Jedoch einer inneren Eingebung folgend, entschied er sich, ihr die Wahrheit zu sagen.
»Ja, mein Engel, das ist aus meinem Rucksack!« Spätestens jetzt musste sich das Krähenmädchen von ihm abwenden, glaubte er. Antarona indes blieb weiterhin gefasst und ließ keine Spekulation darüber aufkommen, dass sie allein diese Sache klären wollte, die jenen Mann betraf, dem sie ihr Herz anvertraut hatte.
»Da seht ihr es...«, triumphierte der Doktor voreilig, »...er gibt es auch noch ohne ein Zeichen der Reue zu! Er wagt es sogar, uns mit dieser Niedertracht zu beleidigen!« Zu Antarona gewandt fügte er noch rasch hinzu:
»Und ihr lauft ihm noch nach, bietet ihm schamlos euren lüsternen Schoß an, wie eine läufige Eishündin...« Unerwartet war es die donnernde Stimme des Holzers, die dazwischen fuhr und des Doktors Vorwürfe jäh beendeten. Nachdem er den aufgebrachten Medicus zum Schweigen gebracht hatte, sah er stumm seine Tochter an, als erwartete er von ihr eine Antwort.
Die wiederum heftete erneut ihren ernsten, durchdringenden Blick auf Sebastian, dem nach den letzten Worten des Doktors endgültig der Kragen platzte.
»Doktor von Falméra...«, sagte Sebastian gefährlich leise und ruhig, »...wenn du Antarona noch ein einziges Mal so beleidigst, oder sie angreifst, oder sie auch nur schief ansiehst, dann verspreche ich dir hiermit feierlich.., dann nagele ich dein verkommenes Fell eigenhändig mitsamt deiner dreckigen Phantasie an den nächsten Baum!« Sebastian wartete, bis das fiese Grinsen im Gesicht des Doktors gefror und starrte ihn hasserfüllt an. Dann fügte er noch hinzu und ließ seine Frage wie eine Drohung klingen:
»Habe ich mich klar und deutlich genug ausgedrückt?« Nachdem sein Satz eine kaum zu ertragende Stille im Raum geschaffen hatte, wandte sich Sebastian seiner Geliebten und ihrem Vater zu.
»Dieses Ding, über das ihr euch alle so aufregt, habe ich einem Knochenmann, einem Götzenbild abgenommen, das am Wegesrand stand, als ich von Balmers Alp herab kam! Was ist daran so besonders? Es ist nur eine Metallplatte mit einem...«
»Ich glaube euch nicht ein Wort! Beweist, dass ihr nicht zu Torbuks Männern gehört.., beweist es, wenn ihr könnt!«, unterbrach ihn der Doktor mit sich überschlagender Stimme.
Sebastian ignorierte ihn. Statt dessen wandte er sich an den Holzer und setzte voraus, dass Antarona seine Worte übersetzte.
»Ist es in eurem Hause stets so üblich, die Bündel von Gästen ungefragt zu durchsuchen, oder tut ihr das nur bei Menschen, welche euch helfen wollen?« Sebastian ließ seinen Sarkasmus wirken. Antarona übersetzte und Hedaron sah nun düster zu Andreas hinüber. Der wollte sich aufbrausend von seinem Stuhl erheben. Doch die riesige Hand Tarks, der noch immer neben dem Doktor stand, drückte ihn mit sanfter, aber entschlossener Gewalt wieder auf den Sitz zurück.
Dann ging er zu Hedaron und Antarona hinüber und raunte ihnen leise etwas zu. Dabei zeigte er auf die Kette. Hedaron nickte zustimmend und auch Antaronas Blick hellte sich wieder auf.
»Dies ist ein Zeichen des Bösen in diesen Tälern! Was wolltet ihr damit, Ba - shtie?«, fragte sie ihn. Sebastian zuckte unbestimmt mit den Schultern.
»Keine Ahnung.., ich weiß nicht.., nichts bestimmtes... Das hing da nutzlos am Wegrand an einem Knochenmann. Ich fand es interessant und habe es einfach mitgenommen!« Beschwörend hob Basti beide Hände, bevor er weiter sprach.
»Also bitte.., ich dachte mir nichts dabei. Wenn ich damit jemanden beleidigt haben sollte, oder etwas entweiht habe, dann tut es mir leid, das war nicht meine Absicht!«
»Ba - shtie.., ihr habt es wohl ebenso vergessen, wie vieles andere. Niemand wird es euch nachtragen«, erklärte ihm Antarona feierlich und gab ihm das Medaillon zurück. Dann nahm sie seine Hand und zog ihn hinter sich her nach draußen. Den Doktor würdigte sie dabei nicht auch nur eines flüchtigen Blickes.
Doch, es gab jemanden, der ihm etwas nachtrug! Falméras Medicus! Sebastian hatte ihm seine heimliche Liebe vor der Nase weg geschnappt. Das würde der ihm auf ewig nicht verzeihen! Hatte der Doktor bis zu diesem Zeitpunkt noch Hoffnung haben können, zumindest Antaronas Freundschaft für sich zu gewinnen, so durfte er nach seinem emotionalen Ausbruch sicher sein, statt dessen Antaronas Missachtung auf Lebenszeit erworben zu haben.
Wie konnte sich Sebastian so in einem Menschen täuschen? Anfangs, auf Balmers Alp, zeigte sich der Medicus hilfsbereit und umgänglich. Warum konnte er Bastis Verbindung mit Antarona nicht einfach akzeptieren und fair bleiben? Die Ival hatten schließlich nicht nur diese eine bezaubernde Tochter, die einen Mann mit einem gemütlichen Zuhause zu verwöhnen wusste!
Als konnte Antarona seine Gedanken lesen, sagte sie beruhigend: »Macht euch seinetwegen keine Sorgen, Ba - shtie.., wir brauchen ihn nicht!« Er sah sie nachdenklich an.
»Na ja.., wenn das Volk um seine Freiheit kämpfen muss, ist es nicht schlecht, einen Doktor zu haben«, gab er zu bedenken, »...so eine Sache wird wohl nicht ohne Verwundete ausgehen!« Sie lächelte und legte ihm besänftigend ihre Hände auf den Arm.
»Sorgt euch nicht, Ba - shtie, wir haben unsere Heilerinnen! Die Mütter und Töchter des Volkes verstehen sich darauf, Verletzungen zu heilen!«
Sebastian nickte nur stumm dazu. Sicher gab es, wie bei jedem Naturvolk, auch bei den Ival irgend welche Kräuterhexen, die Schnittverletzungen, Pestbeulen, oder Gelenkschmerzen zu heilen vermochten. Doch ein Krieg, und diese Möglichkeit war nicht mehr auszuschließen, hinterließ andere Verletzungsmuster. Wer außer dem Doktor war hier in der Lage ein Bein, oder einen Arm zu amputieren? Wer sonst besaß die Fähigkeit, die Aufgabe eines geschulten Chirugen zu übernehmen? Andreas hatte zumindest an Reno bewiesen, dass er etwas davon verstand.
Allerdings war Sebastian nicht so recht klar, woher dieser seine Kenntnisse hatte, denn in diesem Land schien er der einzige zu sein, der eine Operation ausführen konnte. Einen anderen Arzt hatte er in diesen Tälern bislang nicht kennen gelernt.
Antarona indes war davon überzeugt, notfalls auch ohne Andreas auszukommen. Und Sebastian hatte gelernt, dass man ihrem Urteilsvermögen durchaus vertrauen konnte. Also schreib er Andreas zunächst ab.
Sie erreichten den See hinter ihres Vaters Hof und schlenderten am Ufer entlang, bis eine alte, knorrige Weide ihre aus dem Boden ragende Wurzel zum sitzen anbot. Sebastian fragte sich, weshalb es dem Doktor nicht gelungen war, ihn, Basti Lauknitz, den beim Volk unbekannten, als Verräter hinzustellen. Schließlich genoss Andreas als Mitglied des Achterrats ein hohes Ansehen, während er, Sebastian, mal abgesehen von seiner Ähnlichkeit mit Areos, ein Fremder war. Besaß Areos ein so großes Vertrauen bei den Ival, dass sein bloßes Aussehen schon genügte, um ein Achterratsmitglied zum Schweigen zu bringen? Er wollte es genau wissen!
»Antarona, sag mal, woher wusstet ihr, dass ich die Wahrheit gesprochen habe?« Dabei hielt er ihr die Kette mit der Medaille vor die Nase.
»Wir wussten es nicht...«, gab sie unumwunden zu, »...wir mussten dem Medicus glauben! Tark aber konnte sich erinnern, dass jenes Zeichen des Bösen zu einem Geisterbann am Weg zum Reich der Toten gehörte. Tark geht oft diesen Weg, wenn er die Ival, die uns für immer verlassen haben an das Tor zum Reich der Toten und der Götter bringt. Das Zeichen des Bösen gehörte einem Führer von Torbuks Soldaten, der in einem Dorf der Ival den Tod fand. Tark wusste, dass ihr die Wahrheit sprecht. Und wir wussten, dass Tark die Wahrheit sagte, denn er müsste die Geister der Toten fürchten, wenn sein Herz nicht rein wäre!«
Sebastian nickte verstehend. Gleichzeitig fragte er sich, wie schon so oft in den letzten Wochen, was es mit dem Tor zum Reich der Toten auf sich hatte. Jedes Mal begann er seine gedankliche Reise zu einer befriedigenden Antwort bei der simpelsten und glaubwürdigsten Erklärung, die ihm einfiel, die sich aber rasch an seinen eigenen Erfahrungen in diesem Land zersetzte. Stets blieb ihm als plausibelste Erklärung die auch gleichzeitig fantastischste übrig! Er befand sich in einem Leben nach dem Tod!
Seit je her beschäftigten sich die Menschen nicht nur in Sebastians Kulturkreis mit der Frage nach der Existenz eines Lebens nach dem Tod. Sebastian selbst dachte nie viel darüber nach. Er war Realist! Doch bereits in seiner Kindheit wurde er mit diesem Thema konfrontiert. Er glaubte nie wirklich an ein Leben nach dem Tod. Aber es gab Darstellungen darüber, die ihn dennoch faszinierten, weil sie einfach melancholisch schön waren!
Deutlich erinnerte er sich an eine Geschichte, die ihm sein Vater als Kind vorgelesen hatte und die nach seinen Erlebnissen der letzten Wochen wieder Bedeutung bekam: Die Brüder Löwenherz, geschrieben von einer bekannten skandinavischen Kinderbuchautorin. In dieser Geschichte reisten zwei Brüder nach ihrem Tod in eine andere, phantasievolle Welt des Kirschtals in Nangijala, in der Dinge möglich waren, die sie in ihrer bisherigen Welt für ausgeschlossen hielten. Auch in ihrem Leben nach dem Tod mussten sich die Brüder dem Bösen, in Gestalt des Tengil und seines Drachen Katla stellen.
Volossoda, das Val Mentiér, Torbuk und der Gor... Waren sie das Nangijala, das Kirschtal und der Tengil des Sebastian Lauknitz? War er, wie die Brüder in der alten Geschichte, seiner Janine in eine Welt nach dem Tod gefolgt? Er schüttelte den Kopf, als wollte er diese Möglichkeit wie eine lästige Fliege von sich fern halten. Aber sie kam zurück, diese Fliege. Immer und immer wieder ließ sie sich beharrlich auf ihm nieder, so oft er sie auch fort scheuchte.
Sebastian war Realist! Realisten glaubten nicht an ein Leben nach dem Tod! Was aber blieb ihm nach realistischer Einschätzung dessen, was er nur allzu realistisch erlebt hatte? Was war nach all seinen gedanklichen Recherchen die einzige Erklärung, die übrig blieb? Ein Nangijala!
Wenn er, Sebastian Lauknitz, aber durch das Tor zum Reich der Toten in Antaronas Welt gelangt war, warum hielt dann jeder in diesem Tal diese Tatsache für eine Seltenheit? Musste dann nicht jeder in dieser Welt einmal durch dieses Tor getreten sein? Oder gab es mehrere Tore in mehrere Leben nach dem Tod, auf die sich alle Verstorbenen aufteilten? Wieder schüttelte er den Kopf, diesmal heftiger, weil die Fliege einfach nicht mehr verschwinden wollte.
»Was habt ihr, Ba - shtie? Was denkt ihr.., welche Zweifel plagen euch so?« Antarona beobachtete ihn fragend.
»Ach, nichts weiter...«, schwindelte er, »...ich überlege nur, wann dieses Land einmal so friedlich sein wird, dass wir beide ohne Angst in seinen Tälern leben können.« Sebastian legte den Arm um die Frau seines Herzens und lehnte sich zurück, bis der Himmel sein Blickfeld ausfüllte. Vereinzelte Nachboten des Regens zogen noch vom Höhenwind getrieben, über ihren Köpfen in der Abenddämmerung dahin.
»Ich habe nur Angst, mein Engelchen«, sagte Sebastian leise und sein Blick verlor sich in der Unendlichkeit, in der nur die wattigen Dampfgebilde ein unstetes Leben führten. Tief Luft holend dachte er laut.
»Ich habe Angst davor, dass uns zu wenig Zeit bleibt, für einander da zu sein. Es geschieht so Vieles, dem wir ausgeliefert sind.., dem wir uns stellen müssen. Viel lieber würde ich aber mit dir ungestört zusammen sein, jeden ganzen Tag und jede ganze Nacht. Ich möchte dich umarmen, deine Wärme spüren und dich nie wieder los lassen!«
Die alte Weide breitete ihren tief hängenden Baldachin aus dünnen Zweigen über den beiden Liebenden aus, scheinbar von der restlichen Welt abgeschirmt. Wie eine Schutz suchende Katze schmiegte sich Antarona an seinen Körper. Sie umarmten sich, ließen sich von den Wellen des Glücksgefühls davontragen und vergaßen für eine Weile das Böse dieser Welt.
Irgendwann, unter dem glitzernden Teppich der Sterne trug Sebastian sein verträumt lächelndes Krähenmädchen wie ein heimlicher Dieb in das Haus ihres Vaters, die dunkle Treppe hinauf, bis in ihr Gemach. Ohne ein Licht, in völliger Dunkelheit zog sie ihn auf ein scheinbar riesiges Lager mit weichen Fellen und zeigte ihm, wie die Frauen der Ival das Blut ihrer Männern das Blut zum kochen bringen konnten...

Als der Morgen sich ein erstes Licht von der Sonne stahl, wachte Sebastian auf. Ein knurrendes Geräusch hatte ihn geweckt! Er lag still da und lauschte. Außer Antaronas regelmäßige Atemzüge war nichts zu vernehmen. Doch, da! Das Knurren eines bösen, hungrigen Tieres breitete sich in Bastis Bauch aus. Er brauchte nicht lange, um zu begreifen: Das Tier war er selbst!
Er setzte sich auf und wurde von jedem Einzelnen seiner Knochen begrüßt. Als hätte er in der letzten Nacht bereits Torbuks gesamtes Regime aus dem Land gejagt, so fühlte sich. Fröstelnd blickte er sich um. Zwei kleine Dachfenster ließen kaum etwas von dem spärlichen Licht herein, das der werdende Tag spendete. Schemenhaft erkannte Sebastian die Konturen Antaronas neben sich, die sich unter den Fellen abzeichnete. Ruhig hob und senkte sich das Fellknäuel, unter dem nur ihr langer, schwarzer Schopf hervor lugte.
Basti befand sich in einem kleinen, gemütlichen Zimmer, dessen kleine Dachschräge von den Fenstern unterbrochen wurde. Hatte er angenommen, dass Antaronas Bereich im Haus ihres Vaters die Züge eines geschmackvoll eingerichteten Heims besaß, so hatte er sich grundlegend getäuscht.
Außer einem Tisch und einem Stuhl, sowie eine Art grob zusammen gezimmerte Kommode, gab es keine Einrichtungsgegenstände. Antaronas Bett bestand aus einem riesigen, auseinander gebreiteten Haufen weicher Felle, die den größten Platz im Raum einnahmen. Ähnlich wie in ihrer Höhle am See hingen von der Decke und der Schräge eine Vielzahl von getrockneten Kräuter herab, die einen nicht unangenehmen Duft verströmten.
In einer Ecke des Zimmers standen drei lebensgroße Gebilde, die Sebastian im diffusen Licht zunächst für heimliche Gestalten hielt, die ihren Schlaf bewacht hatten. Bei näherem Hinsehen erkannte Sebastian jedoch drei Kleider, die offenbar über ein Gestell aus Weidengeflecht gezogen waren. So sah also hierzulande der Kleiderschrank einer Frau aus!
An der Seitenwand zur Tür hin, waren brusthohe, schmale Boxen aus Holz angebracht, die verschiedene Hieb- und Stichwaffen daran hinderten umzufallen. Schwerter, kurze Lanzen, und lange Messer erinnerten Sebastian eher an den Saal einer Raubritterburg, als an das Gemach einer einundzwanzigjährigen Frau.
Über den Boxen hing eine sehr großzügige Auswahl von Kriegsbogen an der Holzwand. Leicht konnte man den Eindruck gewinnen, in ein indianisches Waffendepot zu blicken. Das dunkle Holz der Zimmerwände schluckte einen Großteil des einfallenden Lichts, dennoch entging Sebastian nicht, dass dieses Zimmer ständige Pflege erfuhr.
Bei oberflächlichem Hinsehen, konnte man noch an eine unaufgeräumte Gerümpelkammer denken. Doch bei näherer Betrachtung fiel die Ordnung eines Systems auf. Verschiedene eisenbeschlagene Holztruhen waren so drapiert, dass sich je eine Kiste einem Einrichtungsbereich zuzuordnen war. Eine fein verzierte Truhe stand bei den Kleidern, während eine eher grob bearbeitete vor den Waffenhaltern stand.
Auf der blanken Holzplatte des Tisches standen in chaotischer Anordnung kleine irdene Schälchen, und Töpfchen, die allesamt nicht größer waren, als eine Frauenhand, neben einem Teller mit Griff, der eine dicke, gelbe Kerze trug. Ein paar metallene Stößel lagen herum, als hätte man sie nach Gebrauch einfach fallen gelassen und der Stuhl vor dem Tisch war mit einem flauschigen Fell bezogen, das an der Rückseite der Lehne mit Lederschnüren verknotet war.
Im unteren Bereich der Dachschräge waren gehobelte Bretter als Ablage angebracht. Im Zimmer einer jeden Frau, zumindest in Sebastians zivilisierter Welt, hätten sich darauf Unmengen von Pflegemitteln befunden, fein säuberlich aufgereiht, wie ein kleines Modell des Stadtteils von Manhattan. Nicht jedoch bei Antarona, dem Krähenmädchen, das sich Sonnenherz nannte und dessen Hobby es war, Jagd auf böse, schwarze Reitersoldaten zu machen!
Ihr Regal war angefüllt mit etwas, das Sebastian aus seiner Perspektive zunächst für aufgestapelte Ringe hielt. Aber Papierrollen waren es, die da dicht an dicht aufeinander gestapelt waren. Basti musste zwei mal hinsehen, bevor er begriff, was ihm seine Augen zeigten. So viele Schriftrollen reihten sich da aneinander, dass er sich fragte, ob sein Krähenmädchen bei seinem Volk auch noch den Status einer Gelehrten besaß.
Verwundert schüttelte er den Kopf. Trotz ihrer grazilen, fraulichen Gestalt und ihrer betörend femininen Ausstrahlung schien Antarona doch eher an männertypischen Dingen interessiert zu sein. Waffen und Schriftrollen waren ihr offensichtlich vertrauter, als schöne Kleider und Schmuck.
Sebastian juckte es mächtig in den Fingern, die Rollen nach und nach aus dem Regal zu ziehen und seine Neugier, den Inhalt betreffend, zu befriedigen. Gleichzeitig fiel ihm etwas ein, das seinen Wissensdurst noch stärker herausforderte. Die Karten des Unbekannten!
Unruhig tastete Sebastian nach seiner Kleidung. Erst nach ein paar Minuten, die seine Augen brauchten, um sich der Dunkelheit der Dielen anzupassen, entdeckte er die Sachen. Sie lagen zusammen mit Antaronas Lederbikini verstreut und über den Boden des ganzen Raumes verteilt. Allmählich erinnerte er sich, mit welcher Begierde und Leidenschaft sie in der letzten Nacht übereinander her gefallen waren.
Auf allen Vieren und übertrieben vorsichtig, um Antarona nicht aufzuwecken, kroch Sebastian von Kleidungsstück zu Kleidungsstück, zog es an und vollführte dabei Verrenkungen, von denen er selbst nicht wusste, dass er zu solchen fähig war. Hätten die Götter ihn dabei beobachtet, so wären wohl die Gestirne bei dem dröhnenden Gelächter vom Himmel gestürzt.
Nachdem er das Ritual des Ankleidens so umständlich als möglich zelebriert hatte, tastete er prüfend nach dem Bündel mit den Karten und den Münzstempeln. Zufrieden stellte er fest, dass es noch da war. Elfengleich und auf Zehenspitzen schlich er aus dem Zimmer und die finstere Treppe hinunter. Die Stufen, die in der Nacht keinen Ton von sich gegeben hatten, knarrten natürlich so laut, dass es kaum an ein Wunder grenzte, wenn ihm der alte Holzer plötzlich mit einem Schwert bewaffnet entgegen stürmte.
Einem Meuchelmörder gleich schlich Sebastian nach draußen. Die beißende Kälte, die ihn empfing, stieg in seine Nase und beinahe hätte er mit seinem Niesen das ganze Tal aufgeweckt.
Die Luft war klar, aber eisig. Leichter Bodenfrost überzog das Land und ließ es unwirklich erscheinen. Aus dem See stieg wie aus tausenden von unsichtbaren Öffnungen ein Dunst auf, der sich zu einer flachen, halbtransparenten Nebelbank formierte und quälend langsam über die Wiesen dahin zog.
Je höher sich die Sonne empor kämpfte, desto mehr hatte er das Gefühl der zunehmenden Kälte. Dann schossen die ersten Sonnenstrahlen wie wild fuchtelnde, glühende Ritterlanzen über die hohen, gezackten Grate, überfluteten die blinkenden Eisfelder und Firne und durchbrachen schließlich das Geäst der Bäume. Dort, wo sie auf die Nebelbank trafen, inszenierten sie ein tanzendes Spiel aus Licht und Schatten.
Sebastian fror so erbärmlich, das sein Zähneklappern umgehend Rona und Reno anlockte. In ihrer üblichen ungestümen Art kamen sie um den Schuppen gehetzt und wollten ausgelassen an ihrem Freund empor springen. Basti wehrte sie zunächst ab. Ihm war ganz und gar nicht nach Spielen zumute, denn die Kälte lähmte jede seiner Bewegungen.
Doch dann ließ er sich darauf ein und stellte nach einer halben Stunde fest, dass die beste Möglichkeit sich aufzuwärmen darin bestand, mit ein paar verrückten Hunden umher zu tollen. Nachdem er mit Reno und Rona mindestens zehn schlaftrunkene Wasel und einen völlig überraschten Wafan aufgescheucht und verfolgt hatte, ließ er sich nach Atem ringend an einem sonnigen Platz am Seeufer nieder. Das taunasse Gras störte ihn nicht mehr.
Ein paar Mal musste er Balmers Hunden noch klar machen, dass er des Herumtobens müde war und einen Moment lang in Ruhe gelassen werden wollte. Schließlich trollten sich die beiden und Sebastian widmete sich den seltsamen Karten des Unbekannten. Dabei reifte in seinem Kopf die Idee, alle drei Karten in sein Tagebuch zu übertragen, um auf diese Weise eine Sicherheitskopie zu schaffen.
Zu dumm, dass sich seine Bleistifte und Kugelschreiber in seinem Rucksack befanden, von dem er nicht einmal wusste, wo dieser sich zur Zeit befand. Waren seine Sachen noch in der Kammer, in der er die erste Nacht unter Hedarons Dach verbrachte? Oder hatte der Doktor seinen Rucksack nach seiner kriminalistischen Durchsuchung woanders verstaut?
Basti konnte unmöglich heimlich und zu so früher Stunde das Haus des Holzers durchsuchen. Wenn ihn Antaronas Vater dabei ertappte, war es womöglich aus mit dem bisschen gegenseitigem Vertrauen! Also versuchte er sich inzwischen die Zeichnungen einzuprägen.
Sebastian Lauknitz besaß die seltene Gabe, sich zwar schlecht Gesichter merken, aber um so besser Landkarten bis ins Detail einprägen zu können. Wenn er eine Karte erst einmal im Kopf hatte, konnte er sich jederzeit vor seinem geistigen Auge danach orientieren. Dabei speicherte er in seinem Gedächtnis die Formen von Seen, Buchten, Flüssen und Gebirgszügen, oft sogar Namen und Höhenangaben.
Mit der Beschriftung dieser Karten konnte er freilich nicht viel anfangen, denn die Zeichen der Ival erschienen ihm wie ein unentschlüsselbarer Code. Deshalb nahm er sich vor, unter die entsprechenden Bezeichnungen die Begriffe in seiner Sprache zu schreiben. Antarona musste ihm dabei helfen!
Plötzlich gewahrte Sebastian ein Geräusch hinter sich und fuhr herum. Wie aus dem Nichts aufgetaucht stand Antarona hinter ihm. Bei ihrem Anblick erschrak er fast zu Tode. Wegen der Kälte hatte sie sich mehrere Felle umgehängt und im ersten Moment hätte man sie zweifellos für einen Bären halten können.
Sie amüsierte sich köstlich über Bastis entsetzten Gesichtsausdruck. Dann warf sie die Felle achtlos neben ihm in das Gras. Nackt, wie ihre Götter sie geschaffen hatten, warf sie sich in das eiskalte Wasser. Ausgelassen schwamm sie umher, spritzte ihren fasziniert zuschauenden Basti mit ein paar eisigen Fontainen nass und belustigte sich über ihn.
»Was schaut ihr so, Ba - shtie, kommt in das Wasser.., es wird euch gut tun!« Dabei strampelte sie so heftig mit den Beinen, dass Sebastian mit einem Satz aufspringen musste, um die Karten des Unbekannten vor Durchnässung zu schützen.
Resigniert faltete er sie zusammen und steckte sie unter Antaronas Felle. Dann zog er sich ebenfalls aus und warf sich ihr hinterher in die Fluten des Sees. Die Kälte nahm ihm den Atem und er schnappte panisch nach Luft. Um seinen Schock zu überwinden, strampelte er wie wild umher und wusste plötzlich, warum sich Antarona derart ausgelassen im Wasser bewegte. Nach einer Weile empfand er die Kälte gar nicht mehr so schockierend und sie tollten übermütig im See herum, bis sie völlig verausgabt in das Ufergras sanken.
Bibbernd krochen sie unter Antaronas Felle, wärmten sich gegenseitig Haut an Haut und beobachteten, wie sich die Sonne in den Himmel schob und die nach oben ziehenden Nebel allmählich auflöste. So ein Leben gefiel Sebastian Lauknitz. An den Seen der Parkanlagen seiner Stadt war so etwas nicht möglich! Er hatte das Paradies gefunden, wenn...
Wenn ein Torbuk nicht wäre, der darauf bedacht war, ein sorgenfreies, friedliches Leben zu stören. War dieses Übel erst einmal beseitigt, konnte es für Sebastians Begriffe keinen schöneren Flecken Erde geben! Mit Antarona an seiner Seite konnte er sich ein Leben in diesen Tälern gut vorstellen, auch wenn er auf alle ihm bisher so nützlich erschienenen Vorzüge der technisierten Zivilisation verzichten musste.
Antarona! Sie war der Schlüssel zu allem, was ihn bewog, in diesem Land zu bleiben. Sie war die Erfüllung all seiner Wünsche und Sehnsüchte, derenthalben er viele Jahre ruhelos über die Berge der Alpen gewandert war. Und ausgerechnet in diesem Land, von dessen Existenz er nicht einmal gewusst hatte, erreichte er sein Ziel: Die wahre Liebe, die einen Menschen wie ein Lavastrom zu durchfließen vermochte und ihre Wärme des Glücks bis in die letzten Fasern des Körpers trieb.
Vor allem waren es wohl auch die Umstände, die Sebastian dieses Glücksgefühl empfinden ließ. Außer dem Bösen, dass es zu bekämpfen galt, gab es scheinbar keine Zwänge. Es gab keine Kirche, die ihre leidenschaftliche Liebe mit Geboten einschränkte, kein Passant oder Gesetzeshüter schreckte sie auf, wenn sie sich hemmungslos im nassen Gras ihren Gefühlen hingaben und niemand bestimmte ihren Tagesablauf.
War das wirklich alles so einfach? Sebastians Skepsis brach wieder durch. Alles schien perfekt. Aber viel zu perfekt! War es möglich, dass er tatsächlich in eine Welt geraten war, die sich als so viel unkomplizierter herausstellte, als seine bisherige? War er in einer fiktiven Traumwelt gelandet, in der all seine Sehnsüchte Wirklichkeit wurden? Lebte er jetzt in einer Welt, die sich den Menschen erst nach ihrem irdischen Tod öffnete?
Und wenn... Was war falsch daran? Nein, solange Antarona sich nicht als Halluzination herausstellte und mit ihrer leidenschaftlichen Liebe sein Herz umfangen hielt, war dies der Ort, an dem er sein wollte! Mochte ihm sein bisheriges Leben auch noch so viel Sicherheit durch eine schützende Gesellschaft geboten haben... Die erdrückenden Zwänge dieser Gesellschaft war er gerne bereit für dieses Abenteuer und das erfüllende Gefühl der Liebe einzutauschen!
Die Sonne stand bereits weit über den schneebedeckten Gipfeln, als sie zum Hof des Holzers zurückkehrten. Hedaron trat gerade aus der großen Scheune, eines dieser seltsamen Rindviecher an einem Strick führend, die Sebastian schon einmal gesehen hatte. Solche Rinder mit zottigem Fell und weit ausladenden Hörnern waren ihm auf seinem Weg von Högi Balmers Alp begegnet.
Hedaron begrüßte sie beide herzlich und sprach dann mit seiner Tochter. Sebastian verstand wieder einmal kein Wort und er wünschte sich im Augenblick nichts sehnlicher, als die Sprache der Ival zu lernen. Wie schön musste es sein, wenn er sich mit Antarona in ihrer Muttersprache verständigen konnte.
»Im Haus, auf dem Tisch steht Essen, wenn ihr hungrig seid, Ba – shtie«, unterbrach sie seine Gedanken. »Mein Vater wünscht, dass wir es uns schmecken lassen!«
Das musste Sebastian nicht erst zweimal hören. Und ob er hungrig war! Es war ihm gar nicht aufgefallen, dass er bereits gestern nichts mehr gegessen hatte, obwohl sie zuvor schon einen Tag ohne Proviant unterwegs gewesen waren.
Geistig wanderte er in der Zeit zurück. Zuhause, in seiner Stadt in Norddeutschland hatte er es nicht einen Tag ohne Essen ausgehalten! War die Liebe, die ihn plötzlich überrollte, wie eine Riesenwelle schuld an seinem mangelnden Bedürfnis an Nahrung? Oder waren es wiederum die sonderbaren Eigenschaften der Welt im Leben nach dem Tod, die ihn so lange sein Hungergefühl vergessen ließen?
Antarona und Sebastian betraten den Wohnraum und vergaßen angesichts des üppig mit Speisen gedeckten Tisches die Umgebung um sie herum. Ohne sich groß an den Tisch zu setzen griffen sie beide ungeniert zu, verschlangen gebratene Geflügelkeulen, gedünstete Wurzeln, die der Kartoffen sehr ähnlich waren, stopften Rührei, Brot und Käse in sich hinein und ließen auch die gut gefüllte Obstschale nicht unangetastet.
Also war das mit der Enthaltsamkeit von Nahrung nur eine Illusion, dachte Basti, während er sich ein Stück Wafanfleisch in den Mund schob. Doch das Stück blieb ihm beinahe im Hals stecken...
»Habt lange nichts mehr in den Magen bekommen.., hat euch der Hunger in das Heim getrieben, was?« Sebastian verschluckte sich, begann zu husten, dass ihm die Tränen in die Augen traten und drehte sich zu der Stimme aus dem Hintergrund um.
»Was drückt ihr euch hier in dunklen Ecken herum, Väterchen Balmer«, presste er nach Atem ringend hervor. Antarona war ebenso erschrocken und wie von Zauberhand hielt sie plötzlich ihr Messer in der Hand. Beruhigt steckte sie es wieder unter ihre Felle, als sie den Alten Balmer erkannte, der still in einer Ecke des Raumes im Schatten saß und sie beide belustigt ansah.
Sebastian blickte sich gehetzt um. Doch außer dem Alten schien niemand sonst anwesend zu sein. Balmer erriet sofort seine Gedanken.
»Braucht euch nicht zu sorgen, Herr, der Medicus von Falméra ist vor der Nacht weiter gezogen. Hat nichts gesagt.., ist einfach gegangen, hi, hi, hi...«, lachte Högi albern in sich hinein. »Habt ihm ganz schön das Wort gegeben, Herr.., haben mächtig auf seinem Haupt gelegen, eure Worte. Zorn stand in seinem Blick, als er ging.., mächtig zornig war er, hi, hi, hi...«
»Ach, der wird sich schon wieder einkriegen, Väterchen, werdet sehen«, erwiderte Basti kauend. Doch so beruhigt, wie er dem Alten gegenüber auftrat, war er nicht. So, wie er Andreas Reaktion vom Vortag einschätzte, war es durchaus möglich, dass er sich ungewollt einen Feind für’s Leben geschaffen hatte.
Und er konnte den Doktor sogar verstehen! Hätte dieser ihm an seiner statt die große Liebe vor der Nase weg geschnappt... Sebastian wusste nicht zu sagen, wie er sich selbst an des Doktors Stelle verhalten hätte. Er dachte an Tark und wie Antarona ihren Bruder bei dessen Rückkehr begrüßt hatte und musste lächeln. Jetzt konnte er lächeln! Doch an jenem Tag, an jenem Augenblick, brach für ihn das Universum zusammen. Wahrscheinlich empfand Andreas in diesem Moment genau das!
»Was werdet ihr nun tun, Herr?«, fragte Vater Balmer, inzwischen wieder ernst blickend. Sebastian überlegte kurz.
»Na ja, ich denke wir müssen ihm ein wenig Zeit lassen, zu begreifen, dass sich Antarona entschieden hat. Und ob es ihm gefällt, oder nicht, er muss...«
»Nein, nein, Herr, das meinte Väterchen Balmer nicht...«, unterbrach ihn der Alte, »...das Väterchen wollte wissen, wann der Herr mit Sonnenherz aufbricht, dem König, seinem Vater zu berichten.., nach Falméra, zu des Bentals Burg, Herr.« Sebastian zuckte mit den Schultern und wiegte fragend seinen Kopf hin und her.
»Ja, was weiß ich? Von mir aus jederzeit! Wann sollen wir denn gehen, eurer geschätzten Ansicht nach?« Er sah den Alten herausfordernd und fragend an. Dieser hüllte sich einen Moment in Schweigen. Dann dachte er mehr laut, als er sprach und ließ dabei seinen Almstab im Takt auf den Holzdielen aufstoßen.
»Lasst mal sehen, Herr...«, begann er umständlich, »...Paranubo und Onafinte warten in Imflüh und können in einem Tag hier sein...«
»Was...«, entfuhr es Sebastian, »...die beiden sind noch hier?« Fragend sah er Antarona an, als erhoffte er von ihr die Bestätigung, den Alten missverstanden zu haben. »Also ich hatte gehofft, die beiden nicht noch als Klotz am Bein zu haben, wenn es los geht«, gestand er, sich wieder dem Alten zugewandt.
»Der Rat hat es so bestimmt, Herr.., ihr geleitet sie bis zu den Sümpfen der Elsiren. Koratan.., ja der geht mit euch nach Falméra...« Nun war es Antarona, die den alten Balmer unterbrach:
»Der Weg wird voller Gefahren sein, verehrtes Väterchen, denn Torbuks Männer werden inzwischen erkannt haben, was mit ihrem Trupp geschehen ist. Wir müssen vielleicht sehr schnell in den Wald, oder über die Berge ausweichen, um das Val Mentiér verlassen zu können. Wir müssen schnell sein, denn ein langsames Wild wird zur Beute! Und ihr wisst, Väterchen, ein kleines Wild lässt sich besser im Wald verbergen, als ein großes! Wir können nicht auf so viele Menschenwesen achten, welche nie gelernt haben ein Schwert zu führen!«
»Ihr urteilt sehr rasch, Tochter des Volkes...«, entgegnete der Alte mit einem listigen Gesichtsausdruck. Sebastian kannte Balmer und wusste, dass dieser noch einen Trumpf im Ärmel hatte. Tatsächlich fuhr er fort:
»Es ist der Beschluss des Rates, meine Tochter, so sich alle ihm fügen müssen! Onafinte und Paranubo wissen vorzüglich das gebogene Schwert zu führen, sie sind gute Kämpfer bei ihrem Volk.., gute Kämpfer sind sie...«
»Pah.., gute Kämpfer...«, wiederholte Antarona verächtlich, »...was nützt uns das? Väterchen.., Sonnenherz will nicht kämpfen.., sie und Glanzauge werden sich nur verteidigen, wenn sie es müssen!« Basti bemerkte den Zorn, der in seiner Gefährtin hoch stieg. Wahrscheinlich war es nur ihr Respekt vor dem hohen Alter, der Högi Balmer vor einem impulsiven Temperamentsausbruch bewahrte, den zu zügeln ihr sichtlich Mühe bereitete.
»Hört einmal, Vater Balmer...«, versuchte Sebastian ausgleichend zu wirken, »...was euch Antarona zu sagen versucht, ist die Tatsache, dass wir allein schneller eventuelle Kontrollen oder Spione Torbuks umgehen können!« Balmer wackelte mit seinem Kopf.
»Verstehe euch ja.., Herr, verstehe euch. Aber der Achterrat hat es so bestimmt. Zwei der Windreiter werden euch zu eurem Schutz begleiten, Herr, zum Schutz, Herr...«
»Sagt das noch mal...«, entrüstete sich Sebastian, »...das meint ihr doch nicht im Ernst, oder? Da können wir ja gleich mit einer ganzen Armee durch Torbuks Linien stoßen!« Hilfe suchend sah er das Krähenmädchen an, wartete jedoch nicht auf eine Antwort. Statt dessen redete er dem Alten ins Gewissen.
»Ich will euch sagen, was passieren wird, Väterchen... Mit diesem ganzen Tross werden wir so viel Staub aufwirbeln und so einen Krawall veranstalten, dass uns Torbuks Soldaten schon von Weitem erkennen werden. Sie werden uns eine Falle stellen und wir werden schnurgerade da hinein tappen! Das wird passieren! Es sei denn...«, Basti senkte seine Stimme, »...nur wir beide, Sonnenherz und ich gehen... Wir können uns ungesehen überall durchschleichen, oder notfalls über die dunklen Felsen klettern...« Doch Högi Balmer blieb unerbittlich.
»Das Väterchen weiß um eure Sorge, Herr, aber der Achterrat hat lange beraten.., sehr lange und weise beraten! Und so wird es geschehen, Herr.., weise beraten!« Sebastian atmete tief durch, denn er befürchtete platzen zu müssen.
»Weise...«, echote er dann empört, »...weise nennt ihr das.., ja? Das glaubt man doch einfach nicht!« Zornig brach es aus Sebastian heraus. Er schnappte mit hilflosen Blicken auf Antarona nach Luft. Das war einfach zu viel! Wütend drehte er sich auf dem Absatz um und stürmte hinaus.
Auf dem Hof verpasste er einem Holzeimer, der zufällig herumstand, erst einmal einen so heftigen Tritt, dass dieser sich in seine Einzelteile auflöste und einige Meter weit davon flog. Über so viel Borniertheit musste er sich erst einmal Luft verschaffen!
Er kannte solche hirnrissigen Entscheidungen bereits aus seiner Welt. Selbst in der Demokratie seines Landes trafen die Mitglieder der Regierung viel zu oft unpraktische und realitätsfremde Entscheidungen, die dem Volk mehr Schaden zufügten, als sie ihm nützten. Aber es war eben beschlossen...
Und Beschlüsse müssen durchgesetzt werden, egal ob sie Sinn machen und ungeachtet der dabei entstehenden Verluste an Mensch und Material, basta! Oh, wie bekannt ihm solch dummes Treiben vorkam! Ja, was dachte er sich, was hatte er erwartet? Dass die Menschen an diesem Ort klüger, besonnener und mit mehr gesundem Menschenverstand zu Rate gingen, nur, weil sie ihm einfacher und unkomplizierter erschienen?
Sebastian wurde allmählich klar, dass er bei den Ival mitunter auf die gleichen Hindernisse stoßen konnte, als in seinem eigenen Land, welches die Bezeichnung Demokratie für sich beanspruchte. Womit Lauknitz Zeit seines Lebens ein persönliches und tief greifendes Problem hatte, war die Notwendigkeit, einen demokratisch herbei geführten Entschluss zu akzeptieren, sich ihm unterzuordnen, auch wenn er widersinnig, dumm und gefährlich unpraktisch war.
In seinem Land kosteten ihn solche Entscheidungen der Regierung stets sein hart verdientes Geld. Doch bei den Ival, wo im Grunde das Schwert allein Gesetz war, konnten solche Beschlüsse ihn und Antarona das Leben kosten!
Wenn sie gezwungen waren, fünf Personen durch ein enges Tal zu schleusen, das inzwischen womöglich vom Feind besetzt war, dann konnte dies leicht zu einem Unternehmen werden, das bereits im Voraus zum Scheitern verurteilt war!
Dazu kam noch, dass ihnen unter der Beobachtung so vieler Begleiter kaum die Gelegenheit blieb, Antaronas Höhle am See aufzusuchen, um den Stein der Wahrheit zu befragen und die Landkarten des Unbekannten zu verbergen... Die Höhle am See..?
Plötzlich kam Sebastian ein glorreicher Einfall! Sofort entstand in seinem Kopf ein Plan, wie sie zumindest die beiden Oranuti und Koratan los werden konnten, ohne diese selbst zu gefährden! Mit den beiden Windreitern konnten sie sich notfalls noch arrangieren. Doch das war womöglich gar nicht mehr nötig...
Mit der rettenden Idee im Hinterkopf betrat Sebastian wieder das Haus. Er setzte sich mit offener Überlegenheit an den Tisch und griff zufrieden nach den Speisen, von Högi Balmer und Antarona gleichermaßen bestaunt.
»Habt euch noch besonnen, Herr, wie?« Balmer ließ seine Frage wie eine Feststellung klingen, wohl um einer neuerlichen Diskussion zu entgehen. »So ist es gut, Herr.., sehr gut! Vater Balmer gibt euch Rona und Reno mit, sie können euch sehr zu Nutzen sein, Herr.., sehr zu Nutzen, diese beiden!«
Nun, darauf kam es letztlich auch nicht mehr an. Sebastians Entschluss stand fest! Und möglicherweise erwiesen sich die beiden Hunde während dieser unsicheren Reise tatsächlich als ganz brauchbar.
»Ja, Väterchen Balmer...«, bestätigte Sebastian mit gespielter Unterwürfigkeit, »...ihr habt wohl recht... Der Achterrat wird seinen Entschluss sicher gut durchdacht haben.., es war unüberlegt von mir, das Urteil anzuzweifeln. Ich hoffe, ihr mögt mir noch einmal verzeihen, Väterchen.« Sebastian verspürte keinerlei Gewissensbisse, weil er den Alten vorsätzlich beschwindelte.
Es ging um die Güter, die er am höchsten schätzte: Um sein Leben und seine Liebe! Und wenn er lügen musste, dass sich die Balken bogen, er würde es jederzeit tun, um das Glück von Antarona Holzer und Sebastian Lauknitz zu schützen! Seine Gefährtin konnte er später noch über seinen Plan aufklären.
»Die beiden Oranuti und Koratan werden mit uns zusammen aufbrechen!«, verkündete er dem Alten kauend und zwinkerte Antarona heimlich zu. Sicher würden sie gemeinsam aufbrechen... Aber ob sie bis zum Ziel zusammen blieben? Möglicherweise verließ die drei Wandergäste unterwegs der Mut und sie zogen es vor umzukehren...
Sebastian grinste still in sich hinein und allein Antarona, die ihren Mann von den Göttern inzwischen ganz gut kannte, vermutete irgendeine verborgene List in seinen Gedanken. Und sie vertraute ihm!
»Wo ist Koratan überhaupt...«, wollte Basti an Balmer gewandt wissen, »...und wo ist eigentlich dein Bruder?« Sebastian drehte sich zu Antarona um.
»Sind beide beim Fischen, Herr, wenn ich nicht irre, beim Fischen.., schon seit Beginn des Sonnenlaufs!«, klärte ihn der Alte auf. Sebastian wunderte sich, da er mit Antarona am See gewesen war und sonst niemanden dort bemerkte.
Ein wenig ärgerte ihn auch der Gedanke, dass sie beide womöglich von Tark oder Koratan beobachtet worden waren. Nicht, dass ihn das beschämt hätte. Doch die Stunden mit Antarona betrachtete er als etwas sehr Persönliches, als ein Geschenk des Schicksals und des Himmels zugleich, das er mit niemandem teilen wollte!
Am Abend saßen wieder alle gemeinsam und einträchtig an des Holzers Tafel und schmausten: Antarona, Sebastian, Hedaron auf der einen Seite, Högi Balmer, Tark und Koratan auf der anderen. Der Gang nach Falméra war nun beschlossene Sache. Im Laufe des nächsten Tages sollten Onafinte und Paranubo aus Imflüh eintreffen. Für den Morgen darauf war der Aufbruch geplant. Zwei der Windreiter sollten bei der alten Festung vor der Schlucht auf sie warten und dazu stoßen.
Sebastian kam sich vor, wie bei der Lagebesprechung eines militärischen Stosstrupps. Sie würden nur als eine relativ kleine Gruppe unterwegs sein und Sebastian glaubte nicht wirklich daran, auf große Gefahren durch eine groß angelegte Vergeltungsmaßnahme Torbuks zu stoßen.
Mochte auch schon einige Zeit seit ihrem Zusammenstoß mit den schwarzen Reitern vergangen sein... Wenn Torbuk inzwischen tatsächlich eine Racheaktion gestartet hatte, so wäre diese Kunde sicherlich schon bis zum Haus des Holzers vorgedrungen. In dieser Hinsicht machte er sich keine Sorgen. Eher dachte er schon an einen gezielten Angriff auf ihre durch das Tal wandernde Gruppe. Sie mussten Torbuk, sofern er davon erfuhr, ein Dorn im Auge sein!
Was ihm wirklich Kopfzerbrechen verursachte, war der Umstand, dass ihre Reise eine vom Achterrat beschlossene Aktion war. Zu viele wussten davon! Viel zu viele! Jedem, der an der Beratung teilgenommen hatte, waren die Reiseroute, das Ziel und die Reisezeit bekannt.
Gab es auch nur eine undichte Stelle unter den Vertrauten des Achterrats, so konnte Torbuk ohne einen großen Vergeltungsakt führen zu müssen, in aller Seelenruhe mehrere Fallen aufbauen. Er hatte dann nichts weiter zu tun, als zu warten, bis Antarona, Sebastian und ihre Begleiter ahnungslos hineinstolperten.
Es bedurfte nur eines einzigen Verräters, und die Sache mit dem Mann von den Göttern und dem Widerstand hatte sich erledigt! Antarona und Sebastian, die Torbuk im Augenblick am gefährlichsten erscheinen mussten, waren damit in seiner Hand. Das gefiel Basti ganz und gar nicht!
Im Stillen grübelte er darüber nach, wo sie zuerst mit einem möglichen Hinterhalt rechnen mussten. Das fatale war, dass er sich in diesen Tälern noch viel zu wenig auskannte, um sich ein strategisch richtiges Bild von der Situation zu machen. Zunächst fielen ihm nur drei Stellen ein, die ihm auf seinem Weg zum See aufgefallen waren und die sich für einen Hinterhalt eigneten:
Zum einen war da die alte Festung, in deren Gemäuer sich durchaus eine kleine Streitmacht verbergen konnte, ohne, dass man ihrer aus der ferne gewahr wurde. Als nächstes bot sich die düstere und unübersichtliche Schlucht für einen Überraschungsangriff an. Sebastian erinnerte sich daran, wie er sich in der Klamm vor den zwei Männern mit den Pferden verbarg, ohne, dass diese ihn bemerkten.
Die dritte und am ehesten wahrscheinliche Gelegenheit bot sich einem versteckten Angriff bei den Felsen am See, oder in den Wäldern zwischen dem See und den Dörfern Mittelau und Breitenbach.
Sebastian beruhigte nur ein Gedanke: Würden sie erst mal den See erreicht haben, konnte er den Plan seiner plötzlichen Idee vom Vormittag umsetzen. Danach mussten sie wahrscheinlich nicht mehr auf die beiden Oranuti und Koratan Rücksicht nehmen und konnten flexibler handeln.
Nur Antarona musste er vorher einweihen und mit ihr die Ausführung inszenieren. Am nächsten Tag wollte er ihr seinen Plan unterbreiten. Wenn die beiden Windreiter, die sich ihnen anschließen sollten, nicht allzu argwöhnisch waren, sollte er gelingen!
An diesem Abend gingen alle früh schlafen. Tark hatte sein Zimmer über dem Wohnraum, Högi Balmer schlief in der kleinen Abstellkammer, aus der Sebastians Sachen schon am Vortag entfernt wurden und Koratan nächtigte mit Antaronas Vater Hedaron in dessen Gemach neben der Küche.
     
  Wichtiger Hinweis: Die Texte des Autors Frank Adlung, insbesondere die des Romans "Das Geheimnis von Val Mentiér", sind durch notarielle Hinterlegung urheberrechtlich geschützt. Ein Herunterladen und Ausdrucken ist nur für den privaten Zweck des Lesens gestattet. Kommerzielle Nutzung, öffentlicher Vortrag, oder Vervielfältigung und Verfälschung des Inhalts, sowie öffentliche Verbreitung ohne Genehmigung des Autors sind untersagt und werden zur Anzeige gebracht.
 
 
 
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