Das Geheimnis von Val Mentiér
 
20. Kapitel
 
Der Weg nach Falméra
 
ntarona und Sebastian folgten zunächst dem Weg, den sie zuvor mit Arrak, dessen beiden Begleitern und Frogath gekommen waren. Doch sie stiegen nicht im Schutz des tiefen Waldes ins untere Tal ab, sondern wandten sich zu der Stelle, an der sie schon einmal standen, von der aus sie den Sandplatz vor dem Wasserfall überblicken konnten. So war ihnen möglich feststellen, ob sich wiederum Reiter von Torbuk am See herum trieben.
Ihr Ziel war Antaronas Höhle, die sie freilich unbeobachtet erreichen mussten. Bald darauf standen sie erneut an der Felskante und spähten zu dem Ort hinab, wo sie noch vor drei Stunden einen beinahe aussichtslosen Kampf bestritten und fast ihr Leben verloren hatten.
Der Platz lag verwaist da. Die ganze Gegend war wie ausgestorben, als hätte nie eines Menschen Fuß sie betreten. Stoisch donnerten die Wassermassen des Mentiér-Bachs oben über die Felsen und in den See. Der Wasserfall war das einzig Lebendige, was ihre Augen erfassen konnten.
»Es ist alles ruhig, ich glaube, wir können es wagen, über die Flanke hinunter zum See zu steigen«, überlegte Sebastian laut.
»Zu ruhig.., Ba - shtie, es ist zu ruhig...«, warnte ihn Antarona, »...das gefällt mir nicht. Fister sprach davon, dass Torbuk viele Männer geschickt hat. Wer kann sicher sagen, dass sich nicht doch Pferdesoldaten dort unten herum treiben? Lasst uns warten, bis es beginnt dunkel zu werden. Dann reiten die stinkenden Köter Torbuks nicht mehr umher, sondern wärmen ihre Hintern an den Feuern.«
In ihrem letzten Satz lag so viel Hass, dass Sebastian erschrocken war. Er war sicher, dass seine kleine Krähenfrau, die so anschmiegsam sein konnte, Fister kompromisslos und ohne Skrupel getötet hätte, wären Arrak und die anderen nicht in der Nähe gewesen. Für sie gab es zwischen Gut und Böse keinen Spielraum. Wer das Volk verriet, hatte von Antarona keine Gnade zu erwarten, soviel war klar!
Ungefähr eine Stunde lang verharrten sie an der Felskante im Gebüsch und beobachteten den Weg und den Sandplatz am Fuße der Bergflanke. Nichts geschah. Es kam kein Dorfbewohner der Ival mit seinem Tragetier vorbei, kein Wild wechselte den Weg und keiner von Torbuks Reitern kam den Weg herauf, um nach seinen Kameraden zu sehen, oder den Kontakt zum Posten am See zu halten.
Entweder war ihre Täuschung geglückt, Torbuks Soldaten glauben zu machen, es hatte nie einen Posten gegeben, oder ein verborgener Gegner hatte den ungleichen Kampf und dessen überraschende Wende beobachtet. In diesem Fall war zu befürchten, dass an diesem Ort eine erneute Falle lauerte. Denn selbst einem Torbuk musste klar sein, dass niemand Kampfspuren mit großem Aufwand verschwinden ließ, wenn er nicht ein Interesse an diesem Ort hatte.
Zwei Mal hatte Antarona ihre Krähen Tonka und Tekla herbei gerufen. Mehrmals überflogen die Schwarzvögel die Gegend, wie ein Aufklärungsgeschwader, doch ohne etwas zu entdecken.
Als es zu dämmern begann, machte sich das einsame Paar an den Abstieg. Rona und Reno sprangen voran und suchten einen Weg zwischen steilen Felsen, Grasterrassen und trockenen, dornigen Büschen. Als sie die Stelle erreichten, an welcher die schwarzen Reiter ihren Ausguck postiert hatten, wurde augenscheinlich, dass dieser sehr lange in der Felsflanke gehockt hatte. Er hatte aus dem Holz der Büsche mehrere kleine Figuren geschnitzt. Wie achtlos fort geworfene Knochen lagen sie verstreut herum.
Endlich hatten sie den Sandboden erreicht. Sofort untersuchte Antarona den Platz nach frischen Spuren. Nichts! Offenbar hatte diesen Platz tatsächlich niemand betreten, seit sie selbst ihn mit Arrak verlassen hatten. Trotzdem gebot Sebastian den beiden Hunden, die nähere Umgebung abzusuchen.
Unterdessen zog Antarona ihre Felle und die Beinlinge aus und entblößte ihren Körper bis auf den ledernen Hüftschurz. Ihr Oberteil war während des Kampfes zerrissen worden. Sebastian verlor bei diesem Anblick jegliche Konzentration auf die nassen Felsen. Im letzten grauen Licht des Tages bewegte sich die dunkle Silhouette seiner Frau vor den hellen Kaskaden des Wassers und gab jedes Detail ihrer weiblichen Formen seiner Phantasie preis. Erst Reno und Rona rissen ihn aus der schöpferischen Vorstellung seines Verlangens und seiner Sehnsüchte.
Sie kamen gelangweilt heran getrottet und Basti wusste, dass sie nichts gefunden hatten, was einer Aufmerksamkeit wert gewesen wäre. Also entledigte er sich ebenfalls seiner Kleider und folgte Antarona über die glitschigen Felsen zur verborgenen Grotte hinter den stürzenden Wassern. Rona und Reno befahl er, sich in der Nähe aufzuhalten. Sie würden sich ihrerseits ein lauschiges Plätzchen suchen.
Sebastian fror erbärmlich, als sie durchnässt hinter dem Vorhang rauschenden Wassers zum Eingang der Höhle hinauf stiegen. Er malte sich dramatisch aus, wie er die ganze Nacht lang in diesem Felsengewölbe frieren würde.
Eigenartigerweise aber entpuppte sich das Innere der Höhle als sommerlich warm. Ihrem geheimnisvollen Orientierungssinn folgend ahnte sich Antarona in den schmalen, dunklen Gang in die Wohnkammer des Labyrinths. Sebastian folgte ihr blind und atmete erleichtert auf, als endlich ein Feuerschein aufloderte. Antarona entzündete die Fackeln an den Felswänden und verhängte den Eingang mit dem schweren Fell, das nicht den geringsten Lichtschimmer nach draußen ließ.
Vom Sprühnebel des Wasserfalls triefend warf sie ihre Bündel auf eine der Steinstufen an der Höhlenwand und machte sich daran, die Feuerstelle in der Mitte des Raumes zu entfachen. Ihr Körper schimmerte im zuckenden Schein der Fackeln und die kleinen Bäche, die ihr aus den langen Haaren über ihre anziehende Gestalt rannen, glitzerten auf ihrer Haut wie Flöze von purem Gold.
Sebastian setzte seinen Rucksack ab und kramte ein Frottierhandtuch aus seinem Rucksack. Es war kaum mehr so sauber, als hätte man es soeben aus einer Waschmaschine gezogen. Doch es war in klarem Wasser gewaschen und trocken.
Ungeachtet seiner eigenen tropfnassen Haut, umfasste er Antarona von hinten und legte ihr das Tuch um die Schultern. Behutsam fing er an, ihren Leib trocken zu reiben. Sie schien es zu genießen und gab dem leichten Druck Sebastians Händen nach. Basti fuhr mit dem Tuch über ihren Bauch, über ihre Brüste und zog sie sanft an sich. Er spürte ein leichtes Zittern durch ihren Körper fahren und verlor beinahe den Verstand, als sich ihr nasser Lendenschurz gegen seine Unterhose drückte.
Antaronas Atem ging immer schneller und sie wand sich genüsslich unter seinen Händen, die längst nicht mehr nur ihre Haut abtrockneten. Ungeduldig knüpfte Antarona das große Fellbündel auf, während sich Sebastians Finger unbeholfen mit den verworrenen Bändern ihres Lederschurzes beschäftigten.
Sebastian behielt das winzige Stückchen Leder in der Hand, als seine Geliebte endlich mit aufreizenden Bewegungen unter dem Haufen von weichen Pelzen verschwand. Der bunte Schlafsack aus dem Reich der Toten und der Götter blieb in dieser Nacht zusammengerollt und unbenutzt...

Der Morgen weckte Sebastian mit vorwitzigen Strahlen, die sich in das Innere von Antaronas Grotte hinein tasteten. Die Sonne war aufgegangen. Endlich! Nach den Tagen unter grauem Himmel zog wieder etwas Wärme in die Täler ein. Hoffentlich!
Sebastian tastete vorsichtig nach seiner Geliebten und seine Hand berührte ihren warmen, glatten Leib, der sich in ruhigem Rhythmus hob und senkte. Antarona lag noch in tiefem Schlaf und er hätte sich gerne an der Hitze ihres Körpers gewärmt, doch der Schimmer der zurück gekehrten Sonne lockte ihn heraus.
Rastlos und neugierig bewaffnete er sich mit zwei Fackeln, kramte die Karten und Münzstempel des Unbekannten aus seinem Rucksack und schlich sich leise in den Gang der wandernden Schatten. Er wollte seine Gefährtin nicht aus ihren Träumen reißen, denn selbst sie als geübte Waldläuferin musste nach den Ereignissen der letzten Tage todmüde sein.
Allerdings musste sich Basti eingestehen, dass dies nicht der einzige Grund war, weshalb er sich wie ein Dieb zum Versteck seiner Goldmünzen schlich. Sebastian befürchtete immer noch, Antarona könnte von ihm verlangen, die Karten, welche ihr größtes Geheimnis preis gab, doch noch zu vernichten. Sebastian aber wollte diese Dinge um jeden Preis behalten, denn er ahnte, dass jenes Vermächtnis des einsamen Toten ein Geheimnis in sich barg, das noch einmal von großem Wert für die Ival sein würde.
So unberührt, wie er es verlassen hatte, fand Sebastian sein Versteck wieder. Bevor er die Karten in eine Plastiktüte wickelte und zu seinen Goldmünzen legte, verglich er sie noch einmal mit den Kopien, die er in sein Tagebuch gezeichnet hatte. Er glaubte kein Detail oder Zeichen vergessen zu haben. Doch die beiden Karten mit den seltsamen, länglichen Gebilden blieben ihm ein Rätsel.
Als Sebastian in die Wohnhöhle zurückkehrte, fand er Antaronas Schlafstelle leer. Offensichtlich hatte sie ihn vermisst und war zum hinteren Ausgang der unterirdischen Festung gegangen. Er wollte ihr schon folgen, sah aber aus den Augenwinkeln, dass sie ihre Waffen mitgenommen hatte. Intuitiv erinnerte er sich an ihre Worte, als sie ihre zweite Nacht in diesem Berg verbrachten:
»Niemand außer euch und mir kennt diese Höhlen, Ba - shtie, doch das Leben in diesen Tälern fordert das Gebot der immer währenden Vorsicht...«
Sebastian griff sich sein Kurzschwert, das er so mühsam von seinem Rost befreit hatte und machte sich auf den Weg durch das dunkle Labyrinth. Bereits vom Schwemmboden aus entdeckte er Antaronas Schwert. Sie hatte es in den Sand gestoßen und ihre winzigen Kleidungsstücke darauf gehängt. Von seinem Krähenmädchen selbst konnte Sebastian nichts entdecken. Vermutlich tauchte sie nach ihrer geheimnisvollen Kristallkugel.
Mit übertriebener Scheu vor dem eisigen Wasser hangelte sich Basti über die Felskante in den See. Sein ängstliches Zaudern war jedoch ziemlich sinnlos, denn der Sprühnebel des Wasserfalls überzog seinen dampfenden Körper sofort mit kalter Nässe.
Bibbernd versuchte er sich ohne schwimmen zu müssen an den Felsen entlang zu schieben, um den Strand zu erreichen. Trotzdem stieg ihm das Wasser bis an die Brust. Sehnsüchtig dachte er an seine kleine, warme Eigentumswohnung mit dem beheizten Bad. Ob er einen solchen Luxus jemals wieder genießen konnte?
Unverhofft wurde er aus seinen Gedanken gerissen. Das Wasser in der Nähe des kleinen Strandes spritzte hoch und Antarona tauchte aus den Fluten auf, ihren Stein der Wahrheit in den Händen. Tropfnass watete sie dem Ufer entgegen und bot Sebastian das Bild einer wunderschönen Meeresgöttin.
Doch dieses Bild wurde plötzlich gestört. Scheinbar wie herbei gezaubert traten in diesem Augenblick zwei Männer aus dem angrenzenden Wald. Beide trugen die schwarze Rüstung von Torbuks Soldaten. Sie erblickten sogleich die nackte Gestalt Antaronas und blieben abrupt stehen, als wären sie gegen eine unsichtbare Mauer gelaufen.
Ein dritter Reiter kam zwischen den Bäumen hervor gestolpert, rechnete nicht mit dem plötzlichen Halt seiner Kameraden und lief diesen direkt in den Rücken, so dass beide stolperten und beinahe über ihre eigenen Füße fielen.
Sofort hatten sie sich jedoch wieder in der Gewalt, standen aber wie versteinert da und glotzten Antarona an, wie eine überirdische, göttliche Erscheinung. Antarona ihrerseits wischte sich noch das Wasser aus den Augen und bemerkte die drei Reiter Torbuks erst, als sie bereits das knöcheltiefe, seichte Wasser des Ufers erreicht hatte.
Erst da gewahrte sie die drei düsteren Gesellen, die inzwischen ihre Schwerter gezogen hatten, aber immer noch unschlüssig dastanden. Offenbar ahnten sie, dass ihnen Sonnenherz, die legendäre Kriegerin ins Netz gegangen war und wagten nicht, sie einfach zu töten. Torbuk hätte ihnen für so eine unüberlegte Tat wahrscheinlich die Haut in Streifen abziehen lassen.
Antarona nutzte das Zögern ihrer Gegner, um ihr Schwert Nantakis zu erreichen, das zwischen ihr und den Reitern im Sand steckte. Sie stürmte plötzlich vorwärts, vergaß aber, dass sie noch im Wasser stand. Ob wegen einer Unebenheit im Grund oder wegen des weichen Sandes, konnte Sebastian nicht erkennen, als er seine Frau der Länge nach ins Wasser stürzen sah.
Sofort sprang sie wieder auf. Doch diese paar Sekunden ihres Falls genügten den finsteren Reitern, ihr den Weg zu ihrer Waffe abzuschneiden. Antarona kniete triefend im Wasser und blickte hilflos den drei rauen Kerlen entgegen, die betont langsam, mit einem fiesen Grinsen auf ihren Gesichtern auf sie zu gingen.
Sebastian erwachte inzwischen aus seiner Erstarrtheit. Ihn hatten die Häscher Torbuks noch nicht entdeckt. Viel zu sehr zog sie der Anblick von Antaronas verletzlicher Nacktheit in ihren Bann. Er konnte förmlich spüren, welch dreckige Phantasien denen durch das Kleinhirn zogen.
Das gab Sebastian die Chance, vorsichtig und ungesehen den Strand zu erreichen, wenn nicht doch noch einer der Banditen zufällig zur Seite blickte. Er begann einen Wettlauf gegen die Zeit. War er zu schnell, mussten die Reiter ihn unweigerlich sehen, doch ließ er sich zu viel Zeit, geriet Antarona in ihre Fänge. Und hatten sie das Krähenmädchen erst einmal in ihrer Gewalt, würde jeder weitere Versuch sinnlos werden.
Antarona hatte aber inzwischen Sebastian entdeckt und wusste sofort, dass sie Zeit schinden musste, um ihm die Chance zum Eingreifen zu verschaffen. Sie ließ ihre schimmernde Kugel ins Wasser gleiten, griff sich in die Haare, die ihr in langen, nassen Fäden ins Gesicht hingen und strich sie sich aufreizend langsam nach hinten, wobei sie sich streckte und den lauernden, gierigen Blicken der schwarzen Soldaten ihre entblößten Reize präsentierte.
Die steckten ihre Schwerter zurück in die ledernen Scheiden und waren davon überzeugt, sich mit diesem nackten Mädchen gefahrlos vergnügen zu können. Ein Fehler, den zu bereuen, sie kaum Zeit hatten. Sebastian hatte inzwischen den Strand erreicht und schlich sich schnell und geduckt zu Antaronas Schwert hinüber, das sich hinter den Angreifern befand.
Diese waren so sehr auf ihr wehrloses Opfer fixiert, dass sie nicht einmal das Geräusch wahr nahmen, als Sebastian die Klinge aus dem Sand zog. Sie stiegen in das flache Uferwasser und hatten Antarona beinahe in Griffweite, da sprang ihnen Sebastian in den Rücken. Gleichzeitig warf er Antarona ihr Schwert mit dem Griff voran zu. Sebastian hatte jedoch nicht die Zeit, den Wurf genau abzuschätzen und Antarona musste aus ihrer knienden Position heraus zur Seite hechten, um Nantakis fassen zu können.
Der Reiter, der sich gerade auf sie stürzen wollte, griff ins Leere und landete neben ihr im aufspritzenden Wasser. Im selben Augenblick fuhren Sebastians Füße den beiden anderen Kriegern in die Kniekehlen. Sie flogen vornüber ins Wasser und Basti fiel genau zwischen sie.
Antarona war inzwischen aus dem flachen Wasser aufgetaucht und kämpfte mit dem Ufersand in ihren Augen sowie gegen ihre langen Haare, die ihr nass im Gesicht klebten und ihr die Sicht nahmen. Ihr Gegner nutzte seinen Vorteil, kam auf die Füße und hob sein mächtiges Schwert. Offensichtlich war ihm inzwischen gleichgültig geworden, ob er das begehrte Objekt seines Kriegsherren verletzte, oder nicht.
Nur mit Mühe konnte Antarona die Wucht des Schlages mit Nantakis auffangen. Fast blind kniete sie im Wasser und wehrte sich verzweifelt gegen einen schwarzen Hünen, der aufrecht über ihr stand und zum zweiten Schlag ausholte. Sie ahnte den niedersausenden Schatten des feindlichen Schwertes und hielt ihm nur kraftlos ihre eigene Waffe entgegen.
Mit stechendem Schmerz spürte sie den knallenden Aufprall, der ihr Nantakis regelrecht aus der Hand riss und es seitlich ins Wasser schleuderte. Im Bruchteil eines Augenschlags warf sie sich hinterher, wälzte sich im aufgewühlten Uferschlamm um die eigene Achse und bekam erneut Nantakis Griff zu fassen. Keine Sekunde zu früh, denn schon war der riesenhafte Reiter wieder über ihr.
In einer letzten, Kraft raubenden Anstrengung gelang es Antarona ihre Knie in den Grund zu stemmen, um sich etwas aufzurichten. Der Reiter sah seine Gelegenheit gekommen, hob seine schwere Waffe wieder über seinen Kopf, um sie vernichtend auf die kniende, kleine Frau zu schmettern. Doch er hatte die Rechnung ohne Antaronas Schwert gemacht.
Jene Eigenschaft Nantakis, die Bewegungen der Hand zu verstärken, die es führt, machte Antarona um zwei Sekunden schneller. Bevor noch das Schwert des Reiters auf ihren Kopf nieder fahren konnte, holte sie aus und stieß ihm Nantakis Klinge mit letzter Kraft in den Bauch. Der attackierte Mann starrte sie mit ungläubigen, weit aufgerissenen Augen an, schien in seiner Bewegung wie unschlüssig inne zu halten und brach dann vornüber zusammen. Im letzten Moment gelang es Antarona seinem Schwert auszuweichen, das unkontrolliert ins Wasser schlug.
Unterdessen war Sebastian zwischen den beiden anderen Soldaten aufgestanden, die wegen ihrer schweren Rüstungen etwas länger brauchten um wieder auf die Beine zu kommen. Ohne lange zu überlegen hieb er dem ersten mit aller Kraft sein Kurzschwert in den Rücken und drehte es kurz und heftig. Schlaff fiel der Körper des Mannes ins Wasser zurück und blieb reglos liegen.
Dessen Gefährte riss inzwischen seine Waffe aus dem Schlamm und führte aus der Bewegung heraus einen Streich gegen Basti. Doch von unten herauf konnte er das schwere Schwert nicht kraftvoll genug hoch reißen, so dass er den Hieb nicht ganz unter Kontrolle bekam. Die Klinge rauschte nur millimeterweit an Sebastian vorüber, landete wieder im trüben Wasser und zog den Reiter hinterher.
Sebastian zögerte nicht. Entschlossen wuchtete er sein Schwert aus dem Körper des soeben gefällten Soldaten, hob es kurz an und legte sein ganzes Gewicht in den Stoß, der dem unbeholfenen zweiten Gegner tödlich in die Rippen fuhr.
Wieder zog er die Waffe aus einem leblosen Körper, taumelte noch einmal hoch und wandte sich Antarona zu, um nun ihr beizustehen. Doch sie brauchte keine Hilfe mehr. Nach Atem ringend hockte sie im seichten Wasser, Nantakis in den kraftlosen Händen. Ihr blutverschmierter, nackter Körper glänzte nass und die Haare klebten ihr in wirren Strähnen im Gesicht.
Wie aus einem bösen Traum erwacht, blickte sie apathisch auf den Reiter, den Sebastian soeben zu Fall gebracht hatte. Das Wasser um die schwarze Rüstung herum färbte sich rot und ließ keinen Zweifel darüber aufkommen, dass der Mann auf dem Weg ins Reich der Toten war.
Mit zitternden Beinen ließ sich Sebastian vor seiner Frau im Wasser auf die Knie fallen, strich ihr das Haar aus dem Gesicht und hielt mit beiden Händen beschützend ihren Kopf.
»Das war knapp, mein Engelchen.., das war verdammt knapp...«, presste er mühsam heraus, »...aber jetzt ist es vorbei.., die lernen jetzt erst mal ihren Schöpfer kennen.« Sebastian machte eine fahrige Kopfbewegung zu den besiegten Gegnern hin, um seiner Gefährtin ins Bewusstsein zu bringen, dass sie keine Bedrohung mehr darstellten.
Behutsam legte er sich Antaronas kraftlosen Arm über die Schulter, hob sie hoch und trug sie an den Strand, wo er sie in den warmen Sand legte und ihren Kopf auf seine Beine bettete. Glaubte er aber, jegliche Kraft hätte seine Geliebte verlassen, so hatte er sich getäuscht.
Ein plätscherndes Geräusch ließ Sebastian erschrocken aufsehen. Im Geiste sah er schon neue Gegner auf sich zustürmen. Doch es war der Reiter, dem Antarona ihr Schwert in den Bauch gestoßen hatte. Gekrümmt saß er im flachen Wasser, hielt sich schmerzverzerrt den Bauch, schwankte stark und stierte auf seine Hände, zwischen denen sein Blut hervorquoll.
Basti drehte sich zu ihm um, erkannte, dass der Mann kaum noch gefährlich werden konnte und wollte ihn ignorieren. Wie aus heiterem Himmel kehrte die Lebenskraft in Antaronas erschlafften Leib zurück. Sebastian spürte die plötzliche Anspannung ihres Körpers und bevor er noch reagieren konnte, war seine Gefährtin auf den Beinen.
Fassungslos sah er sie an und wunderte sich über ihre unheimliche Wandelbarkeit. Mit der Ruhe einer Raubkatze, die ihr Opfer bereits in der Falle sah, steckte sie Nantakis in den Sand, nahm Sebastians Schwert und schritt langsam auf den verwundeten schwarzen Soldaten zu. Sebastian blickte ihr nach und war davon überzeugt, dass sie den Gefangenen verhören wollte und wartete gespannt auf sein Geständnis.
Doch sobald Antarona bei ihm war, schien sie augenblicklich zu explodieren. In einer einzigen, kaum wahrnehmbaren Bewegung holte sie kurz aus und hieb dem Reiter Sebastians Schwert mit ungeahnter Kraft in die Schulter. Blut spritzte über das Wasser, der Mann sank wie ein gefällter Baum zur Seite und blieb mit schaukelnden Armen im See liegen.
Völlig überrumpelt sprang Sebastian auf. Entgeistert starrte er abwechselnd auf den leblos, im Wasser treibenden Körper und auf sein Krähenmädchen. Die zog unbeeindruckt sein Schwert durch den sandigen Grund, um es zu säubern und kam müde wieder ans Ufer zurück, als hätte sie nur eben mal Holz auf ein brennendes Feuer nachgelegt.
Sebastian hatte ihre Aktion völlig die Sprache verschlagen. Er sah sie aus großen, entsetzten Augen an und öffnete wie fragend seine Handflächen.
»Was...«, fragte sie ihn gereizt und ihr Blick verschoss die sprühenden Funken, welche Sebastian bereits fürchten gelernt hatte. Sebastian deutete mit seinen offenen Händen vorwurfsvoll zum See hinüber.
»Das.., zum Donnerwetter.., das da.., was sollte das? Sind wir jetzt schon so weit, dass wir unsere Hände auch mit sinnloser Grausamkeit beflecken, ja? Sind wir jetzt genau schon so, wie die da?« Er nickte aufgebracht zu den Leichen im Wasser hinüber.
»Seid nicht kindisch, Ba - shtie, was glaubt ihr, hätte dieser stinkende Eishund mit mir gemacht, wärt ihr nicht rechtzeitig gekommen?« Sie ließ ihre Frage bewusst wirken und unterstrich sie noch mit weiteren, herausfordernden Bemerkungen, dessen Antworten sie gleich mit lieferte.
»Was hätten wir mit ihm tun sollen? Na.., was.., Mann von den Göttern.., was hättet ihr getan? Ihm geholfen? Ihr hättet ihm nicht mehr helfen können! Ihn ins Reich der Toten begleiten? Warten, bis noch mehr von ihnen auftauchen?«
Antarona sammelte die Teile ihres ledernen Bikinis auf und hängte sie wieder über den verzierten Pariersteg ihres Schwertes. Dann stieg sie wieder in das Wasser und suchte auf Knien und Händen nach ihrem Stein der Wahrheit. Ungeniert ob Sebastians gemischten Blicken, schob sie dabei die Leichen der Reiter angewidert beiseite und tastete so lange den Grund ab, bis sie ihre Kugel gefunden hatte. Vorsichtig trug sie den ballgroßen Kristall ans Ufer, hielt ihn in die Sonne und wartete einen Moment. Dann nickte sie zufrieden und legte ihr wertvolles Geheimnis in den warmen Sand.
Kurz darauf stieg sie erneut ins flache Wasser, machte sich an den Leichen zu schaffen und suchte wiederum den Grund ab. Ohne aufzusehen sagte sie:
»Wollt ihr nur so da stehen, Ba - shtie, oder wollt ihr mir helfen?« Gleichzeitig förderte sie ein Schwert der Reiter zu Tage, schwang es kurz mit beiden Händen über dem Kopf und warf es ans Ufer.
Sebastian entledigte sich seiner Kleider, hängte sie, Antaronas Beispiel folgend, über sein Kurzschwert und folgte seiner Krähenfrau ins Wasser. Nach und nach fischten sie die Waffen und die Rüstungen ihrer Angreifer aus dem Uferschlamm und nutzten die Gelegenheit sich zu säubern. Abschließend zerrten sie die Toten ans Ufer und weiter an den Rand des Waldes.
»Die Tiere des Waldes werden sich um diese ehrlosen Kadaver kümmern, Ba - shtie...«, bemerkte Antarona gehässig, »...mögen alle ihre Toten auf diese Weise verrotten und niemals in jenes Reich einziehen, das jedem Menschenwesen aus dem Volk einmal Frieden gibt.«
Sebastian sah nachdenklich auf die drei Leichen, die sie unter schweißtreibender Anstrengung ins Unterholz gezogen hatten. Sein Blick entging auch Antarona nicht.
»Habt ihr etwa noch Mitleid mit diesem feigen Gesindel, das zu dritt über eine Tochter des Volkes herfällt?« Sie zischte die Worte wie Peitschenhiebe heraus und Sebastian wusste, in welcher Stimmung sie war, wenn sie sich so gebärdete. Ein falsches Wort in dieser Situation und sie würde ihn anspringen, wie eine fauchende Tigerin.
Ihre ungezügelte Wildheit, die sie bisweilen an den Tag legte, faszinierte ihn und fast war er versucht, sie herauszufordern. Doch in Anbetracht der Lage war es vernünftiger, einen kühlen Kopf zu bewahren. Er schüttelte nur langsam den Kopf und überlegte, während er antwortete:
»Nein, mein Engelchen, mit so einem Abschaum habe ich kein Mitleid. Mir geht da etwas anderes durch den Kopf...« Dabei sah er sich forschend um, bevor er fort fuhr.
»Wenn hier noch mehr von denen herumschleichen und uns vielleicht noch beobachten...« Sebastian beendete den Satz nicht, deutete statt dessen mit den Augen auf den Wasserfall, der Antaronas Höhle für jedes Auge verbarg. Seine Gefährtin verstand nicht sofort und sah ihn fragend an.
»Ich meine...«, erklärte Basti, »...wenn die sehen, dass wir hinter dem Wasserfall verschwinden, oder sie beobachten dich, wie du den Stein der Wahrheit aus dem See holst... Wie lange glaubst du, wird es dauern, bis sie dein Geheimnis entdecken? Und was dann?«
Er spürte, wie es in Antaronas Köpfchen zu arbeiten begann. Sie legte sich ihren Hüftschurz an, band sich das Oberteil um und blieb dann unschlüssig vor ihrer Kristallkugel stehen, die Sebastian das erste Mal aus der Nähe betrachten konnte.
Oberflächlich betrachtet unterschied sie sich nicht von den Bleikristall- oder Quarzkugeln, die es in einschlägigen Esoterik- und New-Age-Läden in beinahe jeder Stadt für völlig überzogene Preise zu kaufen gab. Doch sobald Antarona das Gebilde in ihre Hände nahm und in die Sonne hielt, trübte sich das Glas wie von selbst ein, um nach kurzer Zeit wieder aufzuklaren und wie in einem Fernseher, bewegte Bilder zu liefern, als blickte man durch ein sich bewegendes Nebelloch.
Dabei strahlte der Kristall einen bläulichen Schein ab, der selbst Antaronas Hände durchdrang. Es war derselbe Schimmer, der kaum erkennbar von ihrem Schwert Nantakis ausging und der ihnen in den Hallen von Talris in wesentlich konzentrierter Form beinahe zum Verhängnis wurde. Sebastian musste nicht erst nach einem Zusammenhang fragen. Dass es einen gab, stand für ihn fest. Doch Sinn und Ursache dieses Phänomens blieben ihm verborgen.
»Wie wäre es...«, schlug Sebastian seiner immer noch zögernden Frau vor, »...wenn du die Kugel in der Höhle versteckst, anstatt im See. Uns vielleicht sollten wir außerdem künftig noch vorsichtiger sein, wenn wir die Grotte betreten oder verlassen?«
»Ja, so ist es...«, bestätigte sie, »...es sind schwere und gefährliche Zeiten für die Ival. Wir müssen uns in Acht nehmen vor jenen, die das Volk versklaven und vernichten wollen. Ihr sprecht aus meinen Gedanken und aus meinem Herzen, Ba - shtie.., wir werden den Stein der Wahrheit nun im Bauch des Berges hinter dem donnernden Wasser verwahren.«
Mit diesen Worten nahm sie Nantakis und die Kugel auf und sie traten den Weg in ihre geheime Behausung im Berg an. Zurück in der Wohnhöhle hielt Antarona den Kristall unentschlossen in den Händen und sah sich suchend um.
»Warum verbergen wir sie nicht im Gang der wandernden Schatten...«, schlug Basti vor. Antarona blickte ihn mit zweifelndem Lächeln an.
»Ba - shtie.., dort werden die Sinne wirr.., wir werden den Stein der Wahrheit niemals wieder finden, wenn wir ihn dort hinein tragen!«
»Doch.., werden wir«, entgegnete er hintergründig und mit bierernster Mine. Er nahm seine verdutzt schauende Frau bei der Hand, griff sich zwei Fackeln und führte sie in den dunklen Stollen. Widerwillig ließ sich Antarona in das Labyrinth aus Stein gewordenen Säulen führen. Staunend sah sie zu, wie ihr Mann von den Göttern eine Fackel in den markanten Riss steckte und langsam in den Irrgarten aus Schatten und diffusem Licht vordrang.
»Die Schatten des Berges wandern nicht mehr.., sie tanzen nur noch...«, stellte sie überrascht fest. Beeindruckt von Sebastians Fähigkeiten, folgte sie ihm bereitwillig zu seinem Versteck. Mit kindlicher Verwunderung stand sie vor dem Stalagmiten mit der Form eines Delphins.
»Die Götter haben einen Plonta Stein werden lassen...«, hauchte sie ehrfurchtsvoll und traute sich kaum, die von der Natur geschaffene Skulptur zu berühren.
»Was ist ein Plonta?« wollte Sebastian wissen.
»Es sind jene, welche das große Wasser bewohnen und die Freunde der Ival sind«, gab sie ihm zu verstehen. Sebastian war angenehm berührt davon, dass wohl zumindest die Meeressäuger in dieser Welt nicht irgendwelchen Mutationen unterworfen waren. Wie sonst hätte Antarona den Stein in gleicher Weise deuten können?
Noch überraschter zeigte sich das Krähenmädchen, als ihr Sebastian sein Versteck offenbarte. Er wickelte die Kassette mit den Goldmünzen aus der Plastiktüte und präsentierte seiner Frau den glänzenden Inhalt. Sie blickte entgeistert auf das Gold, dass sie in der runden Form einer Münze nicht kannte und nahm ein schweres Fünfzig-Peso-Stück in die Hand. Drehend und wendend betrachtete sie das Geldstück und war fasziniert von den kleinen Bildern, welche die Münze prägten.
»Die Götter haben ihren Tränen Zeichen und Gesichter gegeben und sie euch zum Geschenk gemacht, Ba - shtie...«, rätselte sie, »...doch warum geben sie euch die Tränen, für die das Volk sterben muss.., Sonnenherz versteht es nicht.«
»Antarona, du irrst dich...«, versuchte Sebastian sie aufzuklären, »...die Götter haben mir das nicht gegeben. Ich habe es aus meiner Welt mitgebracht und am ersten Abend, als du mir deine Höhle gezeigt hattest, hier verborgen. Auch in meiner Welt bringen die Tränen der Götter den Menschenwesen oft Unglück...«
»Aber warum habt ihr dann das böse Metall, das auch aus dem Bauch der Berge ist?« fragte sie und in ihrer Stimme klang eine verborgene Enttäuschung mit.
Sebastian sah ihr tief in die Augen, dachte einen Moment nach und antwortete dann, als wäre er selbst gerade erst zu einer Erkenntnis gelangt.
»Ja, weißt du, mein Engelchen.., weil ich dumm war! Weil ich so blind war, nicht zu erkennen, dass Liebe wertvoller ist, als jene Macht, welche die Tränen der Götter den Menschenwesen verheißen. Erst dadurch, was ich durch deine Stimme von Torbuk weiß, ist mir klar geworden, dass die Macht, welche man durch die seltenen Tränen der Götter erlangt, nichts Wert ist, wenn man Leid sät und Hass erntet.
Erst du hast mir die Augen meiner Sinne geöffnet und lehrtest mich sehen, was das Gute im Leben ist. Du hast mir gezeigt, wie viel dein Volk erleiden muss, weil Torbuk viele von den Tränen der Götter besitzen will. Ich gebe dir jetzt und hier mein Wort darauf, dass die Tränen der Götter für immer hier im Bauch des Berges verborgen bleiben. Wir werden sie nur dann wieder berühren, wenn wir dem Volk damit helfen können, das Böse in diesen Tälern zu besiegen!«
Damit nahm er ihr die Münze aus der Hand, warf sie zurück in das Kästchen und verschloss es wieder. Abschließend versicherte er ihr umständlich:
»Am Staub, welcher auf dieser Lade wächst, wirst du erkennen, dass ich die Wahrheit mit meinem Herzen spreche!« Antarona nickte stumm und ließ es auf sich beruhen. Wenn sie noch Zweifel hegte, so zeigte sie diese zumindest ihrem Basti nicht.
Zwischen den Steindelphin und das Podest, auf dem Sebastians Gold stand, steckte er nun die zweite Fackel und entzündete sie. Neues Licht wurde geboren und ließ weitere Schatten entstehen, die ein noch tieferes Eindringen in den Berg ermöglichten. Sebastian erklärte seiner Gefährtin das Geheimnis aus Licht und Schatten, das einem sicheren Schlüssel gleich kam.
»Merke dir nur die beiden Stellen, an denen die Fackeln stehen müssen, und du wirst immer wieder den Weg aus dem Gang der wandernden Schatten finden, egal, wie weit du dich hinein wagst!« Demonstrativ ging er so weit, bis der letzte Lichtstreifen vor einem mächtigen Steinfinger endete. Auffordernd wies er auf das jahrhunderte lang gewachsene Kalkgebilde und riet Antarona:
»Verwahre die Kugel hinter diesem Felsturm und niemand, der nicht den Platz der Fackeln kennt, wird sie jemals finden können!« Antarona konnte kaum ihre Skepsis verbergen, die sie angesichts solcher Geheimnistuereien in sich trug.
Dennoch vertraute sie ihrem Mann, der offenbar in der Gunst der Götter stand. Sie bettete den Kristall auf ein Stück Fell und schien einzusehen, dass dieses Versteck besser war, als der See, an dem sie jederzeit überrascht werden konnte.
Dann verwischten sie ihre Spuren im Staub, nahmen die Fackeln auf und überließen den steinernen Irrgarten mitsamt seinem neuen Geheimnis der Finsternis. Den Rest des Tages verbrachten sie damit, sich auf die letzte Etappe ihres Weges nach Falméra vorzubereiten. Antarona schnürte ihre Felle zusammen und Sebastian packte seinen Rucksack neu.
»Ihr könnt das Bündel mit den Farben der Blumen nicht mitnehmen, Ba - shtie!« Sebastian war überrascht Antarona plötzlich hinter sich stehen zu sehen, war sie doch vor ein paar Sekunden noch mit ihrem Fellbündel beschäftigt. Fragend sah er sie an.
»Damit werdet ihr in Falméra auffallen, wie ein Gor«, prophezeite sie ihm kopfschüttelnd. Sebastians Blicke schweiften zwischen seinem Rucksack und Antaronas Bündel hin und her. Abwehrend hob er die Hände.
»Oh nein, Engelchen, du wirst mich nicht dazu bringen, so einen Haufen Felle auf dem Rücken über die Berge zu schleppen, das kannst du sofort vergessen!« Antaronas Augen blieben kompromisslos.
»Ihr werdet das Bündel, welches dem Volk fremd ist, nicht nach Falméra tragen, Mann von den Göttern. Habt ihr vergessen, dass wir dem König eine Botschaft des Achterrats bringen?« Sebastian hatte das ebenso wenig vergessen, wie die Beschreibungen seiner Gefährtin über Falméra.
»Ich denke, in Falméra ist der König, und Torbuk kommt nicht an die Insel heran..? Was, oder wen hätten wir dort also zu fürchten?« Sebastian versuchte beharrlich ein Argument zu finden, dass es ihm gestattete, seinen bequemen Rucksack nicht gegen ein Fellknäuel eintauschen zu müssen.
»Ba - shtie - laug - nids.., denkt nach...«, forderte sie ihn auf, »...Jemand hat uns bereits verraten, der das Vertrauen des Achterrates besitzt! Was glaubt ihr? In Falméra schleichen mehr Späher Torbuks und Kareks herum, als Robrums in den Wäldern. Sie werden nur darauf warten, uns die Hälse durchzuschneiden, bevor wir zu Bental gelangen.«
»So ist das...«, resümierte Sebastian, »...wir sind die ganze Zeit über auf der Flucht.., denn anders kann man es ja kaum nennen. Dann kommen wir in die Stadt des Königs und sind nicht einmal dort sicher.., habe ich das so richtig verstanden?« Antarona zuckte angesichts dieser unabänderlichen Tatsache mit den Schultern.
»Solange Torbuk und Karek das Volk der Ival knechten, werden wir nirgendwo wirklich sicher sein, Ba - shtie. Auch in Falméra nicht. Haben wir die Botschaft des Achterrates erst einmal überbracht, sehen Torbuks Späher keine Not mehr darin, uns auf der Stelle zu töten. Erst wenn wir beim König waren, werden wir uns in Falméra frei bewegen können.«
Lauknitz dachte über die Worte seiner Frau nach. Ihre Aussage klang plausibel. Torbuk wollte mit allen Mitteln verhindern, dass die Botschaft aus den Tälern den König erreichte. Dafür würden seine Schergen zweifelsohne einen Fremden und eine Frau auf offener Straße meucheln.
War jedoch die Botschaft erst einmal am Ziel angekommen, konnte sich der Feind Zeit lassen. Möglicherweise mussten sie dann mit einem Angriff aus dem Hinterhalt rechnen. Andererseits würde Torbuk kaum riskieren, seine Spione durch einen Mord in Falméra auffliegen zu lassen, wenn er damit rechnen konnte, Sebastian und Antarona auf dem Rückweg ins Val Mentiér ohnehin zu fassen.
»Das heißt...«, spielte Basti die Situation gedanklich durch und ließ es wie eine Frage klingen, »...wir müssen uns wie Diebe.., nach Möglichkeit ungesehen, durch die Hintertür nach Falméra hinein schleichen?«
»Sonnenherz kennt die Wege nach Falméra, welche keine Augen und Ohren haben«, bestätigte sie ihm. Sebastian beruhigte das keineswegs. Er kannte den Ort Falméra nicht und ebenso wenig die Chancen, ungesehen dort hinein zu gelangen. Da er gewohnt war, über jede Lebenssituation die Kontrolle zu behalten, machte ihn die bloße Unwissenheit nervös. Antarona schien seine Zweifel zu spüren.
»Ba - shtie - laug - nids.., der Weg, der vor uns liegt, wird nicht gefährlicher sein, als welchen wir bereits gegangen sind«, versuchte sie ihn zu beruhigen. Machte sie schlechte Witze?
»Na, das reicht ja dann wohl auch, oder?« empörte er sich. Unschlüssig stand er vor seinem Rucksack, musste frustriert lachen und schüttelte ungläubig den Kopf. Konnte ihm das Schicksal mit der Frau, die er liebte, nicht einfach nur ein ruhiges, friedliches Leben gewähren, ohne diesen Stress und den ewigen Kampf gegen irgendwelche Mordbrenner? Was hatte er eigentlich verbrochen, dass er von den Göttern so in den Hintern getreten wurde?
»In unverdienter Sicherheit ignorant, verwöhnt und bequem gelebt!« Diese Antwort kam nicht von den Göttern! Er hatte sie sich laut und deutlich selbst gegeben. O ja, so intelligent war Sebastian Lauknitz denn doch, als dass er nicht einsah, dass er seinem bisherigen Leben nicht mehr Mühe abringen musste, als sich zu seiner täglichen Baustelle zu schleppen, um lustlos seine achteinhalb Stunden Arbeit abzureißen.
Hatte er sich jemals um Politik gekümmert? War ihm je in den Sinn gekommen, dass die meisten Menschen in seiner Welt unterdrückt und ohne die Freiheit lebten, die er für selbstverständlich hielt? Hatte er irgendwann einmal darüber nachgedacht, wie viel Opfer es sein eigenes Volk gekostet hatte, den Frieden und die Sicherheit zu schaffen, die ihn tagein, tagaus schützten? Wohl kaum!
»In unverdienter Sicherheit ignorant, verwöhnt und bequem gelebt«, wiederholte er nachdenklich und mit lang gezogenen, leisen Worten. Antarona blickte ihn fragend an.
»Was habt ihr, Ba - shtie, fühlt ihr euch wohl?« Vermutlich zweifelte sie bereits an seinem Verstand. Sebastian lächelte sie offen an und gestand ihr etwas, das ihr noch mehr Rätsel aufgab.
»Ja, es geht mir gut.., ich fühle mich wohl, besonders, wenn du bei mir bist, aber... Weißt du, mein Engelchen, ich glaube, ich habe nur nie verstanden, für das Gute, dass ich im Leben erfahren habe, wirklich dankbar zu sein. Ich habe es hingenommen, wie ein billiges Geschenk, ohne darüber nachzudenken, das alles auch ganz anders hätte kommen können. Ich habe dich, deine Liebe wieder bekommen. Dafür sollte ich dankbar sein und bereit, Opfer zu bringen.«
In den Augen seiner kindhaften, unkomplizierten Frau machte sich Verständnislosigkeit breit. Den Sinn Sebastians selbstkritischer Gedanken verstand sie schon. Doch sie begriff nicht, weshalb er sich mit seiner Erkenntnis den Kopf zermarterte, anstatt einfach nur zu handeln.
Sebastian nickte noch einmal abschließend, dann zog wieder nüchterne Überlegung in ihm ein. Er deutete mit dem Kopf auf Antaronas Fellhaufen und fragte ungeniert:
»Sag mal, kann ich zwei oder drei von den Fellen haben?« Antarona sah in nur noch irritierter an, denn solch rasche Stimmungswechsel hatte sie bei ihm bisher nicht erlebt.
»Nehmt euch, was ihr braucht, Ba - shtie.., was Sonnenherz gehört, ist auch euer!« Sie sah interessiert zu, wie sich Basti drei mittelgroße, langhaarige Felle aussuchte und sie kritisch an seinen Rucksack hielt.
»Wozu braucht ihr sie, wenn ihr sie nicht gegen die Kälte auf dem Leib tragt?« Sebastian ignorierte ihre Frage. Statt dessen schlug er ihr vor, ohne von seiner Fellprobe aufzusehen:
»Antarona.., kannst du nicht einfach nur du zu mir sagen, wenn du mich anredest? Unsere Herzen sind miteinander verbunden und du sprichst immer noch mit mir, als wäre ich ein Fremder. In meiner Welt machen wir bei der Anrede einen Unterschied zwischen Menschenwesen, die uns vertraut sind und jenen, die uns fremd erscheinen. So zeigen wir offen das Vertrauen, das uns verbindet.«
Das Krähenmädchen versuchte diese angebliche Sitte aus dem Reich der Götter und der Toten zu verstehen, dachte aber daran, dass es sich nur um eine Merkwürdigkeit in Sebastians Geist handeln konnte. Sie wusste, dass er aus dem Reich der Toten gekommen war, in das er als Areos, Bentals Sohn, gegangen war.
Alle, die aus dem Reich im ewigen Eis zurück kamen, waren wirr im Kopf! Sie hatte es oft erlebt. Manche blieben für alle Zeit mit ihrem Geist im Reich der Toten gefangen. Andere, wie Areos, ihr Ba - shtie, kamen mit edleren Tugenden zurück. Aber sie blieben dennoch seltsam.., eben ab und zu wirr im Kopf!
Trotzdem war sie verunsichert. Sie hatte in den Spiegel aus dem Reich der Götter gesehen, so, wie sie ihr Antlitz oft im Wasser erblickte. Auch in einem sehr glatt geschmiedeten Schwert konnte sie ihr Gesicht sehen. Doch es war immer gleich!
Doch in den Bildern aus dem Reich der Götter und der Toten, die Areos bei sich trug, erblickte sie sich in einer anderen Welt, mit seltsamen Dingen, die sie nicht kannte. Niemand vor ihr hatte gesehen, was Ba - shtie ihr gezeigt hatte! Er besaß Gegenstände, die den Ival völlig unbekannt waren. Wusste nur sie allein die Wahrheit? Ihr Kristall blieb milchig, als sie ihn fragte. War es möglich, dass Areos gar nicht wirr im Kopf, sondern selbst als einer der Götter zum Volk zurück gekehrt war?
Sebastian versuchte Antaronas Felle mit Lederschnüren um seinen Rucksack zu binden, da bemerkte den süß verträumten Blick, mit dem seine Frau ihn ansah. Ihre großen, dunklen Augen schienen ihn gleichzeitig zu durchdringen und zu verehren. Er konnte sich ihrem Blick nicht entziehen. Aus ihnen sprach naive Ehrlichkeit und Tiefgründigkeit, sowie ein wacher Verstand und wilde Entschlossenheit gleichermaßen. Diese Mischung zog ihn magisch in ihren Bann.
Er vergaß das Thema ihrer persönlichen Anrede und war gefangen in ihrem Anblick. Hatte er diese verträumte Ernsthaftigkeit je bei Janine festgestellt? Kurz schoss ihm die Erinnerung durch den Kopf, die ihm Janine als immerwährendes freches, übermütiges und respektloses, ja beinahe ausgeflipptes Wesen präsentierte. Dann war es wieder wie weggewischt. Er sah nur noch Antarona, die selten übermütig lachte, stets eine geheimnisvolle Würde ausstrahlte und mit ihrem mehr intensiven, als spöttischen Blick sein Herz zu berühren schien.
Ihre Augen drohten sich gegenseitig zu verschlingen und Sebastian fühlte sich plötzlich ertappt, als könnte Antarona seine Gedanken wie ein offenes Buch lesen. Übertrieben eifrig widmete er sich wieder seinem Gepäck, das inzwischen mehr Ähnlichkeit mit einem Tragegestell der Eskimos hatte, als mit einem High-Tech-Goretex Rucksack aus dem zwanzigsten Jahrhundert.
»So.., das sollte genügen...«, begutachtete Sebastian laut und stolz sein Werk, »...damit werden wir wohl kaum noch auffallen, oder?«
Antarona erwachte aus ihren Gedanken. Ihre Augen verengten sich etwas und bekamen einen kritischen Ausdruck. Der Rucksack als solcher schien ihrer Prüfung stand zu halten. Der Inhalt weniger...
»Nehmt neben euren Waffen nur Dinge mit, welche ihr jederzeit entbehren könnt, Ba - shtie!« Diesen Rat vergab sie ohne eine weitere Erklärung. Sebastian fragte nicht nach. Sie konnten auf ihrem Weg jederzeit überfallen werden und es war gut möglich, dass sie ihre Bündel würden zurück lassen müssen, um sich selbst zu retten.
Den Rest des Tages verbrachten sie in der Wohnhöhle. Sebastian hockte auf dem Boden und versuchte seine inzwischen viel zu lang gewordenen Haare mit dem Bowiemesser zu kürzen. Die Klinge, die dem Pferdesoldaten bei der Befreiung der Frauen mühelos in die Rippen gefahren war, erwies sich für Haare als ziemlich unbrauchbar. So sehr er sich auch bemühte, es gelang ihm lediglich ein paar verschieden lange Büschel aus seinem Kopfbewuchs zu schneiden. Sebastian brauchte keinen Spiegel, um sich vorzustellen, wie er nach dieser Behandlung aussehen würde.
Resigniert steckte er das Messer in die Scheide zurück. Neidisch blickte er zu Antarona hinüber, die an einem schlanken Stock arbeitete, der einmal ein Pfeil werden sollte. Sie kannte dieses Problem nicht. Ihre Haare, die so kräftig waren, wie jene von Pferden, vielen ihr wie die Kaskaden eines schwarzen Wasserfalls über den Rücken. Wie brachte sie es fertig, sich im Kampf blitzschnell zu drehen und das Schwert zu führen, ohne sich in ihrer eigenen Mähne zu strangulieren?
Entweder musste er seine Haare ebenfalls wachsen lassen, oder jemanden finden, der sie ihm fachgerecht und sauber abschnitt. Die Männer des Volkes liefen zwar nicht gerade gestylt, doch mit gepflegter, gleichmäßiger Haarpracht herum. Also musste es in den Dörfern so etwas wie einen Friseur geben! Arglos fragte er Antarona danach. Er hätte es lieber bleiben lassen sollen.
Antarona kramte in einer ihrer Nischen herum und kam dann mit verschlagenem Lächeln auf ihn zu. In der Hand hielt sie etwas, dem Sebastian Bewunderung zollte. Ein aus Knochen gefertigter, leicht gebogener, grober Kamm, an dessen Rücken mit winzigen Holznägeln ein quadratisches Stück Leder befestigt war. In dieses Leder legte seine Gefährtin einen geraden, scharfen Feuerstein, so dass die Schneide knapp hinter den Zähnen des Kamms lag.
»Habt ihr die Männer des Volkes gesehen, Ba - shtie?« fragte sie und baute sich aufreizend vor ihm auf. Sebastian nickte und wollte antworten, doch sie kam ihm zuvor:
»Sie gehen mit dem kurzen Haar, welches sie bei ihrer Arbeit nicht stört.« Sie gab ihrer Belehrung eine gewichtige Pause und sah ihm lauernd in die Augen.
»Und habt ihr jene der Ival gesehen, welche Knaben sind und noch keine Männer..?« Ihre Frage klang wie eine Herausforderung.
Da fiel es Sebastian ein! Die Jungen in den Dörfern liefen fast alle mit langen, zerzausten Haaren herum, so dass sie oft kaum, wenn überhaupt nur durch ihre Kleidung, von den Mädchen zu unterscheiden waren.
»Sie tragen noch das lange Haar der Unschuld. Erst, wenn sie Krieger sind und ihr Herz mit dem Herzen einer Tochter des Volkes verbunden ist, tragen sie stolz das kurze Haar der Männer«, klärte sie ihn auf. Doch die Lehrstunde war noch nicht beendet.
»Was glaubt ihr, Ba - shtie - laug - nids.., warum das so ist?« fragte sie hintergründig und wog den Kamm mit dem Flintstein drohend und spöttisch zugleich in ihrer kleinen Hand. Sebastian schwante nichts Gutes und er antwortete mit vorsichtiger Frage:
»Weil die Mütter des Volkes diese Dinger da aufbewahren?« Basti zeigte auf den Kamm, der ihn unter dem überlegenen Lächeln seiner Gefährtin beinahe den Charakter einer Waffe annahm. Antarona beugte sich etwas zu ihm herab, schlich wie eine kampfbereite Tigerin halb um ihn herum und bohrte ihren Blick in seine Augen, als wollte sie ihn damit lähmen.
»Und habt ihr auch die alten und weisen Männer der Ival gesehen...«, forschte sie mit süßer Durchtriebenheit weiter.
Stimmt! Sebastian war aufgefallen, dass einige der alten Männer mit eisgrauen Mähnen, ähnlich wie Zauberer in alten Märchen, herum liefen. Manche hatten ihre Haare, wie Indianer, mit Lederbändern zusammengerefft.
»Was glaubt ihr, Ba - shtie - laug - nids.., warum das so ist?« wiederholte Antarona beinahe schadenfroh ihren Satz. Sie wartete nicht auf seine Antwort. Unverhofft sprang sie vorwärts, ihre kleinen Fäuste stemmten sich gegen seine Schultern und warfen ihn mit einem schnellen Wurf aus dem Sitz zu Boden. Triumphierend setzte sie sich breitbeinig auf ihn und ihre herab fallenden Haare verdunkelten kurz seinen Blick.
Übermütig hielt sie Basti mit ihren Händen und Schenkeln in den Staub gedrückt und funkelte ihn überlegen und geheimnisvoll an. Sebastian, auf das unbekannte Spiel neugierig geworden, hielt still. Mit einer einzigen Bewegung hätte er sie überwältigen können. Doch er genoss Antaronas Nähe und die plötzliche stürmische Leidenschaft, die ihn wieder an Janine erinnerte. Er spürte ihre Wärme, sog ihren betörenden Duft ein und vergaß ganz die Frage, um die es ging.
»Das ist so...«, rief sie ihm das Thema halb schnippisch, halb anzüglich in Erinnerung, »...weil nur die Töchter und Schwestern der Ival ihren Männern den Wuchs des Hauptes kürzen!« klärte sie ihn auf.
»Es ist beim Volk seit alters her den Frauen bestimmt, ihren Männern, mit denen sie durch das Herz, oder das Blut verbunden sind, die Tolde zu machen.« Damit drohte sie wieder spielerisch mit dem Kamm, der offenbar aus der Kreidezeit stammte. Sebastian fand Gefallen an diesem Katz und Maus Spiel.
»Tolde.., was ist das?« fragte er scheinheilig und wand sich unter dem Druck ihrer Beine scheinbar kraftlos hin und her, als versuchte er ihrer Umklammerung zu entkommen. Sie spannte ihre Schenkel weiter an, beugte sich noch tiefer über das Opfer ihrer verführerischen Gestalt und spürte, dass Sebastian kaum noch an so etwas Unwichtiges, wie seine Haare dachte.
»Tolde ist das, so wie die Haare sind...«, belehrte sie ihn nicht ganz ernsthaft, »...und eure sind nicht mehr würdig eines Kriegers, der zu seinem König gerufen wird!« Das herausfordernde Lächeln und die flötende Stimme verliehen ihrem Tadel einen eher spaßigen Charakter.
»Keine andere Tochter des Volkes als Sonnenherz wird euch die Tolde machen...« Mit dieser Prophezeihung rutschten ihre Schenkel etwas zurück, so dass Sebastian die Wärme ihres Schoßes noch intensiver spürte. Antarona schien seine Erregung nicht zu beeindrucken.
Sie griff ihm in die Haare, zog eine dicke Strähne lang und fuhr mit dem Steinzeitkamm hindurch. Es ziepte und riss gnadenlos an Bastis Kopfhaut, dass er augenblicklich das Verlangen nach ihrer nackten Haut vergaß und beschwörend die Hände hob.
»Aaaauuutsch..! Sag mal, willst du mich umbringen? Lass das mal.., ja?« Antarona verstand es, eine gleichzeitig spöttische und verführerische Grimasse zu ziehen.
»Stellt euch nicht so kindlich an, Mann von den Göttern, der einmal König sein wird! Wollt ihr, dass euch das Volk so jammern hört? Glaubt ihr, dass sie dem wiedergekehrten Areos folgen werden, wenn sie hören, wie er beim Tolden wie ein kleines Kind schreit?« Schadenfroh lachte sie ihn an und Sebastian war wie betäubt von ihrer sinnlichen Fröhlichkeit, die sie leider viel zu selten zeigte. Aber nur bis zum nächsten Zug mit dem Kamm durch sein Haar.
»Das machst du doch mit Absicht, du kleine Kröte...«, warf er ihr neckisch vor, »...na warte, dir wird’ ich helfen, deinen Mann zu quälen...« Damit stemmte er seinen Schoß mit den Beinen so kräftig hoch, dass Antarona den Halt verlor. Sie ruderte mit den Armen, der Kamm flog nach hinten und sie drohte ebenfalls rücklings von ihrem Toldenopfer zu fliegen.
Sebastians Hände aber packten beherzt zu, fassten ihr um die Hüfte und zogen sie zu sich herab. Sie stemmt ihre kleinen Fäuste gegen seine Brust und tat, als wehrte sie sich verzweifelt gegen seinen Griff. Dann verloren ihre Arme an Kraft, gaben nach, legten sich schlangengleich um seinen Hals und ihre Lippen senkten sich bebend auf seinen Mund...
Eine Stunde später lagen zwei schwer nach Luft ringende Leiber ineinander verschlungen auf dem Höhlenboden. Der feine Steinstaub des Berges haftete auf ihrer verschwitzten Haut und ließ die beiden im Zwielicht wie ein fremdartiges, mehliges Wesen aus einer Geisterwelt erscheinen.
Antaronas Kopf lag in Sebastians Armbeuge gebettet. Seine andere Hand glitt zärtlich über jede Stelle ihres Körpers und ertastete jede Rundung, jedes Grübchen und jede Regung ihrer Haut. Sie genoss die Berührungen und schloss zufrieden und mit einem glücklichen Lächeln ihre Augen. Sie wollte ihn nur spüren, seine Hand fühlen, seinen ruhigen Atem hören, seinen Duft in sich aufnehmen, sich einfach in ihn fallen lassen, wie in ein behütendes Lager aus leichten Fellen.
Wie die Hunde.., schoss es Sebastian durch den Kopf. Hemmungslos dem begehrenden Verlangen hingegeben, wie die Hunde... Er lächelte glücklich und küsste das Wesen, das in seinem Arm lag und das er für das zauberhafteste Geschöpf ganz gleich von welcher Welt hielt.
Antarona hob den Kopf und öffnete fragend ihre Augen. Sebastian lachte sie offen an. Er wischte behutsam den Staub von ihrem Bauch. Dabei fiel ihm etwas auf, das er bis dahin noch nicht entdeckt hatte. Trotzdem sie schon oft unbekleidet vor ihm herumgelaufen war, bemerkte er zum ersten Mal so etwas wie eine kleine Tätowierung auf ihrem Unterleib.
An der Stelle, die gewöhnlich ihr Lederschurz bedeckte, hatte sie eine dunkelbraune Hautverfärbung, die dem Symbol einer Sonne sehr ähnlich war. Antarona bemerkte sein Interesse für die Stelle ihres Körpers und er fühlte sich ertappt.
»Jetzt müssen wir aber nicht tolden, sondern erst mal duschen gehen«, stellte er vergnügt fest. Das Staunen in Antaronas Gesicht blieb.
»Zum See...«, erklärte er ihr, »...wir müssen zum See.., wir müssen uns waschen!« Damit schnippte er grobe Staubkörnchen und kleine Steinchen von seiner Haut. Antaronas Mine hellte sich auf.
»Sonnenherz wird den Krieger an ihrer Seite waschen«, bestimmte sie kichernd, sprang auf die Beine, zog Sebastian an der Hand hoch und stupste ihn mit verspielten Knuffen vorwärts, als er ihrer Aufforderung nicht sofort nach kam.
Sebastian war überglücklich, in Antarona plötzlich diese spontane Unbeschwertheit erweckt zu haben, mit der ihn Janine so fasziniert hatte. Antarona und Janine.., sie waren nicht gleich. Und doch ähnelten sie sich wie Zwillingsschwestern! War das alles nur ein schnöder Zufall? Konnte das alles, was er hier erlebte, eine unbedachte Laune des Schicksals sein, oder gab es eine Vorsehung, die genau das hier bestimmte?
Wenn das so war, und wenn es vorbestimmt war, dass er ein Leben an der Seite der Frau seiner Sehnsüchte führen durfte, so wollte sich Sebastian gern seinem Schicksal fügen! Nur das Wie und Warum blieb als zehrende Frage in seinem Hinterkopf.
Kurz darauf erreichten sie den Wasserfall, der wie eine verschwommene, sich ständig bewegende Gardine zwischen ihrer verborgenen Unterwelt und dem feindlichen Land dort draußen, in den See donnerte. Vorsichtig blickten sie über die Kante des Schwemmbodens. Jenseits der Wasserwand war keine Bewegung auszumachen.
Sebastian fragte sich, was die drei Reiter Torbuks wohl auf dieser Seite des Sees zu suchen hatten. Eine plausible Erklärung war, dass sie einem Wild nachgejagt waren, dass sich auf diese Seite des Tales flüchtete. Es gab aber noch eine andere Möglichkeit, wenn auch nur in Sebastians Gedanken.
Konnten die drei von Torbuk selbst beauftragt worden sein, den See zu erkunden? War diesem Despoten tatsächlich aufgefallen, dass einer seiner Kontrollposten mitsamt allen Männern und Pferden wie vom Erdboden verschwunden war? Ausgerechnet an der gleichen Stelle dieses Sees, an dem seine Männer schon einmal einen Mann mit einem geheimnisvollen Schwert und einem leuchtenden, runden Stein hatten im Wasser verschwinden sahen?
Möglicherweise weckte der See allmählich sein Interesse. War es nur eine Frage der Zeit, bis Torbuk oder Karek selbst am Ufer dieses Gewässers auftauchten? Oder ließ der ungekrönte Herrscher von Quaronas den Wasserfall bereits aus einem sicheren Versteck heraus beobachten?
Besorgt teilte Sebastian seine Überlegungen mit Antarona. Sie zeigte keine große Überraschung. Vermutlich waren ihr selbst schon solche Befürchtungen gekommen. Doch das hielt sie nicht von ihrem Vorhaben ab, ihrem Krieger von den Göttern den Staub von den Lenden zu waschen.
Mit der Gewandtheit einer Schlange ließ sie sich über die Steinkante gleiten und zog Basti hinter sich her. Augenblicklich standen sie unter dem Wasservorhang, der eisig kalt auf sie hernieder fuhr, so dass sie kaum zu atmen in der Lage waren. Doch sie durften die schützende Wasserwand nicht verlassen, ohne sich der möglichen Entdeckung preis zu geben.
Das Wasser prasselte mit der Gewalt des freien Falls auf ihre Köpfe. Schon nach kurzer Zeit begann das erfrischende Nass weh zu tun. Sebastian mochte das Hämmern auf seinem Kopf gar nicht und zog seine nackte Gefährtin etwas zur Seite, in einen feineren Strahl des herabstürzenden Wassers, der sie in einen undurchsichtigen, Schleier von weißem Nebel hüllte.
Gegenseitig wuschen sie sich den Staub von der Haut, was aber nur noch den Charakter von verliebten Berührungen besaß, die ihr Verlangen nacheinander neu entfachten. Der Wasserfall hatte ihnen den Schmutz bereits in den ersten Sekunden vom Leib gespült.
Zwei Menschen aus scheinbar zwei verschiedenen Welten entdeckten sich und die Leidenschaft ihrer Liebe füreinander. Viel Zeit hatten sie bisher nicht, diesem Begehren nachzugeben. An diesem Tag jedoch lebten sie für ihre Zweisamkeit, die sie vielleicht lange würden entbehren müssen.
Antarona traktierte ihren Geliebten noch einmal mit ihrem mittelalterlichen Kamm. Sebastian versuchte vergeblich, dem groben Gerät auszuweichen, doch seine Gefährtin ließ keine Zweifel darüber aufkommen, dass sie einen würdigen Kampfgefährten an ihrer Seite haben wollte.
Die Dämmerung zog herauf, als sie sich endlich vom Schwemmboden erhoben, in dessen feinem Sand sie dann noch eng umschlungen geträumt hatten. Der Rückweg durch das grundlose, verzweigte Höhlensystem forderte wieder ihre volle Aufmerksamkeit.
Schneller, als ihnen lieb war, mussten sie sich wieder ihrer Aufgabe widmen. Der Weg nach Falméra! Eine Audienz beim König! Und der Weg zurück ins Val Mentiér! Irgendwann in den frühen Morgenstunden, wenn der erste Frost noch als weißer, glitzernder Teppich auf dem dunklen Land lag, die Kälte in jeden Winkel, um jeden Baum und unter jeden Stein kroch, mussten sie ihr Liebesnest im Berg verlassen.
Es war die Zeit, in der sie die Reitersoldaten aus Quaronas am wenigsten zu fürchten brauchten. Sie mochten grausame, gewissenlose Mörder sein, die ihre Opfer mit den schlimmsten, nur vorstellbaren Gräueltaten quälten... Doch auch sie waren letztlich nur Menschen, mit den, dieser Rasse zu eigenen Schwächen ausgestattet. Die Abneigung gegen Kälte!
In der Zeit vor dem Sonnenaufgang hatten sich selbst jene, die auf Wache gingen, in warme Felle gehüllt und warteten starr und steif sehnsüchtig auf den großen Auftritt des Sonnenballs, der das Land mit Wärme und neuem Leben überflutete. Es war die Zeit, in der die Sinne eines jeden Wesens sich dem Wunsch nach Wärme hingeben, so vernahm es Sebastian aus dem Munde Antaronas naiver Weisheit. Zu dieser unwirtlichen Stunde konnten sie am ehesten ungesehen aus ihrem Versteck schlüpfen.
Nachdem sie alles für ihren frühen Aufbruch bereit gelegt hatten, krochen sie gemeinsam unter Antaronas Fellberg. Fröstelnd rieben sich ihre Körper aneinander, bis sie sich gegenseitig Wärme spendeten. Zufrieden und aneinander geschmiegt, folgten sie Mutter der Nacht und ließen sich in eine Welt entführen, die bereits bessere Tage kannte, als jene, denen sie für ein paar Stunden entflohen...

Irgendwann spürte Sebastian eine feuchte Wärme an seinem Ohr. Es kitzelte angenehm und er glaubte noch in einem Traum gefangen zu sein.
»Ba - shtie.., erhebt euch! Die Mutter des Tages steht vor ihrem Lauf.., wir müssen aufbrechen!« Antaronas Lippen flüsterten ihm weiche Töne zu, erreichte damit aber nur, dass er sich wieder hinein sehnte, in die Traumwelt, welcher er gerade entflohen war. Ihre sanfte Stimme, die zärtliche Berührung, die warmen Felle...
Wieso mussten sie ausgerechnet an diesem Morgen losziehen? Der nächste Tag war ebenso gut! Warum konnten sie nicht noch eine Weile ihre Einsamkeit genießen? Torbuk und der König würden sich inzwischen kaum in Luft aufgelöst haben!
Plötzlich wurde es eiskalt um Bastis Beine. Er riss seine Augenlider auf, die er in wohliger Zufriedenheit wieder hatte zufallen lassen. Antarona zog ihm gnadenlos die Felle von seinem unbekleideten Körper. Kichernd ob seiner bloßen, frierenden Gestalt warf sie ihm die Kleidung zu, die er am Abend achtlos und im Bann seiner verführerischen Höhlenhexe auf dem Boden verteilt hatte.
Kalt war es zwischen den Felswänden. Kein Feuer brannte, kein Essen wartete auf seinen ausgehungerten Magen und keine Sonnenstrahlen suchten den Weg in den Berg. Sebastian fröstelte selbst noch in seinen Kleidern und kam nur schwer in Gang. Die Sehnsucht nach seiner überheizten Wohnung mit dem wohl gefüllten Kühlschrank war wieder da!
Müde beobachtete er Antarona, wie sie mit wenigen Handgriffen in einen schweren Mantel schlüpfte, der aus zwei aneinander genähten Naturfellen bestand. Das Teil hing ihr massig auf den schmalen Schultern und schaukelte bei jeder Bewegung wie ein festes Teil hin und her. Sie bot das Bild einer filigranen Schildkröte, die in einem ausgefransten, viel zu großen Panzer steckte.
Voller Elan schleppte sie ihr Bündel nebst Bastis Rucksack in die Eingangshalle der Grotte. Unentschlossen sah er ihr nach, mit schweren Gliedern, noch zu keinerlei Heldentaten bereit. Schaudernd fragte er sich, woher sie diesen Tatendrang nahm. Janine jedenfalls besaß zwar Spontaneität, war ansonsten jedoch der Morgenmuffel schlechthin. Im Grunde, so musste er sich eingestehen, hatte Antarona nur ihr äußeres Erscheinungsbild mit Janine gemeinsam.
»Was sitzt ihr da und glotzt mir nach, Ba - shtie? Bewegt euch.., sonst wird die lange Kälte vorüber sein und wir haben Falméra noch nicht erreicht!« Sie baute sich vorwurfsvoll vor ihm auf, der Fellpanzer um ihren Leib wirkte wie ein starres Element, wackelte wie ein Pendel und drohte ihr über die Schultern zu rutschen.
Umständlich und demonstrativ langsam erhob sich Sebastian von dem steinernen Bettgestell und reckte sich ungeniert. Aus der Bewegung heraus umfasste er das Fellmonster, in dem seine Frau steckte und drückte einen Kuss auf ihren zum Protest geöffneten Mund.
»Ist ja schon gut, mein Engelchen...«, beruhigte er sie, »...bin ja schon fertig! Manche Teile werden eben nicht so schnell wach, wie andere!« Taumelnd wand er sich in seine kalten Klamotten und suchte nach seinen Waffen.
»Euer Bündel liegt schon am Eingang.., Schwert, Bogen und Messer sind dabei!« Antarona wies mit beiden Händen auffordernd in die Eingangshalle. Mürrisch folgte ihr Sebastian in den größeren, noch kälteren Raum. Er vermisste seinen morgendlichen Kaffee, mit dem er Zuhause stets seinen Tag begann.
In dieser Welt gab es statt dessen eine eiskalte Dusche! Wie immer beim Verlassen, oder Betreten der Höhle mussten sie sich unter dem Wasserfall entlang tasten. Sebastian verfluchte die im Land herum schleichenden Soldaten Torbuks. Ihretwegen musste er sich solchen unbequemen Situationen aussetzen, während die wahrscheinlich noch gemütlich unter warmen Decken vor sich hin schnarchten.
Antarona zog sich den schweren Fellmantel aus und rollte ihn zusammen. In ihrem gewohnten Hüftschurz stand sie als frierende Silhouette im Eingang und hängte ihn sich zusammen mit ihren Waffen und ihrem Bündel um. Ungeduldig sah sie Sebastian an. Nur widerwillig entledigte auch er sich seiner Sachen, bis auf die Unterhose und die Bergstiefel.
Wäre er in diesem Aufzug in seiner Welt aus dem Haus gegangen, so hätte man vermutet, einen vom Ehemann seiner geliebten überraschten Liebhaber vor sich zu haben. In diesen Tälern aber gewöhnte er sich allmählich daran, öfter sehr dürftig bekleidet umher zu laufen. Freilich nur, wenn es die Temperaturen erlaubten!
An diesem Morgen taten sie es nicht! Als er Antarona in den Nebel des Wasserfalls folgte, schlug ihm eine beißende Kälte entgegen. Jede Bewegung kostete Überwindung. Die Nässe tat ein Übriges und lähmte seinen ganzen Organismus. Schwerfällig und bibbernd schlich Basti hinter seiner Frau her und mutmaßte, dass sie wohl am Abend beide mit hohem Fieber in ihren Fellen lagen!
Das Krähenmädchen schien angesichts der Kälte noch agiler zu werden. Sie hetzte unter dem Wasserfall hindurch, als gelte es, dem Tod persönlich zu entrinnen. Sie erreichten die Felsen und Sebastian staunte nicht schlecht. Die glitschigen Steine, gewöhnlich von einem feinen Wasserfilm überzogen, starrten vor Frost! Wie ein dicker, klarer Lack überzog blankes Wassereis den dunkelgrauen Fels.
Weiter unten glitzerten weiße Eiskristalle. Das ganze Land war vom Frost bedeckt. Starrer Dunst, wo am Tag zuvor noch die Sonne zum Baden lockte. Sebastian wusste nicht recht, wie er nun über die haltlosen, glatten Felsen gelangen sollte und stand ziemlich ratlos im Sprühregen des Wasserfalls. Selbst Antarona musste unter diesen Bedingungen alle Register ihrer Gewandtheit ziehen, um über die gefrorenen Felsen zu gelangen.
An einer schwierigen Stelle glitt ihr nackter Fuß auf dem blanken Eis aus, sie verlor den Halt und rutschte mit dem linken Bein in den Spalt zwischen zwei Felsen. Hilflos hing sie mit ihrem Bündel zwischen den mächtigen Steinen und wand sich wie eine Schlange, die man am Schwanz an den Boden genagelt hatte.
Vorsichtig schob sich Sebastian an sie heran, griff ihre Hand und zog sie aus ihrer beklemmenden Lage. Dafür rutschte nun sein eigener Fuß weg und augenblicklich saß er genau dort fest, wo Sekunden zuvor noch seine Frau gefangen war. Laut fluchend stemmte er sich mit den Armen gegen die glasierten Felsen und schob sich aus der Falle.
Mit aufgeschürften Knöcheln standen sie schließlich auf dem Sandplatz am See. Sofort huschte Antarona zwischen die nahen Büsche in Deckung.
»Kommt hier herüber, Ba - shtie...«, rief sie ihm leise zu. Sebastian dachte aber gar nicht daran. Er fror, zitterte am ganzen Leib und wollte sich erst einmal etwas anziehen. Zähneklappernd nestelte er an dem Riemen herum, der seine Kleidung zusammen hielt.
»Ba - shtie.., bewegt euren Hintern gefälligst hier her, wo euch die Augen Torbuks nicht sehen können«, ermahnte sie ihn wütend. Sebastian jedoch tanzte auf einem Bein auf dem Strand herum und versuchte vergeblich ein Hosenbein über den Bergstiefel zu ziehen. Er wollte so rasch wie möglich in seine wärmenden Klamotten gelangen.
Wie ein angreifender Panther brach Antarona aus dem Dickicht hervor, schnappte sich seinen Arm und zog ihn mitsamt seinem Rucksack energisch ins Unterholz.
»Sagt mal, was soll das...«, fauchte sie ihn mit blitzenden Augen an, »...wollt ihr, dass uns die schwarzen Reiter noch einmal überraschen? Ihr bewegt euch wie ein Narr, Ba - shtie - laug - nids! So werdet ihr nie ein Krieger der Ival!« Mit verächtlichem Blick warf sie ihm seine Kleidung vor die Füße.
»Ihr seid so töricht, wie ein Knabe am ersten Tag der erwachenden Sonne!« rügte sie ihn mit einem scharfen Seitenblick und begann sich nun selbst gegen die Kälte zu schützen. Im Handumdrehen hatte sie sich wieder den langhaarigen Pelz übergeworfen und ein paar Beinlinge übergezogen, die Sebastian zum ersten mal bei ihr sah.
Unordentlich zusammen genähte, hohe Lederschäfte, die mit Fellstreifen besetzt waren, ruhten auf schlichten ledernen Mokkasins. Mochten ihre neuen Beinlinge auch nicht sehr schön aussehen, Sebastian war davon überzeugt, dass sie ihre Trägerin warm hielten. Der schlanke, halb nackte und verführerische Körper seiner Frau verwandelte sich in eine plumpe, unscheinbare Bäuerin. Lediglich die feinen Züge ihres Gesichts ließen noch auf ihre elfenhafte Figur schließen.
Sebastian war jedoch froh über die äußerliche Veränderung, die Antaronas Winterkleidung bewirkte. Sollten sie auf ihrer Mission noch einmal Torbuks Handlangern über den Weg laufen, so bestand wenigstens die vage Hoffnung, dass diese nicht sofort über seine aufreizend knapp bekleidete Frau her fielen.
Wie um seine Gedanken zu unterstreichen, legte sich Antarona noch einige Lederriemen als Gürtel um und zog ihr Fell damit in der Taille zusammen. Ihr Umhang bekam dadurch mehr Halt und schirmte sie offenbar besser gegen den eisigen Wind ab, der ihnen sicher bald um die geröteten Nasen wehen würde.
Sebastian selbst hatte sich über die von Antarona genähte Hose noch seine aufgeschnittene Lederhose gezogen. Diese Kombination durfte selbst eisigem Wind trotzen. Über seine Daunenjacke hatte er sich eines von den Fellen gezogen, die in der Höhle seiner Frau wie in einem Warenhaus zur Auswahl standen.
Antarona zog einen Beutel aus ihrem Bündel, griff hinein und reichte ihm ein Stück getrocknetes Fleisch.
»Kaut es gut, Ba - shtie.., es nimmt euch den Hunger«, riet sie ihm. Sebastian biss sich beinahe einen Zahn aus, denn das Zeug war hart wie Stein. Zudem war es so salzig, dass er übertrieben sein Gesicht verzog.
»Bist du sicher, dass dies etwas zum Essen ist, und keine Waffe...«, unkte er. Antarona grinste ihn schadenfroh an, wieder mit diesem Blick, der ihre Überlegenheit ausdrückte.
»Es ist von dem Wild, welches uns die Eishunde streitig machen wollten. Das Salz macht es hart und haltbar. Lasst es eine Weile im Mund, dann könnt ihr es kauen«, versprach sie. Gleichzeitig hängte sie sich die Waffen um, biss selbst ein Stück von dem harten, salzigen Etwas ab und setzte sich in Bewegung.
»Ist mir schon klar, warum da keine Tiere mehr dran gehen...«, stichelte Sebastian weiter, »...die fressen keinen Stein.« Das Krähenmädchen überhörte seine Provokationen und konzentrierte ihre Sinne auf die Umgebung. Der Weg durch das Tal lag wie ausgestorben da. Dennoch hielt es Antarona für besser, ihn zu meiden und sich einen Pfad durch die Wälder und über die Berge zu suchen.
»Auf den Weg blicken die, welche im Verborgenen lauern...«, war ihr nüchterner Kommentar, »...doch jene, die auf ihm schreiten, sehen nicht, was sich hinter den Blättern des Waldes verbirgt.« So dumm war Sebastian nun auch wieder nicht, als dass ihm diese Logik nicht selbst eingefallen wäre.
Verdammt.., er konnte ihren Reizen nicht widerstehen und nun war er mit einem weiblichen Lederstrumpf verheiratet! An sich eine witzige, ja fantastische Vorstellung, für einen Tag, für eine Woche, für einen Monat... Aber für ein ganzes Leben? Er war der Mann und sein Ego wehrte sich, begehrte schon jetzt im Stillen auf. Im Augenblick fand er die Situation ganz amüsant und dazu noch erotisch und bewundernd. Doch wie würde sich das entwickeln, wenn sie einmal im Alltag zusammen lebten?
Ständige Belehrungen waren ihm schon von je her verhasst gewesen. Über die Möglichkeit, diese von einer Frau.., von seiner Frau, zu empfangen, hatte er überhaupt erst gar nicht nachgedacht! Noch fand er es faszinierend, dieses Krähenmädchen, das sich so selbstbewusst in seiner Welt zu behaupten wusste und den Männern ihrer Kultur Paroli bot. Würde er, Sebastian, es auf Dauer ertragen können, stets im Schatten ihres Wissens und ihrer Überlegenheit zu leben?
Bereits nach dieser kurzen Zeit, die er mit Antarona zusammen war, machte es ihn zuweilen schon wütend, wenn sie ihn bevormundete, ihn kritisierte und wie ein Kind leitete, ihn gleichzeitig aber seine Abhängigkeit von ihren körperlichen Reizen vor Augen führte. Sie wusste genau, welche Wirkung sie auf ihn hatte und nutzte es zuweilen schamlos aus, ja sie provozierte ihn geradezu damit!
Sebastian war kein Gott. Er war nur ein gewöhnlicher Mann, mit den Eigenschaften, die nun einmal einem Mann anheim waren. Seine Gefühlspalette in Bezug auf dieses wilde, ungezähmte Mädchen reichte von tiefer Liebe, die schon an Hörigkeit grenzte, bis hin zu dem Drang, ihr seinen Willen aufzuzwingen, sie sich gefügig zu machen, ihren Eigensinn zu brechen.
Doch ertappte er sich bei der Vorstellung letztere Möglichkeit, tat es ihm schon wieder leid, denn seine Liebe und Ehrfurcht vor ihrem wundersamen Wesen machte letztendlich die Faszination aus, mit der sie ihn in ihren Bann zog. Sebastian ging allmählich das berühmte Licht auf.
Sie beide waren derart dominante Charaktäre, dass sie, wollten sie ein Leben miteinander teilen, hart und mit Hingabe an sich selbst arbeiten mussten, um einen Kompromiss zu finden, der beiden Geistern gerecht wurde. Sie mussten lernen, die Eigenarten und Wesenszüge des anderen zu respektieren und für ihre Verbundenheit positiv zu nutzen.
Das erste, was dieser Respekt forderte, war Sebastians Verständnis für die Tatsache, dass Antarona von Kind an auf eigenen Füßen stehen musste. Der frühe Verlust ihrer Mutter, den sie bis zu diesem Tage nicht wirklich verwunden hatte, katapultierte sie in eine Männerwelt, in der sie sich behaupten musste, um überleben und ihren Geist entfalten zu können.
Für das willenloses Dasein einer bescheidenen, unterwürfigen Bäuerin war sie nicht geschaffen. Ihr Wesen besaß etwas, das nicht in die Welt einfacher Landarbeiter passte. Etwas Graziles, Willenstarkes und Großgeistiges sowie Feinsinniges steckte in ihrem Charakter, etwas, das die Wesensfarbe edler Herkunft ausmachte.
Ihr Vater hatte sich wahrscheinlich die größte Mühe gegeben, sie bodenständig, als Kind dieses Landes und als ehrfürchtige, demütige Frau vor dem männlichen Herrschergeschlecht zu erziehen. Doch etwas in ihr, das stärker war, als das Blut, etwas, das in ihrem Herzen war, begehrte auf! Sie entzog sich der ihr zugedachten Rolle einer gefügigen, den Herrschenden ergebenen, rechtlosen Frau.
Sie entwickelte eine innere kontroverse Stärke und Sebastian vermutete, dass diese Kraft schon immer in ihr schlummerte. Sie war eben keine Bäuerin! Nicht, dass sie nicht den Wunsch entwickeln konnte, ihm Kinder zu gebären und mit ihm das Leben eines Farmers zu führen... Ebenso wenig war sie nur eine streitbare Kriegerin, denn sie verachtete ja die Gewalt. Es steckte eben weitaus mehr in ihrem Wesen. Etwas, was sich Sebastian nicht erklären konnte.., etwas Göttliches!
Basti schüttelte nur für sich den Kopf. So ein Unsinn! War er nicht bloß von ihrer Schönheit und seinem eigenen, unstillbaren Verlangen nach ihr verblendet?
»Warum wartet ihr, Ba - shtie...«, hörte er ihre Stimme und hatte sich ertappt, dass er stehen geblieben war.
»Wir gehen den Weg, den wir gekommen sind und dann über die hohen Weiden«, klärte sie ihn auf. Das Wort hoch in diesem Zusammenhang gefiel Sebastian gar nicht. Die Begegnung mit den Eishunden steckte ihm noch in den Knochen. Auf solche Abenteuer konnte er gern verzichten.
Natürlich hatte er keine Ahnung von diesem Land und musste sich auf das Urteilsvermögen seiner Frau verlassen. Sie bahnte sich vor ihm her einen Weg durch das Dickicht und bot das Bild eines riesigen, unbeholfenen Fellmonsters. Außer den dicken Fellen, die sie auf dem Leib trug, hingen ihr weitere Felle als Bündel über der Schulter. Dazu kamen noch lederne Taschen, das Bündel in dem das Schwert und die Schriftrolle des Achterrats steckten, sowie ihre Waffen.
Sebastian selbst trug nur seinen mit Fellen getarnten Rucksack mit dem Schlafsack, das Kurzschwert und die beiden Bowiemesser. Über seinen Rucksack hatte er sich den Bogen und den Köcher gehängt, die ihm Antarona gegeben hatte.
Als sie das Wäldchen am See durchschritten und den Weg fast erreicht hatten, huschten plötzlich zwei Schatten zwischen ihm und seiner Gefährtin durch das Unterholz und jagten Sebastian einen Heidenschreck ein. Instinktiv fuhr er zusammen und riss das Schwert aus der Scheide. Auch Antarona hielt im Bruchteil einer Sekunde Nantakis Griff mit beiden Händen umfasst und starrte auf die Stelle, wo die beiden Phantome im dichten Gestrüpp verschwunden waren.
Auf einem Mal ließ ihre Anspannung nach und sie hängte sich ihr Schwert wieder über den Rücken. Fragend blieb Sebastian in abwehrender Haltung stehen und rührte sich nicht.
»Ihr könnt eure Waffe wieder senken, Ba – shtie, die zwei sind eure Freunde.., sie sind keine Gefahr!« Sie wies mit den Augen hinter ihn und er drehte sich rasch um. Rona und Reno saßen mit hechelnden Zungen nebeneinander da und beäugten Sebastian neugierig.
»Na, da hört sich ja alles auf...«, rief Basti freudig überrascht, »...pirschen sich an, wie ein paar Banditen!« An sich war es ihm peinlich, zugeben zu müssen, dass er die beiden Hunde Balmers ganz vergessen hatte. Wo mochten die sich herumgetrieben haben? Warum hatten sie ihn und Antarona nicht gewarnt, als die drei schwarzen Reiter durch den Wald an den See geschlichen kamen?
Er zuckte mit den Schultern. Offenbar führten sie ihr eigenes Leben, unabhängig von den Menschenwesen. Sie kamen und gingen, wann es ihnen passte, blieben eine Weile, spielten die braven Hütehunde und waren ebenso überraschend wieder verschwunden.
Allerdings, das hatte Sebastian staunend festgestellt, blieben sie in der Nähe, wenn man es ihnen sagte. Sie waren wie geheimnisvolle Begleiter, die sich wie Schatten in der Flanke bewegten und erst in Erscheinung traten, wenn ihre menschlichen Freunde in Bedrängnis waren. Und freilich auch dann, wenn es etwas gebratenes am Feuer gab!
Augenfällig wurde Sebastian bewusst, welch großen schatz Högi Balmer ihm da überlassen hatte. Die beiden wolfsartigen Anhängsel waren brauchbare und zuverlässige Kameraden.., treu, ehrlich und ohne etwas zu fordern.
»Na, das ist ja schön, dass ihr wieder da seid...«, versuchte er den beiden Hunden seine Freude mitzuteilen, erwartete aber nicht, dass sie ihn verstanden. Erstaunlicherweise erhoben sie sich aber und begrüßten ihren Kampfgefährten auf ihre Art. Rona sprang übermütig an ihm hoch und wedelte mit ihrer Rute, als wollte sie die Umgebung von allem Lästigen frei fegen.
Reno begnügte sich damit, Sebastians Hände abzulecken und freudig winselnd um ihn herum zu trippeln. Sebastian kraulte beiden zur Begrüßung das Fell. Dann stürmten sie zu Antarona vor und wiederholten das Ritual.
Basti gewann den Eindruck, als hätten die Hunde zu ihr noch einen viel intensiveren Bezug. Wahrscheinlich lag es an der Tatsache, dass seine Frau ihre Gedanken mit den Empfindungen der Tiere austauschen konnte.
»Antarona, kannst du die beiden nicht als Vorhut vorausschicken?« Seine Frage ließ Sebastian wie eine verpflichtende Bitte klingen.
»Warum sagt ihr es ihnen nicht selbst, Ba - shtie...«, schlug sie ihm vor, »...sie werden euch ebenso verstehen, wie Sonnenherz!« Basti blickte zweifelnd zu ihr hinüber.
»Aber wie soll ich ihnen denn das sagen.., sie verstehen doch nicht die Worte...« Antarona unterbrach seinen Satz und rief ihm geduldig in Erinnerung:
»Ba - shtie.., habt ihr es schon vergessen? Sie spüren, was in eurem Sinn und eurem Herzen ist! Denkt das, was ihr ihnen sagen wollt nicht mit Worten, sondern so, wie ihr es seht, dann werden sie euch verstehen!«
»Nun, wenn ihr schon mal da seid...«, sprach er umständlich zu Reno und Rona, »...dann...« Nein! Wie lächerlich war denn das? Er versuchte allen Ernstes zwei Hunden zu erklären, was er von ihnen erwartete! Sie waren doch keine Kinder, oder Angestellten, denen man eine Aufgabe geben konnte!
»Was zögert ihr, Ba - shtie...?« mischte sich Antarona wieder ein, »...habt ihr Angst vor euren eigenen Worten und Sinnen? Wir haben nicht den ganzen Sonnenlauf Zeit.., nun macht schon.., versucht es! Rona und Reno verstehen euch, glaubt mir!«
Nicht ganz von der Sache überzeugt, und schon gar nicht gewusst wie, versuchte er es. Was hatte er schon zu verlieren? Sebastian stellte sich ihren Weg durch den Wald, die Hänge hinauf, bis zu den ausgedehnten Wiesen unter den weißen Gipfeln bildlich vor. Dazu machte er eine Handbewegung vorwärts und sagte:
»Na los, ihr beiden Helden.., trabt mal voraus und stellt fest, was uns da oben so alles erwartet!« Selten kam ihm sein Verhalten so grotesk und albern vor und obwohl sie niemand beobachtete, hatte Sebastian das Gefühl, sich für sein kindisches Verhalten schämen zu müssen.
Doch wie auf wundersame Weise setzten sich die beiden Hunde tatsächlich in Bewegung. Wie ganz selbstverständlich trotteten sie an Antarona vorbei und verschwanden ohne Hetze voraus im dichten Bewuchs des Wäldchens.
»Die tun das wirklich...«, sagte Sebastian fassungslos. »Sie laufen voraus und vermutlich warten sie irgendwo auf uns, wenn Gefahr droht, was?« Er sah seine Frau an, als brauchte er noch eine zusätzliche Bestätigung für seine plötzliche Erkenntnis. Antarona hob gleichmütig die Schultern.
»Ba - shtie, die meisten Menschenwesen besitzen die Gabe, sich mit den Tieren zu verständigen, doch sie wissen es nicht. Sie sind geblendet von ihrem Sehen, so viel anders zu sein, als die Wesen des Waldes, des Wassers und der Luft. Nicht nur die Menschenwesen der Ival vergessen oft, dass jedes Wesen ein Geschöpf der Götter ist, so, wie auch wir Geschöpfe der Götter sind! Unsere Sinne sind gleich mit denen der Tiere, aber viele müssen erst lernen, sie zu erkennen.«
Was sie ihm damit sagen wollte, konnte Sebastian kaum als Tatsache akzeptieren. Sein Verstandes orientiertes Denken schloss solche Möglichkeit zwar nicht aus, hielt sie aber für sehr weit her geholt. Er brauchte Beweise! Er forderte in allem eine Bestätigung der Vernunft, um Gegebenheiten akzeptieren zu können.
Dagegen musste er sich jedoch eingestehen, dass es, zumindest in Antaronas Welt, Dinge gab, deren Bestätigung er bereits sehr eindrücklich erfahren hatte. Der Gor zum Beispiel war ein Objekt wider Sebastians Vernunft gewesen, dennoch musste er ihn rasch als existent akzeptieren lernen.
Sebastian schauderte es vor dem Gedanken an die vielfältigen Möglichkeiten, die es noch gab, seiner Vernunft einen rüden Dämpfer zu verpassen. Stets war er bemüht auf alles Mögliche im Leben vorbereitet zu sein. In diesem Land lernte er die Grenzen seiner eigenen Voraussicht kennen!
Jedenfalls hatte die Begegnung mit Rona und Reno etwas bewirkt: Durch die Ablenkung spürte Sebastian die Kälte nicht mehr. Und sie kam auch nicht mehr zurück gekrochen. Sie setzten ihren Weg fort und bald wurde es ihm unter seiner Daunenjacke und dem Fell mächtig warm.
Nahe der Stelle, wo sie den Weg des Tales kreuzen mussten, warteten Reno und Rona. Gefahr? Witterten die beiden etwas, das ihrer Aufmerksamkeit bedurfte? Wollten ihnen ihre beiden Späher etwas mitteilen? Die Vorsicht und schlechte Erfahrung ließ in Sebastians Kopf blitzschnell Szenen des Kampfes und des Hinterhalts entstehen.
Doch in diesem Augenblick trollten sich die beiden Hunde gelangweilt auf den Weg, kehrten um, kamen in den Schutz des Wäldchens zurück, um dann erneut auf den Weg zu laufen und jenseits weiter in den hohen Wald hinein. Sebastian interpretierte das Verhalten der Hunde als Mitteilung: Alles In Ordnung mit dem Weg, ihr könnt uns getrost folgen!
»Der Weg ist frei, wir können ungesehen rüber...«, teilte er Antarona mit, die ebenfalls kurz stehen geblieben war. Die strahlte ihn plötzlich an, als hätte er eine Heldentat begangen.
»Ihr lernt schnell, Ba - shtie! Ihr seht, es ist gar nicht schwer.., schärft nur weiter eure Sinne und hört mit eurem Herzen!« ermutigte sie ihn.
Beruhigt überquerten sie den Weg, der wie eine unsichtbare Grenze auf sie wirkte. Auf der anderen Seite verschluckte sie der bereits bekannte Wald, in dem sie mit ihren Begleitern gelagert hatten. Zunächst unmerklich, später immer offensichtlicher, stieg das Gelände an, bis sie sich mühsam den Weg zwischen den Bäumen hindurch bergan kämpfen mussten.
Der Wald wurde dichter, wechselte von Laub- auf Nadelbäume und zog sich bisweilen so steil hinauf, dass sie sich gegenseitig stützen mussten, um nicht mit ihren Lasten das Gleichgewicht zu verlieren. Das Dämmerlicht des frühen Morgens ließ sie an mancher Stelle nicht die Hand vor Augen erkennen. In kürzester Zeit erreichten sie bereits eine enorme Höhe. Bald hier, bald dort bot sich auf einer kleinen Lichtung ein Blick in die Tiefe. Sebastian staunte nicht schlecht. Sie waren mittlerweile höher gestiegen, als er vermutet hatte.
Kurz vor Sonnenaufgang gelangten sie auf ein Plateau, das wie eine riesige Stufe in den schier endlosen Hang eingelagert war. Wie eine Schüssel beherbergte diese Kerbe im Berg ein mächtiges Hochmoor. Der Wald verlor sich in einzelnen Kiefern und Arven, die respektvoll einer gleichen Anzahl von Birken Platz machten.
Kleinere Büsche wechselten mit Heidekraut, das erstaunlicherweise noch in karger Blüte stand. Wollgrasbüschel signalisierten schon von weitem, wo weicher sumpfiger Boden zu erwarten war. Doch überall gab es kleine und große Felsen sowie Steinplatten, über die sie trockenen Fußes vorwärts kamen. Sie wanderten durch eine Welt der Morgendämmerung, die Sebastian urtümlicher nicht empfinden konnte. Es hätte ihn kaum gewundert, wäre auf einem Mal ein Tyranno Rex Saurier vor ihnen aufgetaucht.
In dieser Höhe war die Welt noch intensiver vom Frost überzogen. Das Gras knisterte protestierend unter dem Gewicht ihrer Füße und manchmal brach ein unvorsichtiger Schritt durch das dünne Eis einer überfrorenen Pfütze.
Ein nicht sehr dichter Nebel lag kalt auf dem Boden, der sich als ein geisterhafter, nicht greifbarer Teppich auf dem Plateau ausgebreitet hatte und sich gespenstisch langsam auf und ab bewegte. Wie der Hauch riesiger Tiere, der sich über die Erde gelegt hatte, schob er sich auseinander, wenn sie hindurch gingen und schloss sich hinter ihnen wieder zusammen, als wollte er die einsamen Wanderer in seinen eisigen Klauen ersticken.
Sebastian hatte das Gefühl, aus der wabernden, feuchten Masse heraus von unzähligen Augen angestarrt zu werden. Ihm blieb fast das Herz stehen, als aus dem Gebräu zwei Schatten auftauchten: Rona und Reno. Wie ein Bumerang kehrten sie in regelmäßigen Abständen zu ihnen zurück, um Weg frei zu melden.
Hin und wieder drehte Sebastian sich um und ließ seinen Blick in die Runde schweifen. Einmal blickte er hinter sich, und traute seinen Augen nicht. Dort, weit hinter ihnen, wo sich der Wald wieder als steiler Hang erhob, gab eine Lichtung einige Felsen frei. War es wirklich Gestein, das da aus dem Wald hervorragte? Sebastian musste zweimal hinsehen.
Leuchtend gelb hoben sich die Felsen von dem graugrünen, dunklen Tannenwald ab, als beleuchtete sie jemand von innen mit einem künstlichen Licht. Gold? Der Gedanke an das edle Metall, das in Sebastians Kopf noch immer nichts von seiner Faszination verloren hatte, ließ ihn anhalten. Antarona, die sein Halten bemerkt hatte, erklärte ihm beinahe gleichgültig:
»Die glühenden Felsen der Gore, Ba - shtie.., es sind die übel riechenden Steine, welche Gore ausscheiden.., kommt, lasst uns weiter gehen!« Doch Sebastian rührte sich nicht. Skeptisch und neugierig gleichermaßen starrte er zu den leuchtenden Felsen hinüber.
»Quatsch...«, sprach er mehr zu sich selbst, als zu seiner Gefährtin, »...das ist eindeutig Gold.., das sind Tränen der Götter, mein Engelchen, so wahr, wie ich hier stehe. Komm, lass uns das ansehen!«
»Ba - shtie...«, versuchte sie ihn von seinem Vorhaben abzubringen, »...es ist nicht gut, dort hin zu gehen, dort stinkt es ganz fürchterlich, Sonnenherz war bereits einmal dort! Die Augen bekommen das schmerzende Wasser und die Steine nehmen die Luft fort. Es sind nicht die Tränen der Götter! Es ist etwas Böses, das nicht für die Menschenwesen bestimmt ist.., es ist etwas, das von den Ival gemieden wird. Gore sind oft in der Nähe der glühenden Felsen.«
Sebastian ließ sich nicht beirren. Verständnisvoll belächelte er die Naivität seiner Frau und versuchte sie zu beruhigen.
»Ich werde sehr vorsichtig sein, Antarona, aber ich muss mir das unbedingt angucken! Wenn du dich fürchtest, so verstehe ich das.., dann kannst du ja hier auf mich warten.« Sebastian wusste, dass er sie mit diesen Worten ihre Ehre als Kriegerin traf und genau das hatte er beabsichtigt. Antarona reagierte gereizt und übellaunig.
»Nein, Antarona wird mit euch gehen, um zu sehen, wie ihr euch das Innere aus dem Hals würgt und euren Geist verliert...«, verkündete sie gnatzig, »...sie wird warten, bis euch die stinkenden Steine die Sinne rauben und euch dann in das nächste, kalte Wasser stoßen, damit ihr wieder erwacht!« Verächtlich stellte sie das mit kampflustigen Augen klar und Sebastian wusste, dass es ihr damit ernst war. Er ahnte, dass es nun kein Zurück mehr gab. Ihr Ba - shtie war eigensinnig und ungehorsam, nun sollte er ihrer Ansicht nach auch dafür büßen!
»Los, geht schon...«, stupste sie ihn vorwärts, »...seht sie euch an, die Tränen der Götter, welche keine sind! Sonnenherz will euer Gesicht sehen, wenn ihr vor den glühenden Steinen steht und nach Luft ringt!« Sebastian vermutete, dass sie eher darüber erbost war, dass er ihr nicht glauben wollte, als wegen der Tatsache, dass sie ihre Reise unterbrechen mussten.
Insgeheim amüsierte er sich über ihre Kratzbürstigkeit, tat aber bierernst, um sie nicht noch wütender zu machen. Reno und Rona, etwas verwirrt über den spontanen Richtungswechsel, trabten heran und übernahmen wie ganz selbstverständlich die Spitze. Sie brauchten keine lange Erklärung, um zu wissen, wohin es ging. Sie spürten Sebastians Ziel.
Unverhofft flammte das Gelb der Felsen gleißend auf, dass es Sebastian schwer fiel, an etwas Irdisches zu glauben. Er wandte sich zu Antarona um und wurde augenblicklich geblendet! Hinter seiner Frau erhob sich ein glühender, rotgelber Ball aus dem Nebelmeer des Hochplateaus. Sonnenaufgang!
Das plötzliche Licht ließ die Umgebung flimmern und unwirklich erscheinen. Die gelben Felsen wurden als erstes von der jungen Sonne angestrahlt und Sebastian wurde nun augenfällig, weshalb so ein unnatürlicher Schein von ihnen ausging.
Andächtig beobachteten Antarona und Sebastian, wie die Sonne aus dem Dunst empor glitt, und die Nebel sogleich zu steigen begannen. Die Luft schien in Bewegung zu geraten und eine geheimnisvolle Stimmung lag auf dem Land. Sofort wurde die ganze Gegend von einem Duft von Kräutern, frischem Gras und Erde erfüllt. Erste Insekten begannen ihren Lufttanz dort, wo die weißen Schleier sich lichteten.
Sonnenstrahlen griffen wie transparente Lanzen durch die Lücken im Bodennebel und vollführten einen optischen Reigen zwischen Licht und Schatten. Die letzten verzweifelten Wehen der Nacht entließ die Sonne in fliehenden Wölkchen als Nachgeburt aus dem Schoß der Dämmerung und gebar einen neuen Tag. Mit jeder Faser des Körpers nahmen die beiden einsamen Menschen am Berg die Wärme ihrer Mutter des Tages in sich auf.
Die Welt schien still zu stehen, um die Geburt des neuen Tages zu ehren. Kein Wind regte sich, kein Vogel gab einen Laut und selbst die kleinen Bäche, die überall zu Tal rannen, schienen ihr leises Murmeln und Plätschern anzuhalten.
Doch schon brach ein erstes, mutiges Vöglein die Stille mit einem fröhlichen Gesang, verhalten und zaghaft erst, dann befreiter. Sofort stieg ein jedes Geschöpf, ob klein, oder groß, in das Konzert mit ein und erfüllte den beginnenden Tag mit vielstimmigem Klang. Auch Antarona erwachte wieder aus ihrer ehrfürchtigen, stillen Betrachtung.
»Nun seht ihr es Ba - shtie - laug - nids.., es ist das Licht des Lebens, das euch die Felsen wie die Tränen der Götter erscheinen lassen. Geht nur hin uns seht sie euch an!« Damit schob sie ihn sanft aber bestimmt vorwärts. In der sich überall ausbreitenden Helligkeit sahen die Felsen nun nicht mehr ganz so spektakulär aus. Aber noch interessant genug für einen Sebastian Lauknitz!
Voller Erwartung auf ein neues Geheimnis setzte er seinen Erkundungsgang fort, gefolgt von Antarona und von Reno und Rona eskortiert. Sie waren annähernd eine dreiviertel Stunde unterwegs. Die Felsformation schien schon zum Greifen nahe, als Rona und Reno plötzlich stehen blieben. Sie knurrten nicht, gaben auch sonst keinen Anlass, einen Hinterhalt zu vermuten, sie verharrten einfach mitten im Lauf.
Sebastian schloss zögernd zu den beiden Hunden auf, ohne irgend eine Gefahr zu erkennen. Er gab ihnen ein deutliches Zeichen, sich wieder in Bewegung zu setzen, doch Balmers Hütehunde weigerten sich. Als Basti sie energischer vorwärts scheuchte, gaben sie seiner Aufforderung scheinbar nach, machten aber nur drei bis vier unwillige Schritte, kamen zwei zurück gelaufen und blieben erneut stehen.
»Sie wittern den bösen Geruch der gelben Steine, Ba - shtie«, erklärte Antarona, die langsam heran kam. Sebastian sah sie irritiert an, dann wieder auf die Hunde und schüttelte ungläubig den Kopf.
»Was ihr bloß habt...«, polterte er ungeduldig los, »...ich rieche überhaupt nichts und an den Felsen dort vorn sieht außer der ungewöhnlich gelben Farbe nicht im Mindesten etwas gefährlich aus! Also, was ist.., kommst du nun mit, oder was?« Die Frage war eindeutig an Antarona gerichtet. Rona und Reno, das erkannte jetzt sogar ein Basti Lauknitz, waren nicht mehr vorwärts zu bringen.
»Geht, Glanzauge.., Sonneherz wird euch folgen«, hörte er ihre Stimme in seinem Rücken. Glanzauge? So nannte sie ihn nur selten. Und wenn, dann war meist etwas zu erwarten! Das ließ ihn skeptisch werden. Ihm fiel jedoch nichts Ungewöhnliches auf. Sie gingen weiter und als er einmal zurück blickte, sah er Rona und Reno aufgeregt hin und her laufen, ohne sich jedoch nur einen einzigen, weiteren Meter Sebastians Ziel zu nähern.
Beinahe hatten sie den Waldrand mit der gelben Steinwand erreicht, da kam plötzlich ein leichter Wind auf. Von den Hängen strich er sanft herab und griff in die letzten Fetzen des Bodennebels. Mit ihm wehte ein beißender, stickiger Geruch heran, der Sebastian ruckartig das Gesicht wegdrehen ließ. Mit einem Mal stank es so fürchterlich nach verfaulten Eiern und nach Verwesung, dass er sich die Hände vor den Mund halten musste.
Sebastian drehte sich um und blickte in das triumphierende Gesicht Antaronas, die ihre Nase mit dem Zipfel ihres Fellumhangs zu schützen versuchte.
»Mann, hier hat aber einer nicht zu knapp seinen Darm geleert«, presste Sebastian angewidert hervor. Es sollte witzig klingen, doch der Spaß verging ihm rasch. Ein weiterer Windhauch nahm ihm schlicht den Atem.
»Was, bei den Göttern ist das...«, fragte er Antarona, »...vergammelnde Goreier? Mann, das stinkt ja wie zum Eingang in die Hölle!« Antarona musterte ihn nur tapfer. Sie hatte ihre Genugtuung und mehr interessierte sie nicht. Was es auch sein mochte, sie brauchte und wollte es nicht! Und sie konnte beim besten Willen nicht verstehen, warum Sebastian trotz der ekelhaften Beleidigung einer jeden Nase noch weiter auf die Felsen zu schritt.
Wie töricht musste einer denn sein? Sollte er doch gehen, sie würde ihn gewiss nicht aus dem Atem des Todes befreien, wenn er dort zusammenbrach! Unschlüssig stand sie da und beobachtete, wie ihr Ba – shtie ins vermeintliche Verderben lief. Dem Zorn auf die Dummheit ihres unvernünftigen Gefährten machte sie sich dadurch Luft, indem sie ihr Bündel heftig auf den Boden warf und mit energischen Schritten wider ihrer Überzeugung hinter Sebastian her stampfte.
Sie verfluchte ihre eigene Entscheidung. Mit den Herzen waren sie verbunden.., die Götter hatten es so gewollt und mit dem Segen der Elsiren besiegelt! Nun war sein Weg auch der ihre, selbst wenn sie seine Tat für vollkommen idiotisch hielt!
Schwer durch die Felle atmend und mit einem pelzigen, beißenden Geschmack auf der Zunge standen sie schließlich vor den gelben Felsen, die sich fast senkrecht, wie ein vorspringender Pfeiler den Hang hinauf zogen, rechts und links von Arven gesäumt. Die Wand maß etwa dreißig bis vierzig Meter in der Breite und verjüngte sich nach oben hin.
Weit oben in den Felsen, ohne Ausrüstung schier unerreichbar, klaffte ein breiter Querriss, aus dem ein gelber, giftig aussehender Dampf quoll und sich nur schwer im Wind verflüchtigte. Auch an einigen Seitenrissen drang der gelbe Rauch aus dem Stein, so dass der Eindruck entstand, der ganze Felsen koche brodelnd vor sich hin. Der üble Gestank schien in erster Linie von diesem Qualm auszugehen.
Staunend stellte Sebastian fest, dass die Felswand als solche aus gewöhnlichem Gneis bestand. Jedoch waren die Fluchten, Risse, Platten und Pfeiler mit knallgelben Kristallen besetzt, die jedoch mit Gold nicht das geringste gemein hatten. An vielen Stellen durchzogen pure Flöze von dem gelben Material den grauen Stein. Aus der Ferne, von der Sonne bestrahlt, musste einem Betrachter zwangsläufig suggerieren, eine Wand aus massivem Gold vor sich zu haben.
Sebastian hielt den Atem an, zog sein Bowiemesser und hackte vorsichtig ein paar der Kristalle ab, die er unter Antaronas vorwurfsvollem Blick in seiner Tasche verschwinden ließ. Der beißende Geruch stieg ihnen endlich so stark in die Atemwege, dass ihnen die Augen zu tränen begannen.
Antaronas Blicke sprachen Bände. Feuerlanzen sprühten aus ihren Augen und Sebastian war gut beraten, nun mit ihr den Rückzug anzutreten, wollte er nicht für die nächsten Wochen ein endloses Donnerwetter hören. Während sie ihr Fellbündel aufnahm, musste er heimlich grinsen. Sie kannten sich kaum einen Monat und schon dachte er wie ein eingefleischter Ehemann!
Nachdem sie außer Reichweite des gelben Rauchsteins waren und auch das empfindliche Aroma sie nicht mehr verfolgte, ließ Antarona ihrem Missmut freien Lauf.
Ba - shtie.., was sollte das? Die Götter hätten uns töten können, warum musstet ihr...« Sebastian schnitt ihr genervt das Wort ab:
»Nun hör aber auf, ja? Was ist denn schon groß passiert? Wir haben uns einen qualmenden, stinkenden Stein angesehen.., na und? Ist jetzt etwa irgend etwas anders, als vorher? Ich will es dir sagen! Nein.., es ist nichts gewesen, als die nackte Angst vor dem Unbekannten, das war’s, basta!« Antarona wusste zunächst nicht darauf zu erwidern. Dann zeigte sie auf Sebastians Hosentasche.
»Und was ist mit den Steinen der Dämonen, die ihr dort habt?« wollte sie wissen. Die hatte Basti schon fast vergessen. Er griff in die Tasche und holte die Steine heraus, die inzwischen viel von ihrem Furcht einflößenden Charakter eingebüßt hatten. Sie sahen direkt hübsch aus, die kleinen leuchtend gelben Kristalle in seiner Hand und sogar Antarona konnte sich ihrem Anblick nicht entziehen.
Sebastian begutachtete die Steine argwöhnisch. Vorsichtig schabte er zwei davon aneinander. Es rieb sich ein wenig weißes Pulver ab und es stank augenblicklich penetrant nach faulen Eiern.
Was ist es, Ba - shtie«, interessierte sich plötzlich auch Antarona für die stinkenden Steine, während Reno und Rona den Schwanz einklemmten und jaulend das Weite suchten.
»Na ja, es stinkt wie...« Er überlegte kurz. »...Schwefel!«, entfuhr es ihm in diesem Moment. »Das Zeug ist purer, ordinärer und gediegener Schwefel!« Er schalt sich einen Einfaltspinsel, dass er nicht viel eher darauf gekommen war.
»Was ist Svevel?« fragte Antarona neugierig und fand die Steine plötzlich hochinteressant. Sebastian dachte kurz nach, dann kramte er eine Schachtel Streichhölzer aus seinem Rucksack. Er nahm eines der für Antaronas Verständnis lächerlichen Stöckchen heraus und fuhr damit demonstrativ über die seitliche Reibefläche. Mit dem leichten Geruch der gelben Steine entzündete sich wie von wundersamer Hand ein Flämmchen.
»Das macht man daraus«, dokumentierte er seine Vorführung mit einem verborgenen Lächeln über das verblüffte Gesicht seiner Frau.
»Ihr könnt diese Feuerspäne daraus machen?« fragte sie. Sebastian hob unschlüssig die Schultern. Er hatte keine Ahnung, woraus die Köpfe von Zündhölzern im Einzelnen bestanden. Kannte er die Zusammensetzung, so wäre es mit vielen Versuchen wohl möglich.
»Ich denke eher nein...«, gab er kleinlaut zu, »...man braucht dazu noch andere Dinge, die ich nicht kenne.« Antaronas Blick zeigte Enttäuschung.
»Dann sind die gelben Steine für die Ival von keinem Wert«, stellte sie fest. Damit schien das Thema für sie abgeschlossen. Sebastian überlegte fieberhaft. Ihm kam eine Idee, aberwitzig zwar, aber unter Umständen möglich.
»Das ist so nicht ganz richtig, mein Engelchen...«, kommentierte er geheimnisvoll ihre voreilige Feststellung, »...möglicherweise lässt sich dieses Zeug noch zu etwas anderem gebrauchen, das wir vielleicht noch einmal dringend nötig haben werden.« Sebastian stand nachdenklich da und wog die Schwefelprobe spielerisch in der Hand. Antarona war es inzwischen leid, sich mit Dingen zu beschäftigen, die keinen Nutzen brachten.
»Ba - shtie...«, ermahnte sie ihn betont, »...sprecht, wozu die Steine der Dämonen gut sind, oder werft sie fort! Aber lasst uns nun auf unserem Weg weiter ziehen, oder die Zeit des langen Schnees wird uns einholen!« Sebastian nickte verständig, ließ die Handvoll gelber Körner wieder in seiner Tasche versinken und klopfte von außen noch einmal bedeutsam darauf.
»Wenn es soweit ist, Antarona, dann werde ich dir zeigen, was man damit anstellen kann!« Doch sie hörte das schon gar nicht mehr. Für dieses Mädchen aus den Bergen waren diese Steine nur ein lästiger Ort in der Landschaft. Wenn es für das Volk nicht offensichtlich brauchbar war, verschwendete sie keinen weiteren Gedanken daran.
Während sich Sebastians Überlegungen immer noch um Schwefel, Kohle und Salpeter drehten, zogen sie auf ihrem vorbestimmten Weg voran. Rona und Reno übernahmen wieder die Führung, ausgelassen vor Freude, weil es endlich weiter ging.
Sie wanderten über das oberflächlich öde Hochmoor, das aber für Sebastian seine kleinen Überraschungen bereit hielt. An einer Stelle beobachtete er so etwas, wie eine heiße Quelle. In einem schmuddeligen Tümpel brodelte und dampfte es, gleich einem Hexenkessel.
Antarona versuchte das Phänomen zu ignorieren, wohl, weil sie fürchtete, Sebastian könnte wieder halten und die Sache all zu genau untersuchen. Einer anderen Quelle entstiegen gelbliche Dämpfe. Um diesen Teich herum, war alles pflanzliche Leben gestorben. Das Krähenmädchen umging diesen Ort mit respektvollem Abstand.
Für Sebastian sprachen diese geologischen Merkmale eine ganz eigene Sprache. Irgendwo unter diesen ausgedehnten Gebirgsketten rumorte es gewaltig! Er wusste zu wenig darüber, um sagen zu können, ob irgend wann einmal ein Vulkan für das Volk gefährlich werden konnte, oder ob diese Gasquellen bis in alle Ewigkeit nur friedlich vor sich hin dampfen würden.
Einen Kommentar dazu verkniff er sich. Seine Frau hatte für diesen Tag gewiss genug von seinen Einfällen. Ihrem Verständnis nach hatte alles seinen Ursprung bei den Göttern oder Dämonen. Sie musste nicht darüber nachdenken, solange von einer Sache, oder Situation keine Gefahr ausging.
Ein glückliches Kind, dachte Sebastian bewundernd. Die vielen Dinge, über die sie erst gar nicht nachdachte, schenkten ihr die Zeit, wirklich zu leben. Sein eigenes, bisheriges Dasein stellte er immer mehr in Frage. An so Vieles musste er alltäglich denken, dass ihm oft die Zeit zum Leben fehlte. Die Gesellschaft, in der er aufgewachsen war, gab vor, daran zu denken, seinen Ausweis zu verlängern, ständig sein Bankkonto zu prüfen, pünktlich die Miete zu überweisen, oder auch nur die Hauswoche in seinem Mietshaus zu verrichten.
Die Sicherheit und Bequemlichkeit, die er so geschätzt hatte, bezahlte er mit der Zeit seines Lebens! Mit Zeit, die er im Grunde für Freunde nutzen konnte, für Abenteuer, eben für die Freude am Dasein! Antarona schien in ihrer Welt viel unbeschwerter durchs Leben zu gehen.
Mal abgesehen von der Unterdrückung Torbuks. Und mal abgesehen von der ständigen Gegenwart des Todes. Ach ja.., da war noch die hierzulande ziemlich beschwerliche Beschaffung von Nahrungsmitteln. War das Überleben in dieser Welt doch nicht so viel einfacher, wie e glaubte?
Objektiv betrachtet, musste sich Basti eingestehen, dass in diesen Tälern letztlich nur andere, aber nicht minder viele Mühen zum Leben erforderlich waren. Dennoch hatte er das Gefühl, an seiner unkomplizierten Frau eine beneidenswerte Beschwingtheit dem Alltag gegenüber zu erkennen. Sie bemühte sich lediglich um das Wesentliche! Nicht um das, was vielleicht einmal sein mochte.
Um die Mittagsstunde lag das Plateau hinter ihnen. Sie hatten sich erneut den Bergwald hinauf gekämpft, bis dieser immer lichter wurde und ausgedehnten Wiesen unter imposanten Gipfeln das Terrain überließ. Die Sonne hatte sich den Himmel erobert und sie genossen die behagliche Wärme während einer Pause zwischen aufgeheizten Felsblöcken.
Trotzdem entging ihm nicht, dass der Leben spendende Fixstern dieser Welt nicht mehr die Kraft besaß, als zu der Zeit, in der Sebastian Gast bei Högi Balmer war. Eine kältere Periode, Antaronas Zeit des langen Schnees, kündigte sich an. Mit einfachen Worten: Es wurde Winter! Sebastian kannte die Winter dieses Landes nicht, doch wenn sie so intensiv waren, wie die Sommer oder die Gewitterregen, die er hatte niedergehen sehen, dann stand ihm noch so Einiges bevor!
Bis in den Abend hinein latschen sie Stunde um Stunde über wenig geneigte Hangwiesen, die von den Ausmaßen her an die Argentinische Pampa, oder die Russische Taiga erinnerten. Stets im Blick die Weite und Tiefe des Tals, das sie am Morgen noch in nächtlicher Umklammerung hielt. Wieder rief sich Sebastian die Ausdehnung Antaronas Welt und ihre eigene Verlorenheit darin ins Bewusstsein. Sie wanderten ununterbrochen, doch augenscheinlich kamen sie kaum voran.
Die Nacht verbrachten sie mit einer Felsgruppe im Rücken, so dass sie vor dem Wind halbwegs geschützt waren. Ein kleines Feuer musste genügen um Antaronas teeartiges Gebräu zu kochen. Altes, trockenes Fladenbrot und gesalzenes, knüppelhartes Fleisch bildeten die karge Mahlzeit. Sebastian stellte sich vor, dass er als abgemagertes Knochengerüst vor den König treten musste, wenn das so weiter ging.
Der nächste Tag brachte zwar keinen Frost mehr, dafür Wolken verhangenen Himmel und zeitweise Sprühregen mit heftigem Wind auf den Gratrücken. Das Bild ihres Weges änderte sich indes nicht. Stets blickten sie in die gleiche dunstige Leere, die sich hinter den Wäldern ausdehnte, die graugrün in das Tal abfielen und sahen immer die gleichen Gipfel, die nur Millimeter weit aus ihrem Blickfeld wanderten.
Voraus tauchten immer neue Hänge, Hügel, Felsgrate und Lawinenreste aus dem mal mehr mal weniger starken Nebel auf. Eine Wanderung ohne optisches Ziel. Am Abend war alles wie am Morgen: Wiesen, Felsen, ab und zu mal ein Baum, der sich viel zu nahe an den Gletschern angesiedelt hatte und nur von kleinem Wuchs war. Ein knurrender Magen begleitete Sebastian in den Schlaf, ließ ihn unruhig träumen und weckte ihn am Morgen wieder.
Fahler Himmel, eine schwache Sonne hinter Dunststreifen, Kälte. Tag drei! Wandern.., Meter um Meter, Reno und Rona immer voraus. Seine Gedanken schweifen zu lassen, war Sebastian während des monotonen Marschs jedoch von Anfang an nicht vergönnt. Antarona hatte es sich zur heimlichen Aufgabe gemacht, ihren Mann von den Göttern auf Falméra und den Herrscher von Volossoda vorzubereiten. In der Praxis sah das so aus, dass sie ihm ohne Vorwarnung, selbst im heftigsten Regen zurief:
»Dort vorn, Ba - shtie.., den kleinen Baum ohne Leben.., versucht ihn mit dem Pfeil zu treffen! Ihr müsst schnell sein, stellt euch vor, es ist ein Reiter Torbuks. Seid ihr nicht schneller, als er, so seid ihr im Reich der Toten!« Sebastian riss sich dann jeweils den Bogen vom Leib, spannte ihn gehetzt und versuchte sich einen Pfeil aus seinem Köcher zu angeln, was ihm selten gelang, weil dieses elende Ding immer zur Seite weg rutschte und sich seinem Zugriff entzog.
Anfangs beschränkte sich seine Frau darauf, ihm seinen soeben ereilten Tot verbal mitzuteilen. Nach dem fünften Versuch jedoch spürte er Steinchen auf sein Haupt prasseln, für jeden gegnerischen Pfeil einen. Sebastian gab sich mehr Mühe, denn die Steine wurden mit jedem Mal größer und schwerer.
Am ersten Tag ihrer Wanderung schaffte er es unter verzweifelter Anstrengung und mit verbissener Beharrlichkeit, den Bogen in fünfzehn Sekunden aus dem Stegreif schussbereit zu haben. Der Pfeil verfehlte sein Ziel natürlich um Längen.
Zu Mittag am nächsten Tag hatte er bereits einen fiktiven Feind mit viel Glück und freundlich gesinntem Wind ins Jenseits befördert. Der kleine Erfolg spornte Sebastian zu weiteren freiwilligen Übungen an und allmählich wurden seine Bewegungen mit Pfeil und Bogen zur Routine. Stolz präsentierte er Antarona seine Künste und ließ dabei kaum noch eine Wurzel, oder einen Baum aus.
Doch die selbst erklärte Kriegerin der Ival gab sich mit seinen Erfolgen noch lange nicht zufrieden. Sie unterwies ihn in ihren eigenen Varianten des Schwertkampfes, ja sie fochten sogar während jeden Kilometers ihres weiten Weges einen Zweikampf aus, bei dem sich Sebastian regelmäßig am Boden liegend wieder fand, mit Antaronas Schwertspitze an seiner Kehle.
»Greift an, Ba - shtie.., ihr müsst den ganzen Kampf in einer einzigen Bewegung führen. Ihr dürft nie zögern und versucht niemals euren Gegner zu schonen...«, belehrte sie ihn immer wieder, »...ihr müsst töten wollen, sonst seid ihr rasch geschlagen!«
»Halt, Antarona...«, beendete Sebastian einmal die Waffenübung, »...wenn ich so beherzt auf dich einschlage, wie du dir das vorstellst, dann gelingt es mir vielleicht einmal... Und was dann? Ich kann dich nicht verletzen, verstehst du das? Ich habe Angst davor, dir weh zu tun, oder dir Wunden zuzufügen. Es geht nicht..., so jedenfalls nicht! Ich werde dich niemals verletzen, ob mit Pfeil, oder Schwert, ich werde dich nie treffen können.«
Antarona hängte sich Nantakis über den Rücken und legte ihre Hände liebevoll auf Sebastians Arm, der immer noch das Kurzschwert hielt. Ihre sanfte Stimme bezauberte einen verdutzten Sebastian.
»Ba - shtie.., ihr habt bereits getroffen! Ohne eure Waffe, nur mit euren Worten habt ihr das Herz Antaronas getroffen und mit der Wärme eures Herzens berührt!«
Dann wurde sie wieder zu der kühlen, berechnenden Kämpferin, zu der sie sich selbst erzogen hatte. Sie blickte sich kurz um, erspähte einen Strauch und schnitt zwei lange, nicht unbedingt gerade Zweige heraus.
»Los, Ba - shtie.., mit diesem Schwert könnt ihr nur mit euren Sinnen töten!« Damit setzte sie die aufreibende Lehrstunde unbarmherzig fort.
Keineswegs aber war es nur Kampftechnik, was seine Frau ihm zu vermitteln versuchte. Abends, am kargen Feuer, eingehüllt in ihre Felle, die Sebastian immer mehr zu schätzen wusste, brachte sie ihm die Sitten und Gebräuche der Ival und der Oranuti näher. Sie lehrte ihn die Worte des Volkes, die Geschichte der Götter und Dämonen, den Wortlaut der großen Prophezeihung und der Tafeln von Talris. Sie stellte ihm Fragen, berichtigte ihn und traktierte seinen Geist so lange mit der Kultur ihrer Welt, bis er im Schlaf begann, den Talrind, die Gebote und Weisheiten der Götterwesen, aufzusagen.
Das Land indes veränderte kaum sein Gesicht. Nahezu eine Woche war vergangen und sie waren immer noch auf den Höhen unterwegs. Oft brauchten sie einen ganzen Tag, um den Einschnitt eines Seitentals zu überwinden und wieder auf die hohen Wiesen zu gelangen. Zuweilen glaubte Sebastian, sie wählte ihren Weg so, dass er sich absichtlich in die Länge zog, damit sie Gelegenheit hatte, ihn auf die Anforderungen vorzubereiten, die unweigerlich einmal an einen Areos von Falméra gestellt wurden.
Am siebenten Tag ihrer Wanderung über das Vordach Volossodas kündigte sich der Winter mit ersten Vorboten an. Wie schon so oft in den letzten Tagen hatten sie auf einem relativ steinarmen Grasstück gehalten, sich ihrer Schuhe und fast all ihrer Kleidung entledigt und fochten mit den Zweigen. Antarona versuchte Sebastian beizubringen, wie wichtig Wendigkeit und Schnelligkeit im Kampf mit Torbuks Truppen waren.
Wie ein Blatt im Sturm wirbelte sie nur mit einem winzigen Stückchen Leder bekleidet umher, integrierte die Führung ihres Schwertes in ihre fließenden, schnellen Bewegungen, die komplizierten Tanzschritten glichen, so dass Sebastian die Waffe nur ab und an aufblitzen sah, bis ihre Spitze urplötzlich völlig unerwartet an seinem Kinn ruhte.
»Tragt im Kampf so wenig Kleidung, wie möglich, Ba - shtie...«, schärfte sie ihm ein, »...so seid ihr leicht und schnell, wie ein Vogel im Wind! Ihr werdet so schnell sein, die Augen eurer Feinde werden euch nicht folgen können. Torbuks Reiter tragen einen schweren Schutz aus dem Metall der Berge. Es ist schwer, ihre Metallhaut zu verletzen. Aber es macht sie sehr langsam.., zu langsam! Ein scharfes Schwert in einer schnellen, sicheren Hand findet sein Ziel, wenn der Feind lahm ist, wie eine trächtige Kuh!«
Sebastian musste Antaronas einfache, aber effiziente Logik bewundern. Diese Kriegerin, die anscheinend oft mit sich allein und den Tieren durch die Wälder streifte, hatte sich eine Kampftechnik angeeignet, die zu ihrer grazilen Gestalt passte. Mit einem langen Schwert und einer Rüstung würde sie sich bewegen, wie ein Schildkröte.
Sie besaß die Gabe zu beobachten. Und wahrscheinlich tat sie genau das! Sie studierte die Bewegungen von Vögeln, Elsiren und Fischen. Sie ahmte sie nach und trainierte sich eine Gelenkigkeit und Technik an, bei der sie schützende Kleidung, oder gar eine Rüstung nur behindern musste.
Sie verblüffte ihre Gegner mit ihrer aufreizenden Äußerlichkeit und Schnelligkeit, nutzte ihr Zögern und verwirrte sie, indem sie überall und nirgends zu sein schien. Für ihren irritierten Feind, der sie nur als huschenden Schatten wahrnehmen konnte, war sie ein nicht greifbares, kaum auszumachendes Ziel. Bevor ein Gegenüber ihre Taktik auch nur annähernd durchschaute, steckte Nantakis bereits in seinem Hals.
»Dreht euch schnell um euch selbst, haltet das Schwert aber lange still.., etwa so...«, führte sie ihm in einer blitzschnellen Drehung mit nackten Füßen auf hartem Boden vor, die Sebastian allenfalls einmal beim Eiskunstlauf als Pirouette gesehen hatte.
»Nun zieht die Klinge schnell mit in die Bewegung hinein.., seht ihr.., immer im Wechsel, so weiß euer Feind nicht, wo ihr seid und wo euer Schwert...« Rona und Reno, die bis dahin gelangweilt herumgelungert hatten, unterbrachen ihre anschauliche Unterweisung.
Stocksteif standen die beiden Hunde unerwartet neben ihnen und spähten über das Tal hinweg nach Norden. Drohend knurrten sie den Himmel an und Sebastian war schon geneigt zu glauben, sie würden durch die Akrobatik Antaronas langsam aber sicher verrückt geworden.
Doch dann drang etwas an sein Ohr, das er noch nie im Leben gehört hatte. Inzwischen hatte Antarona ihr Kunststück mit Nantakis aufgegeben und lauschte ebenfalls in die Runde. Schnell hatte sie erfasst, was da auf sie zu kam, denn sie war ein Kind dieser Täler und alle möglichen Gegebenheiten waren ihr scheinbar vertraut.
»Die Gore ziehen in das Land der wandernden Sonne...«, war ihre nüchterne Diagnose, »...die Zeit des langen Schnees beginnt! Wir sollten nicht ohne Deckung hier herum stehen, Ba - shtie.« Schon begann sie ihre Habseligkeiten einzusammeln, die sie während ihrer Kampfdemonstration auf dem Boden abgelegt hatte. Sie hatte eine kleine Gruppe Krüppelkiefern ausgemacht, die in einiger Entfernung nahe eines großen Felsens standen und wandte sich dorthin.
»Nun macht schon Ba - shtie...«, forderte sie ihren Fechtschüler auf, als er nicht sofort reagierte, »...sie sind gleich hier!« Sebastian konnte beim besten Willen nichts erkennen, so angestrengt er auch in die Richtung sah, aus der das stärker werdende Geräusch kam. Es war ein durchdringendes Rauschen, begleitet von einem anderen Ton, der Sebastian an die Schreie einer Massenpanik erinnerte.
»Ba - shtie.., wollt ihr nun kommen, oder darauf warten, dass euch die Gore als Reiseproviant mitnehmen?« Antarona wurde zusehends ungeduldiger.
»Gore greifen keine Menschenwesen an, das hast du doch selbst gesagt, oder nicht?« erinnerte Basti seine Frau. Dennoch setzte er sich in Bewegung. Wozu etwas provozieren, das nicht unbedingt nötig war?
»Nein...«, bestätigte Antarona überzeugt, »...es ist nicht der Götter Wille, dass Gore das Volk anzugreifen.«
»Ach, na sieh mal einer an...«, rief Sebastian ironisch hinter ihr her, »...und wenn sich deine Götter mal geirrt haben, dann tun sie es doch, was? So, wie mit den Robrums, die angeblich ebenfalls die Menschenwesen in Frieden lassen.., nach der maßgeblichen Meinung deiner Götter...«
Auf der Stelle stoppte Antarona mitten im Lauf, warf zornig alles bis auf Nantakis auf den Boden und kam ihm mit Funken sprühenden Augen entgegen. Sebastian wusste sofort, dass er seinen Sarkasmus einmal mehr übertrieben hatte. Nun war es zu spät, noch einzulenken, das sagte ihm seine Erfahrung mit den glühenden Augen seiner Gefährtin.
Die stieß ihn mit den Händen wiederholt vor die Brust, so dass er Schritt für Schritt zurück weichen musste und beinahe auf den Rücken purzelte.
»Jetzt hört einmal zu, Ba - shtie - laug - nids, Areos aus dem Reich der Toten.., ihr mögt eurer eigenen Götter spotten und sie mögen es euch geduldig vergeben... Aber wagt es nicht, meinem Herzen zu spotten, das die Liebe der Götter genauso in sich trägt, wie die zu seinem Volk und.., ebenso die Liebe zu euch!«
Der letzte Satzteil kam zu Bastis Erstaunen fast flehend aus ihrem Mund. Sie legte den Kopf schief und blickte ihn mit großen, bettelnden Augen an. Die Flammenspeere, die sie eben noch in der Iris trug, waren verloschen.
»Ba - shtie...«, fuhr sie beschwörend fort, »...ihr mögt im Reich der Toten und auf dem Sitz der Götter vieles gesehen haben, das den Ival bislang unbekannt ist.., doch hütet euch davor, dem Volk das einzige zu nehmen, wofür es bereit ist, gegen das Böse und für die Freiheit zu kämpfen. Nehmt ihnen und eurem En - gel - sen nicht das, woran ihr Herz glaubt!«
Sebastian sah betreten zu Boden. So sehr hatte ihn seine Frau noch nie beschämt! Antarona fesselte seine Augen eindringlich mit ihrem intensiven Blick und sagte dann, wie um ihre Forderung auf ewig zu besiegeln:
»Und nun bewegt euch gefälligst, sonst werdet ihr den Zorn der Götter zu spüren bekommen!« Ohne zu zögern hasteten sie auf die Unterschlupf versprechenden Büsche zu. Inzwischen war das Rauschen in der Luft zu einem infernalischen Dröhnen angewachsen und bei genauem Hinsehen konnte Sebastian unzählige Punkte entdecken, die sich allmählich vergrößerten und den gesamten Luftraum einzunehmen drohten. Nun empfand auch er die Situation als ernst genug.
Aus der Deckung heraus beobachteten sie den riesigen Schwarm Gore, der sich immer mehr massierte und geradezu bedrohliche Ausmaße annahm. Sebastian schätzte die Zahl der Tiere auf etwa achthundert bis tausend, wobei eine Beurteilung ihrer Anzahl aus dieser Perspektive kaum möglich war.
Der Anblick dieser gewaltigen, sich nähernden Armada von Flugsauriern verschlug Sebastian die Stimme:
»Grund Gütiger.., so eine Menge.., wie viele gibt es denn von denen?« flüsterte er voller Angst. Er malte sich bildlich das Szenario aus, sollte es diesen Viechern einmal in den Sinn kommen, trotz aller göttlichen Vorsehung über die Menschenwesen her zu fallen.
Sebastian erinnerte sich an historische Filmausschnitte, in denen alliierte Bomber im zweiten Weltkrieg zu hunderten die deutschen Städte überflogen. Nun bekam er auf sehr unsanfte, nachdrückliche Weise aufgezeigt, wie die Bevölkerung seinerzeit empfunden haben musste. Eine so massive Bedrohung aus der Luft, der man nicht wirklich ernsthaft entfliehen konnte, schlug traumatisch aufs Gemüt und hinterließ Spuren!
Die Spuren, die das Schauspiel an diesem Tag in Sebastian hinterließ, war eine neue Ehrfurcht. In seinem Bewusstsein entstand ganz plötzlich ein tiefer Respekt gegenüber allem, was er in den letzten Wochen erfahren und kennen gelernt hatte. Die Fassade der Arroganz einer scheinbaren technischen Überlegenheit seiner Welt gegenüber der Natur, und auch gegenüber der einfachen Lebensweise in Antaronas Welt, begann gewaltig zu bröckeln.
Mehr und mehr verdunkelte sich der Himmel unter den ausgebreiteten Schwingen der Gore. Der sie mittlerweile überfliegende Schwarm nahm kein Ende und besaß eine Größe, die Sebastian nicht im Traum vermutet hätte. Immer neue Tiere tauchten am Horizont auf, als wären sie aus der Hölle selbst empor gestiegen. Kaum, dass er zu atmen wagte, so steckte ihm die Furcht vor diesen Kreaturen in den Knochen.
Die großen Echsen, oder was auch immer sie waren, schlugen kaum mit den Flügeln. Ihre Flughäute, die sehr denen der Fledermäuse ähnelten, hoben und senkten sich nur träge. Offenbar nutzten die Tiere die geringe Thermik, welche von den riesigen Berghängen abgestrahlt wurde. Mehr glitten die Gore durch die Luft, als dass sie sich mit Flügelbewegungen vorwärts bewegten.
Das gewaltige Rauschen, das der Flug der Tiere verursachte, wurde begleitet von einem vielstimmigen Kreischen. Diese intensiven Laute, wahrscheinlich als Verständigung untereinander ausgestoßen, schmerzten in Sebastians Gehör. Doch er wagte nicht, sich die Ohren zuzuhalten, aus Angst, diese Monster könnten seine Bewegung sehen.
Genau so schnell, wie das Schauspiel der Natur einer neuen Welt begann, endete es wieder. Ziemlich unspektakulär verschwanden die nach Süden ziehenden Gore hinter den weißen Flanken und Gipfeln der über den Wiesen aufwuchtenden Bergkette. Ein paar vereinzelte Tiere, wohl nicht ganz so ausdauernd und kräftig, wie ihre Verwandten, segelten hinter dem Pulk her. Dann gewann die Stille wieder Raum.
Mit zitternden Knien stand Sebastian aus der Deckung auf und seine Augen suchten den Himmel ab. Doch der Spuk war vorüber! Ungläubig sah er zu den eisigen Firnen hinauf, hinter denen die Gore seinem Blick entschwunden waren.
»Sag mal, ziehen alle Gore vor dem nahenden Schnee in das Land der wandernden Sonne?« wollte er von Antarona wissen. Die tat, als hätte sich soeben etwas völlig alltägliches abgespielt und gab wie beiläufig zurück:
»Ja alle, Ba - shtie... Nur die alten, oder verletzten Tiere, die keine langen Stecken mehr fliegen können, bleiben in den Wäldern zurück. Einige überleben in Schlupflöchern und Höhlen. Die Meisten von ihnen erfrieren im kalten Wind, verhungern, oder geraten in den von den hohen Bergen in die Täler eilenden Schnee.« Sebastian nickte, dass er verstanden hatte, hakte aber noch nach:
»Ziehen sie denn allesamt zur gleichen Zeit über die Berge zu den Oranuti, oder kommen da irgendwann noch welche?«
»Das waren alle Gore aus unseren Wäldern Val Mentiérs und den Gefilden Zarollons, die ihr soeben gesehen habt...«, verkündete sie mit einer melancholischen Trauer in der Stimme, »...sie werden immer weniger, Ba - shtie. In jeder Zeit nach der Ernte ist die Zahl jener, die nach dem Land der wandernden Sonne ziehen, kleiner. Das macht die Ival traurig, denn sie sind die Geschöpfe der Götter und sie gehören in dieses Land, wie die Robrums und Elsiren.«
Antarona unterbrach sich kurz, um nachzudenken und fuhr dann erklärend fort:
»Die Gore ziehen nicht zu den Oranuti, Ba - shtie. Nur selten rasten sie dort, im Land unserer verbrüderten Nachbarn. Wenn sie es tun, ist es ein großes Übel für die Oranuti, denn sie reißen das Vieh und verschmutzen mit ihrem Kot die wenigen Quellen und Wasserlöcher.«
»Also, die Ival wissen nicht, wohin sich die Gore letztendlich wenden, ja?« Sebastian bemühte sich, seine Frage nicht auch nur annähernd vorwurfsvoll klingen zu lassen.
»Sie werden zu den Göttern gerufen...«, kam ihre prompte Antwort. »Sie empfangen dort den Schein für ein neues Leben unter der Sonne Talris und kehren mit erneuerter Kraft in die Wälder der Ival zurück. Sie fliegen zum Sitz der Götter, Ba - shtie!« Natürlich. Die Götter! Sebastian hätte es wissen müssen.
»Aber warum sie weniger werden, Antarona, das weißt du nicht, oder?« bohrte Basti weiter, auch auf die Gefahr hin, dass seine Geliebte irgendwann die Geduld verlor.
»Nein, Ba - shtie, das Volk und die Alten und Wissenden der Ival und der Oranuti zusammen, haben keine Antwort dafür. Es ist der Wille der Götter.« Sebastian beließ es dabei. Er musste einsehen, dass er auf diese Weise nicht weiter kam. Antarona machte sich nicht die Mühe, über solche Fragen nachzudenken. Alles für sie nicht interpretierbare, nicht begreifbare, erklärte sie einfach mit dem Willen ihrer Götter!

Die Willkür der Götter brachte Schnee. Am 15. Tag ihrer Reise über die Berge des Val Mentiér hielt in Antaronas Welt der Winter Einzug. Mit feinem Schneetreiben und Frost kam er über Nacht. Sie hatten in den Resten einer alten Hütte geschlafen, die vermutlich irgendwann einmal zur Jagd und zum Schutz vor Eishunden erbaut wurde. Als Sebastian unter Antaronas Fellen hervor kroch und durch die Öffnung spähte, aus der die Tür längst heraus gefallen war, blickte er in eine weiße, trübe Landschaft.
Inzwischen hatten sie beinahe die gesamte Länge der Bergkette durchmessen. Sie hatten einen mächtigen Felsriegel passiert, der den Talboden unter ihnen abschloss. Dahinter schien sich das Tal zu weiten, steile Hänge wechselten in hohe, bewaldete Hügel und weite Wiesenflächen, in denen sich der Dunst sammelte. Die hohen, eisbedeckten Gipfel rückten in den Hintergrund, doch sie waren stets präsent.
Sebastian beherrschte mittlerweile einige wichtige Vokabeln aus der Sprache des Volkes. Er lernte schnell, denn die Ausdrucksweise der Ival war wenig komplex. Viele Worte wurden für die Bedeutung gleicher Dinge benutzt. Das Volk bediente sich einer Bezeichnung und wies gleichzeitig auf den entsprechenden Gegenstand. War die Sache, um die es ging nicht gegenwärtig, so wurde sie zum Wortlaut mit Händen, Füßen und Gesicht gestenreich beschrieben.
»Tah - whu.., der Baum...«, lehrte ihn Antarona das Wort für einen mächtigen, einzeln stehenden Laubbaum, den sie auf ihrem Weg sahen. Dazu beschrieb sie mit ihren Händen etwas großes und betonte kräftig die Silben. Gleichzeitig war es aber auch das Wort für Gebüsch, Strauch, oder Unterholz. Dabei schwächte sie die Betonung deutlich ab und zeigte mit den Fingern etwas filigranes, Ausgedehntes. Zusätzlich beschrieben eigene Worte für groß, klein, dick, oder dünn die Sache.
Sie drängte ihn ständig zum Lernen. Jede Situation musste er für sie dokumentieren. Kam ein Vogel vorüber geflogen, sah sie ihn nur fragend an.
» Khe - trie...«, antwortete Sebastian folgsam und zeigte mit seinen beiden Händen etwas großes, schweres für einen Wafan, oder flatterte mit einer Hand für einen Singvogel. Gleichzeitig lernte er die gebräuchlichsten Worte für Tätigkeiten, Bewegungen und Eigenschaften.
Re - no Hah - ton Lahna, Reno Hund laufen, so lernte Sebastian die wörtliche Übersetzung. Wohin Reno lief, wurde in einem zusätzlichen Satz beschrieben, wie Te Na Tah - whu, was so viel bedeutete, wie hin zu Baum. Ziemlich einfach, wie Sebastian auffiel. Aber effektiv! Die Laute aber klangen nicht sehr melodisch, sondern ziemlich gebrochen und guttural. Diese Sprache bedurfte noch einiger Gewöhnung!
Abends, in Sebastians Tagebuch, oder auch unterwegs, wenn die Gelegenheit so etwas wie einen Sandfleck bot, malte ihm Antarona die Zeichen der Ival zu den einzelnen, während des Tages behandelten Begriffen auf. Dabei ging sie mit einem Stöckchen ebenso geschickt um, wie mit Sebastians Kugelschreiber.
Das moderne Schreibgerät aus der Welt der Götter bewunderte sie zwar, doch verfiel sie darüber nicht so in Verzückung, wie beispielsweise über Sebastians Kletterseil aus Nylon, das bei Frost seine Elastizität behielt. Schreibgeräte waren dem Volk nichts Unbekanntes. Bei den Ival benutzte man angekaute, harte Zweige, oder die Federkiele des Wafan. Auch Kohle, Kreide, oder so etwas, wie Graphit fand Verwendung. Als Tinte diente meist ein Gemisch aus Kohle, irgend welchen Pflanzensäften, oder Blut und Wasser.
Auch in der Kunst, das Schwert zu führen, machte Sebastian erstaunlich Fortschritte. Die karge Kost, sofern es überhaupt etwas zum Sattwerden gab, ließ ihn ohne Mühe sein angefuttertes Zivilisationsgewicht abspecken. Übrig blieben Muskeln und Sehnen, die sich schnell zu bewegen lernten.
In nur ein paar Tagen eignete sich der Stuckateur aus Norddeutschland eine Akrobatik mit dem Schwert an, mit welcher er in seiner Welt fraglos in einem Zirkus auftreten konnte, ohne ausgebuht zu werden. Selbst während des Marsches, mit ihrem Gepäck beladen, fochten Antarona und er kleine Kämpfe aus, oftmals ohne Halt zu machen.
Das Schießen mit Pfeil und Bogen hingegen brauchte etwas mehr an Geduld. Doch auch hier hatte sich Antarona vorgenommen, ihren Ba - shtie zur Perfektion zu treiben. Ständig wies sie ihn an irgend ein Ziel, das auf ihrem Weg voraus auftauchte, zu treffen. Sehne aufziehen, Pfeil anlegen, Bogenspannen, alles sollte ein einziger, blitzschneller und fließender Ablauf sein, wie der unsichtbare Schatten einer fliehenden Antilope in der Dämmerung.
Bei Sebastian bekam die Bezeichnung müdes Flusspferd eher Relevanz. Entweder fand die Schlaufe der Sehne nicht sofort die Kerbe am Bogenende, oder ein Pfeil hatte sich im Köcher verhakt, oder das Spannen des Bogens vollzog sich in zu großer Hast und das zu früh los gelassene Geschoss wirbelte meterweit an seinem Ziel vorbei.
Sebastian Lauknitz schien nicht für den Gebrauch dieser Waffe geboren zu sein. Dennoch zwang ihn seine Frau zu ständigen Übungen. Sie hatte ebenso, wie Basti selbst erkannt, wie wichtig Distanzwaffen im Kampf gegen Torbuks Soldaten waren. Viele davon eingesetzt, konnten den Gegner massiv schwächen, bis es zur direkten Konfrontation Mann gegen Mann kam.
Einmal, es war am elften, oder zwölften Tag ihrer Höhenwanderung, war der Vorrat an Trockenfleisch beinahe zu Ende. Sebastian kaute an einem restlichen Stück herum, das so hart war, wie ein Span Eichenholz. Es bedurfte weit mehr Speichel, das Fleisch im Mund aufzuweichen, als er trinken konnte.
Den an seine Gefährtin gerichteten Hinweis, dass ihr Proviant zur Neige gegangen war, quittierte diese nur mit offen gespieltem Bedauern. Sie reichte ihm seinen Bogen in Begleitung bewusst emotionsloser Worte:
»Wenn ihr hungrig seid, Ba - shtie.., so jagt etwas!« Zunächst fühlte er sich wie vor den Kopf geschlagen, denn gewöhnlich sorgte Antarona mit ihren Schießkünsten für frisches Wild.
Doch spätestens, als sie ihm zu verstehen gab, dass sie selbst unendlich lange mit der kargen Pflanzenkost auskommen konnte, welche diese Landschaft bot, war klar, dass es erst dann wieder Frischfleisch geben würde, wenn er, Sebastian Lauknitz gelernt hatte, mit dem Bogen umzugehen. Er hielt das zwar für glatte Erpressung, doch gegen den Dickkopf Antaronas kam er nicht auf.
Es dauerte zwei Tage und sein Magen machte Geräusche, die selbst Eishunde in die Flucht geschlagen hätten. Da kreuzten sie zufällig den Wechsel einer Wildherde. Es waren die Tiere, die Sebastian bereits auf Balmers Alm gesehen hatte. Sie waren stämmig, groß und trugen mächtige, schneckenartig gebogene Hörner auf ihrem Haupt.
Sofort nahm Sebastian seinen Bogen zur Hand und griff nach den Pfeilen. Antarona legte ihm beschwichtigend die Hand auf den Arm.
»Ruhig, Ba - shtie.., wisst ihr noch, was Sonnenherz euch gelehrt hat?« Sie sah ihn fragend an, wartete aber nicht auf seine Antwort.
»Prüft zuerst die Witterung, den Lauf des Windes. Dann beobachtet die Tiere und das Land, durch das sie ziehen!«
Sebastian fiel es wieder ein und er nickte zur Bestätigung. Leise pfiff er Rona und Reno zurück, die bereits Fühlung mit der Herde aufgenommen hatten. Zögernd, fast beleidigt, kamen sie zurück. Dann versuchte sich Basti jede Einzelheit des Geländes vor ihnen einzuprägen.
Vor ihnen erstreckte sich eine weite Mulde mit wenig Deckung. Links, bergab, nahm der Bewuchs zu und auf der anderen Seite lagen nur wenige, kleine Felsen im Grasland herum, hinter denen sie sich verstecken konnten. Aber gerade diese Seite stand gegen die Witterung. Dazu kam, sollte sich Sebastian für die vom Wind begünstigte Seite entscheiden, so geriet er hinter die Tiere, nicht in ihre Flanke, denn sie zogen langsam schräg bergabwärts über die Hänge.
Sebastian zog trotz der Kälte seine Sachen aus, behielt lediglich sein Schwert und die beiden Bowiemesser bei sich. Antarona tat es ihm nach. Sie legten ihre Kleidung auf einen Haufen und schärften Balmers Hunden ein, nicht von dem Bündel zu weichen.
Dann huschten sie, von Sebastian geführt, in einem weiten Bogen um die Mulde herum, suchten sich einen Weg über felsdurchsetzte Terrassen, durch einen Geländeeinschnitt und über Hügel, bis er glaubte, der gemächlich ziehenden Herde einige Längen voraus zu sein.
Vorsichtig pirschte er sich an den vermeintlichen Standort der Tiere heran. Noch eine Senke, ein e Bodenerhebung, ein kleiner Fels... Wo war die Herde geblieben? Hatten sie seine List erkannt und waren geradewegs in den tiefer gelegenen Wald geflüchtet?
Ratlos blickte sich Basti zu seiner Gefährtin um, doch die zuckte nur gleichgültig mit den Schultern. Sie wollte, dass er bei dieser Hatz selbst die Entscheidungen fällte, auch wenn diese einen noch stärker knurrenden Magen einbrachten.
Sebastians Gefühl sagte ihm, dass die Herde unmöglich schon vorbei gezogen sein konnte. Er konzentrierte seine Sinne auf die Umgebung, nahm jedes Geräusch, jeden Luftzug in sich auf, als würden diese Eindrücke durch ihn hindurch fließen. Er schloss die Augen und lauschte. Nein.., er sah mit den Sinnen, er fühlte das Land...
Da nahm er eine Bewegung wahr. Er schlug die Augen auf und sah in die Richtung, in der ihm das Land diesen Impuls suggerierte. Nichts! Aber er hatte es doch deutlich gespürt! Enttäuscht blickte er zu Boden. Das war’s! Nun war es wohl an der Zeit, seiner Frau einzugestehen, dass er als Jäger versagt hatte. Er dachte bereits darüber nach, wie er seine Schmach in Worte fassen sollte, da gewahrten seine inneren Sensoren erneut eine Bewegung.
Ein einzelnes Tier stand etwa hundertfünfzig Meter weit entfernt stocksteif auf dem Kamm einer Bodenwelle. Es schien sich ebenso, wie Sebastian, in die Landschaft zu denken, um mögliche Gefahren zu ergründen. Sebastian fror all seine Bewegungen ein und spürte die Kälte nicht mehr. Das Jagdfieber hatte ihn gepackt!
Er konzentrierte sich auf das Tier und, was nach Antaronas Vorstellung beinahe noch wichtiger war, auf das Land. Letztlich war es das Land, das entschied, ob er nahe genug an das Wild heran kam, um es sicher zu erlegen. Weit vor ihm war das Gelände unübersichtlich, mit kleinen Büschen durchsetzt. Ein Wild, dass ständig einen Hinterhalt fürchten musste, würde diese Stelle meiden.
Der einzige Weg, den dieses Bergschaf nehmen konnte, wollte es seine Richtung nicht ändern, war direkt auf seine Jäger zu. Doch ihm und Antarona bot das Gelände kaum Deckung. Ihr Abendessen musste sie zwangsläufig ausmachen, bevor es noch in Schussweite war.
Sebastian überlegte fieberhaft. Sein Mund stieß kleine Dampfwölkchen in die Kälte und die frische Luft elektrisierte ihn. Als der Dampf seines Atems an seinem Gesicht vorbei zog, bekam er einen Riesenschreck! Wenn dieser Bergbock dort drüben nicht blind wie ein Maulwurf war, musste er seinen Atem sehen! Augenblicklich drückte Sebastian sein Gesicht auf den Boden. Die Angst, wieder mit hohlem Magen schlafen zu müssen, ließ ihn mit dem Land eins werden, er verschmolz mit dem kurzen Gras. Dann schob er sich Millimeterweise zurück. Ab und zu hielt er die Luft an und spähte hinüber zur Geländeerhebung. Sein Jagdwild stand da, wie in Stein geschlagen.
Jäger und Jägerin krochen so weit zurück, dass sie sich einigermaßen in Deckung befanden und dem Wild gleichzeitig genug Raum ließen, vorüber zu ziehen. Doch sie entfernten sich nur so weit, dass sie das Tier noch in Schussweite haben würden.
Ohne Hast legte Basti sein Schwert ab, spannte den Bogen auf und zog drei Pfeile aus dem Köcher. Einen legte er locker an die Sehne. Dann hieß es warten! Es vergingen einige Minuten, ohne dass sich etwas rührte. Immer noch stand das einem Mufflon nicht unähnliche Wildschaf auf dem Kamm.
Inzwischen begann die Kälte an Sebastian zu nagen. Schließlich lagen sie fast nackt auf dem Boden, dem eisigen Wind ausgesetzt. Abwechselnd steckte Sebastian seine Hände zwischen die Oberschenkel, um sie warm zu halten. Mit steif gefrorenen Fingern konnte er kaum einen sicheren Schuss anbringen.
Als er wieder aufsah, stand neben dem bisherigen, noch ein zweites Tier auf dem Kamm. Sofort war die Kälte vergessen! Sebastian versuchte sie aus seinen Gedanken auszuschließen und sich nur auf diese zwei Wesen zu besinnen. Diese setzten plötzlich ihre Wanderung fort. In einem kurzen Galopp kamen sie in die Senke getrabt, wo sie wieder stehen blieben. Dafür erschienen oben auf dem Kamm weitere Tiere, die ihnen im Abstand folgten.
Endlich, nach etwa zehn Minuten bevölkerte eine ganze Herde die Senke. Grasend zogen sie schrecklich langsam heran und Sebastian befürchtete schon, dass seine Hand verkrampfen würde, bevor er noch zum Schuss kam. Die beiden ersten Schafe, sie waren wohl die Leittiere, ließen die Herde zunächst an sich vorüber ziehen. Anschließend setzten sie sich wieder an die Spitze und sicherten.
Wie eine Ewigkeit kam es Sebastian vor, bis sich der Pulk äsenden Wildes in ihre Nähe schob. Nur ab und zu blickte er auf, den die Lunge anhaltend, um sich nicht letztlich noch durch ein Atemwölkchen zu verraten. Die Kälte trieb ihm Tränen in die Augen. Sie liefen ihm über das Gesicht und kitzelten so fürchterlich auf der Wange, dass es ihm wie eine Folter vorkam. Doch er wagte nicht, sie fortzuwischen. Jede noch so winzige Regung konnte ihre Anwesenheit verraten!
Statt dessen konzentrierte er sich darauf, welches der Tiere er auswählen sollte. Sinnvoll war, eines der Tiere am Ende der Herde zu nehmen, das sagte ihm bereits sein gesunder Menschenverstand. Meist bewegten sich am Ende der Gemeinschaft die schwächeren, unaufmerksameren Mitglieder. Außerdem konnte er Glück haben und die Herde floh nicht sofort in Panik, wenn er ein Tier abseits der Herdengenmeinschaft erlegte.
Also wartete Sebastian weiter in der Kälte auf seine Chance. Doch die Herde ließ sich Zeit. Sebastian musste sich zur Ruhe zwingen, um nicht voller Zorn auf die Tiere los zu stürmen. Es war doch zum verrückt werden! Ausgerechnet an dieser Stelle schmeckte denen das Gras so gut, dass sie teilweise stehen blieben, um zu grasen.
Die Minuten verrannen und ein Leib nach dem anderen schob sich unendlich langsam an ihrem Versteck vorüber. Nach einer halben Stunde, die Sebastian bereits wie ein Tag vorkam, erreichten die letzten Nachzügler das Schussfeld.
Ein Tier, etwas kleiner, als die anderen hinkte etwas mit dem vorderen Huf. Es machte ansonsten einen gesunden Eindruck. Warum nicht, dachte Basti, es konnte nicht so rasch fliehen und würde der Herde auf Dauer ohnehin nicht folgen können. Bevor es ein Opfer der Eishunde wurde, landete es besser an seinem Bratspieß!
Sebastian wartete geduldig, bis er die ganze Flanke des Tieres vor Augen hatte. Seine ganzen Gedanken und Empfindungen kreisten nur um diesen einen Schuss. Doch er prägte sich ein, sofort nach dem Abschuss einen zweiten Pfeil an die Sehne zu legen, ob er nun getroffen hatte, oder nicht. Dann fühlte er sich bereit.
Sein Körper spannte sich an, er achtete auf seine Haltung, so wie Antarona es ihm gezeigt hatte. Ruhig zählte er die Intervalle seiner eigenen Atmung, um die richtige Zehntelsekunde abzupassen. In einer ausgeglichenen, fließenden Bewegung erhob er sich halb aus der Deckung, die Knie in den Boden gestemmt. Synchron dazu spannte er bedächtig den Bogen, zielte, dachte seinen Pfeil in das Opfer und bevor noch die höchste Spannung erreicht war, ließ er die Sehne ohne Ruck von seinen Fingern gleiten.
Das leise Sirren des Geschosses hörte er selbst kaum, nahm nur wahr, wie das anvisierte Tier plötzlich in den Hinterläufen einknickte, sich erschrocken wieder vorwärts stemmte und erneut einbrach. Die anderen Schafe schienen das gar nicht zu bemerken. Einige hoben zwar skeptisch den Kopf, grasten dann aber friedlich weiter. Sie hatten sich anscheinend längst an das behinderte Verhalten ihres Artgenossen gewöhnt.
Das getroffene Wild erhob sich mühsam wieder und blieb mit zitternden Flanken stehen. Wie von einem fremden Zauber gelenkt, lang bereits der zweite Pfeil an Sebastians Sehne. Ausatmen, Bogen spannen... bevor sämtliche Luft seine Lunge verlassen hatte, schnellte der Pfeil vom Bogen. Einen Lidschlag später steckte er im Hals des verwundeten Tieres. Es wollte noch einen Satz nach vorn machen, doch seine Hinterläufe knickten erneut ein und es fiel einfach und unspektakulär auf die Seite.
Für die anderen Wildschafe offenbar spektakulär genug. Eine sofortige, leichte Unruhe entstand und die ganze Herde trabte los. Doch sie flohen nicht in wilder Panik und blieben schon nach dreißig bis fünfzig Metern wieder stehen. Irgendwie konnten sie wohl die Ursache für die Aufregung nicht richtig lokalisieren.
Sebastian sah ihnen verwundert nach. Hatten die ihn denn nicht gesehen, als er sich halb aus der Deckung erhob?
»Was ist, Ba - shtie.., wollt ihr warten, bis es sich die Eishunde holen?« Antarona zischte es ihm gepresst zu und er schrak zusammen. Er hatte seine Frau beinahe vergessen! Sie hatten seit einer Stunde keinen Laut mehr von sich gegeben. Basti sah, wie Antarona ihren Bogen entspannte und einen Pfeil zurück in ihren Köcher schob.
Aha.., so war das also. Sie hatte es ihm nicht wirklich zugetraut! Triumphierend blickte er seine Lehrerin an. Seine Augen sprachen, was die Stimme für sich behielt. Dann tat Sebastian etwas, auf das er beinahe mehr stolz war, als auf die beiden gelungenen Schüsse auf das Wild.
Ruhig und wie ganz selbstverständlich schob er sich aus der Deckung, nahm die deutliche, gekrümmte Haltung eines Vierbeiners ein, simulierte mit den Armen zwei Vorderläufe und tat als kreuzte er friedlich grasend den Pfad der Herde. Einige Tiere beäugten argwöhnisch seine Gestalt, blieben aber stehen. Nach einer Weile wandten sie sich wieder ihrer Nahrung zu und ignorierten den Jäger, der gerade eines der ihren erlegt hatte.
Sebastian schlenderte in der gebückten Haltung zu seinem Jagdopfer hinüber und ein unbeteiligter Beobachter konnte kaum umhin kommen zu glauben, einen Orang Utan mit Bandscheibenvorfall entdeckt zu haben. Antarona folgte ihm zögernd und ahmte sein Schauspiel nach, ohne sofort den Sinn zu begreifen. Doch sie wusste inzwischen, dass selbst der Mann aus dem Reich der Toten zuweilen ganz brauchbare Dinge tat.
»Wenn die Herde ruhig bleibt und nicht flieht...«, klärte Basti seine Frau auf, »...ist es für die Eishunde, falls welche in der Nähe sind, eher uninteressant, gegen uns um die Beute zu kämpfen. Sie können sich selbst ein paar Tiere jagen!« Stolz erntete er ein paar anerkennende Blicke, dann untersuchte er das erlegte Wild.
»Ihr habt kein großes Tier gewählt«, stellte Antarona nüchtern fest. Sebastian, immer noch in der Zwangsrolle, sich beweisen zu müssen, interpretierte es als Frage, oder gar Vorwurf.
»Ja, mit Absicht...«, bestätigte er und ließ es beinahe wie eine Entschuldigung klingen, »...dieses hier hatte etwas Abstand von der Herde.., und dann müssen wir es ja auch noch tragen, oder? Außerdem war es ein weibliches Tier.., Böcke schmecken manchmal etwas streng.« Der trotz in Sebastians Stimme war auch für Antarona nicht zu überhören. Sie lächelte ihn entwaffnend an und half ihm, das Wild aufzubrechen.
Eher war es aber so, dass sie die meiste Arbeit verrichtete. Sebastian hatte beim letzten Mal zwar aufgepasst, aber nicht alles mitbekommen. Als erstes schnitt Antarona den Hals vom Brustansatz bis zur Kehle auf. Ungeniert zog sie dem Tier die Gurgel heraus, durchtrennte diese und verknotete sie. Ihre Hände arbeiteten sicher und flink. Ein Chirurg hätte das nicht besser gekonnt.
Ein unangenehmer Geruch stieg Sebastian in die Nase, als sie die Keulen des Tieres auseinander bog und sich dazwischen kniete. Anschließend setzte sie das Messer am After des Tieres an und schnitt es bis zum Euter auf. Sie drehte das Messer um und fuhr mit der Klinge noch vorsichtiger bis zum Brustbein durch das Fell. Der Geruch wurde stärker und Sebastian wusste nun unmissverständlich, warum er den portionierten, eingeschweißten Fleischpackungen im Supermarkt den Vorzug gab.
Nur.., hier gab es keinen Supermarkt! Es gab nur knurrende Mägen, Hunger, Kälte, und Entbehrungen, die Sebastian in seiner Welt dazu gebracht hätten, ein Obdachlosenasyl, oder eine der humanitären Suppenküchen aufzusuchen. Aber hier gab es Wild und wenn man das Land kannte und bereit war, etwas dafür zu tun, dann fand man es im Überfluss.
Antaronas Blut verschmierte Hände griffen in den Leib des Wilds und sie wusste offenbar genau, was sie erfühlte. In Sebastians Kopf entstand das Bild einer Kannibalin, die sich daran berauschte, ihr Opfer zu zerfleischen. Doch er sah weiter aufmerksam zu. Zielsicher zog sie eine lange Röhre heraus, an der klebrige Innereien hingen. Sie legte das ganze Zeug neben dem Tier ab und sah sich suchend um.
»Einen Stein.., Ba - shtie, wir brauchen einen flachen Stein!« weckte sie ihn aus seinen Gedanken. Sofort hetzte er los und suchte übereifrig nach dem verlangten Gegenstand. Dass er nur ja nicht noch Hand anlegen musste, an dieses grausige Kunstwerk.
Mag sein, er konnte sich mit der Zeit an das Jagen gewöhnen, aber ganz sicher war er nicht zum Schlachter geboren! Dennoch war ihm bewusst, dass er, zumindest in diesen Tälern, nur überleben konnte, wenn er die Fähigkeit besaß, ein Wildpret auszuweiden.
Als er mit einer Teller großen, flachen Steinschuppe zurück kam, hatte seine Frau bereits begonnen, das Fell an den Vorder- und Hinterläufen aufzuschneiden. Sie nahm den Stein, hob ihn hoch über ihren Kopf und ließ ihn schließlich mit der Kante auf das Brustbein des Tieres nieder sausen. Es krackte ganz fürchterlich, als der Knochen brach.
Dann fasste Antarona in den Brustkorb, drückte ihn weiter auseinander, bis es ein weiteres Mal laut knackte. Sebastian sah das Herz des Wesens, das er getötet hatte. Der Hunger jedoch verdrängte das Mitleid. Inzwischen stellte er sich vor, wie ein großes Stück von dem Wildschaf über dem Feuer hing.
Antarona griff nun in das aufgebrochene Tier hinein. Vorsichtig zog sie langsam die restlichen Innereinen heraus, trennte sie mit dem Messer vom Fleisch und sortierte sie nach genießbar und nicht essbar. Mit geübten Griffen schnitt sie die Blase von dem Haufen Gedärm los, krempelte sie nach außen und legte Herz, Lunge und Leber hinein und hängte sich das Beutelchen an ihre Leibschnur. Zuletzt band sie die Läufe mit Lederbändern zusammen, die ständig an der Schnur baumelten, die ihr den Hüftschurz am Körper hielten.
»Fasst ihr es vorn, Ba - shtie.., wir tragen es zu unseren Bündeln«, wies sie ihn an und hob das Tier hinten an.
»Wie.., willst du ihm nicht noch das Fell abziehen?« fragte Basti erstaunt. Doch sie hatte es plötzlich sehr eilig und gab ihm nur eine knappe, unbefriedigende Antwort.
»Denkt nach, Ba - shtie, was tun wir dann mit dem Fell?« Sie blickte nur einmal kurz auf und ruckte an ihrem Ende des Tieres, um ihn dazu zu bringen, seinen Teil der Beute aufzunehmen. Sebastian packte das Tier bei den Läufen und war erstaunt, wie schwer es war. Seine Entscheidung, ein kleines Tier auszuwählen, war richtig gewesen!
Mit einem Mal fiel ihm ein, weshalb das Krähenmädchen dem Beutetier nicht sofort das Fell abgezogen hatte. Er erinnerte sich an die Antilope von der letzten Jagd. Das Fell hatte sie frisch gehäutet auf eine biegsame Astgabel gezogen.
Hier oben waren Bäume rar! Sie mussten also zunächst in die Nähe eines Waldes gelangen, oder einen kräftigen Strauch finden. Außerdem musste der Körper des Wildes gut auslüften, das hatte Basti inzwischen gelernt.
So hatte Sebastian Lauknitz seine erste Jagdprüfung erfolgreich bestanden! Der Umgang mit Pfeil und Bogen blieb ihm zwar noch fremd, doch mit einiger Konzentration gelangen ihm schon zwei oder drei sichere Schüsse. Er hatte selbst nicht recht daran geglaubt. Anscheinend ahnte Antarona, dass er sich angesichts des nagenden Hungers der Bedeutung seines Erfolgs, oder Nichterfolgs bewusst war. Er musste erfolgreich jagen, oder... Verhungern!
Reno und Rona begrüßten die beiden mit Jagdglück gesegneten Menschenwesen und kamen ihnen entgegen gestürmt. Sie hatten treu über ihre Bündel gewacht. Stocksteif gefroren schlüpften Antarona und Sebastian wieder in ihre Kleidung. Sofort nahmen sie die Bündel und ihr Wild auf und marschierten los. Gegen Kälte gab es in diesem Teil der Welt nur ein wirklich sicheres Mittel: Bewegung!
Sie trugen ihre Last ein bis zwei Kilometer weit durch die unwirtliche, hohe Welt des Krähenmädchens, bis ihnen ausreichend warm wurde und sie in der Ruine einer alten Hütte den geeigneten Platz fanden, das Fleisch zu versorgen, ein Feuer zu machen und sich auszuruhen.

Die Willkür der Götter brachte Schnee. Es war der Morgen nach der Jagd. Wie Sebastian es auch drehte und wendete, die Zeit der langen Kälte, des langen Schnees schien gekommen zu sein. Das über Nacht veränderte Landschaftsbild senkte auch Sebastians Stimmung. Sie waren irgendwo und nirgendwo, hatten kein warmes Dach über dem Kopf und der nasskalte Nebel, aus dem immer wieder feine Schneeflocken wehten, drückte aufs Gemüt.
Endzeitiger konnte eine Landschaft nicht aussehen. Jegliche Farbe schien sich aus ihrer Welt verabschiedet zu haben. Es gab nur noch Grau und weiß. Schaudernd wollte sich Sebastian wieder in den Windschutz der halb verfallenen Behausung zurückziehen, da fuhr ihm ein gewaltiger Schreck durch Mark und Bein!
Eine Gestalt wuchs plötzlich vor ihm aus dem nasskalten Gebräu. Und sein Schwert befand sich in der kaputten Hütte! Blitzschnell hob er einen Stein auf und wartete gebückt und lauernd...
»Ba - shtie.., was tut ihr da?« hörte er Antaronas Stimme, noch bevor er sie erkennen konnte. In ihr dickstes Fell gehüllt trat sie zu ihm, verwundert, dass er mit einem Stein in der Hand das Schneetreiben verscheuchen wollte.
»Antarona...«, entfuhr es Basti erleichtert, »...Himmel noch mal, du kannst einem aber auch einen Schreck einjagen! Sich einfach anzuschleichen, wie ein Felsenbär!« Innerlich musste Sebastian aber grinsen. Denn ähnlich leise hatte er sich einmal Högi Balmer genähert, als dieser in seinem Schuppen herumwühlte. Der war vor Schreck dermaßen aufgefahren, dass er sich mächtig den Kopf angestoßen hatte.
»Kommt ans Feuer...«, lud sie ihn ein, »...wir wollen uns stärken für den Weg, welcher vor uns liegt. Damit ging sie ihm voran, zurück in die zugige, klapprige Bretterbude, die schon bessere Tage gesehen hatte.
Ein Feuer knisterte mitten im Raum und die Wärme hatte den Frost an den noch verbliebenen Wänden angetaut und ließ Wasserrinnsale daran herab laufen. Trotz des Windes, der durch hundert Ritzen pfiff, strahlte die Flammen genug Hitze ab, um ihre Körper zu wärmen.
Nachdem sie gegessen hatten, löschten sie das Feuer und machten sich auf den Weg. Sie traten in ein wahres Schneegestöber hinaus. In der kurzen Zeit waren fünf Zentimeter Schnee gefallen. Das grüne, fruchtbare Reich der Ival versank in weißer Pracht, die Sebastian als Tourist im Schweizer Grächen, oder Zermatt märchenhaft romantisch gefunden hätte. An diesem Tag jedoch war rein gar nichts märchenhaft, und romantisch erst recht nicht!
Sie folgten Antaronas Sinnen, die ihren Ba - shtie, wussten die Götter wie, durch das Schneetreiben über die Höhen führte. Ein monotoner Gang ohne wirklich erkennbares Ziel. War Sebastian die Vorstellung von ihrem Bestimmungsort, den sie vielleicht irgend wann einmal erreichten, bereits vor Tagen abhanden gekommen, so konnte er ihr Fortkommen bisher wenigstens noch an sichtbaren Geländepunkten nachvollziehen:
Bis zu diesem Grat dort, oder bis zu jenem Einschnitt, oder zu einem markanten Felsen... Nun aber verschwamm alles im Grau und Weiß der Schneelandschaft. Alles wurde Eins. Um sie herum sah jeder Anblick gleich aus. Der kalte Wind setzte ihnen zu und das einzige, das Sebastian noch vorwärts trieb, war die Hoffnung auf Falméra, wo es, so die Götter ihnen wohl gesonnen waren, einen warmen, geschützten Ort gab, in dem er wieder auftauen konnte.
Müde und ziemlich demoralisiert schlich Sebastian Lauknitz hinter dem zugeschneiten, massigen Pelz her, in dem er den warmen, verführerischen Körper seiner jungen Frau wusste. Was hinderte sie eigentlich daran, sich in einer Höhle zu verkriechen und zu warten, bis sich das Wetter wieder gebessert hatte?
Antarona besaß wohl nicht nur die Gabe, mit Tieren zu kommunizieren, sondern auch Sebastians Empfindungen zu spüren. Sie hielt plötzlich an, warf ihre Bündel zu Boden und nahm ihre Rute zur Hand, mit der sie regelmäßig ihre Fechtübungen abhielten.
»Das willst du jetzt nicht wirklich, oder?« zweifelte er an ihrem Vorhaben. Antarona sah allerdings nicht so aus, als würde sie mit sich handeln lassen.
»Es macht den Leib warm, Ba - shtie.., und ihr lernt, im Kampf dem Feind euren Stand aufzuzwingen.« Kaum hatte sie ausgesprochen, schon spürte Sebastian den ersten schmerzhaften Streich auf seiner Wange. Er hatte absolut keine Lust, in diesem Schneegestöber herum zu tollen. Doch seine Frau ließ ihm keine Ruhe.
»Los, Ba - shtie.., kämpft euch zu diesem Felsen dort vor«, feuerte sie ihn an und versetzte ihm einen weiteren Hieb. Rona und Reno, die bis dahin lethargisch neben ihnen her getrottet waren, ließen sich von Antaronas Tatendrang anstecken und begannen, hintereinander her zu jagen.
Klatschend landete ihre Gertenspitze erneut auf Sebastians Gesicht. Antarona tänzelte um ihn herum und erwartete sein Parieren ihrer Attacken.
»So.., das reicht jetzt aber...«, verkündete er drohend, »...wenn du unbedingt kämpfen willst, dann werde ich dir mal den nötigen Respekt vor einem frierenden Königssohn beibringen!« Damit zog Sebastian ebenfalls seinen elastischen Zweig aus den Riemen seines Rucksacks und ging zum Angriff über.
»Eines Königs würdig seid ihr noch lange nicht, Mann von den Göttern...«, forderte sie ihn noch mehr heraus, »...lernt erst einmal in eurem eigenen Land zu überleben, Areos von Falméra!« Wieder attackierte sie sein Gesicht, wo die Treffer bei der herrschenden Kälte besonders schmerzhaft waren. Nun, das sollte ihr nicht noch einmal gelingen!
Sein Rucksack fiel, wo er gerade stand und augenblicklich hielt er seiner Lehrmeisterin die Spitze seiner Rute vor die Nase. Die parierte sofort und wich mit einer Drehung so schnell zur Seite, dass seine Parade ins Leere ging. Keine fünf Minuten später dampften ihre Körper im Schneegestöber.
Sie beluden sich wieder mit ihrem Gepäck und setzten ihren Weg ins Ungewisse des Flockenwirbels fort. Beim Gehen jedoch versuchten sie sich gegenseitig mit den Zweigen an der Brust zu erwischen, was einiger Akrobatik bedurfte, um nicht mitsamt ihrer Last im Schnee zu landen. Dieses Spiel trieben sie mit Hingabe und feilten ihre Techniken immer mehr aus.
Zwischendurch traktierte ihn Antarona mit geistigen Herausforderungen. Entweder fragte sie ihn nach der Heilwirkung einer Pflanze, die sie ihm einmal gezeigt hatte, oder sie wollte von ihm die Ival Bezeichnung für irgend einen Begriff wissen. Gleichzeitig attackierte sie ihn aber mit weiteren Finten ihrer Gerte.
Es schneite den ganzen Tag. Und die kleine Gruppe von zwei Menschenwesen und zwei Hunden zogen ihre Spur durch das wattige Weiß und wirbelten es durcheinander, wenn sie mit ihren Ruten darum kämpften, wer an der Spitze ging. Als sich die Dämmerung ankündigte, froren sie nicht mehr. In der kleinen Felsgrotte eines nahen Berggrates fanden sie ein geschütztes Lager für die Nacht.
Zwei Tage und Nächte schneite es ununterbrochen. Durch immer höheren Schnee mussten sie ihren Weg finden, der sie abseits aller Wegsperren und Kontrollen Torbuks der Stadt Falméra näher bringen sollte. Die monotonen wegstrecken verkürzten sie mit Jagen, Zielübungen oder Fechteinlagen.
Mittlerweile lag der Schnee beinahe einen Meter hoch und auch für Reno und Rona wurde es mühsam, an Stellen, wo der Wind die weiße Pracht verfrachtet hatte, vorwärts zu kommen. Ihr dichtes Fell war mit Schnee durchsetzt, dass sie zuweilen aussahen, wie zwei Polarfüchse.
Immer wieder zogen Wolken heran und brachten neuen Niederschlag. Eine Orientierung an den nahen Bergen war schon seit Tagen nicht mehr möglich. Sebastian befürchtete schon, dass sie immer weiter marschierten und irgendwann in der Mongolei, oder Sibirien wieder heraus kamen. Er weigerte sich immer noch zu akzeptieren, woanders zu sein, als in irgend einem ihm bekannten Gebirge der Erde.
Eine Erklärung für Antaronas, oder Janines Existenz, oder für die Absonderlichkeiten dieser Welt wollte er dann suchen, wenn er seinen Standort genau lokalisiert hatte. Allerdings schloss er die Möglichkeit nicht mehr unbedingt aus, sich an einem Ort oder in einer Zeit zu befinden, die es nach seinem bisherigen, menschlichen Wissensstand nicht geben konnte. Er versagte sich nicht mehr vehement der Existenz eines geistigen Daseins in einer anderen Dimension, oder der eines Lebens nach dem Tod. Noch vor einem Jahr hätte er solche Gedanken für absurd gehalten.
Es mochte am siebzehnten, oder achtzehnten Tag ihrer einsamen Reise gewesen sein, Sebastian hatte bereits jegliches Zeitgefühl verloren, da hörte der Schneefall so unversehens auf, wie er begonnen hatte. Unterdessen war ihm nicht ganz unberechtigt in den Sinn gekommen, dass bei diesen Mengen an gefallenem Schnee eine akute Lawinengefahr von den Hängen der hohen Berge her drohte. Nicht zuletzt deshalb, weil er diese Regionen nicht kannte und hinsichtlich ihrer Lawinenträchtigkeit kaum einschätzen konnte, wünschte er sich ein Ende ihres Weges herbei.
Die Götter erhörten ihn! Der Wind ließ nach und auch der unaufhörliche Strom der tanzenden Schneekristalle versiegte. Bald beherrschte eine fast gespenstische Stille das Land. Nur der lastende Nebel, der jedes Geräusch verschluckte, blieb. Zäh hängte er sich an jeden Baum, an jeden Strauch und schien sich selbst an den Boden zu klammern.
Doch der Blick nach oben suggerierte Sebastian ein Hellerwerden. Plötzlich driftete das zusammen hängende Grau auseinander, verwandelte sich in tief ziehende Fetzen weißer Wolken und ließ immer mehr das Blau des Himmels durch den Dunst leuchten. Nach und nach steigen die Nebel auf, formten sich zu weißen, durchscheinenden Gebilden und krochen zögernd an den Berghängen hinauf.
Überall begann der frisch gefallene Schnee in der Sonne zu blitzen, als hätten die Götter Tausende von Diamanten über das Land verstreut. Ein Glitzern und Funkeln stach in Sebastians Augen, wenn er auf den Boden blickte. Er musste acht geben! Wie rasch man schneeblind werden konnte, hatte er als Alpinist mehr als einmal am eigenen Leib erfahren müssen.
Dort, wo der Schleier sich lichtete, gab er den Blick auf steile, tief verschneite Bergflanken frei, die im Sonnenlicht aufgleißten, dass es die an das Dämmerlicht der letzten Tage gewöhnten Augen blendete. Dann riss die Wolkendecke vollends auseinander, tiefes Blau wölbte sich über ihren Köpfen und sofort brach das grelle Licht der Sonne herein. Augenblicklich wurde es warm!
Die fliehenden Wolken gaben den Blick auf das Land frei. Die Bergketten im Norden büßten an Höhe ein. Bewaldete Hügel reihten sich dicht an dicht zu Füßen der vereisten Felsreisen. Sie bildeten ein weites Becken, dessen Ausmaße Sebastian nicht abschätzen konnte. Tiefer Nebel lag dort unten noch auf dem Land. Wie eine dicht gedrängte, sich bewegende Herde schurreifer Wollschafe bedeckte er den Talboden.
Doch an einer Stelle, weit draußen in der sich öffnenden Ebene ragte etwas aus dem Talnebel auf. Sebastian konnte nicht genau erkennen, was es war. Wie ein riesiger Felsen, aus dem mehrere Spitzen heraus ragten, thronte dieses Etwas auf ein paar Hügeln, wie auf einem kleinen Höhenzug, der sich aus dem flachen Land erhob. Der Nebel verbarg, was darunter lag.
Etwas Unheimliches, Gespenstisches ging von diesem Ort aus, etwas, das sich Sebastian nicht erklären konnte. Obwohl dieser Felsen kilometerweit entfernt war, hatte er das Gefühl, auf etwas Böses gestoßen zu sein. Nur die mächtigen Berge, die mit ihren Eisflanken die Ebene im Westen begrenzten und gleißend unter blauem Himmel herab strahlten, ließen diesen einen schwarzen Felsen im leuchtenden Nebelmeer wie einen kleines Spielzeug wirken, das nicht in das Landschaftsbild passte. Wie es dort so aus den Wogen des Talnebels heraus stach, wirkte es seltsam bedrohlich.
»Was ist das dort unten?« fragte Sebastian seine Gefährtin. Doch die hatte zwischen ein paar Felsen ihr Bündel abgelegt und war damit beschäftigt, die Fleischstücken des erlegten Wildschafs mit Salz einzureiben. Was fertig war, hängte sie an einen langen Ast, den sie über den Zwischenraum zweier Felsen gelegt hatte.
Während Sebastian weiter ergriffen auf die Wolken blickte, die wie ein Teppich die ganze Niederung bedeckte, machte seine Frau ein kleines Feuer. Basti setzte sich auf einen Steinblock und sah hinab. Er spürte die Sonnenstrahlen auf seinem Rücken und die Wärme tat gut. Seine Augen aber ruhten nicht. Sie wanderten an der Mauer der hohen Berge entlang, die sich weiter nach Norden zogen und nicht enden wollten.
Auch das flache Land, das sich davor zunächst mit sanften Hügeln ausbreitete, schien nach Osten hin keine Begrenzung zu kennen. Dort gab es keine Erhebungen mehr, die den Horizont begrenzten. Der Talnebel verschmolz irgendwo, irgendwann mit dem Himmel.
Über ihren Köpfen wurden die Berge ebenfalls niedriger. Noch ragten wohl die schneebedeckten Flanken so hoch hinauf, dass ihre Gipfel gut dreitausend Meter in den Himmel stießen. Doch gemessen an den Bergen, die hinter ihnen lagen, waren diese nur noch Trabanten.
Der Nebel im Tal haftete wie eine ausgegossene, langsam vor sich hin brodelnde, weiße Flüssigkeit auf dem Land. Er vereitelte den Wunsch Sebastians, sich von erhöhter Warte ein Bild von dem Land, von den Wegen und Flüssen, den Dörfern, Wäldern und Seen zu machen. Ohne diesen Taldunst dort unten hätte er eine feine Landkarte in sein Tagebuch zeichnen können!
»Was ist das dort unten?« wiederholte er seine Frage, ohne sich umzudrehen. Angestrengt spähte Sebastian hinunter. Er hatte noch nie Formationen solch spitzer Felsnadeln gesehen. Und diese dort unten ragten scheinbar aus dem Nichts auf.
»Habt ihr den Namen von Sonnenherz vergessen, Ba - shtie?« Antarona war neben ihm aufgetaucht und reichte ihm ein Stück soeben gegartes Fleisch. Basti nahm es dankbar und verbrannte sich fast die Finger.
»Ihr könnt Sonnenherz mit ihrem Namen rufen, wenn ihr etwas von ihr begehrt, Ba - shtie - laug - nids. So weiß Sonnenherz, dass sie gemeint ist!« Sebastian überhörte den seltsamen Unterton in ihrer Stimme. Seine Gedanken drehten sich im Augenblick einzig und allein um dieses seltsame Gebilde, das aus der Tiefebene ragte, wie ein Fernsehturm aus einem Wald. Etwas verwirrt sah er seine Frau an.
»Aber außer dir ist doch hier sonst niemand...«, gab er beinahe vorwurfsvoll zurück und wies sogleich wieder hinunter in das Land, das sich unter ihnen ausbreitete. »Sag mal, das dort unten, was da aus dem Nebel ragt.., was ist das?«
»Sagt zuerst meinen Namen, Ba - shtie, sonst werdet ihr keine Antwort bekommen. Wie nennt man jene, die des Holzers Kind ist?« Sie stellte sich schnippisch vor ihn und versperrte ihm die Sicht auf das Objekt seiner Neugier.
»Antarona.., also wirklich... Was soll das...?« gab er ungeduldig zurück und sah sie mit tadelnder Mine an. Er wusste nicht, was plötzlich in seine Gefährtin gefahren war, sah aber ein, dass er auf diese Weise nicht gegen ihren Eigensinn ankam.
»Also schön... Antarona, mein Engelchen, würdest du mir bitte sagen, ob du weißt, was das dort unten in dem Dunst ist, was da aus dem flachen Land ragt?« Sebastian gab sich keine Mühe, zu verheimlichen, dass er ihr Verhalten lächerlich fand. Antarona indes schien das bereits vergessen zu haben.
»Quaronas, Ba - shtie.., das dort unten ist die Burg von Torbuk und Karek.., Quaronas!« Sie sagte das mit einer nüchternen Selbstverständlichkeit, die Sebastian die Sprache verschlug. Das sollte Quaronas sein, die Festung des Mannes, der dieses ganze Land unterjochte? Ungläubig schüttelte er den Kopf.
»Geduldet euch, bis der Atem der Nacht das Tal verlassen hat, Ba - shtie, dann werdet ihr es sehen«, erklärte Antarona völlig unbeeindruckt und ging wieder zu ihrem Feuer hinüber. Dort scheuchte sie mit einer energischen Armbewegung Rona und Reno weg, die sich auffällig nahe bei den aufgehängten Fleischstücken herumtrieben.
Sebastian verließ seinen Aussichtsplatz und folgte ihr zum Lager. Antarona breitete ihre Felle zum trocknen auf den Felsen aus. Unter den Sonnestrahlen begannen diese zu dampfen, als wären sie frisch gekocht worden. Dann begann sie die Haut des erlegten Bergschafs zu bearbeiten. Sebastian sah ihr dabei zu. Ab und zu warf er Reno und Rona ein kleines Stück Fleisch zu.
Die beiden stürzten sich darauf und schlangen es ungekaut hinunter, als ob sie befürchteten, ein weiteres Stück nicht schnell genug schnappen zu können. Sebastian neckte die beiden, in dem er ein Stückchen Fleisch mal zur einen, mal zur anderen Seite hin warf. Wie zwei ausgehungerte Wölfe sprangen sie hinterher und rannten sich mehr als einmal gegenseitig über den Haufen.
»Ba - shtie...«, rief ihm Antarona mahnend zu, »...verwöhnt die beiden nicht so. Die können sich selbst etwas jagen!« Sebastian war davon überzeugt, dass es ihr weniger um das Fleisch ging, das Reno und Rona verschlangen. Eher fühlte sie sich wohl von dem übermütigen Spiel bei ihrer Arbeit gestört.
»Kommt, ihr zwei.., wir werden uns mal ein bisschen umsehen!« rief er den Hunden zu und schlenderte aus dem Lager. Sebastian atmete tief durch, hielt sein Gesicht in die Sonne und war froh, nicht mehr durch dichtes Schneetreiben stapfen zu müssen. Dort, wo die Sonnenstrahlen den Boden berührten, begann der Schnee schon wieder zu schmelzen.
Ein ab und zu von den Gletschern herab wehender Wind täuschte kaum darüber hinweg, dass es trotz des Sonnenscheins winterlich kalt war. Der Sommer war endgültig vorüber! Allein schon der Gedanke rief in Sebastian eine zehrende Sehnsucht hervor. Was würde die dunkle, kalte Jahreszeit bringen und wie lange würden sie auf den wiederkehrenden Sommer warten müssen, der mit seinen vielen Düften die Sinne betören konnte?
Würde er sich mit Antarona irgendwo in diesen Tälern ein schönes, gemütliches Zuhause schaffen können? Im Geiste sah er bereits eine kleine, saubere Hütte auf einer mit Blumen übersäten Wiese stehen, er sah Antarona mit einem kleinen Kind auf dem Arm.., seinem Kind! Er sah den Wunsch, den er tief in seinem Herzen trug, der aber von der Realität noch Welten entfernt war.
Reno und Rona rissen ihn aus seinen Träumen. Wildes Gebell drang aus einem kleinen Wäldchen, das die Götter wie eine Oase an den Hang geklebt hatten. Irgend etwas hatten die beiden aufgestöbert, das es Wert war, ihrem menschlichen Freund zu zeigen. Sebastian beschleunigte seinen Schritt und folgte der Fährte von Högi Balmers Hunden, die vorwitzig voraus gelaufen waren.
Ihre Spuren im Schnee führten bergab zwischen Tannen und Arven. Sebastian kämpfte sich durch das Unterholz und entdeckte die Hunde vor einer Felsformation im Schatten der Bäume. Die Klippen fielen talwärts wie eine steile Wand über eine Kante ab. Davor befand sich eine kleine, sandige Lichtung, die kaum mit Schnee bedeckt war. Die dicht stehenden Bäume hatten wie ein Schirm gewirkt.
Reno und Rona tanzten vor dem Felsmassiv auf und ab und bellten scheinbar den grauen Stein an. Als Sebastian hinzu kam, erkannte er staunend die Ursache für den hündischen Zornesausbruch. Tekla und Tonka, die beiden Krähen Antaronas saßen oben in den Felsen auf einem schmalen Sims und verspeisten genüsslich ein paar brocken Fleisch, die sie irgendwo stibitzt hatten.
Triumphierend schubsten sie ihre abgenagten Knochen über die Kante, so dass diese Rona und Reno direkt vor die Pfoten fielen. Jedes Mal legten die Krähen ihre Köpfe schief und sahen ihrem Abfall mit vergnüglicher Belustigung nach. Es war offensichtlich, dass sie die beiden Hunde bewusst provozierten und Sebastian staunte nicht schlecht über den hintergründigen Hohn, den die beiden schwarz Gefiederten dabei an den Tag legten, um die Hunde zu verspotten. Ab und zu ließen die Rabenvögel ein langgezogenes Kroooh, Kroooh erklingen, was die beiden Neider nur noch rasender machte.
Angesichts dieses tierischen Schauspiels musste Sebastian lauthals lachen. Es war mit Abstand das Komischste, das ihm während seiner Zeit in diesen Tälern untergekommen war. Gespannt blieb er stehen und beobachtete. Wie lange mochten Balmers angeblich so intelligente Hunde den Schabernack mitmachen, bevor sie einsahen, dass sie von der Beute allenfalls die blanken Knochen bekamen?
Nach einigen Minuten wurde es selbst den Krähen zu müßig, die dummen Kläffer mit ihrem Müll zu beschmeißen. Elegant und demonstrativ breiteten sie ihre glänzenden Flügel aus und segelten ohne Hast über die Felskante und an den Klippen entlang davon. Reno und Rona machten ihrem betrogenen Ego dadurch Luft, dass sie hinter den beiden Schwarzvögeln her hetzten.
Doch schon nach zehn Metern war Schuss! Sie standen an der Kante zum Felsabbruch. Wild hin und her hüpfend kläfften sie ins Nichts hinaus. Sebastian folgte ihnen auf die Steinplatten, die wie eine Kanzel über den Abgrund ragten.
»Nun hört schon auf, ihr beiden Dummköpfe...«, wollte er die Hunde beruhigen, »...die beiden Krähen sind euch sowieso über, oder wollt ihr etwa hinterher...« Sebastian blieben die Worte im Hals stecken. Unbedacht war er an die Kante der Klippen heran getreten. Seine Augen suchten die Tiefe nach den beiden Krähen ab. Aber sie blieben an etwas völlig anderem hängen!
Der Anblick, der sich ihm unvermittelt bot, ließ ihn schnell zwei Schritte vom Abgrund zurück treten. Der Nebel im Talgrund hatte sich in einzelne Wolkenfetzen aufgelöst, hing nur noch da und dort in den bewaldeten Hängen. Was vor einer Stunde noch unter Schleiern verborgen lag und nun zu Tage getreten war, jagte Sebastian einen Eisschauer nach dem anderen über den Rücken.
Zu seinen Füßen erstreckte sich ein völlig neues Landschaftsbild. Ein Land voller Leben! Dort, wo er die einsamen Spitzen der Burg Quaronas im morgendlichen Dunst entdeckt hatte, breiteten sich die Hütten und Häuser einer ganzen Stadt aus. Die Bauten schmiegten sich an einen ausgedehnten Hügel, auf dem, ähnlich der Akropolis in Athen, eine mächtige, düstere Festung thronte.
Stadt und Festung mochten etwa dreißig Kilometer entfernt liegen. Doch der Blick, der sich Sebastian in die Ebene bot, täuschte ihm einen wesentlich geringeren Abstand vor. Der Rauch unzähliger Kamine kräuselte sich gen Himmel. Ein Labyrinth von Straßen zog sich zwischen den Häusern dahin und Wege führten bis weit in das flache Land hinaus.
Der Bach, der sich aus dem Val Mentiér ergoss, wurde breiter und schlängelte sich als silbernes Band quer durch die Stadt. In der Ebene vor der Stadt, bekam er Zuwachs. Zehn bis fünfzehn Bäche kamen aus anderen Tälern und vereinten sich mit ihm zu einem schnell dahin strömenden Gewässer. Ein breiter Weg führte mit einer großen, steinernen Brücke über den Fluss und in Kurven zur Burg hinauf.
Diese Festung aber war das Monumentalste, was Sebastian bislang gesehen hatte. Grobe, mehrstöckige Bauten reihten sich aneinander und schienen sich mehrfach übereinander zu stapeln. Wehrhafte, mächtige Türme wechselten mit schlankeren Minaretten, die mit ihren spitzen Runddächern scheinbar den Himmel berührten. Dicke Mauern und riesige Wälle umgaben die Stadt, sowie die Burgfeste.
Außerhalb der Stadtmauern, die mit großen Wehrtürmen und Toren bestückt waren, gab es offensichtlich viele Siedlungen und Dörfer. Sie drängten sich dicht an dicht um die Stadt und bestanden aus sehr kleinen, runden Hütten. Selten lagen etwas größere Behausungen oder Ställe dazwischen.
Tausende solcher Hütten zählten diese Dörfer und sie waren offenbar systematisch angelegt worden. Zumindest konnte man eine gewisse Struktur in ihrer Aneinanderreihung erkennen. Fassungslos bestaunte Sebastian die Ausdehnung dieser bewohnten Fläche in der Ebene.
So etwas hatte er nicht erwartet! Das also war Quaronas! Es erinnerte ihn an das Alexandria oder Rom in der Antike. Das dort unten war überwältigend. Nein.., es war gewaltig! So weit Sebastian sehen konnte, gab es keinen Flughafen, keine Eisenbahn, keine Autos. Dennoch waren dort unten Hunderte unterwegs! Sebastian versuchte die flohgleichen Pünktchen zu zählen, die sich auf den Wegen bewegten. Er gab es auf. Wie emsig und geschäftig musste es erst in der Stadt zugehen?
Was dort in das flache Land vor den hohen Bergketten eingebettet lag, war eine mittelalterliche Metropole! Sebastian konnte sich mit all seiner Phantasie noch nicht richtig vorstellen, was aber offensichtlich unter ihm lag. Er kannte von dieser Welt bisher nur ein paar Bergdörfer in denen ein paar verarmte Bauern ihr hartes, romantisches Leben fristeten. Das dort unten war etwas ganz anderes. Es war eine andere Dimension. Und es machte ihm Angst!
War das, was er dort im Tal liegen sah, jene Macht, welche die Dörfer in den Tälern bedrohte? Gehörten alle diese Menschen dort unten zu Torbuks Schergen? Das war doch wohl ein Witz! Sebastian musste lachen.
Fünf kleine Dörfer, eingeschlossen von eisigen Bergriesen, boten Diesem dort unten Widerstand? Nein! Eigentlich war es ja nur ein halb nackt durch die Gegend streunendes Mädchen, dass sich offenbar gegen diese Macht stellte. Inzwischen fragte sich Sebastian, was Torbuk davon abhielt, einfach in die Täler zu marschieren und sie zu besetzen. Es lag sicher nicht daran, dass er zu wenig Männer hatte!
Statt dessen begnügte der sich damit, ein paar Wegpunkte im Tal zu besetzen. Hoffte Torbuk darauf, dass die Ival wieder brav ihr Schicksal ertrugen, wenn er und Antarona erst einmal festgesetzt waren? Wagte er den entscheidenden Vorstoß nicht, weil ihm der Mann von den Göttern und Sonnenherz im Weg standen?
Wieder musste er lachen. Waren er und das Krähenmädchen wirklich die einzigen, die das dort unten mit ihrer bloßen Anwesenheit aufhielten? Wohl kaum! Wenn Torbuk wollte, das wurde Sebastian auf einem Mal augenfällig, dann konnte er das Tal einfach überrollen. Es musste noch einen anderen Grund für sein Zögern geben! Aber welchen? Basti fand keine plausible Erklärung.
Und da war noch etwas anderes. Sebastian hielt Antarona für außerordentlich intelligent. Sie besaß einen gesunden Verstand und sie hatte bewiesen, Situationen richtig einzuschätzen und rationell zu handeln. Wie also kam sie auf diese banale Idee, so eine riesige Macht notfalls allein aufhalten zu wollen? Das war paradox!
Sebastian fragte sich, ob seine Frau überhaupt die Ausmaße dieser Stadt kannte. Wusste sie, welche Masse von Menschen am Ausgang Val Mentiérs, direkt vor ihrer Haustür lebten? Er ging davon aus, dass sie sich der Verhältnisse sehr wohl bewusst war. Sie hatte gewiss nicht das erste mal diese Route über die hohen Hänge benutzt, um ungesehen an Quaronas vorbei zu kommen.
Allmählich lichteten sich auch die Nebel, die noch im Osten auf den Ebenen lagen. Sebastian wartete und kam sich vor, wie im Kino, das einem immer mehr offenbarte. Zunächst stellte er fest, dass es auf der anderen Seite der Stadt ebenso viele Dörfer gab. Doch das Land dort schien sumpfiger zu sein. Es wurde beherrscht von einem riesigen Flussdelta.
Wie silbrige, lange Finger einer knochigen Klaue streckten sich die Wasserarme über die Niederungen aus. Dann trieb ein frischer Wind den Bodennebel vollends hoch und davon. Basti staunte nicht schlecht. Erst glaubte er eine weitere, graue Nebelwand zu sehen. Doch schnell wurde ihm klar, dass etwas ganz anderes den Horizont begrenzte. Das Meer! Dort lag das Ziel ihrer Reise, wohl noch gut drei bis vier Tagesmärsche entfernt.
Weit draußen im Dunst glaubte Sebastian eine Erhebung, eine Insel zu erkennen. Die Entfernung war jedoch zu groß, um feststellen zu können, ob es sich dabei um Falméra handelte. Vielleicht war er auch einer optischen Illusion aufgesessen, dem Wunsch endlich ihr Ziel zu erreichen.
Sebastian wollte sich gerade abwenden und zum Lager zurückkehren, da entdeckte er noch etwas, das noch einmal seine Aufmerksamkeit forderte. Auf der Seite der Stadt, die den Bergen zugewandt war, glaubte er etwas sich durch die Luft bewegen zu sehen. Er kniff die Augen zusammen, bis ihm die Tränen kamen. Hatte er sich das nur eingebildet?
Ungeduldig wischte er sich die lästigen Tränen aus den Augen und spähte auf die Stadt hinunter. Da! Dort war es wieder! Ein Flugzeug! Die hatten also doch Flugzeuge! Es war zu weit weg, um Einzelheiten zu erkennen, aber Sebastian sah deutlich etwas Schwarzes, das über den Dörfern nahe der Stadt seine Kreise zog. War es nur ein Raubvogel? Womöglich täuschte die Ausgesetztheit seiner Position die Optik?
Nein, jetzt sah er es ganz deutlich! Dort unten drehte eine Flugmaschine ihre Runden, etwa fünfzig bis achtzig Meter über dem Boden. Sebastian verfolgte das Flugobjekt mit seinen Blicken, denn er hoffte auf diese Weise herauszufinden, wo sich der Flugplatz befand. Auf einem Mal sah er zwei Fluggeräte! Zweifelnd wischte er sich über die Augen und sah wieder hinunter. Zwei Flugzeuge!
Die Piloten mussten einen eigenartigen Sinn für Humor besitzen, denn sie vollführten einen wahren Lufttanz. Sie flogen umeinander, übereinander, haarscharf aneinander vorbei, dann ließen sie ihre Maschinen wieder im Sturzflug auf die erde zu rasen und fingen sie erst kurz vor dem Boden wieder ab. Dann stiegen sie wieder... Sebastian musste zwei Mal hinsehen!
Er glaubte es nicht, aber die Flügel dieser Maschinen bewegten sich! So etwas hatte er noch nie gesehen. Flugzeuge, die ihre Flügel wie Vogelschwingen bewegen konnten, um neuen Auftrieb zu erhalten! War es möglich, dass diese Kultur dort unten mehr über das Fliegen wusste, als die Wissenschaftler seiner eigenen hoch technisierten Welt? Vor allem: Wie schafften die das, mechanische Flügel so zu bewegen?
Nach und nach gewannen die Flugzeuge wieder an Höhe. Sie drehten noch ein paar Kreise, dann flogen sie zur Burg hinüber und verschwanden hinter den Zinnen des gigantischen Bauwerks. Sebastian wartete noch ein paar Augenblicke, doch die Maschinen blieben hinter den starken Mauern.
Konnte direkt hinter der Burgfeste ein Flughafen liegen? Aber diese beiden Flugzeuge waren die ersten und einzigen, die Sebastian in dieser Gegend gesehen hatte! Wer baute einen Flugplatz für nur zwei Maschinen? Andere Flugzeuge scheuten sich offenbar sogar davor, dieses Gebiet zu überfliegen, denn er hatte nie auch nur einen Kondensstreifen am Himmel gesehen.
Angespannt beobachtete Sebastian die Festung, um zu ergründen, ob nicht noch andere Jets, oder Propellermaschinen irgendwo hinter der Burg starteten. Aber es tat sich nichts! Allmählich musste er auch zum Lager zurück, denn Antarona fragte sich gewiss schon, wo er mit den Hunden blieb.
Gerade wollte er gehen, da tauchten die beiden Flugzeuge wieder auf. Als hätten sie ihren Flug niemals unterbrochen, kamen sie plötzlich hinter einem der dicken Wehrtürme hervor. Sie schlugen kräftig mit den Schwingen und arbeiteten sich in die Höhe. Dann hatten sie wohl genug Thermik, denn sie segelten gemächlich über die Ebene, zogen immer größere Kreise und es sah so aus, als suchten sie systematisch den Boden nach etwas ab.
Sebastian wartete noch. Wenn sie ihr Suchschema beibehielten, mussten sie irgendwann ziemlich nahe unter der Felswand und seinem Standort hindurch fliegen. Er war viel zu neugierig, was genau das für Flugzeuge waren, als dass er sich hätte schon zurückziehen können. Antarona musste noch warten!
Es dauerte noch eine ganze Weile, bis die Piloten ihre Schleifen in Bastis Richtung ausdehnten. So viel konnte er aber schon erkennen: Die Flügel dieser Fluggeräte waren denen von Fledermäusen nachempfunden. Allein die Mechanik interessierte ihn brennend. Wie war es möglich solch gelenkige Bewegungen zu erzeugen, ohne dass die Flügel brachen? Was für eine Statik steckte hinter all dem?
Endlich zogen die beiden Flieger einen so ausgedehnten Kreis, dass sie unweigerlich an der Felswand entlang gleiten mussten. Sebastian wartete geduldig. Synchron schwenkten die Flugzeuge in den Wind und segelten aus Osten heran. Je näher sie kamen, desto mehr nahmen sie Gestalt an. Sie strichen direkt an der Bergwand entlang, bekamen Auftrieb und flogen höher.
Mit einem Mal fiel es Sebastian wie Schuppen von den Augen. Das waren gar keine Flugzeuge! Was da heran rauschte, waren zwei Gore! Der Schrecken einer plötzlichen Erkenntnis fuhr ihm in die Glieder und er machte zwei Sätze zurück, in den Schatten der Felsen und Bäume.
»Reno, Rona...«, zischte er den beiden Hunden panisch zu, »...los, zurück.., kommt hier her!« Kaum, dass die beiden vom Felsvorsprung zurück wichen, rauschten die Flugsaurier vorüber. Sebastian nahm sie nur mehr als drohende Schatten wahr, dennoch zitterten ihm die Knie. Trotzdem wagte er sich wieder ein Stück nach vorn. Sein Herz schlug ihm dabei bis zum Hals.
Aber er musste unbedingt feststellen, wohin die beiden Viecher flogen. Wenn sie nun genug Höhe gewannen und über die Baumwipfel segelten, dann mussten sie unweigerlich Antarona entdecken, die sich noch ahnungslos im Lager aufhielt. Zu seiner Beruhigung änderten die beiden Gore ihre Flugrichtung, über die Ebene hinaus, kippten über die rechte Flügelfläche ab und ließen sich im schrägen Sturzflug wie fallende Kreisel absacken. Kurz über dem Boden gingen sie wieder in einen gleichmäßigen Gleitflug über.
Mit ziemlich großer Geschwindigkeit überflogen sie Quaronas, drehten dann zur Gebirgskette im Westen ab und verschwanden schließlich in einem der entfernt liegenden Seitentälern. Sebastian brauchte einen Moment, um sich wieder zu beruhigen.
Nun interessierte ihn, was Antarona zu seinen Erkenntnissen dieses Vormittags zu sagen hatte. Er machte sich auf den Rückweg. Rona und Reno preschten voran, als wollten sie Antarona das Erlebte als erste, noch vor Sebastian kund tun.
Ziemlich außer Atem erreichte er das Lager und Antarona schien ihn bereits zu erwarten. Reno und Rona standen am Fuße des Felsens, auf dem immer noch die Felle zum Trocknen ausgebreitet waren und sahen angespannt hinauf. Oben, unerreichbar für Balmers Hunde saßen Tekla und Tonka.
»Wo seid ihr so lange gewesen...«, fragte Antarona scheinbar neugierig, »...ihr wart eine große Zeit fort, Ba - shtie.« Sie stellte das nüchtern fest, doch Sebastian entging der lauernde Unterton in ihrer Stimme nicht.
»Wieso fragst du.., du weißt es doch«, gab er mit einem viel sagenden Blick auf Tekla und Tonka zurück. Ahnte Antarona, was er entdeckt hatte? Zweifelsohne hatten ihr ihre Krähen berichtet, wo er und die Hunde sich herum getrieben hatten. Wusste Antarona auch, was er gesehen hatte?
»Die Bündel liegen zum Aufbruch bereit, Ba - shtie...«, verkündete sie nun, »...wir können den Weg nach Falméra fortsetzen!«
Nein, also sie wusste es nicht! Sebastian aber wollte wissen, was Antarona sich in Bezug auf einen möglichen Konflikt mit Quaronas vorstellte. So dumm konnte selbst sie nicht sein, zu glauben, mit einer Hand voll Bauern gegen Quaronas antreten zu können.
»Antarona, würdest du mir mal bitte helfen, etwas zu verstehen«, bat er sie in einem eher fordernden Ton und ging zu dem Platz, von dem aus er am Vormittag die Burg aus dem Nebel ragen sah. Nun, das Bild hatte sich inzwischen geändert!
»Was bitteschön ist das dort unten.., kannst du mir das verraten«, forderte er sie auf, nachdem sie an seine Seite getreten war.
»Was glaubt ihr denn, Ba - shtie.., was es ist...«, tat sie verwundert über seine überflüssige Frage, »...das ist Quaronas!« Sebastian wusste nicht recht, ob er nun an ihrem, oder seinem Verstand zweifeln sollte.
»Das ist Quaronas.., ja? Das alles ist Torbuk.., so ist es doch oder?« Sebastian wartete erst gar keine Antwort ab.
»Mein Engelchen, dann verrat’ mir doch mal eines: Wie hast du dir das eigentlich vorgestellt, wenn diese Masse von Menschen dort unten einen ernsthaften Krieg mit den Dörfern des Val Mentiér beginnt? Wie willst du das da unten alles aufhalten? Mit den paar Männern aus fünf Dörfern?«
Sebastians Zweifel lagen auf Antarona. Die ließ seinen Vortrag aber eher unbeeindruckt. Ihre Blicke folgten ruhig und gelassen den Sebastians in die Tiefe und über das Land, das sich unendlich zu ihren Füßen erstreckte.
»Denkst du wirklich, wenn Torbuk diese ganzen Dörfer dort unten zusammentrommelt, dass wir die noch irgendwo stoppen können? Die überrennen uns einfach, verstehst du das? Die machen Kleinholz aus deinem Val Mentiér!« Sebastian sah seine Frau an, als wollte er sie aus einem tiefen Schlaf wecken.
»Das sind keine Dörfer, Ba - shtie...«, antwortete sie ihm in aller Seelenruhe, »...dort gibt es keine Dörfer.., nur die Stadt Quaronas. Was ihr dort unten seht, das sind die Heerlager der Truppen Torbuks und Kareks. In jeder von jenen runden Hütten schlafen drei der Reitersoldaten. Ihre Pferde befinden sich in den großen Hütten, die ihr am Ende der Lager seht. Wenn die Zeit der langen Sonne das Land beglückt, findet ihr die Pferde auf den Weiden.«
Völlig entgeistert nahm Sebastian sein Krähenmädchen bei den Schultern, zog sie dicht an sich heran und sah ihr forschend in die Augen. Er konnte nicht glauben, was er soeben gehört hatte. Kopfschüttelnd ließ er sie wieder los und deutete mit beiden Händen auf die in der fernen Tiefe liegende Stadt.
»Das sind bitte was?« Sebastian war außer sich. »Erklär’ mir das noch mal, mein Engelchen, ich glaube ich habe da etwas nicht verstanden. Habe ich richtig gehört, das dort unten, diese kleinen runden Dinger.., das sind Zelte von Torbuks Kriegern?« Fassungslos stierte er hinab und bemerkte erst gar nicht Antaronas stilles Nicken. Verzweifelt schlug er sich eine Hand vor die Stirn, dass ein lautes Klatschen über den Hang hallte.
»A - ber.., das sind ja Hunderte.., wenn nicht gar.., Tausende!« stotterte Sebastian völlig perplex. Er sah wieder seine Frau an, als wäre sie nicht mehr ganz zurechnungsfähig.
»Du willst mir also erzählen, das dort unten, diese Dinger um die Stadt herum, das sind alles Torbuks Truppen, ja? Keine Bauern, keine Dörfer.., sondern reine Truppenlager?« Ihm schwirrte der Kopf, bei dem Versuch sich vorzustellen, wie viele Männer Torbuk tatsächlich unter Waffen hatte.
»Viele Ival, die in Quaronas leben, hassen Torbuk und Karek.., nicht alle Menschenwesen dort unten sind der Burg treu, Ba - shtie. Viele von ihnen leiden unter den Herrschern in der Burg«, gab Antarona zu bedenken. Sebastian dachte kurz nach und sagte dann:
»Na, so wie es aussieht, werden die ja wohl nicht viel dagegen tun können, oder?« Und etwas energischer setzte er hinzu:
»Mensch Antarona.., wach mal auf!« Basti nickte mit dem Kopf zur Stadt hinunter. »Die Paar, die sich dort unten vielleicht gegen Torbuk stellen, sind eingesperrt, siehst du das nicht? Überall rund um die Stadt liegen die Heerlager! Die Menschen dort können ja nicht mal einen Schritt aus der Stadt machen, ohne dass Torbuk davon erfährt! Was glaubst du also, wie viel Unterstützung du aus Quaronas erwarten kannst.., na?«
Um seiner Verzweiflung Luft zu machen, wanderte Sebastian ein paar Mal im Kreis herum und rieb sich nachdenklich die Stirn. Mit dieser Erkenntnis... Wozu versuchten sie überhaupt noch zum König zu gelangen? Welche Hilfe konnte der ihnen noch geben, angesichts eines solch übermächtigen Gegners?
Ratlos trat Sebastian wieder neben Antarona, die noch immer auf die Stadt hinab starrte. Er legte ihr seinen Arm um die Hüfte und zog sie zu sich heran, um ihr zu zeigen, dass er selbst in der Aussichtslosigkeit noch zu ihr stand.
»Weißt du, mein Engelchen.., damit haben wir uns mehr eingebrockt, als wir schlucken können! So, wie ich das sehe.., werden die Götter selbst uns helfen müssen, wenn wir dein Tal, oder das ganze Land von Torbuks Einfluss befreien wollen. Wenn ich mir das da unten so ansehe...«, seufzte Sebastian tief, »...werden die uns ganz schön einheizen.«
Es sollte wie eine Warnung klingen, doch Antarona las selbst zwischen diesen Worten Sebastians noch Zuversicht. Was für ein glückliches Kind.., dachte Basti bei sich. Sie glaubte immer noch daran, ihr Volk befreien und im Val Mentiér glücklich und sorgenfrei leben zu können. Er atmete tief ein und wieder aus, als hätte er einen Entschluss gefasst.
»Na gut, meine mutige, kleine Frau...«, gab er sich Mühe, die Diskussion hoffnungsvoll zu beenden, »...versuchen wir es eben.., bin selber mal gespannt, wie weit wir kommen!« damit nahm er sie in den Arm und küsste sie versöhnlich auf die Stirn.
Er war hingerissen von ihrem Mut und ihrer Leidenschaft, mit der sie sich für ihr Volk einsetzte. Aber ebenso war er entsetzt und erschrocken über die Fehleinschätzung, mit der sie ihr Vorhaben betrachtete. Wahrscheinlich waren es die kleinen kriegerischen Erfolge gegen Torbuks Spähtrupps, die ihr eine erfolgreiche Befreiung der Ival von Torbuk vorgaukelten.
Ganz nebenbei ging Sebastian noch ein Licht auf, weshalb Torbuk dieses für ihn so lästige Krähenmädchen, das ihm offenbar schon länger auf den Nerven herum trat, nicht längst aufgestöbert und seinen Soldaten zum kurzweiligen Vergnügen vorgeworfen hatte. Wahrscheinlich interessierte ihn der Verlust von fünf bis zehn seiner Leute nicht weiter, denn er hatte ja eine Armee von Tausenden vor seiner Stadt liegen. Mit ihnen konnte er, wenn er dieser Laune nachgab, jederzeit in das Tal einmarschieren und innerhalb einer Woche alles dem Erdboden gleich machen!
Nur, und das wollte Sebastian nicht so recht in den Kopf gehen... Warum tat er es nicht? Was hielt diesen Tyrannen davon ab, das Tal einfach zu besetzen? Die paar Figuren, die er zur ständigen Kontrolle der Dörfler abstellen musste, konnten er doch getrost verschmerzen. Gab es noch ein Geheimnis, von dem Sebastian nichts wusste? Bei dem Gedanken fiel ihm wieder etwas anderes ein.
»Sag mal, Antarona...«, begann er umständlich, »...als ich vorhin mit Rona und Reno unterwegs war, da habe ich zwei Gore gesehen, die über das Land geflogen sind, als ob sie etwas gesucht hätten...«
»Ba - shtie...«, unterbrach sie ihn zweifelnd, »...die Gore sind fort! Ihr habt sie selbst in das Land der wandernden Sonne ziehen sehen!« Sebastian musste ihr widersprechen.
»Na ja, diese beiden jedenfalls sind nicht fort gezogen. Sie flogen erst über die Heerlager, dann zur Burgfeste hinauf, wo sie eine Weile blieben, dann zogen sie weite Kreise über das Land, als suchten sie nach etwas.«
Antarona überlegte und schüttelte kaum merklich den Kopf. Dann sah sie Sebastian an, mit einer Ungläubigkeit in ihrem Blick, der Bände sprach. Sie wagte jedoch nicht, in Frage zu stellen, was Sebastian gesehen hatte, oder auch nicht. Sie antwortete eher für ihre eigenen Gedanken, doch immer noch so laut, dass Sebastian es deutlich verstehen konnte.
»Alle Gore ziehen gemeinsam in das Land der Sonne. Niemals lassen sie ein Tier zurück, außer jene, die nicht mehr fliegen können. Gore meiden die Menschen.., sie fliegen nicht über ihre Dörfer und Städte und sie fliegen auch nicht auf Burgen. Sie tun all diese Dinge nicht!«
»Diese haben es aber getan...«, versicherte ihr Sebastian, »...frag’ mich nicht wieso, aber sie haben genau alles das gemacht, was sie deinem weisen Ratschluss nach niemals tun!« Sebastian wollte sicher stellen, das er sehr wohl noch bei klarem Verstand war und genau wusste, was er gesehen hatte.
»Und sie sind dort hinten, in dem vierten, oder fünften Seitental verschwunden!« fügte er seiner Beobachtung noch nachträglich hinzu, als er bemerkte, dass seine Gefährtin angestrengt in das Land hinaus sah. Sie schien über etwas nachzudenken und Sebastian vermutete, dass sie bereits eine vage Ahnung hatte.
»Kannst du dir das erklären, Antarona.., wieso da noch zwei Gore in der Landschaft herum segeln?« hakte er vorsichtig nach. Antarona straffte sich plötzlich, drehte sich um und lächelte ihn an. Mit einem gleichgültigen Schulterzucken ging sie zu den bereit gestellten Bündeln und zu Sebastians Rucksack zurück.
»Die Gore werden den Aufbruch ihrer Gefährten versäumt haben...«, erklärte sie ihm noch über die Schulter hinweg, »...darum sind sie noch im Land der schlafenden Sonne, in Volossoda!«
Sebastian glaubte ihr kein Wort. Als die vielen hundert Gore über ihre Köpfe hinweg nach dem Süden gezogen waren, hatten diese so einen Höllenlärm veranstaltet, als startete ein Düsenjet! Und das sollten ihre Artgenossen einfach so verpennt haben? Eher wahrscheinlich war, dass Antarona irgend eine Ahnung, einen ungeheuerlichen Verdacht hatte, der so unwahrscheinlich klingen würde, dass sie ihn lieber noch für sich behielt, bis sie einen glaubhaften Hinweis bekam, der ihre Vermutung bestätigen konnte.
Inzwischen war der Schnee an vielen Stellen fast vollständig geschmolzen. Kleine Bäche und Rinnsale bahnten sich im Sonnenlicht blitzend und blinkend einen Weg zu Tal. Es wurde angenehm warm, lediglich im Schatten der Felsen und Bäume herrschte noch der Frost.
Sie zogen weiter auf den Hängen entlang, die bereits flacher wurden und mehr und mehr von Wald bedeckt waren. Doch über ihnen warfen sich noch immer schwindelnde Felsfluchten auf, auch wenn die Gletscher nur noch aus der Ferne herab glänzten. Die hohe Bergkette, der sie viele Tage lang gefolgt waren, setzte sich nach Süden fort. Nach Osten, ihrem Ziel entgegen, breiteten sich zunächst bewaldete Hügel aus, die aber immer flacher zu werden schienen.
Am Abend sahen sie die hohen Berge mit ihren weißen Flanken nur noch ab und zu durch die hohen Nadelbäume blitzen. Ihr Lager für die kommende Nacht befand sich auf der Südseite eines kleinen Berges, ein paar Meter unter seinem Fels durchsetzten Kamm. Mächtige Nadelbäume wuchsen über ihnen in die Höhe. Sie sahen aus, wie knorrige Arven, besaßen aber bis zwanzig Zentimeter lange Nadeln, ähnlich einer Kiefer.
Der Wald, den sie zuletzt durchschritten hatten, war trocken. Es war warm und duftete stark nach dem Holz und den ätherischen Ölen von Kiefern. Überall trat der Fels aus dem Boden und verhinderte die Ausbreitung von Unterholz und niederen Pflanzen. Nur dort, wo sich etwas Humus angesammelt hatte, wuchs ein trockenes, sprödes Gras, das so grau und braun war, wie der Fels.
Ihren Lagerplatz für die Nacht wählte Antarona bewusst auf der Südseite hinter dem Kamm aus. Erstens war der Platz vor dem eisigen Wind halbwegs geschützt und zweitens...
»...können wir ein Feuer machen, dass von Quaronas aus nicht zu sehen ist«, belehrte ihn seine in der Wildnis erfahrene Frau. Der Lagerplatz erwies sich als gut gewählt. In der Nacht zogen Wolken auf und es begann erneut zu schneien. Auf der geschützten Seite des Kammes blieben sie aber vom eisigen Wind etwas verschont.

Unter verhangenem Himmel schälten sie sich am Morgen aus den Fellen. Sie waren regelrecht zugeschneit worden und mussten sich kräftig schütteln, um die weiße Pracht von den Pelzen zu werfen. Es war kalt und windig.
Die hohen Bäume, die am Tag zuvor noch einen intensiven, angenehmen Duft gespendet hatten, standen nüchtern drohend über ihren Köpfen. Der Wind fuhr ab und zu launisch zwischen ihre Wipfel und fegte Schneefontänen aus ihren Kronen. Die alten knorrigen Stämme wankten und ließen ein bedrohliches Knarren und Knacken hören.
Sebastian suchte die hohen Berge, an deren Flanken sie tagelang gewandert waren. Doch außer tief liegenden Wolken, die eilig dahin zogen, konnte er nichts erkennen. Während Antarona den Schnee aus den Fellen klopfte, suchte Sebastian Holz und Reisig für ein Feuer zusammen.
Nachdem sie sich an den kleinen Flämmchen etwas aufgewärmt und ein Stück Fleisch geröstet hatten, schulterten sie Waffen und Gepäck und stiegen auf den Bergkamm. Dort blies der Wind stetig und steif. Sebastian erinnerte sich an den Tag, an dem er im Bauwagen saß und in der Zeitung seines Kollegen von den Knochenfunden am Zwischbergenpass las. Es war ein ähnlich ungemütlicher Tag.
Wie oft hatte er diese Bauwagen verflucht, in die er morgens hinein kam, die eiskalt waren, weil irgend jemand die Stromzufuhr gekappt hatte. Manchmal musste er in vom Vortag noch nasse Arbeitskleidung schlüpfen, die auf dem windigen Baugerüst erst zur Mittagsstunde zu trocknen begannen. Es war, zumindest im Herbst und Winter, eine düstere, unerfüllte Welt. Er fristete sein Dasein in der Monotonie des immer wiederkehrenden, gleichen Ablaufs mit ungewissem Ziel.
Im Dunkeln, im kalten Regen auf dem Fahrrad zur Baustelle strampeln, nass werden, nass in nasse Klamotten steigen und im kalten Wind auf das triefend nasse Baugerüst klettern. Die Schlechtwetterregelung für das Baugewerbe griff nicht immer. Am Abend stieg er durchgefroren wieder von den Gerüstbohlen herunter und es war schon wieder dunkel, wenn er seine Wohnungstür aufschloss. Tag für Tag, Woche für Woche, mindestens vier bis fünf Monate im Jahr.
In seiner überheizten Wohnung träumte er dann vom Ausbruch aus diesem Trott. An große Ziele dachte er, an Abenteuer, an eine Welt, die ihm neue, interessante Chancen bieten würde. Sebastian Lauknitz wollte entdecken, schaffen, etwas bewegen, ein neues Leben!
Wer auch immer ihm zugehört hatte, wer sich seiner Wünsche und Sehnsüchte angenommen hatte, der hatte es wörtlich genommen! All das, was sich Sebastian in seinem Leben der eintönigen Sicherheit erträumt hatte, all seine heimlichen Sehnsüchte, Wünsche und Vorstellungen hatte der heimliche Zuhörer wahr werden lassen!
Nur... Es war wieder kalt und dunkel, es war windig und das Ziel war ein ebenso ungewisses, wie das seines Handwerkerdaseins. Mit ein paar Ausnahmen! Abenteuer hatte er nun mehr, als er sich je in Träumen vorgestellt hatte. Ausbruch aus der Eintönigkeit? Kein Problem! Stets musste er in dieser Welt darauf gefasst sein, töten zu müssen, um selbst zu überleben.
Interessante Chancen, entdecken, schaffen, etwas bewegen? Was für eine größere Chance gab es noch, als sich in einem Fantasieland die Rolle eines Königs zu erkämpfen? Und selbst seine heimlichen Sehnsüchte waren erhört worden! Antarona als beinahe perfekte Reinkarnation von Janine hatte sein Herz im Sturm erobert.
Er ließ es geschehen, in Gedanken abzuwägen, welche Welt ihm letztlich angenehmer war. Sebastian ertappte sich dabei, einer gewissen Faszination dieser neuen Welt zu erliegen. Ein Land, das noch alle Chancen bot, dessen Umwelt noch nicht mit Müll und Abgasen belastet war. Kämpfe, die uralte, fast verkümmerte Gene des Menschen wieder belebte und in die Abgründe der menschlichen Seele ungestraft Einblick verschaffte.
Und nicht zuletzt das wunderbare Wesen an seiner Seite! Eine Frau mit den Vorzügen Antaronas hätte in seiner Welt für den verschmutzten Bauarbeiter kaum mehr als einen geringschätzigen Blick übrig gehabt. Meist waren es verwöhnte Schnepfen, die er anziehend fand, Töchter reicher Väter, ohne jegliches soziales Verständnis und ohne innere Werte als Grundlage eines gemeinsamen Lebens. Janine war die Ausnahme! Allerdings vor einer halben Ewigkeit von fünfzehn Jahren!
Auf einem Mal kam Sebastian seine Situation gar nicht mehr ganz so aussichtslos vor. Er konnte selbst den dahin ziehenden Wolken etwas positives abgewinnen. Die Schneefahnen aus den Baumwipfeln ärgerten ihn plötzlich nicht mehr, wenn sie ihren kalten, nassen Staub über sein Haupt ergossen. Er betrachtete den kalten Wind, eben noch verflucht, als Herausforderung, oder als Waffenbruder, der Torbuks Soldaten in ihre Hütten und Unterkünfte trieb.
Antarona... Sein Blick fiel auf das Krähenmädchen, das vor ihm her durch den Schnee stapfte. Ohne eine Klage auf den Lippen ertrug sie mehr, als Sebastian je in seinem Leben aushalten musste. Sie tat es mit Würde, mit einer Reife, die für eine so junge Frau ungewöhnlich war und mit Liebe. Sie tat es mit der Liebe zu ihm, dem Mann, den sie trotz seiner Unzulänglichkeiten vergötterte, sowie mit der Liebe zu ihrem Volk, zu ihrem Land, mit dem sie sich verwurzelt fühlte.
So eine Frau war in der Lage Leben zu schenken, ein gemeinsames Leben aufzubauen und zu erhalten. Was wollte er mehr? Schon für sie allein war es ihm wert, einen barbarischen, primitiven Kampf zu fechten, der beinahe ohne Aussicht auf Erfolg war. Für sie wagte er es. Sie war die Erfüllung der Sehnsucht, die er nach Janines Tod gesucht und entbehrt hatte!
Diese Gedanken gaben ihm neuen Auftrieb, Kälte, Schnee, körperliche Anstrengungen und Ungewissheit zu ertragen. Ein Mensch hält vieles aus, wenn er weiß wofür! Wo hatte er diesen Satz schon einmal gehört? Er hatte ihn gehört, irgendwo, ihm aber nie mehr Beachtung geschenkt, als ein müdes Lächeln. Nun lächelte Sebastian nicht mehr, sondern nickte still.
Den ganzen Tag wanderten sie durch Wald, den scheinbar noch nie eines Menschen Fuß betreten hatte. Auch am nächsten Tag änderte sich das Landschaftsbild wenig. Einzig die Hügel, über die sie zogen, wurden flacher und der Wald wechselte vom Nadelwald in Laubwald. Dickicht und Unterholz wurden dichter, zuweilen schon undurchdringbar.
Der dritte Tag brachte wieder Schnee. Feine Eiskristalle schwebten unaufhörlich zu Boden. Dafür ließ der Wind nach. Das Buschwerk zwischen mächtigen Laubbäumen behinderte immer mehr ihr Vorankommen. Eine Orientierung war kaum mehr möglich. Die hohen Berge waren hinter dichten Wolken verschwunden, die Gestirne ließen sich ebenso wenig sehen und im Schneetreiben war oft nicht mehr als vier bis fünf Meter weit zu erkennen, wohin sie eigentlich gingen.
Anfangs setzte Sebastian seinen Ehrgeiz in den Versuch, mit seinem Schwert eine Schneise in das dichte Gestrüpp des Unterholzes zu schlagen, um seiner Frau einen bequemeren Weg zu ermöglichen. Doch zum einen kamen sie dadurch nur noch langsamer voran und zum anderen erlahmte sein Arm schon nach drei Metern.
Zweifelnd dachte Sebastian an das Märchen vom Dornröschen der Gebrüder Grimm, das er als Kind gern gehört hatte. Wie kamen Menschen auf solche Geschichten? Selbst sein kurzes Schwert wog bereits an die zwei Kilogramm. Wie bitte schön konnte sich ein verwöhnter Königssohn mit einem mächtigen Ritterschwert in kürzester Zeit einen Gang durch dorniges Buschwerk schlagen?
Ein vergnügtes Schmunzeln machte sich auf Sebastians Gesicht breit. Er hatte bereits seine Prinzessin! Antarona sah in ihm ja bereits Areos, den Königssohn. Und eine bessere, schönere Prinzessin hätte er sich nicht erträumen können!
     
  Wichtiger Hinweis: Die Texte des Autors Frank Adlung, insbesondere die des Romans "Das Geheimnis von Val Mentiér", sind durch notarielle Hinterlegung urheberrechtlich geschützt. Ein Herunterladen und Ausdrucken ist nur für den privaten Zweck des Lesens gestattet. Kommerzielle Nutzung, öffentlicher Vortrag, oder Vervielfältigung und Verfälschung des Inhalts, sowie öffentliche Verbreitung ohne Genehmigung des Autors sind untersagt und werden zur Anzeige gebracht.
 
 
 
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1. Kapitel     Prolog     Kapitel anzeigen
2. Kapitel     Pressemitteilung     Kapitel anzeigen
3. Kapitel     Das Versteck     Kapitel anzeigen
4. Kapitel     Seltsame Begegnung     Kapitel anzeigen
5. Kapitel     Absturz     Kapitel anzeigen
6. Kapitel     Der Alte     Kapitel anzeigen
7. Kapitel     Falméras Medicus     Kapitel anzeigen
8. Kapitel     Gors Angriff     Kapitel anzeigen
9. Kapitel     Geheimnisvolle Entdeckungen     Kapitel anzeigen
10. Kapitel     Unheimliche Dörfer     Kapitel anzeigen
11. Kapitel     Krähenmädchen     Kapitel anzeigen
12. Kapitel     Schwarze Reiter     Kapitel anzeigen
13. Kapitel     Mutige Freunde     Kapitel anzeigen
14. Kapitel     Missverständnisse     Kapitel anzeigen
15. Kapitel     Das Werk der Götter     Kapitel anzeigen
16. Kapitel     Der Holzer     Kapitel anzeigen
17. Kapitel     Der Achterrat     Kapitel anzeigen
18. Kapitel     Das Vermächtnis des Unbekannten     Kapitel anzeigen
19. Kapitel     Der Verrat     Kapitel anzeigen
20. Kapitel     Der Weg nach Falméra     Kapitel anzeigen
21. Kapitel     Jäger des Glücks     Kapitel anzeigen
22. Kapitel     Die weiße Stadt     Kapitel anzeigen
23. Kapitel     Im Banne des Throns     Kapitel anzeigen
24. Kapitel     Verbotene Liebe     Kapitel anzeigen
25. Kapitel     Auf verborgenen Wegen     Kapitel anzeigen
26. Kapitel     Sehnsucht und Leidenschaft     Kapitel anzeigen
27. Kapitel     Heimliche Ausflüge     Kapitel anzeigen
28. Kapitel     Gefangen     Kapitel anzeigen
29. Kapitel     Das freie Land     Kapitel anzeigen
30. Kapitel     Ein heimlicher Pakt     Kapitel anzeigen
31. Kapitel     Heimliche Flucht     Kapitel anzeigen
32. Kapitel     Auf nach Mehi-o-ratea     Kapitel anzeigen
33. Kapitel     Verschleppt     Kapitel anzeigen
34. Kapitel     Die Hölle der Îval     Kapitel anzeigen
35. Kapitel     Angriff der Dämonen     Kapitel anzeigen
36. Kapitel     Das Dorf der ewigen Jugend     Kapitel anzeigen
37. Kapitel     Die geheimnisvollen Unbekannten     Kapitel anzeigen
38. Kapitel     Schlechte Nachrichten     Kapitel anzeigen
39. Kapitel     Standgericht     Kapitel anzeigen
40. Kapitel     Ein langer Weg zurück     Kapitel anzeigen
41. Kapitel     Die Hölle bricht los     Kapitel anzeigen
42. Kapitel     Prophezeiungen und allerlei Vermutungen     Kapitel anzeigen
             
             
             
             
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