Das Geheimnis von Val Mentiér
 
22. Kapitel
 
Die weiße Stadt
 
m die Mittagszeit, es war der vierte, oder fünfte Tag nach den Ereignissen im Sumpf, übten Antarona und Sebastian eine schnelle Ausweichdrehung, bei der ein potentieller Feind sein Schwert in den Boden rammen würde und ihre eigene Waffe ihm in die Kniekehlen fahren konnte.
Die Temperaturen lagen knapp über dem Gefrierpunkt und die kraftlose Sonne des Winters bedachte das Land nur noch mit mäßiger Wärme. Ein Kampftraining kam da gerade recht, um sich aufzuwärmen. Das Gelände war ebenfalls geeignet, denn seit zwei Stunden liefen sie über Sanddünen, die nur sporadisch mit langen und spröden Gräsern bewachsen waren.
Antarona wollte ihrem Waffenlehrling gerade die Verteidigung gegen einen angenommenen Gegner beibringen, der von erhöhtem Standort aus attackierte. Sebastian sollte sie von der Kuppe einer Sanddüne aus angreifen, während sie ihn aus der tieferen Position heraus abwehren wollte.
Also stürmte er den Sandberg hinauf, wollte sich oben umdrehen und sich sogleich auf seine gespielte Widersacherin stürzen. Doch mitten in der Bewegung hielt er inne und ließ staunend sein Schwert sinken. Vor seinen Augen tat sich eine neue Welt auf!
Ein paar kleinere Dünen lagen noch zu seinen Füßen, dann jedoch breitete sich nach beiden Seiten ein feiner, weißer Sandstrand aus, so weit sein Blick reichte. Und dahinter lag das Meer! Mit dunklen Grün- und Blautönen schimmerte die Wasseroberfläche im sanften Wellengang. Kleine Gischthäubchen auf den Wellenkämmen verrieten stärkere Winde weiter draußen in der See.
Sie hatten es geschafft! Sie waren endlich am Meer, an welchem auch immer, auf jeden Fall am Meer! Sebastian dachte kurz daran, dass an dieser Stelle womöglich der Weg nach hause begann. Vielleicht lag hinter diesem Meer die Welt, die er vor Wochen, oder Monaten verlassen hatte. Bei diesem Gedanken wurde ihm bewusst, dass er völlig das Gefühl für Zeit verloren hatte, so, wie er sie kannte.
Irgend etwas kitzelte ihn plötzlich an der Schulter. Antarona war zu ihm auf den Kamm der Düne geklettert und stand unvermittelt hinter ihm. Der Seewind erfasste ihr rückenlanges Haar und wehte es ihm um den Körper. Er spürte, wie sich ihre warmen Brüste gegen seinen Rücken pressten und sie ihre Arme von hinten um seine Hüfte legte.
»Das, Ba - shtie, ist das große Wasser!« flüsterte sie ihm geheimnisvoll ins Ohr. Dann hob sie den rechten Arm und deutete zum Horizont, wo Sebastian mit Mühe und einiger Phantasie den Schatten eines Berges von mächtigen Wolken unterscheiden konnte.
»Falméra, Ba - shtie.., dort ist Falméra! Die Götter haben es zum Anbeginn der Zeit in das große Wasser gesetzt, als Sitz für die Könige der Menschenwesen!« erklärte sie ihm. Sebastian sah angestrengt zu dem Schatten hinüber, der ein Land im Meer sein sollte. Wenn das stimmte und er die Entfernung richtig einschätzte, dann lag dort draußen eine riesige Insel, weit, weit weg vom Festland. Es konnten gut und gerne hundert, zweihundert, oder sogar dreihundert Kilometer sein!
»Wie um Himmels willen wollen wir denn da hin gelangen?« fragte er seine Frau entsetzt. Egal wohin er seinen Blick wandte, er konnte weder ein Boot, eine Fähre, oder ein Schiff erkennen, noch gab es Anzeichen für einen Hafen in erreichbarer Nähe.
»Die Plon-ta werden uns über das große Wasser nach Falméra tragen.«, verkündete sie wie ganz selbstverständlich.
»Wer sind die Plon-ta?« fragte Sebastian mit einem unguten Gefühl im Bauch. Er konnte nicht sagen, woher seine Skepsis kam, die sich bei einem bestimmten Tonfall Antaronas in seinem Bauch breit machte. Kannte er Antaronas Wesenszüge inzwischen so gut, dass er bereits ahnte, wenn sie wieder etwas Verrücktes vor hatte?
»Die Plon-ta sind die Bewohner des großen Wassers, Ba - shtie.., sie sind die Geschöpfe der Götterwesen, wie die Ival.., ihr müsst sie nicht fürchten!« beruhigte sie ihn, noch bevor er etwas sagen konnte. Hatte sie sich ebenfalls an das Wesen seiner ständigen Skepsis gewöhnt? Warum sonst beschwichtigte sie ihn schon, bevor er sich geäußert hatte?
...die Bewohner des großen Wassers.., gerade das war es ja, was er fürchtete! Wieder eine ihrer Überraschungen, die ihn an seine physischen Grenzen bringen würde, oder doch nur eine harmlose Sache? Bei Antarona hatte er in kürzester Zeit gelernt, auf alles gefasst zu sein!
»Und wann kommen diese Plon-ta, um uns abzuholen?« wollte Sebastian noch wissen. Antarona schmiegte sich von hinten an ihn und er wusste nicht zu sagen, ob sie ihn für das neue Unbekannte besänftigen wollte, oder nur einfach Schutz vor dem kalten Seewind suchte. Sebastian drehte sich um und drückte seine kleine Frau fest an sich, aber mehr, um ihr tief in die Augen sehen zu können, als denn, um ihrem unbekleideten Körper Wärme zu spenden.
»Na.., mein Engelchen...«, fragte er nachdrücklich, »...wann kommen deine Plon-ta.., wann holen sie uns ab?« Ihre Hände wanderten über seine Schultern und seinen Hals, nahmen seinen Kopf in ihre Mitte und übten leichten Druck aus, indem sie ihre Stirn an seine drückte und ihm einen verführerischen Kuss versprach. Noch während sich ihre Lippen berührten, hauchte sie:
»Sonnenherz wird die Freunde aus dem großen Wasser in der Zeit der schlafenden Sonne rufen, wenn alle Augen schlafen!« Dann wurde seine Frage nach den Plon-ta von ihren wilden Küssen und dem betörenden Duft ihrer Haut davon gespült und sie sanken in den Windschatten der großen Düne, deren Sand sich in der Sonne angenehm erwärmt hatte. Die Euphorie, ihrem Ziel endlich greifbar nahe zu sein, ließ sie für ein paar Minuten die Welt um sie herum vergessen. Nun hatten sie es ja nicht mehr eilig, bis zur Zeit der schlafenden Sonne!
Anschließend hatten sie den feinen Sand in jeder Pore ihrer Körper. Und im Windschatten der großen Sanderhebung wurde es trotz der Jahreszeit drückend warm.
»Ich springe jetzt erst mal ins Meer...«, verkündete Sebastian übermütig und voller Hoffnung, endlich ein ausgiebiges Bad nehmen zu können.
»Ihr könnt nicht in das Wasser gehen, Ba - shtie...«, bremste Antarona seinen Enthusiasmus. Sebastian kniff die Augen zusammen und sah sie durch die Schlitze hindurch an.
»Ach.., und warum, bitte schön, kann ich nicht? Vor uns liegt ein super Strand, von dem man nur träumen kann, es gibt kristallklares Wasser, und ich bin schmutzig! Viel mehr Übereinstimmung braucht es doch wohl nicht!« dachte er laut. sind
»Ba - shtie.., Torbuks Reiter kommen oft am großen Wasser entlang...«, warnte sie ihn, »...sie wollen verhindern, dass die Wasserwagen der Oranuti an das Land kommen und dem Volk Waffen und andere Dinge bringen, oder Boten nach Falméra übersetzen. Erst, wenn Tal-ruun, die Sonne hinter den Bergen die Augen schließt, können Sonnenherz und Glanzauge an das Wasser gehen, das wie Tränen schmeckt.«
Sebastian war immer noch nicht überzeugt. Er kletterte wieder die Düne hinauf und spähte über den Kamm.
»Also, ich kann niemanden entdecken...«, rief er zu Antarona hinunter, »...nur einen Augenblick, ja.., nur kurz hinein springen und gleich wieder raus!«, versuchte er seine Idee zu verteidigen. So verlockend lag der einsamste, schönste und größte Strand, den er im Leben gesehen hatte, in der Sonne, dass er versucht war, einfach los zu laufen.
Antarona ahnte, was in ihrem Mann vorging. Sie folgte ihm, packte ihn am Fußgelenk und zog ihn spielerisch wieder über den lockeren Sand zurück.
»Seid nicht dumm, Ba - shtie...«, ermahnte sie ihn, »...die Wilden Horden kommen so schnell, ihr könnt ihnen nicht mehr entkommen, wenn ihr ohne Deckung auf dem flachen Sand steht!« Enttäuscht schlug er den Blick nieder und verzog das Gesicht zu einer Maske genervter Hoffnungslosigkeit.
»Das kann doch wohl nicht wahr sein...«, schimpfte er in sich hinein, »...da entdeckt man so einen Traumstrand und man kann nichts damit anfangen, weil so ein dämlicher Knacker das Land tyrannisiert! Langsam werde ich aber echt...«
Weiter kam er nicht. Wieder waren es Reno und Rona, die stocksteif im Tal der Sandlandschaft standen und das Meer anknurrten, das sie nicht einmal sehen konnten. Sebastian sah Antarona an, dann ergriff er sein Schwert und schlich sich wieder die Düne hinauf. Vorsichtig spähte er über den Sandkamm.
Von Norden her kam ein Trupp vor Torbuks Soldaten angeritten. Sie waren noch ziemlich weit weg, näherten sich aber schnell. Antarona lag plötzlich neben ihm im Sand und hatte außer Nantakis noch Pfeile und Bogen in der Hand. Ihre langen Haare hatte sie sich unordentlich nach hinten zusammengerafft und festgebunden. Es hätte auch eine fatale Wirkung gehabt, wenn der Seewind ihre Haare erfasst und als weithin sichtbare Standarte über den Hügelkamm hinaus geweht hätte.
Die Reiter galoppierten den Strand entlang. Gerieten ihre Pferde zu nahe an das Wasser, so spritzten und wirbelten Fontainen auf, die tausendfach in der Sonne blinkten und blitzten. Eigentlich hätte es ein schöner Anblick sein können und Sebastian erinnerte sich an diverse Kitschpostkarten, die so ein Bild zeigten. Auf ihnen trugen die Reiter freilich keine schwarzen, mittelalterlichen Rüstungen.
Ohne zu halten trabte der Pulk vorüber und verschwand irgendwann als kleines Pünktchen kilometerweit entfernt. Sebastian drehte sich erleichtert auf den Rücken und glitt ein Stück weit auf dem losen Sand die Düne hinab.
»Kannst du mir sagen, wo die hin reiten«, fragte er neugierig. Antarona rutschte neben ihn, blinzelte in die Sonne und zuckte unwissend mit den Schultern. Dann wiegte sie den Kopf hin und her, als überlegte sie.
»Die werden bis dorthin reiten, wo die Felsen in das große Wasser gehen.., Sonnenherz hat dort oft die Spuren ihres Lagers gefunden. Dort führt der Weg nicht weiter, denn die Felsen steigen steil hinauf und mit Pla-kas, den Pferden, kommt man dort nicht weiter.« Sebastian staunte, wo überall sich sein Krähenmädchen bereits herumgetrieben hatte!
»Und wann glaubst du, kommen die wieder zurück?« bohrte er weiter. Erneutes Schulterzucken. Ihre Sinne schienen in eine weite Ferne zu schweifen, denn ihre Antwort kam leise und monoton, als erzählte sie eine uralte Geschichte.
»Sonnenherz war vor ein paar Sommern mit einer Freundin hier, um die Elsiren zu sehen...«, begann sie gedankenverloren, »...es war jene Tochter der Ival, welche ihr nach dem Überfall auf Zumweyer gesehen habt, Ba - shtie.., jene, welche die Muscheln trug und zu den Göttern gerufen wurde.., jene, deren Vater euch sein Schwert angeboten hatte...« Antarona griff mit der Rechten in den feinen Sand und ließ ihn langsam durch ihre Finger rieseln, so, als würde die Zeit der Erinnerungen aus ihrem Gedächtnis an ihr vorüber ziehen.
»Sonnenherz und Alaoea beobachteten die schwarzen Reiter und folgten ihnen. Dort, wo die Steine in das große Wasser fallen, hatten die Pferdesoldaten ein großes Lager, in dem sie die schlafende Sonne verbrachten. Manchmal ritten sie noch vor Dunkelheit zurück. Ein anderes Mal brachten sie sich vier, oder fünf Töchter der Ival mit... Und Mestas.., Ba - shtie.., viel Mestas!« Antaronas Augen bekamen einen traurigen Glanz und füllten sich mit Tränen, die in dünnen Spuren über ihr Gesicht liefen. Sebastian konnte sich nur zu gut vorstellen, was die beiden Mädchen an jenem Tag gesehen haben mussten.
Antarona zitterte, begann plötzlich zu frieren. Sebastian holte eines ihrer Felle, hängte es ihr um und nahm sie tröstend in den Arm. Mittlerweile spürte auch er die Kälte, die trotz der Sonne unter seine Haut kroch. Solange sie mit den Schwertern geübt hatten, konnten ihnen weder Wind noch die kühle Temperatur etwas anhaben.
»Wenn die so weit reiten und dann erst lagern, dann haben wir vor denen doch eine Weile Ruhe, oder nicht?« griff Sebastian das Thema wieder auf. Antarona schüttelte den Kopf und wischte sich die letzten Tränen von den Wangen.
»Nein, Ba - shtie, manchmal reiten mehr als ein Trupp auf dem Sand am Wasser entlang. Sie reiten, wie die Wolken am Himmel ziehen, stets anders, als man denkt.«
»Das heißt...«, resignierte er laut, »...wir sitzen hier fest, bis uns die Plon-ta abholen; na das ist ja ganz großartig!« Sein Ansatz von Sarkasmus entlockte Antaronas Augen zweifelnde Blicke.
Sebastian ließ sich im losen Sand ganz hinab gleiten, zwischen die beiden Dünen, wo ihre Bündel lagen. Es war erträglich warm, denn die Sonne schien in den Kessel aus Sand und die tiefe Senke lag windgeschützt. Er breitete seinen Schlafsack aus, drapierte seine Tüten als Kopfkissen darüber und streckte genüsslich seine müden Glieder aus.
»Dann will ich noch ein wenig ausruhen, bevor deine Freunde hier aufkreuzen...«, verkündete er mehr für sich selbst und zu seiner Frau gewandt sagte er:
»Warum legst du dich nicht zu mir.., Reno und Rona werden uns schon warnen, wenn Gefahr droht!« Antarona überlegte eine Weile, kam dann aber mit einem Schub von Sand herab gerutscht. Sie legte ihren Kopf auf Sebastians Arm und drängte sich an ihn, wie eine Katze an einen Ofen. Sebastian gefiel das, er atmete tief aus, genoss ihre Nähe und ließ seine Gedanken fahren...

Ein Kitzeln in Sebastians Gesicht weckte ihn. Er hatte tief und fest geschlafen. Das permanente, monotone Rauschen des Meeres hatte ihn schnell in das Land der Träume entführt. Die Müdigkeit hielt ihn noch fest umklammert und irgend etwas in ihm wehrte sich gegen die Störung, die seinen erholsamen Schlaf beenden wollte.
Wieder das Kitzeln im Gesicht. Mit einer müden, fahrigen Bewegung seiner Hand wischte er das lästige Unbekannte fort und rieb sich die Wange, wo er es eben noch gespürt hatte. Doch wie eine hartnäckige Fliege war es sofort wieder da. Er ließ es einen Moment lang gewähren, denn er war zu müde und noch nicht wach genug, um vollends dagegen aufzubegehren.
Er verzog das Gesicht, schnitt Grimmassen, um es zu verscheuchen, doch vergebens. Wütend schlug er die Augen auf und wollte hochfahren. Antaronas warme Handfläche drückte ihn sanft zurück. Die Fingerspitzen ihrer anderen Hand legten sich auf seinen Mund und geboten ihm, ruhig zu sein.
»Es ist Zeit, Ba - shtie.., ihr müsst aufwachen.., wir brechen bald auf!« Ihre sanfte Stimme verführte ihn dazu, seine Augen wieder zu schließen und weiter zu träumen. Das Erlebte der letzten Tage zog langsam hinter einem schwarzen Vorhang an ihm vorüber. Dazu hörte er die Wellen des Meeres rauschend an den Strand schlagen.
Mit einem Schlag war er hellwach. Die Erinnerung sickerte in seinen Kopf zurück, als hätte sie ihn zuvor fluchtartig verlassen. Sie waren am Meer... Sie warteten auf die Plon-ta, die sie nach Falméra bringen sollten! Sebastian öffnete erneut die Augen und blickte in einen Sternen übersäten Himmel. Antarona beugte sich über ihn und ihre langen Haare kitzelten ihm um die Nase.
»Sind deine Freunde schon da?« fragte er sie erwartungsvoll und rappelte sich verschlafen hoch. Antarona antwortete knapp und geheimnisvoll:
»Nein, Ba - shtie.., Sonnenherz wird sie nun rufen!« Verständnislos blickte er ihr nach, als sie sogleich die Düne hinauf stieg. Wie um alles in der Welt wollte sie in dieser einsamen Gegend einfach mal so ein Schiff, oder ein Boot herbei rufen?
Während er rasch seine Sachen zusammen packte, warf er neugierige Blicke auf seine Gefährtin, die sich oben auf den Kamm des Sandbergs gesetzt hatte und einen Singsang anstimmte, ähnlich dem, mit welchem sie gewöhnlich ihre Krähen herbei rief.
Sebastian kletterte zu ihr hinauf und blickte auf das Meer, das schimmernd im fahlen Mondlicht lag. Ruhig und gleichmäßig liefen die Wellen an den Strand. Der Wind hatte nachgelassen, doch die Kälte blieb und kroch sofort durch die Kleidung. Von den Soldaten Torbuks war nichts zu sehen. Die saßen gewiss in gemütlicher Runde am Lagerfeuer und wärmten sich bei üppigem Schmaus.
Antarona schien sich in einer Art Trance zu befinden, in der sie Basti nicht zu stören wagte. Gebannt blickte er auf das Meer hinaus und erwartete, dass irgendwann ein Schiff am Horizont auftauchte, um sie an Bord zu nehmen. Doch nichts dergleichen geschah. Allmählich kamen ihm Zweifel, ob sie in dieser Nacht noch das Land verlassen würden.
Eine Stunde lang starrte er auf die glitzernde Wasseroberfläche, lauschte Antaronas leisem Gesang, der sich wie ein immer wieder von vorn beginnendes Kinderlied anhörte und wurde von einer neuen Welle der Müdigkeit erfasst. Nur mit Mühe gelang es ihm, sich wach zu halten. Sebastian zwang sich, die wenigen Wolken am Horizont zu beobachten und jede Veränderung ihrer Form in einen neuen Gegenstand hinein zu interpretieren. Aus einem Hasen wurde ein Auto, daraus entstand allmählich ein Amboss, der sich wiederum in einen Ziegenkopf verwandelte...
Plötzlich stieß unerwartet eine Fontäne, ähnlich einem Geysir aus der ruhigen Wasseroberfläche, so das Sebastian erschrocken zusammen fuhr. Vom Mondlicht unwirklich angeleuchtet stieg der weiße Strahl in den dunklen Hintergrund, zerstäubte und verwehte. Sofort waren all seine Sinne mobilisiert. Gespannt konzentrierten sich Sebastians Augen auf die Stelle, denn er war sich nicht sicher, ob er geträumt hatte.
Da! Wieder! Ein Dampfstrahl, wie bei einer Lokomotive, stieß kurz aus dem Wasser und verwehte sofort. Sebastian sprang auf, um besser sehen zu können. Kamen diese Plon-ta etwa mit Unterseebooten? War deshalb kein Schiff am Horizont auszumachen? Nun, bei der ständigen Kontrolle der Küste durch Torbuks Reiter, würde das ja Sinn machen!
Doch war eine Zivilisation, die noch mit Pfeilen und Schwertern kämpften, die Tiere mit Steinen erschlug, in der Lage U-Boote zu bauen? Sebastians Gedanken überschlugen sich.
Wieder stieg ein Geysir aus der dunklen Wasserfläche auf, nun war er sicher, nicht geträumt zu haben! Er wollte Antarona anstupsen, um sie aus ihrem Halbtraum zu holen, doch als er sich zu ihr umdrehte, war sie bereits auf den Beinen.
»Kommt, Ba - shtie.., die Plon-ta warten nicht!« mit dieser Aufforderung rutschte sie mehr, als sie lief den Hang der Düne hinab. Sebastian eilte ihr nach. Doch als er seine Tüten aufnehmen wollte, um sie über den großen Sandhaufen zu schleppen, kniete sich seine Gefährtin in den Sand am Fuße der Düne und begann mit Nantakis im Boden zu graben.
»Ich denke, du hast es so eilig...«, fragte er verwundert, »...eben noch hast du doch gesagt, die Plon-ta warten nicht.«
»Grabt mit, Ba - shtie.., für eure Bündel.., los, nun macht schon!« forderte sie ihn auf, anstatt eine plausible Erklärung abzugeben. Sebastian sah sie regungslos an, als wäre sie endlich komplett übergeschnappt. Was hatte das jetzt wieder zu bedeuten?
»Willst du dich etwa bis zu den U-Booten da durchbuddeln?« fragte er aus lauter Verzweiflung und Unverständnis mit einem zweifelhaften Humor.
»Nun grabt endlich, Ba - shtie...«, verlangte sie ungeduldig, »...und nicht zu tief zum Boden hin!« fügte sie erläuternd hinzu, indem der lose Sand immer wieder nach rieselte und in das frisch gegrabene Loch fiel. Letztlich aber schien es für ihre Zwecke groß genug zu sein.
Unter Sebastians staunenden Augen stopfte sie ihr Bündel und sämtliche Felle in die Gruft aus Sand und warf sogar ihre Fell besetzten Beinlinge hinterher. Sie behielt lediglich ihren Hüftschurz auf dem Leib, sowie ihre Waffen und das Bündel, in dem sich die Dinge für den König befanden. Dann schob sie von oben Sand darüber, bis ihre Habseligkeiten verschwunden waren.
Sebastian hatte nur tatenlos daneben gestanden und ungläubig zugesehen. Sofort begann ihre Frau ein zweites Loch neben ihrem zu graben. Ein vorwurfsvoller, ungeduldiger Blick aus ihren Augen genügte, Basti dazu zu bewegen, ebenfalls zu buddeln. Anschließend stopfte sie seinen Schlafsack, seine beiden Plastiktüten und seine Stiefel in das Loch.
»Zieht eure Kleidung aus, bis auf das Hemd und die Hose aus der Haut der Tiere!«, drängte sie ihn zur Eile. Sebastian tat kopfschüttelnd, was sie verlangte und sah zu, wie seine Sachen vom Sand verschluckt wurden. Er war schon einige von Antaronas Eskapaden gewohnt, doch diesmal schien sie zu übertreiben! Seit wann war in einem U-Boot so wenig Platz, dass sie nicht einmal diese drei Dinge mitnehmen konnten?
Er hatte keine Zeit zu fragen, denn schon stieg seine Frau den Hang hinauf, mit der Aufforderung, ihr zu folgen. Sebastian hetzte hinter ihr her, inzwischen ziemlich wütend, weil sie ihn nicht in ihre Pläne einweihte. Wie auf der Flucht liefen sie über die drei letzten Dünen, danach über den Strand, der im Mondlicht unwirklich hell schimmerte.
Kurz vor dem Wasser hielt Antarona und entledigte sich auch noch ihres Hüftschurzes und des zu kleinen Oberteils. Was hatte sie vor? Wollte sie jetzt noch baden gehen? Oder etwa zu den U-Booten hinüber schwimmen? Die Antwort kam prompt:
»Ba - shtie.., zieht eure Kleider aus und bindet sie euch auf den Rücken!« wies sie ihn an. Sebastian verstand das alles nicht. Aber er wusste aus Erfahrung, dass meist ein tieferer Sinn hinter den oft merkwürdigen Handlungen seiner Frau steckte. Deshalb versagte er sich den Widerspruch, der ihm bereits auf den Lippen brannte und zog sich aus.
Antarona selbst band sich die abgetragenen Lederfetzen ihrer Kleidung um den linken Oberarm, warf sich ihre Waffen über die Schulter und ging zielstrebig ins Wasser. Sebastian blickte ihr einen Moment fasziniert nach. Nacktbaden im romantischen Mondschein.., das war ihm mit Janine nicht mehr vergönnt gewesen. Doch er befürchtete, dass er auch in dieser Nacht auf dieses Vergnügen verzichten musste.
Gerade wollte er seiner Gefährtin in die Fluten folgen, da stieg wieder eine dieser geheimnisvollen Fontänen aus dem Meer auf.., direkt vor ihnen.., keine zwanzig Meter entfernt. Überrascht wich Sebastian einen Schritt zurück, als er auch noch den glänzenden, schwarzen Rumpf des U-Bootes aus dem Wasser schießen sah. Doch irgend etwas war seltsam an diesem maritimen Gefährt!
Antarona watete inzwischen bis zum Bauchnabel durch das Wasser, als Sebastian unvermittelt auch an anderen Stellen Fontänen aufstiegen sah. Die ganze Sache nahm einen äußerst fragwürdigen, gespenstischen Charakter an. Wie viele Boote hatten die Plon-ta denn geschickt, um zwei Menschen abzuholen? Das stank doch zum Himmel! Waren sie in eine simple Falle getappt?
Plötzlich flog hinter dem aufgetauchten U-Boot etwas aus dem Meer und schlug sogleich wieder spritzend auf die Wasserfläche. Und nun erkannte Basti, was er da vor sich hatte! Erschrocken hob er die Hand und öffnete den Mund zu einem Schrei, um Antarona zu warnen, doch es war zu spät. Er sah seine geliebte bereits im Maul eines riesigen Ungeheuers verschwinden.
Doch gerade das geschah nicht. Statt dessen schwang sich Antarona auf den Rücken eines Wesens, das Sebastian auch aus seiner Welt kannte. Was da vor ihm aus dem nächtlichen Meer auftauchte, war eine Herde von zehn bis zwanzig Walen! Völlig irritiert starrte er auf die Tiere, die abwechselnd auftauchten, ihre Schwertflossen aus dem Wasser hoben und kräftige Fontänen in die Nacht bliesen.
Es waren ganz gewöhnliche Schwertwale! Sebastian hatte nie lebende Orcas gesehen und konnte daher nicht einschätzen, ob diese dort groß, oder eher von kleinem Wuchs waren. Eines aber wurde ihm schlagartig klar: Die Plon-ta, auf die Antarona gewartet hatte, waren Wale! Unschlüssig stand Sebastian am Strand und wusste nicht recht, was er tun sollte.
»Was ist, Ba - shtie...«, rief seine Frau herüber und winkte ihm fröhlich vom Rücken eines der Tiere zu, »...kommt schon.., lasst euch von einem erwählen und steigt auf seinen Rücken!«
Sie hatte sich mittlerweile mit der Gewandtheit einer Artistin auf einen der Wale gehockt, drückte ihren Po an dessen Rückenflosse und stemmte sich mit den Händen abstützend dagegen. So schien sie eine relativ sichere Position gefunden zu haben, die es ihr ermöglichte, sich auf dem Tier zu halten.
Abwehrend hob Sebastian die Hände und schüttelte energisch den Kopf. Er ging ein paar Schritte auf sie und die Meeressäuger zu, damit sie ihn besser verstehen konnte, bevor er klar stellte:
»Du glaubst doch wohl nicht, dass ich da aufsteige? Bis zu dieser Insel.., so weit.., mitten in der Nacht.., das ist doch der blanke Wahnsinn!« Antarona wurde inzwischen ungeduldig und er hörte aus ihrer Stimme einen drohenden Unterton heraus.
»Ba - shtie.., die Plon-ta warten nicht ewig.., sie sind die Geschöpfe der Götterwesen.., sie tun euch nichts Böses... kommt einfach.., los!«
»Nein...«, rief er entrüstet zurück, »...das kommt überhaupt nicht in Frage, ich geh’ nicht auf so ein Riesentier drauf.., nach ein paar Metern werde ich runter rutschen und elendig ersaufen!«
»Benehmt euch nicht wie ein Kind, Ba - shtie.., es wird euch nichts geschehen, macht es einfach so wie ich!« ermutigte sie ihn, nachdem sie erkannt hatte, dass er sich unter gar keinen Umständen auf so ein Abenteuer einlassen wollte.
Inzwischen schienen die Wale nervös zu werden. Sie schlugen mit den mächtigen Schwanzflossen auf das Wasser, drehten sich ungeduldig um die eigene Achse und einige Tiere sprangen ein Stück weit aus den Fluten und ließen ihre massigen Körper dann wieder mit heftig spritzendem Aufschlag in Wasser zurück fallen. Diese ganzen gebärden trugen natürlich nicht dazu bei, Sebastians Zweifel zu zerstreuen.
Als er noch immer zögerte, sich den Tieren zu nähern, streckte Antarona plötzlich den Arm aus und wies nach Süden. Sebastian sah in diese Richtung am Strand entlang. Weit entfernt bewegten sich kleine Lichtpunkte im Takt auf und ab, als tanzten sie. Sofort dachte Sebastian an Elsiren.
»Ba - shtie.., die schwarzen Reiter kehren zurück.., ihr müsst euch jetzt entscheiden!« schrie Antarona und Basti musste zugeben, sie noch nie mit so lauter Stimme gehört zu haben. Unschlüssig blickte er noch einmal den Strand hinunter. Tatsächlich waren die Lichter größer geworden. Waren es am Ende doch keine Elsiren, sondern Fackeln in den Händen der Reiter?
Gehetzt sah er wieder zum Meer. Was hatte er schon zu verlieren? Nur noch sein Leben! Und das stellte er in seiner Wertschätzung sowieso unter jenes dieser verrückten, kleinen, nicht zu bremsenden Krähenfrau, der er nun mal hoffnungslos verfallen war.
Ein letzter Blick zu den Fackeln, die mittlerweile wilde, verzerrte Gesichter beleuchteten, klärte die Situation. Sebastian gab sich einen Ruck, riss sich das letzte Kleidungsstück vom Leib und watete ins tiefe Wasser. Er staunte, wie weit sich die Plon-ta an das Ufer wagten, ohne zu stranden.
Ehe er sich versah, stand er bis zum Hals im Meer und inmitten der glänzenden schwarzen Leiber. Was er von den Plon-ta im spärlichen Mondlicht sicher erkennen konnte, waren die weißen Flecke unter ihren Augen und die Furcht einflößenden, gleichmäßigen Reihen blitzweißer Zähne. Suchend blickte er sich zu Antarona um.
»Was soll ich jetzt tun.., wie komme ich auf so einen rauf?« rief er verzweifelt, denn er befürchtete, von den riesigen, nervösen Tieren zerquetscht zu werden, wenn er weiterhin zwischen ihnen im Wasser herumstand.
»Schärft eure Sinne, Ba - shtie...«, hörte er Antarona plötzlich neben sich, »...denkt euch, ihr wollt auf ihrem Rücken nach Falméra schwimmen.., denkt es, Ba - shtie.., sie fühlen es! Wenn einer sein Maul auftut, dann streicht ihm mit der Hand und mit Freundschaft im Herzen über seine Zunge und er wird euch erwählen!«
Sebastian war sich sicher, dass sie nun endgültig den Verstand verloren hatte. »...Streicht ihm mit der Hand über seine Zunge...«, äffte er sie murmelnd nach und für Antarona rief er deutlicher: »...und wenn das Maul in diesem Augenblick wieder zu geht..?«
Lautes Geschrei und das Wiehern von Pferden am Strand nahm ihm die Entscheidung ab. Was soll’s, dachte er, ob nun von Torbuks hirnlosen Affen zu Tode geprügelt, oder einen Arm abgebissen... Wo war da schon der Unterschied? Trotz des Gebrülls in seinem Rücken schloss er kurz die Augen und stellte sich vor, auf einem dieser Wale über das Wasser zu reiten.
Dann ging alles sehr schnell. Ein Plon-ta hob plötzlich den Kopf aus dem Wasser und öffnete sein Maul. Hinter der Reihe ernst zu nehmender, ebenmäßiger Zähne bewegte sich seine Zunge wie ein fremdes Tier, das sich in sein Maul verirrt hatte. Sebastian setzte nun alles auf eine Karte, unterdrückte seine Scheu und griff dem Raubwal in das Maul.
Er konnte später nicht sagen, was er erwartet hatte. Eine Zunge so rau, wie Sandpapier jedenfalls nicht. Und wohl auch nicht, dass dieses Maul offen blieb und seine Hand als angenehm empfand. Als er seine nicht abgebissene Hand wieder zurück zog, tauchte der Plon-ta unter und nur seine mächtige Rückenflosse ragte noch aus dem Meer, wie ein mahnender, schwarzer Finger.
Plötzlich spürte Sebastian, wie etwas ihn umwarf und wie einen Spielball hoch hob. Ehe er noch begreifen konnte, was mit ihm geschah, glitt er bäuchlings auf die Schwertflosse zu. Intuitiv packte er sie und hielt sich daran fest. Er fühlte, dass der riesige Rücken, auf dem seine Füße und Hände Halt suchten, so glatt gar nicht war und empfand ihn, wie eine angenehme, poröse, aber feste Gummifläche.
Sofort versuchte sich Sebastian in eine Position zu bringen, wie er es bei Antarona gesehen hatte. Unbeholfen krabbelte er auf dem großen Tier rückwärts, schob sich sein Schwert, den Bogen und den Köcher auf den Rücken und drückte sich mit dem Gesäß an die große Flosse, die ihm fast wie ein Mast erschien.
In diesem Augenblick sah er Antarona vor seinen Augen vorüber reiten. Sie lachte ihn unbeschwert an, ihre langen Haare klebten ihr in dicken schwarzen Bändern im Gesicht und sie schien sich köstlich zu amüsieren.
»Seht ihr, Ba - shtie., es geht.., und ihr habt wieder neue Freunde gewonnen!« Sie stieß noch einen lang gezogenen, schrillen Schrei der Freude aus. Gleichzeitig bemerkte Sebastian, dass sich die Wale in Bewegung setzten. Er fühlte das regelmäßige, sanfte Auf und Ab, mit dem sein Reittier die Schwanz- und Brustflossen durch das Wasser zog und so eine Geschwindigkeit erreichte, das Sebastian den Wind auf seinem Gesicht spürte.
Er blickte sich noch einmal um und sah wild gestikulierende und Drohgebärden ausstoßende, zappelnde Gestalten am Strand auf und ab hüpfen. Trotz der befremdlichen Lage musste Sebastian lachen. Die ärgerten sich nun gewiss noch schwärzer, als sie es ohnehin schon waren!
Plötzlich stieß sein Plon-ta eine mächtige Fontäne in die Luft. Warme, feuchte Luft schlug ihm entgegen und nahm ihm für einen Augenblick die Sicht. Dann tauchte der Wal plötzlich ins Wasser und Sebastian fühlte Panik in sich hoch steigen. Schnell versuchte er noch die Luft anzuhalten. Das salzige Wasser spritzte ihm entgegen, umspülte seinen Körper und Sebastian stemmte sich ängstlich noch fester gegen die Rückenflosse.
Doch der Wal tauchte nicht ab. Er schwamm weiter und sein mächtiger Körper pflügte durch die Wasserfläche, wie ein aufgetauchtes U-Boot, wahrscheinlich auch nicht minder schnell, wie Sebastian vermutete. Das Wasser war entgegen all seiner Erwartungen angenehm warm und wenn sein Plon-ta einmal etwas höher aus dem Meer schoss, ließ ihn die kalte Luft erstarren.
Nach ein paar Minuten, oder das, was er nach seinem Zeitgefühl dafür hielt, war vom Strand und seinen tobenden Zwergen nichts mehr zu sehen. Wohin Sebastian auch blickte, er war umgeben von einem Wald von großen, kleinen, geraden und gebogenen Rückenflossen, die das Meer in einer enormen Geschwindigkeit durchschnitten. Mal links, mal rechts, vorne und hinten schossen Fontänen in die Nacht, vom Mond in silberne Schweife verwandelt.
Ab und zu sah er Antarona auf ihrem Plon-ta irgendwo zwischen vielen anderen Walen in der Herde auftauchen. Sie hockte scheinbar locker auf ihrem Tier und schien den Ritt in vollen Zügen zu genießen. An der Gischt, die ihre Arme und Beine umspülte, konnte er annähernd vermuten, mit welcher Schnelligkeit diese Tiere sich fort bewegten.
Sebastian hingegen verkrampfte sich viel zu sehr und mehr als einmal drohte ihn das Wasser von seinem Tier zu reißen. Doch als konnte der Orca seine Unsicherheit spüren, bemühte er sich, niemals all zu tief abzutauchen. Trotzdem wurde es keine unbedingt gemütliche Reise.
Verringerte der Plon-ta seine Tauchtiefe, damit Sebastian nicht vom Wasserdruck von dessen Rücken geworfen wurde, setzte ihm der kalte Wind so sehr zu, dass er sich sofort wieder unter Wasser sehnte. Doch schossen ihm die Wellen bis zum Hals um die Schultern, hatte er wiederum Angst, den Halt zu verlieren und plötzlich allein in einem unbekannten Meer zu treiben.
Dazu bekam er noch einen gehörigen Wadenkrampf, den er verbissen ertragen musste, wollte er nicht seitlich von seinem neuen Freund rutschen. Antarona kannte solche Probleme offenbar nicht.
Sebastian sah sie mehrmals für einen Moment aufrecht auf ihrem Orca stehen, beide Arme ausgebreitet, als wollte sie versuchen zu fliegen. Bei der Geschwindigkeit, mit der sich diese Tiere im Wasser bewegten, hielt Sebastian das nicht einmal mehr für ausgeschlossen. Wie eine Windsurferin balancierte sie auf dem schwarzen Rücken und kreischte vergnügt, wenn sich die Wellen an ihren Schienbeinen brachen und als Fontänen an ihr hoch spritzten.
Einmal wollte Sebastian ruckartig sein Gewicht verlagern, um sich sein Schwert wieder über den Rücken zu werfen, das von seinen Schultern zu rutschen drohte. Er wurde nur für eine Sekunde unachtsam und verlor sofort den Halt. Zuerst rutschte er nur ein Stück weit seitlich weg, doch als ihm das Wasser vor die Brust drückte, hob er regelrecht ab, überschlug sich, bekam sein eigenes Schwert hart gegen den Kopf und tauchte im aufgewirbelten Meer unter.
Noch bevor er richtig erfassen konnte, was geschehen war, wurde er auch schon wieder an die Wasseroberfläche gehoben und sah durch verschwommene Augen die Rückenflosse auf sich zu fliegen. Mit panischem Griff umfasste er die rettende Standarte und wurde vom Wasser nach hinten gedrückt. Wie das los gerissene Segel eines Schiffes pendelte er nun im Wasserstrom hin und her, die Flosse krampfhaft umklammert.
Ob es der gleiche Plon-ta war, auf dem er bislang gehockt hatte, oder ob ihn ein anderer Wal im Vorbeischwimmen aufgefischt hatte, wusste er nicht. Eines jedoch hatte er gelernt...
Die grausamen Killerwale, die jedes Lebewesen, das ihnen vor das Maul kam, sofort mit ihren scharfen Zähnen zerrissen, so, wie sie die Medien in Sebastians Welt gerne darstellten, gab es offenbar nicht. Jedenfalls nicht im Meer von Volossoda! Diese Tiere entpuppten sich neben den Elsiren als die freundlichsten und gutmütigsten Wesen, die er bisher in dieser Welt getroffen hatte.
Allmählich zog sich Sebastian näher an den rettenden Halt der Rückenflosse heran, kam auf die Füße und hing für den Rest der Seereise daran, wie ein Schulmädchen hinter ihrem Freund auf einem Motorrad. Letztlich fand Sebastian diese Stellung sogar angenehmer, erlaubte sie ihm doch, hin und wieder ein Bein auszustrecken, um einem erneuten Muskelkrampf entgegen zu wirken. Freilich, elegant war etwas anderes!
Wie lange dieser stürmische Ritt über den Wellen dauerte, konnte Sebastian nie wieder wirklich nachvollziehen. Ein paar Wolken hatten sich inzwischen vor den Mond geschoben und es war stockdunkel, als sie eine Insel von gigantischen Ausmaßen aus dem Meer aufragen sahen, die immer größer wurde, sich immer weiter ausdehnte und allmählich schattenhafte Formen, wie Berge und Einschnitte erkennen ließ.
Die dunklen Bergwände schienen direkt in das Meer abzufallen. Weiter rechts schäumte die See weiß auf, als schlugen die Wellen gegen verborgene Felsen. Weiter linkes schienen sie ruhig an einem Strand auszulaufen. Dort hin wurden sie von den Plon-ta gebracht.
Dankbar und mit steifen Gliedern rutschte Sebastian vom Rücken seines Tieres. Er strich ihm freundschaftlich über die vermutete Nase und verabschiedete sich mit leisen Worten. Zunächst kam er sich lächerlich vor, mit diesem Wal zu sprechen, doch als dieser sein Maul öffnete und einen pfeifenden und einen gurrenden Laut von sich gab, wusste er, dass ihn das Tier verstanden hatte.
Plötzlich stand Antarona neben ihm im hüfthohen Wasser. Sie legte ihm die Hand auf die Schulter und ihre Augen leuchteten ihn unter den tropfnassen Haaren hervor an.
»Nun, Ba - shtie, kennt ihr sie.., die Plon-ta, die Freunde der Ival!« stellte sie stolz fest. Sie wusste genau, dass sie ihren Ba - shtie mit dem Ritt auf den Walen beeindruckt hatte und genoss es.
»Ja, aber was ist jetzt mit Reno und Rona?« warf Sebastian besorgt ein, »...die sind noch drüben am Strand und...«
»Die können für sich selbst sorgen, Ba - shtie«, beruhigte ihn seine Gefährtin, »sie werden dort sein, wenn wir zurückkehren!«
Sebastian machte sich aber seine eigenen Gedanken. Wie kam der alte Högi Balmer ohne seine Hunde zurecht? Wie wollte der hinkende, alte Mann seine Herde ohne die Hütehunde zusammen halten? Antarona konnte anscheinend in seinen Kopf sehen.
»Ba - shtie.., sie werden den Weg zu Väterchen Balmer finden und wenn es an der Zeit ist, werden sie auf Sonnenherz und Glanzauge warten«, versicherte sie ihm. Dann schob sie sich ihm voran durch Wellen und eine kaum spürbare Brandung dem Strand zu. Sebastian wankte ein wenig, als er wieder festen Boden unter den Füßen wusste. Wie lange waren sie unterwegs?
Seinem Gefühl nach hatten sie für die Reise gerade mal zwei Stunden gebraucht. Aber es konnten auch vier bis fünf Stunden gewesen sein. Sebastians Zeitempfinden orientierte sich nur noch an Sonne und Mond. Und selbst die besaßen in diese Welt anscheinend einen anderen Rhythmus.
Das erste, was ihm auffiel, als sie endlich auf dem Strand standen, waren kleine Steinchen unter seinen Füßen. Der Strand, an dem sie angelandet waren, besaß keine feinen, weißen Sandflächen. Er bestand aus kleinen, bis zwei Zentimeter großen Kieseln. Die auslaufenden Wellen bewegten Millionen der Steinchen vor und zurück und verursachten ein klingendes Rauschen, das eine ganz eigene Stimmung schuf.
Der zweite Eindruck, der ihn erfasste, war die Kälte. Sie war schlichtweg nicht mehr da! Ein milder Wind umwehte sie, als wären sie nach einer Flugreise in einem fernen, südlichen Land aus dem Airliner gestiegen. Der Wind wehte auch nicht mehr so heftig, wie auf dem Festland, wobei Sebastian immer geglaubt hatte, Winde seien auf Inseln stärker zu spüren.
Zuletzt, als genügten die neuen Eindrücke noch nicht, erschlug ihn die Kulisse, die sich vor seinen Augen aufbaute. Gewaltige, mit dichtem Grün bewachsene, von Rinnen und Furchen durchzogene Felswände erhoben sich über ihnen und suggerierten ihnen, in den Himmel zu wachsen. Zu beiden Seiten zog sich die Mauer dahin, soweit die Blicke reichten. Der schmale Strand nahm sich unter ihrer Wucht wie eine kleine, enge Gebirgsstraße aus, obwohl er vom Meer bis an die Steinwand wohl an die dreißig bis vierzig Meter maß.
Moosartige und kleinblättrige Pflanzen bevölkerten die aufstrebenden Felsen so dicht, dass sie an einen Überzug aus Samt erinnerten. Zwischendurch lugten ausgesetzte Felspartien hervor, auf deren Simsen, Kanten und Vorsprüngen Sträucher, Bäume, oder auch mal eine Palme wuchs.
Antarona wrang sich ihre Haare aus und strich sie sich hinter die Ohren. Ein wenig belustigt beobachtete sie dabei ihren Ba - shtie, der mit seinen staunenden Blicken versuchte, diese neue Welt zu erobern. Die erschien ihm beinahe noch gewaltiger, als das, was er vom Festland kannte.
»Das also ist Falméra«, stellte er beeindruckt fest. Ohne seinen Blick von der überwältigenden Arena abzuwenden, die wie ein Bollwerk der Götter vor ihm stand, begann er sich wieder anzukleiden. Viel besaß er ja nicht, das er sich hätte über seinen nassen Körper werfen können. Eine Hose, ein Hemd, der Rest lag vergraben im Sand von Volossoda.
Antarona besaß noch weniger und er frage sich, wie sie es nur mit den beiden ausgeblichenen, dürftigen Stücken Leder bekleidet aushielt. Das Klima auf dieser Insel schien zwar wesentlich milder zu sein, als auf dem Festland, dennoch konnte man die Temperatur nicht gerade als sommerlich warm bezeichnen.
Sebastian kam sich für einen kurzen Augenblick vor, als hätte man ihn in die Kulisse eines kitschigen Abenteuerfilms versetzt. Der klassische Einsame-Insel-Film! Der Schiffbrüchige betrat mit einer halb nackten Amazone ein geheimnisvolles Eiland. Nur sie beide und die Insel. Romantische Abenteuer harrten ihrer!
Nur, dass die Abenteuer, die Sebastian bisher an der Seite seiner Amazone erlebte, für seinen Geschmack etwas zu real und ernüchternd für ein romantisches Gefühl waren. Würde sich das auf dieser Insel ändern? Wohl kaum!
Es ging schon damit los, dass er keine Schuhe mehr besaß und bereits nach den ersten Metern jedes Steinchen einzeln unter seinen Fußsohlen spürte. Außerdem nagte der Hunger an seinen Eingeweiden. Wann hatten sie zuletzt etwas gegessen? Romantisch sah für Sebastian jedenfalls anders aus, auch wenn die Frau seiner Träume beinahe unbekleidet vor ihm herum lief. Daran hatten sich seine Augen inzwischen auch schon gewöhnt!
Nicht gewöhnt hatte er sich an ständig neue Gefahren, an Situationen, die so rasch wechselten, wie eine Verkehrsampel die Farbe und an die Lebensumstände in dieser fremden Welt. Hunger, Kälte, fehlende Kleidung und die Körperhygiene, die er als Stadtmensch gewohnt war, die ihm hier aber völlig versagt blieb, hatten wenig Romantisches. Das änderte auch nicht ein gut aussehendes Krähenmädchen, das ihm, ob nun gewollt oder nicht, ständig völlig unbefangen seine fraulichen Reize präsentierte.
Alles in allem, das stellte Sebastian Lauknitz sehr schnell und nüchtern fest, hing Romantik nicht allein von einer einsamen Insel und einer paarungsbereiten Schönheit ab. Vielmehr war es doch die allgemeine Stimmung, die ein solches Gefühl auslöste. Und das wollte bei Sebastian im Moment nicht aufkommen.
Der Strand, den sie nun entlang gingen hatte rein gar nichts Romantisches. Eher etwas ziemlich Endzeitiges! Allein der dichte Pflanzenbewuchs an den Felswänden suggerierte ihm Leben.
Ohne Hast wanderten sie am Meer entlang. Über ihnen funkelten tausendfach die Sterne und das Rauschen der Brandung dämpfte die innere Aufregung und Neugier auf das Falméra, das vor ihnen lag, eben auf die Stadt Falméra, den Sitz des vermeintlichen Herrschers Volossodas.
Ab und zu öffneten sich Einschnitte in der Felswand, gaben den Blick frei in tiefe, von Urwald verwucherte Schluchten, aus denen klaren Bäche hervortraten und sich ins Meer ergossen. Das Überspringen oder Durchwaten der ausgewaschenen Bachläufe waren für die nächsten zwei Stunden die einzige Abwechslung ihrer nächtlichen Strandwanderung.
Nach und nach verblassten die Sterne und der Horizont über dem Meer verfärbte sich. Das Schwarz wurde zu dunklem Blau, was sich wiederum in violett und rot verwandelte. Ein paar Wolken zogen noch als schmutziggraue, flüchtige Gebilde Land einwärts, schleppten sich wie sterbende Lebewesen dahin.
Ein Streifen von hellem Gelb, das immer mehr einem strahlenden Azur wich, kündigte einen neuen Tag an. Im Dschungel, der die Felswände anscheinend für die Ewigkeit erobert hatte, erwachte das Leben. Der zaghafte Morgengesang einzelner Vögel wurde bald von einem vielstimmigen Konzert überflügelt, das sicher nicht nur von gefiederten Bewohnern stammte.
Sebastian glaubte das Fauchen einer Raubkatze zu hören, dann wieder das Schreien irgend einer Affenart, sowie noch unzählige andere Geräusche, die auf eine üppige Fauna schließen ließen. Es dauerte aber noch eine ganze Weile, bis das Sonnenlicht Antarona und ihn erreichte. Die hohen, zur Küste hin steil abfallenden Felsen schirmten den Strand lange vor der Sonne ab.
Dann aber, zuerst an den Einschnitten der Schluchten und engen Täler, schossen Strahlenlanzen zwischen Blätterwerk hindurch und suchten sich den Weg von den schwindelnd hohen Felskanten zu ihnen herab. Bald gingen sie im flachen Wasser weiter, weil dorthin bereits die Sonne schien, während der Großteil des Strandes noch im Schatten lag.
Irgendwann am Vormittag gelangten sie an eine Landzunge, die etwas weiter in das leuchtende Türkis des Meeres hinein reichte. Der Strand wurde beinahe einen halben Kilometer breit, wechselte von Kies zu feinem Sand und wurde von einem kleinen Fluss durchschnitten, der weit auseinander gezogen, flach dahin strömte und sich mit den ankommenden Wellen auf einer weiten Sandbank vermischte.
Die hohen Felswände endeten abrupt und gaben den Blick in ein Tal frei, das zunächst von einer weiten, mit flachen Büschen bewachsene Heidelandschaft beherrscht wurde. Weiter hinten aber, wo es sich verengte, sah Sebastian mächtige Bäume stehen. Ein warmer Duft wehte aus dem Tal, den er kannte. Es war der angenehme Geruch von Thymian.
Jenseits der Landzunge bestimmten wieder hohe Berge das Landschaftsbild, doch zogen sich die grünen Hänge fortan sanft in das Landesinnere hinein, bildeten Wiesen- und Waldgürtel, über denen schließlich zerklüftete, hellgraue bis weiße Felsen thronten. Überall aber dominierte leuchtendes, frisches Grün.
Vor nicht ganz sechs oder sieben Stunden hatten sie eine Welt verlassen, die in den ersten Frösten eines kommenden Winters erstarrte und nun befanden sie sich in fast mediterranem Klima.
Sebastian fragte sich, wie ein so krasser Wetterwechsel zwischen dem Festland und einer Insel bestehen konnte, die gerade mal von fünfzig Kilometer weit durch ein Meer voneinander getrennt waren. Vermutlich waren es sehr warme, gigantische Strömungen aus tropischen Gefilden, die zu Luft und zu Wasser wirkten und ein solches Phänomen auslösten.
Landschaftlich empfand Sebastian schon das Val Mentiér als sehr schön. Doch was er bisher von dieser Insel sah, ließ ihn vermuten, das Paradies entdeckt zu haben. Ein paar Stunden auf einem Walrücken und sie befanden sich in einer völlig anderen Welt, in der es offenbar niemals Winter wurde.
Antarona und Sebastian hatten den gleichen Gedanken. Sie rasteten am flachen, sandigen Ufer des Flusses, dessen kristallklares Wasser plätschernd über den Strand floss. Nebeneinander legten sie sich in den weichen, warmen Sand, ließen sich die Sonnenstrahlen auf den Bauch scheinen und sahen träumend in den blauen Himmel, an dem nur hin und wieder eine verirrte, weiße Wolke vorüber zog.
Auf einem Mal zeigte sich das Leben von einer anderen Seite. Torbuk und ihr Auftrag war für eine kurze Weile vergessen, der nagende Hunger trat in den Hintergrund und Sebastian störte sich plötzlich nicht mehr daran, von seinen Waffen abgesehen, besitzlos zu sein.
»Sag mal, Antarona«, begann er laut nachzudenken, »hier ist es doch wunderschön.., es ist warm, das Meer ist da.., es gibt klares Wasser... Warum lebst du im Val Mentiér und nicht hier?« Verwundert über seine Frage, richtete sie sich halb auf und sah ihn an. Die Frage schien sie zu beschäftigen, was ihr wohl selbst nicht ganz behagte.
»Meine Mutter lebte in Fallwasser«, begann sie umständlich ihre Erklärung, »mein Vater und Tark leben ebenfalls dort und alle Menschen, die Sonnenherz nahe sind.« Sie machte eine kleine Pause, überlegte kurz und sprach dann weiter:
»Ich werde immer dort leben, Ba - shtie, und meine Kinder werden einmal dort leben und ihre Kinder. In den Bergen und Wäldern sagt uns niemand, wie wir leben sollen, was wir tun sollen, wenn Torbuk einmal fort ist. Aber wir leben auch hier, Ba - shtie, wir besuchen die Ival von Falméra, wir bringen ihnen Felle, Holz und die guten Kräuter der weisen Frauen aus den Wäldern. Mit anderen Dingen kehren wir wieder heim. Wir leben hier und dort, so war es einst von den Göttern bestimmt, bis...«
»...bis Torbuk kam und alles änderte!« nahm ihr Sebastian den Rest ihrer Worte aus dem Mund. Antarona nickte zustimmend und fuhr unbeirrt fort.
»Die Ival von Falméra vermissen die klare, reinigende Luft des ewigen Eises, sie vermissen die dunklen Wälder, die voll sind mit Wild, die Bäche und Seen, angefüllt mit Fischen, die weiten Weiden. Ihre Brüder und Schwestern im Val Mentiér träumen in der Zeit des langen Kälte von Falméra, von den warmen Tälern, von blühenden Bäumen, von der weißen Stadt, von fröhlichen Nächten in den Gassen und auf den Plätzen. Das Volk vermisst die seinen, Ba - shtie. Und die Ival von Falméra finden keine Ruhe, wenn sie zu den Göttern gerufen werden, denn sie gelangen nicht an das Tor zum Totenreich, um Einlass zu erbitten.«
Sebastian dachte unwillkürlich an das Schicksal seines eigenen Volkes, welches lange diesseits und jenseits einer unüberwindlichen Grenze leben musste. Doch er hörte Antarona weiter zu, ohne sie zu unterbrechen.
»Torbuk hat das Volk der Ival vor langer Zeit zerrissen. So ist es, Ba - shtie, dass wir hier leben und dort leben. Aber wir gehören zusammen, wir leben dort und hier gleichermaßen, wir müssen uns nicht entscheiden, wo wir sein wollen. Wir wollen hier sein und dort, so soll es sein. Und so wird es wieder sein, wenn das Böse, das unsere Wege trennt, wenn Torbuk und Karek fort sind!«
Sebastian stützte sich auf seine Ellenbogen, sah ihr in die Augen und nickte verständnisvoll. Er bewunderte ihren unerschütterlichen Glauben daran, dass die Ival eines Tages wieder auf freien Wegen unbeschwert und ungehindert reisen und ihre Verwandten, Freunde und Geschäftspartner besuchen konnten. Doch nachdem er Quaronas gesehen hatte, wusste er, dass es ein langer, harter Weg sein würde, um dieses Ziel zu erreichen.
Seine Zweifel aber behielt er für sich. Sie hatten gerade erst begonnen, diesen Weg zu beschreiten. Wollte er bereits an dieser Stelle des Weges die ganze Hoffnung untergraben, so hieße das, den Traum für ein glückliches, irgendwann friedliches Leben mit Antarona aufgeben! Nein! Für die Liebe zu dieser Frau war er sogar bereit, eine politische Grenze neu zu ziehen oder zu fällen!
»Wie lange braucht man eigentlich von Fallwasser nach Falméra.., ich meine, wenn man die Wege benutzen kann und die Wasserwagen und wenn man sich nicht verbergen muss«, wollte Sebastian nun wissen. Dabei hatte er weniger im Sinn, wirklich die Reisezeit zu erfahren. Viel mehr wollte er in Antarona den hoffnungsvollen Gedanken an Freiheit erhalten und ihr zeigen, dass er ebenso an ihrem Volk interessiert war, wie sie selbst.
»Ist einer in Eile, so reicht ein Sonnenlauf«, verkündete sie ohne Umschweife, »doch die Alten ließen sich Zeit. Sie gingen nach Quaronas und mit Beginn des neuen Laufs der Sonne nach Falméra. So war es, Ba - shtie, als Torbuks Soldaten noch nicht die Wege und das Tor zum großen Wasser versperrt hatten.«
Sebastian wunderte nicht, dass sie von der Vergangenheit sprach. Denn Högi Balmer hatte ihm bereits berichtet, wie Torbuk schon zu seiner Jugendzeit das Land unsicher machte. Demzufolge konnte Antarona von der Zeit, als das Volk zwischen den Städten und zwischen dem Festland und der Insel Falméra ungehindert hin und her reiste, nur aus Erzählungen wissen.
Diese Erzählungen aber waren ihr großer Traum. Sie wollte ihre Welt wieder so erleben, wie sie diese aus den Berichten der Alten her kannte. Sie träumte davon, ihre Kinder in Frieden aufwachsen zu sehen, ohne die Gefahr, etwas zu erleben, was Antarona selbst als Kind erfahren musste.
Sebastian war nun ein Teil dieses Traums. Er war nicht mehr der anonyme Handwerker, der ohne ein Ziel vor Augen seiner täglichen, frustrierenden Arbeit nachging. Nein, er war nun Teil von etwas, das Geschichte schreiben konnte, er war Teil von der Idee, von den Träumen und Wünschen eines Menschen, den er liebte. Er war nun ein Mann, der endlich wusste, wofür er kämpfte und lebte, wenn auch in einer anderen Welt!
»Eines kann ich dir sagen, mein Engelchen«, begann er Antarona prophetisch zu versichern, »ich werde niemals aufhören, für dich.., für uns und für das Herz, das einmal unter deinem Herz schlägt, dafür zu kämpfen, dass ein Mann mit seiner Familie wieder an einem Sonnenlauf nach Falméra kommt. Wir werden tun, was getan werden muss, damit unsere Kinder, die Kinder der Ival, alle Menschenwesen von Falméra bis Val Mentiér, von Quaronas bis Zarollon als ein Volk sehen, als eine große Familie, als eine Freundschaft, die nie wieder etwas, oder jemand trennen kann!«
Sebastian war allerdings klar, dass dieser Stein, den sie vor hatten, ins Rollen zu bringen, möglicherweise noch rollen würde, wenn seine Kinder ihn und Antarona an das Tor zum Reich der Toten geleiteten. Dieser Stein überrollte mitunter ihr ganzes Leben und sie würden ihren Traum vom freien Volk der Ival vielleicht nie selbst erleben.
Dennoch! Allein der Gedanke, an etwas wirklich Großem mitzuwirken, einem ganzen Volk eine Zukunft in Frieden und Freiheit zu geben, den Menschenwesen das Leben zurück zu geben, dieser bloße Gedanke war es schon wert, dafür zu kämpfen!
Sebastian Lauknitz, in seiner Welt der ewig an sich selbst zweifelnde, unscheinbare Mitläufer bekam die Chance zu einem bewegenden Glied von einer Kette zu werden, welche in einer anderen Welt die Geschichte verändern konnte! Egal, welche Welt.., aber sein Leben hatte wieder einen höheren Sinn!
Allmählich konnte er sich selbst eine Frage beantworten, die ihn seit seiner Jugend beschäftigte. Was war die treibende Kraft, die alliierte Soldaten trotz einer natürlichen Angst vor dem Tod dazu brachte, gegen die Schreckensherrschaft Nazi-Deutschlands anzutreten? Nur der Befehl ihrer Vorgesetzten? Allein die Angst vor einem Militärgericht? Wohl kaum.
Sebastian glaubte, dass da noch etwas anderes im Spiel war. Er spürte es selbst. Das unerklärbare, erhebende Gefühl, etwas zu bewegen! Bei einer von Menschen angestrebten, guten und heldenhaften Sache dabei zu sein, von dem die Welt noch sprach, wenn er selbst schon lange nicht mehr auf ihr wandelte. Es war ihm wichtig zu wissen, dass die Menschen, dass Freiheit und Gerechtigkeit, dass das Leben selbst ihn brauchte, dass er mit seinem Dasein etwas bewirken konnte, das die Welt lebenswert machte!
Mit diesem Gefühl im Herzen und der Sonne auf seiner Haut fühlte er sich plötzlich unbesiegbar. Er fasste Antarona am Handgelenk und zog sie hoch.
»Los, komm, wir gehen jetzt schwimmen, das Wetter.., dieser Strand.., wer weiß, wann wir das wieder genießen können!« Irgendwie spürte sie, dass sie ihm diese Laune in seinem Höhenflug nicht ausreden konnte und folgte ihm zur Sandbank mit dem klaren, türkisfarbenen Wasser. Im Grunde war Antarona froh, dass er auf einem Mal so voller Lebensfreude, Mut und Hoffnung war. Gewöhnlich erlebte sie ihn eher als zweifelnden Skeptiker.
Wie zwei ausgelassene Kinder warfen sie sich in die Wellen und selbst Antarona fühlte sich selten so befreit, und sorglos und genoss den Augenblick. Sie tollten unbekümmert durch das seichte Wasser, spritzten sich gegenseitig an, warfen sich um und tauchten nach kleinen Muscheln, mit denen sie sich gegenseitig bewarfen, bis sie sich nur noch atemlos in den Armen lagen. Für einen Moment fielen sie in einen Strudel des Glücks, sanken berauscht voneinander ins flache Wasser, vergaßen Falméra, Torbuk und alles um sie herum...
Dann wurde ihnen wieder die Wichtigkeit ihrer Aufgabe bewusst. Sie wateten über die Sandbank den flachen Fluss hinauf, spülten sich im deutlich kälteren Wasser das Salz des Meeres vom Körper und hängten sich ihre Waffen um. Sebastian hatte schon gehofft, ihr Weg würde sie nun das Tal hinauf führen, aus dem der Fluss entsprang.
Doch Antarona schlug eine Richtung ein, die sie weiter an der Küste und am Strand entlang führte. Der weiche Sand blieb ihnen dabei ebenso wenig erhalten, wie ihre kurze Ausgelassenheit. Faustgroße, von der See rund geschliffene Steine plagten die nächsten Stunden Sebastians Fußsohlen.
Antarona ging meist dicht am Wasser und ließ sich die ankommenden Wellen um die Füße spülen. Sebastian folgte ihrem Beispiel und war froh, außerdem aus dem Schatten der Hänge heraus zu kommen, die sich landeinwärts erhoben.
Nach zwei Stunden Marsch spürte er jedoch deutlich, wie sich seine Haut spannte. Sonnenbrand! Rasch zog er sich sein Hemd über und wunderte sich darüber, dass die Sonne auf Falméra offensichtlich stärker schien, als auf dem Festland. Das widersprach jeglichen physikalischen Gesetzen! Im Winter strahlte die Sonne auf der Nordhalbkugel der Erde nicht nach dreißig bis vierzig Kilometern weiter östlich mit einer so ansteigenden Intensität! Was also stimmte hier nicht?
Drehte sich die Erde plötzlich anders, nicht mehr gleichmäßig? Paradox! Sie würde dann ja ins Schlingern geraten, das sagte ihm, Sebastian Lauknitz, sein gesunder Menschenverstand! Aber was galt der hier noch, sein Verstand, den er bisher für logisch gehalten hatte?
Hätte er sich den Sonnenbrand auch im Val Mentiér eingefangen? Bekam er dort bloß keinen, weil er wegen der Temperatur stets ein Hemd trug? Wer versicherte ihm eigentlich, dass er sich auf der Nordhalbkugel der Erde befand? Die Dörfer des Val Mentiér ließen gewiss darauf schließen. Doch was war mit Falméra? Auf dieser Insel zumindest herrschte ein sommerliches, mediterranes Klima, obwohl vierzig Kilometer weiter westlich Winter war!
Sebastian fügte die Fragmente der Fakten in seinem Kopf zu einem möglichen Puzzlebild zusammen. Das Ergebnis war idiotisch! Das Val Mentiér, die hohe Barriere der riesigen Eisgipfel, das ewige Eis, das er zwar noch nicht selbst gesehen hatte, doch er zweifelte nicht an seiner Existenz. Das alles und die Wetterlaunen, die er dort miterleben durfte, könnte man tollkühn für eine endende Eiszeit halten.
Eine riesige Eiskappe, die immer mehr abschmolz, würde zweifelsohne über die Maßen anschwellende Bäche und Flüsse, sowie überflutete Sümpfe verursachen. Der Strom kalter Luft, von der Eiskappe in die Täler und auf das Meer getragen, konnte durchaus von einem aus wärmeren Kontinenten herangeführten Luftstrom, sowie warmen Meeresströmungen unterbrochen werden...
Vierzig Kilometer.., dort Winter, hier Sommer, ausgelöst durch festgeschriebene Strömungskreisläufe. Sebastian hatte in der Schule gelernt, dass der Golfstrom im Atlantik erwiesene gravierende klimatische Bedingungen schaffte. Warum also sollte das, was Sebastian hier feststellte nicht ähnlichen Charakters sein? Einzig blieb wieder die bohrende Frage, an die er sich jedoch schon gewöhnt hatte.
War dies noch Teil seiner Welt? Vielleicht ein ihm unbekannter Teil? War es überhaupt noch seine Welt? War es am Ende gar nicht einmal der Planet Erde, auf dem er sich befand? Hatte man ihn auf einen anderen Planeten mit erdähnlichen Bedingungen verfrachtet? Ein Planet, den irgend eine Interessengruppe vor den Menschen seiner Welt geheim gehalten hatte?
Und doch bedurfte es nur einer Frau, einen Mann selbst in der fremdesten Umgebung heimisch werden zu lassen! War das der große Versuch, das wissenschaftliche Projekt, dem er als Versuchskaninchen zum Opfer fiel? Waren alle Menschenwesen dieser Welt nur Statisten in einem planetaren Versuchslabor?
Sebastian schüttelte den Kopf. Dann war es einfacher, bequemer und schöner zu glauben, er wäre in eine Welt hinüber gewechselt, die jedem Menschen vorbestimmt ist. Das, was nach dem Tod kommt, das Paradies, das Dasein nach dem irdischen Leben. Das würde auch eine plausible Erklärung dafür liefern, dass er die Reinkarnation Janines in Antarona wieder gefunden hatte. Wieder fielen ihm die Worte ein, die Janine sprach, als sie von ihm ging: Glaube daran.., wir sehen uns wieder, Basti.., drüben.., irgendwann...
Doch war Antarona wirklich Janine? Rein äußerlich ja! Vom Wesen her möglicherweise. Antarona benutzte ja auch seinen Kosenamen, wie einst Janine. Aber redete er sich diese Möglichkeit nicht nur schön, weil sie bequem und nach seinen Maßstäben plausibel war? Gaukelte einem das eigene Empfinden nicht oft genug Gegebenheiten nur vor, weil man sie sich herbei sehnte? Sebastian hatte scheinbar den Beweis, dass es ein Leben nach dem Tod gab.
Was aber, wenn eben genau das Teil eines Forschungsprojektes war? Wenn man gerade die Anpassungsfähigkeit des menschlichen Geistes an den festen Glauben der Möglichkeit Leben nach dem Tod testen wollte?
»Bei den Überlegungen kann man ja wahnsinnig werden!« Antarona blieb abrupt stehen und sah Sebastian fragend an.
»Was meint ihr, Ba - shtie, was kann euch wahnsinnig machen?« Sofort wurde Sebastian bewusst, dass er laut gesprochen hatte, was er eigentlich nur dachte.
»Ach nichts, mein Engelchen, ich hatte nur laut überlegt, wo wir wohl gerade sind«, versuchte er einer Frage- und Antwortstunde auszuweichen. Doch die zentrale Frage, die Sebastian wirklich beschäftigte, besaß noch eine kleine, einfachere Schwester. Und die zumindest konnte ihm Antarona beantworten.
»Wir werden noch am großen Wasser entlang gehen, bis Talris, der Gott des Lichts die Augen schließt«, verkündete sie bestimmt, »dann fließt ein schnelles Wasser aus einem großen Tal in das große Wasser, welches nach Salz schmeckt. In dieses Tal gehen wir, wenn der neue Sonnenlauf beginnt.«
»Na ja.., dann weißt du wenigstens, wo wir sind«, seufzte Sebastian. Antarona konnte den tieferen Sinn seiner Worte freilich nicht erfassen. Um sich selbst von seinen Gedanken abzulenken, fragte Basti:
»Weißt du denn eine gute Stelle, wo wir die ruhende Sonne verbringen können?« Diese Frage wurde zwangsläufig sowieso gegenständlich, denn sie besaßen weder genügend Kleidung, noch Decken, oder Felle, um sich in der Nacht vor der Kälte zu schützen. Antarona hatte nur, was sie auf dem Leib trug und das war, vorsichtig betrachtet, weniger als Nichts!
»Ja, Ba - shtie«, versprach sie ihm, »dort, wo das große Tal beginnt, das sich Val Argón nennt, ist ein Dorf, das ebenso genannt wird. Die Ival dort leben von den Fischen aus dem großen Wasser. Sonnenherz hat dort viele Freunde, bei denen sie willkommen ist!«
Das zumindest klang aufmunternd. Inzwischen meldete sich auch Sebastians Magen wieder. Die Reste ihres Proviants hatten sie ja in den Dünen des Festlands zurück lassen müssen. Bei Freunden Nachtquartier zu beziehen, ließ die Hoffnung aufkommen, Hunger und Durst stillen zu können.
Den ganzen Nachmittag hindurch wanderten sie an mehreren kleinen, wenig ausgeprägten Buchten entlang. Die Landschaft änderte dabei kaum ihr Gesicht. Links rauschten in stoischer Gleichgültigkeit die wellen der Gezeiten an den Strand, rechts erhoben sich bewaldete Hügel vor noch höheren Bergen, die hellgraue, bis rötlich graue Felsbastionen trugen.
Gegen Abend trafen sie den ersten Bewohner der Insel. Ein alter Mann, der nach Muscheln suchte und ihnen humpelnd entgegen kam, wunderte sich aber kaum über die beiden fremden jungen Leute, die den einsamen Strand entlang wanderten. Offenbar war es üblich, dass sich Verliebte an einsamen Stränden trafen.
Sie grüßten den Alten und er lachte ihnen freundlich zu, bot ihnen sogar einige seiner Muscheln an. Er fragte Sebastian etwas auf Ival und Basti war stolz darauf, mittlerweile so viel gelernt zu haben, dass er zumindest den Sinn der Frage verstand. Woher sie kamen, und wohin ihr Weg sie führte. Basti sah ihn etwas unsicher an.
Sofort sprang Antarona ein, tat völlig ungezwungen und erklärte ihm etwas, das Sebastians Sprachkenntnisse letztlich doch überstieg. Der Alte kniff viel sagend ein Auge zusammen, lächelte in sich hinein und ging weiter.
»Was hast du dem denn gesagt?« wollte Sebastian wissen. Antarona lachte spitzbübisch und verriet ihrem verdutzt drein blickenden Mann:
»Antarona hat ihm gesagt, ihr Mann war mit ihr bei den Elsiren und ihr Weg führt sie nun wieder heim nach Falméra.« Sebastian verstand jedoch immer noch nicht, was daran so besonders war, dass es diesem Alten ein verschmitztes Lächeln entlockte.
»Ba - shtie...«, versuchte sie ihm zu erklären, als sie seinen fragenden Blick sah, » Jene Ival, welche sich im Herzen verbunden fühlen, mit dem Segen der Götter, aber auch ohne diesen, aber auch jene Ival, welche ihre Herzen bereits mit dem Segen des Volkes und der Götter gleichermaßen verbunden haben, gehen manchmal zu den Elsiren. Sie tun es, wenn sie das Glück in ihren Herzen verlassen hat, oder wenn sie den Wohlsinn der Götter für ihre Verbundenheit suchen. Einige tun es, um das Glück ihrer verbundenen Herzen so zu spüren, wie es an meines Vaters See geschah.« Sebastian wurde neugierig.
»Gibt es denn auch auf der Insel Falméra einen Ort, an dem die Elsiren leben?« Antaronas Blick wurde geheimnisvoll und Sebastian spürte, dass die Ival nicht gern offen darüber sprachen.
»Verbundene Herzen, oder jene, welche sich auf ewig verbinden wollen, gehen nach Mahi-o-ratea, dem Dorf ohne Menschen, die immer dort leben«, vertraute sie ihm zögernd an, »das ist ein Ort in den Sümpfen der Elsiren, wo leere Hütten stehen, welche jene benutzen, die nach dem Glück und dem Segen für ihre Verbundenheit suchen.«
»Aha«, versuchte Sebastian zu verstehen, »aber ich denke, die Elsiren suchen die Menschenwesen und kommen zu ihnen und die Menschenwesen sollen nicht das Glück suchen und ihm hinterher jagen?«
»Ja, Ba - shtie«, antwortete sie ihm mit gesenkter Stimme, »so steht es in den Tafeln von Talris, so soll es sein. Manchmal aber wollen sich Herzen ohne den Segen des Volkes, oder der Familien verbinden. Dann suchen sie das Glück der Elsiren und den Segen der Götter, der von keinem Menschenwesen wieder aufgehoben werden darf, weil er va-ra-hi, heilig ist.
Allmählich begriff Sebastian, was sie meinte. Wenn zwei Verliebte nicht heiraten, oder zusammen sein durften, weil die Familien, oder das Dorf dagegen waren, so gingen sie heimlich nach Mahi-o-ratea, eine Art Liebescamp in den Sümpfen der Elsiren. Bekamen sie den Segen der Elsiren, so wie er mit Antarona am See ihres Vaters, dann konnte niemand diese Verbindung anfechten, denn sie stand unter dem Schutz der Götter!
Sebastian blieb stehen, fasste Antarona um die Hüfte und küsste sie. Dann sah er ihr tief in die Augen und sagte ebenso geheimnisvoll, wie sie zuvor mit ihm sprach:
» Mahi-o-ratea und Va-ra-hi, das ist mal ein Gesetz, das wirklich Sinn macht und Gutes tut! Es hat auch unsere Herzen verbunden und ich bin froh und glücklich darüber!«
»Ja, Ba - shtie, Antaronas Herz fühlt ebenso«, flüsterte sie ihm ins Ohr, »doch bei den Ival spricht man nicht überall und zu jedem darüber. Es ist das Geheimnis der Herzen, welche in der Verborgenheit verbunden sind.« Sebastian schnappte sich Antarona, wirbelte sie im Kreis herum durch die Luft und rief voller überschwänglicher Freude:
»Das ist mal ein Geheimnis, das mir gefällt, mein Engelchen!« Dann stellte er sie wieder auf die Beine und wurde wieder besonnener.
»Was aber ist, wenn sich zwei Herzen nicht mehr verbunden fühlen, oder eines aus einer Verbindung sich mit einem anderen Herzen verbinden möchte.., gibt es so etwas auch?« Antaronas Augen senkten sich und Traurigkeit zog in ihnen ein, als wollte sie diese Frage persönlich nehmen.
»Ja, Ba - shtie, das gibt es auch«, gab sie zu, »jeder Mann und jede Frau der Ival dürfen die Herzen, mit denen sie verbunden sind frei erwählen. So, wie sie es erwählen dürfen, so können sie es aber auch wieder aus ihrem Herzen ausschließen! Das geschieht sehr wenig bei den Menschenwesen des Volkes. Wenn es aber geschieht, so sind alle sehr traurig und meist geht eines der getrennten Herzen weit fort, um das Glück zu vergessen., welches einst sein Herz umgab.«
Sebastian war plötzlich tief betroffen. In seiner Welt sah man es beinahe schon als normal an, wenn ein Paar sich wieder trennte. Doch so, wie Antarona darüber sprach, berührte es ihn im Besonderen und er vermutete, dass die Ival der Liebe und der Verbindung zweier Menschen mit einem viel tieferen Bewusstsein begegneten, das weit über Vertrauen, bloße Leidenschaft und dem Gefühl der Zusammengehörigkeit hinaus ging.
Wahrscheinlich liebten und vertrauten die Ival mit einer so großen, inneren Stärke, die Sebastian nicht ohne weiteres nachvollziehen konnte. Er vermutete, dass es eine Kraft war, die das Volk aus seinem einfachen, mit der Natur so stark verbundenen und verwobenen Leben zog.
Während sie weiter dem Verlauf des Strandes folgten, dachte Sebastian noch darüber nach. Aber auch Antarona ließ der Gedanke nicht los, jedoch aus einem anderen Grund. Warum wollte ihr Ba - shtie etwas von Va-ra-hu wissen, davon, wenn zwei verbundene Herzen sich wieder trennten?
Das Volk sprach nicht darüber. Trennten sich zwei verbundene Herzen, so litten sie mehr, als wären sie zu den Göttern gerufen worden. Warum dachte Ba - shtie daran? Weil er Areos war? Antarona bekam einen Riesenschreck. Ja, das war es! Sie hatte die Tatsache über Wochen hinweg verdrängt, dass er ja einmal seinem Vater, König Bental gegenüber treten musste.
Areos, Bentals Sohn durfte unmöglich mit einer einfachen Tochter der Ival verbunden sein! In den Linien der Könige des Volkes wurden die Söhne immer nur mit einer Prinzessin von Oranutu verbunden. So war es seit Alters her! War dies der Grund für seine Fragen? Dachte er bereits daran, die Verbindung ihrer Herzen wieder zu trennen? Hatten sie beide unbedacht gehandelt?
Antarona fühlte ihr Herz sich zusammenziehen, dass es schmerzte und ihr durch Mark und Bein ging. Ihr wurde abwechselnd schwindlig und übel. Ihr leerer Magen schien sich in ihrem Bauch zu drehen und zu biegen. Sie wagte nicht mehr, Ba - shtie.., Areos anzusehen.
Für sie stand nun fest, je näher sie der Stadt Falméra kamen, desto mehr würde sich Areos Herz von ihrem entfernen! Es gab so viele, schöne Stammestöchter der Oranuti in Falméra, er würde sich schnell eine von ihnen erwählen, wie es Brauch war unter den Söhnen der Könige.
Todunglücklich blickte sie an sich herab. Wer war sie schon? Die Tochter eines Holzbauern.., die einzige Kriegerin der Ival aus dem Val Mentiér.., ja, aber eben nur die Tochter Hedarons. Sie trug noch das unschuldige Gewand der Töchter der Oranuti zu Ehren der Königinnen, welche aus den Geschlechtern der Oranuti stammten.
Viele Stammesführer sandten ihre Töchter nach Falméra. Sie fingen die Blicke der Söhne und Brüder der Ival mit ihren üppigen, wohl genährten Leibern ein und ihre Beine waren weich, wenn sie einen Mann umschlossen. Sie besaßen den Zauber der immer währenden Sonne, trugen elegante Kleider, besaßen wohl geziertes Benehmen und waren von den Ival Falméras geachtet.
Ba - shtie würde als Areos einer von ihnen verfallen und sie, Antarona, Sonnenherz fortan nicht mehr wollen! Was konnte sie ihm als gewöhnliche Tochter der Ival schon bieten? Ihr Leib war ausgezehrt von den Entbehrungen des Lebens in den Tälern und ihre Beine waren fest von der Arbeit. Sie besaß keine Stoffe, um sich darin schön zu kleiden. Ihr Vater war kein Stammesfürst, mit dem sich das Land stärken ließ!
O ja, die Töchter der Oranuti brachten den Söhnen der Könige die Macht und den Reichtum ihrer Stämme, sie stärkten dem König das Bündnis mit dem Volk von Oranutu. König Bental brauchte die Unterstützung der Oranuti und musste allein schon deshalb von Areos verlangen, eine Oranuti zur Frau zu erwählen.
Aber warum gaben ihnen die Götter dann durch die Elsiren den Va-ra-hi, den Segen, der von den Menschenwesen nicht gebrochen werden durfte? Antarona verstand es nicht und innerlich wurde sie immer mehr von der Angst verzehrt, ihren Ba - shtie, oder Areos zu verlieren. Die Angst schwächte sie, machte sie unendlich müde!
Dabei hätte alles so gut sein können! Sie kämpften für das gleiche Ziel, sie dachten gleich, fühlten gleich und ihre Sinne und Herzen flogen zu den Sternen und wieder zurück, wenn sie ihre Haut aneinander rieben und ihre Körper vereinten. Würde Ba - shtie sein En-gel-sen überhaupt noch sehen, wenn er die edlen Töchter der Oranuti in Falméra, am Thron Bentals gut heißen musste?
Auf einem Mal war ihre Freude, nach Falméra zu kommen, aus ihrem Herzen gerissen. Sie fürchtete sich davor, in die Stadt Bentals zu gehen. Sie sah bereits die verführerischen Töchter der einflussreichsten Männer der Oranuti, wie sie ihre langen Krallen nach ihrem Ba - shtie ausstreckten, seine Blicke in sich aufsaugten und ihn mit ihren Augen verzehrten, sobald sie wussten, wer er war.
Aber sie musste nach Falméra gehen, sie hatte den Auftrag des Achterrats. Und sie musste es für das Volk tun! Das Volk, die Ival, sie brauchten sie! Auch, wenn Ba - shtie sie im Zauber Falméras nicht mehr beachtete, ihr Volk war das, was ihr blieb!
Nein! Sie, Sonnenherz, war keine dieser aufgeputzten, stets kichernden und verwöhnten Töchter. Sie war eine Kriegerin! Ihr Name allein trieb vielen Soldaten Torbuks die Angst in die Augen. Sie würde nicht trauern, wenn Areos den weichen, weißen Schenkeln der Oranuti Töchter verfiel!
Sie würde sich auf ihre Bestimmung besinnen, auf die wahren Schätze des Lebens. Mit dem Schwert in der Hand würde sie für das Wohl der Ival in den Tälern kämpfen, nicht mit Worten in den weißen Hallen der Feste Falméras! Sie war eine Tochter des Volkes! Trotzig wischte sie sich die Tränen aus dem Gesicht.
»Antarona, was ist mit dir?« wollte Sebastian wissen, als er seine Frau sich heimlich mit dem Arm die Tränen fort wischen sah.
»Nichts.., Ba - shtie, es ist nichts«, gab sie knapp zurück. Ihre Stimme hatte schlagartig an Wärme verloren. Sie klang mit einem Mal so nüchtern, als wäre er nur ein Bekannter ihres Vaters, dem sie anstandshalber Beachtung schenken musste.
Noch etwas anderes fiel ihm auf. Antarona wendete bewusst ihre Augen von ihm ab. Ihr Blick war stur auf das Meer gerichtet, als suchte sie angestrengt nach etwas, das gar nicht da war. Sebastian aber spürte, dass plötzlich irgend etwas zwischen ihnen stand, konnte sich aber keinen Reim darauf machen.
Was war geschehen, das so schnell ihre Stimmung umkippen ließ? Hatte er etwas falsches gesagt? Hatte er sie beleidigt, oder gar verletzt? Antarona beschleunigte jäh ihre Schritte und er hatte das Gefühl, sie suchte ganz bewusst den Abstand zu ihm.
In seiner Verzweiflung beschleunigte er seine eigene Gangart, holte sie wieder ein und hielt sie am Arm fest.
»Jetzt sag’ mir mal, was eigentlich in dich gefahren ist«, forderte er sie auf, »du führst dich plötzlich auf, als würdest du mich hassen, was soll das?« Antarona entwand sich seinem Griff und sah wieder trotzig auf die Leere des Meeres hinaus.
»Es ist nichts, Ba - shtie.., Sonnenherz muss nur nachdenken!« Damit überließ sie ihn seinen eigenen Gedanken. Sebastian schüttelte verständnislos den Kopf. So hatte er sie erst einmal erlebt, als er tollkühn versucht hatte, sie gleich kurz nach ihrer ersten Begegnung zu küssen.
Wie ein schuldbewusster Sünder schlich er hinter ihr her, den Strand entlang, den Blick auf die nassen Steine geheftet, die in der sinkenden Sonne warm und golden glänzten. Die Sonne würde bald im Meer versinken. Was würde der nächste Tag bringen?
Als ein großer Findling aus dem Strand herausragte und zur Rast einlud, setzte sich Sebastian auf die abgerundete Steinfläche, in der sich die Hitze des Tages gespeichert hatte. Mit gemischten Gefühlen sah er Antarona nach, die wie von Starrsinn getrieben weiter ging, ohne sich um ihn zu kümmern. Sie blickte sich nicht einmal um, sondern folgte stur dem Strand, bis sie in der nächsten Einbuchtung verschwand.
Sebastian bekam Bauchschmerzen. Er machte sich um sie mehr Sorgen, als dass er wegen ihres Verhaltens wütend auf sie war. Einerseits wollte er nicht grundlos wie ein geprügelter Hund hinter ihr her laufen, andererseits widerstrebte es ihm, sie allein zu lassen.
Wenn nun eine Horde Verrückter über seine kaum bekleidete Frau her fiel und er war nicht bei ihr? Aber sie wollte seine Nähe ja nicht mehr, sie ignorierte ihn! Er fühlte sich hin und her gerissen zwischen dem Gefühl, sie immer und überall beschützen zu wollen und niemals allein zu lassen, und dem Bedürfnis, ihr zu zeigen, dass sie ihn nicht ohne Grund mit solcher Ignoranz behandeln konnte.
Was war nur so unversehens in sie gefahren? Was hatte er falsch gemacht, das ihr Anlass gab, von einer Sekunde zur anderen seine Nähe zu meiden? Sebastian sah in die sich rot färbende Sonne, die in ein paar Minuten im Meer versinken würde. Aber auch dort fand er keine Antwort. War an diesem Strand alles zu Ende? Trennten sich an dieser Stelle ihre Wege, ganz unspektakulär und nüchtern? Ohne ein Wort?
Nachdenklich sah Sebastian zu, wie der rot glühende Feuerball hinter dem Horizont verschwand und einen scheinbar brennenden Himmel hinterließ. Er liebte solche Stimmungen über alles, Doch zu dieser Stunde fühlte er sich so schlecht, wie selten. Eigentlich sollte Antarona in diesem Augenblick an seiner Seite sein!
Warum reagierte sie aus heiterem Himmel so ablehnend? Warum schwieg sie einfach? Für ihn gab es immer den Dialog auf dem Vernunftsweg, mit dem sich jedes Problem klären ließ. Antarona schien sich allein von ihren Gefühlen leiten zu lassen...
Aber wie gut kannte er sie überhaupt? Die Erlebnisse der letzten Wochen hatten sie zwar tief miteinander verbunden, doch hatten sie ihnen kaum Zeit gelassen, das Wesen des anderen wirklich kennen zu lernen. Das wurde ihm schon einmal deutlich, als er in Tark ihre heimliche Liebe vermutete und einfach fort lief...
Natürlich... Das war es! Sebastian konnte sich noch genau daran erinnern, welche Gefühle in ihm tobten, als er glaubte, ein anderer hatte das Herz Antaronas für sich! Er konnte nichts sagen, die Angst vor dieser Möglichkeit raubte ihm die Sinne, er ging einfach fort. Empfand sie in diesem Augenblick ebenso? Doch was gab ihr den Anlass dazu?
Sebastian versuchte sich daran zu erinnern, wie sie beide damals, nachdem er den Hof ihres Vaters verlassen hatte, wieder zueinander fanden. Antarona war es, die ihn trotz seines seltsamen Verhaltens nicht aufgab. Sie ging ihm einfach nach! Und er war froh und erleichtert, dass sie es tat.
War es nun an ihm, ihr zu zeigen, dass er nach wie vor zu ihr stand? Würde sie sich ihm öffnen, wenn er ihr bewies, dass er ihre Stimmung akzeptierte und ihr keinen Vorwurf daraus machte? Nun, damals, bei der Hütte des Unbekannten, hatte sie ihn nicht einfach aufgegeben und über das große Missverständnis, das zwischen ihnen gestanden hatte, konnten sie schließlich lachen.
Mit einem Mal war Sebastian auf den Beinen. Der Sonnenuntergang interessierte ihn nicht mehr. Im letzten Licht der Gestirne folgte er dem Verlauf des Strandes, seine Augen durchbohrten die zunehmende Dunkelheit und beinahe fühlte er sich wie ein Verräter. Er hätte Antarona nicht allein ziehen lassen sollen!
Von den dicht bewachsenen Berghängen, die rechts anstiegen, vernahm er Geräusche, die von einem geheimnisvollen Nachtleben im Dschungel erzählten.
Zum Zeitpunkt des Sonnenuntergangs hatte sich eine atemlose Stille über das Land gelegt, ja nicht einmal ein Vogel war zu hören und sogar die Wellen schienen sich für einen Augenblick beruhigt zu haben. Es war wie ein Ausatmen des Tages.
Doch nun zur Nacht erwachten ganz andere Stimmen. Es kreischte, brüllte, zirpte und raschelte im Schatten der hohen Bäume und Sebastian war klar, dass er, sollte er Antarona nicht mehr finden, am Strand übernachten musste. Wer konnte ihm schon sagen, ob es ratsam war, die Nacht eher im Schutz des Dschungels zu verbringen? Er hatte nicht vor, den Morgen mit dem Stachel eines giftigen Insekts in seinem Leib zu begrüßen!
Der Nachtwind wehte warm von Süden den Strand herauf. Die deutliche Abkühlung, die Sebastian befürchtet hatte, blieb aus. Welche mächtigen Ströme mussten hier herrschen? Meter für Meter marschierte er im Wasser dahin, ließ sich die Füße von den Wellen umspülen und hielt besorgt nach Antarona Ausschau.
Was wurde aus ihm, wenn sie sich tatsächlich von ihm getrennt hatte und von nun an ihre eigenen Wege ging? Auf einer fremden Insel, auf der man eine fremde Sprache pflegte, ohne Kleidung, ohne Proviant... Er war verloren! Sicher würde man ihn schon am ersten Tag in Falméra wegen Landstreicherei in irgend ein Verlies sperren und warten, bis er verrottet war!
Wie lange er den Biegungen der Küstenlinie gefolgt war, konnte er nicht sagen, als er unerwartet auf einen größeren Bach traf, der quer zum Strand in das Meer mündete. Das Tal, aus dem der Bach wie aus einem geöffneten Tor trat, zog sich scheinbar weit in das Land hinein.
Ein paar hundert Meter landeinwärts erblickte Sebastian etwas seltsames und obwohl der Mond nur spärliches Licht auf das Land warf, glaubte er zu erkennen, dass dieses Gebilde von Menschenhand errichtet wurde. Das wollte er sich genauer ansehen.
Je näher er dem Gerüst aus Streben und Stützen kam, desto deutlicher wurde ihm, was er vor sich hatte. Es war eine Brücke, die über den Bach gebaut war! Auf seiner Seite des müde dahin plätschernden Wasserlaufs kam ein gut ausgebauter Weg aus dem Tal heraus, machte einen Knick, führte im rechten Winkel über die Brücke und setzte sich auf der anderen Seite noch ein paar Meter weit fort, bis er eine Biegung beschrieb, die um den Fuß eines bewaldeten Hügels herum führte.
Sebastian wollte schon wieder zum Strand zurück gehen, als er rechts vom Bachlauf eine Schattengestalt auf einem flachen Stein sitzen sah. Antarona! Er konnte sie nicht sofort erkennen, doch er wusste, dass sie es war! Sie gab sich ihm mit keinem Zeichen zu erkennen und stand auch nicht auf.
Aber das war ihm egal. Er hatte sie wieder gefunden, nur das zählte! Antarona sagte kein Wort. Sie saß nur stumm da und ihr Blick schien wie angenagelt auf den Boden geheftet. Trotz der mehr als befremdlichen Situation setzte er sich einfach still neben sie. Er stellte ihr keine Frage, machte ihr keinen Vorwurf und sagte ihr auch nicht, wo er so lange geblieben war.
Schweigend saßen sie da, ihr Blick folgte dem Bachlauf, der sich im Mondlicht glitzernd zum Strand schlängelte und eins wurde mit den schimmernden Wellen der See, die im Licht der Sterne auf und ab tanzten. Sie lauschten den Klängen der Nacht, dem Rauschen der Wellen und den Stimmen des Waldes.
Als Sebastian bemerkte, dass Antarona zitterte, zog er sein Hemd aus, hängte es ihr um und legte schützend seinen Arm um ihre Taille. Sie wehrte ihn nicht ab und er zog ihren Leib dicht an sich heran. Lange zeit saßen sie so da, ohne ein Wort zu sprechen. Sebastian fühlte aber den Einklang, der wieder zwischen ihnen entstand. Dennoch vermied er es, ihr seltsames Verhalten am Strand anzusprechen.
Er hatte ihr gezeigt, dass er für sie da war und hoffte, sie würde ihm schon irgend wann anvertrauen, was sie bewegte. Sein Arm zog sie noch etwas fester an sich, eine kleine Hoffnung, ihr doch noch ein Wort zu entlocken. Statt dessen legte sie in alter Vertrautheit ihren Kopf an seine Schulter, ihre Arme umschlangen seinen Oberkörper und sie schmiegte sich Halt suchend an ihn.
Sebastian verstand die Beweggründe für ihr Verhalten nicht, doch er war überglücklich, sie wieder in seinem Arm zu halten und ihre Nähe und Wärme zu spüren, ihren Duft zu atmen. Ohne sie war er nur eine leere Hülle gewesen, ohne sie hatte ihm ein Stück von sich selbst gefehlt. Nun fühlte er sich wieder vollkommen!
Nachdem sie lange Zeit schweigend und lauschend dagesessen hatten, stand Antarona plötzlich auf, nahm sanft Sebastians hand und zog ihn mit sich.
»Wir suchen uns ein Lager für die Nacht, Ba - shtie, kommt!« Das war alles, was sie sagte. Aber sie ließ seine Hand nicht mehr los und behielt auch Bastis Hemd um ihre Schultern. Er wusste, sie waren wieder wie ein Herz! Aber auch Sebastian wagte nichts zu sagen. Diesen wunderbaren Moment wollte er nicht durch unbedachte, wenn auch gut gemeinte Worte entweihen.
Schweigend, aber doch von einer unsichtbaren Last befreit, gingen sie über die Brücke und folgten dem Weg, der sie zunächst wieder in Richtung Strand, dann aber am Fuß des Hügels entlang führte. Dieser gut drei Meter breite Weg bestand mal aus Sand, mal aus fest getretener Erde und ohne Schuhwerk ließ es sich auf ihm wesentlich besser laufen, als auf den Steinen am Strand.
Lange waren sie auf der unbefestigten Straße nicht unterwegs, als sie einer Biegung folgten und Sebastian erstaunt stehen blieb. Das Land fiel in leichten, mit Gras bewachsenen Bodenwellen bis zum Strand hin ab und der Weg wand sich hindurch, wie ein Fluss und endete in einer Ansammlung flimmernder Lichtpunkte.
Zuerst dachte Sebastian an Elsiren, doch die flackernden Lichter bewegten sich nicht. Nach weiteren hundert Metern den Hügel hinab wurde offensichtlich, was er für Elsiren gehalten hatte. Von sanften Hügeln umsäumt, direkt an den Strand gebaut, lag eine kleine Siedlung! Die Anordnung der Hütten erinnerte Sebastian an die Dörfer der Südsee, die oft bis an das Meer gebaut waren.
Mehrere Fenster waren erleuchtet, aus den Schornsteinen kräuselte sich dünner Rauch in den nächtlichen Himmel und es roch nach verbranntem Holz. Noch bevor sie die ersten Hütten erreichten, schlugen zwei oder drei Hunde an, beruhigten sich aber kurz darauf wieder.
»Das ist Val Argón, Ba - shtie«, raunte ihm Antarona zu. »Die Ival, welche hier leben, sind Freunde, aber wir sollten vorsichtig sein!«
»Vorsichtig.., bei Freunden?« fragte Sebastian verwundert und ließ sich von seiner Gefährtin in den Schatten einer unbewohnten Vorratshütte ziehen.
»Ja, Ba - shtie, die Ival in den Dörfern Falméras sind Freunde. Doch es gibt auch Verräter, welche Anhänger Torbuks sind. Niemand vermag recht zu sagen, wer in den Dörfern oder in Falméra Quarts von Torbuk erhält.« Also hatte Torbuk sogar unter den Ival bezahlte Spione! Sebastian wunderte allmählich gar nichts mehr.
»Kannst du denn in diesem Dorf irgend jemandem vertrauen?« wollte er wissen. Antarona aber antwortete nicht, legte ihm statt dessen ihre Fingerspitzen auf den Mund. Sogleich begann ganz in ihrer Nähe ein Hund aufgeregt zu bellen. Sebastian hielt vor schreck den Atem an.
Antarona gab ihm sein Hemd zurück und duckte sich unter die Holztreppe, die zur Tür der Vorratshütte hinauf führte. Sebastian kauerte sich hinter ihr an die Holzwand und versuchte sich das Hemd überzuziehen.
»Zieht es nicht an«, ermahnte sie ihn, als sie sah, was er vor hatte, »ihr leuchtet damit wie die Sonne in der Nacht!« Natürlich, sie hatte recht. Wenn er das weiße Hemd trug, konnte er auch gleich zum Dorfplatz laufen und lauthals verkünden, dass sie gerade vom Festland herüber gekommen waren.
Sie warteten einen Augenblick, bis der Hund wieder Ruhe gab, dann huschte Antarona wie ein flüchtiger Schatten an der Hütte entlang und gab Sebastian ein Zeichen, ihr zu folgen. An einigen Hütten hatten die Bewohner kleine Laternen neben die Eingänge gehängt, die spärliches Licht in den Sand der Dorfstraße warfen.
Vorsichtig schlich sie voran, duckte sich unter dem Lichtkegel hindurch, erreichte die Ecke einer Wohnhütte und orientierte sich neu. Leichtfüßig flog sie über einen unbeleuchteten Platz und kauerte sich an die gegenüber liegende Hüttenwand. Sebastian versuchte ihr geräuschlos zu folgen und sank schwitzend neben ihr in den Sand.
Aus dem Inneren der Hütte klangen Stimmen. Basti hörte eine Frau sprechen und Kinder lachen. Wie lange hatte er schon nicht mehr so unbeschwerte, fröhliche Laute gehört? Im Grunde schon nicht mehr, seit er am Bahnhof in Brig den Postbus nach Gondo bestiegen hatte, um ins Zwischbergental zu gelangen.
Aufmerksam beobachtete Antarona die Eingänge der Hütten, sprang dann unvermittelt auf und lief geduckt quer über die Straße, zur dritten, vierten Hütte. Sofort verbarg sie sich im Dunkel der Seitenwand, die im Mondschatten lag. Sebastian wartete. Dann erschien ihre Handfläche im Lichtkegel der Eingangslaterne und winkte ihm auffordernd zu.
Sebastian folgte ihr und ließ sich ebenfalls mit dem Rücken gegen die Holzwand fallen. Doch aus heiterem Himmel begann irgend etwas laut zu scheppern und zu poltern, dass es ihm durch die Glieder fuhr.
Er hatte versehentlich ein leeres Holzfass angestoßen, auf dem eine Schale aus einfachem Kupferblech stand. Sebastian versuchte noch, die Schale aufzufangen, doch sie glitt ihm aus den Fingern, schlug erst gegen die Wand, dann auf den Boden.
Geistesgegenwärtig schnappte Antarona seinen Arm und zog ihn noch tiefer in den Schatten zwischen die Hütten. Im gleichen Augenblick flog vorn die Eingangstür auf und ein kräftiger Mann erschien im Lichtkegel der Laterne. Zu ihrem Glück konnten sich die Augen des Mannes nicht schnell genug an die Dunkelheit gewöhnen, außerdem war er durch die Laterne geblendet.
Antarona drängte Sebastian noch weiter zurück, während der alarmierte Hüttenbewohner die Laterne vom Haken nahm und sie hoch hielt, um besser sehen zu können. Sebastian blieb fast das Herz stehen. Da kam noch ein zweiter Mann aus der Hütte, stellte eine ungeduldige Frage und lenkte den ersten ab.
In diesem Moment stieß Sebastian, von seiner Gefährtin immer weiter zurück geschoben, gegen einen Stapel Käfige. Die halb Meter großen Kästen gerieten ins Wanken und die beiden oberen stürzten zu Boden. Die Gittertüren flogen auf und zwei hühnerartige Vögel flatterten von panischer Angst getrieben ins Freie, direkt in das verdutzte Gesicht des Mannes mit der Laterne.
Der Mann stolperte zurück, ließ die Laterne fallen, die sofort erlosch und saß Sekunden später auf seinem Hintern. Aufgeregt zeternd und gackernd stürmten die Hühner an ihm vorbei. Sofort sprang der wieder auf die Beine, trat und fuchtelte hinter seinem Federvieh her, was freilich sinnlos war und schimpfte, als könnte er seine Hühnervögel damit veranlassen, wieder zurück zu kommen.
Der zweite Mann fand das urkomisch, bog sich vor Lachen und seine Schadenfreude wollte gar kein Ende nehmen. Erst als ihn der erste mit rüdem Ton anfuhr, beruhigte er sich allmählich, ging in die Hütte und kam drei Sekunden später mit einem brennenden Span zurück, der die Laterne wieder in Brand setzte.
Inzwischen hatten Antarona und Sebastian genug Zeit gehabt, sich auf die Rückseite der Hütte und weiter zur nächsten Behausung zu flüchten. Sie hörten noch eine Weile die Stimmen der beiden Männer, dann kehrte wieder Ruhe ein.
Sebastian erwartete nun einen Schwall Vorwürfe von seiner Frau, weil er beinahe ihre Anwesenheit verraten hätte. Doch sie ließ nichts dergleichen verlauten, sondern schlich sich an allerlei Gerät vorbei zur Hinterseite der nächsten und übernächsten Hütte. Dann gelangten sie an drei Vorratshütten, die ähnlich der von Högi Balmer auf dicken Stützen standen.
Wie Diebe wanden sie sich durch das Gebälk und standen schließlich erneut vor einer Wohnhütte. Die Fenster waren leicht beschlagen, aber hell erleuchtet und durch ihre Wände drang Gesang nach außen. Sebastian musste zwei Mal hin hören, um es zu glauben. Ja, dort drinnen sangen die Kehlen einer ganzen Familie!
Ein Mann gab ein paar Takte vor, dann fiel die Stimme einer Frau und die einiger Kinder mit ein. Es war ein schönes Lied, das Sebastian an die melodischen Gesänge der Gesellschaftsinseln erinnerte. Ergriffen lauschte er den Klängen und stellte fest, dass in dieser Hütte verborgene Talente schlummerten. Auch Antarona schien das nächtliche Ständchen zu genießen, denn sie machte keine Anstalten, weiter durch das Dorf zu schleichen.
Als das harmonische Lied beendet war und ausgelassene Kinder durcheinander plapperten, nahm Antarona ein Steinchen auf und klopfte damit gegen das Fenster. Sebastian sah sie erschrocken an.
»Was machst du denn da.., bist du von allen guten Geistern verlassen?« zischte er ihr zu. Sie aber legte ihm beruhigend die Hand auf den Arm und erwiderte:
»Habt ihr es nicht gehört, Ba - shtie, hier sind Freunde!« Noch einmal klopfte sie an den Fensterrahmen, diesmal etwas kräftiger. Sofort erstarb drinnen jeglicher Laut. Antarona wiederholte das Klopfzeichen, dann hörte man ein Scharren und Schieben, als rückte jemand Möbel zurecht. Kurz darauf öffnete sich die Eingangstür und ein Mann kam mit einer Laterne zögernd um die Hausecke.
Er hielt die Lampe höher und sein skeptisches Gesicht verwandelte sich sofort in ein offenes Lächeln, als er Antarona erkannte. Dann blickte er sich gehetzt um, blies das Licht aus, zog sie mit sich um die Hausecke und schob sie durch die offene Tür in das Innere der Hütte. Sebastian folgte ihnen stumm und ließ sich von dem Mann ebenfalls in die Behausung bugsieren.
Die erloschene Laterne noch in der Hand, betrachtete er Antarona wie einen Gegenstand, den er lange sehnsüchtig vermisst und endlich wieder gefunden hatte. Schließlich breitete er seine Arme aus und musterte seinen späten Gast mit leuchtenden Augen. Die Frau im Hintergrund, die langsam, mit überraschtem Blick hinzu trat, würdigte er keines Blickes mehr.
Sebastian hatte während ihrer Wanderung so viel Ival gelernt, dass er das Meiste von dem verstehen konnte, was gesprochen wurde.
»Sonnenherz.., Tochter, Kriegerin der Ival bringt in dunklen Zeiten Licht in meine Hütte«, begann er überschwänglich und herzlich seine Begrüßung und ließ Antarona erst gar nicht zu Wort kommen.
»Sagt, wo kommt ihr her.., wie geht es meinem alten Freund Hedaron.., raucht der immer noch das stinkige Zeug in seiner Pfeife.., und was macht euer Bruder Tark, sagt.., wie geht es ihm? Und der alte Balmer, habt ihr den einmal gesehen, kraucht der noch durch die Wälder?« Fast überschlugen sich die Worte im Eifer des Mannes, doch das schien ihn nicht im Mindesten zu stören.
»Was macht Acheron, jagt der immer noch den Felsenbären nach? Ist der noch im Achterrat? Es gibt ihn doch noch, den Achterrat, oder? Ach.., was frag’ ich.., legt erst einmal eure Waffen ab.., und dann erzählt.., was tut ihr hier? Schickt Hedaron euch zu mir? Und wie ihr erst ausseht.., eine richtige Schönheit seid ihr, wie eine Blume in der erwachenden Sonne! Nun redet schon, Sonnenherz, was führt euch zu so später Zeit nach Val Argón, wollt ihr...«
»So lasst sie doch erst mal zur Ruhe kommen, Mann«, unterbrach ihn die Frau tadelnd, die bislang still im Hintergrund gestanden hatte, »Sonnenherz hat gewiss einen langen und schweren Weg hinter sich.., nicht wahr, Mädchen, muss nicht einfach gewesen sein.., durch das von Mördern und Dieben verseuchte Land!«
Die Frau scheuchte eine kleine Schar neugieriger Kinder in eine dunkle Ecke des Raumes und rückte einladend einen Stuhl am Tisch zurecht.
»Nun setzt euch erst einmal, Mädchen und lasst euch ansehen«, forderte sie Antarona mit leiser, beinahe tonloser Stimme auf. Ruhige, besonnene Augen musterten ihre Gestalt und beherrscht brachte die Frau ihre Bewunderung zum Ausdruck:
»Bei den Göttern.., Mädchen.., seid ihr groß geworden.., und eurer Mutter so ähnlich, als stünde sie leibhaftig wieder vor mir! Aber recht dürr seid ihr, treibt euch auch immer in den Wäldern herum.., man hört ja so einiges.« Abschätzend glitt ihr Blick an Antarona herab und wieder hinauf und blieb argwöhnisch an ihren Waffen hängen.
»Na ja.., die Kerle.., heimlich bewundern die euch.., alle.., habe ich nie verstanden!« Sie schüttelte zweifelnd den Kopf, bevor sie ohne den Ton zu verändern weiter sprach:
»Aber Kindchen, Kindchen.., ihr seid inzwischen erwachsen, wollt ihr nicht langsam eine Familie gründen, Kinder haben und ein Heim.., wie es einer Ival zukommt? Das nimmt kein gutes Ende, wenn ihr so herum lauft und den Torfschädeln hier die Köpfe verdreht.« Dabei nickte sie wie beiläufig zu ihrem Mann hinüber, der Antarona geradezu mit seinen Augen verschlang.
»Sonnenherz hat sicher Durst und Hunger und ist müde, ich hole ihr Wasser«, wollte der sich nun wieder um sie bemühen, doch seine Frau winkte fahrig mit der Hand und schnitt ihm abermals das Wort ab:
»Ach.., müde sieht die nicht gerade aus.., ist ja noch jung und unverbraucht.« Dann fuhr sie mit einem genervten Blick zu ihrem Mann fort.
»Kerle.., haben nichts besseres im Kopf, als euch junge Dinger! Bewundern euch und vergessen dabei, dass sie bereits einen ganzen Stall voll kleiner Rotznasen haben... Lasst euch von diesem, der mein Mann ist, nicht das Wort nehmen, Kindchen! Ist nur im Moment von eurer Jugend geblendet, der alte Holzkopf. Glaubt mir.., das gibt sich wieder! Weiß der doch, was er an jener hat, die ihm jeden Tag, den die Götter werden lassen, sein Essen vor die Nase stellt.«
Sebastian, der sich bislang im Hintergrund gehalten hatte, musste grinsen. Diese abgeklärt und müde wirkende Frau konnte nichts mehr erschüttern, selbst die Tatsache nicht, dass ihr Mann heimliche Blicke auf die junge Frau warf, die unverhofft in seinen tristen Alltag gestolpert war. Sie war kleinere Alltagssorgen offenbar gewohnt und überging sie mit der Würde einer Frau, die vieles im Leben gesehen hatte.
Sie war nicht sehr groß, doch ihre ganze Statur ließ erkennen, dass sie ständig arbeitete und selten ruhte. Wenn die sieben Kinder, die Sebastian zählte und die im Alter von zwei bis zehn Jahren sein mussten, die eigenen Kinder dieser Frau waren, so wunderte er sich nicht mehr über die eher nüchterne Art, mit der sie Antaronas Besuch erlebte.
Überhaupt wirkte die Frau ziemlich emotionslos, als hätte sie im Laufe der Jahre gelernt, mit ihren geistigen Kräften aus Selbstschutz sparsam umzugehen. Die überschwängliche Freude, die ihr Mann an den Tag legte, mochte ihr, sollte sie sich darauf einlassen, zuviel an innerer Kraft kosten. Dennoch besaß die siebenfache Mutter ein fein geschnittenes, freundliches, ja geradezu gütiges Gesicht. Sebastian dachte unwillkürlich an einen Engel, der zu Höherem berufen war, sich aber mit seinem einfachen Schicksal arrangiert hatte.
Dabei machte diese Frau, die ein schlichtes Kleid aus naturweißem Stoff trug, keinen schwächlichen Eindruck. Das weite Arbeitskleid hatte sie mit einer Schürze zusammen gebunden, die noch die Spuren vom Schaffen des Tages trug. Die langen, blonden Haare, denen man ihre fünfunddreißig bis vierzig bewegten Jahre nicht ansah, waren unspektakulär mit mehreren groben Haarnadeln aus Holz gebändigt, damit sie ihre Trägerin nicht behinderten.
Der Mann hingegen vermittelte seinem Betrachter den Eindruck einer frohen, aber labilen Natur, die Sorgen und Ängste zumindest oberflächlich von ihm fern hielt. Wache, strahlende Augen, gerahmt von angegrautem, aber vollem Haar und einem Paar übertriebener Segelohren, ließen keinen Zweifel darüber aufkommen, dass er das Schicksal eines hart arbeitenden Mannes mit unzerstörbarem Optimismus ertrug.
Er steckte in einer einfachen, grob geschnittenen Hose und einem sauberen, kragenlosen und weißen Hemd, das an den Ärmelenden und dem Saum hoffnungslos ausgefranst war. Darüber hatte er eine Jacke aus grauem, derben Stoff gezogen, die einen ziemlich zerschlissenen Anblick bot.
So ärmlich die Familie auch wirkte, primitiv und dumm waren sie gewiss nicht. Die Kinder besaßen offenbar schablonengleiche Erbanlagen. Keines von ihnen konnte seine Geschwister, oder Eltern leugnen. Die fünf Jungen und zwei Mädchen starrten Sebastian mit dem wachen Blick ihres Vaters an, ihre freundlichen, engelhaften Gesichter hingegen fanden sich allesamt in ihrer Mutter wieder. Und sollten noch Zweifel über ihre Herkunft aufkommen, ihre abstehenden Ohren klärten die Verhältnisse eindeutig.
Die Frau wandte sich wie ganz nebenbei ihrer Ofenstelle zu, füllte eine Schale mit dampfender Flüssigkeit und stellte sie vor Antarona auf den Tisch. Inzwischen waren die Kinder ungeduldig geworden und neugierig, wer sich noch im Schatten neben der Tür verbarg. Sie kicherten, hampelten herum, flüsterten untereinander und als ihre Mutter sich ihnen zuwandte, zeigten ihre Arme wie stumme Wegweiser auf Sebastian Lauknitz.
»Wollt ihr Antaronas Begleiter nicht endlich herein bitten, der steht sich sonst noch die Beine in den Bauch«, forderte die Frau ihren Mann auf. Sie füllte eine zweite Schale und fuhr leise, mehr für sich selbst, fort.
»Kriegt nicht mal mit, dass da noch einer ist, so vernarrt ist der in die Kleine seiner Schwester!« Sebastian entgingen ihre Worte nicht und er zog die Augenbrauen hoch, angesichts dieser Offenbarung. Doch, sich darüber zu wundern, weshalb ihm Antarona diese Tatsache verschwiegen hatte, dazu bekam er keine Gelegenheit.
»Kommt Herr.., setzt euch, teilt die Suppe mit uns und...« Der Mann verstummte urplötzlich und sah Sebastian erschrocken an, als dieser in den Lichtkegel der einzigen Lampe trat. Seine Frau drehte sich verwundert um und erstarrte ebenfalls. Sie war so entsetzt, dass ihr die Schale mit der heißen Suppe aus den Händen glitt und scheppernd zu Boden fiel.
Beide wichen zunächst einen Schritt zurück, fassten sich dann aber sehr schnell wieder, gingen in die Knie und verbeugten sich tief vor ihrem Gast. Sebastian war verwirrt und sah fragend Antarona an, die auf einem Mal so tat, als sei soeben ein streng gehütetes Geheimnis gelüftet worden.
»Sie erweisen Areos, dem Sohn ihres Königs, die Achtung, welche ihm zukommt«, erklärte sie ihm mit übertriebener Umständlichkeit. Sebastian war zunächst verunsichert und wusste nicht, wie er reagieren sollte. Dann taten ihm die beiden einfachen Leute leid und er hatte nur noch den einen Wunsch, dieses Spektakel zu beenden. Er ging auf die Frau zu, die aber demütig vor ihm zurück wich. Sebastian, um die Peinlichkeit zu überspielen, bückte sich und begann die Scherben der Schüssel aufzusammeln.
Sofort fiel die Frau vor ihm auf die Knie und scharrte ängstlich die Reste ihres irdenen Gefäßes zusammen. Ihre Hände zitterten jedoch so stark, dass sie wieder fallen ließ, was sie gerade eingesammelt hatte.
»Verzeiht, Herr.., vergebt einer einfachen, dummen Frau eures Landes ihre Ungeschicklichkeit!« In übertriebener Unterwürfigkeit eilte nun auch ihr Mann herbei und half seiner Frau mit dem zerbrochenen Geschirr. Sebastian fasste sie beide an den Armen und zog sie vom Boden hoch.
»Nun ist’s aber gut, ja«, begann er so freundlich, wie es ihm möglich war, »ihr seid nicht einfach und dumm.., und ungeschickt ja wohl auch nicht...« Damit nickte er bedeutsam zu ihren Kindern hinüber, die wegen des plötzlich veränderten Verhaltens ihrer Eltern völlig verängstigt und stockstumm in der Ecke standen.
»Na und ihr«, lachte Sebastian die Kindern an, »wie heißt ihr denn, was?« Eilfertig huschte der Vater zu seinen verschüchterten Kindern und schob sie wie eine versteckte Ware ins Licht.
»Sagt unserm Herrn eure Namen, Kinder, los!« brachte er aufgeregt hervor. Ihre Mutter hatte inzwischen ihre Sprache wieder gefunden, doch ihre müde Gleichmütigkeit war wie weggeblasen.
»Verzeiht ihr Benehmen, Herr, sonst sind sie nicht so verstockt«, versuchte sie sich zu entschuldigen, »wir sind nur einfache Fischer und nie hatten wir jemanden aus der Himmelsburg zu Gast, Herr, sie wollen nicht undankbar sein, wir...«
»Es ist schon gut«, lachte Sebastian und versuchte sie wieder zu beruhigen, »wie wäre es, wenn ihr noch mal das Lied spielt, das ich vorhin draußen gehört habe, und meine Wenigkeit und Sonnenherz, wir versuchen mit euch zu singen!« Dieser Vorschlag zauberte ein viel versprechendes Lächeln auf Antaronas Gesicht, das Sebastian heimlich glücklicher machte, als die Möglichkeit, das Eis dieser Familie zu brechen.
Wieder war es der Vater, der sich gehetzt abmühte, ein guter Untertan seiner Krone zu sein und dies auch zeigen wollte: »Das ist zu gütig, Herr.., die Familie wird ihr Bestes geben, Herr, seid versichert...«
»Nun ist aber Schluss mit dem Herrn«, gebot Sebastian energisch. Dann nahm er die Frau und ihren nervösen Mann bei den Armen, zog sie näher an sich heran und sah ihnen in die Augen. Beschämt wollten sie seinem Blick zum Boden hin ausweichen, doch Sebastian rüttelte leicht ihre Arme, so dass sie ihn erneut verstört ansahen.
»Seht her«, munterte er sie lachend auf, »ich bin gekleidet wie ihr, ich spreche wie ihr.., na ja, zugegeben, mit dem Akzent aus dem Reich der Toten.., aber ich bewege mich wie ihr, und wenn ihr mich nicht an meinem Gesicht erkannt hättet, so hättet ihr mich gegrüßt, wie eures Gleichen! Was also hindert uns daran, einfach mit gleichem Respekt miteinander zu sprechen? Was glaubt ihr, warum ich besser sein sollte, als ihr?« Sebastian sah die beiden durchdringend und fragend an, bevor er weiter sprach.
»Glaubt ihr, ich arbeite mehr und härter als ihr, denkt ihr, die Götter lieben mich mehr als euch und meint ihr wirklich, ich sollte mich über euch stellen, nur weil ich Areos bin?« Sebastian machte eine Pause, um seine Worte wirken zu lassen.
»Ja, Herr.., ihr steht über uns«, versuchte der Fischer seine einzige Weltordnung, die er kannte, zu verteidigen, »denn ihr seid Areos, der Sohn unseres Königs, den die Götter bestimmt haben, uns, das Volk der Ival zu führen. Ihr habt das Recht zu befehlen, Herr, sowie alles und jedes von uns zu erbitten, selbst unsere Kinder, wenn ihr ihrer bedürft!« Der Mann wollte sich schon wieder auf die Knie fallen lassen, doch Sebastian hielt ihn auf und sah ihn scharf an.
»So, so.., befehlen.., und alles erbitten, was mir einfällt, ja?« fragte er, als hätte er nicht ganz verstanden. Dann packte er den völlig überrumpelten Mann bei den Schultern und schüttelte ihn kräftig.
»Ich will euch jetzt mal etwas sagen, Mann.., und hört gut zu! Dort draußen, hinter dem großen Wasser, dort, wo das ganze Land beginnt.., dort herrscht ein offener Krieg! Ihr mögt hier nicht viel davon sehen und nur davon hören, aber dort, wo Torbuk das Volk knechtet, sterben an jedem Tag, den die Götter werden lassen, eures Gleichen. Sie werden erschlagen, aufgespießt, gefoltert und die Frauen werden geschändet und verschleppt!« Der Mann wollte etwas sagen, doch Sebastian schnitt ihm mit einer Handbewegung das Wort ab.
»Ihr sollt zuhören«, ermahnte er ihn, »und was ich sage, prägt euch gut ein! Sonnenherz hat mich aus dem Reich der Toten zurück geholt, damit ich dem König und dem Volk der Ival helfe, sich von Torbuk zu befreien. Aber allein vermag ich das nicht. Dazu brauche ich die Ival von ganz Volossoda.., alle, die von dem Wunsch beseelt sind, wieder in Glück und Frieden ihre Kinder wachsen zu sehen«! Damit deutete Sebastian mit dem Kopf auf den zappeligen Nachwuchs des Fischers.
»Ich brauche dazu jeden guten Mann, der ein Schwert, eine Axt, oder auch nur einen Knüppel halten kann. Ich brauche Männer, wie euch, Fischer! Männer, die ihre Familie lieben und nicht wollen, dass seine Kinder verschleppt und seine Frau und Töchter geschändet werden. Ja, Mann dieses Hauses, ich brauche euch! Nicht heute und nicht morgen, aber vielleicht in einem Sommer!«
Freundschaftlich legte Sebastian seine Hand auf die Schulter des verdutzten Hausherrn und fuhr etwas leiser und weniger euphorisch fort:
»Und weil das so ist.., Fischer.., weil ich euch brauche, weil jeder einzelne von euch so wichtig ist, wie der König selbst, deshalb bin ich es, Areos von Falméra, der vor euch knien sollte! Ich bin es, der euch zu achten hat, der jeden Mann des Volkes achten sollte, und ist er scheinbar noch so unbedeutend. Denn jeder von euch ist die Zukunft, das Leben und die Sicherheit dieses Landes. Was glaubt ihr, Fischer, was wären der König und Areos ohne Männer, wie euch, die das Land bestellen, das Meer befischen und das Holz schlagen? Nur gemeinsam und miteinander können wir in Frieden und ohne Sorge um unser Fortkommen leben. So ist es!«
Sebastians Vortrag hinterließ im Gesicht des Fischers ein Staunen, als hätte dieser die Sonne sich blau verfärben sehen. Er nutzte dessen Sprachlosigkeit und kam auf die Kinder zurück.
»Und nun wollen wir zusammen singen, ja?« nun war es die Mutter, die ihren Kindern die Furcht vor dem Fremden nahm. Sie stimmte das Lied an, das Sebastian von draußen gehört hatte. Nach und nach fielen die Kinder mit ein und es klang schließlich, wie ein professioneller Kinderchor.
Nachdem das Lied beendet war und Sebastian zur Freude der Kinder seine Begeisterung zum Ausdruck gebracht hatte, schickte sie die Mutter eine kleine Stiege hinauf. Die Schlafkammer war im Dachboden untergebracht, wohin sich die Kinder zurückziehen konnten.
»Prächtige Kinder habt ihr da, Fischer«, lobte Sebastian den Mann, der nun einen Krug frisches Wasser und ein paar Becher auf den Tisch stellte. Die Frau musterte unterdessen Antarona und bemerkte wie beiläufig:
»Na Kindchen, so wollt ihr doch wohl nicht nach Falméra gehen«, dabei betrachtete sie zweifelnd die spärliche Lederbekleidung Antaronas. Sie nahm das Krähenmädchen vertraulich bei der Hand und zog sie mit sich in einen angrenzenden Raum.
»Kommt.., wir sehen mal, was euch passt.., seid ja ziemlich hoch gewachsen. Ein paar Sachen habe ich noch von eurer Mutter.., hatte sie für meine beiden Mädchen aufgehoben.., eigentlich.., aber bis die erst einmal so weit sind...« Damit verschwanden sie und die Tür schloss sich hinter ihnen.
Sebastian war nun mit dem Fischer allein und fühlte sich ein wenig verloren, denn er wusste nicht, worüber er sich mit diesem fremden Mann unterhalten sollte. Wahrscheinlich aber war dem armen Vater von sieben Kindern die Situation noch viel unangenehmer. Er wollte bei seinem Herrn nicht in Ungnade fallen, strich um Sebastian herum, bot ihm erst einen Sitzplatz an, dann einen Becher Wasser, schließlich entschuldigte er sich übertrieben demütig dafür, dass er keinen Wein zur Verfügung hatte.
Als er letztlich noch aus der Hütte gehen wollte, um für seinen hohen Gast ein Khe-tòn, eine Art Hühnervogel zu schlachten, musste sich Sebastian etwas einfallen lassen.
»Fischer, setzt euch einmal zu mir«, begann er, indem er auf einem Stuhl platz nahm, »ich will etwas mit euch bereden!« Hastig bemühte sich der Mann, Sebastians Wunsch nachzukommen und stieß mit dem Ellenbogen seinen Becher um. Er war so nervös, wie eine Ziege unter einer Horde Löwen. Sebastian befürchtete schon, dieser aufgeregte Mann könnte mit einer unbedachten Handlung noch das ganze Dorf auf den Plan rufen.
»Wie ist eigentlich euer Name?« wollte Basti von dem gehetzt blickenden Mann wissen, um ihn erst einmal zur Ruhe zu bringen.
»Corneus, Herr.., mein Name ist Corneus, der Fischer und meine Frau nennt man Zinthia«, gab er bereitwillig Auskunft.
»Also Corneus«, begann Sebastian sehr umständlich, um Zeit zu gewinnen, »wie ihr seht, bin ich aus dem Reich der Toten zurückgekehrt. Der Achterrat hat mir Sonnenherz als Wegführerin zur Seite gestellt, weil sie das Land kennt.« Sebastian machte eine kurze Pause, um sich seine weiteren Worte zurecht zu legen.
Bei dieser Gelegenheit ging ihm durch den Kopf, wie sehr er dem echten Areos ähnlich sehen musste, dass man ihm die Rolle so ohne weiteres abkaufte. Schon auf seinem Weg von Högi Balmer zu den Dörfern hinab war ihm aufgefallen, wie entsetzt die Menschen reagierten, denen er begegnete.
Sie alle erkannten in ihm Areos, den Sohn des Königs. Da sie aber wussten, dass dieser während der letzten Schlacht gegen Torbuk gefallen und zum Reich der Toten gebracht wurde, konnte es sich bei ihm nur um einen wandelnden Geist handeln, mit dem freilich niemand wirklich etwas zu tun haben wollte.
Erst der Respekt, den Antarona beim Volk genoss, öffnete ihm, dem Tot geglaubten, Tür und Tor. Sebastian ahnte, dass ihn aus Angst vor den Toten jeder gemieden hätte und er irgendwann entweder verhungert, oder Torbuks Männern in die Hände gefallen wäre, hätte Antarona ihn nicht am See aufgelesen. Das freilich verschwieg er dem Fischer Corneus.
Es war dennoch ohnehin ein Wunder, dass ihm seine Geschichte vom auferstandenen Areos geglaubt wurde. Wahrscheinlich lag es daran, dass sich die Ival selbst diese Interpretation seiner Existenz ausgedacht hatten und der Achterrat schien dabei eine nicht unerhebliche Rolle gespielt zu haben.
Denn warum hatte man ihn so lange bei Högi Balmer versteckt? Vermutlich war der Achterrat von der Rückkehr des offensichtlich geistig verwirrten Areos völlig überrascht und musste erst einmal beraten. Sie wussten, dass das Zeichen seiner Auferstehung einen Umbruch im Widerstand gegen Torbuk sein konnte.
Also mussten sie ihn isolieren, bis er die Führung eines Aufstands übernehmen konnte. Wäre er vorzeitig Torbuks Leuten in die Arme gelaufen, so hätten sie ihn postwendend wieder an das Tor zum Totenreich bringen können. Mit seinem eigenmächtigen Verschwinden von Väterchen Balmers Alm brachte der den Achterrat wahrscheinlich mächtig ins Schwitzen. Was Sebastian nach wie vor ein Rätsel blieb, war der feine Unterschied, ob Antarona ihn aus ihrer eigenen Neugier heraus gesucht und gefunden hatte, oder ob sie im Auftrag des Achterrats handelte.
Doch egal, wie es sich letztlich verhalten hatte, Sebastian Lauknitz Tätowierungen führten schließlich dazu, dass Antarona ihn als einen von den Göttern aus dem Reich der Toten zurück Gesandten bewunderte und sich schließlich in ihn verliebte. Ob er nun tatsächlich das zufällige Wohlwollen der Elsiren besaß, das auch noch ihre Verbindung besiegelte, oder ob das Krähenmädchen da etwas nachgeholfen hatte, blieb ebenso ein Geheimnis, wie der Ort, an dem sich Sebastian befand.
Doch wie auch immer: In Bezug auf Antarona und seine Gefühle für sie, konnte ihm nichts Besseres passieren! Sebastian musste grinsen. So viel Glück kam einem selten zu, weder in der irdischen Welt, noch in einem Leben nach dem Tod!
»Herr, ihr freut euch, wieder bei eurem Volk zu sein?« diese Frage des Fischers klang mehr wie eine Feststellung und erzählte Sebastian, dass Corneus sein Grinsen bemerkt hatte.
»Ja, Corneus, ihr habt Recht, ich bin froh, wieder hier zu sein!«, gab Sebastian nicht ganz ehrlich zu. Dann beugte er sich etwas vor, um des Fischers ganze Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
»Sagt mal, Corneus.., wir waren nun einen Tag lang dem Strand von der wachenden Sonne her gefolgt. Ich sah nicht einen, der das Land bewachte, der auf das große Wasser schaute. Wir kamen ungesehen nach Falméra und wären wir Truppen Torbuks gewesen, so wäret ihr nun alle in Gefangenschaft, oder, was schlimmer wäre, geschändet, verschleppt, tot! Gibt es hier denn niemanden, der über dieses Land wacht? Torbuk könnte gerade jetzt eben, in diesem Augenblick direkt vor eurer Tür landen, ihr würdet es erst merken, stünde er in diesem Raum!«
Ein wenig erstaunt sah ihn der Fischer an, er meinte wohl, gerade Areos, der Krieger der letzten Schlacht und Sohn des Königs, müsste eher, als jeder andere den Grund dafür kennen. Doch er antwortete, wie es einem gehorsamen Untertan zukam.
»Herr, die Soldaten Torbuks kommen nicht über das große Wasser, sie besitzen nicht, wie die Oranuti Kisten, welche mit den großen Fahnen über das Wasser fahren. Und schwimmen können sie ebenfalls nicht, wegen der Straße des großen Wassers!« Sebastian horchte neugierig auf.
»Wegen der Straße des großen Wassers.., wie meint ihr denn das?« Sebastian ahnte, dass es noch etwas gab, das für ihn noch von strategisch wichtiger Bedeutung sein konnte.
»Ihr wollt euren ergebenen Diener prüfen, Herr, nicht wahr?« begann der Fischer, »Denn ihr selbst, Herr, habt ja diese Straße des Wassers festgesetzt, damit eure Fischer nicht mehr in den Schlund der Dämonen fahren müssen. Das Wasser zieht die Boote dort so stark, dass einer nur mit dem größten Wohlwollen der Götter wieder nach Falméra zurück kommt«.
Sebastian erfuhr nun etwas, das ihm irgendwie gefiel, weil es zunächst einmal eine Invasion Torbuks verhinderte. Doch wie lange noch? Bis der in der Lage war, selbst seetüchtige Schiffe zu bauen, oder bis er Oranutu annektierte und sich dort einfach die Schiffe nahm!
Er wollte von dem Fischer noch mehr erfahren, musste nun aber diplomatisch vorgehen. Er konnte nicht erwarten, dass das Volk ihn bewunderte und ihm folgte, wenn er keine Kenntnis von dem hatte, was jedes Kind der Ival wusste.
»Sagt, Corneus, sind seit der letzten Schlacht gegen Torbuk viele Boote verschollen?« Er beabsichtigte, mit dieser Frage näheres über die Straße des Wassers herauszufinden, ohne dass Conreus auffiel, dass er gar keine Ahnung von etwas hatte, dass er nach Aussage dieses Fischers selbst erforscht hatte.
»Nein, Herr, viele nicht.., nur jene, die zu leichtsinnig waren, oder nicht genug der Fische bekommen konnten. Sie gerieten unachtsam in die Straße und wurden fort gezogen und nimmer gesehen!«
Das wollte Sebastian hören! Offenbar gab es zwischen dem Festland und Falméra eine mächtig starke Strömung von Süden herauf, die wer weiß wohin zog und alles, das nicht mit viel Kraft steuerbar war, gnadenlos abtreiben ließ. Wahrscheinlich war diese Strömung auch für das extrem milde Klima auf der Insel verantwortlich.
Und noch etwas wurde nun für Sebastian gedanklich fassbar. Es war gewiss eben diese Strömung, welche die Plon-ta für sich nutzten, mit der sie ihn und Antarona so schnell übersetzen konnten. Sicherlich kannten auch die Oranuti die Strömungsverhältnisse und wie man sie nutzen konnte, denn wie sonst war es zu erklären, dass dieses Volk mit seinen Schiffen die einzige Verbindung zum Festland blieb!
Dass alle Waren, die auf Falméra nicht selbst produziert werden konnten, von den Oranuti auf Handelsschiffen herangeführt wurden, hatte ihm ja bereits Antarona berichtet. Doch wie war es sowohl den Fischern, als auch den Oranuti möglich, sicher zwischen der Strömung und dem ruhigeren Wasser zu navigieren? Ein einziger Fehler konnte ja nach Aussage des Fischers ein Wasserfahrzeug auf nimmer Wiedersehen verschwinden lassen.
Mit List, Wortgewandtheit und diplomatischem Geschick entlockte Sebastian dem ehrlichen, aber ziemlich einfältigen Fischer auch diese Information. Sie orientierten sich an den Nebelbänken, die sich im Bereich der Strömung auflösten und über dem ruhigeren Wasser länger verweilten.
Außerdem hatten sie begonnen, die Strömungsstraße nach den Erkenntnissen des Nebels mit Bojen zu markieren. Dazu versenkten sie mächtige Felsbrocken am Rand der Strömung, an denen mittels eines langen Taus mit Pech bestrichene Baumstämme befestigt waren.
Doch diese Bojen, die das Befahren des Meeres bei klarem Wetter gewährleisten sollten, mussten oft ausgewechselt oder ersetzt werden. Stürme, gerissene Taue, oder die Strömung selbst, die sogar die versenkten Felsen zu bewegen vermochte, sorgten dafür, dass der Strom ein ernst zu nehmendes Risiko für Fischer und Seefahrer blieb.
Die Oranuti, so erfuhr Sebastian, machten sich Landmarkierungen zunutze, nach deren Stand sie sich eingeprägt hatten, wann sie ihre Segelstellung ändern und aus dem Strom fahren mussten, um die Hafeneinfahrt Falméras nicht zu verpassen.
So horchte Sebastian den ahnungslosen, loyalen Fischer aus und dieser lieferte ihm einige Erkenntnisse, die möglicherweise einmal den Kampf gegen Torbuks Truppen entscheiden konnten. Eines aber wurde Sebastian schon zu diesem Zeitpunkt klar:
Die Ival brauchten das Volk der Oranuti und wahrscheinlich beruhte die Abhängigkeit beider Völker voneinander auf Gegenseitigkeit. Zumindest im Handel wurde das deutlich. Die Oranuti brauchten gutes, festes Holz von hoher Dichte für ihre Schiffe, die Ival bekamen im Gegenzug Gewürze, Wolle von den Sträuchern, Glasstein und nicht zuletzt den Transport als Dienstleistung.
Während Sebastian dem Fischer hemmungslos alle brauchbaren Informationen entlockte und dabei seine Sprachkenntnisse erweiterte, sah Antarona nebenan zu, wie Zinthia eine mächtige Truhe aus geöltem Holz öffnete.
»So, sehen wir mal, was euch passen könnte, Kindchen...«, sagte die Frau ohne auch nur die Spur einer Begeisterung, »...sind alles noch die Kleider eurer Mutter.., hab’ ich nie verstanden, warum sie die alle hier gelassen hat, so selten wie die mal nach Falméra kam. Bevor sie sich mit Hedaron verbunden hatte, ja da hatte sie viel Zeit bei uns verbracht. War richtig süchtig nach den blühenden Feldern und Wäldern.., trieb sich auch immer bei den Tieren herum. Aber dann... Euer Vater? Ja, der ist immer nur nach Quaronas gefahren, das hatte ihm genügt, mehr wollte der nicht.«
Sie griff in die Truhe, in der Stoff und Leder sorgsam und ordentlich zusammengelegt waren. Als erstes förderte sie ein azurblaues, tailliertes Kleid zu Tage, das an den halblangen Ärmeln und an der durchgehenden Frontknopfleiste mit einem breiten Band aus goldgelbem Stoff abgesetzt war. Es war wunderschön. Es war viel zu schön, das fiel auch Zinthia sofort auf.
»Na das wäre ein schöner Spaß«, kommentierte sie das edle Stück, »wenn ihr heimlich nach Falméra gelangen wollt, wie ihr sagt. Würdet darin aussehen, wie eine Prinzessin der Oranuti.., bei eurer Schönheit gaffen euch sowieso schon alle Kerle nach, da braucht’s so etwas nicht, um das noch hervor zu tun. Wieso eure Mutter so etwas brauchte...«, schüttelte sie verständnislos den Kopf.
Antarona aber sah mit sehnsüchtigen, verstohlenen Augen hinter dem Kleid her, das Zinthia achtlos über einen groben Stuhl warf. Sie hätte es gern anprobiert. Es war so schön, wie die aufgehende Sonne an einem klaren Morgen.., die gleichen Farben! Nie hatte sie etwas mit den Farben der Blumen besessen. Nun musste sie wieder darauf verzichten, weil sie nicht auffallen durfte.
Insgeheim wünschte sie sich, hässlich, krumm und humpelnd zu sein. Dann konnte sie all diese schönen Gewänder tragen. Niemand, auch Torbuks Schergen nicht, würden ihr dann noch nachschleichen oder sie begaffen. Fieberhaft überlegte sie, wie sie das Kleid doch noch bekommen konnte. Sie konnte es doch tragen, wenn sie wieder zurück waren, auf dem Hof ihres Vaters, oder heimlich in ihrer Höhle!
Zinthia holte noch zwei weitere Kleider des gleichen Schnittes aus der alten Kiste. Ein dunkelrotes und ein tannengrünes, beide mit der goldgelben Bordüre. Beide warf sie ohne weitere Betrachtung über die Stuhllehne. Antarona schlug das Herz bis zum Hals. Wenigstens ansehen hätte sie es sich doch können.! Wie hätte Ba - shtie wohl große Augen bekommen!
Sieh dich doch mal an.., du siehst nicht viel besser aus.., alles ist verschmiert ..,bleib du nur in deinem Dreckmantel.., fein siehst du aus, das muss ich schon sagen! Sie hörte noch diese Worte, die Sebastian zu ihr sprach, als sie im Moor unterwegs waren. Ja, er kannte sie nur in der Kleidung der jungen Oranuti-Mädchen und jener, welche die Kriegerinnen trugen. Sie wollte ihm zeigen, das sie auch schön sein konnte.., so schön, wie die aufgeblasenen Prinzessinnen der Oranuti-Stämme und noch viel schöner!
Sie wollte Ba - shtie zeigen, dass sie selbst eine Blume sein konnten! Seine Augen würden ihm in den offen stehenden Mund fallen, so würde er sie bestaunen! Auch wenn sie ihre Mutter nur in der grauen Kleidung der Holzerin kannte, aber die Kleider, die sie einmal trug, waren hier und gehörten einmal ihrer Mutter. Somit gehörten all diese schönen Kleider jetzt ihr, Sonnenherz!
»Na, das ist schon eher zu etwas zu gebrauchen«, unterbrach Zinthia ihre Überlegungen, »hier, damit fallt ihr in Falméra kaum auf!«
Damit reichte sie ihr ein schlichtes, grobes Leinenkleid, das zwar vortrefflich geschnitten war, sich aber ohne jegliches Zierwerk gegen die anderen Kleider wie ein Lumpen ausnahm. Um unauffällig in der Stadt Falméra herum zu laufen, dazu war es gut. Doch aber nicht, um an der Seite Areos vor den König zu treten!
Die Tante beugte sich abermals über die Truhe und holte ein schneeweißes, zweiteiliges Kleid heraus, das nur ein Hauch seiner selbst war. Die Reinheit der Elsiren sollte es wohl verkörpern, so leicht, elegant und außergewöhnlich war das Kleid, das um das weite Dekolltee herum, sowie um die Taille mit feinem Rüschenband besetzt war. Dazu gehörte ein aufwendig gearbeiteter Ledergürtel, auf dem große Metallscheiben prangten.
Antarona war von diesem Stück so hingerissen, dass sie es der Frau sofort aus der Hand nahm. Ehe Zinthia noch reagieren konnte, hatte sie im Handumdrehen ihren Lederschurz abgestreift und sich das Kleid übergeworfen. Ihre Mutter musste die gleiche Statur gehabt haben, denn es passte, wie für Antarona gemacht. Überglücklich strich sie die Falten glatt und sah an sich herunter. Ihre gebräunte Haut leuchtete durch das Gewebe des Oberteils und verlieh dem Kleid einen leicht lachsfarbenen Schimmer. Das Oberteil bedeckte gerade ihre Brüste, während das Unterteil, wie ein Rock tief auf ihrer Hüfte saß.
Die Enden mit Rüschen verziert, waren die Ärmel bis in die Beuge offen, so dass ein Hauch von Nichts jede ihrer Armbewegungen unterstrich und der Stoff wie ein fliehender Nebel mit flog. Der Rock war vorn gewagt tief ausgeschnitten und links wie rechts bis zum Taillensaum hinauf geschlitzt, was Antarona bei den Temperaturen Falméras angenehm fand. Sie drehte sich übermütig und freute sich, wie der leichte, durchscheinende Stoff um sie herum wehte, als hätte sie sich in Wolken gekleidet.
»Kindchen...«, rief ihre Tante entsetzt aus und schlug sich die Hände vor den Mund, »...das könnt ihr nicht anziehen, wenn ihr nach Falméra geht! Das ist ein Kleid für den Elsirentanz. Geht damit durch den Hafen und die Gassen und ihr richtet ein heilloses Durcheinander an! Kommt, zieht es aus, wir wollen vernünftig sein und es wieder in die Truhe legen!«
Doch davon wollte Antarona nichts wissen. Sie hatte sich in einen weißen Traum verliebt! In ihrer Freude sprang sie zur Tür, öffnete sie leise und schritt wie eine Elfe in den Wohnraum. Sebastian prostete gerade Corneus zu und versuchte ihn hinsichtlich der Truppenstärke der königlichen Garde auszuhorchen, als er eine helle Gestalt wahrnahm.
Er hielt mitten im Wort inne und starrte Antarona an, wie er sie angesehen hatte, als sie sich am Mentiér-See das erste Mal trafen. Er vergaß sogar Luft zu holen und erst als sich der Inhalt seines Bechers wie von selbst über die Tischplatte ergoss, wurde ihm klar, dass er nicht träumte.
Sebastian hatte inzwischen sehr wohl mitbekommen, dass es auch Kleider in diesem Land gab, wenn auch Antarona lediglich beim Achterrat eines getragen hatte. Nun sah er das Krähenmädchen, das immer nur wie eine Wilde aus der Steinzeit herum lief, in einem Engelsgewand. War das noch dieselbe Antarona, die mit ihrem Schwert Soldaten aufspießte?
Er stand auf, ging um sie herum, bewunderte sie von allen Seiten und nahm sie dann bei der Hand. Ein paar Meter führte er sie durch den Raum und sie drehte sich vor ihm, dass der dünne Stoff wie ein Schleier an ihm vorüber schwebte.
»Du bist so wunderschön...«, stammelte Basti vor lauter Ergriffenheit, »...ich weiß nicht.., ich bin einfach sprachlos!«
Das war es, was Antarona hatte hören wollen. Corneus hatte sich ebenfalls vom Tisch erhoben und starrte Antarona an, als hätte er Talris selbst vom Sitz der Götter steigen sehen. Seiner Frau, die hinter Antarona aus dem Zimmer gekommen war, entgingen die aufgerissenen Augen ihres Mannes freilich nicht. Sie stemmte ihre Fäuste in die Hüfte und blickte tadelnd und kopfschüttelnd in die Runde.
»Mädchen.., nun guckt euch meinen Corneus an! So hat der mich nicht mehr angesehen, seit ich ihm auf dem Markt in Falméra begegnet bin. Habt wohl was an euch, das die Kerle anzieht, wie das Licht die Plagegeister der Nacht. Eure Mutter war genauso, Alle waren hinter der her.., jeden hätte die haben können, hat allen den Kopf verdreht.., bis Hedaron kam. Dann hat sie nur noch ihn gesehen. Die Kleider hat sie hier gelassen, mögen die Götter wissen, warum!
Antarona hielt mitten in ihrer Drehbewegung inne, ging auf Zinthia zu und blieb vor ihr stehen. Ihr Blick wanderte an ihrer Tante vorbei, in den Raum, wo die anderen Kleider immer noch über dem Stuhl lagen.
»Es sind die Kleider meiner Mutter«, überlegte sie mit einer kleinen Pause, »so will ich sie mitnehmen.., alle! Aber nur die Kleider, nicht das andere Zeug!« Damit verschwand sie wieder im Nebenraum. Zinthia sah Sebastian bittend an.
»Herr, ihr werdet doch auf sie acht geben, ja?« sprach sie leise, damit Antarona sie nicht hörte, »die Männer werden ihr nachlaufen, wie ein Rudel Eishunde, wenn sie das Kleid für den Elsirentanz trägt, doch unter eurem Schutz, Herr...« Sie sprach den Satz nicht zuende, Sebastian wusste aber, was sie sagen wollte. Doch sie war noch nicht fertig.
»Areos, Herr, wenn ihr euch beim König für sie einsetzt, sie soll einmal mit einem guten Mann verbunden sein.., nicht mit dem ersten Besten davon laufen, wie ihre Mutter!«
Sebastian musste Lächeln. Also hatte ihr Antarona nicht erzählt, dass sie bereits durch die Elsiren miteinander verbunden waren. Zinthia bemerkte sein leichtes Grinsen und sofort setzte er wieder eine würdige, bierernste Mine auf.
»Ihr hattet eure Schwester sehr gern«, stellte er fest, ließ es aber wie eine Frage klingen. »Wisst ihr wie sie gestorben ist?« Sebastian sah ihr fest in die Augen, so, wie er glaubte, wie ein Sohn des Königs gucken sollte.
»Hedaron hat nicht darüber sprechen wollen, wollte uns das wohl ersparen, andere haben uns berichtet, was geschehen war. Furchtbar, das alles.., der arme Mann.« Sie schüttelte den Kopf, dann erzählte sie weiter.
»Sie war so lustig, zerbrechlich.., keine Bodenständigkeit.., bis dieser Holzer kam. Da war auf einem Mal alles anders! Sie trug nichts mehr, außer dem einfachen Arbeitskleid, war nur noch für die Kinder da, besonders die Kleine hatte sehr an ihr gehangen.«
»Antarona?« fragte Sebastian, um sicher zu gehen, nichts missverstanden zu haben. Zinthia nickte bedeutungsvoll zum Nebenraum hin.
»Ist ganz anders, die Kleine, nicht so feinsinnig, wie ihre Mutter. Aber das Herumziehen, das hat sie von ihr! Und alles andere?« Zinthia zuckte verständnislos mit den Schultern. »Das wissen die Götter, woher sie das hat. Im Grunde sieht sie doch aus, wie eine Oranuti, nur nicht so füllig wie die meisten dort. Ich will ja nichts sagen, Herr.., aber... Hedaron ist hell.., gelbes Haar, wie sein Vater, die ganze Sippschaft, alles Gelbhaare! Na ja, und bei uns... Seht mich an, Herr, seht ihr da etwas Schwarzes? Meine Mutter nicht und auch nicht mein Vater. Und sie...«, damit wies sie auf den Nebenraum, wo Antarona die Kleider probierte, »...schwarz wie die Nacht, wie ihre gefiederten Freundinnen, könnte meinen, die hätten sie verhext, damals, als sie verschwand. War aber als kleines Kind schon so dunkel, Herr.., wie eine Oranuti mit der Gestalt der Elsiren. Darum vergucken sich ja alle Kerle in sie. Selbst Torbuk und Karek wollen sie.., hab’ ich gehört.«
»Gute Frau, seid versichert, dass ich dafür Sorge tragen werde, dass eure Nichte mit einem guten Mann verbunden wird, der für die Ival von Bedeutung ist«, versicherte ihr Sebastian, »Ich gebe euch hiermit mein Versprechen als der, den ihr kennt, dass ich auf sie achten werde, so, wie ich auf meine mit mir verbundene Frau achten würde!« Damit gab sich Corneus Frau zufrieden und Sebastian musste nicht lügen. Doch eine Sache brannte ihm noch unter den Nägeln.
»Sagt, Frau.., was wisst ihr darüber, ich meine über Sonnenherz Verschwinden, als sie noch ein kleines Kind war?« Sebastian musste beinahe flüstern, um nicht von Antarona gehört zu werden.
»Es war einen sehr warmer Tag, Herr, in der Zeit nach dem langen Schnee, das Kindchen lag in einer Krippe vor dem Haus. Meine Schwester hatte Körbe geflochten. Nur für einen Moment ging sie in die Hütte und als sie wieder kam, war die Krippe leer und das Kindchen fort. Nichts war angerührt, nur das Kindchen war fort.«
»Ja, hat denn niemand nach ihm gesucht, oder hatte jemand ein wildes Tier gesehen?« fragte Sebastian neugierig.
»Alle Männer hatten das ganze Tal abgesucht, Herr, aber das Kindchen blieb verschwunden, als hätten es die Götter selbst geholt. Acheron war es, der Jäger.., in der Zeit der Ernte geht der viel jagen. Weit oben in den Bergen war es und schon dunkel.., da hat er ein Licht gesehen, so hell wie die Sonne und in der Farbe des Himmels. Acheron war schon immer auf fremde Dinge aus und ging da hin. Er fand Antarona, auf einer Wiese, unter einem Baum. Als er hinzu ging, wurde er von einer Schar Schwarzvögel angegriffen. Schon seltsam, Herr, die greifen nie Menschenwesen an.«
»Aber die hatten es getan«, wollte Sebastian näheres wissen, »oder hatten die nur ihre Beute verteidigt?«
»Ach, Beute.., Herr«, winkte Zinthia ab, »die Tiere hatte sie beschützt, Acheron hatte es deutlich gesehen, der ist Jäger, der weiß wovon er spricht. Jedenfalls hatte er die Tiere fort gescheucht und die kleine mitgenommen. Merkwürdig war das schon, Herr, als meine Schwester das Kindchen zu sich nahm, da fiel ihr ein Anhänger auf, den sie um den Hals trug. Als sie verschwand, trug sie keinen Anhänger.« Sebastian sah die Frau skeptisch an.
»Ein Anhänger? Was war das denn für ein Anhänger?« hakte Sebastian nach. Antaronas Tante beugte sich etwas zu Sebastian vor, als befürchtete sie, jemand könnte sie belauschen.
»Es war ein blaues Licht, Herr.., das Licht, das Acheron gesehen hatte und welches ihn zu dem Kindchen führte.« Sebastian starrte die Frau des Fischers an. Hatte sie blaues Licht gesagt? Sofort fiel ihm wieder das blaue Licht in den Hallen von Talris ein. Bestand da ein Zusammenhang?
»Was war das für ein Licht, Frau, beschreibt es mal«, forderte er sie auf. Er wusste intuitiv, dass die Frau die Wahrheit sprach. Ausgerechnet ein blaues Licht... So viel Phantasie besaß niemand in diesen Tälern, als das es eine erfundene Sache sein konnte.
Immer wieder stolperte Sebastian über einen blauen Schein. Erst Antaronas Kugel, dann ihr Schwert, dann die Hallen von Talris, jetzt noch der Gegenstand einer Legende, die seine Frau war!
»Wie ein Plon-ta, so hat es ausgesehen, mit einem runden Schwanz und einer runden Flosse, Herr. Das Kindchen konnte es mit seinen kleinen Händchen umfassen, so klein war es. Aus seinem Maul schien das blaue Licht.« Zinthia machte eine abwertende Bewegung mit der Hand, bevor sie noch hinzu fügte:
»Es hat nicht lange gebraucht, dann war das Licht verloschen, Herr, und ist bis heute nicht wieder entflammt.«
»Woher wollt ihr das wissen, wenn das so lange her ist?« zweifelte Sebastian. Aber er ahnte dass da noch irgend etwas kommen musste.
»Ach.., gar nichts geht da mehr«, antwortete die Tante, »ich hab’ ja immer mal wieder nachgesehen.., das Licht ist verloschen!« Sebastian sah sie verblüfft an.
»Ihr habt nachgesehen... Also gibt es das Licht noch!« Sebastian ließ seine Worte wie Frage und Antwort gleichermaßen klingen. Die Frau sah Sebastian gleichgültig an. Für sie war das Licht offenbar weniger spektakulär, als die Tatsache, dass Antarona auf so seltsame Weise verschwunden war.
»Ja, Herr.., das Licht gibt es noch«, erklärte sie umständlich, »wollt ihr es sehen?« Sebastian konnte seine Überraschung nun kaum noch verbergen.
»Wie.., ihr habt es hier?« fragte er ungläubig. Zinthia winkte mit der Hand ab, als sei der Gegenstand ihres heimlichen Gesprächs die Sache erst gar nicht wert. Dann nickte sie mit dem Kopf in den Nebenraum, wo Antarona immer noch mit der Entdeckung der Kleiderwelt beschäftigt war.
»Ihre Mutter hatte es irgend wann da gelassen, wie so manches andere auch. Meinte, Hedaron sollte es nicht sehen, würde ihn nur verrückt machen und zu Dingen anstiften, die nicht gut für ihn waren. Sollte sich keine Sorgen machen, der gute Mann. So hat sie’s hier abgeladen. Soll ich es euch holen, Herr?« stellte sie eine ziemlich überflüssige Frage, wie Sebastian fand.
»Ich wäre euch sehr verbunden, wenn ihr es tätet, gute Frau«, verbeugte er sich übertrieben vor ihr, obwohl er vor Neugier bereits platzte. Seinen durchbrechenden Sarkasmus überhörte sie, wahrscheinlich, weil sie ihn nicht kannte. Bevor er sie gehen ließ, hielt er sie noch am Arm fest und fragte rasch, in dem er mit dem Kopf zu Antarona wies:
»Weiß sie davon, ich meine von dem Licht?« Sie dachte kurz nach, dann schüttelte mit dem Kopf und sagte leise:
»Ihre Mutter hat es niemandem, außer mir erzählt, Herr, hatte wohl Angst um die Kleine, dass sie die noch mal verlieren könnte. Nein.., ich weiß davon, ihre Mutter und Acheron«, sie begann zu flüstern, »nicht einmal mein Mann weiß davon!« Dann verschwand Zinthia im Nebenraum und Sebastian hörte sie mit Antarona sprechen.
Sebastian schlug sich mit der Hand vor die Stirn. Er hatte es versäumt, die einfältige Frau zu instruieren, das Licht Antarona gegenüber nicht zu erwähnen. Wenn die es ihr nun erzählte, würde Antarona womöglich von ihr verlangen, es zu vernichten, so, wie sie es von Sebastian hinsichtlich der Karten des Unbekannten gefordert hatte.
Er wollte aber unbedingt dieses Licht bekommen und untersuchen. Vielleicht war es der Schlüssel zum Geheimnis seines Aufenthalts in dieser Welt? Es war eine vage Hoffnung, doch vielleicht versteckte sich hinter diesem Licht eine Offenbarung?
Verstohlen sah er zu Corneus hinüber, um sicher zu gehen, dass der von ihrer heimlichen Unterhaltung nichts mitbekommen hatte. Wohl kaum, stellte Sebastian zufrieden fest. Der Fischer lag mit dem Kopf auf der Tischplatte. Er war eingeschlafen. Die Müdigkeit von der harten Arbeit des Tages hatte ihn übermannt.
Zinthia kam nach kurzer Zeit zurück und gab stumm einen kleinen Gegenstand in Bastis Hand. Antarona hörte er weiter in den Kleidern wühlen. Also hatte die Frau ihr gegenüber geschwiegen. Eine gute Untertanin!
Sebastian trat unter die Laterne, die in der Raummitte unter der Decke hing und betrachtete, was die Frau ihm gegeben hatte. Er war überrascht, aber auch ein wenig enttäuscht. Aber er wusste sofort, dass dieses Ding aus seiner Welt, aus der realen Welt, stammte!
Vorsichtig drehte er den kleinen, etwa vier Zentimeter langen, messingfarbenen Gegenstand in seinen Fingern und dachte zunächst an die Patrone eines seltenen Pistolenkalibers. Doch es gab weder eine Kugel, noch eine Aufschlagfläche für einen Schlagbolzen. Zudem verjüngte sich das Ding an beiden Seiten, wie ein in die Länge gezogenes Ei mit zwei abgerundeten Spitzen.
An einer Seite war in die winzige Kuppel ein Glas, oder Kristall eingelassen, während die andere Seite ein kleines Loch aufwies, durch das ein kleiner, ganz gewöhnlicher, handelsüblicher Schlüsselring gesteckt war, den Zinthia als runden Schwanz bezeichnet hatte.
In der Mitte besaß das Ding einen winzigen, silbernen Knopf, die Flosse. Mit viel Phantasie konnte es tatsächlich einem Plon-ta ähneln. Für Sebastian sah es jedoch eher aus, wie ein winziges U-Boot. Ein altes, fettiges Lederband war durch den Schlüsselring gezogen. Das also trug Antarona um den Hals, als Acheron sie fand!
»Ich werde das Ding an mich nehmen, gute Frau«, bestimmte Sebastian gebieterisch, »und werde es meinem Vater, dem König geben. Er soll dann entscheiden, was damit geschehen soll! Seid ihr damit einverstanden?« Natürlich war sie es, denn er war ja der Sohn des Königs! Widerspruch hätte sie in den Kerker bringen können, das hatten bereits andere erlebt, die sich gegen Areos gestellt hatten, damals, bevor er in das Reich der Toten ging.
»Und zu Antarona kein Wort, das müsst ihr mir versichern«, schärfte er ihr noch ein, um dann versöhnlicher fort zu fahren, »wir wollen doch nicht, dass sich das Kindchen unnötig Sorgen macht, nicht wahr?« Zinthia nickte stumm. Anscheinend war es ihr gleichgültig, was mit diesem geheimnisvollen Ding aus der Vergangenheit geschah. Vermutlich war sie sogar froh, die Bürde ihrer Schwester, das Licht zu verstecken, endlich los zu sein.
Gerade wollte Sebastian versuchen, den wundersamen Gegenstand zu öffnen, an dem er einen umlaufenden, kaum erkennbaren Riss, wie von einer Verschraubung entdeckt hatte. Statt dessen hängte er ihn sich schnell um den Hals und verbarg ihn unter seinem Hemd, denn im gleichen Augenblick betrat Antarona den Raum, acht bis zehn Kleider im Arm.
Sie selbst trug das grobe, schlichte Arbeitskleid aus Naturleinen. Nur den Gürtel mit den verzierten Scheiben hatte sie sich umgebunden. Das weiße Elsirenkleid lag oben auf dem Stapel und Sebastian erinnerte sich wie verführerisch sie darin ausgesehen hatte. Aber selbst in dem einfachen Alltagskleid sah sie noch bezaubernd aus. Sebastian kannte sie bisher nur halb nackt, oder mit Fellen bekleidet. Sie in einem Kleid zu sehen, war für ihn erst einmal ungewohnt, aber es gefiel ihm!
»Diese hier nehme ich mit, wenn es euch recht ist«, sagte Antarona mit Blick auf ihre Tante, »die anderen Dinge könnt ihr zum Markt tragen, wenn ihr wollt, oder für euch selbst behalten.«
»Kindchen.., was soll ich denn damit«, sagte die beinahe vorwurfsvoll, »im Gewand einer Edlen die Fische ausnehmen, die Corneus heim bringt, oder das Holz spalten, oder Körbe machen? Wie lange würden diese Flatterstoffe da wohl halten? Würde beim ersten Handgriff entzwei reißen, das dünne Zeug!« Sie schüttelte mit dem Kopf und machte dann eine einladende Handbewegung.
»Nein.., nehmt die Gewänder nur mit, Mädchen, werdet die Männer von Falméra schon verrückt machen, damit. Ihr jungen Dinger müsst ja alles ausprobieren, und dann steht ihr da.., aber mir soll es gleich sein, müsst halt auch lernen, was das Leben so bereit hält für euch!«
Damit ging sie in den Nebenraum und kam mit ein paar Laken und Fellen zurück. Corneus, der ihr eifrig nachgeeilt war, zog zwei große, flache Strohsäcke hinter sich her.
»Ihr seid Gast in diesem Hause, Herr«, sagte Corneus unterwürfig und deutete in den Nebenraum, »Ihr schlaft freilich in der Kammer. Zinthia und Antarona werden sich mit mir den Platz in der Stube teilen. Verzeiht, Herr, dass wir euch nichts besseres herrichten können, hätten wir von eurer Ankunft erfahren, so...«
»Nein, so machen wir das nicht«, entschied Sebastian, in dem er ihn unterbrach, »ihr arbeitet hart, so müsst ihr auch gut schlafen! Ich selbst werde in der Stube schlafen und Sonnenherz, wird als meine Führerin ihr Lager zu meinen Füßen haben! Und ihr, Fischer, werdet dort ruhen, wo ihr zu ruhen gewohnt seid!«
»Aber Herr, das kann nicht sein«, warf nun Zinthia ein, »euch gebührt der bessere Platz und eure unwissende Dienerin, welche unsere Nichte ist, findet einen Platz in unserer Mitte und wird euch nicht belästigen in der...«
»Es ist entschieden, gute Frau«, unterbrach er sie bestimmt, »und jene, die mir dienen.., in diesem Falle eure Nichte, werden stets zu meinen Füßen ruhen. Wir sind in einem Krieg, Frau.., auch wenn ihr vor eurer Tür keine Schlacht und keine Feinde seht, so ist er dennoch gegenwärtig. Daher ruhen alle Krieger und Kriegerinnen neben dem Lager des Heerführers. Und die Truppe ruht dort, wo sie schnell zum Einsatz kommt, also hier!«
Damit stampfte Sebastian mit dem nackten Fuß auf den Boden. Ein feiner Heerführer war er! Einer der keine Schuhe besaß und dessen Truppe aus einer einzigen jungen Frau bestand!
»Aber die Kinder, Herr.., die Kinder werden euch in der Frühe wecken, wie eine Horde wild gewordener Robrums! Sie sind es gewohnt, sehr früh ihren Tag zu beginnen!«, versuchte es nun Corneus ein letztes Mal. Doch Sebastian winkte ihm ab.
»Ach, Corneus.., denkt ihr, dass eure Kinder uns stören? Lasst sie nur, ihr könnt stolz auf sie sein. Nein.., sie werden das riesige Heerlager des Areos nicht behindern!« Sebastian machte eine ausholende Geste über das Lager, die beiden Heusäcke und die Felle. Der Mann dienerte unterwürfig, konnte mit dem Witz des Sebastian Lauknitz nicht das geringste anfangen und zog sich zum Nebenraum zurück.
»Antarona wird euch noch ein paar Weberdecken bringen, Herr«, sprach Zinthia und zog ihre Nichte mit in die Kammer. Kaum war die Tür hinter ihnen geschlossen, nahm Zinthia Antaronas Hand und streichelte sie mütterlich.
»Kind...«, mahnte sie, indem sie kopfschüttelnd das Wort dehnte, »der Sohn des Königs.., was ist euch da nur eingefallen? Wollt immer hoch hinaus, was Kindchen? Aber lasst euch von eurer alten Tante sagen.., so einer wie der, aus dem Geschlecht der Götter.., da werdet ihr eine einsame Frau, wenn ihr euch mit ihm verbindet. Und Bental.., sein Vater, der König von Volossoda und Falméra.., habt ihr den schon gefragt? Hat immer schon die Marotten seines Sohnes im Keim erstickt.« Antarona wollte etwas sagen, doch ihre Tante sprach beharrlich weiter.
»Mädchen.., bleibt bei uns.., wir sprechen mit Areos, dass er euch frei gibt. So lange die Leute hier denken können, ist dort oben, in die Himmelsburg nie eine Ival eingezogen! Hab’ ich auch nie verstanden, mögen die Götter wissen warum, als hätten wir hier keine schöne Frauen, die Kinder bekommen können. Holen diese Oranuti- Mädchen. Angeblich wollten es die Götter so.., dummes Gewäsch ist das, sag’ ich euch, nur damit die da oben treiben können, was sie wollen. Glaubt ihr wirklich, die halten sich noch an die alten Gebote der Götter?« Sie zuckte fragend mit den Schultern.
»Sind da oben, über ihrer weißen Stadt eben etwas besseres, als unser einer hier unten.., aber so ist es nun mal.« Sie kramte ein paar Decken aus einer anderen, noch größeren Truhe, als der ihrer Mutter und reichte sie Antarona.
»Kindchen.., überlegt euch, was ihr tut. Der...«, damit deutete sie mit dem Kopf zur Tür, hinter der Sebastian wartete, »...das da hat keine Zukunft für euch.., werdet nicht glücklich werden.., ist eine ganz andere Welt, wo der her kommt!«
Antarona ging in den Wohnraum zu Sebastian zurück, breitete die Decken auf den Strohsäcken aus und dachte nach. Warum hatte sie ihrer Tante verschwiegen, dass sie bereits mit Areos verbunden war? Sie wusste es nicht, doch sie war sich sicher, dass ihr Schweigen richtig war.
Aber es würde ohnehin nicht lange dauern, bis es die kleinen Vögel von den Dächern pfiffen. Ihr Vater, Arrak, Pinatubo und Onafinte, sowie Frogath und Koratan wussten es bereits, und der Achterrat einschließlich des Medicus von Falméra ahnten es zumindest.
Sie hatten viele Tage für die Wanderung über die Berge von Fallwasser nach Falméra gebraucht. Wie lange brauchte ein Spion Torbuks auf direktem Weg? Wie lange ein Gerücht von Falméra nach Val Argón? Ein Wunder, dass ihre Tante es noch nicht wusste!
»Worüber denkst du nach«, fragte Sebastian, der sein Krähenmädchen selten in sich gekehrt erlebte. Als sie nicht gleich antwortete, nahm er sie in den Arm und flüsterte ihr zu:
»Das weiße Kleid.., du hast wunderschön darin ausgesehen! Ich möchte, dass du es wieder anziehst, ja.., irgendwann, nur für mich!« Antarona nickte nur stumm, befreite sich dann aus seinen Armen und widmete sich wieder ihrem Lager.
Sie wäre im Moment lieber allein gewesen, um in Ruhe über alles nachzudenken. Was ihre Tante da alles gesagt hatte... War ihre Verbindung zu Ba - shtie wirklich so töricht, weil er eben nicht nur Ba - shtie - laug - nids war, sondern auch Areos, der Mann, der einmal König über dieses Land werden würde? Sie musste zugeben, dass sie an diese Möglichkeit nie bewusst gedacht hatte!
Für sie war er nur Ba - shtie, der mit ihr die Ival befreien wollte und davon träumte, mit ihr eine kleine Hütte zu bewohnen, Kinder zu haben und in ihrer Welt glücklich zu sein. Das hatte er ihr immer wieder beteuert! Nun waren sie beinahe in Falméra. Ihr Ziel, dem sie so entgegengefiebert hatte, wurde nun zur Bedrohung!
Würde Bental seinem Sohn Areos befehlen, sie, die einfache Kriegerin wieder fort zu schicken und statt dessen eine dieser Oranuti-Frauen zu erwählen? Aber auch ein König durfte sich nicht gegen den Segen oder den Bann der Elsiren stellen! Was würde sie dort in der Himmelsburg erwarten? Waren sie gezwungen, fortan in der Burg zu leben? Würde sie die Berge und Wälder ihres Vaters nie wieder sehen?
Fragen, die ihr beinahe den Verstand raubten. Wie sollte sie sich mit diesen Sorgen, die ihr Herz schwer machten, auf ihren Mann freuen, der vielleicht bald schon nicht mehr ihr Mann war? Aber lag die Entscheidung nicht letztlich bei ihm, ihrem Ba - shtie? Hatte er ihr nicht genau das versprochen, dass er sie nie allein lassen würde?
Sie hielt in ihrer Arbeit inne und sah Sebastian nachdenklich an. Er stand da, scheinbar sorglos und besah sich einen seiner Gegenstände aus der Welt der Götter, etwas, das aussah, wie ein Plon-ta, aus den Tränen der Götter gemacht.
Sebastian fühlte sich plötzlich beobachtet und steckte sich das angebliche blaue Licht schnell in die Hosentasche. Antarona hatte ihn beobachtet! Hatte sie etwa Verdacht geschöpft? Hatte ihr die Tante doch von dem Geheimnis um das blaue Licht erzählt?
»Wäre die Dienerin und beste Kriegerin meines Heeres geneigt, das Fell mit mir, dem Areos von Falméra zu teilen?« versuchte er die Situation mit Witz zu entschärfen. Doch er rang Antarona damit kein Lächeln ab. Irgendwie schien sie in ihren Gedanken gefangen. Er ging zu ihr, zog sie abermals an sich und sah ihr tief in die Augen.
»Hör mal Engelchen.., egal was es ist, das dich sorgt, erzähle mir davon, ja? Und damit ist auch deine Angst die meine. Aber zusammen sind wir stark, das haben wir doch schon bewiesen, oder? Also.., was immer es ist.., was immer es zu bewältigen oder zu besiegen gibt, ich bin bei dir und ich helfe dir und werde immer an deiner Seite sein!«
Antarona hörte seine Worte und sie glaubte ihm! Aber hatte er wirklich die Macht, so zu handeln, wie er es ihr versprach? Was hatte ihre Tante noch gesagt? ...sein Vater, der König von Volossoda und Falméra.., habt ihr den schon gefragt? Hat immer schon die Marotten seines Sohnes im Keim erstickt! Antarona schossen plötzlich die Tränen in die Augen, ihr Herz krampfte sich zu einem schmerzenden Knoten zusammen und ihre Sinne drehten sich vor ihren Augen. Schnell verbarg sie ihr Gesicht an seiner Schulter.
War sie eine Marotte? War sie etwas, das der König niemals neben sich und seinem Sohn dulden würde? Waren all die Worte und Versprechungen Ba - shties nichts mehr Wert, wenn sie erst einmal Falméra Stadt und die Himmelsburg erreicht hatten?
»Was ist denn los, Antarona, was hast du?« fragte Sebastian, als er mit einem Mal ihre heißen Tränen auf seiner Haut spürte. Er hielt beschützend ihren Kopf und suchte ihren Blick.
»Nichts.., es ist nichts, Ba - shtie«, log sie. Entschlossen küsste er ihr die Tränen von den Wimpern und Wangen.
»Wegen Nichts weint man nicht, mein Engelchen.., also was ist los? Schon vergessen? Jetzt, wo wir wie ein Herz sind, geht es mich auch etwas an!« Antarona sah zu Boden. Sie konnte ihm nicht die Wahrheit sagen, er würde ihre Ängste nicht verstehen, denn er glaubte ja daran, dass nichts sie jemals würde trennen können!
Bis vor wenige Monde hatte sie nichts zu verlieren! Ihr Leben gehörte den Ival.., dem Volk! In dieser Aufgabe konnte sie immer Trost finden! Doch jetzt sprach ihr Herz in geteilter Weise. Sie fühlte sich innerlich zerrissen! Aber wieso? Ba - shtie, der Mann den die Götter gesandt hatten und ihre Aufgabe für das Volk, sie waren Eins! Warum also sollte sie ihn nicht lieben und um ihn gleichermaßen kämpfen, wie um das Wohl der Ival?
Mit einem leichten Schubs drückte sie Sebastian von sich und ihr Blick hellte sich unvermittelt auf. Der schnippische Blick, der ihre Augen verlasen hatte, zog wieder in sie ein. Aufreizend langsam löste sie den schweren Gürtel von ihrer Hüfte und hängte ihn Sebastian provozierend über die Schulter.
Der sah sie irritiert an. Verstand einer die Frauen! Eben noch war sie vor Kummer ganz aufgelöst und im nächsten Augenblick lockte sie ihn mit ihren Reizen. Irgendwie ging ihm das zu schnell, aber er musste sich eingestehen, dass sie ihn bereits überrumpelt hatte.
Langsam, ihn mit ihren Augen fesselnd, zog sie die Bänder auf, die das grobe Baumwollkleid auf ihren Schultern hielten. Das letzte Bändchen überließ den Stoff der Schwerkraft, Antarona stieg aus dem zusammengesunkenen Haufen Leinen, nahm Sebastians Hand und zog ihn unter die Felle und Decken...

Es war noch dunkel, als Sebastian von Antarona geweckt wurde. Er hatte so tief geschlafen, wie ein Toter. Müde strampelte er sich aus dem Wust der Felle hervor und streckte sich. Als er aber in seine Kleidung schlüpfen wollte, stutzte er. Anstelle seiner vor Dreck starrenden Lederhose und seinem verschmutzten Hemd, lag eine saubere, weiße Baumwollhose neben dem Lager. Sein Hemd mit dem bunt darauf gestickten Wappen lag frisch gewaschen, geflickt und zusammengelegt daneben. Dazu fand er noch einen Umhang aus einfachem grauen Stoff, der an einen zu groß geratenen Poncho erinnerte, an den eine großzügige Kapuze gearbeitet war.
Antarona trug das einfache, weiße Baumwollkleid vom Abend. Der Gürtel mit den Metallscheiben war ihr eindeutig zu groß. Trotzdem sie ihn verkürzt hatte und zwei der Zierscheiben an der Seite herab baumelten, saß er ihr noch locker und schräg auf der Taille und ihr schweres Messer verhinderte wohl, dass er hin und her rutschte.
Ihr Bündel, dass aus den Fellen, in denen sie geschlafen hatten und aus den neuen Kleidern bestand, hatte sie im Handumdrehen zusammen geschnürt. Ehe Sebastian noch fragen konnte, woher die neue Hose stammte und welcher Zauber sein Hemd geflickt und gereinigt hatte, stand seine Gefährtin abmarschbereit vor der Tür.
»Willst du jetzt einfach so gehen.., ohne ein Wort des Dankes und der Anerkennung?« fragte er flüsternd.
»Sie werden es verstehen, Ba - shtie, es ist gut so. Gehen wir am Tag, so wird uns jeder im Dorf sehen. Wenn Torbuk fremde Augen in diesem Dorf hat, so weiß er, wo er Sonnenherz und den Krieger der Götter finden kann. Seine Krieger werden dann versuchen, uns aufzulauern.«
»Wie jetzt.., der hat auch auf Falméra so viele Anhänger?« Sebastian sah sie schockiert an. Antarona nickte geheimnisvoll und fügte noch hinzu.
»Selbst auf der Himmelsburg von Falméra.., ja sogar im engsten Umfeld des Königs wird er seine Spitzel haben. Jeder kann es sein, Ba - shtie, wer vermag den Menschenwesen in die Sinne zu schauen?«
Mit diesen Worten hängte sie sich die Waffen um, wartete, bis Sebastian ihrem Beispiel gefolgt war und öffnete die Tür einen Spalt breit. Sie spähte in die kalte Nachtluft und als draußen alles ruhig blieb huschte sie hinaus und kauerte sich neben dem Eingang hin. Sebastian folgte ihr und schloss leise die Tür.
Die meisten Lampen an den Hütten waren ausgebrannt und somit konnten sie in keinen verräterischen Lichtkegel gelangen. Im Schutz der Nacht schlichen sie um die Hütte herum. Sebastian staunte nicht schlecht, als er feststellte, dass des Fischers Hütte zum Greifen nahe am Meer lag. Zwei Steinwürfe waren es gerade bis zum Strand einer großen Bucht, die am nördlichen Ende von mächtigen Felsklippen begrenzt wurde.
Weit draußen über dem Horizont begann sich der Himmel inzwischen zu verfärben. In einer Stunde etwa mochte es hell werden. Das Meer ließ ein beruhigendes Rauschen hören, das nicht einmal von Hundegebell unterbrochen wurde.
Solange sie sich noch in der Nähe des Dorfes bewegten. Nutzten sie jede Hütte, jeden Stall und jedes Gebüsch als Deckung um so unauffällig, wie möglich aus dem Ort zu gelangen. Antarona hatte sich einen grauen Leinenponcho über das weiße Kleid geworfen. Sebastian vermutete, dass sie es mehr zur Überdeckung ihrer hellen Kleidung tat, als wegen der morgendlichen Frische, die vom Festland herüber zu wehen schien.
Sebastian tat es ihr nach und warf sich ebenfalls den Umhang über. Das Ding roch ein wenig ranzig, war aber angenehm zu tragen. Der Stoff war dünn und leicht, was Basti vermuten ließ, dass dieses Kleidungsstück nicht ausschließlich für kaltes Wetter gedacht war.
Sie schlugen die Richtung ein, aus der sie am Abend zuvor gekommen waren, mit dem Unterschied, dass sie sich nicht mehr auf dem Weg bewegten, sondern unter Ausnutzung jeder natürlichen Deckung parallel zum Weg durch das Gelände gingen.
Antarona mied sogar die Brücke und sie blieben auf der Nordseite des kleinen Flusses. Während der Weg drüben lange durch üppig blühende Wiesen und einzelne Felsen führte, aus denen sich erst flache Hügel, dann Berge erhoben, stieg das Gelände auf ihrer Seite sofort steil an und führte in dichten Wald.
Eine Weile stiegen sie im Schutz der Bäume den Hang empor, bis sie den Weg und den Fluss im Tal wie zwei Zierbänder unter sich sehen konnten. An einer kleinen Lichtung, die mit Felsen durchsetzt war, machten sie Halt. Sebastian sah zurück und seine Begeisterung fand kaum Grenzen.
Weit unter ihnen lag der Strand und aus der silbern glitzernden Fläche des Meeres tauchte flimmernd der tiefrote Sonnenball aus grauen Nebelschleiern auf. Sie erlebten die Geburt eines neuen Tages. Langsam erhob sich die neu geborene Sonne aus dem Meer, wurde heller und warf die Schleier der Nacht als Nachgeburt in die See zurück.
Zitternd nabelte sie sich vom Horizont ab, ließ das Meer bläulich anlaufen und begann ihrer Jugend Lauf. Schlagartig erwachte das Leben im Wald, als hätte es nun die Spannung der Sonnengeburt überstanden. Vogelstimmen erklangen, die Sebastian noch nie zuvor gehört hatte. Die geologisch und meteorologisch einmalige Lage dieser Insel hatte offenbar eine ganz eigene, spezifische Fauna und Flora hervor gebracht.
Das erste Beispiel waren ein paar Ziegen, von eher stämmigem, aber kleinem Wuchs, die ganz ohne Scheu über die Lichtung wechselten. Sie waren ohne Zweifel an die Nähe von Menschen gewöhnt.
Als nächstes entdeckte Basti eine Art Papagei, dessen Gefieder in allen Regenbogenfarben in der Sonne schillerte. Er besaß einen geraden, kräftigen und kurzen Schnabel, sowie gelb und rot gefleckte Flügel und Schwanzfedern. Das Tier, das sich sehr unbeholfen in den nahen Bäumen bewegte, stieß ein melodisches Trällern aus, das wie die Arie aus einer Oper klang.
Handteller große, leuchtend blaue Schmetterlinge mit grell gelben Flügelrändern teilten sich die Blumen auf der Lichtung mit fünfzehn Zentimeter großen Flugechsen, die sich mit dem ersten Lichteinfall auf den Felsen sonnten. Diese Tiere wechselten ihre Farbe von grün auf braun bis rot und umgekehrt. Sie vermochten zwar nicht zu fliegen, wie Vögel, doch hatten sie erst einmal eine höhere Position in den Felsen erklommen, waren sie imstande mit kurzen Gleitflügen ihren Sonnenplatz zu wechseln. Sebastian sah ihrem Treiben fasziniert zu.
Aber auch eigenartige Pflanzen gab es zu entdecken. An gedrungenen Büschen wuchsen zwanzig bis dreißig Zentimeter hohe trompetenartige, blassgelbe Trichterblüten aufrecht nach oben. In ihnen sammelte sich Regen und Tauwasser. Sebastian beobachtete, wie die Wildziegen mit vorgeschobenen Lippen die Blütenkelche behutsam nach unten zogen und das Wasser gierig aussoffen.
Sebastian erblickte aber auch Bekanntes. Eine riesige Kolonie von Wasel schienen die Lichtung bevölkert zu haben. Wo immer auch die junge Sonne ihre Strahlen hin warf, entschlüpften sie ihren Erdlöchern, witterten in die Luft und begannen herum zu tollen und ihr Fell zu putzen.
Plötzlich zog ein riesiger, schneller Schatten über die Lichtung und Sebastian dachte schon an einen Gor. Es gab ein lautes, klopfendes Geräusch und im Bruchteil eines Wimpernschlags waren alle Wasel wieder in den Höhlen verschwunden.
Ein Blick nach oben klärte die Lage. Ein mächtiger Greifvogel, viel größer, als der Sebastian bekannte Steinadler, zog gemächlich seine Kreise über die Waldhänge. Ganz sicher gehörten Wasel zu seinem bevorzugten Frühstück. Von Antarona erfuhr Sebastian, dass sich die Wasel mit dem Klopfgeräusch ihrer Hinterbeine auf den Boden, oder mit einem schrillen Pfiff gegenseitig vor Bedrohungen warnten.
Als die Sonne begann, ihre Strahlen durch das Blätterwerk der Bäume zu schicken, wurde Sebastian bewusst, dass hier vom Winter, der nun das Festland beherrschte, nichts zu spüren war. Von solch einem Phänomen hatte er nie gehört.
Vierzig Kilometer weiter westlich hatten die Bäume ihre Blätter abgeworfen und wurden vom Frost beherrscht, während einen globalen Steinwurf weiter ein sommerlicher Urwald vor Leben nur so erblühte. All das ausgelöst nur durch die Strömung einer nacheiszeitlichen Schmelze mächtiger Gletscher und Aussüßung des Meeres? Welche Launen die Natur in dieser Welt hervorbrachte, erstaunte ihn immer wieder aufs neue.
Nachdem sie ihre Umhänge ausgezogen hatten, folgten sie weiter dem Hang. Im Wald konnten sie zwar Weg und Fluss im Tal ständig beobachten, konnten aber von unten kaum gesehen werden. Sie umrundeten einen Berg, dessen Krone aus mächtigen Felsen bestand. Schnee blinkte hier nur aus vor der Sonne geschützten Scharten und schattigen Flanken herab.
Der Hang neigte sich nach Norden und verlor sich in einem Hochwald, aus dem sich ein neuer Berg empor schwang, der noch höher war und an den sich die Felsgipfel reihten, wie die Hornplatten auf dem Rücken eines Gors. Der hellgraue Stein leuchtete in der Morgensonne und das wirre Schattenspiel zeigte, wie zerklüftet die Felsgalerien und Steinfluchten waren.
Wie gigantische Burgmauern streckten sich die Wände, Kanten, Risse und Pfeiler aus dem Grün des Urwalds heraus, dem tiefblauen Himmel entgegen. Einige Geröllzungen, die bis weit in die Wälder hinein reichten, erzählten von Erosion und vergangenen Bergstürzen.
Über allem schwebte majestätisch der Greifvogel, der ab und zu einen heiseren, klagenden Pfeifton über das Land klingen ließ und sich nur von der Thermik der sich immer mehr erwärmenden Felsen tragen ließ. Seine Kreise entlang der steilen Felswände zu verfolgen, machte den Betrachter rasch schwindlig.
Antarona und Sebastian folgten weiter dem Verlauf der Berghänge. Diesmal jedoch stiegen sie bis weit unter die Felsen hinauf. An den von der Sonne bestrahlten Steinsockeln entlang führten kurzgrasige Wiesenbänder und Hochweiden um den Berg herum. An einigen Stellen artete die Wegsuche schon in Kletterei aus.
Doch es machte Spaß. Der Fels war griffig und warm und es war ein Vergnügen, darin herum zu steigen, um wieder eine neue Weide mit noch üppigerer Blütenpracht zu entdecken oder wieder eine neue Aussicht zu genießen. Sebastian fand immer wieder Bewunderung dafür, wie Antarona mit ihren nackten Füßen kletterte, als hätte sie nie im Leben etwas anderes getan.
So zerbrechlich und zierlich ihre Füße auch wirkten, sie krallte sich mit den Zehen in Risse, an Absätze und Kanten und hielt sich mit ihnen sogar an scheinbar glattem Stein. Wie sie im Wald ein Panther war, so erwies sie sich auf Fels als Bergziege. Sebastian beobachtete sie, wie sie ihre Zehen einsetzte und ihren Fuß an die Form der scharfen Kanten und Spitzen anschmiegte und versuchte es ihr gleich zu tun.
Es klappte erstaunlich gut, doch nach nur zehn Minuten bekam er den ersten Krampf im Fußballen. Also setzte er seine Aufmerksamkeit wieder in die Möglichkeit, jedes Mal eine gute Auflagefläche für seinen Fuß zu finden, was natürlich aufhielt. Sofort war ihm Antarona davon geklettert.
Mit Bergstiefeln an seinen Füßen hätte sie freilich keine Chance gegen ihn gehabt. Doch mit den blanken Füßen war sie ihm überlegen. All zu sehr hatte er sich als moderner Alpinist daran gewöhnt, dem Fels mit festem Schuhwerk zu begegnen, Kanten und Spitzen zu ignorieren. Der Mensch im Zeitalter der technischen Errungenschaften hatte verlernt, mit seinen Füßen zu fühlen!
Aus schwindelnder Höhe blickten sie ins Tal, wo der Fluss sich in einen Bach verwandelte, um plötzlich nach Süden abzubiegen und in einem Seitental zu verschwinden. Hinter dem Berg, an dem sie gerade kletterten, tat sich ein neues Tal nach Norden auf, aus dem wiederum ein neuer Bach entsprang, der nun in die andere Richtung floss.
Der Weg wand sich zu einer Art Pass hinauf, die Wasserscheide, und führte auf der anderen Seite schnurgerade hinab, zwischen die nächsten Berge hindurch. Sebastians Blick suchte die Lücke zwischen den Bergen beider Talseiten und sah das Meer, in einiger Entfernung von neuen Bergen begrenzt.
Er wandte sich um, sah zurück und blickte ebenfalls auf die See. Er stand auf einem mächtigen Gebirgszug und blickte von Strand zu Strand! Was ihm die Landschaft dieser Insel bot, hatte er in vielen Jahren in den Alpen nicht finden können. Diese Insel, von den Launen der Natur begünstigt, suggerierte ihm, ein Paradies zu sein.
Unten auf dem Weg wurde es inzwischen lebendig. Zwei Fuhrwerke, von je zwei Pferden gezogene, schwere Wagen polterten über den Weg in Richtung Falméra. Ihr Rattern und ächzen konnten Sebastian und Antarona selbst in dieser Höhe noch vernehmen. Manchmal wurden die Geräusche der Wagen als vielfaches Echo von den Felswänden zurückgeworfen, je nach dem, wie der Wind stand.
Nach einer Weile tauchte ein weiteres Gefährt auf dem Weg auf, diesmal in entgegen gesetzt unterwegs. Es war ein kleiner, einrädriger Karren, der von einem Esel, oder einem anderen kleinen Tier gezogen wurde. Mehrere Menschen liefen nebenher. Allmählich bevölkerte sich die Straße und Sebastian bekam den Eindruck, dass zwischen Val Argón und Falméra reger Handel getrieben wurde.
Hatte Sebastian aber die Möglichkeit in Betracht gezogen, auf dieser Insel für ihn gewohnte Verhältnisse anzutreffen, also Autos, moderne Häuser, Tourismus, so wurde er aufs neue enttäuscht. Es schien, als hätte ihn sein Sturz am Zwischbergenpass unwiderruflich in eine vergangene Zeit katapultiert.
Um die Mittagsstunde stiegen sie in ein dicht bewaldetes Seitental ab, aus dem sich erneut ein Berg empor schwang. Gegenüber, auf der anderen Seite des Baches erhob sich, einem Bollwerk gleich, ein einzelner, riesiger Bergkegel, dessen gezackter Felskamm aus dem Grün des Urwalds heraus ragte, das seine Hänge ummantelte. Er blieb Kulisse, während sie sich erneut die Waldhänge hinauf quälten.
Wieder schoben sie sich halb kletternd, halb wandernd an nackten Felswänden entlang, den Blick auf dichten Urwald, das Tal und auf eine sich immer weiter ausdehnende Meeresbucht unter sich. Noch konnten sie die ganze Bucht nicht einsehen, der mächtige, einem Vulkan nicht unähnliche Berg gegenüber verdeckte die Sicht, solange sie sich noch über dem Seitental befanden.
Sebastian schaute immer wieder auf die Bucht hinunter, gespannt, wann die sagenhafte Stadt Falméra sich seinem Blick präsentieren würde. Zuweilen ließ schon seine Konzentration auf den Pfad nach, auf dem sie unterwegs waren. Das jedoch konnte in dieser Höhe das Ende bedeuten!
Leichtfüßig führte ihn Antarona an einem großen Felsaufwurf entlang. Das Nebental lag schon geraume Zeit hinter ihnen. In der Luftlinie konnte es nicht mehr weit sein, eigentlich musste...
Ahnungslos waren sie um einen Felsgrat herumgekommen, der wievielte schon an diesem Tag? Und schon einige Male hatte ihnen die leuchtende Bucht aus der Tiefe herauf zugezwinkert, aus einer Lücke zwischen Vorbergen heraus, oder über den Wipfeln des duftigen, Blüten geschwängerten Urwalds, doch stets aus der scheinbaren Kleinheit der großen Entfernung.
Nun aber lag sie plötzlich zum Anfassen nahe unter ihnen! Direkt in die mächtigen Berge eingebettet, an die Hänge angeklebt, wuchtete eine schneeweiße, terrassenartig angeordnete Riesenpyramide von einer Stadt, oder einer Burg, oder beides, bis über alle anderen Berge hinweg in die Höhe. Das war es! Kein "Hirngespinst" mehr! Was Sebastian da vor sich sah, war überwältigende Wirklichkeit, atemberaubender, faszinierender, betörender, als er sie sich in Gedanken jemals hätte ausmalen können: Eine Phantasiestadt, ein Himmelsbau, der nur einem irren Traum entsprungen sein konnte!
Er stand der Talseite, also der Bucht der weißen Stadt Falméra gegenüber, wo sie in ungebrochener Anordnung von Häusern, Mauern, Türmen sowie Toren, Gassen und Freitreppen fast tausend Meter hoch, in Terrassen gegliedert, gleichmäßig anstieg, sich zur weißen Burg hin in ein Chaos von großen Wehranlagen, Türmen, Giebeln und Dächern verlor. Darüber erhob sich unnahbar, wie entrückt, die weiße Himmelsburg selbst, die ihren Beinamen zu recht trug.
Weiße Minarette, Türme mit Bogenmanschetten, Säulengänge, verwinkelte Flügel und Gebäudebrücken und immer neue Türme, Türme und wieder Türme, die sich gegenseitig an Höhe zu übertrumpfen schienen, setzten sich strahlend hell vom intensiven Blau des Zenits ab.
So steil waren ihre Wälle und Wehrmauern angeordnet, dass sich Bäume, Hecken, oder Sträucher nur auf Stufen und Absätzen zu halten vermochten. Erst weit oben hatte die Burg sich einen Mantel aus Fenstern, Balkonen, Söllern und Schießscharten umgeworfen, und von den einsamen Spitzen der höchsten Türme und Giebel wehten lange, blassrote Fahnen und Standarten weithin sichtbar in das Azur des Himmels. So majestätisch strebten die weißen Mauern in die Höhe, dass Sebastian das Schloss Neuschwanstein in den Allgäuer Alpen plötzlich nur noch als ein ärmliches Häuflein hellgrauer Steine in Erinnerung hatte.
Er konnte nur stehen und staunen. Unwahrscheinlich hoch oben glitzerte das Dach eines Turmes wie pures Gold im Sonnenlicht. Nach Westen, von der Burg herab, führten breite Wege sanft geneigt hinab, in kleinere Vororte, oder Dörfer, zwischen grünen Wiesen, oder Parkanlagen.
Wahrhaft, Falméra war nicht die größte Stadt, die Sebastian in seinem Leben gesehen hatte, bei weitem nicht! Doch in keinem anderen Land der Erde wusste er eine Stadt, mit einer ähnlich mächtigen und wehrhaften, dennoch eleganten Burg, die vergleichbar war mit diesen beeindruckenden, aneinander geklebten, weißen Häusern, Burgzinnen und Türmen, nach Norden hin von Bergen umrahmt, fußend in der weiten, malerischen Bucht, die beinahe tausend Meter tiefer lag.
Die Akropolis in Athen, der Tempel von Lhasa, die Kathedrale von Segovia oder Monaco, erheben sich aus erhöhten Plateaus oder Felssockeln heraus. Ihre höchsten Zinnen sind von unten her mal mehr, mal weniger gut einsehbar. Falméra allein, diese unvergleichliche Burg, über einer kegelförmig gen Himmel strebenden Stadt errichtet, zeigte unverhüllt und klar ihre ganze Majestät und Schönheit, aufstrebend vom Meeresbecken, dem Hafen und den lichten Vororten, die wenig mehr als zehn Meter über dem Meeresspiegel lagen, bis in das Reich der Wolken.
Diese Himmelsburg erhob sich exponiert und frei, ein königlicher Thron im Kreise der Küstenfelsen, höher als irgendein Berg im Umkreis von ein paar Kilometern. Aus der Entfernung konnte man in Falméra leicht den Bau einer einzigen, gigantischen, hohen Kathedrale vermuten. Doch bei näherer Betrachtung verlor sich das Auge in einem Gewirr von einzelnen, wie im Setzkasten aneinander gefügten Häusern, auf dem ein Märchenschloss thronte.
Die Wände und Mauern der Burg selbst, waren mit den von Staudämmen vergleichbar. Allein die Flucht von der Burgmauer gegen Westen in das Tal war von einer einzigen Wand gebildet, die noch um einiges höher war, als die Staumauer des Lac des Dix in den Walliser Alpen.
Achthundert Meter eine einzige Steilwand, durchbrochen lediglich von kleinen Simsen, Erkern und Galerien, eine der höchsten und schauerlichsten Abstürze, die Sebastian bislang sah. Der Eindruck, den die aus dem Tal aufwuchtende Stein- und Marmorpyramide machte, war fast unbeschreiblich, kaum vorstellbar und erinnerte ihn an die Flanken des Walliser Weißhorns.
Nie zuvor, ja nicht einmal in Büchern oder Bildbänden, hatte Sebastian Lauknitz ein so gewaltiges, aus kleinen Segmenten zusammen gesetztes Bauwerk von solch erhabener Schönheit gesehen. Weißer noch als das Schloss Neuschwanstein leuchteten die Mauern in der Sonne. Die Mengen von weißem Sandstein, Kalk oder Marmor, die dort verbaut waren, konnten kaum einzig auf dieser Insel abgebaut worden sein.
Er stand nur stumm da, blickte auf das, was er für das größte, von Menschenhand jemals erbaute Weltwunder hielt. Mount Rushmore, die Sphinx, ja selbst die Pyramiden von Gizeh hatten ihn nicht so beeindruckt. Langsam tastete sich sein Blick von den Dächern der Burg herab, über breite Treppen und Plätze, durch Gassen und Straßen, an ausgedehnten Gärten vorbei, bis zum Hafen, dessen Bauten bis weit in das Wasser der Bucht hineinreichten.
Mehrere Segelschiffe ankerten in dem natürlichen Schutz vor heftigen Seestürmen, der von hohen Bergen eingerahmt, einem breiten Fjord Norwegens glich. Die Einfahrt wurde weit im Norden von einer felsigen Landzunge des östlichen Inselteils verengt. Auf der äußersten Spitze, von einem Felsen herab schauend, stand ein monumentaler Turm, einem steinernen Wächter gleich.
Im Hafen herrschte rege Betriebsamkeit. Obwohl Sebastian aufgrund der großen Entfernung nicht viele Einzelheiten erkennen konnte, so sah er doch die vielen kleinen Boote, die zwischen den Hafenbauten, Ufermauern und Molen und den Schiffen hin und her fuhren. Manchmal erspähte er sogar die Menschen, die wie Flöhe auf einem Salzklotz hin und her liefen.
»Falméra.., Ba - shtie, das ist Falméra«, sagte Antarona lapidar, als zeigte sie ihm einen unscheinbaren Baum in einem Wald. Ob sie nun der Anblick dieser Stadt in Freude versetzte, oder eher Abscheu in ihr weckte, blieb Sebastian verborgen. Jedenfalls war ihr das Bild bereits hinlänglich bekannt und sie verfiel darüber offensichtlich nicht mehr in euphorische Verzückung.
Statt dessen drängte sie dazu, ihren Weg fortzusetzen. Doch Sebastian ließ sich auf einem platten Felsen nieder, kramte im Geiste sein Tagebuch aus dem Rucksack und war frustriert, dass er diesen Anblick nicht wirklich in einer Zeichnung festhalten konnte, weil seine Sachen in einer Düne auf dem Festland begraben lagen. Er hatte kein Tagebuch, keinen Schreibstift, ja nicht einmal Rauchzeug und Feuer...
In diesem Moment fiel ihm wieder das blaue Licht ein, welches er, als der Königssohn Areos, an sich genommen hatte. Er wähnte sich gerade unbeobachtet, denn Antarona war ein kleines Stück voraus gegangen und sah auf die Stadt hinab. Sebastian fischte das Licht aus der Tasche und untersuchte es genauer. Das blank geputzte Messing glänzte in der Sonne und er fürchtete schon, Antarona könnte das Blinken sehen.
Sebastian drehte Hinter- und Vorderteil kräftig gegeneinander, und mit einem kleinen Ruck ließ es sich plötzlich auseinander schrauben. Zum Vorschein kamen im Innern eine winzige Metallspirale, sowie drei handelsübliche Knopfbatterien, die so klein waren, wie er noch nie welche gesehen hatte. Die Fläche einer Batterie war mit einer dünnen, weißen Schicht verkrustet, so dass der Kontakt unterbrochen war.
Nachdem er das Zeug mit dem Fingernagel abgekratzt und das Licht wieder zusammengeschraubt hatte, drückte er probehalber auf den kleinen Knopf. Ein Stecknadelkopf großes, blaues Licht flammte auf, das so hell und intensiv war, dass es Sebastians Augen trotz der schräg einfallenden Sonne blendete. Es war zweifelsohne eine Miniaturtaschenlampe aus seiner Welt. Doch er hatte nie von einer Glühlampe gehört, die so intensives Licht frei setzte.
»Ba - shtie.., was tut ihr da..? Nur noch ein kleines Stück, dann mögt ihr euch ausruhen!« rief ihm Antarona drängend zu.
Seufzend und widerwillig erhob er sich schließlich, ließ das Licht wieder in der Hosentasche verschwinden und folgte seiner Gefährtin hinab in den dichten Waldhang, durch dessen Blätterwerk immer wieder leuchtend das Wasser der Bucht herauf schimmerte. Bald erreichten sie einen schmalen Bergpfad, der zu Tal führte. Ihm folgten sie bis zu einer kleinen Lichtung, auf welcher der Felsgrat des Berges noch einmal aus dem Boden trat und als steinerner Vorsprung suggestiv über das Tal ragte.
»Wir warten auf die Dunkelheit, Ba - shtie«, verkündete Antarona und suchte einen bequemen Platz, der auch noch von der Abendsonne beleuchtet wurde. Sebastian hängte seine Waffen an einen kleinen Felssporn und streckte dankbar seine Glieder im gelbbraunen Gras aus, das von der Sonne verbrannt war. Seinen Blick ließ er über die Stadt und den Hafen schweifen.
An drei Stellen waren die Häuser über den Kai hinaus bis weit in die Bucht hinein gebaut worden. Dazwischen lagen Segelschiffe, offenbar zur Reparatur. Wie die Häuser über dem Wasser verankert waren, konnte er nicht feststellen. Vermutlich waren sie mittels vieler, kräftiger Pfähle auf felsigen Grund gebaut.
Auf einigen Plätzen der Stadt, die wegen ihrer terrassenartigen Anordnung gut zu überblicken war, fanden so etwas, wie Märkte statt. Sebastian erkannte einzelne Stände, zwischen denen die Menschen rastlos umher liefen. In der Mitte der Plätze gab es Brunnen und schwarze Kreise. Letztere rührten wohl von abendlichen Lagerfeuern her, an denen sich die Bewohner trafen.
Vom Hafen durch die ganze Stadt hindurch, bis zu den Wehrmauern der Burgfeste hinauf, führte eine großzügig angelegte, helle Freitreppe. Sie stieg allmählich an, war durch große Podeste in leicht versetzte Abschnitte gegliedert und schien zuletzt etwas schmaler und steiler zu werden. Durch einen mächtigen Torbau führte sie in das Innere der Himmelsburg, das Sebastian nicht mehr einsehen konnte.
Sie waren inzwischen so weit abgestiegen, dass die Burg auf gleicher Höhe mit ihrem Aussichtspunkt lag. Interessante Einzelheiten zu Füßen der hoch aufragenden Schlossbauten verbargen sich nun hinter den Wehranlagen...
Plötzlich wurde Sebastians Aufmerksamkeit unterbrochen. Antarona kam langsam und süß wie Honig lächelnd auf ihn zu, zog ihn an den Händen aus dem vertrockneten Gras hoch und blickte ihn verführerisch an. Sebastian fühlte sich ein wenig überrumpelt, denn seine Neugier war auf die Stadt zu ihren Füßen gerichtet. Antarona brauchte aber keine großen Verführungskünste, um sein Interesse auf sich zu lenken, denn sie war sündhafte Verführung selbst.
Antarona und Basti himmelten sich still an. Falméra war vergessen. Nur der warme, fächelnde Wind, die aufheizende Sonne und der Duft kräftiger Kräuter waren noch gegenwärtig. Doch auch diese Wahrnehmungen traten in den Hintergrund. Ein magisches, unstillbares Verlangen nach Antaronas warmer, duftender Haut ließ Sebastians Bauch zusammenziehen und alles außer ihrem betörenden Lächeln vor seinen Augen verschwimmen.
Auf einem Mal schwebten sie in unbeschwerter Selbstvergessenheit. Wie einer natürlichen Eingebung folgend nahm Sebastian Antaronas feingliedrige Hände, bog die Handflächen auseinander und küsste leicht eine nach der anderen. Er ließ seine Hände ihre Arme hinauf gleiten, beugte sich vor und seine Zunge elektrisierte ihren schlanken Hals.
Was dann geschah, sahen nur die Götter und die hohen Arvenbäume, die schützend ihre Arme über die zwei Liebenden ausbreiteten und sie im goldenen Licht beschützten, wie ein Paar, das die Zukunft einer neuen Welt sichern würde...
Irgendwann saßen sie schwer atmend, aneinander gelehnt da und sahen sich lächelnd an. Antarona umfasste seinen Kopf, zog ihn zu sich hoch und ihre Lippen verzehrten sich in einem Kuss, der alles auszudrücken schien: Die vertraute Nähe, die gegenseitige Geborgenheit und tief empfundenes Glück. Es war das Gefühl der Dankbarkeit von Liebenden, die glaubten, sich gegenseitig alles Erreichbare erfüllt zu haben.
Verträumt blickten sie auf die Stadt hinab und ließen ihre erhitzten Körper vom warmen Wind umschmeicheln, bis Antarona in Sebastians Armen sanft einschlief. Er betrachtete sie fasziniert und hätte die ganze Welt umarmen können, nur aus reiner Dankbarkeit, ihre Wärme, ihr Leben in seinen Armen zu spüren. Er atmete tief ein und genoss den Augenblick.
Irgendwann konzentrierte sich Sebastians Augenmerk wieder auf das in der Tiefe liegende Falméra, in dessen Mauern sich offensichtlich auch Leben abspielte. Beinahe sah es so aus, als tanzten die Menschen mancherorts in den Straßen und auf den Plätzen und einmal glaubte Sebastian sogar, vom Wind herauf getragene Musik zu hören.
Wie eine dreidimensionale Landkarte studierte er die Straßen, Gassen und markanten Gebäude, die Plätze, die von Menschen wimmelten, die Freitreppe, auf der sich Gestalten hinauf und hinab bewegten, oder in Gruppen herum standen. Nach den vielen Wochen der Einsamkeit und der immer währenden Gefahr hatte er kaum noch vermutet, in diesem Land auf unbeschwerte Menschenansammlungen zu treffen, geschweige denn, auf eine ganze Stadt, in der das Leben mit all seinen bunten Facetten pulsierte.
Irgend etwas aber fehlte in diesem Bild einer großen Stadt, die offenbar das Zentrum dieser Insel bildete. Etwas, das Sebastian auch beim Anblick von Quaronas vermisst hatte. Noch vermochte er nicht zu sagen, was es war. Doch etwas entsprach nicht der Vorstellung, die er von solchen Orten hatte. Er kam nicht darauf, so sehr er sich auch das Hirn zermarterte.
Inzwischen war seine kleine Frau aus ihrem Tagtraum erwacht und zog sich wieder ihren Lederschurz an. Das Kleid ließ sie liegen, wo es war. Sie wollte den Wind auf ihrer Haut spüren, der sie ebenso zärtlich zu streicheln vermochte, wie der Mann, dessen Gedanken schon wieder in die Tiefe schweiften, hinab zu der Stadt, die sie bald einengen würde, der sie vielleicht schneller wieder entfliehen wollten, als sie im Augenblick dachten.
Antarona reichte ihm von dem Proviant, den ihre Tante schon am Abend für sie vorbereitet hatte. Während Sebastian auf salzigem, knüppelhartem Fleisch herum kaute, wanderte sein Blick dort unten die Freitreppe hinauf. Links und rechts davon standen die Häuser nicht so dicht gedrängt, wie in der übrigen Stadt, die von dem monumentalen Treppenbau praktisch in zwei Stadtteile gegliedert war.
Zwischen den Häusern lagen üppig angelegte Gärten oder Parks als grüne Oasen zwischen den weißen Mauern. Vermutlich waren die links und rechts der Treppe stehenden Häuser das Zuhause einflussreicher, vermögender Bürger, die in der Gunst des Königs standen, während wohl die weniger gut betuchten Einwohner in den Häusern der engen Gassen lebten.
Zu beiden Seiten der Treppe, auf der sich vermutlich das angesagte Leben abspielte, lichteten sich die dicht gedrängten Häuser, je weiter sie vom Zentrum entfernt lagen. Schließlich verteilten sich kleine Vororte und Siedlungen im Osten an den Berghängen, sowie im Westen in einem flachen Talkessel, der von teils bewaldeten Hügeln umgeben war.
Ein wenig erinnerte Sebastian diese Stadt an das Schweizer Dorf Grächen im Wallis. Dort saß er oft nach einer Bergtour an den Aussichtsplätzen der Wasserleitungen und blickte in der Abendsonne auf das Dorf hinunter. Er sog den würzigen Duft der Gräser und Kräuter ein, lauschte dem Wind, der durch die Baumwipfel fuhr und wartete, bis im Tal die Kirchenglocke den Abend anläutete...
Das war’s! Plötzlich wusste Sebastian, was er überall in diesem Land vermisste. Es waren die Kirchen! Städte, wie Falméra oder Quaronas besaßen selbst im Mittelalter bereits große Kathedralen. Doch in diesem Land gab es nicht einen optisch herausragenden Bau, der für die Huldigung der Götter bestimmt war.
Überall auf der Welt gab es prächtige Tempel und Moscheen, wuchtige Kathedralen und innen, wie außen reich verzierte Kirchen. Doch im Volossoda, weder im Val Mentiér, noch in Quaronas oder Falméra konnte Sebastian ein Haus des Gebets entdecken. Doch er wusste, dass die Menschen hier sehr wohl streng an die Gesetze ihrer Götter glaubten. Offenbar hatten sie dennoch keinen Ort geschaffen, an dem sie sich zum Gebet versammelten.
»Sag mal, Antarona.., gibt es in Falméra, oder in Quaronas, oder in den Tälern Orte, an denen die Menschenwesen die Götter ehren, oder zu ihnen sprechen?« Sebastian versuchte seine Frage so einfach, wie möglich zu stellen, denn Begriffe, wie Beten, oder Gebet gab es wahrscheinlich im Wortschatz der Ival nicht.
»Ja, Ba - shtie.., diese Orte gibt es«, versicherte sie ihm, »auf den Plätzen in Falméra, Quaronas und Zarollon, oder auf dem Platz in jedem Dorf der Täler versammeln sich die Menschenwesen an Feuern, sie singen und tanzen nach den Klängen der Trommeln und der Flöten und ehren Talris und die Götter um ihn. Es gibt reich zu essen und zu trinken, damit die Götter sehen, dass es den Menschenwesen gut geht. Aber viele Ival wollen allein mit den Göttern sprechen, so gehen sie hinauf auf einen Berg, oder auf einen Hügel, oder an das große Wasser. Dort entzünden sie ein kleines Feuer und singen leise, oder sie klagen, oder heben still ihre Sinne zu Talris, wenn seine unzähligen Tränen aus dem Himmel leuchten.«
»Und gibt es eine Zeit, in der die Menschenwesen zu den Göttern und zu Talris sprechen?« fragte er weiter. Antarona gab bereitwillig Auskunft und Sebastian bemerkte, dass sie sich über sein Interesse am Leben der Ival freute.
»Die Ival sprechen zu jeder Zeit mit den Göttern, Ba - shtie.., dann, wenn ihnen danach der Sinn ist. Aber es ist gut, während der schlafenden Sonne Talris und die Götter zu rufen. Sie sind dann nicht mehr mit dem Werk des Tages beschäftigt und können dem Volk besser zuhören. Wenn die Ival allein zu den Göttern sprechen, dann tun sie es, wenn die glühenden Tränen der Götter aus den Wolken auf sie herab sehen. So ist die Stimme der Götter am besten zu hören!«
Sebastian war beeindruckt von der Klarheit und Einfachheit, mit der die Ival ihren Glauben lebten. Es lag auf der Hand, dass ein Gebet intensiver empfunden wurde, wenn das Umfeld ruhig war und man sich nur auf das Gebet konzentrieren konnte. Folglich nahmen die Ival an, die Götter würden ihnen in der Nacht, wenn sie die Sterne als ihre Tränen erkennen konnten, aufmerksamer zuhören. Die unkomplizierte Denkweise der Ival in Bezug auf ihren Glauben bewunderte Sebastian.
Sie brauchten keine Kirchen und irgendwelche Prunkbauten mit lärmenden Glocken oder nervtötenden Ausrufern; sie sprachen mit ihren Göttern und mit Gottvater Talris, wann immer ihnen danach war, ohne Zwang, ohne Regel, nur mit dem freien Bedürfnis, sich ihren Göttern mitzuteilen.
Und sie schienen keine bösen Götzen oder Dämonen anzubeten. Die Ival glaubten an das, was gut war. Wahrscheinlich ohne, dass es ihnen bewusst war, glaubten sie an die Menschlichkeit, auch wenn Rache und das Töten ihrer Feinde ihnen rasch von der Hand gingen.
Sie glaubten an die Elsiren, jene filigranen Geschöpfe, die das Gute und die Liebe verkörperten. Sie glaubten an Talris, den Gottvater, der den Menschenwesen das Licht brachte. Was für faszinierende Menschen.., was für ein unbeschwertes Volk... Wenn Torbuk nicht wäre! Ohne diesen Tyrannen wären sie das, was Sebastian immer gesucht hatte. Eine Gemeinschaft, in der es sich friedlich und ohne Hass und Verlogenheit leben ließ.
Die Ival waren im Grunde das friedlichste Volk, das Sebastian bisher kennen gelernt hatte. Sie wagten Jahrzehnte lang nicht einmal, sich ernsthaft gegen Torbuk aufzulehnen. Nur eine kleine Gruppe von Reitern und ein halb verwildertes Mädchen boten der Plage des Landes die Stirn, um ihr Volk, dass sie so liebten, zu schützen. Dabei verboten ihnen ihre Götter offensichtlich nicht, ihre Feinde zu töten.
Je mehr Sebastian über den ehrlichen Umgang der Ival mit ihren Göttern und deren Geboten erfuhr, desto schmutziger kam ihm das vor, was ihm als einziger Glaube anerzogen wurde. Er war christlich orientiert aufgewachsen, mit dem Beispiel Jesus Christus und den Geboten Gottes, die das Töten von Menschen, ob Feind, oder Glaubensgegner strikt verboten. Dennoch geschah genau das tagtäglich hundertfach, tausendfach!
Sebastian litt unter der immerwährenden Heuchlerei vieler angeblich streng Gläubiger, zwischen Sonntagsgebet, Buße, Vergebung durch Gott und dem sofort wieder verübten Verrat an eben diesem Gott, sobald sie die Schwelle der Kirchentür wieder hinter sich gelassen hatten. Eben noch gebetet, wurde sogleich wieder dem Nachbarn übel nachgeredet, gelogen und betrogen.
Sebastians Interpretation des Ivalschen Glaubens war simpel. Die Ival waren einfacher, dahin gehend möglicherweise naiver, aber ehrlicher! Sie versprachen ihren Göttern nichts, was sie nicht auch zu halten vermochten. Im Gegenzug erlegten ihnen ihre Götter auch nichts auf, was unter Berücksichtigung menschlicher Neigungen und Schwächen nicht zu erfüllen war. War dies das Geheimnis einer ehrlich funktionierenden Religion?
Nach der Mythologie Talris, des Glaubens der Ival, stammten die Menschenwesen von den Götterwesen ab, so erklärte es ihm Antarona. Folglich besaßen die Menschen etwas göttliches und die Götter menschliche Wesenszüge und Schwächen, was sie schon bewiesen, als sie im Anbeginn der Zeit auf die Mutter Erde kamen. Antarona hatte es ihm während des langen Marsches über die Berge erzählt:
Einst lebten die Götterwesen auf einer anderen Welt. Doch sie vermehrten sich und die Welt wurde ihnen zu klein. Da machten einige von ihnen sich auf, eine neue Welt zu suchen, auf der sie sich ausbreiten und leben konnten. So bauten sie einen Feuerschweif und ritten auf ihm durch die Dunkelheit und sahen mit ihren glühenden Augen durch die lichtlose Ewigkeit und verloren ihre Tränen in der Finsternis. Doch die Reise ward zu lange, sie ritten auf dem Feuerstrahl und fanden keine Welt. Sie stritten sich und entzweiten sich und zerstörten den Feuerschweif, der sie trug. Fortan trug er sie nicht mehr und fiel mit ihnen auf eine Welt, in der sie kaum zu leben vermochten. Die neue Welt war zu heiß und zu kalt, sie war zu trocken und zu nass und es lebten Wesen auf ihr, die Jagd machten auf die Götterwesen und sie fraßen...
Sebastian wollte gern mehr von der Mythologie der Ival erfahren, doch Antarona ging nicht näher darauf ein. Ihr schien es wichtiger, ihrem Gefährten so schnell wie möglich die Sprache ihres Volkes, sowie die Kunst des Schwertkampfes zu lehren. Die Lehre von Talris mochte folgen, wenn Areos wieder gelernt hatte, in seinem Land zu überleben.
Mittlerweile senkte sich die Sonne und tauchte ein in die Wipfel der Föhren, Kiefern und Laubbäume, als wollte sie sich im Dschungel von Falméra ertränken. Jedes Geräusch erstarb, jedes Tier verstummte, als ehrte jedes Wesen dieser Welt den zur Ruhe gehenden Tag. Bizarre Silhouetten tanzten vor einem riesigen, rot glühenden Feuerball, bis nur noch ein letzter Schein den Himmel erhellte.
Die Stadt unter ihnen, mit ihren weißen Gemäuern begann im rötlichen Licht der Abendsonne zu leuchten, als bestünden ihre Häuser aus purem Gold. Der Anblick erinnerte Sebastian an die weißen Eistürme eines Gletschers, die im Alpenglühen ähnlich golden schimmerten.
Im Augenblick, da das letzte Glühen zwischen den Blättern erlosch, erhoben sich wieder schlagartig die Stimmen der Tiere. Vögel flatterten laut zwitschernd auf, andere krächzten und kreischten, was ihre Kehlen hergaben, selbst die Hunde unten in der Stadt bellten, als verkündeten sie die Apokalypse. Dann kehrte allmählich die Ruhe der Nacht ein. Grillen und Zikaden begannen ihr auf und ab schwellendes, beruhigendes Konzert, Frösche stimmten irgendwo mit ein und die Vögel hatten sich nur noch leise Botschaften mitzuteilen.
Unten im Tal lag die Stadt bereits im Schatten. Erste Lichter in den Fenstern waren aufgeflammt und Feuer wurden überall in den Straßen und auf Plätzen entfacht, verbreiteten einen flackernden Schein zwischen den weißen Häusern und erweckten den Eindruck, die ganze Stadt feiere ein großes, rauschendes Fest. Überall wurde der Feuerschein von den hellen Hauswänden vielfach zurückgeworfen und wenn Sebastian die Stadt als Ganzes betrachtete, so mochten ihm seine Sinne erzählen, dass alles in Flammen stand. Feine Rauchsäulen zogen wie endlose Fahnen in den Himmel, wurden in der Höhe vom Wind erfasst und verweht.
Allein die Burgfeste mit ihren hohen Fassaden und Türmen warf noch das rote Licht zurück, das die Sonne mit letzter Kraft um sich warf. Ihre Zinnen und Mauern schienen wie ein Ofen von innen heraus zu glühen und die Dächer blinkten und glänzten im sterbenden Schein. Dann krochen auch an der Himmelsburg die Schatten empor, griffen nach den Säulen und Türmen, bis letztlich nur noch drei Turmspitzen wie eine Fackel glommen.., nur für eine Minute, dann erstarb auch dieses letzte Licht von Talris an diesen Tag.
Damit war der Tag jedoch noch lange nicht beschieden. In den Straßen und auf den Märkten entstand ein Leben, das beinahe noch ausgelassener und betriebsamer schien, als um die Mittagszeit. Selbst von der erhöhten Warte des Berges aus hörten Antarona und Sebastian den Gesang der Menschen, ihre Stimmen, Musik und allerlei Lärm. Es war, als öffnete die Nacht klangliche Schleusen, die das pure Leben hörbar zu ihnen hinauf trug.
Der restliche Weg hinab ins Tal war alles andere als angenehm. Inzwischen war es im Wald stockdunkel und Sebastian stieß ein ums andere Mal mit den nackten Füßen an scharfkantige Steine, oder aus dem Boden ragende Wurzeln. Er verfluchte seine Einfältigkeit, die Bergstiefel auf dem Festland gelassen zu haben.
Über unendliche Windungen und Kehren erreichten sie schließlich den Fuß des Berges. Augenblicklich spie sie der Wald aus und sie standen unvermittelt auf einer Wiese, die nicht weit entfernt vom Strand der Bucht liegen musste. Das beruhigende Rauschen des Meeres drang an ihre Ohren, vermischt mit den entfernten Klängen einer feiernden Stadt, die der Wind sporadisch zu ihnen heran trug.
Ein paar Minuten später fühlten ihre Füße Sand unter den Sohlen und vor ihnen breitete sich die dunkle Wasserfläche der Bucht aus. Das Licht der unzähligen Feuer, die aus der Stadt und vom dem Hafen herüber leuchteten, tanzten auf den kleinen Wellen und verwandelten die Bucht in eine malerisch verträumte Oase, wie einem Märchen entsprungen.
Erleichtert über die Wohltat, die ihre Füße erfuhren, folgten sie im flachen Wasser dem Strand, überquerten den Bach, der aus dem Tal in die Bucht floss und sogen die Luft ein, die mehr und mehr von Gerüchen geschwängert war, die in ihnen das Gefühl großen Hungers auslösten.
Die ersten Menschen, denen sie begegneten, waren ein Liebespaar, das sich vom Trubel der Stadt an den einsamen, nächtlichen Strand zurückgezogen hatte. Verträumt saßen sie aneinander gelehnt da und schienen die beiden Wanderer gar nicht zu beachten.
Offensichtlich waren abendliche Spaziergänge am Strand von Falméra sehr beliebt, denn immer öfter kamen ihnen nun Paare, oder kleine Gruppen entgegen, die mal freundlich grüßten, oder aber mit sich selbst beschäftigt, still vorüber gingen. Nicht ein einziges Mal wurden Antarona und Sebastian mit Scheu, Ablehnung oder Misstrauen bedacht. Sie gehörten einfach mit zum Bild des Nachtlebens.
Bevor sie die ersten Hütten und Häusern erreichten, vernahmen sie schon die ausgelassenen Klänge von Musik und Gesang. Eine Gruppe von jungen Leuten hatten ein Feuer am Strand entzündet, saßen gut gelaunt darum herum und sangen ein stimmungsvolles Lied, von einer Flöte und einer Rassel begleitet. Sie waren allesamt in einfache Baumwollhosen und Leinenkleider gekleidet, die sie teilweise abgelegt hatten. Anscheinend genossen die Menschen auf dieser Insel ein sehr freizügiges Leben.
Sebastian blieb kurz stehen und nahm für einen Moment teil an den angenehmen Seiten seines Abenteuers. Das Lied, welches die fröhliche Runde anstimmte, erinnerte ihn an die Melodie eines Tahitianischen Volksliedes, das er auf einer Schallplatte gehört hatte. Reihum gab eine oder einer der Gruppe die ersten Takte vor, dann stimmten alle mit ein und versuchten sich gegenseitig im Gesang zu übertrumpfen. Dabei hielten sie lange Stöcke, Pfeile, oder Schwerter ins Feuer, an deren Spitzen ein Stück Fleisch oder Fisch vor sich hin brutzelte.
Der Duft, der Sebastian in die Nase stieg, ließ seinen Bauch zusammen ziehen. Sein Magen begann zu knurren, als hätte er ein wildes, bösartiges Tier verschluckt. Aber es war nicht nur der Duft gebratenen Fleisches, das er als angenehm empfand. Der melodische Gesang, eine Mischung aus hellen Frauenstimmen und den Bässen der Männer, in der einfachen Sprache der Ival vermittelte ihm das Gefühl von Zuhause, von Unbeschwertheit, Geselligkeit und Geborgenheit.
Liebend gern hätte er sich mit Antarona zu den Insulanern gesellt und mit ihnen gefeiert. Er spürte instinktiv, dass er und Antarona ohne Vorbehalt und wie ganz selbstverständlich in ihre Gesellschaft aufgenommen worden wären. Doch seine Gefährtin bedeutete ihm, weiter zu gehen. So nickte Sebastian den lachenden, vom Feuerschein angestrahlten Gesichtern freundlich zu und folgte seiner Frau.
Immer öfter trafen sie nun auf kleine Lagerfeuer, um die sich frohe Menschen versammelt hatten, aßen, tranken, sangen und zuweilen sah er sie ausgelassen, ja fast schon ekstatisch um die Feuer tanzen. Sehnsüchtig blickte Sebastian im Vorübergehen zu und hoffte, dass sie einmal an diesem angenehmen Leben teilhaben konnten, bevor sie wieder in die kalten Täler Val Mentiérs zurückkehren mussten.
An einem wirklich großen Feuer, sie hatten inzwischen einen befestigten Platz am Hafen erreicht, schien ein rauschendes Fest begonnen zu haben. Fünf oder sechs Männer saßen vor ausgehöhlten Baumstämmen, die als Trommeln dienten und schlugen mit armlangen Hölzern einen schnellen, beinahe wilden Takt an, in den sich eine Art Panflöten und ein Seiteninstrument einreihten.
Das, was für Sebastian klang, wie Kriegstrommeln, Banjos und Flöten, wurde von lautem Gesang unterstrichen, der keiner bestimmten Melodie zu folgen schien. Vielmehr war es eine intuitiv gesteuerte Abfolge von Tönen, die zwar sehr harmonisch klangen, offenbar aber eher zufällig entstand. Aber gerade dieser urtümlich, spontane Charakter der Musik faszinierte Sebastian. Das war wirklich live!
Frauen und Mädchen waren es, die an diesem Feuer die ersten Takte wie anfeuernde Rufe vorgaben, in die dann die Männer mit ihren voluminösen Stimmen einfielen, bis das angestimmte Lied in einen sich schier überschlagenden Gesang ausuferte und plötzlich, wie abgehackt, endete, um wiederum von den Frauen neu angestimmt zu werden.
Zu diesen hemmungslosen, rasenden Rhythmen tanzten die meist jüngeren Ival in eindeutiger, erotisch anzüglicher Weise, welche die übermütige Stimmung noch zusätzlich anheizte. Einige junge Frauen und Männer hatten sich ihrer Kleidung bis auf kleine, gerade noch ihre Scham bedeckende Stofffetzen entledigt und tanzten hauteng umeinander und gleichzeitig bedenklich nahe um das Feuer, dass Sebastian Angst bekam, sie könnten augenblicklich in die Flammen stürzen.
Nackte, schweißglänzende Leiber, vom zuckenden Schein des Feuers beleuchtet, bewegten sich wie gereizte Schlangen in der Anonymität des Widerspiels von Licht und Schatten. Staubige Füße stampften einen durchdringenden Takt in den Boden, dass Sebastian das Erzittern der Erde noch in den eigenen Sohlen spürte.
Sebastian zog heimlich einen vergleich zu den Sambatänzern und Tänzerinnen des brasilianischen Karnevals. Die nahmen sich gegen die in Falméra gepflegten Tänze eher wie müde Sonntagsschüler aus. Wie zur Bestätigung seines Eindrucks wurde er sogleich Zeuge einer akrobatischen Tanzdarbietung, die er sich selbst in kühnsten Vorstellungen nicht in einem Zirkus vorstellen konnte.
Die Stimmung schien einen siedenden Höhepunkt erreicht zu haben, die vielen, um das Feuer und die Tanzenden herumstehenden Ival klatschten in die Hände, sangen, schrieen und unterstützten den immer schneller wirbelnden Takt mit ihren Füßen. Immer wilder und ungezügelter drehten, zuckten und verbogen sich die schimmernden, tanzenden Leiber.
Plötzlich, für Sebastian völlig unerwartet, kam eine der jungen Frauen, die sich eben noch im Bann der Rhythmen bewegte, durch die Flammenwand des Feuers geschossen und wurde von einem der Tänzer aufgefangen, ein paar Mal durch die Luft gewirbelt und wieder in Tanz eingereiht.
Ein Tänzer nach dem anderen griff nun spontan seiner entblößten Partnerin in die Hüfte, schwang sie ein paar Mal um seine Achse und ließ sie mit wehenden Haaren durch das Feuer fliegen. Auf der anderen Seite waren die Tänzer bereit, ein auf sie zu fliegendes Mädchen sicher in ihren kräftigen Armen landen zu lassen.
Zeitweise flogen zwei bis drei der zierlichen Körper durch die Funken und Sebastian schüttelte entsetzt den Kopf. Wenn nur eine Winzigkeit schief ging, konnte der Spaß für die Tänzerinnen mit bösen Brandwunden enden! Aber das schien die Mädchen und Frauen nicht zu kümmern. Vielmehr schienen sie ihren Ehrgeiz in das zweifelhafte Bemühen zu legen, den jungen Männern zu gefallen.
Sebastian sah zu Antarona und bemerkte die im Takt schwingenden Bewegungen ihrer Hüfte. Ihre Augen blickten scheinbar glühend in eine weite, ferne Welt. Der hämmernde Takt der Musik, der Gesang, die Stimmung und die vielen angenehmen Gerüche...
All das schien sie in eine lang verdrängte Sehnsucht zu entführen. Es stand ihr förmlich ins Gesicht geschrieben, dass sie selbst den Drang verspürte, von einem Mann durch die Flammen geworfen zu werden. Es lag den Frauen der Ival wohl im Blut. Sebastian wunderte das nicht, es war schließlich ihre Kultur! Das, was er hier erlebte, war das Volk, waren Herz und Geist der Ival!
Er musste regelrecht schreien und sie mit dem Arm anstupsen, um sein Krähenmädchen einerseits aus der Trance zu reißen, in die sie sich gedanklich hineingesteigert hatte und andererseits um die laute Musik zu übertönen.
»Antarona.., wird hier immer so gefeiert.., ich meine jeden Tag, oder gibt es dafür einen besonderen Anlass?« Sie sah ihn teils heiter, teils verwundert an, als wären seine Frage die überflüssigsten Worte der Welt, formte dann aber mit ihren Händen einen Trichter, durch den sie in sein Ohr sprach.
»Die Ival erfreuen sich an jedem Tag, den Talris mit seinem Feuerball gesegnet hat und sie zeigen es im Tanz nach der Arbeit des Tages!«
Sebastian nickte deutlich, dass er verstanden hatte. Sanft hielt er ihren Arm fest, um ihr zu sagen, dass er noch eine weitere Frage hatte. Sie hielt ihm das Ohr entgegen, denn die Musik, das Kreischen der Frauen und anfeuernde Brüllen der Männer sowie das Stampfen der vielen Füße steigerte sich zu einem alles überflutenden Lärm.
»Was ist das für ein Tanz.., hat der eine besondere Bedeutung?« wollte er wissen. Anstelle einer Antwort zog Antarona ihren Basti mit sich, aus dem Kreis der Feiernden heraus. Den Feuerschein im Rücken gingen sie ein Stück an der Kaimauer des Hafens entlang, verfolgt vom Jubeln und Klatschen der Ival, die offenbar gerade ihren Tanz beendet hatten.
Nach dem Aufenthalt am Feuer des Tanzkreises kam Sebastian der leichte Föhn plötzlich kalt vor. Draußen in der Bucht dümpelten die schwarzen Silhouetten der Schiffe und Boote vor sich hin, wie dunkle Geister, die sich die Zeit mit Liegestützen vertrieben.
»Es ist der Tanz von Talris, der Götter und der Könige, Ba - shtie«, verkündete Antarona endlich mit unverkennbarem Stolz in der Stimme. Begeistert erklärte sie weiter:
»In diesem Tanz erzählen die Ival von der Verbindung der Herzen des ersten Königs Volossodas mit einer Stammestochter der Oranuti. Talris selbst hatte eine Verbindung zwischen dem König der Ival und einer Tochter der Oranuti erwählt, er sandte dem König die schöne Tochter aus dem Land der wandernden Sonne. Sie kam durch den Feuerkreis Talris, allein in ihre Schönheit und Anmut gekleidet und verzauberte den König, dass er nur für sie allein Liebe empfand. Seit dieser Zeit, Ba - shtie, seit Alters her ist es so, dass die Könige und ihre Söhne eine Oranuti zur Frau nehmen, damit die Linie der Götter, von der die Könige stammen, sich ein anderes Blut, als das ihrer selbst geben.«
»Eine wundervolle Geschichte ist das«, nickte Sebastian anerkennend, »kein Wunder, dass daraus ein Ritual entstanden ist.« Antarona sah ihn fragend an, denn das Wort Ritual gab es in ihrem Wortschatz nicht. Als wollte sie ihre Kultur vor der Unwissenheit Sebastians verteidigen, sagte sie bestimmt:
»Es ist der Tanz, den die Ival sehr oft tanzen.., der Tanz des Lebens! Bei diesem Tanz verbinden sich heimlich Herzen, die dann den Segen der Götter, der Elsiren, oder des Volkes suchen.« Sie machte eine kleine Pause und fuhr dann etwas wehmütig fort.
»Sonnenherz, die Tochter des Hedaron, hatte gehofft, ihr Herz in diesem Tanz mit einem anderen zu verbinden. Der Tanz ist va-ra-hi, er ist heilig!« Sebastian spürte die verborgene Enttäuschung in Antarona, dass ihr das Erlebnis, ein Herz in der Stimmung dieses Tanzes zu finden, versagt geblieben war.
»Statt dessen hat es Talris so gefügt, dass du dein Herz an einem einsamen See gefunden hast«, ergänzte Sebastian entschuldigend ihren Satz. Sie drehte sich abrupt zu ihm um, schlang ihre Arme um seinen Hals und zog sich an ihm hoch. Ihre Lippen suchten seine und Sebastian spürte ihre ganze Leidenschaft in dem Kuss, der ihn plötzlich wie eine Welle erfasste und fort zu spülen drohte. Anschließend sah sie ihm dankbar lächelnd in die Augen und flüsterte:
»Antarona ist froh, dass sie an jenem Tag am See war und den Mann mit den Zeichen der Götter gefunden hat, Areos, den Sohn Bentals, euch, Ba - shtie! Talris hat dann am See ihres Vaters durch die Elsiren gesprochen, dass es recht war. Und so ist auch die Verbindung zwischen Ba - shtie - laug - nids und Sonnenherz va-ra-hi!«
Dann wurde ihr Gesichtsausdruck von einer plötzlichen Traurigkeit überschattet, die Sebastian trotz der Dunkelheit erkennen konnte und er war sicher, dass sie es beabsichtigt hatte.
»Was hast du.., ist etwas nicht in Ordnung?« erkundigte er sich. Zunächst wollte sie nicht mit der Sprache heraus rücken. Als Sebastian sie aber weiter bedrängte, teilte sie ihm beschämt ihre Befürchtungen mit.
»Sie alle nahmen sich eine Oranuti zur Frau, Ba - shtie, alle, die Könige, ihre Söhne, und die, welche die Brüder jener Könige waren. So war es seit alters her, so ist es von Talris bestimmt, so steht es in den Tafeln von Talris.«
Sebastian bemerkte, dass ihr Tränen über die Wangen liefen. Er fasste sie etwas fester, um ihr zu zeigen, dass er ihren Kummer mit ihr teilen wollte, doch sie entwand sich seinen Armen und drehte sich zur Bucht hin. Ein weicher Wind fächerte ihre Haare auf und trocknete ihre Tränen. Als sie glaubte, sich wieder gesammelt zu haben, wandte sie sich wieder Basti zu.
»Ihr seid Areos, Bentals Sohn, Ba - shtie.., auch ihr müsst euch den Geboten und Gesetzen Talris beugen. Ihr werdet eine Oranuti zur Frau nehmen und Sonnenherz vergessen. Ihr werdet Talris bitten, den Segen der Elsiren von euch und Sonnenherz fort zu nehmen und alle werden froh sein, der König, das Volk, Hedaron, mein Vater, der Medicus Andreas, und die vielen Töchter der Oranuti, welche stets in Falméra sind, damit ein Mann aus dem Hause des Königs sie erwählt.«
Sebastian sah sie erst betroffen an, dann zog er sie entschlossen an sich heran, strich ihr die widerspenstigen Haarsträhnen aus dem Gesicht und sah ihr offen in die Augen. Vorsichtig tupfte er ihr mit dem Hemdärmel die Tränen von den Wimpern, bevor er ihr versicherte:
»So schnell, mein Engelchen, wirst du mich nicht mehr los! Ich habe dir das schon einmal gesagt und sage es jetzt wieder«, er rüttelte sie an den Schultern, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, »niemand wird uns trennen können, wenn wir es nicht wollen! Es gibt für alles eine Lösung«, versuchte er ihr Mut zu machen.
Aber so sorglos ging die Sache nicht an Sebastian vorüber. Er kannte weder den König, noch wusste er, was sie beide in der Himmelsburg zu erwarten hatten. War es möglich, dass man ihn als Hochstapler entlarvte und sie beide womöglich einkerkern ließ? Andererseits waren sie doch nur Boten des Achterrats. Es war also immerhin wahrscheinlich, dass sie der König mit einer Gegenbotschaft einfach wieder ihres Weges ziehen ließ. Diese Variante gefiel Sebastian natürlich am besten. Aufmunternd versuchte er seinen Optimismus auf seine Gefährtin zu übertragen.
»Also, wir überbringen eine Botschaft«, orakelte er, »und dann machen wir uns wieder auf den Rückweg. Sollte der König etwas anderes von mir erwarten, so wird er feststellen müssen, dass es für Sebastian Lauknitz nur einen Weg gibt! Den an der Seite von Sonnenherz! Und daran wird auch ein König von Volossoda nichts ändern, basta!«
Basti legte seine Finger unter Antaronas gesenktes Kinn und hob es sanft an, um ihr in die Augen zu sehen.
»So.., und nun wollen wir wieder fröhlich sein, nicht wahr? So Vieles haben wir bis hier her durch gestanden, haben Torbuks Bande aufgemischt, haben den Achterrat überzeugt und zum Widerstand bewegt, haben uns in den Bergen den Hintern abgefroren und sind im Sumpf beinahe ersoffen. So Vieles haben wir entbehrt.., meinst du nicht auch, wir haben uns jetzt mal eine Nacht lang Spaß und Kurzweil verdient?«
Antarona nickte stumm, doch Sebastian wusste, dass er sie hinsichtlich der Heiratstradition der Königssöhne noch nicht ganz beruhigt hatte. Zu eng war sie gedanklich an die Traditionen geknüpft. Was die Götter boten, was in den Tafeln von Talris stand, war Gesetz! Nun stand sie vermutlich im Zwiespalt zwischen ihrer Liebe und dem höchsten Gesetz, dem sie gehorsam verpflichtet war.
Sebastian wünschte sich, ihr beweisen zu können, dass er selbst über das Oberhaupt dieses Landes hinweg zu ihr und zu ihrer beider Liebe stand. Er wollte ihr um jeden Preis zeigen, dass sie, Sonnenherz, Antarona Holzer, Tochter des Hedaron, sein Ziel und höchstes Glück bedeutete. Er ahnte nicht, wie bald er dazu Gelegenheit bekommen sollte...
Ein wenig beruhigt führte ihn Antarona vom Hafenbecken fort, in eine breite, mit flachen Steinen gepflasterte Straße. So, als wären sie durch eine Tür getreten, befanden sie sich wieder unvermittelt drin in dem Trubel der feiernden Bewohner.
Sie gingen an mehreren Lagerfeuern vorbei, die einfach mitten auf der Straße brannten und um die singende, oder diskutierende Menschen saßen. Antarona und Sebastian fielen nicht weiter auf, denn sie reihten sich in die unzähligen, allein, oder zu zweit herumspazierenden Ival, die scheinbar ziellos durch die Stadt schlenderten.
Eines jedoch wunderte Sebastian. Auf seinem Weg von Balmers Alm ins Tal, ja selbst bei Antaronas Tante war er mehreren Leuten begegnet, die mit blankem Schrecken in den Augen ihren einstigen Heerführer und Sohn des Königs, Areos wieder erkannten und wohl meinten, einen Geist aus dem Reich der Toten vor sich zu haben.
Hier aber, in der Stadt des Königs selbst, schien sich niemand um sein Aussehen zu scheren. Kein bestürzter Aufschrei enttarnte ihn, ja nicht einmal ein verwunderter Blick wurde ihm entgegen geworfen. War es die Situation, die darüber entschied, ob man ihn erkannte, oder nicht? Waren die Bürger zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um auf sein Äußeres zu achten, oder wurde er einfach wegen des herrschenden Zwielichts nicht erkannt?
Die Feuer warfen ein zuckendes, tanzendes Licht an die weißen Hausfassaden, Menschen warfen große, bizarre Schatten, die hin und her sprangen und die Feierlaune schien jeden in dieser Stadt in einen Ausnahmezustand zu versetzen. Sebastian sah keine Wachen, keine Sicherungsposten, oder Ordnungshüter. Er dachte kurz daran, was geschehen würde, sollte es Torbuk ausgerechnet zu dieser Stunde einfallen, mit einer Armada in die Bucht zu segeln.
Seine Gedanken wurden auf ein anderes Spektakel gelenkt. Die Straße kreuzte die große Freitreppe, die wie aus dem Nichts plötzlich vor ihnen auftauchte. Wie eine große, von tausenden Fackeln beleuchtete Himmelsleiter strebte sie zu den unnahbaren Mauern der Burg hinauf. Menschen in den phantasievollsten Gewändern waren auf ihr unterwegs. Überhaupt gab es anscheinend niemanden, der einfach nur brav zu Hause saß, die gesamte Stadt schien auf den Beinen zu sein.
Nach den ersten zwanzig bis dreißig Stufen kreuzte eine weitere, breite Straße und führte nach links auf einen großen Platz. Ein unwiderstehlicher Duft nach Gebratenem und Gebackenem wehte ihnen entgegen. Lachende und singende Menschen kamen vom Platz, oder zogen zu ihm hin, um sich zu den Hunderten zu gesellen, die um ein mächtiges Feuer standen, johlten, Beifall klatschten und mit ihrem Gesang in die Musik einstimmten.
Ebenso, wie unten am Strand waren die tanzenden Männer dabei, sich ihre Mädchen durch die Flammen hindurch zuzuwerfen. Talris schickte die Jungfrauen der Oranuti durch das Licht zu den Königen. Sebastian war nicht gerade begeistert, überall auf dieses Ritual zu treffen, das Antarona permanent an ihre Angst erinnerte, ihn durch diese alte Tradition wieder zu verlieren.
Skeptisch warf er ihr einen flüchtigen Blick zu, bemüht, sich nicht anmerken zu lassen, dass er ihre Stimmung ergründen wollte. Antarona jedoch schien ihre Sorgen schon wieder vergessen zu haben. Sie bewegte sich in einem leicht wiegenden Stand heimlich im Takt der Musik und genoss den Augenblick der Unbeschwertheit.
Die Akustik des Platzes wurde beherrscht von Trommeln, Flöten, einer Art Drehorgel und einem anderen undefinierbaren Instrument. Letzteres sah im Grunde einer Harfe nicht unähnlich. Die vielen Saiten waren auf ein großes, geschwungenes Tierhorn gespannt, wobei das Horn offenbar die Funktion des Resonanzkörpers hatte.
Die zwei- bis dreistöckigen, weißen Häuser aus Stein oder Lehm erbaut, reflektierten die Feuer und ließen alles in einem warmen, romantischen Licht erscheinen. Aus offenen Fenstern sahen die Bewohner heraus, oder hatten sich lässig in die Rahmen gesetzt, um dem frohen Treiben beizuwohnen.
Die Gerüche der vielen angebotenen Köstlichkeiten machten Sebastian benommen. Wie lange hatten sie schon nichts mehr gegessen? Sehnsüchtig und mit brummendem Magen sah er sich nach den Ständen um, an denen Grillspieße oder große, gegarte Fleischstücke angeboten wurden.
Gern hätte Sebastian seinen Magen gefüllt, doch er wusste nicht, womit er die Gaumenfreuden bezahlen sollte und noch viel mehr fürchtete er, von einem aufmerksamen Beobachter als der tot geglaubte Areos erkannt zu werden. Über die Folgen einer vorzeitigen Preisgabe seiner vermeintlichen Identität konnte er nur spekulieren. Klug war sie ganz sicher nicht!
Sebastian spürte einen leichten Stoß in seine Rippen und drehte sich zum Feuer zurück. Antarona stand dich neben ihm und ihre Lippen berührten sein Ohr.
»Mögt ihr von den Speisen kosten, Ba - shtie?« schrie sie ihm die Frage ins Gehör, kaum, dass ihre Stimme die Musik und den vielchörigen Gesang übertönen konnte.
Einmal mehr fragte sich Basti, ob seine Frau tatsächlich in der Lage war, Gedanken zu lesen, oder ob ihre Augen lediglich seinem sehnsüchtigen Blick gefolgt waren. Sebastian nickte bestätigend, eine Antwort hielt er bei dem infernalischen Musiklärm für sinnlos.
Sogleich schlenderte Antarona zu einem Stand, über dessen Feuer sich mehrere Riesenspieße mit Fleisch, sowie ein halbes Rind drehten. Fett tropfte in die Flammen, ließ sie eine Sekunde lang aufpuffen und wieder in sich zusammen fallen. Ein kräftiger, gutmütig blickender Mann mit hochrotem Gesicht stand in der Hitze der Glut und drehte abwechselnd die Spieße.
Sebastian hielt sich im Hintergrund, beobachtete, wie Antarona auf das Fleisch zeigte und dem Mann etwas gab, das wie Münzen aussah. Also gab es doch Geld bei den Ival, oder zumindest etwas, das einen allgemein gültigen Gegenwert zu den Waren ausmachte!
Mit einer Halbmeter langen, dünnen Holzstange, auf der eine ganze Reihe Fleischstücke steckten, kam Antarona zurück. Ohne seinen gierigen Blick vom Grillspieß abzuwenden, fragte er:
»Was hast du dem Mann für die Speise gegeben?« Bevor sie antwortete, fischte sie mit flinken Fingern ein Stück heißen Braten vom Spieß und steckte ihn Sebastian in den Mund.
»Er wollte drei Quarts haben«, erklärte sie ihm, gegen die lautstarke Musik anschreiend, »Sonnenherz hat ihm jedoch nur einen gegeben.., das hier hat nur den Wert eines halben Quarts«, dabei hielt sie den Spieß demonstrativ hoch, so dass die Fetttropfen an ihrem Arm herunter liefen.
»Was sind Quarts?« wollte Sebastian nun noch wissen. Antarona war es mittlerweile müde, gegen den Feierlärm ihrer Landsleute anzubrüllen, griff unter ihr Kleid und förderte eine Lederschnur hervor, an der mehrere Ringe von verschiedener Farbe, Größe und unterschiedlichen Materialien aufgereiht waren. Die meisten schienen aus einer Art Speckstein oder Marmor zu sein, es waren aber auch welche aus Holz, Metall und Bein darunter.
Man konnte das wohl als Ringgeld bezeichnen. Sebastian wusste, das Geld bereits seit der Antike in vielerlei Form auf der ganzen Welt eingesetzt wurde: Scheiben, Bänder, bunte Steinchen, Glasperlen, geschnitzte Figuren, ja tollkühn sogar Spielkarten und Wagenräder. Von Ringen hatte er bislang nichts gehört. Er wollte sich das Geld der Ival näher ansehen, doch seine Frau hatte es schon wieder unter ihrer Kleidung verschwinden lassen.
Während sie das gebratene Fleisch aßen, das vermutlich von einem Wafan stammte, schlenderten sie weiter durch die Straßen, wie über einen Markt um die Mittagszeit. Sie folgten einer aufwärts führenden Straße, die parallel zu den Freitreppen verlief. Auch dort war es kaum ruhiger, als auf dem Platz.
An einem Haus, in das eine Art offene Verkaufshalle eingebaut war, bot eine dicke Frau süßes Gebäck feil, an anderer Stelle sahen sich einige Männer Schwerter, Speere und andere Waffen an, die ein knöcherner Schmied anbot, dessen Gesicht so faltig war, dass es an die Rinde einer alten Eiche erinnerte.
An einem kleineren Feuer saß ein gutes Dutzend Frauen auf Holzklötzen beisammen und schnatterten so laut durcheinander, dass sie beinahe die Trommelwirbel überflügelten, die vom Platz her in die Gasse drangen. Mehrere Grüppchen von elegant gekleideten jungen und alten Männern umstanden die exotisch wirkenden Frauen, bei denen Sebastian spontan an Inderinnen dachte.
Sie besaßen einen etwas dunkleren Hauttyp, ähnlich dem, welchen Basti bei Paranubo und Onafinte, ja sogar bei Antarona festgestellt hatte, und waren allesamt vollschlank bis rundlich, was auf einigen Wohlstand schließen ließ. Aus gutmütigen, bisweilen sogar dummtreuen Gesichtern blickte ihrem Betrachter trotz übertrieben geschminkter Augen und Lippen, eher ein puppenhaftes Antlitz und ein naives Lächeln entgegen.
Ihre sehr bunten, in allen Farben schillernden Wickelröcke, die in einem glitzernden, breiten Saum vorne peinlich tief ausgeschnitten waren, schienen ihre wohlhabende Herkunft noch zu bestätigen. Dazu trugen sie ein bauchfreies Oberteil, das mit den Röcken farblich harmonierte.
Sie hatten ohne Ausnahme die krähenschwarzen Haare, die Sebastian auch an Antarona so bewunderte. Doch im Gegensatz zu den Frauen der Ival, die ihre Haare meist lang, offen, oder geflochten und mit Federn geschmückt trugen, hatten diese Frauen ihre Haarpracht mit bunten, langen Nadeln zu wahren Türmen hochgesteckt, so dass sie wie spitze Dächer auf ihren feisten Gesichtern thronten.
Wie Sklavinnen wurden die elegant und ebenso arrogant wirkenden Frauen von den umstehenden Männern taxiert, angelächelt, ja beinahe mit stummen, verzehrenden Blicken umworben. Sebastian wusste nicht, wie er dieses Bild, das sich ihm im Feuerschein bot, interpretieren sollte. Ihm kam die Aufmachung der dicklichen Frauen skurril und lächerlich vor.
»Antarona, was für Frauen sind das eigentlich.., so welche wie die gibt es doch gar nicht! Und wie diese Typen sie angucken.., wie angemalte Gänse in einem Zirkus«, raunte er seiner Gefährtin belustigt zu. Antarona zeigte sich sehr überrascht und zog verwundert die Augenbrauen hoch.
»Warum verspottet ihr sie, Ba - shtie...«, fragte sie verwirrt, »...und was ist eine Sir-kus?« Als Sebastian nicht gleich antwortete, hakte sie mit ihrer Gegenfrage nach.
»Findet ihr diese Frauen denn nicht wunderschön, Ba - shtie? Alle Männer der Ival begehren sie heimlich. Seht ihr nicht ihren Wohlstand an Leib und Kleidern und die Zeichen der süßen Willigkeit, einen Mann glücklich zu machen und...
»Wunderschön...?« unterbrach Sebastian sie empört und zweifelnd zugleich. »Du bist wunderschön, Antarona, aber ganz sicher nicht diese aufgetakelten Hennen, mit der vielen Farbe in ihren wohlgenährten Gesichtern! Hast du dir die mal genau angesehen?« Sebastian schüttelte den Kopf über so viel Fehleinschätzung, was Schönheit betraf.
»Ihr findet diese Frauen also nicht schön und wert zu begehren?« provozierte ihn Antarona weiter. Sebastian vermutete schon, dass sie heimlich Mestas zu sich genommen hatte, der ihr den Blick für die Realität vernebelte.
»Sag mal, was soll das eigentlich werden«, gab er vorwurfsvoll zurück, »ein Verhör.., ein Test... Wer sind diese Frauen überhaupt?« Anstelle einer Antwort bekam er von seinem Krähenmädchen zunächst nur ein verhaltenes Schmunzeln, kaum mehr, als ein Aufhellen ihrer Miene. Antarona wartete, bis sie den bunten Harem passiert hatten, bevor sie das Spiel weiter trieb.
»Ba - shtie - laug - nids.., wäre euer Herz ungebunden.., könnt ihr euch vorstellen, es mit einer dieser dort zu verbinden? Sie sind sehr jung, sie sind schön, ihre Väter sind wohlhabend und besitzen viel Einfluss und ihre Schöße gebären viele kräftige Kinder!«
Sebastian starrte Antarona an, als hätte er plötzlich eine wildfremde Frau vor sich. Er schüttelte unverständlich den Kopf und wollte schon kommentarlos weiter gehen, drehte sich jedoch wieder um, packte Antarona an den Schultern und schüttelte sie leicht.
»So, jetzt ist’s aber genug! Ich weiß nicht, was du heimlich genommen hast, aber bei den Göttern.., nimm weniger, hörst du? Mir scheint, du bist nicht recht bei Sinnen!«
Er hob verzweifelt die Handflächen zu einer stummen Frage, ließ sie dann aber resigniert sinken. In ruhigerem Ton fuhr er fort:
»Mein Herz ist mit deinem verbunden, mein Engelchen, das weißt du und ich bin glücklich darüber und das wird sich auch nicht ändern! Was also könnten mir die dort drüben geben, was du nicht hast.., na.., was? Schönheit? Dann kann ich dich beruhigen. Solange ich lebe, habe ich keine Frau gesehen, die schöner, wunderbarer und klüger war, als du! Und kräftige Kinder will ich nur von dir.., reicht dir die Antwort jetzt?«
Sebastian hatte erwartet, Antarona mit dieser Antwort, die ehrlich seine Gefühle offenbarte, wieder ein Lächeln zu entlocken. Doch er hatte sich geirrt. Seine Ansicht über diese Frauen schien sie intensiver zu beschäftigen, als er geahnt hatte. Um die Sache ein für allemal zu klären, stellte er noch einmal die Frage
»Antarona, wer sind diese Frauen eigentlich?« Ein paar ausgelassene, junge Ival kamen ihnen mit Fackeln entgegen, die sie übermütig über den Köpfen schwangen, so dass Antarona nicht sofort auf seine Frage einging. Als sie noch ein paar Meter gegangen waren, entfuhr es ihr mit einem Mal, wie eine Hasstirade:
»Sie sind die verwöhnten, nichtsnutzigen Töchter wohlhabender Stammesführer der Oranuti! Sie achten nicht die Götter um Talris, sie achten nicht die Mädchen und Frauen der Ival und machen den Männern der Ival die Sinne wirr, so dass sie die Frauen des Volkes vergessen. Wie Hunde laufen ihnen die Männer nach, denen es gefällt, dass ihnen die Oranuti Töchter willige Ve-ne-tries sind!«
»Was ist Ve-ne-tries?« fragte Sebastian vorsichtig, denn er war überrascht von Antaronas plötzlichem Gefühlsausbruch.
»Diese dort sind Ve-ne-tries, Ba - shtie, fremde Frauen wie gefräßige Eishündinnen, welche den Ival die Männer stehlen und viele von ihnen mit ihrem Schoß beglücken, ohne das Gefühl der Liebe in ihrem Herzen zu tragen. Seht sie euch an, Mann mit den Zeichen der Götter, seht hin, wie sie diesen Holzköpfen dort die Sinne rauben! Sie glauben, das Gebot Talris gilt für alle Männer der Ival.., sie kommen mit ihren Vätern und Brüdern nach Falméra, vergiften unsere jungen, wie alten Männer mit ihren dummen Gesichtern der Lüge und wollen doch nur Eines!«
Bevor Sebastian noch fragen konnte, was genau sie mit nur Eines gemeint hatte, flammten ihre Augen gefährlich auf und mit dem vernichtenden Blick, den er bereits kannte, setzte sie ihre Predigt fort.
»Sie alle lauern darauf, an der Seite Bentals den Thron der Ival zu besteigen, oder Karek in ihren Schoß zu ziehen, wenn Torbuk Falméra erobert, oder sich mit euch, Ba - shtie.., mit Areos zu verbinden, von dessen Wiederkehr sie bereits Gerüchte gehört haben. Die Töchter der Oranuti sind die süßen Schwerter ihrer Väter, welche Macht über die Ival erlangen wollen. Und unser König erkennt es nicht, Ba - shtie. Bental sieht nicht, dass alle Oranuti nur die Gebote Talris ausnutzen, um Falméra an sich zu reißen! Sie wollen die Herrschaft über alles Land!«
Nie zuvor hatte Sebastian sein Krähenmädchen von solcher Eifersucht getrieben erlebt. Sie schien sich regelrecht in die Vorstellung hinein zu steigern, alle Frauen der Oranuti hätten es auf ihren Ba - shtie abgesehen. Er wollte sie etwas beschwichtigen, bevor sie beide noch die Aufmerksamkeit aller auf sich zogen, doch erreichte er damit genau das Gegenteil.
»Aber, so wie ich das mitbekommen habe, Antarona, und so hast du selbst es mir erzählt, brauchen die Ival die Oranuti. Sie brauchen ihre Waren, ihre Krieger als verbündete und nicht zuletzt ihre Schiffe, ohne die Falméra völlig isoliert wäre!«
»Ja, Ba - shtie.., und das wissen die auch ganz genau«, sprühte sie ihm ihren ganzen Hass entgegen, »sie machen, dass die Ival nicht mehr ohne sie leben können und dann nehmen sie uns das Land, wie es Torbuk und Karek bereits versuchen! Nur sie tun es nicht im offenen Kampf.., nein! Sie tun es, indem sie uns umschleichen, wie die Eishunde, indem sie uns die Männer nehmen, indem sie ihr Blut, ihre Sprache und ihren Glauben unter die Ival streuen, heimlich, so dass niemand ein Argwohn hegt!«
Sebastian beobachtete seine Frau, während sie unverhohlen gegen die Oranuti Position bezog. Er war sich nicht ganz im Klaren darüber, ob es nur ihre Eifersucht war, ihre Angst, ihm, Areos, dem vermeintlichen Sohn des Königs, könnte die alte Tradition auferlegt werden, sich mit einer Oranuti zu verbinden, oder ob noch mehr dahinter steckte.
Sebastian wusste, dass sie ihr Volk ebenso liebte, wie ihn und er stellte sich aus Antaronas Sicht vor, wie er empfinden würde, wenn sein Land, sein Volk, von einer anderen Kultur schleichend infiltriert und irgendwann übernommen werden würde... sanfter Krieg.., Eroberung eines Landes ohne Waffen.., so konnte das funktionieren!
Zunächst aber wollte sich Sebastian der persönlichen Variante ihrer Abneigung gegen die Oranuti widmen. Er wusste einfach noch viel zu wenig über die Machtverhältnisse dieser Welt, um politisch darauf Bezug zu nehmen.
Er blieb stehen, hielt Antarona am Arm fest. Dann griff er in ihre Taille, zog sie dicht zu sich heran und sah ihr tief in die Augen, um ihr die Ehrlichkeit seiner Worte zu demonstrieren.
»Du hast Angst, Bental könnte mir abverlangen, mich mit einer Oranuti zu verbinden.., ist das so, ist es das, was dir Sorgen macht?« Als sie ertappt zu Boden blickte und nicht weiter reagierte, rüttelte er sie wach.
»Nun hör’ mir mal zu, mein Engelchen!« gebot er ihr mit sanftem Ton und hob ihr Kinn an, so dass sie ihm in die Augen blicken musste.
»Unsere Herzen werden für immer verbunden bleiben.., egal, was auch geschieht! Und sollte sich jemand in den Kopf setzen, uns zu trennen, so wird er sein blaues Wunder erleben!« prophezeite er ihr.
»Aber wenn Bental euch, als eurem Sohn befielt...« Sebastian ließ sie erst gar nicht ausreden, sondern setzte seine Ankündigung fort.
»Wenn König Bental von mir fordert, traditionsgemäß eine Oranuti zur Frau zu nehmen, werde ich ihn unter eben dieser gleichen Tradition daran erinnern, dass ein Segen der Elsiren nicht gebrochen werden darf.., auch nicht von ihm als König!« Sebastian spürte, dass Antarona noch immer skeptisch war und fügte sofort hinzu:
»Und wenn er versucht, mit irgend einem Grund dennoch seinen Willen durchzusetzen, so verspreche ich dir hiermit, mein Engelchen, dass wir sofort nach Val Mentiér zurückkehren, notfalls eben nur als Antarona und Ba - shtie! Unser Auftrag, unsere Bitte nach Autonomie, also nach der Selbstständigkeit Val Mentiérs haben wir dann ja sowieso schon vorgetragen und der Anordnung des Achterrats genüge getan!«
»So einfach ist das nicht, Ba - shtie«, warf Antarona erneut ein, »ihr vergesst, dass es nicht nur um unser beider Herzen geht, sondern um das Volk, um die Ival, auch um die Ival, die in Falméra leben! Soll Sonnenherz zusehen, wie sie in zwei, drei, oder fünf Wintern von Torbuk, oder von den Oranuti, oder von beiden regiert werden? Es sind meine Brüder und Schwestern, Ba - shtie!«
»Ja.., es sind deine Brüder und Schwestern«, pflichtete er ihr in barschem Ton bei, »aber nicht mehr und nicht weniger. Du bist nicht ihre Königin, vergiss das nicht!« ermahnte er sie.
Sebastian wurde aber sofort klar, dass er sich den letzten Satz besser verkniffen hätte. Antarona bekam augenblicklich wieder ihren kämpferischen, flammenden Ausdruck in die Augen.
»Ba - shtie - laug - nids«, wütete sie los, »vergesst ihr etwas nicht: Ihr seid sehr wohl der König.., ihr seid Areos, der Sohn und rechtmäßige Thronerbe König Bentals und wenn der alte Mann dort oben in der Burg sein Volk, die Ival, an die Oranuti, oder durch sie an noch bösere Mächte, wie Torbuk und Karek verrät, so ist es an euch, und an euch allein, ihn aufzuhalten! Nicht die Brüder und Schwestern des Volkes dürfen sich anmaßen das zu tun, auch nicht der Achterrat... Aber ihr allein, der Nachfolger auf Bentals Thron, habt das von Talris gegebene Recht dazu, ihr seid ausgewählt, die Ival, die Brüder und Schwestern, den Achterrat und die Windreiter zu führen!«
Antarona wurde so laut und geriet dermaßen außer Atem, dass die ersten Menschen stehen blieben und sich nach ihnen umsahen. Beruhigt registrierte Basti, dass sie kopfschüttelnd und mitleidig lächelnd weiter gingen. Ihre Gedanken standen ihnen offen auf die Stirn geschrieben: Der Mann hatte sich bei den Töchtern der Oranuti vergnügt und war von seiner Ival Frau dabei ertappt worden, die ihm nun eine unmissverständliche Standpauke hielt. Aber besser, sie glaubten an eine peinliche Situation, als dass sie ihn als des Königs Sohn erkannten! Sebastian musste schmunzeln und konnte es nicht ganz verbergen.
»Was findet ihr daran so lustig, Ba - shtie - laug - nids, Mann von den Göttern?« tobte seine kleine Frau weiter und schien die Blicke der amüsierten Nachtschwärmer gar nicht wahr zu nehmen. Nun reichte es Sebastian. Er hob seine Frau hoch und setzte sie so heftig wieder auf den Boden, dass sie in die Knie ging. Verwirrt suchte sie Halt in seinen Armen und bevor sie sich wieder fangen konnte, drehte er den Spieß um.
»Jetzt krieg dich mal wieder ein, ja?« Nachdem er sich versichert hatte, dass sie ihre nächste verbale Kaskade verschluckt hatte, sprach er ruhiger weiter.
»Was soll das jetzt alles? Du hast mir doch selbst beigebracht, dass die Oranuti die Verbündeten der Ival gegen die Schreckensherrschaft Torbuks sind. Die Ival bekommen viele Dinge von den Oranuti und die wiederum erhalten im Tausch Waren der Ival. Ihr treibt Handel miteinander! Wieso stellst du sie auf einem Mal als Feinde hin?«
Antarona fand langsam zu ihrer Besonnenheit zurück, ging schweigend neben Sebastian her und blieb dann neben einem einsamen Hauseingang stehen. Sie zog Sebastian in den Schatten der Türnische und sah sich noch einmal um, ob sie heimliche Zuhörer fürchten musste.
»Sonnenherz hat es im Stein der Wahrheit gesehen«, berichtete sie gefasst, »einige Male, es waren nur undeutliche Bilder, denn es war in einer Zeit weit vor dieser Zeit, Ba - shtie, aber so viel konnte Antarona erkennen: Das ganze Land, Falméra und auch Val Mentiér war voll mit den Menschenwesen aus dem Volk der Oranuti. Sie waren überall, in Falméra, in Zumweyer, in Fallwasser, auf dem Hof meines Vaters... Und sie haben gegraben!«
»Die haben ge-gra-ben?« fragte Sebastian erstaunt. Antarona nickte stumm, als wäre ihr auferlegt worden, die Apokalypse zu prophezeien.
»Ja, Ba - shtie, sie haben gegraben.., sie haben alle Erde umgegraben und wie Torbuk Löcher in die Berge geschlagen.., sie hatten etwas gesucht...«
»Die Hallen von Talris!« beendete Sebastian ihren Gedanken. Er sah seiner Frau in die Augen und erkannte in ihnen einen Ausdruck, den er nur selten in ihrem Blick fand: Angst!
»Auch die Oranuti begehren heimlich die Tränen der Götter, welche einstmals auf die Mutter Erde fielen und sie wollen ebenso wie Torbuk den Ort, der nur Sonnenherz und euch, Ba - shtie, bekannt ist!«
»Na ja.., ein gewisser Verdacht kann unter bestimmten Umständen schon entstehen«, räumte Sebastian vorsichtig ein, »doch warum sollten sich die Oranuti die Mühe machen, erst Falméra in ihre Hände zu bekommen, wenn sie doch auf dem Landweg viel bequemer in die Täler des ewigen Eises gelangen können?«
Antarona hatte die Antworten bereits parat. Anscheinend hatte sie Nächte lang darüber nachgegrübelt und sich eine plausible Erklärung, oder das, was sie dafür hielt, zurecht gelegt.
»Torbuk...«, verkündete sie leise, um sicher zu gehen, dass niemand sie diesen Namen aussprechen hörte, »Torbuk steht ihnen mit Quaronas im Weg! Sie müssen ihn erst für sich gewinnen und dann ebenfalls besiegen. Quaronas aber ist ein Ort, wo die Oranuti ebenfalls nicht sehr willkommen sind. So können die Führer der Stämme nicht ihr Blut mit ihren Töchtern unter die Männer Quaronas säen!«
»Und ein frontaler Angriff über den schmalen Landstreifen zwischen den Bergen mit dem Sumpf und dem Meer können sie nicht riskieren, auch, weil ihnen die Soldaten Quaronas an Zahl überlegen sind...«, dichtete Sebastian ihre Geschichte weiter. Antarona nickte bestätigend.
»Also, brauchen sie zunächst Falméra«, spann er, inzwischen ganz auf Antaronas These fixiert, »denn wer Falméra kontrolliert, hat auch die Kontrolle über das Meer. Falméra ist eine strategisch wichtige Position. Wer auf Falméra sitzt, beherrscht die Seewege, die warme und starke Strömung, die von den Oranuti zu den Ival hinauf führt. Sie könnten dann, vorausgesetzt, Falméra ist in ihrer Hand, zwei Angriffswellen führen: Eine kleine über Land und eine viel größere mit ihren vielen Schiffen von der See her...«
Plötzlich wurde Sebastian bewusst, was er da sagte. Eine Hand voll Frauen und eine uralte Tradition als Einleitung einer schleichenden Invasion? Er schüttelte den Kopf und fuhr mit der Hand abwertend durch die kalte Nachtluft.
»Das klingt alles ganz schön phantastisch, Antarona, aber für all das haben wir nicht einen einzigen Beweis. Und selbst wenn... Ein solches Vorhaben bedürfte vieler Jahre der Vorbereitungen und Planung, um es erfolgreich durchzuführen! Und das eine, wie das andere ist zu diesem Zeitpunkt keine wirkliche Bedrohung...«
»Ba - shtie.., wollt ihr nicht verstehen?« Antarona rüttelte an seinem Arm, als könnte sie damit die Zweifel aus ihm herausschütteln.
»Damit fängt es an«, sagte sie prophetisch und zeigte auf die Frauen auf der Straßenseite schräg gegenüber, »und damit wird es enden, wenn niemand es aufhält!« Dabei wies sie die Straße entlang zum nächsten Platz, der nur mehr zwanzig Meter entfernt war.
Dort saßen auf ausgebreiteten, bunten Decken fünf bis acht ältere, bärtige Männer mit dunkler, teils faltiger Haut, in weiße Tücher gekleidet. Sebastian vermutete in ihnen wohlhabende Stammes- Fürsten der Oranuti, die es sich auf der Insel mit dem angenehmen Klima gut gehen ließen. Glitzernde Ketten und der funkelnde Schmuck bunter Steine stach von ihren schlichten Gewändern ab. Ihre Finger waren mit dicken Ringen bestückt und setzten sich bei jeder ihrer Bewegungen in Szene. Die Accessoires reich gefüllter Quartbeutel glänzten im Widerschein des Feuers.
Schamlos ließen sie sich von einem Jungen der Ival bedienen, den sie amüsiert gängelten, traktierten und hin und her scheuchten, wie einen Sklaven. Emsig flitzte der Kleine um die schwatzenden und lachenden Herren herum, goss hier ein Getränk nach und füllte dort einen Teller auf und versuchte verzweifelt, ihren Provokationen zu entgehen.
Ehe Sebastian noch reagieren konnte, drückte ihm Antarona die Riemen ihres Bündels in die Hand und trat aus dem Schatten der Eingangsnische. Gleichzeitig löste sie die oberen Schleifen ihres Kleides, die ihre Oberweite unter dem groben Stoff in Bann hielt. Mit schwingenden Hüften und aufreizendem Gang stolzierte sie zielstrebig die Straße entlang. Im Gehen griff sie links unter den Saum ihres Kleides, zog ihn hoch und riss den Stoff mit einer schnellen Bewegung bis zu den Hüften entzwei.
Sebastian, von ihrer spontanen Aktion völlig überrascht, versuchte vergeblich mit ihr Schritt zu halten. Der Ballast ihres Bündels wirkte wie ein Treibanker. Entsetzt beobachtete er, dass sie sich in diesem Augenblick auch die rechte Seite des Kleids aufriss, so dass ihre langen, schlanken Beine nun bei jedem Schritt aufreizend aus dem Kleid hervor traten und vom fließenden Stoff umschmeichelt wurden. Dass dabei ihr Schwert unter dem Kleid ebenfalls allen Blicken preisgegeben war, schien sie nicht zu interessieren.
Wie eine Göttin schritt sie langsam über den Platz, der wie alle anderen Orte der Stadt in dieser Nacht von einem gut besuchten Lagerfeuer erleuchtet wurde. Ihre graziöse, verführerische Gestalt entging freilich auch den Augen der Oranuti- Fürsten nicht.
Sofort stupsten sie sich gegenseitig an, ihre Blicke gierten hinter Antarona her und im nächsten Moment erhob sich ein groß gewachsener, etwas schwammig wirkender Oranuti und ging ihr nach. Das hatte Sebastian kommen sehen! Rasch warf er Antaronas Bündel in den nächsten Hauseingang, zog sein Kurzschwert und beschleunigte seinen Schritt, krampfhaft bemüht, nicht durch zu schnelles Laufen aufzufallen.
Er hatte seine Frau fast erreicht, als er den fremden Oranuti neben sie treten sah, der wie ganz selbstverständlich seinen Arm ausstreckte und seine schmierige Handfläche provozierend über Antaronas Gesäß gleiten ließ.
»Na, kleines Vögelchen von Falméra...«, hörte Sebastian den Mann in gebrochenem Ival säuseln, »...habt ihr nicht Lust, mit mir ein paar auserwählte Köstlichkeiten zu genießen? Ihr werdet es nicht bereuen, wenn ihr meiner Einladung folgt. So ein Angebot mache ich nicht jeder Ival und meine Gesellschaft...«
Sebastian sah rot! Er wollte sich eben mit erhobenem Schwert auf den ahnungslosen Oranuti stürzen, doch es war bereits zu spät.
Antarona sprang plötzlich zur Seite, wirbelte herum, wie ein entfesselter Sturm und hielt wie durch einen Zauber ihr Schwert in der ausgestreckten Hand. Langsam senkte sich die Spitze Nantakis von der Nase des dreisten Werbers hinunter zu seinen Lippen und ein paar Zentimeter in seinen vor Staunen offen stehenden Mund hinein.
Der Mann schluckte ein paar Mal würgend, fühlte die Spitze ihres Schwertes bereits an seinem Gaumenzäpfen und starrte sie aus weit aufgerissenen Augen entsetzt an. Augenblicklich verlor sein Gesicht jegliche Farbe. Sein Bart zitterte wie das Laub einer Pappel und auf seiner Stirn bildeten sich Schweißperlen, die dem Glitzern seiner Schmucksteine ernsthafte Konkurrenz boten. Sebastian sah, wie sich auf einem mal seine Hosenbeine vom Schritt her dunkel verfärbten.
»Hört gut zu, fettes Schwein von Oranutu«, vernahm Sebastian die gefährlich leise und hasserfüllte Stimme seiner Frau, die erstaunlich ruhig klang, »geht mit euren Banditen dort drüben in das Land zurück, aus dem ihr euch her geschlichen habt. Ihr seid hier in Falméra nicht länger willkommen! Und vergesst nicht die einfältigen, plattnasigen Ve-ne-tries, welche sich eure Töchter nennen und das Land der Ival mit der Dummheit und Hässlichkeit aus ihren Schößen verpesten!«
Blitzschnell zog Antarona das Schwert aus dem bebenden Mund des Oranuti zurück und ritzte dabei absichtlich seinen Mundwinkel, aus dem sofort Blut tropfte. Der Mann wagte jedoch nicht, sich zu rühren, denn die Spitze von Nantakis schwebte nun vor seinem Bauch und begann langsam das weiße Gewand einzudrücken, hinter dem sich sein Zwerchfell vergeblich bemühte, die Fettschicht einzuziehen.
Antarona piekste die Schwertspitze so weit in den Leib des Oranuti, dass es den Mann eigentlich hätte aufspießen müssen. Natürlich ahnte der Gepeinigte nichts von den Eigenschaften Nantakis.
»Bitte.., ihr.., dürft mich nicht falsch verstehen.., allergnädigste Tochter der Ival...«, stammelte er zitternd, »mein Name steht in den ältesten Geschlechtern der Oranuti verzeichnet.., ich kann euch reich belohnen.., ohne etwas von euch zu erbitten.., nur.., im Namen eurer ehrwürdigen Götter.., lasst ab von mir...«
»Nennt mir einen vernünftigen Grund, warum ich euch nicht aufschlitzen sollte, wie einen gemästeten Wafan«, zischte ihn Antarona mit blitzenden Augen an, »ihr kommt in unser Land, als Gast.., und spielt euch auf, als wäret ihr bereits die Herren über Tod und Leben aller Ival. Ihr haltet es nicht einmal für nötig, um die Gunst einer Frau zu bitten! Woher, ihr dicker, plattnäsiger Oranuti, nehmt ihr das Recht, jede Tochter des Volkes zu berühren, wie es euch beliebt.., wie ihr ein Pferd befühlt, das ihr zu kaufen gedenkt?«
Antarona war so sehr mit der Demütigung des überrumpelten Fremden beschäftigt, dass sie die Welt um sich herum völlig vergaß. Sebastian aber entging keineswegs, dass sich die anderen Oranuti inzwischen von ihren Plätzen erhoben hatten und interessiert herüber sahen. Doch sie wurden vom Lagerfeuer geblendet und konnten Antaronas Schwert offenbar nicht erkennen.
Sebastian behielt sie im Auge, bemerkte aber gleichzeitig, dass immer mehr Menschen um sie herum stehen blieben, um sich das Schauspiel nicht entgehen zu lassen, das sich auf dem Platz abspielte.
Für die Ival war es durchaus nicht alltäglich, dass eine ihrer Frauen einen wohlhabenden Oranuti in aller Öffentlichkeit mit einem Schwert in Schach hielt und bedrohte. Andererseits unternahm auch niemand etwas. Die Oranuti waren wohl geduldet, aber meist nicht sehr beliebt. Und dass eine Tochter des Volkes einen der arroganten Fremden erniedrigte, war für die Ival eher eine willkommene Volksbelustigung, als denn eine sträfliche Tat.
Sebastian hörte wie Antarona noch einmal das Wort ergriff, hielt sich aber auf Distanz, um die anderen Oranuti abwehren zu können, fall es ihnen einfallen sollte, in das Geschehen einzugreifen.
»Sonnenherz wird euch jetzt sagen, was ihr tut«, bestimmte sie, ohne ihr Schwert aus dem Bauch des Mannes zurück zu ziehen.
»Ihr nehmt eure niederträchtigen Vagabunden und eure schamlose Brut und verschwindet aus Falméra!« ordnete sie keck an. Sie unterstrich ihre Forderung, indem sie mit dem Schwert einen seitlichen Streich führte, der dem Mann einen sauberen Riss in sein Gewand schnitt. Der wich erschrocken einen Schritt zurück, was ihm aber nicht viel nützte, denn sofort setzte Antarona nach und vollführte zwei weitere, kaum wahrnehmbare Attacken.
Wie in Zeitlupe schälte sich ein sauber heraus getrenntes Viereck aus der Kleidung des Oranuti und klappte nach unten. Gleichzeitig rutschte ihm seine Hose, die er unter dem Gewand trug, zu Boden und gab seine Blöße frei. Nantakis hatte das Hosenband zusammen mit dem Stoff durchtrennt.
Aus der inzwischen sich stark vermehrten Zuschauermenge brandete ein riesiger Applaus auf, der von nicht enden wollendem, schadenfrohen Gelächter begleitet wurde. Einige Oranuti bogen sich förmlich vor Lachen und dicke Freudentränen kullerten ihnen aus den Augen. Sonnenherz wurde in diesem Augenblick wieder einmal mehr zur Volksheldin.
Bevor der Oranuti überhaupt begriff, was geschehen war, hielt ihm Antarona die Schwertspitze erneut an die Kehle.
»Lauft ihr mir noch einmal über den Weg, Oranuti, so seht euch vor!«, warnte sie ihn. »Das nächste Mal befreie ich euch nicht nur von euren Beinkleidern, sondern auch davon, was sich dahinter verbirgt!« Wieder erhob sich ein zustimmendes Gelächter und einige Ival begannen, den peinlich berührten Oranuti auszubuhen, der wie eine erstarrte Götzenfigur auf dem Pranger stand.
Mittlerweile war auch seinen Freunden aufgefallen, dass etwas nicht stimmte. Zuerst standen sie nur unschlüssig da, dann kamen sie langsam heran und bahnten sich einen Weg durch die Menge. Sebastian hatte keine Möglichkeit es zu verhindern, ohne einen der umstehenden Ival zu verletzen.
Sie brauchten nicht lange, um die Situation zu erfassen. Eine Ival Frau stand mit dem Schwert in der Hand vor einem Oranuti, dem eindeutig die Hose abgeschnitten worden war und dessen Ehre von einer nichtswürdigen Frau besudelt worden war.
Im gleichen Moment, da sich Sebastian mit gespieltem Zufall zwischen Antarona und die hinzu gekommenen Oranuti schob, begannen diese ein übertrieben lautes Hilferufen und Geheul, das nun den ganzen Platz erfüllte. Sofort hörte die Musik zu spielen auf und der Kreis der Umstehenden verdichtete sich noch mehr.
Die Oranuti griffen nicht etwa nach verborgenen Waffen, was Sebastian vermutet hatte, sondern veranstalteten ein Spektakel, bei dem es nur eine Frage der Zeit sein konnte, bis die ganze Stadt zusammengelaufen war. Sie schrieen, jammerten, beschimpften die teils belustigten, teils peinlich berührten Zuschauer, weil sie ihrem Oranuti Freund nicht geholfen hatten und bombardierten Antarona mit Worten, von denen Sebastian die Übersetzung erst gar nicht wissen wollte.
Sie erhoben ein solches Wehklagen, dass es sogar von den Fassaden der nicht gerade sehr hohen Häuser vielfach zurück geworfen wurde. Dann geschah, was Sebastian schon befürchtet hatte. Er hatte bislang noch keine Stadtwache, oder Ordnungshüter in Falméra gesehen, nahm aber stark an, dass es sie gab, denn es gab sie in jeder Stadt, egal in welcher Zeit und in welchem Land. Es gab sie auch in Falméra!
Mit klirrenden Schwertern und Schilden kündigten sie sich an, Wachsoldaten des Königs, die im Laufschritt hinter der schaulustigen Menge über den Platz gerannt kamen. Sebastian konnte nur ihre Helme erkennen, die sie tief in ihre düster blickenden Gesichter gezogen hatten.
Noch bevor sie die aufgelaufene Menschenmenge erreicht hatten, packte Sebastian Antaronas freien Arm und dirigierte mit seiner Schwerthand die Menge an der gegenüberliegenden Seite auseinander. Nur widerwillig ließ Antarona von dem dicken Oranuti ab und folgte Basti in die von ängstlichen Neugierigen gebildete Gasse, in die Richtung, aus der sie gekommen waren.
Einige Hände klopften ihnen noch zustimmend auf die Schultern und wohlwollende Hurra- Rufe begleiteten sie. Sebastian huschte in den Hauseingang, in den er Antaronas Bündel geworfen hatte, schnappte sich das Fellknäuel und sah gerade noch aus den Augenwinkeln, wie sich des Königs Soldaten durch die Menge zu schieben versuchten.
Doch sie kamen nicht hindurch und Sebastian erfasste mit einem letzten Blick, dass die zusammen gelaufenen Ival sich verdichteten und den Soldaten entgegen drängten. Es war offensichtlich, dass sie passiv versuchten, Sonnenherz zu schützen und ihr die Flucht zu ermöglichen. Antarona und Sebastian gewannen wertvolle Zeit und nutzten sie, um sich schleunigst aus dem Staub zu machen.
Die Augenblicke, die ihnen ihre heimlichen Bewunderer verschafften, genügten, um sich zu orientieren und sich zunächst aus den Lichtkegeln in die Schatten zurück zu ziehen. Dennoch mussten sie sich beeilen, denn ewig würde der Mob die Wächter nicht aufhalten können.
Mit den Schwertern in der Hand hetzten sie die Straße hinab, zurück zu dem Platz mit dem großen Feuer. Verwunderte Nachtschwärmer blickten ihnen neugierig nach. Anscheinend war es nicht üblich, mit der Waffe in der Hand durch Falméra zu stürmen, solange nicht Torbuks Armee vor den Toren auftauchte.
Sebastian übernahm nun ganz intuitiv die Führung. Er zog Antarona in den Kreis der Menschenmenge, die sich um das Feuer geschart hatte und dem Tanz von Talris beiwohnte. Sie verbargen ihre Schwerter wieder unter der Kleidung und wurden zwischen den feiernden Ival praktisch unsichtbar. Jeder, der aus dem Dunkel der Straße auf den Platz kam und an das Feuer heran trat, wurde von den Flammen geblendet, so dass sie relativ sicher sein konnten, nicht sofort wieder erkannt zu werden.
Es dauerte nicht lange, da tauchten die ersten beiden Wächter auf. Sie stürzten auf den Platz, als hätten sie ihr Opfer bereits am Wickel, standen dann aber ratlos um sich schauend herum und wurden von den ausgelassenen Ival nur müde lächelnd registriert. Zwei weitere Männer kamen aus einer anderen Richtung auf den Platz gelaufen. Sie trafen auf die beiden ersten, berieten sich einen Augenblick und begannen, systematisch den ganzen Platz abzusuchen.
Sie nahmen sich jeden Stand vor, spähten hinter jedes Fass, in jeden großen Korb, in und unter jeden Wagen. Irgendwann, das war Sebastian klar, würden sie sich auch für die Zuschauer des Talris Tanzes interessieren.
Sebastian rätselte, wie sie ihn und Antarona finden wollten, ohne ihr Aussehen zu kennen. Anhand der Kleidung wohl kaum, denn sie trugen, was beinahe jeder im Volk auf dem Leib hatte. Doch die Soldaten schienen intelligenter zu sein, als Sebastian sie eingeschätzt hatte...
Zwei weitere Wachen betraten den Platz, einen der Oranuti in ihrer Mitte, der wild gestikulierend auf die beiden Hüter der königlichen Ordnung einredete. Die hörten ihm aber kaum zu, blickten gelangweilt auf das festliche Treiben und waren wohl eher mit dem innigen Wunsch beschäftigt, sich selbst unter das feiernde Volk zu mischen.
Sebastian stubste Antarona an und wies unauffällig nickend zur neuen Gefahr hinüber. Es war nur eine Frage von wenigen Minuten, bis der aufgebrachte Oranuti sie beide wieder erkennen würde. Vermutlich waren die Wachen gar nicht wirklich erpicht darauf, die beiden Attentäter zu erwischen, doch sie waren wohl dazu angehalten, jeden Übergriff auf die ehrenwerten Gäste des Landes zu unterbinden und zu ahnden.
Bald kamen die Drei dem Feuer sehr nahe. Die Wachen eher desinteressiert, machte sich der aufgeregte Oranuti die Mühe, sich durch die Menge zu quetschen und beinahe jedem ins Gesicht zu sehen. Der wollte es aber ganz genau wissen!
Antarona und Sebastian lösten sich ohne Hast aus der Menge und schlenderten scheinbar ungezwungen auf die Gasse zu, die im schrägen Winkel zur Freitreppe verlief. Das Bündel schleifte Antarona hinter sich her, um damit nicht aufzufallen. Fast hatten sie das Ende des Platzes erreicht, als sie eine aufgeregt schreiende Stimme vernahmen, die sich beinahe überschlug.
»Dort sind sie.., haltet sie, die Ve-ne-tries und ihr Komplize, ergreift sie.., haltet sie..!« Mit Ausnahme der Soldaten, die sofort aus allen Richtungen zusammengelaufen kamen, reagierte kaum jemand auf die Aufforderung des Oranuti.
Sebastian aber sah für sie nur noch die Flucht nach vorn. Er schnappte sich Antaronas Arm, nahm ihr das Bündel ab, dass er sich über die Schulter warf und zog seine Frau mit sich. Sie stürmten sie Gasse hinauf, die sich in knapp hundert Metern nach links und rechts verzweigte. Geradezu wurde die Straße von einer mannshohen Mauer begrenzt
Die Flüchtenden saßen so gut wie in der Falle, denn von beiden Seiten der Kreuzung kamen Wachsoldaten angelaufen, nur noch hundert Meter entfernt. Hinter sich hörten sie das Klappern der Rüstung ihrer Verfolger.
Kurz entschlossen warf Sebastian das Bündel über die Mauer, zeigte mit dem Kopf hinauf und hielt für Antarona die Hände zusammen. Sie begriff sofort, stellte ihren Fuß in die Räuberleiter und ließ sich mit Schwung von Basti hoch stoßen. Dann stemmte sie sich in einer bewundernswerten Akrobatik mit den Füßen auf der Mauer ab und reichte Sebastian die Hand. Er nahm Anlauf, sprang die Mauer hinauf und zog sich mit ihrer Hilfe ganz hinauf.
Auf der schmalen Mauerkrone verlor Sebastian den Halt und plumpste wie ein nasser Sack auf der anderen Seite zu Boden. Gleichzeitig landete Antarona neben ihm, etwas eleganter, auf den Füßen. Jenseits der weißen Wand erhoben sich aufgeregte Stimmen und das Klappern von Rüstungen.
Sebastian wartete nicht, bis der erste Soldat über die Brüstung gesegelt kam. Er schnappte sich wieder das Handgelenk seiner Gefährtin und hetzte weiter. Es ging durch einen großzügig angelegten Park mit einem länglichen See, über den eine kleine Brücke führte. Hinter mächtigen Laubbäumen kam eine dreistöckige Villa in der Größe eines Palastes in Sicht. Eine riesige Terrasse unter einem Säulenbalkon schien um das ganze Haus herum zu führen. Jeden Baum und jeden Strauch als Deckung nutzend, huschten sie quer über das Grundstück.
Eilig kreuzten sie einen Zufahrtsweg zum Haus, der in gerader Linie nach rechts zu einem großen Portal führte, das von kleinen Türmchen eingefasst war. Gegen dieses Tor wurde nun von außen mit viel Geschrei eingehämmert. Die Schwertschläge gegen das Holz dröhnten wie Paukenschläge durch die Nacht. Kurz darauf traten mehrere Männer mit Fackeln aus dem Haus, gefolgt von einem in elegante, weiße Tücher gekleideten bärtigen Mann, der rasche Anweisungen gab.
Sebastian sah Antarona fragend an. Der Mann in Weiß glich in Sachen Kleidung und Barttracht so sehr den Oranuti auf dem Platz, dass er sich wunderte.
»Einer dieser Oranuti, der sich das Wohlwollen des Königs erschlichen hat«, raunte Antarona mit abgrundtiefem Hass in der Stimme, »Lebt in einem feinen Haus, dass er einem Ival genommen hat und lässt Männer des Volkes für sich dienen.«
Drüben, zwischen den gemauerten Türmchen, schwangen die großen Flügel des mächtigen Tores auf und die Soldaten drängten herein. Der Hausherr trat ihnen in den Weg und die Männer des Königs verbeugten sich ehrerbietig und schienen ihm dann zu berichten.
»Es ist eine Schande«, zischte Antarona wütend, »eine Ival, eine ihres eigenen Volkes jagen sie durch die ganze Stadt, nur weil sie ihre Ehre verteidigt, jenen aber, die das Volk betrügen und das Land berauben, huldigen sie, als seien sie die Herrscher Volossodas! Wie viele Ival habt ihr in Zumweyer oder Fallwasser gesehen, die so wohlhabend sind, nun, Ba - shtie, wie viele? Hedaron, mein Vater, ist einer der reichsten Ival an Haus und Gut. Ihr kennt das Haus des Hedaron, Ba - shtie... Nun seht das Haus eines Oranuti in der Stadt der Ival!«
Sebastian bekam keine Gelegenheit, ihr zu antworten. In diesem Moment schwärmten die Bediensteten des Oranuti zusammen mit den Soldaten Bentals aus und begannen, jeden Winkel des Parks mit Fackeln auszuleuchten. Er berührte leicht Antaronas Arm und wies auf eine kleine Baumgruppe, die leidlich Deckung bot und von den Suchenden als erstes kontrolliert wurde.
Wenn Bastis Rechnung aufging, und sie die Bäume durchsucht hatten, würden sie sich einem anderen Teil des Parks zuwenden und diese winzige Oase möglicherweise einen Moment unbeobachtet lassen. Sie warteten, bis der letzte Fackelträger abgezogen war. Die Suche schien sich zunächst auf die Terrassenanlage des Hauses zu konzentrieren.
Der kleine See lag etwa dreißig bis vierzig Meter von ihrem Versteck entfernt, in einer kleinen Senke, sowie ungefähr fünfzig Meter von den Terrassen, auf denen intensiv gesucht wurde. Sebastian hob einen faustgroßen Stein auf und schätzte, ob er ihn so weit werfen konnte. Er wog den Stein ein paar Mal in der Hand, dann holte er weit aus.
Mit einem hässlichen Geräusch krachte das Geschoss gegen das Geländer der kleinen Zierbrücke und viel dann laut platschend in den See. Augenblicklich erstarrten die Gestalten auf der Veranda.
»Am Teich.., sie sind am Teich!« rief jemand alarmierend und sofort rannten alle in diese Richtung. Ein Augenzwinkern später war der kleine See hell erleuchtet und Sebastian zog Antarona rasch hinter sich her, in das schattige Wäldchen hinüber, wo sie sich in den Schatten der Bäume kauerten.
Zur gegenüber liegenden Grundstücksmauer war es nun nicht mehr weit, doch fiel die Mauer auf dieser Seite deutlich höher aus. Allein mit einer Räuberleiter war diese Wand nicht zu überwinden. Da zeigte Antarona auf die eckigen Pfeiler, die im Abstand von zehn bis fünfzehn Metern die Wandflucht durchbrachen, um dem Gemäuer Stabilität zu geben.
Das war ihre einzige Möglichkeit und Sebastian betete, dass die Pfeiler Risse, oder Fugen besaßen, die den Fingern Halt geben konnten. Kurz entschlossen sprinteten sie los, rannten geduckt über den offenen Rasen und warfen sich gegen die im Schatten liegende Mauer. Doch durch die Hatz waren sie unvorsichtig geworden und hatten nicht mehr an ihre Waffen gedacht.
Mit einem nicht zu überhörenden Scheppern schlugen ihre Schwerter gegen den Stein. Im gleichen Augenblick mussten sie erkennen, dass offenbar nicht alle Diener und Wächter sich hatten an den See locken lassen. Wie aus dem Boden gewachsen, stand plötzlich ein Soldat vor Sebastian und hielt ihm sein Schwert an die Brust. Die letzten Meter musste er schnell gelaufen sein, denn er war ziemlich außer Atem und musste sich erst mit der freien Hand das Visier seines Helms zurechtrücken.
Unschlüssig blickte er zunächst auf Sebastian, starrte dann aber Antarona an, die mit ihrem aufgerissenen Kleid mehr körperliche Reize von sich preis gab, als die Augen des Wächters verkraften konnten. Langsam ließ er seine Waffe sinken, was Sebastian dazu ermutigte, seinerseits Hand an den Griff seines Schwerts zu legen. Sofort fuhr die Hand des Soldaten wieder hoch und die Spitze seines Schwertes berührte Sebastians Brust.
Antarona ihrerseits wagte nicht, nach Nantakis zu greifen. Sie wollte den Mann nicht provozieren oder dazu veranlassen, aus Panik und Angst doch noch zuzustoßen. Sie griff nach einer List und setzte alles auf eine Karte.
»Seit wann verraten Ival ihre eigenen Brüder und Schwestern?« sagte sie mit sanfter, verführerischer Stimme, »Verratet uns und ihr begeht Verrat an unserem ganzen Volk!« Ihre Mahnung ließ den Soldaten zweifeln. Basti spürte förmlich, wie es in seinem Kopf zu arbeiten begann. Antarona verpasste ihm dann den entscheidenden Hieb:
»Habt ihr eine Schwester, die ihr liebt, oder eine Frau, oder eine Tochter?« Sie beobachtete den Mann aus wachsamen Augen und versuchte fieberhaft dessen Gesinnung zu ergründen, bevor sie fort fuhr.
»Was würdet ihr tun, wenn eure Frau, oder eure Tochter von einem widerlichen, fetten Oranuti gezwungen würde, ihm ihren Schoß zu öffnen.., was würdet ihr tun, Krieger und Beschützer des Volkes?« Sie ließ zwar ihre Worte wirken, ihn aber erst gar nicht antworten und setzte sofort nach:
»Diese Oranuti wollten Sonnenherz, Schwester von Tark, dem Wächter des Tores zum Reich der Toten, ohne ihren Willen nehmen...«, log sie mit der Unschuldsmiene eines Engels, »...Sonnenherz aber wehrte sich, wie es einer Ival zukommt. Wollt ihr sie dafür bestrafen? Und wollt ihr die Oranuti ermutigen, irgendwann eure Frau zu nehmen?«
Langsam senkte sich die Schwertspitze vor Sebastians Schlüsselbein. Der verzweifelte Blick, mit dem der Wächter sie beide ansah, tat Sebastian fast schon leid.
Inzwischen wurden Stimmen laut, die sich schnell näherten. Anscheinend hatten die Oranuti und ihre Diener bemerkt, dass sie genarrt wurden. Wahrscheinlich hatten sie sogar das Klirren von Antaronas und Sebastians Schwertern gehört. Ihr unaufhaltsames Näherkommen drängte zu einer Entscheidung.
Unvermittelt hob der Soldat sein Schwert und Sebastian sah schon seinen Kopf gespalten. Doch der Mann rammte die Waffe mit der Spitze in den Boden. Dann trat er ohne ein Wort mit zwei schnellen Schritten an die Mauer, verkeilte seinen rechten Fuß in die Ecke zwischen Pfeiler und Wand, so dass sein Oberbein einen sicheren Tritt bildete und beugte seine Schulter als weitere Stufe an das steinerne Hindernis. Einladend nickte er Antarona zu.
Das Krähenmädchen ließ sich nicht zwei Mal auffordern. Leichtfüßig stieg sie über Knie und Schulter des Wächters zur Mauerkrone, während Sebastian das Bündel über die Mauer warf. Dann folgte er Antarona, die ihm von oben die Hand reichte.
Als Basti oben auf der Mauer saß, sah er bereits die ersten Fackeln durch die Bäume des Parks leuchten. Soweit die Schwerkraft zu ließ, beugte er sich noch einmal zu dem Soldaten hinunter, sah im freundlich in die Augen und sagte leise A-na-ti Ma-té, was auf Ival soviel hieß, wie Freund, sei bedankt!
Ihr Helfer in der Not nickte nur, riss sein Schwert aus dem Boden und ging den heran Kommenden entgegen.
Antarona und Sebastian sprangen von der Mauer und landeten auf einer unbeleuchteten Querstraße, die aber zu beiden Seiten auf einen Platz führten, was ihnen die Feuer verrieten, die ihnen schemenhaft entgegen flackerten. Gegenüber der Mauer standen zweistöckige Häuser, deren Wände in ein Trägerwerk von Holzbalken gemauert waren, ähnlich einem Fachwerk, nur in wesentlich größeren Feldern. Zwischen den Häusern führten schmale Gänge in die Dunkelheit.
Nicht ganz zwei Minuten nach ihrer Flucht vom Grundstück des Oranuti tauchten zu beiden Seiten der Straße wiederum Soldaten auf und Sebastian fragte sich, was einen so großen Aufwand rechtfertigte, nur um einen eher harmlosen Übergriff auf einen Oranuti zu bestrafen, der die Situation mit seiner Überheblichkeit und Missachtung des einheimischen Volkes selbst verursacht hatte. Wie mächtig waren die angeblichen Gäste aus Oranutu wirklich?
Die Zeit, darüber zu sinnieren, blieb ihnen nicht. In Anbetracht der erneuten Bedrängnis liefen sie in die Ungewissheit des nächstgelegenen, finsteren Durchgangs. Am Ende gelangten sie in so etwas, wie Gärten, die hinter den Häusern angelegt waren. Hinter diesen wiederum befand sich ein breites Bachbett, das in vielen Windungen von der Burg herab kam und sich wahrscheinlich irgendwo in die Bucht ergoss.
Das wenige Wasser schoss mit ziemlicher Geschwindigkeit vom Berg herab und roch bestialisch. Vermutlich leitete jedes Haus seine Fäkalien in diesen Bach, ein funktionierendes, aber sehr fragwürdiges Abwassersystem, das in der Betriebsamkeit des Tages wohl zu einem noch übler stinkenden Strom anwuchs.
Wenn sie dem Suchtrupp entgehen wollten, so mussten sie unweigerlich durch diese Kloake hindurch, denn es war kaum zu erwarten, dass ihnen der freundliche Wächter unter den Augen seiner Kameraden noch einmal zur Flucht verhelfen konnte.
Kurz entschlossen band sich Antarona ihr Kleid hoch, nahm ihr Bündel auf und stieg die steile, schlammige Uferböschung hinab, um dann bis zu den Knien in der abscheulichen Brühe zu stehen. Sebastian zog rasch seine Hose aus und folgte ihr. Das Wasser hatte kleine und große Steine blank gewaschen, auf die sich trotz der Strömung eine glitschige Schicht gelegt hatte.
In einem verzweifelten Balanceakt versuchten sie das andere Ufer zu erreichen, ohne sich die Knochen zu brechen, oder in dem Wasser auszurutschen, dessen Gestank ihnen schier den Atem nahm. Als sie die Böschung gegenüber hinaufkletterten, stanken sie trotzdem einen Kilometer gegen den Wind, denn das schnell fließende Wasser war an ihren Beinen hoch gespritzt und jedes Körperteil hatte etwas abbekommen.
Erneut standen sie in Gärten hinter Hausfassaden und duckten sich rasch in einige Büsche, als sie drüben die Fackeln aufleuchten sahen. Die Soldaten blieben an der Uferböschung stehen und wiesen zur anderen Seite herüber. Sebastian sah, wie die Oranuti, die sie begleiteten, angesichts des Abwassergrabens abwinkten und wieder zwischen den Häusern verschwanden. Gleichgültig folgten ihnen die Soldaten, womöglich froh darüber, das Ivalpärchen nicht länger verfolgen zu müssen.
Ohne Zeit zu verlieren huschten Antarona und Sebastian zwischen den Häusern hindurch, bevor den Oranuti vielleicht noch einfiel, über eine Brücke zu laufen, um sie auf dieser Seite doch noch abzufangen. Auf der Straße, auf die sie gelangten, blieb alles ruhig. Keine Verfolger mehr, die überraschend um eine Ecke herum gehetzt kamen.
Die Gasse wurde lediglich durch ein paar Laternen in den Hauseingängen, sowie von einigen beleuchteten Fenstern erhellt. Sie führte bergauf und irgendwo vor ihnen flackerte der Schein eines Feuers auf. Ein weiterer Platz, auf dem die Ival ausgelassen feierten.
Sie erreichten den nächsten Platz und Sebastian stellte fest, dass nur noch ein paar jüngere Ival um das Lagerfeuer tanzten. Jene, die Essen und Getränke angeboten hatten, waren schon dabei, ihre Stände abzubauen. Schätzungsweise war es bereits nach Mitternacht und Basti machte sich Gedanken darüber, ob und wo sie noch ein wenig schlafen konnten.
Inzwischen wurden die Gassen steiler und die Burg begann sich noch massiger über ihnen zu erheben. Beim Überqueren von drei weiteren Plätzen sah Sebastian immer wieder rechts breite Stufen auftauchen, was ihm sagte, dass sie sich parallel zur Freitreppe bewegten. Bald waren sämtliche Lichter in den Häusern und Eingängen erloschen und das spärliche Leuchten der Gestirne ließ die Gassen und Straßen abweisend, kalt und unheimlich erscheinen.
Zwischendurch hielt Antarona an einem Haus, das sich äußerlich nicht sehr von den anderen unterschied. Es war zweigeschossig, hatte einen dieser typischen großen und offenen Verkaufsräume, die in der Nacht mit Tüchern verhängt waren und fiel auch sonst nicht weiter auf.
»Könnt ihr das riechen, Ba - shtie«, flüsterte Antarona und schnupperte demonstrativ in die Nachtluft, »sagt.., riecht ihr das?« Sebastian sog ebenfalls bewusst die Luft ein.
»Ja.., ich rieche das«, bestätigte er und fuhr mit einem sarkastischen Unterton in seiner Stimme fort, »vielleicht sollten wir uns weniger durch die Hinterlassenschaften deines Volkes bewegen.., hm, was meinst du?« Antarona sah ihn tadelnd an.
»Das meinte ich nicht, Ba - shtie.., so riecht noch einmal.., erkennt ihr nicht den Geruch der Kräuter, welche in der Sonne des Tages duften?« Sebastian aber rümpfte nur seine Nase.
»Also, ich rieche nur meine Beine und die stinken, mein Engelchen, die duften nicht!« gab er unmissverständlich zurück.
Aber Antarona hörte schon gar nicht mehr zu. Bevor Sebastian sie aufhalten konnte, war sie im finsteren Durchgang zwischen den beiden Häusern verschwunden. Fluchend folgte er ihr. Wie unvernünftig! Irgendwann würden sie gewiss noch in einem Kerker enden, bevor sie den König erreicht hatten!
Antarona war mittlerweile auf einen Hof mit festgetretener Erde gelangt. Sebastian sah sich um. Überall, an der Hausfassade, an einem alten Leiterwagen, an einem Baum standen große Zuber und unzählige Töpfe aller Größen herum. Weiter oben an der Fassade waren Stricke gespannt, an denen getrocknete Pflanzen mit den Blättern nach unten aufgeknüpft waren. Einige Holzkisten standen übereinander gestapelt im rückwärtigen Eingang des Hauses.
Hinter dem Hof lag eine ausgedehnte Wiese, die von einem Graben durchzogen war, der in ihrer Mitte begann und weiter hinten in eine Böschung mündete. Wieder einer dieser Wassergräben.., Sebastian konnte es deutlich riechen. Aber er roch noch etwas anderes!
Ein leichter Luftzug brachte den Duft von Lavendel, Thymian und Patschuli an seine Nase. Die Spender des angenehmen Dufts waren wohl die Kräuter, die an der Hauswand hingen.
»Es ist das Haus des Cheni-pàhávo, Ba - shtie, des Seifenkochers!« raunte ihm seine Frau leise zu. Sebastian sah sie zweifelnd durch die Dunkelheit hindurch an.
»Ja, willst du jetzt etwa hier ein Bad nehmen?« fragte er verwirrt. So absurd der Gedanke auch war, Sebastian erschütterte gar nichts mehr. Antarona hatte mehr als einmal bewiesen, dass sie zu verrückten Einfällen fähig war. Einer davon hatte sie in die Situation gebracht, in der sie gerade steckten.
»Seid nicht kindisch, Ba - shtie«, flüsterte sie ihm zu, »los.., helft mir mal.., nehmt das.., und das da.., und macht ja keinen Lärm, im Namen der Götter!« Damit drückte sie ihm die Henkel zweier großer Blechtöpfe in die Hand und verschwand selbst im Hintereingang des Hauses. Geräuschlos zog sie ihr Messer, öffnete eine der Kisten, an denen sie zuvor gerochen hatte, und entnahm ihr zwei handgroße Stücken Seife. Danach verschloss sie den Deckel wieder ordentlich.
»Das darf doch wohl nicht wahr sein«, flüsterte Sebastian kopfschüttelnd vor sich hin, »...auch noch diebisch, wie eine Elster! Na, das kann ja noch heiter werden.., wir landen hier ganz sicher noch am Galgen!«
Antarona kramte unterdessen ihr Ringgeld hervor, zählte drei Ringe vom Band ab und legte sie auf die Holzkiste, aus der sie sich eben noch bedient hatte. Dann griff sie sich ebenfalls zwei große Töpfe und flüsterte Sebastian zu:
»Los jetzt.., und gebt acht, dass euer Schwert nicht an die Töpfe...« Aber der Hinweis kam zu spät. Mit einem deutlichen Klong schwang Sebastians Schwert gegen das Diebesgut. Erschrocken hielt er in der Bewegung inne und wagte kaum zu atmen. Jeden Moment musste ein Fensterflügel auffliegen und ein Geschädigter nach den Wachen rufen. Doch es blieb ruhig.
»Nun macht schon.., lasst uns endlich von hier verschwinden!« drängte Antarona und stieß ihm auffordernd einen Topf in den Rücken. Lautlos schlichen sie durch den Gang zurück auf die Gasse und folgten ihr zügig bergauf. Wieder ein kleiner Platz, auf dem nur noch die Glut eines Feuers vor sich hin glomm, dann stieg die nächste Gasse noch steiler an, so dass Sebastian allmählich seine Lunge spürte. Die letzte Straße hatte ein solches Gefälle, dass einige breitere Häuser auf der Frontseite zwei separate Eingänge für beide Stockwerke besaßen.
Schließlich standen sie auf einer breiten Querstraße. Über ihnen ragten nur noch mächtige, unüberwindliche Mauern auf, so hoch, dass sie die dahinter liegenden Zinnen und Türme der Burg nicht mehr sehen konnten.
Gewaltige Pfeiler, selbst so groß wie Türme, stützten die Mauerfluchten, die sich scheinbar unendlich zu beiden Seiten erstreckten. Nie zuvor hatte Sebastian solche Festungs- und Wehranlagen gesehen. Wahre Titanen mussten diese gigantischen Mauern errichtet haben!
Antarona führte wieder und schien genau zu wissen, wohin sie gehen mussten. Sie folgten der himmelhohen Wand von Pfeiler zu Pfeiler, immer wieder im Schatten der Stützsockel abwartend, ob sich irgendwo etwas rührte. Doch außer dem Gesang der Zikaden, der beinahe beruhigend wirkte, war nichts zu hören.
So arbeiteten sie sich bis zu einem großen Platz vor, der wie ein Park mit Wegen, Teichen, Blumenbeeten und Sträuchern, sowie weiten Grasflächen angelegt war. Ein stattliches, reich verziertes Geländer rahmte die letzten Stufen der Freitreppe, die von unten herauf stieg.
Bevor der Besucher, der aus der Stadt kam, die Freitreppe verließ und auf den Platz gelangte, musste er durch ein hohes, einzeln stehendes Portal treten, das vermutlich als Relikt vergangener Wehranlagen stehen geblieben war.
Ein breiter, gut gepflegter Kiesweg führte vom Portal zum eigentlichen Burgtor, dass so groß war, als wäre es einmal für eine wesentlich größere Spezies, als den Menschen erbaut worden. Links und rechts des in einen Spitzbogen eingefassten Tores wuchteten zwei Pfeiler auf, die am Sockel in runde Türme fußten welche wiederum drei, nach allen freien Seiten hin ausgerichtete Wehrbalkone besaßen.
Etwas höher als ebenerdig in die Türme eingelassen, waren einige handbreite Schießscharten und zwei Wachräume, vor denen müde Soldaten herum lungerten, die ein kleines Feuer unterhielten. Die mächtigen, Eisen bewehrten, hölzernen Torflügel standen weit offen. Dahinter wurde ein starkes Eisengitter sichtbar, das bis auf halbe Torhöhe herab gelassen war.
Über dem Tor, so hoch, dass selbst Leitern ihn nicht erreichen konnten, befand sich ein heraus gemauerter Wehrgang, der die beiden Türme miteinander verband. Darüber wiederum war ein riesiges Wappen, vermutlich aus Sandstein, in die Mauer eingelassen. Sebastian kannte es irgendwo her, wusste aber nicht zu sagen, wo er es schon einmal gesehen hatte.
Er schätzte die Höhe des steinernen Walls, der das Tor umrahmte und kam auf dreißig bis fünfunddreißig, vielleicht vierzig Meter. Oben thronten breite Zinnen, die von schmalen Schießscharten unterbrochen waren. Keine Armee, die nicht gerade über Flugzeuge verfügte, konnte nach Sebastians Ansicht dieses Bollwerk einnehmen.
Gleichzeitig keimte in ihm die Frage auf, wie er mit Antarona hinein gelangen sollte, wollten sie eine offizielle Anmeldung am Tor umgehen. Der einzig sichtbare Weg führte an den Wachen vorbei, die zwar ziemlich müde wirkten, aber noch wach genug, um sie aufzuhalten.
Sie huschten in den Schatten des letzten Wandpfeilers vor dem Tor zurück, wo Antarona ihr Bündel und die Töpfe ablegte. Anschließend zog sie ihr Kleid aus und stand nur noch mit ihrem Hüfschurz bekleidet da. Sebastians Blick stellte stumme Fragen.
»Los, Ba - shtie.., zieht euer Hemd aus.., es ist ebenfalls aus hellem Stoff, wie das Kleid und leuchtet weithin in der schlafenden Sonne! So könnten wir auch gleich eine Fackel vor uns her tragen!«
Sebastian nickte nur und zog sich das Hemd über den Kopf. In diesem Augenblick fiel ihm ein, wo er das Wappen über dem Tor schon einmal gesehen hatte. Er sah es ständig! Es war nämlich dasselbe Wappen, das ihm Antarona auf sein Hemd getickt hatte: Das von zwei Löwen gehaltene, dreigeteilte Schild mit der Krone und den vier Sternen!
Bedächtig nahm Antarona je einen der geklauten Töpfe in jede Hand und forderte Sebastian mit einem deutlichen Nicken auf, dasselbe zu tun. Was für eine Posse sie nun schon wieder vor hatte, konnte er nur erraten. Wahrscheinlich wollte sie die Wachen in die Töpfe stoßen und ersäufen, dachte er sarkastisch.
Im gleichen Moment rannte sie los, über den freien Platz vor dem Tor, über den Weg, durch die Beete mit Blumen, über den Rasen, bis zu den sorgfältig geschnittenen Sträuchern, hinter denen sie sich sofort nieder hockte. Keuchend kam Sebastian neben ihr an und hätte beinahe einen Topf gegen den anderen geschlagen.
Antarona blieb eine Weile regungslos sitzen und beobachtete die wachen vor dem Tor. Keiner von ihnen hatte etwas bemerkt.
Zufrieden nickte sie und stellte einen Topf mit der Öffnung nach unten zwischen zwei Büschen auf. Darauf legte sie drei flache Steine und stellte den nächsten Topf richtig herum darüber. Auf diesen wiederum stellte sie den dritten, nur mit den Henkeln auf den Rand des zweiten. Den vierten drapierte sie wieder richtig herum obenauf, so dass ein ziemlich labiles, wackeliges Gebilde entstand.
Zuletzt fischte sie zwei faustgroße Steine unter den Sträuchern hervor und gab sie Sebastian. Nachdem sie sich noch selbst bedient hatte, wartete sie einen günstigen Augenblick ab und huschte zurück in den Schatten der Burgmauer. Sebastian folgte ihr und begann allmählich zu begreifen, was sie vor hatte. Was für eine Frau, listig, wie eine Füchsin! Allein mit ihr konnte er wahrscheinlich eher eine Schlacht gegen Torbuk gewinnen, als mit hundert Windreitern zusammen!
Sorgfältig steckte Antarona ihre ausgezogenen Kleidungsstücke in das Fellbündel und band dieses noch einmal fest zu. Wie nach einer vollbrachten, schweren Arbeit setzte sie sich schließlich mit dem Rücken an den Pfeiler, als hätte sie eine Pause wohl verdient. Ab und zu spähte sie um die Ecke, um zu sehen, was die Wachsoldaten trieben. Sebastian riskierte ebenfalls einen Blick.
Die Wachen gammelten im Nichtstun herum, einer warf gelangweilt kleine Steinchen in die Glut ihres Feuers und ergötzte sich daran, wie jedes mal die Funken aufstoben und als kleine Leuchtpunkte in den Himmel stiegen. Das ging eine halbe Stunde lang so weiter. Eine halbe Stunde, die Sebastian wie eine ganze Nacht vorkam.
Sie warteten; auf was, dass konnte sich Sebastian noch nicht erklären. Antarona begann unter der Kälte der Nacht leicht zu zittern, krümmte sich zusammen und umfasste mit den Armen ihre Knie. Sebastian wollte sich zu ihr setzen und sie wärmen, doch ihr entschlossener Blick nagelte ihn dort fest, wo er saß.
Plötzlich kam Bewegung in die Soldaten. Stimmen wurden laut und das Klirren von Waffen drang an ihre Ohren. Antarona lugte kurz um die Ecke des Pfeilers und machte ein zufriedenes Gesicht.
»Die Abendwache zieht ab und die Morgenwache kommt«, flüsterte sie Sebastian ins Ohr, »jetzt ist eine gute Zeit, denn nun sind sie so viele und werden wirr durcheinander laufen, wie aufgescheuchte Wasel!«
Mit diesen Worten noch auf den Lippen schnellte sie hoch und hielt die Steine wurfbereit in den Händen. Sie nahm Maß, holte aus und warf.., daneben! Der Stein schlug einen halben Meter neben dem Topfturm auf den Boden.
Sebastian zögerte nicht lange, schätzte die Entfernung und warf seinerseits einen Stein... Volltreffer! Mit einem heftigen Knall schlug das Geschoss in den labilen Turm aus Töpfen und brachte das Kunstwerk zum Einsturz. Ein Poltern und Scheppern hallte durch die Nacht dass es klang, als würde eine ganze Armee angreifen.
Ähnlich dramatisch interpretierten wohl auch die Wachen den inszenierten Lärm. Mit wirr durcheinander rufenden Stimmen sprangen sie auf, oder fuhren im Stand herum, griffen nach ihren Waffen, behinderten sich gegenseitig und stürmten schließlich in einem ungeordneten Haufen auf den Platz. Sie konnten aber keinen Feind erkennen, blieben ratlos stehen und starrten angestrengt in die Nacht hinaus.
Auf diesen Augenblick hatte Antarona gewartet. Sie nahm ihr Bündel auf, rückte ihr Schwert auf dem Rücken zurecht und zischte Sebastian leise zu:
»Jetzt, Ba - shtie.., jetzt, oder nie!« Damit huschte sie los und Sebastian folgte ihr. Immer dicht an der Burgmauer entlang, machten sie erst Halt, als sie der tiefe Schatten im Winkel des weit aufstehenden Tores verbarg. Antarona wartete, beobachtete gespannt die Wachen, die sich wahrscheinlich untereinander fragende Blicke zuwarfen, sofern die Dunkelheit dies erlaubte.
»Los, Ba - shtie.., noch ein Mal, und bei den Göttern.., trefft!« raunte ihm seine Frau zu und drückte ihm einen weiteren Stein in die Hand. Sebastian spürte die Anspannung der Situation und wusste, dass er nicht zögern durfte, das es jetzt darauf ankam! Er zielte, holte weit aus und warf.
Das erneute Scheppern ließ erkennen, dass er mitten ins Schwarze getroffen hatte! Die Köpfe der Wachen ruckten herum und starrten allesamt in eine Richtung, als wären sie mit unsichtbaren Seilen miteinander verbunden gewesen, die ein Riese in diese Richtung zog.
Schnell schlichen Antarona und Sebastian wie schattenhafte Gespenster um den Torflügel herum und drückten sich sogleich wieder an die Wand des Tordurchgangs, die etwas zurück stand und von außen nicht einzusehen war. Ohne Halt zu machen huschten sie bis zur Öffnung des Innentores und warfen sich sofort wieder in die Deckung einer neuen Burgmauer.
Offensichtlich waren die Mauerringe der Burg wie Zwiebelschalen umeinander angeordnet. Ein fünfzehn Meter breiter, kahler Gang zwischen gigantisch hohen Wänden, ohne etwas, hinter dem sie sich hätten verstecken können. Sie mussten weiter, in Bewegung bleiben, ein Versteck finden! Es konnte nur Minuten dauern, bis die alte Wache durch diesen Gang geschritten kam, oder eine alarmierte Einheit nach draußen stürmte!
Dicht an die Mauer gedrängt, schlich sich ein halb nacktes Ivalpärchen in die Burg seines Königs, um das Volk zu retten. Paradox, dachte Sebastian und schrammte sich an der groben Wand den Arm auf. Nach ein paar Metern öffnete sich die Mauer und ein Tor führte hindurch, direkt auf eine ungeschützte, hölzerne Zugbrücke ohne Geländer, oder Seitenmauer.
Die Brücke überspannte einen tiefen, mit Wasser gefüllten, zehn Meter breiten Graben, dessen Wände glatt ausgemauert waren. Wer dort hinein fiel, konnte entweder ausdauernd schwimmen, oder war dazu verurteilt elendig zu ersaufen.
Das Tor wies zu beiden Seiten, innen wie außen am Boden eineinhalb Meter große, gemauerte Klötze auf, vermutlich als Abstandhalter, damit durchfahrende Wagen nicht mit ihren Aufbauten an der Torwand hängen blieben.
Hinter diese Klötze duckten sich die beiden Eindringlinge, als ein Trupp Soldaten im Laufschritt über die Zugbrücke polterten. Wahrscheinlich alarmierte Wachen, die Verstärkung gegen den angreifenden Feind, die Töpfe also, die bereits umgeworfen am Boden lagen!
Sebastian musste grinsen, hielt aber dennoch gespannt die Luft an. Wenn auch nur einer von denen sich umdrehte...
Dann wurde es still. Irgendwo im Graben quakte ein verirrter Frosch. Sebastian lugte hinter dem Mauerklotz hervor, reckte den Hals und erspähte eine Wache, die auf einem gegenüber liegenden Wehrgang gemächlich auf und ab marschierte. Zu Antarona hinüber deutete er mit einem erhobenen Finger. Sie sah ihrerseits über die Brücke und korrigierte mit zwei Fingern über der quer gehaltenen Hand.
Sebastian nickte ihr deutlich zu. Zwei Wachen also, oben auf dem Wehrgang! Sollten sie es riskieren? Er sah fragend hinüber. Antarona hielt die Hand flach. Noch warten! Die beiden Wachleute auf dem Wehrgang begegneten sich und begannen eine leise Unterhaltung. Antaronas Hand schoss vor. Jetzt...
Sebastian war schon auf dem Sprung, als ein rappelndes Geräusch aufklang. Gleichzeitig hielt seine Gefährtin die Hand wieder flach. Hufgetrappel und das Rattern eines Wagens wurden lauter. Was jetzt? Duckten sie sich hinter die andere Seite des Mauervorsprungs, so wurden sie von den Wachen auf dem Wehrgang entdeckt. Blieben sie aber wo sie waren, konnte sie ein ausgeschlafener Kutscher ebenfalls sehen!
Antarona machte ein unmissverständliches Zeichen, das Sebastian aufforderte, sich unsichtbar zu machen. Sie selbst verbarg sich hinter ihrem Fellbündel, das man im Dunkeln leicht für einen Felsen, oder einen Haufen Kehricht halten konnte. Na, die hatte gut reden! Unsichtbar machen.., wie denn?
Es war zu spät, darüber nachzudenken. Mit ohrenbetäubendem Lärm knatterte das Gespann, von zwei Pferden gezogen, um die Ecke. Sebastian kauerte sich so sehr an seinen Wandvorsprung, dass er keine Luft mehr bekam und das Gefühl hatte, zur Größe einer Maus geschrumpft zu sein, jederzeit darauf gefasst, einen Pferdehuf in den Rücken zu bekommen.
Der Pferdewagen fuhr langsamer, wie in einem bösen Traum an Sebastian vorüber, und hatte die Brücke noch nicht ganz erreicht, als er einen leichten Schlag auf seinem Rücken verspürte. Entdeckt.., fuhr es ihm durch den Kopf! Er sah auf und gewahrte gerade noch Antarona, die hinter dem Wagen her hetzte, ihr Bündel auf die Ladefläche warf und in einer Meisterleistung an Gewandtheit hinterher sprang.
Sie wirbelte herum, das Haar voller Stroh und streckte ihm eine Sekunde später ihre Hand entgegen. Basti setzte ihr nach, bekam ihr Handgelenk zu fassen, warf sein Schwert über die Kante und zog sich selbst hinauf. Sofort wühlten sie sich in den Berg aus Stroh, der wahrscheinlich für die königlichen Ställe bestimmt war.
Der aufgewirbelte Staub kitzelte sofort in Sebastians Nase und er musste sich zwingen, einen Anfall von Niesen zu unterdrücken. Auch das noch! Zumindest waren sie aber schon mal ungesehen über die Zugbrücke gelangt!
Etwas beruhigt, versuchte Sebastian, sein rationelles Handeln wieder zu gewinnen, und tastete unter der dicken Strohdecke blind nach seinem Schwert. Statt dessen bekam er zufällig Antaronas entblößten Po zu fassen.
»Ba - shtie...« flötete sie ihm zweideutig kichernd ins Ohr, »...glaubt ihr, dass es eine gute Zeit dafür ist?« Sebastian, inzwischen wieder gefasster, gab durch das Rattern des Wagens frech zurück:
»Ja, warum denn nicht..? Wer weiß, ob wir noch mal Gelegenheit dazu bekommen, nutzen wir die Zeit!« Doch anstelle ihres warmen, verführerischen Körpers spürte er etwas kaltes, Hartes an seiner Seite. Antarona hatte sein Schwert gefunden!
Eine Weile wurden sie auf der Wagenfläche noch durchgeschüttelt, dann hielt das Gespann. Sie hörten, wie der Kutscher ächzend von seinem Bock kletterte und leise mit jemandem sprach. Sie vernahmen das Schnauben der Pferde, das Rasseln des Geschirrs und spürten das nervöse Scharren der Pferde mit den Hufen.
Gleichzeitig hoben sie das Stroh etwas an, um über die Bordwand des Wagens sehen zu können. Ein paar Ställe, eine Remise und einige ärmlich aussehende, einfach gemauerte Hausfassaden waren die Kulisse, die sie begrüßte. Waren sie etwa gar nicht in die Burg gelangt, wie sie glaubten?
Um das festzustellen, mussten sie erst einmal von diesem Wagen herunter, und zwar so, dass nicht wieder halb Falméra hinter ihnen her war! Sie warteten, bis sich der Kutscher für einen Moment in den Stall zurückgezogen hatte. Sebastian kletterte über die Bordwand und verbarg sich unter dem Wagen. Die Pferde spürten seine Anwesenheit und begannen aufgeregt zu tänzeln. Mit einem Satz war Antarona vom Wagen gesprungen und landete hinter ihrem Bündel her neben Sebastian.
Leise kam sie neben den verschreckten Tieren hoch, strich ihnen über den Hals und flüsterte ihnen etwas ins Ohr. Sie beruhigten sich augenblicklich und rührten sich nicht mehr. Antarona und Sebastian nahmen ihre Waffen auf und schlichen zur Remise hinüber, vor der einige Wagen, Kutschen und Karren standen. Versteckt im Schatten der vielen Geräte, versuchten sie sich zu orientieren.
»Sind wir nun in der Burg, oder nicht?« fragte Basti leise und betrachtete argwöhnisch den fest gestampften Erdboden. Waren nicht Burghöfe mit Steinplatten ausgelegt?
»Antarona war niemals in der Burg Falméra, Ba - shtie«, gab sie kleinlaut zu, »nur einige Male in der Stadt.« Also waren sie genau so ahnungslos, wie vorher! Was sollten sie nun tun? Sie konnten abwarten, bis es hell wurde und sie entdeckt wurden, oder einfach weiter gehen. Nur.., in welche Richtung?
Sebastian sah sich um. Direkt rechts neben der Remise setzte sich eine Häuserzeile aus weißem Stein fort, hinter der sich eine hohe, von vorspringenden Pfeilern gestützte Mauer erhob. Dahinter ragte ein mächtiger Wehrturm auf. Links wurden einzeln stehende Häuser ebenfalls von Wehrtürmen überragt. Dazwischen führte eine zwanzig Meter breite, unbefestigte Straße weiter bergauf.
Hinter ihnen verloren sich die Geräte und Gegenstände im Schatten der Scheune. Neben Sattelzeug, Lanzenstangen, Äxten und ledernen Schwertscheiden schien es alles zu geben, was das Leben auf einer Burg verlangte. Es roch nach Leder, Holz, nach Stroh und den Fäkalien von allerlei Tieren.
Etwas tiefer in das Dunkel der Überdachung rutschend, angelte Sebastian eine mit Nieten verzierte und dunkel gebeizte Lederscheide von einer Stange und reichte sie Antarona.
»Hier.., probier mal, ob Nantakis da hinein passt«, forderte er sie auf und erklärte: »Wenn du Nantakis hier weiter offen durch die Gegend trägst, wird es nicht lange dauern, bis einer darauf kommt, dass dein Schwert keine gewöhnliche Waffe ist!«
Sie nickte zustimmend und schob vorsichtig die Klinge Nantakis in das Leder. Das bläulich matt glänzende Metall verschwand in der Scheide und nur die verzierte Parierstange, sowie der Griff ragten noch heraus.
»Passt perfekt«, stellte Basti zufrieden fest. Dann deutete er die sandige Straße hinauf, die hinter einer Biegung ins Ungewisse führte.
»Also ich denke, wir müssen da lang«, schlug er vor, ließ es aber wie eine bereits getroffene Entscheidung klingen. Ohne Antaronas Zustimmung abzuwarten, huschte Sebastian los. Die rechte Häuserfront lag im Schatten und er wollte sich so weit wie möglich in ihrem Schutz bewegen. Seine Frau folgte ihm mit den leichten, geübten Schritten der Waldläuferin.
Zwei flüchtigen Gespenstern gleich, schlichen sie geduckt von Haus zu Haus, verharrten kurz, lauschten und gingen weiter. Alles blieb still, nicht einmal ein Hund schlug an. Die meisten Häuser schienen bewohnt. Einige aber machten einen verwahrlosten, unbenutzten Eindruck.
Nach sieben oder acht Eingängen unterbrach eine Lücke die Flucht der zweistöckigen Hausfassaden. Um kurz zu verschnaufen, trat Sebastian in die breite Nische, die direkt unter dem Wehrturm lag. Auf der anderen Straßenseite, etwas hinter den Häusern, stand ebenfalls ein Wehrturm, dessen Eingang sie nun sehen konnten. Die Tür stand offen, was vermuten ließ, dass sich Wachen in ihm aufhielten.
Es war ratsam, schnell wieder aus dem Sichtbereich des Turmes zu verschwinden. Also huschten sie um die Ecke des nächsten Hauses, zurück auf die Straße. Nur zwei Häuser, dann gab es keine Deckung mehr. Plötzlich standen sie wie auf dem Präsentierteller eines Platzes.
Links, in der eingerückten, zwanzig Meter breiten Nische der gigantischen Mauer, stand ein kleines, einstöckiges Haus, dann gab es nur noch die hohe, deckungslose Mauer. Gegenüber erhoben sich nun zwei weitere Wehrtürme und dazwischen eine Reihe zweigeschossiger Häuser in einer einzigen Front.
Dort wurde plötzlich eine von fünf Türen aufgestoßen. Licht fiel auf die Straße und das Gelächter rauer Männerstimmen störte die Ruhe der Nacht. Männer in den Waffenröcken der Wachsoldaten strömten auf den Platz und versuchten sich sehr umständlich zu einer ordentlichen Doppelreihe zu formieren.
Geistesgegenwärtig packte Sebastian Antaronas Handgelenk und zog sie in den dunklen Einschnitt mit dem kleinen Häuschen. Die Hütte passte in die Mauernische, wie in einen Setzkasten und wurde halb von den großen Steinquadern umschlossen und optisch erdrückt. In die fünf Meter zwischen Hütte und Mauer hatte jemand versucht, einen Garten anzulegen.
In einer Ecke der eingerückten Mauer stand ein kleines Aborthäuschen. Sebastian zeigte darauf und flüsterte Antarona zu:
»Das kommt gerade recht.., ich verschwinde da mal kurz.« Ohne auf ihre Antwort zu warten, ging er auf das Toilettenhäuschen zu und prallte urplötzlich mit einer Gestalt zusammen, die im gleichen Augenblick mit einer Laterne um die andere Ecke der Hütte herum kam.
Die völlig überraschte Person fluchte laut, fiel rücklings hin und ließ die Laterne scheppernd zu Boden fallen. Sofort ergoss sich der Brennstoff über die Erde und die Beine des Gefallenen und fing Feuer. Gleichzeitig erhob sich von der anderen Straßenseite her ein schadenfrohes Gelächter, das sofort von einer barschen Befehlsstimme unterbunden wurde.
Noch bevor die gestürzte Gestalt aufschreien konnte, warf Sebastian mit beiden Händen Erde auf die brennenden Beine und erstickte die Flammen. Antarona sprang dazu und trat das restliche Feuer auf dem Boden aus.
»Was, bei den Göttern tut ihr in finsterer Nacht in meinem Garten?« entrüstete sich der gefallene Mann, indem er sich umständlich hoch rappelte.
»Habt ihr keinen anderen Platz gefunden, um euch heimlich euren leiblichen Gelüsten hinzugeben?« fragte er mit tadelnder Stimme.
»Wollen doch mal sehen, welch seltenen Fang wir da gemacht haben...« Damit hob er die Lampe auf, in der noch ein kleines, ängstliches Flämmchen zuckte, und hielt sie hoch. Sofort flackerte die Flamme wieder auf, beleuchtete den kleinen Hinterhof.
Als das Licht Sebastians Gesicht erhellte, begannen sich die staunenden Augen des Mannes vor Schreck zu weiten, er fing an, wie Espenlaub zu zittern und ließ abermals seine Laterne zu Boden fallen. Diesmal erlosch sie endgültig.
Sebastians Blick irrte umher. Er hatte sich noch nicht an die plötzliche Finsternis gewöhnt, als plötzlich eine kräftige, große Hand seinen Arm packte und ihn um die Hausecke zog, in den schwachen Lichtkegel eines Fensters. Zur gleichen Zeit ertönte von der anderen Straßenseite her, wo die Wachsoldaten Aufstellung genommen hatten, eine belustigte Stimme:
»Na.., alter Narr.., habt ihr den Dieb eurer kümmerlichen Rüben endlich geschnappt..?« Gelächter wollte aufkommen, doch eine andere, donnernde Stimme fuhr dazwischen:
»Ruhe da...«, schnauzte ein Wachoffizier, »und ihr, Büttel, seht zu, dass ihr wieder in euer Loch kommt, sonst lasse ich euch bis zum Tagwerk einsperren!« fügte er etwas lauter in ihre Richtung hinzu.
Der Angesprochene schubste Sebastian und Antarona ängstlich vor sich her zum Eingang der kleinen Hütte und durch die Tür hinein.
»Los.., kommt schon, ihr beiden, rein da.., der dort drüben ist imstande und sperrt uns tatsächlich ein«, warnte er sie und fuhr mit geheimnisvoller Stimme fort:
»Der macht da keinen Unterschied, ob er eine Dienstmagd in der Burg erwischt, oder einen Reiter der Garde, oder...« Er unterbrach sich und zog Sebastian in den flackernden Schein seines kleinen Ofens.
»...oder Areos, den Sohn unseres Herrn...«, beendete er schließlich den Satz mit staunenden Blicken. Dann wandelte sich seine Miene von Überraschung zu unterwürfiger Ergebenheit.
»Das kann nicht sein.., und doch...«, stotterte er plötzlich verlegen, permanent Sebastians Gesicht betrachtend, »...und doch.., ihr seid es Herr.., den Göttern sei gedankt.., zweifelsohne, Areos... Willkommen, Herr.., willkommen in der armseligen Hütte eures Büttels, Herr.., willkommen zurück auf der Burg...«
»Ja«, gab Sebastian knapp in der Sprache zurück, die er tagelang gelernt und geübt hatte, »ich freue mich auch, hier zu sein.., aber sagt, Büttel, wollt ihr mich nicht endlich wieder los lassen.., ihr brecht mir ja den Arm!«
»Ja, Herr.., aber es ist nur so...«, stammelte er unsicher, »...ich selbst kämpfte an eurer Seite und an der Seite Arraks in der letzten großen Schlacht. Mit eigenen Augen sah ich wie ihr fielt, Herr, und die Götter mögen mich auf der Stelle strafen, als ich nicht die Wahrheit spreche, wenn ich sage, dass ich mir gewünscht hatte, mein Leben für das eure hin zu geben.«
Sein Blick betrübte sich und seine zitternden Knie ließen ihn Halt am Kaminsims suchen. Entweder war er wirklich ein treuer Kämpfer an der Seite Areos und Arraks gewesen, oder er vermochte verdammt gut zu schauspielern. Nach einer kurzen Pause hatte er sich wieder gefangen.
»Dann trugen sie euch fort, Herr.., weit fort, zum Tor in die Ewigkeit, an die Pforte zum Reich der Toten und der Götter. Drei Monde lang trauerte das Volk von Falméra über den Verlust seiner vielen Krieger, Väter und Söhne. Viele waren gefangen genommen, von Torbuks Soldaten. Sie sollten in die Löcher in den Bergen gehen und die Tränen der Götter aus den Steinen holen...«
»Wart ihr ebenfalls unter den Gefangenen?« unterbrach ihn Sebastian skeptisch, denn er wunderte sich, dass der Mann immer noch als Stadtbüttel auf der Burg Dienst tat, wo es doch nicht gerade leicht war, Torbuks Zwangsarbeiterlagern zu entkommen.
»Es waren nicht viele Männer, die verwundet und noch mit der Kraft für schwere Arbeit gesegnet, in die Berge der schlafenden Sonne gingen, Herr. Aber es waren so viele, dass die Kräfte für die tägliche Arbeit in Falméra fehlten.., so viele, dass es für die Oranuti Anlass genug war, sich für die Krieger der Ival einzusetzen und uns schließlich für einen großen Schatz einzulösen.«
»Moment mal.., Augenblick...«, Sebastian legte seine Hand auf den Arm des Büttels um seinen Redefluss inne zu halten, während er nachdachte. Inzwischen reichte ihm Antarona sein Hemd, das er sich rein mechanisch überzog und das er beinahe schon vergessen hatte.
»Ihr sagt, die Oranuti hatten euch ausgelöst.., mit einem Schatz?« Sebastian blickte den Mann fragend an, der für einen Büttel ziemlich ungepflegt aussah. Der reagierte nicht sofort, denn er starrte fortwährend auf das bunte Wappen, dass Antarona auf Sebastians Hemd gestickt hatte.
»Wie war das mit den Oranuti und dem Schatz.., was wisst ihr darüber?« bohrte Sebastian weiter. Der Mann, mit dem länglichen Gesicht eines Sechzigjährigen und den dicken Tränensäcken unter den Augen, versuchte sich zu erinnern.
»An einem Tag, vier oder fünf Monde nach der letzten Schlacht müssen es wohl gewesen sein.., verzeiht Herr, aber in den dunklen Löchern der Berge vermag niemand, die Wanderungen der Sonne zu zählen. So ungefähr aber, da kamen eine Abordnung von Oranuti Fürsten und Andreas mit Karek vor den Berg, in dessen Löchern die Ival arbeiteten...«
»Andreas..?« fuhr ihm Basti dazwischen, »...doch wohl nicht der Andreas, welcher sich der Medicus von Falméra nennt?« Der Büttel nickte nur kurz zu Sebastians Einwurf und fuhr unbeirrt fort:
»Eben jener Medicus von Falméra verkündete den gefangenen Ival an jenem Morgen die Freiheit und betonte ausdrücklich, dass wir diese Gunst den edlen Fürsten von Oranutu zu verdanken hätten, die mit vielen Kisten voll der Tränen der Götter gekommen waren um uns frei zu kaufen...«
»Es gibt keine Tränen der Götter in Oranutu«, warf nun Antarona nüchtern in die Unterhaltung ein. Sebastian sah sie zweifelnd an. Sie hatte sich inzwischen wieder ihr aufgerissenes Kleid angezogen und strich sich die Falten aus dem Stoff.
»Die Oranuti besitzen keine Tränen der Götter!« stellte sie erklärend fest. »Sie finden in ihrem Boden wohl die bunten Steine, die das Licht der Sonne in sich tragen, jedoch keine Tränen der Götter. Wenn sie Kisten voll davon gehabt haben, um die Gefangenen auszulösen, so hatten sie diese zuvor geraubt, oder...«
»Oder sie haben sie von jemandem bekommen, der ein Interesse an der Freilassung der Gefangenen hatte«, beendete Sebastian ihren Gedanken. Er kratzte sich demonstrativ und scharf nachdenkend in den Haaren und schlug sich mit der flachen Hand in den Nacken. Er wusste, dass es völliger Blödsinn war, hatte aber irgendwo einmal gehört, dass es den Gedanken auf die Sprünge helfen sollte.
»So, oder so...«, verkündete er schließlich, »...haben sich die Oranuti damit bei König Bental offenbar lieb Kind gemacht... Nur zu welchem Zweck?« Sebastian suchte nach einer Antwort.
»Ja.., seit dem haben wir sie hier, diese dickbäuchigen Schmarotzer am Volk der Ival!« wetterte der Büttel einvernehmlich.
»Früher kamen ein oder zwei Fürsten auf die Insel, um für ihre Töchter um die Gunst der Throngefährtin zu werben, wenn es an der Zeit war... Jetzt, und wenn ich’s recht überlege, seit der Befreiung der Gefangenen, sind viele von ihnen ständig hier. Sie besitzen mächtige Häuser in Falméra, einige von ihnen treiben unehrlichen Handel in der Stadt, oder bekleiden bereits hohe Ämter und gehen beim König ein und aus, so dass die Ival sich bereits zu fragen beginnen, wer denn eigentlich über sie herrscht.«
Von draußen her drang wieder die schneidige Stimme des Wachoffiziers herein, der seine Soldaten für den nächsten Wachgang einwies.
»Ja, ja.., der Wachführer.., der ist auch so einer, der sich in diesen Mauern Amt und Würden erschlichen hat!« beklagte der Büttel beinahe ironisch.
»Kreuzte hier vor zwei Sommern auf, mit der Depesche irgend eines hohen Oranuti in der Tasche und stolziert seither wie ein Gor durch die Burg, als gehörte ihm schon die ganze Feste.« Sebastian sah ihn sorgenvoll an und nickte zur Tür, als wollte er nach draußen zeigen.
»Wie lange geht das Theater denn schon so?« wollte er wissen. Dem erregten Büttel entgleisten schließlich die Worte.
»Seit wir die letzte Schlacht verloren haben, seit diese fettleibigen Kröten aus dem Volk der Unbekleideten die Ival angeblich befreit haben, seit die sich hier eingenistet haben und seit unser König sein eigenes Volk verrät...!« Plötzlich wurde ihm bewusst, was er da offen kund tat. Er unterbrach sich selbst, indem er sich peinlich berührt auf die Unterlippe biss.
»Na, na, na.., nun mal nicht zu hitzig.., ja«, ermahnte Basti ihn, »vergesst mal nicht, mit wem ihr sprecht, Büttel«. Sebastian versuchte bei diesem aufgebrachten und offensichtlich enttäuschten Mann noch einen letzten Rest Achtung vor der Krone zu retten.
»Verzeiht Herr, verzeiht eurem ewig treuen Diener, der ich bin.., aber der König.., Bental... Aber jetzt, da ihr wieder zurück gekehrt seit, Herr.., jetzt wird alles wieder gut, nicht wahr.., ihr werdet die Oranuti wieder aus Falméra hinaus werfen, nicht wahr?« Als sein fragender Blick an Sebastians Unschlüssigkeit abprallte, wandten sich seine Augen an Antarona.
»Ja, ihr in den Tälern...«, bemerkte er geringschätzig, »...ihr da oben in den Bergen habt von all dem hier nicht viel mitbekommen, was? Aber der alte Büttel von Falméra kann euch was erzählen, Frau! Habt in eurer Abgeschiedenheit gelebt, hattet eure Ernten und wart weit weg, von den Sorgen der Ival...«
»Nun ist’s aber gut, Mann«, gebot ihm Sebastian barsch, »die Ival dort draußen in den Wäldern und Tälern haben mehr gelitten, als ihr es euch vorstellen könnt. Hunderte wurden von Torbuk und Karek verschleppt, Frauen und Mädchen geschändet und umgebracht, diese armen Geschöpfe da draußen sind ja überhaupt der Grund, warum ich den weiten Weg hier her gemacht habe!«
Lauknitz ließ keinen Zweifel darüber aufkommen, dass er die Klagen des Büttels im Gegensatz zu den Leiden der ländlichen Ival als geradezu lächerlich bewertete. Volksnähe hin und her, es war ratsam, zunächst eine gewisse Distanz zwischen Büttel und Areos, dem Sohn des Königs zu wahren, zumindest so lange, bis sich herausstellte, wer tatsächlich Freund und wer Feind war.
»Nun bin ich ja wieder da, Büttel.., und ihr werdet mich zum König bringen, sobald Talris den neuen Tag erhellt. Und Antarona hier, eine echte Tochter der Ival...«, Sebastian zog seine Gefährtin ins Licht des kleinen Ofens, »...hat, wie ihr seinerzeit, Seite an Seite mit mir gekämpft, seit ich aus dem Reich der Toten zurückgekehrt bin. Ihr werdet ihr den gleichen Respekt zollen, den ihr auch mit entgegen bringt!« entschied er unmissverständlich.
»Ja Herr...«, verneigte sich der Mann demütig, was so gar nicht zu seiner hoch aufgeschossenen Gestalt passen wollte, die trotz mangelnder Pflege noch so etwas wie Würde ausstrahlte.
»Seid mit eurer Kriegerin bis zur Stunde des Tages Gast in meinem bescheidenen Haus. Sodann will ich euch zum König bringen, so ihr denn geneigt seid, euren armen Diener und Büttel nicht ganz zu vergessen«.
Sebastian ahnte, dass er in dieser Burg nicht viele loyale Anhänger finden würde und überlegte, wie er einen Büttel als einen wahrhaft treuen Verbündeten gewinnen konnte. Dieser Mann kam in seiner Position überall hin, hatte sein Ohr in der Schreibstube des Königs, sowie unter den Stimmen des Volkes. Er konnte ihnen noch mal sehr nützlich sein, bei dem Bestreben, das Volk, vor was auch immer, zu retten!
Mit diesen Gedanken streckten Sebastian und Antarona ihre müden Glieder vor dem Ofen aus, in der vermeintlichen Gewissheit, ihre Mission bereits so gut wie erfüllt zu haben. Dass ihre Aufgabe in der Geschichtsschreibung der Ival erst begann, konnten sie freilich nicht ahnen.
     
  Wichtiger Hinweis: Die Texte des Autors Frank Adlung, insbesondere die des Romans "Das Geheimnis von Val Mentiér", sind durch notarielle Hinterlegung urheberrechtlich geschützt. Ein Herunterladen und Ausdrucken ist nur für den privaten Zweck des Lesens gestattet. Kommerzielle Nutzung, öffentlicher Vortrag, oder Vervielfältigung und Verfälschung des Inhalts, sowie öffentliche Verbreitung ohne Genehmigung des Autors sind untersagt und werden zur Anzeige gebracht.
 
 
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31. Kapitel     Heimliche Flucht     Kapitel anzeigen
32. Kapitel     Auf nach Mehi-o-ratea     Kapitel anzeigen
33. Kapitel     Verschleppt     Kapitel anzeigen
34. Kapitel     Die Hölle der Îval     Kapitel anzeigen
35. Kapitel     Angriff der Dämonen     Kapitel anzeigen
36. Kapitel     Das Dorf der ewigen Jugend     Kapitel anzeigen
37. Kapitel     Die geheimnisvollen Unbekannten     Kapitel anzeigen
38. Kapitel     Schlechte Nachrichten     Kapitel anzeigen
39. Kapitel     Standgericht     Kapitel anzeigen
40. Kapitel     Ein langer Weg zurück     Kapitel anzeigen
41. Kapitel     Die Hölle bricht los     Kapitel anzeigen
42. Kapitel     Prophezeiungen und allerlei Vermutungen     Kapitel anzeigen
             
             
             
             
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