Das Geheimnis von Val Mentiér
 
23. Kapitel
 
Im Banne des Throns
 
wischen Wachen und Schlafen hatte Sebastian darüber nachgedacht, was sie wohl bei der Begegnung mit dem König zu erwarten hatten. Würde der ebenfalls, wie seine Untertanen glauben, seinen Sohn Areos vor sich zu haben? Lange hielt ihn dieses Thema jedoch nicht im Bann, denn eine bleierne Müdigkeit legte sich über seine Augen und schnell war er tief und fest eingeschlafen.

Das Geräusch einer sehr hellen, nicht sehr melodischen Glocke weckte ihn. Kling, klang, klang, kling! Die Lider lasteten schwer, wie Mühlsteine auf seinen Augen; er war noch nicht bereit für diese Welt! Er hatte geträumt, zu Hause in seinem warmen Bett zu liegen. Es war Wochenende und er freute sich auf einen Gammeltag.
Kling, kling, kling, klang, kling! Es ebbte ab, wie in weite Ferne, kam dann wieder nervtötend nahe heran. Sebastian war so todmüde, er hätte am liebsten sterben mögen, um nur in frieden weiter schlafen zu können.
Kling, kling, klang, kling... Er wollte den schönen Traum vom Wochenende weiter träumen, das Geräusch störte ihn eigentlich gar nicht. Aber da war noch etwas anderes...
Allmählich kehrten seine Erinnerungen zurück, wie Regentropfen in ein vertrocknetes Blumenbeet einsickerten, und erweckten sein Gedächtnis zu neuem Leben. Der Weg über die Insel, die Flucht durch die Stadt, in die Burg... Sebastian Lauknitz hätte sich gewünscht, dass all dies ein Traum und das Wochenende zu Hause die Wahrheit gewesen wäre. Aber so war es nicht!
Eine alte Holztür flog auf, Sonnenlicht flutete herein und Kling, klang, kling dröhnte in Bastis Ohren. Augenblicklich fuhren er und Antarona von ihrem Schlaflager hoch. Wie ein kleines Kind rieb sich das Krähenmädchen die Augen, eine Geste, die Sebastian so selten sah, dass er sie fasziniert beobachtete, denn meist war Antarona schon auf den Beinen, wenn er seinen Träumen entfloh.
Der Büttel schlug die Tür wieder zu und sperrte das grelle Licht, sowie den hämmernden Klang wieder aus. Er legte Sebastian ein muffig riechendes, graues Stück Stoff vor die Füße und verbeugte sich so tief, dass er beinahe aus dem Stand vornüber gefallen wäre.
»Herr.., wenn ihr freundlichst die Güte zu haben geneigt, dieses Kleidungsstück überzuziehen.., nur für den Weg zum Burgtor...« Er verneigte sich abermals mit einem Dank heischenden Gesicht und blieb in gebeugter, erwartender Haltung vor Sebastian stehen. Der nahm müde, fast gleichgültig das gewebte Stück in die Hand, das eher einem alten Jutesack mit angenähter Kapuze glich, als einer Bekleidung. Fragend blinzelte er den Büttel an.
»Es ist ein Gewand des Schreibers, Herr.., wohl gewaschen und getrocknet in der Sonne... Verzeiht, Herr, aber ich dachte, es ist besser, wenn ihr euch noch nicht offen zeigt.., versteht wohl, es ist eine Freude für alle, euch wieder auf der Burg zu wissen, aber die Ordnung, Herr.., ein jeder verließe sofort seinen Platz am Tagwerk.« Er trat einen Schritt vor und beugte sich noch tiefer zu Sebastian herab.
»Und meint ihr nicht auch, dass es an des Königs Handeln ist, euch, den zurück gekehrten Sohn dem Volke zu verkünden?« fragte er mit einer List, die sich in seinen Augen und seiner Stimme verbarg.
Sebastian war noch viel zu verschlafen, um sich mit solchen Spitzfindigkeiten abzugeben. Er winkte mit einer fahrigen Handbewegung ab und versuchte seine Gedanken zu sammeln.
»Ja, ja.., ist schon recht, guter Mann«, versuchte er den Büttel zufrieden zu stellen, bemerkte aber viel zu spät, dass er in seiner eigenen Sprache gesprochen hatte. Rasch fügte er in Ival hinzu:
»Danke, dass ihr euch so um mich bemüht.., ich werde euch das bestimmt nicht vergessen!« Das entgegen gebrachte gerne, Herr, gerne überhörte Sebastian schon wieder. Das Gewand, das bis zu diesem Morgen wohl sein Dasein in einer stickigen Truhe gefristet hatte, schien sauber. Ein Hauch von Lavendel zwischen dem Stockgeruch ließ vermuten, dass es einmal, wahrscheinlich von einer Frau, in Blütenwasser gewaschen wurde.
»Sagt, Büttel, wo kann man sich denn hier mal waschen.., ich meine, ein Bad nehmen?« Sebastians Frage brachte den Mann nun vollends aus dem inneren Gleichgewicht. Er glotzte seinen wiedergekehrten Herrn an, als hätte diese von ihm verlangt, sich selbst ein Messer zwischen die Rippen zu stoßen. Basti bemerkte den ungläubigen Blick, sah aus den Augenwinkeln, wie Antarona heimlich schmunzelte und warf dann wie entschuldigend in den Raum:
»Was ist..? Schließlich kehrt heute der Sohn des Königs zurück... Soll er dabei stinken, wie ein toter Fisch? Was soll Bental denken?« Antarona wollte Sebastian beschwichtigen:
»Der König wird aus Freude an eurer Rückkehr fröhlichen Sinnes sein und allein eure Person wahrnehmen, Ba - shtie!«
»Welche ganz und gar nicht salonfähig duftet...«, hängte er an ihre Bemerkung an. Der Büttel hingegen verstand Sebastians Anliegen ohnehin nicht. Mit bierernste Miene verkündete er:
»Waschtag und Badetag ist erst in drei Tagen, Herr.., stets zu einem viertel Mond!« Sebastian sah den Mann verzweifelt und resigniert zugleich an und machte eine wegwerfende Geste.
»Ach.., vergesst es einfach! Das ich nicht der richtige bin, euch die Kultur der Hygiene in dieses Land zu bringen, ist mir klar. Ich wollte einfach nur nicht wie ein verwahrloster Bettler vor den König treten. Schließlich sind wir die Abgesandten des Achterrats!« Sebastian stand auf und schüttelte das geborgte Gewand auseinander, in der Hoffnung, dass es nicht schon kleine Mitbewohner enthielt. In seiner Sprache, die nur Antarona bedingt verstand, murrte er vor sich hin:
»Aber ist schon gut, gehen wir eben, so, wie wir sind, ist wohl nicht zu ändern«. Basti war es leid, stets um ein Minimum an Körperhygiene betteln zu müssen. Er befand sich nun einmal in einer Welt, die in vielerlei Hinsicht dem tiefsten Mittelalter glich.
Das einzige, das ihn beruhigte, war der Umstand, dass er bislang keine kirchlichen Zwänge entdecken konnte, die in der Vergangenheit seiner eigenen Kultur einem Fremden, dem allzu viele neue Ideen einfielen, durchaus mal den Ehrenplatz auf einem Scheiterhaufen eingebracht hätte.
Der Büttel, der in seiner Jugend sicher einmal ein stattlicher Mann gewesen war, öffnete die Tür und ließ ihnen den Vortritt in das blendende Sonnenlicht. Sebastian warf sich die graue Kutte über und zog sich die Kapuze tief ins Gesicht. Trotzdem wurde sein Gehörgang sofort wieder vom permanenten Kling, kling, klang traktiert. Die Ursache war eine Schmiede, vierzig Meter die Straße hinab, in der trotz früher Stunde schon tatkräftig gearbeitet wurde.
Ein großer bäriger Geselle stand am Amboss und ließ einen mächtigen Hammer auf ein Stück Eisen nieder sausen, aus dem jedes Mal ein Schwarm heller Funken sprühte. Zwei Gehilfen hetzten diensteifrig hin und her, wie Zwerge um einen Riesen.
Überhaupt war vor und neben den Gebäuden links und rechts der staubigen Straße eine Geschäftigkeit entstanden, die Sebastian am Tag zuvor schon vom Berg her in der Stadt beobachten konnte. Frauen mit Körben, Eimern, oder Schüsseln gingen eilig die Straße hinauf und hinab, Männer zogen Handkarren hinter sich her, oder trieben einen Ochsen, oder ein paar Schweine die Straße hinauf.
Dazwischen marschierten immer wieder Wachabteilungen auf, verschwanden in Unterkünften, oder traten aus ihnen heraus. In einem Stall gegenüber wurden Pferde gestriegelt und gesattelt. Gleichzeitig machte sich eine Art Patrouille für einen Ausritt fertig. Ein Pferdefuhrwerk kam leer die Straße herab gerasselt, wirbelte eine unangenehme Staubwolke auf und verschwand weiter unten in der Straße.
Sebastian musste sich die Staubkörner aus den Augen reiben. Falméra schien die Metropole dieses Landes zu sein, lärmend, lebendig und angefüllt mit den verschiedensten Gerüchen. Schon am Abend war Sebastian in der Stadt das ausgelassene Treiben aufgefallen, ein froher, aufgeweckter Charakter, der sich bei den Ival auch im Alltag wieder fand.
Zwischen all dem Leben, das bereits so früh den Tag erfüllte, schritt der Büttel ihnen voran die Straße hinauf, an hohen Mauern und einzeln stehenden Türmen vorbei, um eine scharfe Kurve herum, an eindrucksvollen Wehranlagen entlang, bis in einen Hof, der letztlich hoch über Straße und des Büttels Häuschen lag.
Ein dreißig Meter breiter und doppelt so langer Platz wurde beherrscht von weiteren unüberwindlichen Mauern mit einem riesigen, Turm bewehrten Portal auf der einen und einem großen, dreistöckigen Gebäude auf der anderen Seite. Hinter diesem Bau erhob sich ein Turm, der die bisherigen an Höhe und Größe übertraf. Sebastian schätzte seinen Durchmesser auf fünfzehn Meter.
Am Ende des Hofes befand sich ein Haus, wie ein großer Erker an die Burgmauer geklebt. Davor waren Tröge, Bottiche und Zuber aufgestellt, an denen eine ganze Armee von jungen und alten Frauen damit beschäftigt waren, Wäsche zu waschen und sich lautstark die neuesten Nachrichten der Stadt mitzuteilen.
Im Gegensatz zu den Waschfrauen des Val Mentiér, die nur mit dürftigen, gerade ihre Scham bedeckenden Lederteilen bekleidet waren, trugen diese Frauen Röcke, Schürzen und Blusen, die sie mehr oder weniger freizügig über ihren Oberweiten zugebunden hatten.
Als sie ihrem Büttel folgend in den Schatten des dreißig bis vierzig Meter breiten Portals traten, über dem wiederum das Wappen prangte, das Sebastian auf seinem Hemd trug, stellten sich ihnen eine Hand voll bis an die Zähne bewaffnete Soldaten in den Weg.
»Es sind die Abgesandten.., sie werden bereits von unserer gütigen Hoheit erwartet!« hörte Basti den Büttel sagen.
»Sie sollen die Waffen ablegen...«, entgegnete der Soldat, der anscheinend das Sagen hatte, und wies auf eine kleine Tür im Portaldurchgang, »...dort hinein, wenn es recht ist!«
»Es ist ganz und gar nicht recht...«, erklärte Sebastian dem Büttel, noch bevor der etwas sagen konnte, »...wir werden unsere Waffen auf jeden Fall behalten!«
Dem Büttel fielen vor Angst und Demut vor den furcht einflößenden Wachen beinahe die Augen aus den Höhlen. Er warf einen künstlich verstellten, lächelnden Blick auf den Wachhabenden und drehte sich wieder Sebastian zu.
»Was bei den Göttern tut ihr da, Herr.., wenn euch eine der Wachen erkennt, so läuft die ganze Burg.., ach was sage ich.., die ganze Stadt vor den Toren der Burg zusammen! Das ist nicht in seiner gütigen Hoheit Sinne.«
»Entweder, ihr gebt eure Waffen freiwillig her, oder wir werden sie euch abnehmen«, verkündete nun barsch der Wachoffizier, dem das Geplänkel zwischen Sebastian und dem Büttel nicht entgangen war. Wahrscheinlich hatte er sogar bemerkt, wie Antarona krampfhaft versuchte, ihr Schwert Nantakis unter ihrem Gewand zu verbergen, was ihr durch das aufgeschlitzte Kleid ziemlich schwer fiel.
Sebastian wollte, und Antarona würde es unter keinen Umständen zulassen, dass Nantakis in die Hände der Soldaten geriet. Das konnte Basti dem Offizier freilich nicht mitteilen, denn es würde erst recht dessen Neugier geweckt haben.
Die Situation war ausweglos und brenzlig, außerdem wollte Sebastian dem König nicht unbedingt mit einem Tumult seine erste Aufwartung machen. Wer konnte schon genau sagen, ob ihn seine Ähnlichkeit mit Areos tatsächlich vor der Willkür des Landesherrn schützte?
Wie schnell man in diesem Land bei der Hand war, dem Leben eines in Ungnade gefallenen ein Ende zu setzen, hatte er bereits kennen gelernt. Auf eine weitere Erfahrung in dieser Richtung konnte er gern verzichten.
Kurz entschlossen setzte Sebastian alles auf eine Karte. Im schlimmsten Fall mussten sie fluchtartig den Rückweg antreten. Doch waren sie erst einmal durch dieses Portal gelangt, gab es nur noch den Weg nach vorn, egal wie es ausging!
Ruhig und gelassen schritt Basti in den einfallenden Lichtkegel, zog die Kutte aus und warf sie dem Büttel zu, der sie mit hektischen Händen auffing. Das bunte Wappen des Landes auf seiner Brust trat er vor den Wachsoldaten hin und sah ihm tollkühn in die Augen.
»Ihr versteht wohl, dass ich euch kaum meine Waffen aushändigen werde, oder?« fragte Sebastian mit einem gefährlichen Unterton in der Stimme.
Die Augen des Soldaten weiteten sich plötzlich, als hätte er gerade den Mond explodieren sehen. Sein Gesicht verlor jede Farbe und er trat erschrocken einen Schritt zurück. Sebastian nutzte die Unsicherheit seines Gegenüber, machte einen Schritt vorwärts, so dicht an ihn heran, dass er seinen übel riechenden Atem wahr nahm.
»Und für meine Begleiterin dort drüben verwende ich mich höchstselbst.., sie wird natürlich ebenfalls ihre Waffen behalten, nicht wahr?« Sebastian ließ diesen Satz, wie eine unumstößliche Anordnung klingen und schüchterte den Wachmann damit noch weiter ein.
Der trat wiederum einen Schritt zurück und Sebastian konnte direkt sehen, wie es in seinem Kopf zu arbeiten begann. Er glotzte abwechselnd auf das aufgestickte Wappen und in das Gesicht des Mannes, in dem er seinen Herrn und ehemaligen Feldherrn erkannte. Basti wusste, dass es nun kein zurück mehr gab und setzte nach.
»Sagt mir euren Namen und euren Rang«, verlangte er in gebieterischem Ton. Der Soldat sah sich Hilfe suchend nach seinen Kameraden um und als diese nur mit schuldbewusstem Blick zu Boden starrten, stotterte er unsicher:
»Genrath, Herr.., ich bin Genrath, Hauptmann der inneren Wache, Herr. Ich hatte unter euch in der letzten Schlacht gekämpft, Herr, in der rechten Flanke, gegen Kareks Einheit, wenn ihr noch wisst...«
»Genrath.., Genrath...«, Sebastian sprach den Namen langsam aus, als dachte er angestrengt nach und schlug dann wie von einem Geistesblitz berührt, den Handrücken der Rechten in die linke Handfläche, dass es laut knallte. Der Wachführer zuckte erschrocken zusammen.
»Natürlich, Genrath.., ich erinnere mich an euch«, log Sebastian, »ihr habt wie alle tapfer gekämpft!« Er schlug dem verdutzten Soldaten freundschaftlich auf die Schulter, beugte sich noch dichter zu ihm hin und fuhr in verschwörerischem Ton fort:
»Ihr werdet erneut die Möglichkeit erhalten, euch zu bewähren, das verspreche ich euch! Doch zunächst muss ich mich eures Vertrauens und eurer Verschwiegenheit versichern.«
Genrath verbeugte sich ehrfürchtig vor dem vermeintlichen Sohn seines Königs, dann zischte er seinen Wachleuten zu:
»Bei den Göttern, steht nicht so da, wie die verschreckten Wasel... Ehrenwache!« Beim letzten Stichwort spritzten die Soldaten auseinander und nahmen in einem Spalier links und rechts an der Portalwand Aufstellung. Zu Sebastian gewandt sprach er unterwürfig:
»Herr.., auf immer und ewig euer treuer Diener. Befehlt und wir werden euch folgen bis in das finsterste Loch der Dämonen! Wir alle sind froh, dass ihr wieder unter uns seid, Herr. Die innere Wache steht jederzeit zu euch, was immer ihr im Namen Falméras und des Königs verlangt!«
»So gebt gut acht, Genrath«, ließ Sebastian für alle beschwörend verlauten, »ihr werdet zu keinem Menschenwesen darüber sprechen, dass ich zurückgekommen bin, habt ihr verstanden?« Basti musterte den Wachführer skeptisch und ließ ihn bewusst seinen Argwohn spüren.
»Erst wenn die gütige Hoheit selbst es euch gestattet, dürft ihr darüber reden.., das gilt freilich für alle Männer der Wache.., habe ich mich klar ausgedrückt?«
»Herr, meine Männer und ich werden schweigen, wie die Stille der Elsirensümpfe, ihr könnt euch auf Genrath verlassen!« versicherte er mit fester Stimme und voller Stolz gewölbter Brust.
Sebastian nickte zufrieden und warf Antarona einen Viel sagenden Blick zu. Nicht nur, dass sie nun ungehindert in die Burg gelangten und auch noch ihre Waffen behielten, Sebastian wagte sogar zu hoffen, dass er bereits erste Vertraute gewonnen hatte. Nun lag es letztlich am König selbst, wie es weiter ging.
Genrath gab dem Büttel einen seiner Wachsoldaten und eine Nachricht mit und entließ sie auf eine großzügige Freitreppe, die unmittelbar hinter dem Portal begann. Sebastian hatte es für Sinnlos gehalten, nach Preisgabe seiner Identität noch einmal die miefige Kutte überzuziehen.
Einige, denen sie auf der Treppe begegneten, verbeugten sie in tiefer Ehrfurcht und mit staunenden Blicken vor Sebastian, andere hingegen standen nur mit ungläubigen Augen da und starrten ihn an, als verkörperte er halb Gor, halb Mensch. Kaum einen Mann, oder eine Frau gab es, die achtlos an ihm vorüber gingen. Wen ja, so waren sie wahrscheinlich erst nach der letzten Schlacht auf die Burg gekommen.
Die Treppe machte mit zwei Podesten einen Knick im rechten Winkel und führte wiederum in einen Hof, der wesentlich größer wirkte, als der erste. Ein wuchtiges, vier Stockwerk hohes Bauwerk begrenzte den Hof auf der einen, eine ebenso hohe Mauer mit Stützpfeilern und Schießscharten auf der anderen Seite.
Diese Mauer teilte sich unweit des Zugangs zum Hof und eine neue Treppe, unwesentlich kleiner, als die erste, führte zu einem weiteren, kleineren Portal hinauf. Auch hier traten ihnen wieder Wachen entgegen.
Bevor Sebastian mit seinen Begleitern in den Schatten des Durchgangs trat, gewahrte er aus den Augenwinkeln eine gut hundertfünfzig Meter lange, in mehreren Stockwerken aufschießende Hausfassade, die reich mit Ornamenten und Figuren aus gehauenem Stein verziert war und große Fenster besaß.
Die Wachen kamen erst gar nicht dazu, nach ihren Waffen zu fragen, denn der Wachsoldat, den Genrath ihnen mitgeschickt hatte, übergab seine Nachricht, die auf ein kleines, vergilbtes Stück Papier geschrieben war. Der Wachhabende warf einen kurzen Blick darauf, suchte in der kleinen Gruppe Sebastian, sah ihm ins Gesicht und versteifte sich, als hätte ihm jemand einen Knüppel ins Rückgrat geschoben.
Dann machte er ein aufforderndes Handzeichen zu seinen Kameraden und das Wort Ehrenwache entfuhr ihm nur mit einiger Mühe. Blitzartig verteilten sich seine Untergebenen und bildeten auch hier einen Spalier, durch den Sebastian mit seinem Gefolge unbehelligt an eine große, mit Eisenverzierungen beschlagene Holztür gelangte, die einer der Wachsoldaten aufhielt.
Sie kamen in einen engen Raum, in dem sie von einem schlanken, beinahe ausgemergelten, groß gewachsenen Mann empfangen wurden, der in einem roten, mit blauem Stoff und goldenen Tressen abgesetzten Livree steckte.
Sebastian schätzte ihn auf etwa sechzig bis siebzig Jahre. Die grauen, schütteren Haare hatte er in einem winzigen Zopf mit einem schwarzen Band zusammen gebunden, das an seinem schmalen Kopf wie ein Propeller wirkte. Seine ernste, gespielt arrogante Miene schien sogar die Schaben auf dem Fußboden einzuschüchtern.
Jede seiner Bewegungen waren so steif, dass man annehmen konnte, er hatte Angst, beim Gehen irgend welchen Staub aufzuwirbeln. Aussehen, Verhalten und Ausstrahlung dieses Mannes erinnerte Sebastian an einen Marabu, einen in Afrika lebenden Laufvogel. Sebastian war sofort klar, dass dieser Mann noch nie in seinem Leben eine Waffe, oder ein Werkzeug in den Händen gehalten hatte.
Doch dieser Diener war bislang der einzige, den Sebastians Aussehen nicht sofort aus der Fassung brachte. Pikiert und mit zwei Fingern, als müsste er etwas Unreines berühren, nahm er dem Wachmann die Nachricht Genraths ab und studierte sie übertrieben lange. Anschließend musterte er mit grauen, stechenden Augen die Personen, die es gewagt hatten, seinen Dienstablauf zu stören.
An Antaronas Gestalt blieb sein Blick etwas länger haften. Mit tadelnder Miene betrachtete er ihr aufgerissenes Kleid und die nackten Füße. Er hob seine Augenbrauen an, als hätte er plötzlich eine gravierende Erkenntnis gewonnen und lenkte seinen Blick nun auf den Büttel.
»Ich denke.., auf eure weitere Anwesenheit können wir jetzt verzichten, Büttel«, sprach er mit leisem Ton, der aber unmissverständlich klar machte, dass der Benannte ab sofort überflüssig war. Als dieser sich nicht sofort zum Gehen wandte, fuhr der Marabu fort:
»Sollte seine gütige Hoheit noch einmal eurer bedürfen, so wird euch die Wache gewiss rufen lassen.« Sein durchdringender Blick katapultierte den armen Büttel regelrecht aus der Tür. Bevor der sich mit einer tiefen Verneigung verabschiedete, trat Sebastian noch einmal zu ihm und legte ihm freundlich die Hand auf den Arm.
»Habt Dank für eure Mühe, Büttel.., wie ist übrigens euer Name, wenn ihr die Frage erlaubt?« Sebastian wollte nicht wirklich den Namen wissen, denn es gab nur einen Büttel, soviel er wusste und den nannte jeder einfach nur Büttel. Aber es war ihm ein Bedürfnis, dem alten, unfreundlichen Marabu zu zeigen, wem es hier aufgrund seines Standes zukam, Bedienstete zu entlassen, oder nicht.
»Wohlfried, Herr.., der Name eures Büttels ist Wohlfried«, verriet ihm der Mann, bevor er sich endgültig zur Tür wandte und draußen verschwand. Der Marabu schüttelte unverständlich den Kopf und tadelte Sebastian:
»Es ziemt sich für einen...«, er unterzog Sebastian einem weiteren prüfenden Blick, blieb einen Moment lang an seinen unbeschuhten Füßen hängen und fuhr mit wichtigem Gesichtsausdruck fort, »...für einen Areos nicht, allzu vertraut mit den niederen Bediensteten zu sein! Seine gütige Hoheit verlässt sich gewohnt darauf, Fragen der Bediensteten meinen bescheidenen Händen zu überantworten.«
»Aha...«, gab Sebastian knapp und schnippisch zurück, »...da wir aber gerade dabei sind.., nur der Vollständigkeit halber.., wie ist denn euer werter Name?«
Der Marabu zog erneut seine Brauen hoch und zwar so weit, dass Sebastian schon glaubte, sein Gesicht würde sich selbst die Haut vom Schädel ziehen. Mit einem geringschätzigen Blick auf Antarona bemerkte er:
»Nun.., wie es scheint, hattet ihr eine sehr interessante und ablenkungsreiche Gesellschaft seit dem Mond der letzten großen Schlacht. Hat diese euch möglicherweise vergessen lassen, wessen Standes ihr seid und welchen Untergebenen ihr einst vertrautet?«
Sebastian hatte trotz der spitzen Zunge dieses Mannes seine Schlagfertigkeit in keiner Weise eingebüßt und gab vermeintlich zu:
»In der Tat.., es ist viel geschehen, seit der großen Schlacht.., viel Gutes, aber auch Vieles, das eines Neubeginns, oder einer Veränderung bedarf! Manches mag auch meinem Kopf entflohen sein. Wollt ihr also bitte die Güte haben, mein Wissen zu erneuern, so will auch ich euch an den Veränderungen teilhaben lassen!«
Fassungslos, dass ihm ein anderer widersprach, als seine Hoheit selbst, zuckte Marabu kurz mit dem Kopf, hob die Nase noch ein Stück höher und antwortete steif:
»Hekthur, Herr.., Hofprotokollmeister und Vertrauter seiner gütigen Hoheit.., wie ihr euch gewiss erinnert!« Basti entging nicht der lauernde Unterton in seiner Stimme. Aber zumindest hatte Marabu nun einen Namen!
»Nun, Hekthur...«, begann Sebastian mit ruhiger, gefährlicher Stimme und versuchte eine ebenfalls wichtige Miene aufzusetzen, »...so will auch ich euch nicht in Ungewissheit vergehen lassen und euch über einiges aufklären.«
Mit auf dem Rücken verschränkten Armen schritt Sebastian vor dem Protokollmeister langsam auf und ab. Seine Geste zeigte Wirkung. Hekthur, den scheinbar nichts beeindrucken konnte, wurde zusehend nervöser. Mit einem Mal blieb Basti direkt vor dessen Nase stehen und sah ihm tief in die Augen, bis sich Hekthurs Blick in eine Stelle am Boden bohrte.
»Zunächst einmal... Danke, dass ihr eurer Freude zu meiner Rückkehr Ausdruck verliehen habt«, stellte er den verunsicherten Hofmeister bloß.
»Und nun zu meiner interessanten, ablenkungsreichen Gesellschaft...«, Sebastian trat einen Schritt zur Seite und gab den Blick auf Antarona frei, »...Sie ist eine große Kriegerin.., eine Tochter der Ival, die wohl mehr für das Volk und seine gütige Majestät gekämpft und geopfert hat, als ihr, Hekthur, es jemals vermocht habt. Ihr werdet von nun an nicht mehr ungefragt über sie sprechen und sie fortan mit Herrin anreden, wenn ihr das Wort an sie richtet!«
Hekthur sah Sebastian entgeistert an und fand keine Worte mehr. Basti trat wieder dich an ihn heran, so dass sich fast ihre Nasen berührten und fragte eindringlich:
»Habt ihr das verstanden, Herr Hofprotokollmeister?« Hekthur zog diesmal nur eine Augenbraue hoch und wollte offensichtlich protestieren. Sebastian nahm ihm aber sofort wieder den Wind aus den Segeln.
»Um kein weiteres Missverständnis aufkommen zu lassen und euch davor zu bewahren, etwas unüberlegtes zu tun...« Sebastian holte tief Luft, bevor er die sprichwörtliche Katze aus dem Sack lies, »...diese Tochter der Ival ist mit mir daselbst verbunden, und zwar unter dem Schutz der Götter und der Elsiren!«
Hekthur stand wie vom Donner gerührt da und schnappte nach Luft. Er diente in dritter Generation seit vielen Jahren für die Könige Falméras. So etwas aber war ihm noch nicht untergekommen!
»Ach...«, fügte Sebastian noch wie beiläufig hinzu, »...ehe ich es vergesse.., ihr dürft euren Mund jetzt wieder schließen! Und wollt ihr dann bitte die Güte haben, uns zu seiner gnädigen Hoheit zu führen?« Ein Blick in Antaronas zuversichtliche Augen bestätigten ihm, dass er sich inzwischen durchaus in Ival auszudrücken wusste, etwas, das sicher auch seine Glaubwürdigkeit erhöhte.
Zumindest setzte sich nun Hekthur in Bewegung. Er ging ihnen voran in den Treppenturm, ein paar Stufen hinauf, bis in einen vier Meter breiten Flur, dessen Boden mit weißen und schwarzen Marmorkacheln im Rautenmosaik besetzt war.
Hohe Rundbogenfenster erlaubten den Blick nach draußen, obwohl sich das Bild durch das Glas leicht verzerrte. Offenbar war man hier noch nicht in der Lage, Glas ohne Fehler ebenmäßig und rein herzustellen. Obwohl der Turm ein wenig die Sicht verdeckte, konnte Sebastian die Dächer und Mauern der Burg übersehen und sogar noch einen Blick von der Stadt erhaschen.
Hekthur führte sie in ein geräumiges, sechs mal acht Meter großes Zimmer, mit einem einzigen Fenster, das nur spärlich Licht herein ließ. Es besaß einen steinernen Fußboden, der mit ausladenden Tüchern bespannt war, sowie eine schlichte Holzvertäfelung an den Wänden.
Einfache Holzbänke, die Sebastian an jene erinnerten, die er oft in katholischen Kirchen gesehen hatte, standen wie in einem Stück durchgehend an jeder Wand des Raumes. In der Mitte des Zimmers befand sich ein großer Tisch mit ungewöhnlich hochlehnigen Stühlen.
»Ihr dürft eure Sachen und eure Waffen in diesem Raume lassen, Herr«, verkündete Hekthur mit betonungsloser Dienststimme, »sie werden euch zu gegebener Zeit in eure Gemächer gebracht!«
»Das ist ein guter Gedanke.., doch unsere Schwerter werden wir behalten...«, bestimmte Basti, »...wir sind ja schließlich nicht irgendwelche Bauerntölpel, nicht wahr?«
Wieder zog der Hofprotokollmeister eine Augenbraue hoch, sagte aber nichts. Doch sein tadelnder Blick sprach Bände. Er öffnete die Tür zu einem weiteren Raum, der schon gemütlicher eingerichtet war.
»Ihr könnt hier warten, Herr. Das Protokoll fordert, dass jeder Besucher seiner Hoheit vorher angekündigt werden muss. Dies gilt auch für die Königin«, verkündete Hekthur gewissenhaft und nicht ganz ohne Schadenfreude setzte er mehr für sich selbst hinzu, »wenn dieses Haus jemals wieder eine hätte. Jedenfalls gilt das Protokoll auch für Areos!«
Damit entschwand er im ersten Raum und weiter in der Tür zum Flur. Neugierig sahen sich Antarona und Sebastian um. Das neue Zimmer glich in seiner Größe dem ersten, mit der Ausnahme einer fünfundvierzig Grad Wand, die dem Raum eine Ecke nahm. Dafür fiel das Sonnenlicht durch zwei doppelte Rundbogenfenster ins Zimmer und ließ es trotz der dunkleren Vertäfelung hell und freundlich erscheinen. Ansonsten war der Raum angefüllt mit Regalen, in denen seltsame Bücher standen, mit hölzernen Deckeln und groben Schnitten, nicht gebunden, sondern irgendwie dilettantisch geheftet, oft nur drei, oder vier Seiten.
Waffen hingen an den Wänden, sowie Bilder, die mit seltsamen Farben gemalt, auf den Betrachter geradezu phantastisch wirkten. Zwei ovale Tische und Stoff bespannte Sitzhocker, die Sebastian aus Wikinger Filmen kannte, luden zur Ruhe ein, oder zur Erfrischung. Denn auf den Tischen fanden sich Krüge mit Wasser, sowie reichlich Trinkbecher aus rotem Ton in den Regalen.
Der Fußboden dieses Raumes war mit dunklem, fein geschliffenem und geöltem Holz bestückt, das nach Pinienharz und Bienenwachs roch. Über die knarrenden Dielen ging Sebastian zu den Fenstern hinüber und spähte hinaus.
Er blickte auf einen mächtigen Burghof, auf in die Höhe ragende Fassaden mit unzähligen Fenstern in runde Bögen gefasst, er sah einen mächtigen Bau in der Form einer Kathedrale und Türme. Wohin er sein Auge auch richtete, erhoben sich teils über den Dachkanten, teils aus dem Hof selbst, kleine und große Türme, aus denen hier und da wiederum kleinere Türmchen wie Zweige aus einem Baum wuchsen.
Und er sah Menschen. Frauen, in der Kleidung von Zofen, Mägden und Zimmermädchen, barfüßig, oder in feinen Schuhen, sowie Männer in steif sitzenden Livreen, oder in der einfachen Kleidung der Pferdeknechte, Stallburschen und Gärtner. Einige uniformierte Wachen in den landestypischen Waffenröcken standen ebenfalls dabei.
Sie alle standen unter den Fenstern des Raumes, in dem sich Antarona und Sebastian befanden und starrten erwartungsvoll herauf. Trotzdem sie sich im Erdgeschoss befanden, blickte Sebastian auf die Menschen herab, als würden sie ein Stockwerk tiefer stehen. Die Gebäude mussten also einen hohen Sockel besitzen.
Nach und nach kamen immer mehr Leute hinzu, unterhielten sich aufgeregt mit den schon Anwesenden und ab und zu zeigte jemand in Sebastians Richtung.
Das musste es sein, was der Büttel verhindern wollte. Jemand hatte in Sebastian Areos erkannt, oder eine der Wachen hatte trotz des Gebots geplaudert. Jedenfalls schien es sich in Windeseile herumgesprochen zu haben, das Areos, der Sohn seiner gütigen Hoheit zurückgekehrt war.
Alle Ival kannten die Prophezeiungen und die meisten hatten bereits die Gerüchte gehört, dass Areos aus dem Reich der Toten gekommen war und sich im Val Mentiér verborgen hielt. Ohne sich vom Fenster abzuwenden, fragte Basti plötzlich:
»Sag mal, Antarona.., war Areos.., also ich meine, war ich seinerzeit sehr beliebt beim Volk?« Als sie nicht gleich antwortete, drehte er sich zu ihr um. Seine Frau hatte ihr Bündel geöffnet und war gerade dabei, aus dem Kleiderhaufen ihrer Mutter ein für die Audienz beim König passendes Kleid anzuprobieren. Wie eine Schlangentänzerin wand sie sich in den engen Stoff und versuchte ihn im Rücken zu schnüren.
Fasziniert betrachtete Sebastian sein Krähenmädchen in dem hellblauen Kleid, das wie an ihr herabfließendes Wasser ihre Figur umschmeichelte.
»Warte.., lass mich dir helfen«, ereiferte er sich, trat hinter sie und nahm die Schnüre zur Hand, die in einem wirren Geflecht den Stoff im Rücken zusammen hielten. Wie beiläufig wiederholte er noch mal seine Frage.
»Zieht fester, Ba - shtie.., ihr müsst es ganz fest zusammenziehen«, keuchte Antarona, ohne zunächst auf seine Frage einzugehen, »es muss ganz fest sein und darf nicht mehr verrutschen!« Sie hielt sich krampfhaft am Sims der Holzvertäfelung fest und bog den Rücken durch, als Sebastian so heftig an den Bändern zog, dass er befürchtete, sie zu zerreißen, oder seiner Frau die Luft aus dem Leib zu pressen.
Endlich hatte er die beiden Enden sicher verknotet und Antarona drehte sich nach Atem ringend zu ihm um. Sie sah wahrhaftig aus, wie eine echte Prinzessin! Mit ihren nackten Füßen wirkte sie noch elfenhafter, als sie es ohnehin schon tat. Dankbar zog sie sich an Sebastian hoch und drückte ihm einen leidenschaftlichen Kuss auf die Lippen.
Dann sah sie ihn in ihrer durchdringenden Art an, dass er beinahe in die tiefen Seen ihrer Augen eintauchte.
»Das Volk der Ival hatte euch geachtet, Ba - shtie.., ihr wart der Führer ihrer Streitmacht, in euch lag ihre Hoffnung, ihr Leben! Es gab eine große Trauer unter den Ival, als ihr an das Tor zum Reich der Toten gebracht wurdet.«
»Ganz so hatte ich das nicht gemeint...«, erwiderte er, »...ich wollte eigentlich nicht wissen, ob sie mich geachtet hatten, sondern, ob ich bei den Ival beliebt gewesen war.., das ist ein kleiner Unterschied«, belehrte er sie.
Antarona wiegte den Kopf leicht hin und her, als überlegte sie. Schließlich sah sie ihn an, wie eine Teenager zu einem Rockstar aufblickte.
»Ja, Ba - shtie.., das Volk hatte euch geliebt! Ihr hattet, trotzdem ihr wohl sehr ernst gewesen wart, stets ein großes Verständnis für die Nöte und Sorgen der Ival.., mehr noch, als euer Vater Bental. Einmal habt ihr einen jungen Mann aus Mittelau vor dem sträflichen Tode bewahrt, gegen den Willen eures Vater, des Königs, weil ihr an die Unschuld dieses Mannes glaubtet. Fortan durfte er unter euch als Krieger in der Armee kämpfen. Die Ival haben euch diese Geste niemals vergessen, Ba - shtie.., Areos!«
»Aha.., ich war also ungehorsam gegenüber dem König, das war dann ja wohl keine große Leistung. War Bental sehr verärgert darüber?« fragte er. Antarona zuckte unwissend mit den Schultern.
»Was sollte er tun, Ba - shtie.., die Ival, und nicht nur jene der großen Täler, hatten euch als Helden gefeiert! Was hätte er sich mehr wünschen können?« Sie blickte ihn liebevoll, aber zweifelnd an.
»Ba - shtie.., ihr wisst das alles nicht mehr? Ihr kennt ihn doch, den Mann, der durch euch leben durfte und seinem König fortan ein treuer Krieger war.., bis zu diesem Tage? Antarona forschte in Bastis Gesicht nach einer Erinnerung.
»Genrath.., der Hauptmann der inneren Wache?« fragte Sebastian vorsichtig und unsicher. Antarona schüttelte verzweifelt den Kopf.
»Ihr wisst es wirklich nicht mehr!« stellte sie enttäuscht fest. »Es war Arrak, welcher heute der Führer der Windreiter ist, Ba - shtie.., und euch immer noch treu ergeben!« Sebastians Blick schweifte ein paar Wochen zurück...
»Arrak.., ja natürlich... Ich muss schon sagen, dann war es eine gute Tat, ihn vor dem Urteil des Königs zu bewahren!« stellte er nachdenklich fest.
»Ja, Ba - shtie.., so sehen es auch die Ival.«, bestätigte ihm seine Frau. Die Ival! Sebastian kam ein Gedanke, den er für eine sehr gute Idee hielt, ignorierte aber seine warnende, innere Stimme. Zu groß war im Augenblick sein Höhenflug, als dass er sich noch auf die Vernunft besinnen konnte.
»Wollen wir noch einmal eine gute Sache tun und etwas ganz Verrücktes machen.., für die Ival, mein Engelchen?« fragte er Antarona, die ihn verblüfft ansah. Er schnappte sich spontan ihr Handgelenk und zog sie einfach mit sich zum Fenster.
Draußen war die Menschenmenge inzwischen auf das Doppelte angewachsen. Das konnte mittlerweile auch dem König nicht mehr verborgen geblieben sein. Anscheinend ließ er seine Untertanen aber gewähren, vielleicht kam ihm ein wenig Beliebtheit beim Volk gerade recht, möglicherweise hoffte er damit sogar, die allgemein schlechte Stimmung bei den Ival wieder etwas anzuheben.
Sebastian suchte nach einem Riegel, oder einem Griff, mit dem sich das Fenster würde öffnen lassen, doch er fand nichts der Gleichen. Offenbar waren die Scheiben direkt in die steinerne Öffnung eingelassen. Ein dünner Rahmen, vermutlich aus Blei, hielt das Glas in einer Nut in der Mauernische fest eingeklemmt.
Aber so etwas hielt den Einfall eines Sebastian Lauknitz nicht auf! Er griff Antarona in die schmale Hüfte und hob sie mit einem Schwung auf das breite Fenstersims, so dass sie direkt vor der großen Glasscheibe stand. Dann zog er sich einen Hocker heran, kletterte selbst hinauf, stellte sich neben sie und winkte den Menschen auf dem Hof zu.
So, wie die Sonne ins Fenster schien, mussten sie das bunte Wappen auf seinem Hemd deutlich erkennen, ebenso, wie Antaronas Kleid, das sie im strahlenden Licht nicht mehr nur wie eine Prinzessin aussehen ließ, sondern schon wie ein Engel, oder eine Elsire.
Zunächst geschah gar nichts. Die Leute unter dem Fenster standen mit offenen Mündern da, starrten erwartungsvoll herauf, schwiegen und warteten. Sebastian hatte eine andere, euphorischere Reaktion erwartet. Wie sollte er nun diese peinliche Situation retten?
»Ba - shtie.., das haltet ihr für eine gute Sache?« schalt ihn Antarona laut. »Es ist in der Tat etwas Verrücktes.., das uns aber in den Kerker bringen wird, wenn uns nicht noch etwas wirklich Gutes einfällt«, zischte sie ihn wütend an und versuchte dabei trotzdem nach draußen zu lächeln.
Auch, wenn die Situation wieder einmal total verfahren war, himmelte Basti seine Frau fasziniert an. Sie wurde oft um so hübscher, je wütender sie war. Und plötzlich kam ihm der rettende Gedanke!
Er packte Antarona unversehens in der Taille, zog sie zu sich heran und küsste sie. Es entsprach nicht unbedingt seinem angeborenen Talent, doch er versuchte seine ganze, in ihm schlummernde Leidenschaft in diese Liebesbekundung, in diesen einen Kuss zu legen.
Er bemerkte, wie Antarona allmählich weiche Knie bekam, ihre Arme Halt suchend um seinen Hals schlang und den Kuss mit Hingabe erwiderte. Wieder einmal fand sich Sebastian tief berührt von dem Wunder, das diese sonst so gefährliche, nüchtern handelnde Kriegerin zu so viel Leidenschaft fähig war, und regelrecht zu glühen begann.
Es kam ihm wie eine halbe Ewigkeit vor, bis sie sich lösten und er wieder einen Blick nach draußen riskieren konnte. Es hatte sich nichts getan. Immer noch standen die Ival wie versteinerte Skulpturen auf dem Hof und sahen gespannt zu ihnen herauf.
Sebastian machte eine Geste, die Antarona den Leuten präsentierte und winkte ihnen wieder zu. Doch die Hoffnung, seinen Einfall in eine positive Sache verwandeln zu können schwand zusehends, als unerwartet ein einfach gekleideter Mann seinen Hut vom Kopf riss, ihn weit in die Höhe warf und etwas schrei, das Sebastian nicht verstand.
Sofort fielen andere mit ein und eine Sekunde später tobte der ganze Hof. Zunächst an eine Bedrohung geglaubt, erkannte Sebastian schließlich, dass sie jubelten. Sie freuten sich! Die Menschen dort unten jubelten ihm und Antarona zu, sie warfen ihre Kopfbedeckungen in die Höhe, begannen zu tanzen, sich gegenseitig zu umarmen und schienen in einem wahren Freudentaumel zu versinken.
Der Jubel lockte natürlich noch weitere Menschen an und Sebastian dachte an das, was ihm Wohlfried, der Büttel prophezeit hatte: ...ein jeder verließe sofort seinen Platz am Tagwerk! Und tatsächlich hatte Basti den Eindruck, das sämtliche Bewohner der Burganlage zusammengelaufen kamen. Mittlerweile war der Burghof, der gut und gerne sechzig mal siebzig Meter maß, zur Hälfte mit jubelnden, feiernden Menschen angefüllt, die in ihren Ehrenbekundungen nicht nachlassen wollten.
Immer wieder vernahm Sebastian den lang gezogenen Ausruf Je-haa-iiii, worauf alle in immer neue Ovationen ausbrachen. Fragend wollte sich Sebastian an Antarona wenden, die bezaubernd süß lächelte und ihr Volk damit noch mehr anheizte. Sie wusste genau, dass sie nicht hässlich war und sie war sich auch durchaus ihrer fraulichen Reize bewusst und kostete die Bewunderung der Ival in vollen Zügen aus.
»Was rufen die da ständig, ich kenne das Wort nicht«, fragte Sebastian nun direkt. Antarona antwortete, ohne ihren Blick von den euphorisierten Menschen abzuwenden:
»Es ist ein Ruf der Freude, der Achtung und der Liebe gleichermaßen, so etwas, wie ein Ruf des Glücks, Ba - shtie! Sie spüren eine Veränderung und sie haben neue Hoffnung.«
»Na ja...«, seufzte Sebastian, »...erst mal sehen, wie der König darauf reagiert. Wir sind noch nicht ganz hier und schon bringen wir Unruhe in dieses Gemäuer.«
Keine zwei Minuten später erlebten sie, wie König Bental auf so etwas reagierte. Völlig unerwartet kamen zwei Reihen Wachsoldaten in den Burghof gelaufen und umzingelten die jubelnde Menge. Es vollzog sich so schnell, dass es zunächst kaum jemand wahr nahm, denn aller Augen waren auf die Fenster gerichtet, hinter denen Antarona und Sebastian standen.
Auf einem mal waren die Soldaten überall. Doch entgegen Sebastians Befürchtung erhoben sie weder Hand noch Waffe gegen die begeisterten Menschen. Passiv, ja beinahe freundlich drängten sie die Leute durch das Portal zurück in den unteren Hof. Nur widerwillig ließen sich die neuen Anhänger des Areos und seiner Frau vom Burghof geleiten.
Sebastian war neugierig. Er durchschritt die beiden Zimmer und trat im Flur an das große Fenster, das zum unteren Hof zeigte. Beruhigt stellte er fest, dass alles friedlich blieb. Die Wachen redeten auf die Männer und Frauen ein, bis diese sich zerstreuten und wieder ihre Arbeit aufnahmen.
Gerade noch rechtzeitig schaffte er es zurück in das Zimmer, als Hekthur durch die Tür trat. Staunend erblickte er Antarona in dem neuen Kleid und wie auf Kommando wanderte seine Augenbraue nach oben. Das war aber schon die einzige Regung, zu der er sich hinreißen ließ. Über den Menschenauflauf auf dem Burghof verlor er kein einziges Wort. Statt dessen verkündete er in sachlichem Ton:
»Seine gütige Hoheit wünscht euch jetzt zu sehen, Herr.., ebenso diese.., eure...« Er sah mit geringschätzigem Blick auf das Krähenmädchen und traute sich offensichtlich nicht, sie irgendwie zu bezeichnen, oder namentlich zu erwähnen. Anscheinend nah er Sebastians Warnung wörtlich.
»Antarona ist ihr Name, Hekthur...«, half ihm Sebastian auf die Sprünge, »...beim Volk wird sie auch Sonnenherz, oder das Krähenmädchen genannt.«
Glaubte der Hofprotokollmeister schon, Sebastian ließ es bei diesem Hinweis bewenden, so hatte er sich geirrt. Bevor er sich wieder der Tür zuwenden konnte, fuhr Sebastian in schärferem Ton fort:
»Und im übrigen, Hekthur, ist sie meine Frau.., und ihr werdet sie künftig auch als die solche behandeln und es ihr gegenüber niemals wieder an entsprechendem Respekt mangeln lassen, sonst verspreche ich euch, werdet ihr noch eine weitere Veränderung erfahren!«
Welcher Art diese Veränderung sein sollte, ließ Sebastian bewusst offen. Ihm war ohnehin klar, dass er sich weiter aus dem Fenster der Macht gelehnt hatte, als gesund war. Sollten dem König auch nur die geringsten Zweifel an der Echtheit seiner Person kommen, so fanden sie sich wahrscheinlich drei Stockwerke tiefer wieder, in feuchter Dunkelheit und bei Wasser und Brot.
»Nun dürft ihr voran gehen, Hofprotokollmeister, ich denke, seine gütige Hoheit wird schon ungeduldig warten«, forderte ihn Sebastian abschließend auf. Ohne weitere Mimik oder Gestik wandte sich Hekthur zur Tür und ging ihnen voran auf den Flur.
Sie folgten dem Gang entlang einer großen Fenstergalerie, vorbei an einem mächtigen Treppenturm, über einen breiteren Gang in ein längliches Zimmer, in dem ein geradezu gigantischer, gemauerter Kamin stand. Wenn dieses Ding beheizt wurde, dachte Basti, so musste das Zimmer zur Sauna werden.
Hekthur öffnete bedächtig eine zweiflüglige, geschnitzte Tür, ließ Antarona und Sebastian draußen stehen und trat in gebeugter Haltung ein. Die beiden wartenden hörten hallende Stimmen, wie durch ein Megaphon gesprochen.
»Euer Hoheit.., die Abgesandten des Val Mentiér.., äh.., euer...« Eine ruhige, aber kräftige, sehr besonnen klingende Stimme unterbrach die von Hekthur:
»Wollt ihr sie bitte hereinführen, Hekthur.., und lasst etwas für den Gaumen und einen guten Trunk kommen, wenn ich bitten darf.« Sebastian hörte Schritte. Der Hofprotokollmeister war wohl im Begriff zurück zu kommen, als ihn die Stimme noch ein mal aufhielt.
»Ach.., und Hekthur.., meine Empfehlung an den Küchenmeister und an euch selbst... Ich werde morgen ein Fest geben, die angesehenen Bürger Falméras, die Vertretung der Oranuti und die führenden Krieger und Bediensteten, Empfang im Audienzzimmer, Gelage im Tafelsaal.., und wollt ihr mir bitte den Schreiber schicken!«
»Wie eure gnädige Hoheit wünschen«, hörten sie ihn antworten und dann stand er auch schon wieder vor ihnen. Sebastian war sich sicher, dass Bental sie bewusst hatte alles mit anhören lassen. Hekthur machte eine Geste, ihm zu folgen und ging voran. Drei Schritte hinter der Tür drehte er jedoch um, verließ den Raum und schloss die Tür hinter sich. Sebastian und Antarona waren nun auf sich gestellt und erwarteten das Unbekannte.
Sie standen in einem riesigen Saal, dessen Decke von zwei dicken, reich verzierten Säulen mit Inschriften in Ival getragen wurde. Der Saal war zur halben Höhe mit dunklem, rotbraunem Holz vertäfelt, das scheinbar in die Wände eingelassene, große Zierbögen trug.
Die Zwischenräume waren mit bunten Ornamenten und Wappen bemalt, während in den Bögen goldene Schriftzeichen der Ival auf lachsfarbenem Grund glänzten. Die Decke wies die gleiche Vertäfelung auf, wie die Wände und wirkte dadurch trotz ihrer Höhe etwas gedrückt.
An der hinteren und linken Seite des Raumes befanden sich eine Reihe Bogenfenster durch die das Licht herein brach und die beiden Eintretenden blendete. Nur schemenhaft erkannte Sebastian eine große, lange Tafel hinter der zweiten Säule, an der fünf bis sechs Männer saßen, die sich nun langsam erhoben. Dahinter, direkt vor der Fenstergalerie stand eine einzelne, nicht sonderlich große, aber schlanke Gestalt, wie eine Schattenfigur.
Antarona und Sebastian gingen zögernd und unsicher, mit vorsichtigen Bewegungen weiter in den Saal hinein, als plötzlich die silhouettenhafte Figur ihre Arme ausbreitete und ihnen mit Würde rasch entgegen schritt.
»Areos.., mein Sohn.., die frohe Kunde hat mein Herz so laut schlagen lassen, dass es bis in das Reich der Götter zu hören war!« König Bental rauschte heran und warf seine Arme um Sebastian, als wollte er ihn erdrücken. Dann schob er ihn auf Armlänge von sich fort und seine Hände hielten seine Schultern gepackt, während er seinen vermeintlichen Sohn aufmerksam und forschend musterte.
»Lasst euch ansehen, Sohn.., in der Tat, ihr seid es.., den Göttern sei der Dank... Nur.., ein wenig dünn seid ihr geworden.., na ja, das werden wir ändern!« König Bental war schlank und kaum größer, als Sebastian selbst. Er trug keine Krone und auch kein graues Haar, wie Sebastian zunächst vermutet hatte.
Bental stand vor ihm in einem prunkvollen Waffenrock aus dunkelbraunem Leder, das mit goldenen und silbernen Applikationen verziert war. Auf dem ledernen Brustteil prangte das goldene Wappen Falméras auf silbernem Schild, das Meisterstück eines fähigen Goldschmieds, wie Sebastian bewundernd feststellte.
Ein schwerer, purpurner Umhang, der vorn durch eine dicke Kette und als Schließe ebenfalls mit einem Wappen auf seinen Schultern gehalten wurde, war am Kragen und an den Rändern mit einem schwarzen Pelzband abgesetzt. Dazu trug er elegante schwarze Reitstiefel, die durchaus der Mode aus Sebastians Welt entstammen konnten.
Auffällig blitze ein mit kostbaren Steinen besetztes, schweres Schwert unter seinem Umhang hervor. Sah es auch noch so übertrieben dekorativ aus, Sebastian war davon überzeugt, dass sein Träger vorzüglich damit umzugehen wusste.
Immer noch wurde Sebastian von dem freundlichen, aber mit scharfer Wachsamkeit blickenden Bental begutachtet, wie das gerade erworbene Gemälde eines berühmten Künstlers. Der König machte keinen Hehl daraus, dass er trotz seiner väterlichen Begrüßung ganz sicher gehen wollte, auch wirklich seinen wahren Sohn in seinen Armen zu halten.
Sein Gesicht verriet Dankbarkeit und aus seinen wachen Augen entwichen ein paar Freudentränen. Doch alle Freude vermochte nicht die Züge eines wachen Verstandes und einer eisernen Entschlossenheit zu überspielen. Eine würdige Souveränität blieb trotz sämtlicher Gefühle erhalten. Sebastian spürte eine ruhelose Dynamik in diesem Mann, die ihn wesentlich jünger erscheinen ließ, als er wohl war.
Bental hob leicht seine für einen Mann fein geschwungenen Augenbrauen, die so schwarz waren, wie sein gescheiteltes Haar, das ihm widerspenstig und zerzaust bis in die Stirn hing. Wäre er Sebastian irgendwo anders begegnet, so hätte er ihn sich als einen verwegenen Feldherrn, oder als Piratenkapitän vorstellen können, nicht aber als einen König.
Endlich ließ Bental ihn los, würdigte Antarona aber noch immer keines Blickes. Fordernd zog er Sebastian mit sich, quer durch den Saal zum hinteren Ende an der Fenstergalerie.
»Einige meiner Berater werdet ihr noch kennen, mein Sohn«, begann er und stellte ihm einen nach dem anderen der Anwesenden vor, »Omanistu, mein persönlicher Berater und Freund.., der Stadthalter Gillenhardt, Elwha, der die Lehren Talris behütet, Tieton, mein oberster Kriegsrat und...«
Sebastian hörte nicht mehr richtig zu. Der ganze Kopf schwirrte ihm und er suchte den Blick Antaronas, die völlig ausgegrenzt und allein gelassen noch im vorderen Teil des Saales stand. Sie gehörte zu ihm, doch Bental schien das zu ignorieren.
Was, wenn dieser Mann, der so gar nicht Sebastians Bild von einem König entsprach, gar nicht Bental war? Wenn man ihm nun jemand anderen zum Empfang entgegen stellte, um ihn zu testen, um herauszufinden, ob er tatsächlich Areos von Falméra war, oder ein Schwindler und Hochstapler? All dies schoss ihm durch den Kopf, während er Bental und seine Berater nur noch wie durch einen tonlosen Schleier, wie stumme Pantomime wahrnahm.
»...und Kalvei, mein Medicus der alten heilenden Künste«, schloss Bental endlich den Kreis seiner Vertrauten. Sebastian wurde klar, dass er das Gespräch lenken musste, ansonsten konnte die Tarnung seines Aussehens sehr schnell auffliegen und der König letztlich doch noch bemerken, dass er gar nicht sein Sohn war.
Antarona hatte ihm im Glauben an seine Amnesie zwar alles eingepaukt, was sie über Familie und Erbfolge des Königs wusste, hatte ihn sogar mit den Protokollen und Gepflogenheiten des Hofes vertraut gemacht, soweit sie diese selbst kannte, und hatte ihm von den Begebenheiten und Gerüchten aus dem Königshaus erzählt, die unter dem Volk mehr oder weniger bekannt waren.
Dennoch konnte er jederzeit in eine Falle tappen, wenn er eine Frage beantworten musste, deren Antwort lediglich Bental oder einem seiner Vertrauten bekannt war.
»Ich bitte euch, gütige Hoheit und Vater, widmet euch einen Augenblick jener, welche mit mir verbunden ist, durch den Willen der Götter Talris und durch den Segen der Elsiren!« ergriff nun Sebastian rasch das Wort, bevor der König wieder die Initiative übernahm.
Ohne eine Antwort Bentals abzuwarten, ging er zu Antarona zurück, die noch immer wie verloren und mit den Erkennungszeichen des Achterrats unter dem Arm da stand. Er legte ihre Hand auf seinen Arm, so, wie sie es ihm in unzähligen Lehrstunden gezeigt hatte und geleitete seine Frau in den Lichtkreis der Fenster und unter die Augen Bentals und seiner königlichen Berater.
Antarona verbeugte sich tief vor seiner Hoheit, legte dann Schwert, Schriftrolle und Zeichen des Achterrats auf den Tisch und trat zur Seite. Bental sah zu seinen Beratern hinüber, die ihm sogleich die Echtheit der Zeichen bestätigten und entrollte die Nachricht.
Ein paar Minuten lang vertiefte er sich in das Schriftstück und man hätte den Fall einer Nadel hören können, so still wurde es. Dann sah er auf, musterte Antarona und Sebastian, als versuchte er ihre Stimmung zu erraten und reichte schließlich die Rolle seinen Beratern, die sie auf dem Tisch glatt strichen und ihre Köpfe darüber zusammen steckten.
Bental verschränkte inzwischen die Hände auf dem Rücken und begann vor dem blendenden, einfallenden Licht der Fensterfront auf und ab zu gehen. Nach einer Weile blieb er vor einem der Fenster stehen, wippte auf den Zehen leicht auf und ab und blickt nachdenklich hinaus.
Einer der Vertrauten ließ irgendwann ein deutliches Räuspern vernehmen. Abrupt wandte sich der König seinen Beratern zu, trat an den Tisch und hörte sich ihre Meinung an. Antarona und Sebastian konnten trotz der Ruhe im Raum nichts von dem verstehen, was dort gesprochen wurde. Nur ab und zu richtete der eine oder andere seine Blicke auf sie und Sebastian konnte sich an fünf Fingern abzählen, worum es ging.
Ein paar Minuten später erhoben sich die Vertrauten erneut von ihren Stühlen und schlichen einer nach dem anderen aus dem Saal, lediglich Elwha, der Gelehrte Talris blieb. Leise schnappte die Tür ins Schloss und übergab den Saal einer unnatürlichen, angespannten Stille. König Bental hatte sich wieder seinem Lieblingsfenster zugewandt, starrte hinaus und schwieg.
Sebastian fing unter der belastenden Spannung leicht an zu zittern und begann, tausende von Staubpartikeln, die durch das herein strahlende Licht sichtbar wurden, mit seinen Augen zu verfolgen, um sich abzulenken und wieder zu beruhigen. Es wirkte aber nur oberflächlich. Innerlich war er zum Bersten angefüllt mit Angst, Neugier und Lampenfieber.
Antarona stand neben ihm und zum ersten Mal spürte Basti bewusst auch ihre innere Unsicherheit. Der dort vorn, so redete er sich ein, war auch nur ein Mensch, mit all den dieser Spezies anhaftenden Stärken und Schwächen! Aber es war eben der König, der mächtigste Mann auf dieser großen Insel, der Herr über Tod und Leben!
Bental stand lange Zeit als schwarze Silhouette vor dem hellen Bogen des Fensters und Sebastian hatte schon den Eindruck, als wollte er sie beide zermürben und demoralisieren, als er sich plötzlich und unerwartet umdrehte und ein paar Schritte auf sie zu ging, gerade so weit, dass ihm keine Regung ihres Ausdrucks entgehen konnte und blieb mit nach hinten verschränkten Händen vor ihnen stehen.
»Ihr habt euch also mit dieser Frau hier verbunden, mein Sohn«, stellte er rekapitulierend fest und seine Augen erforschten abwechselnd Antaronas und Sebastians Gesicht. Gewichtig nickend fuhr er fort und sein Blick bezog nun auch Elwha in die Unterredung mit ein.
»Areos.., mein eigener und einziger Sohn.., dem seit frühester Jugend die Gebräuche der Könige der Ival bekannt sind, der in den Lehren Talris und seiner Gesetze mehr geschult wurde, als jeder andere in diesem Land, und der den Wunsch seines Vaters und Königs kannte...«, er unterbrach seine Rede, welche wie die Verlesung einer Anklageschrift klang und sah auffordernd zu Elwha hinüber, bevor er wieder Antarona und Sebastian ins Visier nahm.
»Mein Sohn.., ihr habt euch dazu hinreißen lassen, euer Herz mit jenem dieser jungen Frau zu verbinden, ohne mich, euren Vater und euren König dazu anzuhören!« Bental sah Sebastian streng an, als forschte er nach der Ursache einer solchen Subordination.
»Verzeiht mir, eure gütige Hoheit, mein Vater«, versuchte Basti sich zu verteidigen, »aber ich liebe sie nun mal und sie war die einzige, die stets neben mir stand und mich...«
»Schweigt!« unterbrach ihn Bental mit scharfem Ton, »oder habt ihr auch noch vergessen, wie ihr euch eurem Vater und König gegenüber zu verhalten habt?« Er wandte sich zornig um und wanderte drei bis vier Mal vor Sebastian und seiner Frau auf und ab, bevor er seinem Sohn mit lauerndem Blick wieder gegenüber trat.
»Ihr seid mein einziger Sohn und als Vater mag ich euch diese unüberlegte Dummheit wohl vergeben.., aber als Nachfolger auf meinem Thron...?«
Sebastian wollte etwas erwidern, doch Bental schnitt ihm mit einer schnellen Handbewegung schon im Voraus das Wort ab.
»Ich sagte, ihr sollt schweigen!« Wieder machte er eine kurze Pause. »Was habe ich euch gelehrt, mein Sohn, in den vielen Stunden die wir nach eurer Mutter Tod am Feuer beisammen saßen, oder in den Pausen, da ich euch den Schwertkampf lehrte... Ihr seid Areos, der Sohn des Königs... Ihr verteidigt euch nicht, niemals.., sondern steht zu eurer Tat.., und zwar immer!«
Er trat dich an Sebastian heran, kniff die Augen etwas zusammen und begutachtete das bunte Wappen auf dem Hemd seines Sohnes. Er deutete mit einem knappen, unpersönlichen Nicken zu Antarona, ohne seinen Blick von Sebastian abzuwenden.
»Hat sie das gemacht?« fragte er skeptisch und warf einen vernichtenden Blick zu Antarona hinüber. Sebastian nahm all seinen Mut zusammen und versuchte seinen ganzen Stolz in seine Stimme zu legen.
»Ja, das hat sie gemacht.., und noch vieles mehr!« erwiderte Sebastian und hielt nun seinerseits die Zeit für gekommen, dem König einiges mitzuteilen.
»Als ich aus dem Reich der Toten kam, hatte ich so gut wie alles vergessen. Sie hat mir alle Erinnerungen wieder gegeben, sie hat mich die Worte Talris gelehrt, sie hat mir wieder beigebracht, wie man das Schwert führt, sie hat mich die Sprache und die Schrift...«
»Dies alles will ich nicht wissen«, wurde er abermals barsch von Bental unterbrochen. Wieder wandte sich der König ab, beschritt, immer noch die Hände hinter sich verbergend, einen großen Kreis und baute sich erneut vor Sebastian auf.
»Ist sie eine Oranuti?« Seine Frage kam knapp und frostig. Antarona blickte unterdessen zu Boden, ließ es geschehen, dass ihr die langen, schwarzen Haare ins Gesicht fielen und Sebastian hatte den Eindruck, dass sie sich beinahe dahinter versteckte.
»Nein.., sie ist eine stolze Kriegerin der Ival, mein Vater, und euch treu ergeben. Ihr Herz ist so groß, dass die Liebe zu ihrem Volk, die Liebe zu mir und die Liebe zu unserem Land gleichermaßen hinein gehen. Sie ist so mutig, wie der kühnste eurer Soldaten, Vater und sie würde ihr Leben geben für euch und den geringsten dieses Volkes!«
»Es gibt keine Kriegerinnen, keine Frauen, die bei den Ival den Kampf führen«, stellte Bental starrsinnig fest und begann wieder seine Fünfmeterwanderung auf und ab. Unvermittelt blieb er direkt vor Antarona stehen und musterte sie mehrmals vom Kopf bis zu den nackten Füßen, wie ein General eine Einheit Soldaten inspizierte.
Fest heftete er seinen Blick auf ihr von den Haaren bedecktes Gesicht, als könnte er den schwarzen Vorhang mit seinen Augen durchdringen. Ohne sich von ihr abzuwenden fragte er Sebastian:
»Was, bei den Göttern, ist diese kleine, dünne Frau, mein Sohn, welche den Elsiren gleicht und kaum dazu geeignet, euch einmal viele Thronfolger zu gebären.., wer ist sie, dass ihr sie so liebt, begehrt und ihr Ehre noch vor mir, eurem Vater bezeugt, und deren Verbundenheit mit euch ihr euch anmaßt, noch über die Traditionen und den Stand unseres Geschlechts zu stellen?«
Sebastian machte einen Schritt zur Seite, stellte sich so dicht neben sein Krähenmädchen, das er ihre zitternden Schultern berührte und nahm ihre Hand in die seine. Ohne den König aus den Augen zu lassen, drückte er Antaronas Hand aufmunternd und ließ sie spüren, dass er über alle Zwänge hinweg zu ihr stand. Was er anschließend seinem Vater, dem König von Volossoda und Falméra sagte, klang wie eine feierliche Offenbarung.
»Sie ist keine Oranuti, mein König und Vater.., aber sie ist die Frau, welche die Götter mir zugedacht haben und deren Herz unter dem unantastbaren Siegel der Elsiren mit dem meinen verbunden ist, bis an das Ende unserer Sonnenläufe. Und sie wird von mir, Areos, geliebt, geachtet und beschützt mit meinem Schwert und mit meinem Leben, ganz gleich, wer oder was sich gegen ihr Wohl richtet, oder ihr nach Leib oder Leben trachtet!«
Der König stand still auf einem Fleck und machte keine Anstalten mehr, auf und ab zu wandern. Statt dessen drangen seine herrischen Augen tief in Sebastians Selbstwertgefühl ein und versuchten es von innen heraus ins Wanken zu bringen. Leise, jedoch eindringlich und lauernd vernahm er Bentals Stimme, die neben den Worten auch Härte und Entschlossenheit vermittelte.
»Areos, mein einziger Sohn, will mir, seinem Vater und König erklären, dass er für dieses wenig genährte, wohl auch ohne mit Werten bedachte Weibsstück freiwillig bereit ist, wieder in das Reich der Toten zu gehen.., ist es das, was ich da höre, Sohn?«
»Wenn ihr es so auszudrücken beliebt...«, bestätigte Sebastian, »...diese Frau wird an meiner Seite bleiben und ich werde für sie leben. Doch sollte ich für sie sterben müssen, so werde ich dieses Urteil voller Liebe und voller Stolz annehmen! Ja.., eure gütige Hoheit, wenn es sein muss, gehe ich für sie zurück in das Reich der Toten!«
König Bental nickte gewichtig und anerkennend, schien aber sonst kein Stück von seiner Position abzuweichen.
»Ist diese Frau das wert, was ihr opfern wollt, mein Sohn...«, dabei wies er mit einem Kopfnicken auf Antarona, »...sagt mir, Areos, würde sie das gleiche Urteil auch für euch ertragen, ist sie eure Liebe und Bewunderung wert, teilt sie eure Bereitschaft, der großen Aufgabe, der Verantwortung und der Pflicht an unserem Volk, den Ival zugunsten und unter Not der Verbundenheit eurer Herzen zu entsagen?« Bental sah Sebastian eindringlich und forschend an.
Plötzlich hob Antarona ihr Antlitz, warf mit einer einzigen, schnellen und kessen Kopfbewegung ihre Haare nach hinten und in ihren Augen sah Sebastian das schon bekannte, gefährliche Blitzen aufleuchten.
»Ihr könnt mich fragen, eure gütige Hoheit, ich kann auch sprechen...«, warf sie sich mit ihren Worten und dem Mut einer Tigerin in den Dialog, »...Ja, eure Hoheit.., ich werde ohne zu klagen in das Reich der Toten gehen, wenn Areos dafür lebt! Und nein.., ich werde dennoch niemals bereit sein, die Befreiung unseres Volkes vom Joch eures Bruders hinter die Gefühle meines Herzens zu stellen. Sonnenherz wird jedoch ebenso wenig die Gesetze Talris missachten, den Segen der Elsiren und den Willen der Götter brechen und eurem Sohn, Areos, die Treue des Herzens versagen!«
Bental war zum ersten Mal seit ihrer Begegnung sprachlos. Offenbar tief beeindruckt von Antaronas Bekundung, musste er sich erst ein paar Mal räuspern, bevor er seine Stimme wieder fand.
»Nun höret denn...«, sprach er, ohne sich noch einmal aus der Fassung bringen zu lassen, »...ich habe an diesem Tage meinen verschollenen Sohn, Areos von Falméra wieder bekommen und ich werde ihn mir von niemandem wieder fort nehmen lassen, das steht vor allem fest!« Er ging wieder kurz auf und ab, bevor er weiter ausführte:
»Ihr beide, Tochter der Ival und Areos, mein Sohn, liebt einander und seid mit den Herzen durch die Elsiren verbunden, wofür es niemanden gibt, welcher dies bezeugen könnte...« Sebastian wollte protestieren, doch Bental gebot ihm mit einer machtvollen Armbewegung, zu schweigen. Sachlich und nüchtern fuhr er fort:
»Doch es gibt nun einmal zwei Gebote der Götter, welche sich entgegen stehen. Es ist uns zur Reinigung unseres Geschlechts von den Göttern bestimmt, nur eine Oranuti auf der rechten Seite des Throns sitzen zu lassen. Ebenso gilt das Gesetz der Götter, eine Verbundenheit der Herzen unter dem Schutz der Elsiren, als Wille der Götter zu achten und nicht wieder zu brechen, auch von mir, dem König nicht.« Bental seufzte tief, raufte sich die Haare und konzentrierte sich wieder auf seinen Vortrag.
»Wie ihr schon selbst weise spracht, Tochter der Ival, steht das Wohl des Volkes vorn an, so dass es denn mehr wiegt, als das Wohl der Verbindung meines Sohnes und einer Tochter der Ival, denen kein Menschenwesen den Segen der Elsiren bezeugen kann.« Und etwas ruhiger erklärte er Sebastian:
»Areos, mein Sohn.., es gibt nun einmal dieses Gebot, die Tradition eine Oranuti auf den Thron von Volossoda und Falméra zu bringen, und Elwha dort drüben, meine Berater, das Volk und nicht zu vergessen die Oranuti Fürsten, die ihre Töchter in Falméra halten, machen mir die Luft heiß, wenn ich sie der Missachtung strafe!«
»Und ich bin bereits mit einer Frau.., mit einer Ival verbunden und werde sie niemals aufgeben, für so eine dicke, hässliche Oranuti und ihre Sippe, die ihre Nasen höher tragen, als diese Burg in den Himmel ragt!« begehrte Sebastian lautstark auf.
»Dann gibt es da noch den Weg...«, setzte Bental ungeniert seine Gedanken fort, »...dass die Tochter der Ival, unter ihrer Verpflichtung dem Volk geboten, euch aus der Verbindung entlässt. Elwha hier...«, damit winkte er seinen Berater heran, »...mit allen Lehren Talris vertraut, versichert uns, dass es unter diesem Ansinnen vor den Göttern vertreten werden kann.«
Sebastian sah Bental entgeistert an und war fast den Tränen nahe, als er sich zu einem letzten verzweifelten Versuch durchrang, den König zu überzeugen, dass er gerade dabei war, einer völlig veralteten Tradition das Glück zweier Menschenwesen zu opfern.
»Geziemt es etwa dem Stand eines Königs, der den Göttern selbst entstammt, ihre Gebote nach seinem Gutdünken zu wandeln, wie es ihm beliebt? Wenn das so ist, dann werde ich mit meiner mir verbundenen Frau den Hof verlassen und niemals wieder zurückkehren!« drohte er aufgebracht.
»Ihr verlasst diesen Hof nicht, mein Sohn.., habt ihr das nicht verstanden? Ihr verlasst Falméra nur, wenn ihr in eine Schlacht zieht, oder an das Tor zum Reich der Toten getragen werdet!« verkündete Bental mit harter Stimme.
»Was, eure gütige Hoheit, würde geschehen...«, mischte sich noch einmal Antarona ein, »...wenn Areos, euer Sohn so lange dem Thron entsagte, bis er selbst einen Sohn gezeugt und groß gezogen hat, der des Throns von Volossoda und Falméra würdig ist?« Betretene Stille. Sebastian sah zu Bental, dieser wiederum suchte ratlos den Blick Elwhas.
Ehe der weise, alte und knöchern wirkende Mann mit den langen grauen Haaren und dem beinahe ebenso langen Bart zu diesem Gedanken Stellung beziehen konnte, gingen Antaronas Überlegungen weiter.
»Der Thron bliebe in eurer Hoheit Hand, bis der Erbe des Throns zu seiner Bestimmung bereit ist. Wird er wiederum eine Oranuti zu sich auf die rechte Seite des Throns nehmen, so verfällt der Anspruch Torbuks oder Kareks auf das Erbe erneut.«
Die Stille, die plötzlich den Saal beherrschte, war unheimlich. In Sebastian aber keimte neue Hoffnung, seine Antarona behalten und dennoch nicht in den Kerker wandern zu müssen.
Elwha, der bisher unter den fordernden Blicken seines Herrn nachgedacht hatte, meldete sich nun ebenfalls zu Wort:
»Ja.., das dürfte die Götter von Talris besänftigen...«, krächzte er leise, »...in den alten Tafeln von Talris steht kein Gebot, das ein Übergehen eines Thronerben verbietet, welcher selbst einen Erben nachweisen kann.« Der Alte mit dem Aussehen und dem langen Umhang eines Zauberers, schlurfte heran und fügte noch hinzu:
»Ich werde sogleich hinab steigen, in die Gewölbe und in die Rollen von Talris sehen, welche den Tafeln der Götter entstammen. Doch wird sich kaum etwas finden, das den Vorschlag der klugen Tochter der Ival widerspricht!«
»Areos.., mein Sohn.., woher nur habt ihr diese Frau?« wandte sich Bental wieder Sebastian zu, nachdem er die Worte des Weisen vernommen hatte.
»Die Schönheit und Gestalt einer Elsire, das Herz eines Gors und der Kampfesmut einer Felsenbärin.., dazu die Klugheit der Schwarzvögel! Wer, bei den Göttern ist sie, wollt ihr es mir nicht verraten?«
Sebastian, stolz auf seine wunderbare Frau und heilfroh, eine Lösung gefunden zu haben, ohne Antarona zu verlieren, verkündete euphorisch:
»Sie ist Antarona, auch Sonnenherz oder Krähenmädchen genannt, Kriegerin der Ival aus Fallwasser im Val Mentiér, Tochter des Hedaron, des Holzers. Sie war bislang die einzige, die Torbuk und Karek widerstanden hat und wir haben Quaronas bereits gezeigt, dass die Täler bereit sind.., für den König.., für euch.., eure gütige Hoheit...«
Sebastian unterbrach seine Erklärung, denn er sah, wie sich die Miene Bentals langsam verändert hatte. Jedwede Farbe war aus seinem Antlitz verschwunden. Der König stand da, als hätte er unverhofft einen Geist erblickt, der ihm mit dem Tode drohte. Er starrte einen Augenblick lang Antarona an, dann schien er sich wieder etwas zu fangen. Doch mit einer plötzlichen Unsicherheit, die Sebastian Angst machte, fragte er:
»Antarona.., ihr seid die einzige Tochter des Hedaron, Holzer zu Fallwasser?« Sebastians Frau nickte verwundert, denn auch ihr war die Wandlung Bentals aufgefallen.
»Ja, euer Hoheit, das einzige Kind des Hedaron neben meinem Bruder Tark, welcher der Behüter ist, des Tores zum Reich der Toten.« König Bental wollte sich wieder seinem Fenster zuwenden, kam aber noch mal zurück und sah Antarona verlegen, ja beinahe schon entschuldigend an.
»Was ist mit eurer Mutter, Tochter des Hedaron, was wisst ihr von eurer Mutter«, fragte er mit einer Aufregung in der Stimme, die nun selbst Elwha veranlasste, skeptisch aufzublicken.
»Meine Mutter wurde von Torbuks Soldaten getötet, als ich noch ein Kind war, eure Hoheit«, antwortete sie wahrheitsgemäß, »seither wuchs ich bei meinem Vater auf, der mich auf Geheiß des Achterrats zu euch sandte.«
»Ach ja.., die Bittschrift.., die Bitte des Achterrats, selbstständig gegen meinen tyrannischen Bruder vorgehen zu dürfen...« Mit fahriger, kraftloser Geste nahm Bental die Schriftrolle des Achterrats zur Hand und ließ sie achtlos wieder auf den Tisch gleiten.
»Euer gütigen Hoheit ist nicht wohl?« fragte Elwha vorsichtig. Doch der König hörte ihn gar nicht mehr, schlich zum Fenster, stützte sich schwer mit den Händen auf dem Sims ab und starrte hinaus. Antarona und Sebastian sahen sich fragend an und er zuckte unwissend mit den Schultern.
Auf einem Mal drehte sich Bental um, blieb aber vor dem blendenden Licht des Fensters stehen, als befürchtete er, sein Gesicht preis geben zu müssen und rief durch den Saal:
»Omanistu soll sofort kommen, und ruft die Wenderin und die Saalwache!« Augenblicklich löste sich eine Figur aus der Verborgenheit einer Wandnische und eilte zur Tür. Bental sah Elwha an und befahl knapp und schroff:
»Ihr bleibt auch noch.., ich brauche womöglich euren Rat!« Wie apathisch wandte er sich wieder der Aussicht nach draußen zu und schwieg.
Elwha schlurfte zu seinem Stuhl zurück und setzte sich ächzend. Sebastian und Antarona hingegen standen in der Mitte des hinteren Saals wie bestellt und nicht abgeholt. Warten. Die Minuten vergingen wie Stunden und Sebastian musste sich zusammenreißen, um nicht im Stehen einzuschlafen.
Endlich hörten sie, wie sich die große Tür öffnete und mehrere Personen eilig heran kamen. Bental löste sich aus dem Gegenlicht seines Fensters und ging ihnen bis zur ersten Säule entgegen. Er sprach so leise mit den herbei Gerufenen, dass Sebastian nicht ein Wort verstehen konnte.
Kurz darauf kam der König zu Antarona und Sebastian zurück, gefolgt von Omanistu, seinem persönlichen Berater und einer ungefähr zwanzig bis achtundzwanzig Jahre junge Frau, die wohl aus dem Gesinde geholt worden war, denn sie trug die Kleidung einer Magd.
Bental schien wieder ganz der alte, seine plötzlich aufgetretene Unsicherheit, oder was es sonst gewesen sein mochte, war wie weggeblasen. Seine Stimme klang fest und sicher, so dass Kompromisse von vorn herein ausgeschlossen waren.
»Areos.., mein Sohn, ihr seid so überraschend auf Burg Falméra erschienen, es war mir nicht gegeben, Vorbereitungen zu eurer Rückkehr zu treffen. Wenn Talris erneut seinen Himmelsbogen beschreibt, wird sich euch Falméra in einem anderen Licht zeigen, jedoch dazu später mehr.« Er trat einen Schritt weiter auf Antarona zu und seine Stimme wurde eine Nuance freundlicher.
»Ihr seid sicher müde und hungrig von der langen Reise und wollt euch gewiss etwas frisch machen«, stellte er mehr fest, als dass er fragte, »ihr werdet alles bekommen, was ihr braucht!« Bental winkte die Bedienstete heran, die ihm gefolgt war.
»Sie nennen sie die Wenderin«, erklärte er kurz und knapp, »sie ist eine der Krone treu ergebene Kammerdienerin und steht nur euch allein Tag und Nacht zu Diensten. Wenn ihr einer Sache oder eines Bedürfnisses begehrt, so lasst es sie einfach wissen. Leider«, Bental setzte eine traurige Mine auf, »vermag das arme Geschöpf nicht zu sprechen.., doch sie versteht alles. Sie wird euch nun in eure persönlichen Gemächer führen und für euer Wohl sorgen! Areos wird noch bleiben, denn ich habe noch mit ihm zu sprechen, wenn ihr erlaubt.«
Damit machte der König eine auffordernde Handbewegung, das Kammermädchen verbeugte sich tief vor ihrer neuen Herrin und bedeutete Antarona, ihr zu folgen. Antaronas Augen suchten die Sebastians. Ein merkwürdiges Gefühl beschlich sie. Seit Wochen waren sie stets beieinander gewesen und nun konnte sie nicht bei ihm bleiben.
Sebastian kam zu ihr herüber und nahm sie in seine Arme. Er spürte plötzlich ihre warmen Tränen auf seiner Haut, konnte aber nicht nachvollziehen, dass Antarona das Gefühl hatte, sich für eine lange Zeit von ihm zu verabschieden. Es sprach gegen jede Vernunft, doch sie spürte, dass es ein Abschied war.
»Was ist«, flüsterte er ihr ins Ohr, während er sie fest an sich drückte, »du musst keine Angst mehr haben.., ich glaube der akzeptiert dich jetzt. Denke immer daran, dass du es warst, die ihm einen Ausweg gezeigt hat! Geh nur«, munterte Sebastian seine Frau auf, »lass dich ein wenig verwöhnen, mit einem Bad, mit gutem Essen... Ich denke nicht, dass es lange dauern wird, dann bin ich wieder bei dir und du kannst mir dann deine neuen Kleider vorführen, wenn du magst.«
Er drückte seine Lippen auf ihre und sie erwiderte seinen Kuss mit einer Heftigkeit, die ihre Angst und Sehnsucht gleichermaßen zum Ausdruck brachte. Antarona klammerte sich an ihn, als wollte sie ihn nicht mehr los lassen, und als würde es ein Abschied für immer sein, bis sie aus dem Hintergrund Bentals ungeduldiges Räuspern vernahmen.
»Was Hedaron und die Bitte des Achterrats betrifft, so werde ich mich mit meinen Vertrauten beraten und euch die Entscheidung zu einer späteren Zeit verlauten lassen. Geht nun, ich habe noch mit Areos zu reden!«
Sebastian sah zu, wie das Kammermädchen seine Antarona durch den Saal zur Tür führte. Dort wurden sie von einer anderen Dienerin und einer Wache in Empfang genommen. Dann fiel die Tür hallend zu und erneut breitete sich eine lastende Stille aus.
Der König ließ Sebastian stehen, wo er stand und ging mit seinen beiden Beratern zum Tisch hinüber. Sebastian wunderte, dass sie ziemlich erregt aufeinander einredeten, jedoch nicht einer von ihnen die Schriftrolle des Achterrats zur Hand nahm. Worüber sonst bereiten sie, wenn nicht über die erbetene, zeitlich begrenzte Autonomie Val Mentiérs?
Eine geraume Zeit später, Sebastian hatte nicht ein Wort von dem mitbekommen, was Bental mit seinen Beratern gesprochen hatte, entließ der König seine beiden vertrauten. Omanistu schritt, ohne Sebastian eines Blickes zu würdigen, aus dem Saal, während sich Elwha kurz in Sebastians Richtung verbeugte und hinter seinem Ratskollegen her schlurfte.
Bental drehte sich um und sah ihnen ungeduldig nach. Dann machte er ein aufforderndes Handzeichen zu einer dunklen Ecke neben dem Kamin hin.
»Ihr dürft euch ebenfalls zurückziehen, ich habe mit meinem Sohn zu reden, ich brauche euch nicht mehr!« Wie ein Schatten löste sich eine Gestalt aus der Ecke und verschwand in einer anderen Tür, die offenbar in einen Nebenraum führte. Sebastian war mit dem König allein, mit dem Herrscher eines Landes, von dem er nicht einmal wusste, wo genau es lag.
Bental ließ Sebastian in der Mitte des Saales stehen und wanderte, die Hände wieder hinter dem Rücken verschränkt, die Fensterfront ab, bis zu einem kleinen, vier mal vier Meter großen Erker, der mit vielen Fenstern in scheinbare Leere hinaus ragte und das Sonnenlicht regelrecht einfing.
Er sah stumm hinaus, als suchte er irgend eine Antwort irgendwo dort draußen, in den Weiten seines ausgedehnten Reiches. Dann drehte er sich um und trat bis vor die gedachte Linie zwischen dem Erker und dem Saal, so dass von seiner Gestalt vor dem blendenden Licht nur mehr eine schattenhafte Silhouette abzeichnete.
»Kommt zu mir heran«, befahl er in beinahe rüdem Ton. Sebastian gehorchte und ging langsam auf ihn zu.
»Das reicht.., ihr seid nah genug«, schmetterte das herrische Organ Bentals durch den stillen Saal. Sebastian erwartete, am Ton des Königs gemessen, noch einmal wegen seines beharrlichen Standes zu Antarona gerügt zu werden. Ebenso glaubte er aber, dass sich die Angelegenheit mit Antaronas Vorschlag zum Guten gewendet hatte und hoffte, Bental mit einer Geste des Dankes besänftigen zu können.
»Ich möchte die Gelegenheit nicht versäumen, eurer gütigen Hoheit und Vater zu danken, dass...« Weiter kam Sebastian nicht.
»Nennt mich nicht euren Vater, wenn wir allein sind!« schlug ihm die schneidende Stimme des Königs entgegen. Was sollte das nun wieder? Sebastian war völlig überrumpelt von der erneuten Sinneswandlung. Er blickte verstört auf die Schattengestalt vor dem Erker, die ihm immer größer vorkam.
Wie ein mächtiger, schwarzer Dämon stand der König vor Sebastian im Licht, das ihn die Augen zusammenkneifen ließ. Jede Reaktion Bentals bliebe dabei für ihn Überraschung, denn er konnte dessen Gesicht im Gegenschein nicht einmal erahnen. Mit etwas ruhigerem, aber nicht minder bedrohlichem Ton fuhr er fort:
»Wisst ihr.., manchmal muss auch der Herrscher eines Landes Entscheidungen treffen, die wider seinen Sinnen sind. Er muss selbst vor seinen engsten Vertrauten etwas vorgeben, was nicht ist, um seine Berater, sein Volk und manchmal auch die Götter bei Laune zu halten und um seinem Feind immer einen Schritt voraus zu sein! Ihr fragt euch, was diese Worte mit euch zu tun haben?«
Bental ließ seine Frage im Raum stehen, als erwartete er eine Antwort, sprach dann aber weiter, ohne eine Reaktion Sebastians abzuwarten.
»Nun.., wenn ihr euch das wirklich fragt, so seid ihr denn noch einfältiger, als ich zuerst annahm, was mich wiederum zu der Frage veranlasst, warum sich diese kluge Tochter der Ival, welche sich Hedarons Tochter nennt, dazu hergibt, euch so zu lieben und zu achten, als sie sich mit ihrem Herzen dem euren zu verbinden veranlasst sah.«
Er machte eine Pause und Sebastian war sich unschlüssig, ob er ihm die Gelegenheit einräumen wollte, sich zu äußern. Noch während er das zu ergründen suchte, setzte Bental seine einseitige Rede fort:
»Ihr seid aus dem Reich der Toten zurückgekehrt, von den Göttern selbst zu mir gesandt? Ich achte die Götter Talris und ohne sie wäre es noch schwieriger, über dieses große Land und die Inseln in Gerechtigkeit und Weisheit zu herrschen. Doch denkt nicht, ich sei so wie Elwha, der sich mit jeglichem Denken und Handeln nach den Gesetzen Talris richtet. Glaubt ihr das etwa?« Sebastian hatte das Gefühl von Bentals Blicken durchbohrt zu werden und schwieg.
»Nun, wie auch immer«, offenbarte er Sebastian, »allein mit den Geboten Talris lässt sich ein Land, das aus den eigenen Reihen heraus bedroht wird, nicht regieren! Es erfordert Klugheit, Besonnenheit und Beharrlichkeit, es bedarf an Entschlossenheit und der Stärke, auch eine falsche Entscheidung zu einer richtigen zu machen.., jedenfalls für das Auge des Rates und des Volkes! Versteht ihr, was ich euch sagen will?«
»Das es nicht leicht ist, ein so großes Land unter Kontrolle zu halten?« fragte Sebastian unsicher und vorsichtig.
»Das ist das dumme Gewäsch meiner Berater, welche sich meine Vertrauten nennen!« antwortete er abwertend.
»Ich will es euch verraten, was ich damit meinte, dass eine falsche Entscheidung für das Auge des Rates und des Volkes eine richtige sein muss! Herrscher eines Landes zu sein, bedarf das eine oder andere Mal einer Unwahrheit, eines geheimen Wissens, dass nur der Herrscher selbst kennt. Es ist manchmal eine Lüge nötig, um das Land und das Volk bei gewissen Geschehnissen vor Übergriffen durch einen Feind von innen, wie außen zu bewahren. Versteht ihr es nun?«
Sebastian war wie blockiert. Ihm wollte einfach nicht in den Sinn kommen, was Bental ihm zu sagen bemüht war. Andererseits musste er seine Unwissenheit gut kaschieren, denn nicht Wissen bedeutete Schwäche, und die wollte er Bental auf gar keinen Fall an sich erkennen lassen.
»So sagt es mir«, forderte er den König auf. Bental trat einen Schritt aus dem Licht heraus, das ihn wie ein Schutzschild umgab.
»Bei den Götter.., ich frage mich, wie ihr bis hier her, in meine Burg gelangen konntet, wenn ihr so einfältig seid«, schüttelte Bental mit dem Kopf, »doch lasst mich raten... Ohne die Klugheit von Sonnenherz wäret ihr nicht hier, stimmt’s?« Bental ließ eine Minute verstreichen, den Blick auf Sebastian fixiert. Dann wurde sein Ton leiser, aber schärfer.
»Nun denn.., ich habe die Entscheidung zu einer Lüge getroffen, die ich meinem Rat und meinem Volk als die Wahrheit kundtun muss. Und ihr.., wessen Vaters Sohn ihr auch immer sein mögt, werdet mir dabei helfen! Ihr werdet hinter mir und an meiner Seite stehen und tun, was ich von euch verlange und ihr werdet euch verhalten, wie es sich für einen Sohn des Königs geziemt.., oder.., ihr - werdet - sterben!« Die letzten drei Worte betonte er einzeln, mit einer eindeutigen Geste seiner Hand an seinem Hals vorbei.
Sebastian stand wie vom Donner gerührt da, schockiert darüber, dass er fest geglaubt hatte, die Rolle als Areos selbst Bental verkauft zu haben.
»Was.., ihr seid erstaunt?« hörte er des Königs Stimme wie aus einer anderen Dimension in seine rauschenden Ohren vordringen.
»Glaubtet ihr etwa, ein Vater erkennt seinen eigenen Sohn nicht?« Bental trat noch ein Stück vor und erklärte:
»Bereits, als man mir von euch berichtete, von dem aus dem Reich der Toten zurück gekehrten Areos, wusste ich, dass ihr nicht mein Sohn seid, der von den Göttern kam. Glaubt einem wahren Vater, oder lasst es, doch ein Vater, oder eine Mutter spüren, ob ihr Kind noch lebt, oder bei den Göttern ist!« Er drehte sich um, ging zurück ins Licht und wendete sich wieder Sebastian zu.
»Als König habe ich eine Entscheidung gefällt, die mir als Vater widerstrebt. Es war meine einsamste Entscheidung, die euch vor dem Kerker, oder Schlimmerem bewahrt.., seht ihr das ein? Und hütet euch, mir jemals Anlass zu geben, diesen Entschluss wieder zu ändern! Diese Entscheidung, welche eine Lüge ist, kann nur geändert werden, wenn ihr auf ewig verschwindet.., wenn ihr für immer in das Reich der Toten geht!«
Allmählich spürte Sebastian, wie sich die Schlinge um seinen Hals immer enger zusammen zog. Ein faustdicker Kloß saß ihm im Hals und er musste würgen, um sich nicht zu übergeben. Seine Gedanken kreisten aber nicht mehr um seine eigene Sicherheit, denn die glaubte er bereits verwirkt zu haben. Vielmehr machte er sich Sorgen um Antarona. Was würde mit ihr geschehen?
»Macht mit mir, was ihr wollt, eure Hoheit, aber lasst Antarona gehen.., sie hat damit nichts zu tun, sie ist nur naiv und hat geglaubt, dass ich jener bin, der dem Volk in den Prophezeiungen...«
»Schweigt, wenn ihr nicht gefragt werdet!« unterbrach ihn der König. »Genau das ist es, das euch den Kopf behalten lässt, Areos, mein Sohn...«
»Ich bin nicht euer Sohn, gütige Hoheit«, fiel ihm Sebastian ins Wort, »mein Name ist Sebastian Lauknitz und ich möchte endlich das Missverständnis...«
»Hatte ich euch nicht geboten zu schweigen?« überfuhr ihn abermals Bentals feste Stimme. Der König baute sich wieder vor ihm auf.
»Doch.., ihr seid Areos, mein Sohn!« bestimmte König Bental. »Und ihr tut gut daran, euch schnell an diesen Gedanken zu gewöhnen!« Bentals Augen bekamen Schlitze, er beugte sich etwas vor und leise, wie eine Schlange lauernd fragte er Sebastian:
»Habt ihr euch noch gar nicht gefragt, wieso ich diese einsame Entscheidung gegen meinen Willen treffen musste, die euch euer jämmerliches Leben bewahrt hat?« Er schien keine Antwort von seinem vermeintlichen Sohn zu erwarten.
»Ich will euch auch das verraten! Diese Burg, auf der ihr euch befindet, ist unangreifbar. Keine Armee, und sei sie noch so groß, könnte sie je bezwingen. Die Götter schützen sie mit den wilden Wassern und den hohen Felsen ihrer Berge. Die Hände der Ival habe sie mit dem Bau unüberwindlicher Mauern noch stärker gemacht. Euch aber ist es gelungen, meine Burg ohne den Einsatz von Schwertern und Lanzen in weniger als einem Sonnenlauf im Sturm zu erobern.., wenigstens das macht euch kein anderer nach!«
Das Ende des Satzes war wohl eher ironischer Natur gewesen, glaubte Sebastian. Doch diese Erkenntnis schluckte er herunter, als Bental fort fuhr:
»Ihr habt das Volk aufgeweckt, den Pöbel bezaubert, der nun glaubt, mein Sohn sei aus dem Reich der Toten zurück. Ihr habt meinen Sohn Areos durch das Volk zu einem Helden des Volkes gemacht. Was glaubt ihr, würde das Volk mit mir machen, wenn ich seinem Helden und meinem Sohn den Kopf abschlagen ließe?« Er machte eine Denkpause und sprach dann weiter.
»Doch.., ihr seid mein Sohn. Für das Volk, für meine Berater, für die Wachen und die Bediensteten, für eine große Lüge und für meinen unseligen Bruder und seine Brut seid ihr mein Sohn, auch, wenn uns beiden das nicht gefällt. Und ich rate euch, um eures Lebens willen, spielt dieses Theater gut, sonst werde ich Wege finden, meinen Sohn auf niemals Wiedersehen verschwinden zu lassen!«
Sebastian wollte etwas erwidern, doch ihm versagte die Stimme. Und hatte er geglaubt, dass es das nun gewesen war, so irrte er sich gewaltig. Bental war noch lange nicht mit ihm fertig.
»Als mein Sohn habt ihr nun die Pflichten eines Sohnes des Königs zu erfüllen«, bemerkte Bental trocken, »das heißt, ihr werdet euch, ob nun zu meiner Zufriedenheit, oder nur scheinbar für meine Vertrauten und das Volk, das mag bei euch liegen, einige Aufgaben an meiner Seite übernehmen, die ich euch noch übertragen werde. Unglücklicherweise gebietet die Tradition vom Sohn des Königs, das Heer zu führen, ob im Kriege oder im Frieden. Wir werden auch dafür eine Lösung finden!«
Bental schritt wieder auf und ab, sah hier und dort aus dem Fenster und Basti hatte den Eindruck, dass der König Zeit schinden wollte, oder dass ihm einfach für den Moment nichts weiter einfiel. In diesem Moment erschien ein anderes Zimmermädchen in der Tür, das Sebastian zum ersten Mal sah. Bental ging ihr zügig entgegen, fragte sie kurz etwas, worauf sie nickend bejahte, sich verneigte und wieder verschwand. Bental kam mit todernster Miene zu Sebastian zurück.
»Was hatte ich noch gleich gesagt«, begann er schauspielerisch, »ach ja, die Aufgaben, welche euch als meinem Sohn anheim fallen. Natürlich werdet ihr euch dem Gebot der Götter folgend, mit einer Oranuti verbinden.., mit welcher, dabei lasse ich euch freie Hand. Natürlich ist die Tochter eines einflussreichen Fürsten einer Tochter eines Händlers vorzuziehen!«
Sebastian glaubte nicht recht zu hören, es lief ihm eiskalt und heiß über den Rücken und er fühlte, wie das Blut aus seinem Kopf sackte.
»Aber ich liebe Antarona, eine Tochter der Ival, die Tochter des Hedaron und sie selbst hat euch einen Weg aufgezeigt, der dies möglich macht! Ich bin mit ihr verbunden, vor den Göttern und den Elsiren...«
»Nein, seid ihr nicht«, verkündete Bental brutal verbindlich und es klang wie eine unumstößliche Tatsache. Sebastian war am Ende. Ihm schwanden die Sinne von dem ewigen hin und her und nur die Angst, Antarona verlieren zu können, ließ ihn dieses Martyrium noch weiter aushalten.
»Aber.., eure gütige Hoheit.., ich glaubte, wir wären uns einig gewesen.«, stammelte Sebastian fast flehentlich unter Aufbietung all seiner geistigen Kräfte.
Bental stand wieder mit etwas Abstand vor ihm und das Dämonenhafte seines Schattens vor den Fenstern verstärkte sich noch.
»Wie lange wart ihr mit Antarona beisammen«, fragte er hintergründig, »zwei Monde, oder drei..? Bei einem Antlitz, wie dem ihren, bleibt ein Mann nicht lange standhaft, oder? War euch niemals etwas an ihr aufgefallen? Ein Fleck vielleicht, ein Mal, ein Zeichen, das dem Abbild Gott Talris gleicht?« König Bental dreht sich den Fenstern zu, sprach aber weiter:
»Ich bin sicher, es ist euch aufgefallen! Die Verantwortliche der Zofen hat es mir soeben bestätigt. Die Tochter der Ival, die mit euch gekommen ist, trägt dieses Zeichen.., aber das wusste ich bereits, als ihr mir die Herkunft der Frau verraten habt, welche, wie ihr glaubt, mit euch verbunden ist!«
Sebastian gab sich alle Mühe gegen den aufkommenden Schwindel anzukämpfen. Mit der sprichwörtlichen Blässe stieg ihm auch eine ohnmächtige Wut ins Gesicht. Die Hautverfärbung, das Mal Antaronas, das einer Sonne glich, trug sie an einer Stelle, die eine Frau allein nur ihrem Liebsten offenbarte. Wie war Bental an diese Information gelangt, ohne sie gegen ihren Willen auszuziehen? Hatte man ihr bereits Gewalt angetan? Sebastian fühlte sich so schlecht, wie nie zuvor in seinem Leben, denn er konnte seiner Frau nicht beistehen, egal, was man ihr vielleicht gerade in diesem Augenblick antat.
Was hatte auch dieses dämliche Mal mit ihm und dem König, vor allem aber mit seiner Verbindung mit Antarona zu tun? Was sollte nun noch kommen?
»Antarona ist mit mir verbunden«, betonte Sebastian noch einmal deutlich, auf Bentals letzten Satz bezogen.
»Nein.., ist sie nicht«, entgegnete Bental kalt, als wären sämtliche Gefühle in ihm abgestorben, »jene, von welcher ihr glaubt, mit euch verbunden zu sein, von welcher ihr glaubt, sie sei Hedarons Tochter, kann ihr Herz nicht mit dem euren, mit dem des Areos verbinden, auch unter dem Segen der Elsiren nicht.., hat sie es dennoch getan, aus Unwissenheit, so ist es nichts Wert, weil es ein Frevel vor den Göttern ist, wenn sich ein Bruder mit seiner eigenen, leiblichen Schwester verbindet!«
Sebastian starrte den König entsetzt an. In seinem Herz und in seinem Magen zugleich schlugen spürbar eine Reihe von Blitzen ein. Das war nun entschieden zu viel.
»Was soll das«, entfuhr es ihm aufgebracht, »was ist das für ein dummes Zeug.., wie kann Antarona meine leibliche Schwester sein? Das ist ausgemachter Unsinn!«
Der König ging zum Beratungstisch hinüber, zog sich einen Stuhl heran und setzte sich schwer. Er gab Sebastian ein Zeichen, sich ihm gegenüber ebenfalls zu platzieren.
»Schweigt.., und hört gut zu«, befahl er in unerwartet müdem Ton. Dann offenbarte er ihm eine Geschichte, die Sebastians letzten Mut dahin raffte:
»Vor drei mal zehn Wintern war es, als mein Vater Trámon der dritte jene auswählte, die an meiner rechten Seite auf dem Thron Volossodas und Falméras sitzen sollte. Asgarinia war eine Prinzessin und wie es das Gebot der Götter fordert, eine Oranuti. Sie war keine dieser hässlichen, plumpen Oranuti Frauen, sondern eine Schönheit, welche den Elsiren glich. Ihr Herz war erfüllt von Güte und Liebe und ihr Verstand war so scharf, wie die Klinge Tálinos. Alsbald waren unsere Herzen vor dem Thron und den Göttern verbunden. Etwa zur gleichen Zeit freite Torbuk Krenja, eine bürgerliche Oranuti von hohem Stand und forderte von meinem Vater ebenfalls den Thron. Trámon wusste um die Boshaftigkeit, Unaufrichtigkeit und Raffgier im Herzen meines Bruders, musste sich aber dem Gesetz der Götter fügen, welches da gebot, jenem den Thron zu lassen, welcher als erster einen Sohn zeugt.« Bental sank auf seinem Stuhl weiter in sich zusammen und seufzte laut, bevor er fort fuhr:
»Elf Monde danach kündigte sich in Asgarinias Leib ein Thronerbe an und niemand hatte Zweifel, dass Trámon den Thron meinen Händen übergeben würde, zumal Krenja noch kein Herz unter dem ihren trug. Doch die Götter waren nicht mit mir und meinem Vater. Asgarinia gebar mir eine Tochter und sie trug das Zeichen Talris in ihrem Schoß. Tramon traf in seiner Verzweiflung eine einsame Entscheidung gegen den Willen der Götter, doch zum Wohle des Volkes. Er trug mir auf, meine Tochter zu töten und nahm den Sohn einer fremden Ival, der zur gleichen Stunde geboren wurde, ließ seine Mutter töten und verkündete die Geburt des Areos, des Thronerben seines Sohnes.«
»Aber ihr habt eure Tochter nicht umbringen lassen, nicht wahr?« unterbrach ihn Sebastian mit zitternder Stimme.
»Dies unterschied mich von meinem Vater und meinem Bruder.., ich brachte es nicht fertig, meine eigene Tochter, mein eigenes Kind zu töten. Tramon gab ich vor, ich hätte sie töten lassen, doch einer meiner Vertrauten brachte sie weit in das Val Mentiér hinauf, zu einem Ival, der sich Holzer nannte und zu seiner mit ihm verbundenen Frau. Sie hatten bereits einen Sohn gleicher Haartracht und sie lebten sehr abgeschieden bei den hohen Wäldern, so dass es nicht weiter Argwohn erregte.«
König Bental machte eine kurze Pause und sah Sebastian bedeutungsvoll an. Der begriff rasch die Zusammenhänge und schöpfte eine vage Hoffnung.
»So war Areos, den ihr an euer Kindes statt aufzogt, gar nicht euer leiblicher Sohn!« stellte Sebastian beinahe erleichtert fest.
»Nein«, bestätigte Bental erschöpft, »und das vermutete auch Torbuk, denn jemand aus dem Kreise der Bediensteten brachte das Gerücht unter das Volk, Asgarinia hätte eine Tochter geboren. Doch war es Torbuk niemals gelungen, dies vor dem Volk zu beweisen, um seinen Anspruch auf den Thron zu fordern, als Krenja endlich seinen Sohn Karek gebar. Kurz darauf ging meine geliebte Asgarinia in das Reich der Toten. Sie hatte nicht mit der Lüge leben können und sie hatte nicht ohne ihr Kind leben können. Ihr Herz brach an ihrem Kummer entzwei.«
Bental holte tief Luft, als hätte er einen Abschnitt seines Lebens hinter sich gelassen und würde nun einen neuen beginnen. Seine Stimme klang wieder fester, als er seine Offenbarung weiter führte.
»Alsdann suchte ich den Frieden meines Herzens in dem Tun, Areos als meinen Sohn zu erkennen und ihm die Erziehung eines Thronfolgers angedeihen zu lassen und meinem Volk die Sicherheit zu geben, die es von seinem Herrscher erwartet. Als zwei Winter danach mein Vater Trámon in das Reich der Toten hinüber ging, begann Torbuk damit, das Volk von Quaronas aufzuhetzen und eine eigene Armee aufzustellen. Er spaltete das Volk in zwei Lager, er säte Zwietracht, Missgunst und Habgier unter das Volk«, schloss er schließlich seinen Bericht.
In Sebastian Kopf arbeitete es, während sich Bental von seinem Sitz erhob und in alter Gewohnheit, seinerseits in Gedanken versunken, vor der Fenstergalerie auf und ab ging. Basti beobachtete den stillen Marsch des offensichtlich sehr einsamen Herrschers und versuchte sich seiner Worte zu erinnern:
Vor drei mal zehn Wintern war es, als mein Vater Trámon der dritte jene auswählte, die an meiner rechten Seite auf dem Thron Volossodas und Falméras sitzen sollte.., und ...Elf Monde danach kündigte sich in Asgarinias Leib ein Thronerbe an...
Wie alt sollte dann Antarona sein? Einunddreißig.., zweiunddreißig? Ihrer äußeren Erscheinung nach war sie gerade mal achtzehn oder neunzehn Jahre alt, eher jünger, also in einem Alter, in dem Sebastian sie einst in seiner Welt als Janine kennen gelernt hatte. Da war sie wieder, diese Vermutung, dass die Menschen in diesem Land nicht so rasch alterten, wie in Sebastians Welt.
Und wieder kamen Sebastian Zweifel darüber, ob Antarona wirklich seine Janine von damals war. Äußerlich gab es eine Ähnlichkeit. Doch je mehr Sebastian darüber nachdachte und je länger er mit Antarona zusammen war, bemerkte er mehr und mehr die zunächst kleinen Unterschiede, die immer größer wurden. Auch in den Wesenszügen fand er zwischen Janine und Antarona gravierende Merkmale, die nicht überein stimmten.
Je mehr er von den Erinnerungen an Janine abrückte, desto deutlicher wurde ihm, dass Antarona im Grunde gar nicht Janine sein konnte. War es letztlich nur sein tief verwurzelter und über die Jahre hoch gehaltener, verzweifelter Wunsch, seine Janine wieder zu sehen, der ihn einer Suggestion erliegen ließ, die seinen Blick trübte und ihn glauben machte, Janine vor sich zu haben?
War seine Sichtweise auf Antarona mehr seinen heimlichen Wünschen, als denn objektiver Betrachtung unterlegen? Und war es vielleicht die gleiche Suggestion, welche die Ival in ihm den wiedergekehrten Thronerben Areos sehen ließ? Oft glauben Menschen das, was sie sich sehnlichst wünschen, das hatte Sebastian einmal irgendwo gelesen. War das die Lösung?
War er dann gar nicht in einem Leben nach dem Tod gefangen? Dann stellte sich allerdings die Frage: Wo war er dann? Die Gore, Felsenbären und Elsiren, sowie diese mächtige mittelalterliche Burg bildete er sich schließlich nicht ein! Gab es eine andere Zeit, in der er gefangen war?
Was Sebastian Lauknitz definitiv wusste, war die Tatsache, dass er Antarona über alles liebte und dass sie seine Gefühle mindestens ebenso stark erwiderte. Nachdem inzwischen auch Bental klar sein musste, dass sie keine leiblichen Geschwister waren, konnte ihrer Liebe und ihrer Verbindung eigentlich nichts mehr im Wege stehen, glaubte er. Mit dieser Zuversicht griff Sebastian das Thema wieder auf.
»Also.., ihr gebt zu, dass Antarona nicht meine leibliche Schwester ist«, brach Sebastian das Schweigen, »dann kann unsere Verbindung ja über jeden Zweifel erhaben sein und ich kann...«
»Das kann sie eben nicht...«, unterbrach ihn Bental schroff, »...seid ihr eigentlich nur dumm und einfältig, oder wollt ihr es nicht verstehen?« fragte der König mit einem verzweifelten Ausdruck im Gesicht.
»Die Frau, mit der ihr euch verbunden habt, welche meine Tochter ist, aber nicht sein darf, scheint mehr Verstand zu besitzen. Sie hat es bereits deutlich gesagt«, und er zitierte Antaronas Worte.
...nein.., ich werde dennoch niemals bereit sein, die Befreiung unseres Volkes vom Joch eures Bruders hinter die Gefühle meines Herzens zu stellen...
»Sie hat aber im gleichen Satz auch gesagt Sonnenherz wird jedoch ebenso wenig die Gesetze Talris missachten, den Segen der Elsiren und den Willen der Götter brechen und eurem Sohn, Areos, die Treue des Herzens versagen, wenn ihr euch erinnert, eure gütige Hoheit«, entgegnete Sebastian trotzig.
Frontal schritt Bental auf ihn zu, blieb wie von einer unsichtbaren Wand gestoppt, ein paar Zentimeter vor ihm stehen und sah ihm drohend in die Augen.
»Wenn ihr es noch immer nicht verstanden habt, so sage ich es euch nun um ein letztes Mal deutlicher«, warnte ihn Bental, »das Wohl des Volkes steht über allem und rechtfertigt jede.., und ich betone noch einmal jede Tat gegen einzelne Menschenwesen, ob sie nun mein Kind betreffen, oder nicht, das macht keinen Unterschied! Aber ich liebe nun mal jene, die nachweislich mein Kind ist.«
Bental beugte sich noch etwas weiter vor, seine Augen wurden zu engen Schlitzen und seine Stimme zu einem gepressten Flüstern:
»Wenn es letztlich das Volk der Ival vor Torbuks Machtübernahme und Unterdrückung bewahrt, dann seid ihr mein erstgeborenes Kind, mein Sohn Areos, auch wenn ihr es nicht seid. Was Antarona betrifft, die meine Tochter ist und die ich liebe, wie ein Vater sein Kind lieben sollte, so wird sich ein Weg finden, sie vor dem Volk als meine Tochter zu verbergen«, schloss Bental und es klang endgültig.
Sebastian wurde schwindlig und er musste gegen Wut und Ohnmacht gleichzeitig ankämpfen, um nicht einfach umzukippen. Schließlich fasste er den Mut zu neuem Widerstand.
»Das Volk hat uns aber bereits gesehen.., als verbundenes Paar.., im Fenster zum Burghof...« Bental, der sich schon wieder dem Fenster zuwenden wollte, drehte sich erneut mit einer unvermuteten Schnelligkeit um.
»Was hat das Volk denn gesehen?« zischte er gefährlich. »Ich will es euch sagen: Die wenigen Bediensteten, welche ihr für das Volk hieltet, haben hinter dem Fenster verschwommen und undeutlich einen jungen Mann gesehen, der eine ihnen unbekannte Frau umarmte.., mehr nicht! So wird es der Büttel hochoffiziell dem Volk der Ival verkünden, sowie gleichsam die Botschaft, dass Areos, mein Sohn, wenn die Zeit dafür gekommen ist, sich mit einer Oranuti verbinden wird!« Dann wurde des Königs Stimme unnatürlich freundlich und er fügte hinzu:
»Und wenn euch euer Kopf etwas bedeutet, so rate ich euch gut, nach diesem meinem Wunsch zu handeln, andernfalls...« Diese Option ließ er offen, doch Sebastian wusste genau, wie sie aussah. Dennoch begehrte er ein letztes mal auf:
»Aber wenn lediglich eure gütige Hoheit allein wissen, dass Antarona eure Tochter ist, was steht dagegen, dass sie mit eurem Sohn verbunden ist?« Sebastian sah den König mit letzter Hoffnung lauernd an.
»Was glaubt ihr wohl«, widersprach Bental, »wie lange es dauert, bis sich irgendwelche Ahnungen, die sich im Gesinde wie Läuse einnisten, als Gerüchte in ganz Falméra verbreiten, wenn ich zulasse, dass ihr einander seht?«
Bentals bohrender Blick zwang Sebastian endgültig in die Knie. Denn mit diesem Satz wurde ihm gnadenlos deutlich gemacht, dass er Antarona unter gar keinen Umständen wiedersehen sollte.
Bentals Plan war offenbar, seine Frau, die vermeintliche Prinzessin von Falméra, in einem Flügel der Burg für immer vor den Augen des Volkes und den seines Bruders zu verbergen. Sie würde eine Gefangene im Banne des Throns sein. Ihr würde es sicherlich an nichts fehlen, außer freilich an ihrer Freiheit und ihrer Liebe zu Sebastian Lauknitz!
Bevor Sebastian überhaupt die Tragweite dieses Urteils begreifen konnte, sprach König Bental mit fester Stimme:
»Da ihr nun um meine Entscheidung wisst, gibt es zunächst nichts mehr zu sagen. Ihr seid entlassen und dürft euch nun in eure Gemächer zurückziehen, die euch euer persönlicher Diener zeigen wird.« Damit ergriff er eine Glocke, die auf dem Tisch stand und läutete übertrieben heftig. Die Tür knackte lautstark und Bental starrte in den Saal hinaus. Ein Schatten löste sich aus dem dunklen Türrahmen, dem er zurief:
»Frethnal soll kommen.., und schickt Elwha zu mir.., und wo bei den Göttern bleibt der Küchenmeister!« Während Sebastian immer mehr aus Angst um Antarona verging, flitzte der Angerufene davon und erschien eine Minute später mit einem jungen Mann vor seinem Herrscher. Elwha schlurfte in weitem Abstand hinterher und blieb im Hintergrund stehen. Bental musterte den Mann kurz und wandte sich dann Sebastian zu:
»Dieser hier, Frethnal, wird sich um euer Wohl sorgen und euch zu mir bringen, wenn ich euch zu sehen wünsche. Er wird euer Schatten sein und mir stets berichten, was ihr tut. Versucht also erst gar nicht, mich zu hintergehen, es wäre zwecklos.., merkt euch das!«
Sebastian war seinem neuen Diener bereits einige Schritte gefolgt, als ihn Bentals Stimme noch einmal aufhielt:
»Zum Ende des Sonnenlaufs erwarte ich euch im Speisesaal, Frethnal wird euch die angemessene Kleidung geben und euch zu rechter Zeit dorthin führen.« Mit dem Verhallen jener Worte fiel auch die schwere, hölzerne Tür des Saales ins Schloss und Sebastian stand mit Frethnal in einem großen Vorzimmer, das selbst einem Saal glich und einige Sitzgruppen beherbergte, die aus hohen Ohrensesseln und runden Tischen bestanden.
Der Diener machte einen scheuen, zurückhaltenden Eindruck. In Größe und Statur glich er seinem neuen Herrn, ging aber etwas gebeugt und zog beim Gehen leicht der linke Bein nach. Er war schlank und steckte in einem abgetragenen, verblichenen Livree.
Sein rundliches Gesicht schien auf den ersten Blick dem eines naiven, gutmütigen Trolls zu gleichen, doch seine wachen, ehrlichen Augen, die aufmerksam alles registrierten, zeugten von verborgener Intelligenz. Dunkle, fast schwarzen Haare waren stümperhaft auf Kragenlänge gekürzt worden, so dass er noch einfältiger wirkte und man ihn von weitem leicht für einen geistig minder bemittelten Jugendlichen halten konnte.
»Herr.., wenn ihr mir gütigst folgen wollt«, forderte er Sebastian auf und öffnete eine Tür neben einem mächtigen Kamin, die sie in einen lichten Korridor entließ. Durch große Bogenfenster flutete die goldene Nachmittagssonne herein, deren Licht von der gegenüber liegenden, weißen Fassade reflektiert wurde.
Wie aus dem Nichts traten links und rechts zwei Wachen hinzu und folgten Sebastian und seinem Diener stumm in einem Meter Abstand. Der Flur machte einen Knick und unvermittelt standen sie vor einer riesigen Holztür, die mit schweren, verschnörkelten Eisenbeschlägen versehen war. Doch anstelle dieser Tür öffnete eine der Wachen eine kleine, unscheinbare Tür mit einem Spitzbogen.
Sie traten in einen steinernen Treppenturm, dessen Stufen sich endlos hinauf wanden. Vor der Tür zu jedem Stockwerk stand ein Wachsoldat mit starrem Blick. Und hätten sie nicht geatmet, so hätte Sebastian annehmen können, die Wachen selbst wären in Stein gehauen.
Drei Stockwerke zählte Sebastian, dann traten sie an einer weiteren Wache vorbei durch eine ebenso kleine Tür in einen freundlich gestalteten Korridor, dessen hohe Fenster sowie die Wände in warmes Holz gekleidet waren. Lediglich der Fußboden war mit bunten, groben Steinmosaiken belegt.
Über ihren Köpfen spannten sich steinerne Kreuzgewölbe, eines hinter dem anderen und aus der hölzernen Wandvertäfelung traten halbe Säulen hervor, welche die Scheitelpunkte der Gewölbe trugen. An jeder Säule waren zwei Lampen angebracht, die vermutlich mit Öl brannten.
Frethnal führte ihn durch eine Tür in ein Zimmer, dessen Wände mit alten Gemälden behangen waren und weiter, in einen neuen Korridor, der dem ersten glich, aber unendlich lang und gewunden schien. Nach einem langen Gang an unzähligen Türen vorbei, standen sie plötzlich vor einer Tür, in der ein so großer Schlüssel steckte, dass man ihn leicht hätte als Waffen verwenden können.
Knackend und knirschend drehte Frethnal das monströse Ding im Schloss. Dann standen sie plötzlich im Sonnenlicht. Ein offener, zwölf mal fünfzehn Meter großer, ummauerter Freisitz empfing sie mit einem beeindruckenden Ausblick nach Norden.
Sebastian konnte über die gesamte Burganlage, über die ganze Stadt, bis hinunter zum Hafen, ja sogar über die Bucht zum Meer blicken. Links und rechts des Freisitzes ragten die beiden Tortürme, sowie die Gebäudeflügel auf und zur rückwärtigen Seite hin, eröffnete sich der Blick auf den Innenhof und die Fenstergalerien der südlichen Burgflügel, die von Türmen überragt wurden, und bereits weite Schatten warfen.
»Dies, gütiger Herr, sind eure Gemächer und Arbeitsräume«, erklärte ihm Frethnal und schloss die gegenüber liegende Tür auf. Sie traten in einen Flur, der spiegelbildlich dem glich, den sie zuvor verlassen hatten.
»Diese ersten beiden Räume bewohnen jene, welche euch stets zu Diensten sind, Herr«, sprach er und setzte seine Führung fort. Sie durchschritten Flure, bescheiden eingerichtete Vorzimmer, von Prunk überladene Wohnsalons, Arbeitszimmer und Galerien, gingen an mindestens acht Treppentürmen vorüber und standen schließlich wieder vor dem Freisitz.
Das, was Frethnal lapidar als eure Gemächer bezeichnete, war schlicht und einfach ein ganzes Geschoss dieser mächtigen Burg. Allein dieses Stockwerk war so riesig, dass es bereits ein Palast für sich darstellte und selbst für einen Star aus Sebastians Welt kaum zu finanzieren gewesen wäre.
Sebastian vermutete, dass nur eine Landkarte ihm helfen konnte, sich in dieser Vielzahl von Zimmern, Räumen und Salons zurecht zu finden. Letztlich musste er sich wohl anhand der Ausblicke orientieren, um festzustellen, in welchem Flügel er sich befand.
Frethnal führte ihn anschließend in einen zehn mal zwanzig Meter großen Raum ohne Fenster, den er als Rüstzimmer bezeichnete. Hier fand Sebastian seine Waffen und die wenigen Habseligkeiten wieder, die er noch besaß. Sie lagen auf einem unverwüstlich massiv gezimmerten Tisch in der Mitte des Raumes. An den Wänden befanden sich verzierte Schränke aus dunklem Holz, die sich kaum von der Vertäfelung abhoben und Sebastian an eine Stuckfassade erinnerten.
Dazwischen standen immer wieder nicht minder verzierte Regale, in denen so viel Unbekanntes zu entdecken war, wie in einem Museum. Da gab es mittelalterliche Helme, mit und ohne Visier, Brustpanzer, Kettenhemden, Ledergurte, Taschen, Beutel, Waffenröcke und jede Menge Decken, Felle und Stiefel aus kräftigem Leder.
Eine Tür weiter befand sich Sebastians Schlafzimmer, noch größer und von einer mächtigen Fenstergalerie geprägt, vor die große, weiße Tücher gehängt waren. Durch Säulen und Rundbögen abgetrennt, zwischen denen ebenfalls bunt gemusterte Stoffe hingen, lag ein Ankleidezimmer. Schränke, Regale und Kommoden säumten die Wände zwischen zwei Fenstern und einer verzierten Holztür.
Die Führung ging weiter durch einen riesigen Salon, in dessen prunkvoller Einrichtung sich ein einzelner Mensch schlichtweg verlor, weiter durch ein Ruhezimmer mit Fellen, gepolsterten Podesten und hunderten von großen Kissen. Daran grenzte ein riesiges Bad, mehrere Arbeitszimmer, Bibliotheken und weitere Wohn-, Ess-, und Arbeitssalons, bis hin zu einem Waffenraum.
Dieses Zimmer war vollgestopft mit Schwertern, Messern, Lanzen und Morgensternen, mit Bögen, Sehnen, Pfeilen, Schilden und allem, was sich Sebastian nur vorstellen konnte, das im Mittelalter dazu gedient hatte, einem Widersacher das Lebenslicht auszulöschen.
Die Waffen hingen an Wänden, standen in Nischen und Regalen, oder baumelten an Ketten von der Decke herab. Sebastian stand in einem Arsenal von so hochwertigen Schwertern, dass ihm sein Kurzschwert, wie eine abgebrochene, verrostete Mistgabel vorkam.
Sebastian nahm sich sogleich vor, ein geeignetes Schwert für sich auszuwählen, das ihm am angenehmsten von der Hand ging. Die großzügig angelegten Korridore und Flure boten sich geradezu für Waffenübungen an!
Bei all den Zimmern, Räumen, Salons und Türmen, die Sebastian während zwei Stunden Besichtigung in ihren Bann zogen, vermisste er dennoch etwas Entscheidendes, etwas in seinem Herzen, das ihm in der Verlorenheit der großen Räume und Säle bewusster wurde, denn je. Antarona!
Wohin hatte man sie gebracht, ging es ihr gut und wann würde er sie wiedersehen? Würde man ihm überhaupt je wieder gestatten, sie zu sehen? Diese Fragen gingen ihm nicht mehr aus dem Kopf und beeinträchtigten seine Konzentration.
Es fiel ihm noch immer schwer zu glauben, dass sie König Bentals Tochter sein sollte. Aber der Beweis ihrer Identität, das Mal, das sie auf der Haut ihres Schoßes trug, schien des Königs Annahme zu bestätigen. Bental machte auch nicht den Eindruck, als hätte er sich die Geschichte mal eben so aus den Fingern gesogen.
Wann würde Bental Antarona über ihre eigene Herkunft aufklären? Am meisten sorgte sich Sebastian darum, dass ihn sein Krähenmädchen nach dieser Offenbarung möglicherweise von selbst gar nicht mehr wiedersehen wollte, um dem Wohl ihres Volkes nicht im Wege zu stehen.
Eine stille Angst bedrückte ihn, lähmte jede seiner Bewegungen, seine Gedanken, seinen Mut. Was mochte Bental mit ihr vorhaben? Wollte er sie für die restliche Zeit ihres Lebens einsperren, ihre Existenz geheim halten? Wenn es ihr auch an nichts fehlen mochte, so würde sie doch nach kurzer Zeit ihr Land, ihren See und ihre Berge vermissen, ihre Freiheit, die es ihr bisher gestattete, sich nach Herzenslust in den ausgedehnten Wäldern und Wiesen herumzutreiben.
Zunächst jedoch blieb Sebastian nichts weiter übrig, als abzuwarten, wie sich das weitere Geschehen entwickeln würde. Er zwang sich zur Ruhe und versuchte einen klaren Kopf zu behalten.
»Frethnal.., sagt, könnt ihr mir sagen, wohin man jene Frau gebracht hat, welche mit mir kam?« versuchte er seinen Diener auszuhorchen.
»Von welcher Frau sprecht ihr, Herr?« fragte ihn dieser verwundert. Damit war klar, dass Antarona von Anfang an isoliert gehalten wurde. Sebastian winkte müde ab und versuchte Frethnal zu erklären:
»Ach vergesst es, ist nicht so wichtig. Wenn es unsere gnädige Hoheit nicht will, werdet ihr es auch nicht erfahren! Aber sagt.., kennt ihr eine Dienerin, welche man die Wandlerin, oder die Wendlerin nennt?«
Sebastian stellte die Frage ohne näher darüber nachzudenken. Er erinnerte sich lediglich daran, dass Bental diesen Namen im Zusammenhang mit Antaronas Zimmermädchen nannte.
»Sie nennen sie die Wenderin, Herr«, erklärte Frethnal, »sie kam vor einigen Monden als Kammerzofe an den Hof. Frethnal hörte, dass sie aus einem der Täler der schlafenden Sonne stammt. Ihre Eltern wurden von Torbuks Soldaten getötet.., ihr hatte man die Zunge heraus geschnitten und in die Löcher der Berge gebracht, wo sie die Tränen der Götter von den Steinen trennen musste.
»Ja...«, bestätigte Sebastian, »...diese meinte ich.., ist es möglich, sie zu sehen?« Frethnal überlegte angestrengt, dann antwortete er:
»Sie verlässt nur selten jene Räume, welche sich über den euren befinden, Herr, sie dient dort den edlen Frauen der Oranuti, die manchmal Gäste der Burg sind. Manchmal trifft Frethnal sie auf dem Hof. Soll ich ihr eine Nachricht bringen, wenn sich unser Weg kreuzt, Herr?«
»Wenn ihr das für mich tut, so will ich es euch gut danken, Frethnal«, versprach Sebastian. »Ich werde euch noch wissen lassen, welche Nachricht ihr überbringen sollt.«
Inzwischen waren sie wieder im Rüstzimmer angelangt, das an Sebastians künftiges Schlafzimmer grenzte. Frethnal führte ihn in den Ankleideraum und wies auf einen schweren Kleiderschrank.
»Herr, dort findet ihr eure Kleidung.., soll Frethnal euch beim Anziehen helfen? Ihre gütige Majestät wünscht, dass ihr euch zum Festmahl angemessen kleidet«
»Nein, das ist nicht nötig, Frethnal, ihr könnt gehen, wenn ihr noch etwas anderes zu tun habt«, sagte Sebastian und wandte sich dem Schrank zu, der bis an die Decke reichte. Schwere Eisenriegel hielten die Tür aus Wurzelholz geschlossen. Basti wuchtete den Riegel zurück, die Tür schwang auf und der Schrank offenbarte seinen Inhalt.
Hosen, Hemden und Gewänder, Tücher, Rüschenkragen und Ärmel, sowie Schulter- und Bauschschärpen kamen zu Vorschein. Das Sortiment war so umfangreich, dass es ihm schwer fiel, etwas auszuwählen.
In einem anderen Schrank fanden sich Mäntel, Blousons und Umhänge. Zwei Regale standen voll Schuhe und Stiefel, viele davon mit einem seltsam spitz geformten Zehenbereich. Dann gab es noch Kommoden mit Unterwäsche, die hässlich, zu groß und von viel zu grobem Stoff war, sowie eine große Zahl an Kappen, Mützen und Hüten.
Sebastian probierte verschiedene Kleidungsstücke aus und wunderte sich darüber, dass sie genau passten. Als hätte jemand seine Kleidergröße im Voraus gekannt, war alles für seine Statur geschneidert worden. Die Sachen schienen ungetragen und neu zu sein, was Sebastian zu der heimlichen Frage veranlasste, wie man seine Größe, oder noch vielmehr sein Kommen hatte voraussagen können.
Wurden sie schon im Val Mentiér beobachtet, und wenn ja, wie lange schon? Oder hatte der echte Areos gar zufällig Sebastians Kleidergröße besessen? Schweren Herzens streifte er sein schmutziges Hemd mit dem Wappen ab und zog ein frisches über, das ebenfalls jenes Wappen aufwies, jedoch lange nicht so perfekt gestickt. Dazu schlüpfte er in eine Hose, die ähnlich der seinen, aus weißem Leinen bestand, jedoch mit zwei schwarzen Beinteilen besetzt war, die an Knien und Knöcheln festgebunden werden konnten.
Über den Flur erreichte Sebastian das Badezimmer, welches Frethnal ihm gezeigt hatte. Für ein ganzes Bad war er zwar zu müde, doch etwas frisch wollte er sich schon machen, bevor er wieder vor den König trat. Große und kleine Krüge, gefüllt mit klarem Wasser standen an einer Seite aufgereiht und genügten sicherlich, um die beiden hölzernen Zuber zu füllen, die auf separaten, gemauerten Sockeln standen.
Es gab sogar zwei Waschbecken an der Außenwand, allerdings ohne Wasserzapfhahn. Sebastian musste das Wasser aus den Krügen in das steinerne Becken gießen, dessen Ausguss mit einem runden, konisch geschnitzten Holz verschlossen war, das man herausziehen konnte.
Ein Blechrohr führte in die Wand und ein Blick aus dem Fenster erzählte Sebastian, dass es draußen wieder offen aus dem Gemäuer trat. Man ließ das Schmutzwasser einfach auf den Burghof plätschern, wo sich bereits kleine Gräben gebildet hatten, die es durch Einsparungen in der Befestigungsanlage nach außen laufen und in die Tiefe stürzen ließen.
Die Rinnsale im Sand besaßen weiße Ränder, die von Kalk und Seifenablagerungen zeugten. Andere Rinnsale waren ohne diese Rückstände, was darauf hinwies, dass die Rinnen regelmäßig vom Gesinde gereinigt und neu gezogen wurden.
Nachdem Sebastian sich erfrischt hatte, wartete er. Die Götter mochten wissen, wann er zum König gerufen wurde. Gelangweilt schlenderte er durch die Räume, bis er in das Zimmer gelangte, das mit Fellen, Kissen und Decken ausgestattet war.
Probeweise flezte er sich auf die Felle und Geruch sowie das Gefühl des Pelzes erinnerten ihn an Antaronas Fellhaufen, in dem sie manche zweisame, warme, oder auch heiße Nacht verbracht hatten. Sebastians Blick fiel durch die hohen Fenster nach draußen, er sah weit entfernt von der Sonne rötlich angestrahlte Wolken vorüberziehen und schloss die Augen. Nur einen kleinen Moment, von Antarona träumen, bis die bleierne Schwere der Augenlider besiegt war...
Plötzlich hörte Sebastian einen Schrei und schreckte hoch. Im nächsten Augenblick war er hellwach und lauschte angespannt. Da! Wieder! Weit entfernt zwar, aber da hallte ein Aufschrei durch die Räume und Gänge. Sofort war Sebastian auf den Beinen, denn sein einziger Gedanke galt Antarona.
War es ihre Stimme, oder hatte er sich das bloß eingebildet? Leise trat er auf den Korridor hinaus, die Ohren gespitzt. Ein weiterer, lang gezogener, schmerzlicher Schrei durchbrach die staubige Stille. Es war Antarona! Was im Namen der Götter taten sie mit ihr? Egal, was es war, er musste sie da herausholen, egal wie viele Wachen er dabei ausschalten musste!
Gehetzt jagte Sebastian um den großen Turm herum über den Flur und stieß die Tür zum Rüstzimmer auf, in dem seine Sachen lagen. Er griff sich das Schwert und sein Bowiemesser und stürzte auf den Flur zurück. Sein Ziel war der große Treppenturm, um den der Korridor herum führte.
Der Waffenraum lag seiner Erinnerung nach im gegenüber liegenden Flügel. Ein besseres Schwert wäre möglicherweise von Vorteil gewesen, doch ein erneuter Schrei Antaronas warnte ihn, dass die Zeit knapp werden könnte. So stürmte er durch die Tür im Treppenturm, bereit, dem Wachsoldaten sein mit Flugrost besetztes Schwert in die Rippen zu stoßen, sollte dieser einen Versuch unternehmen, Sebastian aufzuhalten.
Doch es war keine Wache da. Verwaist führten die steinernen Stufen hinauf und hinab. Sebastian stand auf dem kleinen Podest an der Tür und horchte. Eine ganze Weile blieb es still. Dann vernahm er wieder Antaronas spitzen Schrei, gequält, aufbegehrend, verzweifelt. Von weit unten schien ihre Stimme die Treppenwindungen heraufzuhallen. Dann war es wieder ruhig. Eine angespannte Stille machte glauben, jegliches Leben in diesen Gemäuern sei augenblicklich erloschen.
Hatte dieser wahnsinnige König etwa schon sein Urteil gefällt? Die Entscheidung, dass Antarona, der Beweis für ihre Existenz, für immer verschwinden musste, damit erst gar kein Gerücht Torbuk veranlassen konnte, erneut nach dem Gesetz seinen Anspruch auf den Thron zu fordern? Wurde sie von den Schergen ihres eigenen Vaters gefoltert, damit sie noch den Ort der Hallen von Talris verriet, bevor man sie umbrachte?
So schnell es ihm gelang, ohne Geräusche zu verursachen, stürmte Sebastian die Treppe hinab, jederzeit darauf vorbereitet, auf eine Wache zu stoßen. Noch einmal klang ihm der gequälte Schrei seiner Frau entgegen. Von ganz tief unten kam er her, pflanzte sich mit kurz überlagerndem Echo nach oben hin fort und schien in den Korridoren und Zimmern zu verhallen.
Sebastian hielt das Schwert abwehrend vor sich und hetzte die Treppe hinab, vorbei an kleinen Podesten mit niedrigen Türen in Spitzbögen gefasst, vorbei an knapp halb Meter breiten und hohen Fenstern ohne Glas. Die schmiedeeisernen Halter, in denen kleine, lodernde Fackeln steckte, ignorierte er fast.
Wie weit hatte ihn der Diener hinauf geführt, dass es nun so weit hinunter ging, überlegte er. Durch welche Tür musste er schließlich gehen, um zu seiner Frau zu gelangen? Zwischendurch hielt Basti an, um zu horchen. Doch kein Laut drang an sein Ohr, der ihm hätte verraten können, wie weit er noch absteigen musste. Die Stille selbst schien ihn nun anzubrüllen, so lastete sie auf seinen Ohren.
Leise, ohne aber zu zögern schlich Sebastian weiter in die Tiefe, die Ohren gespitzt, damit ihm kein auch noch so leises Geräusch entging. Das nächste der schmalen Fenster, die er regelmäßig im Vorübergehen passierte, ließ seinen Blick auf den Burghof sehen. Verwundert blieb Sebastian stehen und sah noch einmal hinaus.
Dunkle, schlichte Gemäuer, aus kleinen und großen zusammengefügten Feldsteinen lagen im Schatten des Sonnenlichts. Welcher Teil dieser Burg besaß solche Wände? Sebastian erinnerte sich, dass die komplette Fassade der Burg, sowie sämtliche Bauten der Stadt aus ein und den selben weißen Steinen gehauen waren. Wo bitte kam plötzlich die Fassade aus dunklem Feldgestein her?
Befand er sich in einem Trakt der Burg, der seinen Augen bisher verborgen geblieben war? Je länger er darüber nachdachte, desto weniger wunderte es ihn. Schließlich waren es gerade mal ein paar Stunden, die er sich in diesen Mauern befand. Er spähte noch einmal hinaus.
Vier Stockwerke sah er sich gegenüber erheben, doch die Fassade war nicht mehr weiß und die Fenster auch nicht mehr in vertiefte Bögen gerahmt. Wo war die mächtige Fassade geblieben, die er und Antarona bei ihrer Ankunft aus dem Fenster des Empfangsraums über dem Burghof gesehen hatten? Ein so gigantischer Bau konnte nicht einfach so mir nichts, dir nichts seine ganze Fassade ändern!
Ein neuer Schrei zerriss die Stille und ließ diese Frage gegenstandslos werden. Er drang ganz deutlich von unten herauf. Sebastian nahm jetzt gleich drei Stufen auf einmal, um schneller hinunter zu gelangen. Wieder eine Tür ohne Wache. Sebastian stieß sie so heftig auf, dass sie laut knallend gegen die Wand schlug. Er lauschte in die Dunkelheit, die sich vor ihm ausbreitete, hörte aber nichts.
Statt dessen ein weiterer erstickt klingender Schrei von unten. Basti hetzte weiter. Es gab keine Fenster mehr, nur die Fackeln leuchteten die Treppe noch mit zuckendem Licht aus, dass skurrile Schatten warf. Dieser Schatten, der sein eigener war, irritierte Sebastian dermaßen, dass er beinahe die Wache übersehen hätte, die vor der nächsten Tür stand.
In letzter Sekunde gewahrte er die Gestalt, die aus dem Türrahmen trat und sich ihm in den Weg stellte. Sebastian hatte jedoch keine Zeit für endlose Diskussionen und schlug dem völlig überrumpelten Wachsoldaten mit einem heftigen Hieb das Schwert aus der Hand. Mit nicht enden wollendem Geklirr und Geschepper hüpfte die Waffe die Treppe hinab, bis sie auf einer Stufe liegen blieb.
Mit der Kraft seiner inneren Angst und Wut stieß er den verdutzten Soldaten zur Seite, der sofort den Halt verlor und laut fluchend hinter seinem Schwert her purzelte. Ein Fußtritt, den sich Sebastian selbst nicht zugetraut hatte, ließ die Tür auffliegen. Dahinter tat sich ein dunkler Gang auf, der in zwei Richtungen führte und vom diffusen, verzerrten Licht der Fackeln unheimlich beleuchtet wurde.
Sebastian befand sich in einem niedrigen Gewölbe, an das ein nächstes grenzte und daran wiederum ein weiteres und so fort. Es roch modrig, feucht und muffig und er befürchtete, dass er in diesem Loch weit mehr Schimmelpilzsporen einatmete, als gut war.
Wie aus weiter Ferne drangen Geräusche an sein Ohr. Ein Rasseln und Klappern war zu hören, unterbrochen von Antaronas Stimme, die nur noch ein Gestammel von abgehackten Lauten war. Ein knallendes Geräusch und ihre Kehle explodierte zu einem neuen Schrei, der klagend durch die Gänge drang.
Sebastian rannte vorwärts, ignorierte eine Hand voll Ratten, die ängstlich pfeifend vor ihm flüchteten und übersah fast den stämmigen Soldaten, der ihm plötzlich entgegen kam. Doch Antaronas Training, das sie ihm so beharrlich hatte angedeihen lassen, bewährte sich in diesen Sekunden.
Er tat, als wollte er flüchten, wandte sich zur anderen Seite, machte aber nur einen großen Ausfallschritt vorwärts. Blitzschnell sank Sebastian in die Knie und spürte noch den Luftzug der gegnerischen Waffe, die über ihn hinweg fegte. In der gleichen Sekunde wirbelte er herum, schwang das Schwert, wie eine Sichel um die eigene Achse und säbelte dem Soldaten, der gar nicht so schnell anhalten konnte, buchstäblich die Beine unter dem Hintern weg. Der Mann knickte ein und sein Körper krachte schwer auf den Boden, begleitet vom Scheppern seines Schwertes, das zuerst gegen die grob gemauerte Wand schlug und anschließend über den Gang schlitterte.
Sebastian hielt sich nicht damit auf, nach dem Mann zu sehen, sondern sprang über seinen Leib hinweg und rannte weiter vorwärts, dorthin, wo eine größere Lichtquelle in den düsteren Gang fiel. Eine grobe Tür mit einem mächtigen, eisernen Ring als Griff stand offen und ohne zu überlegen stürmte Sebastian hindurch.
Die Szene, die sich ihm bot, ließ ihn wie gegen eine unsichtbare Mauer laufen. Antarona hing an der rückwärtigen Wand, die von unzähligen Fackeln erleuchtet war. Ihre blutigen Handgelenke steckten in Eisenschellen, die wiederum mit schweren Ketten an der groben Steinwand befestigt waren. Ihre Fußgelenke hatte man ebenfalls mit Eisenschellen versehen und mit den daran hängenden Ketten in beide Richtungen seitlich an der Wand angeschlagen. Kaum berührten ihre Zehenspitzen den Boden, so dass sie zum Stillhalten verurteilt war, wollte sie sich nicht die Pulsadern aufschneiden.
Ihre Haare hingen ihr in wirren Strähnen vor dem Gesicht und das nasse Kleid klebte ihr nur noch in schmutzigen Fetzen am Leib. Offenbar hatte man sie mit ein paar Eimern Wasser aus einer erlösenden Ohnmacht zurück geholt. Fast hätte Sebastian seine Frau nicht erkannt, doch das dunkle sonnenförmige Mal auf der hellen Haut ihres Schoßes war selbst beim Licht der Fackeln nicht zu übersehen.
Der Anblick löste in Sebastian etwas aus, das man nur mit lähmender Angst, und dem Mut einer tiefen, ohnmächtigen Verzweiflung beschreiben kann. Er sah nur, wie sich ein Mann im Waffenrock und mit dunkelblonden, krausen Haaren vor Antarona aufbaute und eine kurze Peitsche mit mehreren geknoteten Enden zum Schlag anhob. Es war Karek, der Sohn Torbuks!
Sebastian kannte Karek nicht, ebenso wenig, wie er jemals den Tyrannen Torbuk zu Gesicht bekommen hatte, doch er wusste in diesem Augenblick, dass jener dort, der mit brutalem Vergnügen seine Frau folterte, Torbuks Sohn Karek war.
Ein Mann stand als Folterknecht daneben, weit genug von Antaronas zitterndem Körper entfernt, dass er nichts vom Peitschenhieb abbekommen konnte, aber nahe genug, um mit einem Holzstock Antaronas Kinn anzuheben und mit einem zweiten ihren Bauch an die Kerkerwand zu drücken, damit ihr geschwächter Leib nicht wieder in sich zusammenfiel und sie in eine neue Ohnmacht entließ.
Auch dieser Mann war Sebastian bestens bekannt. Das Gesicht, dass zu einer schadenfrohen, lüstern und hämisch grinsenden Fratze verzogen war, gehörte Bruno Ambühel! Dort im Schein der Fackeln stand jener Berner Polizist, dem Sebastian im Zwischbergental begegnet war, bevor er auf so seltsame Weise in Antaronas Welt gelangte.
Die Zeit, darüber nachzudenken hatte Sebastian nicht. Er wollte sich gerade auf Karek stürzen, um den Peitschenhieb auf seine Frau zu verhindern, als seine Arme von kräftigen Händen aus dem Hintergrund gepackt wurden. Verzweifelt und mit aller Kraft wehrte er sich gegen die festen Griffe und sah gleichzeitig, wie sich die Peitsche senkte.
Ein aus tiefster Seele entsprungener Aufschrei entfuhr Sebastians Kehle und er stemmte sich mit aller Gewalt gegen die Griffe, die ihn gnadenlos niederrangen. Sein Schwert fiel klirrend zu Boden und der Lärm mischte sich mit Antaronas Aufschrei, als der Hieb Kareks klatschend den nassen Stoff auf ihrer Haut traf.
Nahe daran, den Verstand zu verlieren, strampelte Sebastian wie wild mit den Beinen, versuchte um sich zu schlagen, sich von den unsichtbaren Händen zu befreien, die seine Arme niederzwangen. Er brüllte vor Wut und Angst um seine Frau, versuchte mit dem Oberkörper hoch zu kommen, oder zumindest die Peiniger von Antarona abzulenken, doch vergebens. Starke Hände hielten ihn am Boden.
Von irgendwo her aus dem schwarzen Raum hinter ihm bekam er noch eine schallende Ohrfeige, was ihn noch rasender machte und zu noch mehr Widerstand anstachelte. Wieder klatschte die Peitsche auf Antaronas nackte Haut und sie schrie seinen Namen. Dann hörte r nur noch das Klatschen und Antaronas Schreie. So sehr litt er mit ihr, dass er die Hiebe spürte, die ihren geschwächten Leib trafen.
Sebastian hörte das Klatschen und fühlte die Peitsche in seinem Gesicht. Und immer wieder hörte er Antarona seinen Namen rufen, unnatürlich, wie aus weiter Ferne, als wollte bereits das Leben aus ihrem Körper weichen.
»Areos.., hört ihr mich.., Areos! Macht die Augen auf, Areos.., A-re-os!« Das letzte Quäntchen Bewusstsein in seinem Kopf rüttelte ihn wieder wach. Denn etwas stimmte nicht. Antarona rief ihn nicht mit Ba - shtie, sondern mit Areos. Das aber tat sie nie!
Dieser winzige Gedanke, der doch so bedeutsam war, holte Sebastian aus dem Sog des nahenden Wahnsinns zurück. Er schlug die Augen auf, bereit, weiter mit aller Kraft gegen jene zu kämpfen, die seiner Frau Leid antaten. Und auf einem Mal blickte er in die Gesichter derer, die ihn am Boden hielten. Zwei Männer in Waffenröcken hielten seine Arme in eisernem Griff. Dahinter trat ein weiteres Gesicht in Sebastians Bewusstsein: Frethnal! Was tat er an diesem Ort.., war er ein Verräter?
»Herr.., kommt wieder zu euch.., wacht auf.., hört ihr mich, Herr..?« Sebastian hörte ihn, warf seinen Kopf hin und her, um klar denken zu können, um noch unterscheiden zu können zwischen Gut und Böse. Allmählich bemerkte er die hohen, hellen Fenster im Hintergrund. Wo waren plötzlich all die Fackeln geblieben?
Stoßweise atmete er ein und aus, kniff die Augen zusammen. Doch das schwarze Verlies, die nasse Wand, an der Antarona hing, die gnadenlosen Peiniger... Alles war verschwunden!
»Ich glaube, ihr könnt ihn nun los lassen...«, hörte Sebastian die Stimme Frethnals wie aus einer fernen Welt, die sich hinter einer mächtigen Nebelbank verbarg.
»Wie ist euer Befinden, Herr.., verzeiht eurem unwürdigen Diener die Schläge, Herr, aber ihr wolltet gar nicht mehr erwachen und aus Angst...«
»Wo bin ich.., was ist passiert...«, unterbrach Sebastian seinen Kammerdiener, »...wo ist Antarona.., geht es ihr gut.., ist sie in Sicherheit?« Frethnal nahm Sebastians Hand, drückte sie fest und machte den Soldaten ein Zeichen, dass er nicht länger ihrer Hilfe bedurfte. Die beiden Männer entfernten sich.
»Ich kenne keine Antarona, Herr.., aber ihr Herr, ihr seid hier in Sicherheit. Ihr habt einen bösen Traum gehabt.., einen sehr bösen, wie ich denke, einen, den euch ein böser Alb brachte.«
Sebastian setzte sich auf und war fix und fertig. Allmählich kam die Erinnerung zurück. Er hatte sich auf die Felle gelegt, um einen Moment lang seiner Müdigkeit nachzugeben, nur einen Augenblick lang. Was er in diesem Augenblick erlebte, konnte und wollte er nicht in seinem Kopf tragen.
Doch diese furchtbaren Bilder, diese erschreckenden Eindrücke spielten sich immer wieder vor seinem geistigen Auge ab, immer wieder und wieder von vorn, wie ein Fluch, dem man nicht mehr entkommen konnte. So deutlich war dieser Traum gewesen, dass er Sebastian bis auf die Knochen erschreckte. Diese Bilder von Karek und Ambühel, die Antarona quälten, die Frau, die er so liebte...
Diese Bilder wurde er nicht mehr los. Sie erzählten Sebastian von seiner größten Angst, von seiner tiefsten Verzweiflung und waren so realistisch gewesen, als hätte er das Geträumte tatsächlich erlebt. Alles krampfte sich in ihm zusammen, als er daran dachte, was Antarona in seinem Traum widerfahren war.
Tränen rannen Sebastian übers Gesicht. Er lebte die zerreißende Trauer einer Erfahrung, welche doch nie stattgefunden hatte. Oder nur noch nicht? Hatte ihm dieser Traum das gezeigt, was noch kommen würde? Würde er eines Tages genau das erleben?
In seinem Bauch machte sich die unerklärliche Angst breit, das, was er im Traum gesehen hatte, könnte eines Tages Wirklichkeit werden. Ja, Sebastian fürchtete sich davor, im Traum die Zukunft gesehen zu haben.
War das am Ende der Sinn des Abenteuers, das er hier erlebte, der Grund für sein Hiersein? War er in einer geistigen Welt gefangen, die von den tiefsten Emotionen der Menschen lebte? Nährte sich diese Phantasiewelt aus den verborgenen Wünschen, Sehnsüchten und Ängsten, sowie den Hoffnungen der Menschen? War es die endlose, grausame Schleife eines Traums, in der er gefangen war und aus der es kein Entrinnen mehr gab?
»Herr, es ist Zeit, seine gütige Hoheit erwartet euch, ich sollte euch nun zum Speisesaal bringen, bevor die Wachen...«
»Ja, ist schon gut...«, unterbrach ihn Sebastian, »...nur eines noch.., gibt es hier irgendwo auf der Burg andere, als diese Mauern aus dem hellen Stein.., ich meine, dunkle Wände und Fassaden, aus dunklen Feldsteinen gemauert?«
»Nein, Herr, soweit Frethnal bekannt ist, sind hier alle Wände gleich.., einige zwar in anderer Farbe angemalt, doch von dem gleichem Stein, welcher aus den Brüchen des Angertals stammt«, antwortete er etwas verwundert über eine solch unwesentliche Frage.
Sebastian aber wollte diesem ungewöhnlich deutlichen, viel sagenden Traum auf den Grund gehen. Obgleich es verfrüht war, festzustellen, ob er Frethnal vertrauen konnte, oder nicht, wagte er, seinen Diener Einblick zu nehmen in die verborgenen Winkel seiner Seele. In kurzer Schilderung beschrieb er ihm seinen Traum, ließ aber kein wichtiges Detail aus, um möglichst viel von Frethnal zu erfahren.
Der hörte sich das Seelenerlebnis seines neuen Herrn an und schwieg zunächst, als überlegte er, wie er sich ausdrücken sollte. Schließlich sagte er nicht ganz ohne Angst in seiner Stimme:
»Herr.., was ihr im Traum saht.., verzeiht eurem Diener die Kühnheit.., aber im Traum erschienen euch die Kerker Quaronas. Allein die Burg Torbuks besitzt so dunkle Mauern, wie ihr sie beschrieben habt. Diese Mauern setzen sich bis weit in die Tiefe fort, dort, wo sich die Räume der losen Stimmen und befreiten Seelen befinden.«
»Die Räume der losen Stimmen und befreiten Seelen.., was soll das?« wollte Sebastian wissen. Frethnal schien es einiges Unbehagen zu bereiten, darüber zu reden, denn er sah hilflos zur Decke, als befand sich dort die Antwort auf Sebastians Frage. Er wollte nicht mit der Sprache heraus rücken und zögerte.
»Also los jetzt«, forderte ihn Sebastian ungeduldig auf, »was hat das mit den Räumen der befreiten Stimmen auf sich?« Er beobachtete Frethnal scharf und sah mit Erstaunen, wie ihm mit einem Mal Tränen aus den Augen liefen und sich ihren Weg über seine Wangen suchten.
»Herr...«, begann er immer noch zögernd, »...Frethnal war vor vielen Zentaren in jenen Räumen, tief unter der Erde...« Er wischte sich die Tränen fort und sah aus dem Fenster, als könnte er das, was er erlebt hatte, in Bildern aus den Wolken zurück holen.
»Es war zu der Zeit, als ich vom Kind zum Manne wurde, Herr, zu der Zeit, als Torbuk meinen Vater und meine Mutter nach Quaronas holte. Davor lebten wir bescheiden in einem der Täler der schlafenden Sonne. Mein Vater war Schmied in unserem Dorf. Meine Mutter, mein älterer Bruder und ich, wir holten die roten Steine aus den Bergen und schmolzen das Metall heraus, aus denen mein Vater gute Schwerter machte«.
Wieder rannen ihm Tränen übers Gesicht. Die Erinnerung an seine Kindheit schien ihn in eine tiefe Trauer zu stürzen und er schluckte ein paar Mal, bevor er etwas gefasster fort fuhr:
»Einmal holten wir die Tränen der Götter aus dem Berg.., sie waren eines Tages einfach da, also brachten wir sie dem Vater, der ein ganz besonderes Schwert daraus schmieden wollte. Es sollte ein Schwert für Torbuk sein, mein Vater wollte den Fürsten von Quaronas damit beeindrucken, er hatte die Hoffnung, Hofschmied zu werden, um meiner Mutter ein besseres Leben bescheren zu können.«
Frethnal wandte sich wieder Sebastian zu und sah plötzlich eingefallen und sehr müde aus. Er wankte ein wenig und es war ihm anzusehen, wie nahe ihm dieses Erlebnis auch nach so langer Zeit noch ging. Sebastian rückte einen Stuhl zurecht.
»Hier setzt euch erst mal.., und dann erzählt weiter«, ermutigte er ihn. Frethnal starrte ihn an, als begriff er nicht so recht, denn er kannte es nicht, dass ihn ein Herr, noch dazu Areos, der Sohn seines Königs, von Gleich zu Gleich aufforderte, sich zu setzen.
»Aber der König, Herr.., sollten wir nicht endlich...« Sebastian schnitt ihm mit einer Handbewegung das Wort ab.
»Ach, der König.., der kann gut einen Moment warten, macht euch darüber keine Sorgen. Dem werde ich schon die richtige Geschichte erzählen, damit er euch in Ruhe lässt. Und nun sprecht.., was war mit eurem Vater und mit den Tränen der Götter und den Räumen der befreiten Stimmen?«
»Es wurde ein gutes Schwert, Herr«, setzte Frethnal seine Erzählung fort, »das beste Schwert, das je die Schmiede meines Vaters verlassen hatte. Er hatte die Tränen der Götter in Rank und Schrift in das Eisen hinein gearbeitet. Es war ein Meisterstück. Vater gab es dem nächsten Kurier mit, der es zu Torbuk bringen sollte.«
»Und Torbuk gefiel es nicht?« fragte Sebastian, als Frethnal nicht weiter sprach. Der hob unwissend die Schultern und suchte nach Worten.
»Doch, Herr.., schon möglich.., ich weiß es nicht. Zunächst geschah gar nichts und wir vermuteten, dass der Kurier es verkauft hatte und sich den Lohn einverleibte. Doch dann.., eines Tages, ganz unverhofft, erschienen Soldaten in der Schmiede. Sie sagten, sie müssten uns zum Hofe von Quaronas bringen. Mein Vater und meine Mutter freuten sich sehr, denn nun glaubte mein Vater, der neue Hofschmied zu werden...«
Frethnal hielt in seinem Bericht inne und seine Augen bekamen einen traurigen, feuchten Schimmer. Schweren Herzens sprach er weiter:
»Aber anstatt in eine neue Schmiede, brachten sie uns in die Räume der befreiten Stimmen, in die Gewölbe tief unter der Burg, wo es feucht und auch in der Zeit des langen Schnees warm ist. Meinen Bruder Terbal und mich sperrten sie in einen Käfig, aus dem wir alles mit ansehen mussten. Dann banden sie meine Mutter und meinen Vater an die Wand und...«
Die Stimme versagte Frethnal und er brach erneut in Tränen aus. Es dauerte eine Weile. Bis er sich etwas beruhigt hatte und mit zitterndem Atem das zu beschreiben versuchte, was Sebastian vermutete, das er selbst geträumt hatte.
»Herr.., die Räume der losen Stimmen und befreiten Seelen werden so genannt, weil die Menschen, die in sie gebracht werden, ihre Stimmen lösen, oder ihre Seelen befreien und in das Reich der Toten gehen. Meine Eltern lösten ihre Stimmen und gingen dennoch in das Reich der Toten. Torbuks Soldaten peinigten sie viele Sonnen lang.., sie wollten wissen, woher sie die Tränen der Götter hatten. Meine Mutter löste ihre Stimme und beteuerte, dass sie aus unserem Berg waren und dass es nur sehr wenige waren, nicht mehr, als jene, die mein Vater in das Schwert schmiedete.
Doch sie glaubten ihnen nicht. Es waren viele Sonnen, die mein Bruder und ich ihre Schreie hörten und sahen, was die Soldaten mit ihnen machten, wenn sie ihnen immer wieder diese eine Frage stellten, woher wir die Tränen der Götter hatten. Bald erkannten wir ihre Gesichter nicht mehr, sahen nur noch ihre Gestalten, die mehr des Todes waren, als des Lebens.« Frethnal verstummte und Sebastian musste nicht weiter fragen.
Die gelösten Stimmen und befreiten Seelen waren die grausamen Foltermethoden in den Kerkern Quaronas. Sebastian hatte es geträumt und es machte ihm Angst. Nicht nur, weil er sich vor seiner möglichen Fähigkeit fürchtete, in die Zukunft träumen zu können, sondern im Grunde davor, was ihm und Antarona möglicherweise noch bevor stand.
»Einmal erwachten mein Bruder und ich und unsere Eltern waren fort...« Frethnal, inzwischen selbst mehr den Träumen nahe, als dem Wachen, offenbarte unaufgefordert seine Erlebnisse weiter, als würde er sie nicht mehr ihm, Sebastian erzählen, sondern sich selbst in Erinnerung rufen.
»Dort, wo sie an der Wand hingen, waren nur noch leere Ketten. Wir hörten sie nicht mehr schreien, wir sahen sie nicht mehr zusammengesunken in den Eisen.., wir waren allein. Die Soldaten sagten uns, dort, wo sie nun waren, würden sie Torbuk nicht mehr betrügen können... Mein Vater.., meine Mutter.., betrügen... Sie ehrten mit den Tränen der Götter jenen, der sie töten ließ!«
Abgrundtiefe Verachtung lag plötzlich in Frethnals Stimme und er rang wieder mit seinen Tränen. Der Hass in ihm schien die Trauer zu besiegen.
»Nun, Herr.., kennt ihr das Geheimnis jener Räume der gelösten Stimmen und befreiten Seelen, jenes Ortes, den ihr, verzeiht mir, in eurem Traum gesehen habt.« Sebastian nickte zustimmend.
»Sagt, Frethnal, habt ihr jemals erfahren, was mit euren Eltern geschehen war?« fragte Sebastian, mehr um seinem Diener seine Anteilnahme zu bekunden, als um der Information willen.
»Das war nicht nötig, Herr, das brauchten wir nicht. Irgendwann hatten wir gewusst, was wir bereits geahnt hatten. Nachdem unsere Eltern fort waren, hatten sie Terbal und mich in einen Ochsenwagen gesperrt und weit fort, in die Täler der schlafenden Sonne gefahren, wo viele von uns die Tränen der Götter aus den Bergen holen müssen. Mein Bruder musste mit anderen Ival die Steine aus dem Berg schlagen, in dem die Tränen der Götter ruhen. Ich war noch zu klein und wurde dazu eingeteilt, mit Kindern aus anderen Familien jene Steine auszusortieren, in welchen sich die Tränen befanden.
Irgendwann erzählte uns einer im Berg, dass unsere Eltern wohl im Reich der Toten bei den Göttern waren und auf uns herabblickten und stolz auf uns wären, wenn wir nicht verzagten und auf die Zeit der Prophezeihung warteten.« Sebastian, vom Schicksal seines Dieners erschüttert, fragte leise und mitfühlend:
»Wie habt ihr es dann geschafft, nach Falméra und auf die Burg des Königs zu kommen? Das war sicher ein langer Weg nicht?«
»Es war viele Monde später, Herr.., mein Bruder war krank geworden, er hustete in einem Fort und spie Blut, da waren die Tränen der Götter im Berg mehr und mehr versiegt. An manchem Sonnenlauf holten wir nur noch die schwarzen Steine aus dem Berg und suchten vergeblich nach jenen Tränen, die Torbuk so begehrt.«
»In jenem Mond kamen einige der wilden Horden, Torbuks schwarze Reiter zum Berg. Einige Oranuti Fürsten waren bei ihnen und sagten uns, dass sie uns befreien wollten und viel dafür bezahlen müssten, um uns aus der Gefangenschaft zu lösen.«
»An einem Sonnenbeginn wurden wir alle auf Ochsenwagen verladen und durch die Berge gefahren. Jene, die noch laufen konnten, wurden mit Peitschen daneben her getrieben. Wir marschierten durch Steine, Wälder, Sümpfe. Nahe Zarollon gingen wir in die Wasserwagen der Oranuti, welche uns nach Falméra brachten. Seither hatte ich Terbal nicht mehr gesehen«, schloss Frethnal seine Geschichte.
»Habt ihr nie versucht, ihn wieder zu finden?« fragte Sebastian verwundert. Sein Diener hob entschuldigend seine Handflächen.
»Sie hatten all jene, welche noch nicht Männer waren, oder zu schwach zur Arbeit, sogleich auf die Burg gebracht, für leichte Dienste. Seit her diene ich in der Festung. Nur ein, oder zwei Male durfte ich mitgehen, wenn Dinge auf dem Markt zu besorgen waren. Wie hätte ich da Terbal finden sollen?«
»Nun...«, stellte ihm Sebastian in Aussicht, »das lasst von nun an mal meine Sorge sein, Frethnal. Ich werde mich darum kümmern. Irgendwie werden wir euren Bruder schon wieder finden, nicht wahr? Ihr seid jetzt mein Diener und ich will verdammt sein, wenn ich nicht wenigstens euren Bruder für euch finden kann!«
Frethnal fiel zu seinen Füßen auf die Knie und senkte seinen Kopf. Sebastian war von dieser Geste so überrascht, dass er impulsiv einen Schritt zurück trat.
»Ihr seid so gütig, Herr. Frethnal hatte bereits von eurer Güte als Heerführer und Waffenbruder gehört, als ihr gegen Torbuks Armee antratet. Ich möchte mich euch freiwillig anschließen, wenn ihr wieder gegen Torbuk und Karek zieht. Wenn es noch einmal zum Kampf kommt, so will Frethnal im Gefecht an euerer Seite stehen...«
»Na, na, na.., mal nicht gleich übertreiben ja...«, beschwichtigte Sebastian die spontane Ehrbezeugung seines Dieners, »...soweit sind wir noch lange nicht! Aber wenn es soweit ist, dann will ich gern auf euer Angebot zurückkommen, versprochen!«
Sebastian glaubte nicht wirklich an die Kampftauglichkeit Frethnals, ahnte aber, dass diese Zusage seinem Selbstwertgefühl zugute kam. Ein Stück Hoffnung weitergeben zu können, gab Sebastian selbst neuen Mut, den kommenden, vielleicht aussichtslos erscheinenden Entwicklungen mit innerer Stäke und Ruhe zu begegnen. Möglicherweise hatte er sogar einen neuen Freund und Vertrauten gefunden.
»Herr, solltet ihr euch nun nicht eilen und dem Wunsch seiner gütigen Hoheit nachkommen, euch zum Ende des Sonnenlaufs bei Tisch einzustellen?« erinnerte ihn Frethnal an den Befehl des Königs. Sebastian schreckte aus seinen Gedanken. Daran hätte er fast nicht mehr gedacht, zu weit war das Schicksal dieses Mannes in den Vordergrund gerückt.
Nun galt es, sich wieder mit den Zwängen auseinander zu setzen, mit denen er sich und Antarona belastet hatte, als er sich das Vorhaben einfallen ließ, den König um Autonomie für das Val Mentiér zu bitten. Irgendwie musste es ja weiter gehen. Zudem wollte er den König bitten, im Gegenzug für seine Dienste als vermeintlichem Sohn, wieder mit Antarona zusammen sein zu können, denn ohne sie in dieser Welt zu leben, kam ihm erst gar nicht in den Sinn.
»Na dann mal los, Frethnal, bringt mich durch dieses verworrene Gemäuer zum König...«, versuchte Sebastian unbeschwert zu klingen, »...mal sehen, was der wieder für mich auf Lager hat.
Frethnal sah seinen Herren entgeistert an. Sebastian wurde indes bewusst, dass er den letzten Satz in seiner Sprache, anstelle jener der Ival gesprochen hatte und musste lächeln.
»Das, mein lieber Frethnal, das ist die Sprache der Götter. Nur wer im Reich der Toten war, kann sie verstehen.., also sorgt euch nicht, wenn ich mal etwas sage, das fremd für eure Ohren klingt«, beruhigte er ihn.
Mit gemischten Gefühlen im Bauch folgte Sebastian seinem Diener über den Korridor. Ein Blick aus den Fenstern verriet ihm, dass die Zeit, in der er vom König erwartet wurde, längst überschritten war.
Draußen hatte sich längst die Dämmerung über das Land gelegt. Die Berge im Osten glichen nur noch gewölbten Schatten und über der Bucht von Falméra hing eine Dunstglocke, von der Sebastian nicht mit Bestimmtheit sagen konnte, ob sie nun Nebel war, oder der Rauch von den unzähligen Feuern war, die inzwischen wieder entfacht wurden.
Frethnal führte ihn in den großen Treppenturm, hinter dessen Tür ein bewaffneter Wachsoldat stand, der Sebastian und seinen Diener mit argwöhnischem Blick musterte, aber keinerlei Anstalten machte, sie aufzuhalten. Sebastian konnte nur darüber mutmaßen, ob die Wache entweder über die Legitimation seines Gangs unterrichtet war, oder aber grundsätzlich nur einen symbolischen und einschüchternden Zweck hatte. Dies auszutesten war etwas, wozu er später wohl noch genug Zeit hatte.
Sebastian zählte die Türen, die sie im Treppenabgang passierten und kam zu dem Schluss, dass sie sich im ersten Geschoss befanden, als eine weitere Wache eine Tür aufstieß und sie in ein dunkles Vorzimmer entließ. Aus einer finsteren Ecke löste sich eine hagere Gestalt, die sich als Bentals lauernder Diener Hekthur entpuppte.
»Seine gütige Hoheit, der König ist weder gewohnt, noch geruht, auf jene zu warten, die zu ihm bestellt sind, Herr!« empfing er Sebastian mit eisigem Ton. Frethnal widmete er nicht einmal einen flüchtigen Blick, als würde dieser gar nicht existieren. Er ließ ihn wie einen lästigen Gegenstand im Raum stehen und öffnete für Sebastian die Tür zu einem Raum, der eher die Ausmaße eines kleinen Saals besaß.
»Areos, eure gütige Hoheit.., er ist soeben gekommen«, kündigte er Sebastian knapp an und blieb in der Tür stehen. Sebastian trat in den von hunderten Kerzen erleuchteten Raum und hörte, wie sich hinter ihm die Tür schloss. Hinter einer Säule war eine riesige Tafel gedeckt. Goldene Tischleuchter wechselten sich mit Speisen und Krügen voll Wein ab, reihten sich aneinander, bis zum Ende des Tisches, an dem eine in sich zusammen gesunkene, zierliche Gestalt im himmelblauen Kleid saß.
Antarona hob nur kurz den Blick, sah dann wieder traurig auf die Tischplatte und den silbernen Teller, der vor ihr stand. Sebastian glaubte Tränen in ihrem Gesicht schimmern zu sehen. Er ging um den Tisch herum, auf sie zu und rief in seiner Sprache:
»Antarona, mein Engelchen, ich bin es.., dein Basti, erkennst du mich nicht, ich hatte dich so...« Er sprach nicht zu ende, denn in diesem Augenblick trat ihm jemand in den Weg, der im Schatten der dunklen Wand gewartet hatte.
»Er kommt spät, doch er kommt... Der Mann, der von den Göttern kam...«, erklang es in einem Sarkasmus, den Sebastian selbst nicht besser hätte zelebrieren können, »...verzeiht mir, wenn ich eure Herkunft nicht ganz so märchenhaft betrachte, wie meine Tochter, aber als Herrscher dieses Landes darf ich nicht nur meinen Gefühlen nachgeben.., ihr versteht?«
Der König blieb stehen, musterte Sebastian aufmerksam und machte mit seinem Auftritt klar, dass dieser Anlass nicht dazu gedacht war, seiner Tochter Antarona und dem Fremden, den er als seinen Sohn präsentieren musste, einen zweisamen Abend zu bescheren.
»Außerdem werdet ihr euch befleißigen, in meiner Gegenwart, sowie im Beisein von Gästen und Beratern des Hofes, eure Sprache der Götter, oder, was sie sonst sein mag, nicht mehr erklingen zu lassen. Euer Ival mag noch etwas fleißbedürftig sein, dennoch werdet ihr euch der Sprache meines Volkes und seiner Verbündeten bedienen.., ich denke wir verstehen uns?«
Die Anordnung, die er wie eine Frage klingen ließ, nahm Sebastian zunächst die Sicherheit, mit der er dem König die Stirn bieten wollte. Sebastian fing sich aber rasch und ignorierte sie.
»Antarona.., was habt ihr mit ihr gemacht«, fragte er statt dessen und an Bental vorbei zu Antarona gewandt, »...bist du in Ordnung, geht es dir...«
»Euer gütige Hoheit ist die Anrede für mich«, unterbrach ihn der König abermals, »und ja, es geht ihr gut.., und wir haben nichts mit ihr gemacht, das wider dem Willen eines liebenden Vaters ist«, klärte er Sebastian knapp auf.
»Ist es der Wille eines liebenden Vaters, das Glück seiner Tochter zu zerstören, von ihr zu verlangen, den Mann, welchen sie liebt...«
»Ich habe von ihr nichts verlangt«, fuhr ihm Bental wiederum über den Mund, »ihr habt die Erlaubnis, Antarona danach zu fragen. Aber ich habe mir gemäß meines Rechts als König dieses Landes die Freiheit genommen, sie in allen Dingen, welche ich auch mit euch bereits besprochen habe, aufzuklären. Und was ich euch nun zu verkünden habe, Areos, das ist nach einer vernünftigen Einsicht auch ihr Wunsch!« verkündete er anstelle Antaronas.
Sebastian schüttelte langsam und zweifelnd den Kopf. Das war unmöglich! Was war aus ihrer Liebe geworden? War sie in Antaronas Herz einfach so erloschen? Nein, das wollte er nicht glauben, das konnte einfach nicht sein! Sein Herz schrie förmlich vor Sehnsucht nach ihr und ihres sollte plötzlich nichts mehr für ihn empfinden?
Als König Bental die Hände auf seinem Rücken verschränkte und seinen berühmten Auf- und Abmarsch in einem weiten Kreis begann, um sich für das zu sammeln, das er seinem Pseudosohn zu sagen hatte, nutzte Sebastian die Gelegenheit.
Er stürmte an Bental vorbei, durchmaß mit wenigen Schritten die Länge der Tafel und stand augenblicklich vor Antarona, die erschrocken von ihrem Stuhl hochgefahren war. Mit fragendem Blick sah er sie an und gewahrte die Bäche von Tränen, die ihr übers Gesicht rannen.
Einen Lidschlag lang suchten sich ihre Augen, dann ließen sie jegliche Vorsicht fahren und lagen sich so heftig in den Armen, dass auch rohe Gewalt sie kaum hätte trennen können. Sebastian zog seine Frau so fest an sich, dass ihr fast die Luft weg blieb. Ihre Lippen suchten sich in hemmungslosen, nicht enden wollenden Küssen, zwischen ihrem zitternden Schluchzen und seinen stammelnden Worten, sie niemals im Leben wieder los zu lassen. Antarona klammerte sich verzweifelt an ihn, wie eine Ertrinkende an den einzigen über dem Wasser hängenden Ast.
»Oh, Ba - shtie.., es ist so schrecklich.., ich hatte euch so vermisst, dann diese Angst, und jetzt das.., ich soll die Tochter des Königs sein.., eure Schwester, und wir dürfen uns nicht mehr sehen, für das Volk.., und für...« Sie weinte sich buchstäblich die Augen aus und nichts erinnerte mehr an die Selbstsicherheit der Kriegerin, die eiskalt den Tod eines Feindes beobachten konnte, ohne eine Wimper zu bewegen. Sebastian küsste ihr zärtlich die Tränen von den Lippen und flüsterte ihr zu:
»Mein Engelchen, du weißt, dass ich nicht dein Bruder bin, dass ich nicht Bentals Sohn bin.., er hat es dir doch gesagt, oder?« fragte Basti und sah ihr verunsichert in die Augen. Sie schlug still ihren Blick nieder und nickte bestätigend.
»Dann ist es doch klar und es liegt nur bei uns allein, ob wir uns lieben, oder nicht«, stellte Sebastian tollkühn fest, »wir lassen uns einfach von niemandem unsere Liebe verbieten, von nie-man-dem.., hörst du?«
Antarona hängte sich bebend an seinen Hals und verbarg ihr Gesicht auf seiner Brust. Sebastian spürte ihre warmen Tränen auf seiner Haut und jede einzelne brannte sich in sein Herz, wie ein flammendes Schwert. Er wünschte sich eins zu werden, mit jeder Faser ihres zitternden Leibes, damit sie für immer untrennbar verbunden waren und niemand ihre Liebe je wieder in Frage stellen konnte.
»Wir können versuchen, in meine Welt zu gelangen, Antarona«, hauchte er ihr vorsichtig ins Ohr, »die ist zwar auch nicht edler, als das Volossoda, aber dort können wir wenigstens zusammen sein.«
Tränen erfüllte Augen sahen ihn entwaffnend an. Tiefe traurige Augen, die mehr ausdrückten, als ihre Worte es je vermocht hätten. Sie schüttelte hoffnungslos den Kopf und ließ ihre Schultern hängen, wie ein Baum seine welken Blätter im Herbst.
»Nein, Ba - shtie.., wir können nicht einfach fort gehen. Das Volk braucht uns! Ihr, Areos, seid seine letzte Hoffnung! Und meine Liebe für euch... Ba - shtie.., die wird niemals enden, auch, wenn wir uns nicht sehen dürfen, so werden wir doch einander spüren, denn alles, was wir in unseren Herzen tragen...«
»Auch als König werde ich kaum die Wachen rufen können, ohne mich erklären zu müssen...«, unterbrach sie Bental plötzlich, der bis dahin verdächtig ruhig geblieben war, »...doch wir können nicht ewig so beieinander stehen. Glaubt mir aber, dennoch werde ich die Interessen meines Volkes durchsetzen können, wenn ihr nicht der Vernunft verständig seid.., A-re-os!« Beinahe schrie er es heraus.
Sebastian gab ihm in Gedanken recht. Augenblicklich konnte er nichts gegen ihre Liebe tun, wollte er seine Geschichte vom wiedergekehrten Sohn vor dem Volk, den Dienern und dem Gesinde, sowie seinen Vertrauten aufrecht erhalten.
Letztlich und auf Dauer gesehen, besaß er notfalls die Macht, Sebastian eines Nachts einfach verschwinden zu lassen. Für die Augen und Ohren des Volkes hatte er Areos dann auf eine wichtige Mission geschickt, bei der er dann leider ein Opfer eines feindlichen Angriffs geworden war.
Gewiss erreichte er seine Interessen eher mit einem gefügigen Areos- Schauspieler, doch er würde auch ohne diesen zum Ziel gelangen. Sebastian schätzte die Lage richtig ein und beruhigte seine Frau:
»Antarona.., wir müssen jetzt erst einmal eine Weile stark sein.., ja.., und unsere Herzen wird niemand gefangen halten können, sie werden immer frei sein! Und ich möchte hier niemandem Gelegenheit geben, mich die Räume der losen Stimmen und befreiten Seelen kennen lernen zu lassen«, setzte Sebastian noch ironisch hinzu.
Der König, nicht ganz so pietätlos, wie Sebastian ihn eingeschätzt hatte, bewahrte während der ganzen Zeit einen gewissen Abstand zu ihnen, kam jetzt aber näher und sprach leiser, für die Ohren der Wände nicht mehr hörbar:
»Ich stelle beruhigt fest, ihr habt meine Botschaft verstanden, Fremder.., wie nennt ihr euch noch.., Mann der von den Göttern gesandt wurde?« Bental ließ mit seinem Sarkasmus keinen Zweifel darüber aufkommen, dass er Antaronas Darstellung von Sebastians Herkunft nicht nur nicht als die viel gelobte und erwartete Prophezeihung betrachtete, sondern diese Ansicht auch noch für ausgesprochen kindisch hielt.
»Lauknitz.., Sebastian Lauknitz.., das ist mein tatsächlicher Name, eure gütige Hoheit«, stellte Basti richtig. Der König nickte, als hätte er eben diese Antwort erwartet und wippte viel sagend zwischen Zehen und Fersen auf und ab.
»Ich weiß, dass ihr vom Wächter des Tores zum Reich der Toten und der Götter..., von ihrem Halbbruder...«, dabei nickte er zu Antarona hinüber, »...gefunden wurdet.., verletzt, wie ich gehört habe. Nun stellt sich von selbst die Frage, woher kommt ihr wirklich, wenn ihr nicht ein Verräter von Torbuk gesandt seid, was ich bis jetzt noch nicht ausschließen kann...«
»Ich bin kein Verräter.., ich habe gesehen, was dieser Mordbrenner anrichtet, ich habe gegen ihn zusammen mit Sonnenherz, Arrak und anderen gekämpft!« erboste sich Sebastian und setzte hinzu:
»Schließlich und endlich war ich es, der dem Achterrat den Vorschlag unterbreitete, zu euch zu gehen und um eine Eigenständigkeit des Val Mentiér zu bitten, damit die Ival den Mut haben, Torbuk mit freiem Willen und im Namen ihrer Familien wenn nicht besiegen, aber zumindest aufhalten, bis eine Armee unter eurem Zeichen zum Kampf bereit ist!«
»Eure Worte höre ich wohl, Seba.., Areos, jedoch werdet ihr erst beweisen müssen, was in eurem Sinn und in eurem Herzen ist«, entgegnete Bental, »Gelegenheit dazu werdet ihr bekommen.« Er machte eine kleine Pause, als müsste er seine nächsten Schritte überdenken, dann fuhr er fort:
»Erweist mir treu eure Dienste als Areos, als mein Sohn.., und tut es wohl für das Volk der Ival und der Oranuti, so werde ich euch unbehelligt lassen.., mehr noch, euch gleich wie an Sohnes statt behandeln. Seid ihr darüber hinaus bemächtigt, Torbuk und Karek zu besiegen, Quaronas zu bezwingen und das Land für den rechtmäßigen Herrscher von Volossoda und der Städte Falméra, Quaronas und Zarollon zu befrieden, so versichere ich euch hiermit, eine Verbindung meiner Tochter mit euch nicht mehr abgeneigt zu betrachten!«
Stille machte sich im Saal breit, selbst Antaronas Schluchzen verstummte. Sebastian war so überrascht vom Zugeständnis Bentals, dass er zunächst nicht wusste, was er sagen sollte. Andererseits war ihm freilich klar, das eine Bezwingung Torbuks, selbst mit Hilfe der Oranuti, eine Ewigkeit in Anspruch nehmen konnte. So lange sollte er Antarona nicht sehen dürfen?
»Hat es euch die Sprache genommen, Areos?« fragte Bental tadelnd und mit hochgezogenen Augenbrauen. Erklärend stellte er weiter fest:
»Dies ist ein Entgegenkommen, das ich euch gnädig erweise. Versteht es wohl und seid versichert und gewarnt gleichermaßen.., ich gewähre es euch nicht um euer Willen, sondern um meiner Tochter und um des Volkes Wohl.
Gelingt es euch, das Land unter meiner Herrschaft zu einen, so werde ich euch und mein einzig Kind Antarona ziehen lassen, wohin ihr begehrt. Mag sein, ich gewähre euch, offen vor dem Volke als verbundenes Paar zu bleiben, was ich, wie ihr wohl versteht, zu dieser Zentare nicht zu entscheiden vermag.«
»Aber es gibt noch keine Armee, Torbuk zu bezwingen...«, begehrte Sebastian auf, »...es wird viele Zentaren brauchen, kampfbereite und erprobte Männer zu finden und auszurüsten, die Oranuti zu gewinnen und gegen Quaronas ziehen zu lassen. Kann sein, dass es viele Winter dauert, bis Torbuk bezwungen ist...« Sebastian schnappte nach Luft und argumentierte weiter:
»Wie lange wollt ihr das Band unserer Liebe, das auch unser Leben erhält, durchtrennen? Wie lange wollt ihr Antarona vor aller Augen verbergen? Sie wird als Gefangene der Burg krank werden, wie ein Vogel krank wird, den man einsperrt. Wir werden möglicherweise alt und grau sein, bevor Torbuk und Karek verschwunden sind...«
Sebastian wartete auf eine Reaktion Bentals, doch der hörte nur gespannt zu, sagte aber kein Wort, ja regte nicht einmal seine Augenbrauen.
»Bedenkt, euer gütige Hoheit.., wenn ihr uns bereits jetzt ziehen lasst, unsere Liebe frei gebt, ohne Aufsehen.., so könnten wir vom Val Mentiér aus...« Bental kam plötzlich mit schnellen Schritten auf Sebastian zu und sprach leise, aber mit gefährlichem Unterton:
»Ihr fordert, dass ich euch jetzt ziehen lasse.., ohne Aufsehen?« Er schüttelte verständnislos den Kopf und ließ sich sogar zu einem kurzen Lachen hinreißen.
»Wie, glaubt ihr, könnte ich euch jetzt noch ohne Aufsehen ziehen lassen, nachdem ihr euch bereits selbst mit viel Aufsehen angekündigt habt, so, dass der ganze Hofstaat euch sah, meinen Sohn, der aus dem Reich der Toten zurückgekehrt ist? Meint ihr, euer Auftritt im Fenster bliebe in diesen Mauern verborgen?« Bental schritt wieder auf und ab, mit festerem Schritt, der seine eigene Verzweiflung zum Ausdruck bringen sollte.
»Schon jetzt laufen in der ganzen Stadt die Menschen zusammen, wollen dem von den Göttern gesandten Areos, dem zurück gekehrten Sohn des Königs huldigen. Es bedurfte bereits einiger Anstrengung, Antarona, meine Tochter, dem Volk als eine Bedienstete zu erklären, welche euch im Überschwang der Freude um den Hals viel.« Etwas leiser, als befürchtete er, belauscht zu werden, fuhr er fort:
»Glaubt mir.., wenn ich es dem Volk und meinem Staat erklären könnte, würde ich euch eher in dieser Zentare, als später, die Räume, welche ihr gerade selbst erwähntet, sehen lassen! Vielleicht wäre ich sogar geneigt, euch im Mondlauf ziehen zu lassen, in schwerem Herzen auch mit meiner Tochter, wenn sie darauf bestünde...«
Der König wirbelte wütend herum, entfernte sich ein paar Schritte von Sebastian, kam dann aber demonstrativ zurück Und sagte anfügend:
»Statt dessen muss ich nun nach dem nächsten Sonnenlauf ein rauschendes Fest ausrichten lassen, um meinen Sohn, von den Toten zurück gekehrt, willkommen zu heißen und ihn dem Volk zurück geben. Oh ja.., ihr wart beliebt beim Volk, nicht zuletzt, da ihr euch ein ums andere mal gegen mich, euren Vater stelltet. Das Volk zollt euch Bewunderung, für die Güte, die es an euch kannte. Und euer Gang in das Reich der Toten nach der großen Schlacht, machte euch noch dazu zum Märtyrer.«
»Auch darum muss ich euch mit einem angemessenen Anlass in die Dienste Falméras zurückführen.., das Volk und meine Berater erwarten das! Darum hört nun gut zu, was ich zu sagen habe und... Schweigt, solange ich spreche!« König Bental baute sich einer Statue gleich vor Antarona und Sebastian auf, wartete einen Moment, bis er sicher war, dass die beiden ihm zuhörten und erklärte:
»Eure Diener, Frethnal und die Wenderin, werden euch zur rechten Zeit zum Fest geleiten, zu welchem alle Hofberater und hohen Krieger, Elwha, sämtliche wichtigen Bürger Falméras sowie die Fürsten und einflussreichen Bürger von Oranutu geladen sind. Sollte es einem eurer Diener wiederum einfallen, euch zu spät, oder unangemessen gekleidet zur Eröffnung zu geleiten, so werden sie es sein, welche die Räume der losen Stimmen und befreiten Seelen aufsuchen, darauf habt ihr mein Wort.«
»Es war nicht Frethnals Schuld, dass ich zu spät kam, eure gütige Hoheit«, versuchte Sebastian einzulenken, »ich war es, der...« Der König unterbrach seine Entschuldigung:
»Es ist genug! Ich gebot euch zu schweigen.., und ich erinnerte euch schon einmal daran, ihr seid Areos, der Sohn des Königs... Ihr verteidigt euch nicht, sondern steht immer zu eurer Tat! Gleiches gilt auch für die Dienerschaft, das Gesinde und die Wachen!« Er wandte sich nun Antarona und Sebastian gleichermaßen zu.
»Ihr werdet euch beide bemühen, so viel Stärke und Würde aufzubringen, euch während der Festlichkeiten nicht noch einmal zu einer solchen Schwäche der Gefühle hinreißen zu lassen, wie gerade eben. Um euer selbst Willen und um des Volkes Wohl rate ich euch, künftig Abstand zueinander zu wahren. Ihr, meine Tochter, seid die geladene Tochter eines hohen Kriegers meines Heeres und ihr, Areos, mein Sohn, der nach den Geboten der Götter eine Oranuti freien sollte, steht es nicht an, sich ihr in vertraulicher Weise zu nähern!«
»Ich bin noch nicht fertig«, herrschte Bental einen verdutzten Sebastian an, der etwas erwidern wollte. Er atmete tief ein und wieder aus, bevor er sie ermahnte:
»Es wird endlich an euch selbst liegen, Areos von Falméra, wie ernst ihr euch um eure Aufgabe bemüht, wie lange es dauert, bis es vor den Blicken der Götter, und ich meine damit Elwha, und jenen des Volkes statthaft ist, euch wieder einander näher zu kommen.« Bental vergewisserte sich, dass ihm Sebastian zuhörte und ihn verstand, ohne seine Sinne auf Antarona zu konzentrieren. Dann erklärte er:
»Selbst in meiner eigenen Burg habe ich verdeckte Schergen Torbuks und ich werde nicht zulassen, dass Zweifel darüber aufkommen, dass ihr, Areos, mein erstgeborener Sohn seid und irgendwann beabsichtigt, eine Oranuti zur Frau zu nehmen. Des weiteren wird es auch für das Gesinde keinen Anlass geben, zu glauben, im obersten Geschoss dieser Mauern lebt eine verborgene Prinzessin. Die Garantie dafür ist euer beider Verhalten, das zu jeder Zentare über allem erhaben sein wird.., ansonsten wird das Reich der Ival als freies Land für immer untergehen. Und das lasse ich nicht zu.., niemals! Habt ihr beide das verstanden?«
»Es war unmissverständlich und sehr deutlich«, bestätigte Sebastian, während Antarona nur traurig und verzweifelt zu Boden blickte. Sie, Sonnenherz, die freie Kriegerin der Ival, der ganze heimliche Stolz ihres Vaters, Hedaron, Holzer zu Fallwasser... Ach nein.., sie war ja nun nicht mehr dessen Tochter, sondern eine geborene Prinzessin der Ival! Aber sie fühlte sich als Tochter des Mannes, der sie nach dem Tod ihrer Mutter... Wer war eigentlich ihre Mutter?
Antarona schwirrten so viele ungeklärte Gedanken im Kopf herum, dass sie selbst nicht mehr wusste, wer sie eigentlich war. War sie überhaupt eine reinblütige Ival? Sprach nicht Bental davon, dass ihre Mutter eine Prinzessin der Oranuti gewesen war, eine Tochter jenen Volkes, das sie selbst so verabscheute?
Für Antarona brach die Welt, die sie bis zu diesem Tage gekannt hatte, völlig zusammen. Nichts war mehr, wie es noch vor drei Stunden gewesen war, bevor der König sie zu sich rufen ließ und ihr etwas erklärte, das sie schon nach den ersten Sätzen als so ungeheuerlich empfand, dass sie alles nur noch im schwindelnden Rausch ihrer Sinne wahr nahm.
Sie war nicht mehr fähig zu denken, sie konnte nicht mehr lachen, nichts mehr sagen, sie war nicht mehr sie! Dazu verlor sie ihre einzige Hoffnung, die ihrem Dasein und ihrem Kampf für das Volk neue Kraft gegeben hatte: Ba - shtie, der Mann der als wiedergekehrter Areos von den Göttern gesandt war, mit dem sie die Elsiren für das Leben verbunden hatten. Auch ihn hatte sie nun verloren!
Außerdem sollte sie fortan das Leben einer Gefangenen führen, sie, die als einzige neben Arraks Windreitern dem mächtigen Torbuk die Stirn geboten hatte! Welchen Sinn machte ihr Leben noch, wenn sie seinen Rest himmelhoch über den Dächern der Burg eingesperrt, fristen musste?
Bentals hallende Schritte auf dem Parkett brachten sie aus ihrer Gedankenwelt zurück. Der König ging zur Tür, die zum Treppenturm führte und stieß sie nicht gerade sanft auf.
»Hekthur!« rief er in die Dunkelheit des Vorzimmers. Es dauerte eine Weile, bis sich eine weitere Tür öffnete und sich Hekthurs Stimme vernehmen ließ.
»Das Mahl bitte!« blaffte Bental seinen Diener an und trug damit offen seinen Unmut über die aktuelle Situation zur Schau. Er war mit der Lösung seiner Probleme nicht zufrieden, konnte aber nicht viel daran ändern, wie er vor ein paar Minuten selbst zugegeben hatte.
Geduckt, wie ein geprügelter Hund schlich Hekthur schnell an Bental vorbei und öffnete die Doppelflügel einer mächtigen Tür, die Einlass in den Nebenraum bot, der ebenfalls hell erleuchtet war. Allein für die Herstellung der Kerzen dieses Anlasses, musste wohl eine kleine Armee von Kerzendrehern und Ziehern einige Nächte in Sonderschicht verbracht haben, mutmaßte Sebastian.
Das geöffnete Zimmer offenbarte eine Tafel, die jener im Saal in nichts nach stand. Dort waren einfache, aber in üppigem Maße Speisen aufgebaut, die von einer kleinen Schar Bediensteter flankiert wurde. Sebastian überlegte, ob dies weniger ein Essen für ihn und Antarona, als denn mehr eine Generalprobe für das kommende Fest war.
»Wollt ihr nun die Güte haben und an der Tafel Platz nehmen«, forderte Bental sie beide auf. Antarona ließ sich wieder dort nieder, von wo sie aufgestanden war, während Bental selbst sich an die Mitte des langen Tisches setzte.
Sebastian wollte zu Antaronas Ende gehen, um neben ihr zu sitzen, doch mit einer unmissverständlichen Geste schob ihm Hekthur einen Stuhl am gegenüber liegenden Ende zurecht. Bentals scharfer Blick, dem nicht das geringste Detail entging, wachte über die Einhaltung der Sitzordnung.
Ein unauffälliges Kopfnicken Hekthurs genügte und sofort setzte sich die wartende Dienerschaft in Bewegung. Sie huschten wie Schatten heran, nahmen die Teller, wieselten zum Buffet hinüber, luden Speisen darauf und kamen mit ihnen ebenso schnell zurück.
Sebastian hatte einen Mordshunger, denn die letzten Tage waren an Kost nicht gerade mit Überfluss gesegnet. Trotzdem ihm vor ein paar Minuten, bei der Ansprache Bentals noch jeglicher Appetit vergangen war, schob er sich das Essen in den Mund.
Bental selbst aß nur wenig, ließ sich aber ohne Zurückhaltung aus den Krügen einschenken. Welches Getränk er da in sich hinein kippte, konnte Sebastian nicht feststellen. Er selbst wählte einen Krug, der eine relativ Vertrauen erweckende Flüssigkeit enthielt. Es war eine Art obergäriger Apfelwein, leicht perlend, aber nicht hochprozentig.
Antarona indes hockte zusammengesunken an ihrem Platz und schien nichts von alle dem anzurühren, was man ihr vorsetzte. Beim vorherrschenden Licht und der acht Meter langen Tafel konnte Sebastian auch nur vermuten, dass ihr die Tränen in Strömen über das Gesicht liefen.
Wie gerne würde er sich zu ihr setzen und sie trösten, ihr sagen, dass es schon irgend eine Möglichkeit gab, sich dem Bann des Throns zu entziehen und dennoch für das Volk zu kämpfen. Doch er ahnte, dass Bental sofort die Tafel auflösen ließ, sollte er dies versuchen.
So sehr das diensteifrige Gesinde sich auch bemühte, es an nichts fehlen zu lassen und so sehr auch Bental bestrebt war, die Gänge und Zutaten zu erläutern, um die Atmosphäre aufzulockern, so sehr scheiterte das Ganze in einem lächerlichen Versuch.
Die Stimmung war im Keller und konnte eisiger nicht sein. Drei Menschen, auf eine acht Meter lange Tafel verteilt, stocherten im Essen herum, schwiegen sich an und mieden, zumindest in Bentals Richtung, jeden Blickkontakt.
Durch das belastende Schweigen schon sichtlich gereizt, versuchte der König die Stille zu beenden. Er legte genervt sein Messer beiseite, mit dem er unlustig den Wafanbraten gequält hatte, nahm seinen Becher zur Hand, stellte ihn aber mit knallendem Laut zurück auf die Tischplatte, nachdem er festgestellt hatte, dass er leer war. Sofort sauste einer der Diener heran, um ihn aufzufüllen, was paradox war, denn der Krug mit dem Getränk stand direkt vor Bentals Nase.
»Sobald das Fest vorüber ist...«, brach Bental das bedrückende Schweigen, »...und alle Gäste die Burg verlassen haben, was einen Sonnenlauf weiter so sein wird, werde ich oder einer meiner Berater euch in eure künftigen Aufgaben einführen.«
Antarona und Sebastian sahen gleichermaßen auf. Unschlüssig, wem von beiden diese Ankündigung zugedacht war, sahen sie sich über die Tafel hinweg fragend an.
»Sie werden für euch...«, dabei sah er allein Sebastian an, »...einige Entscheidungen bedeuten, welche ihr zu treffen habt, freilich nicht ohne sie mit mir vorher beraten zu haben. Diese Aufgaben werden für euch auch gewisse Freiheiten mit sich bringen.« Der König beugte sich etwas zu Sebastian hinüber, was bei der Entfernung zueinander den Charakter einer warnenden Geste besaß.
»Diese Freiheiten gewähre ich euch nur, um die Glaubwürdigkeit eurer Person als Areos, meinen Sohn zu wahren. Solltet ihr daran denken, sie zu missbrauchen, so wird sie...«, damit wandte er sich schließlich Antarona zu, »...die Folgen daraus zu tragen haben.., seid euch stets, was immer ihr tut, dessen bewusst! Euer Handeln und das Maß eurer Treue zum Thron von Falméra bestimmen Geschick und Fügung nicht nur für euch, sondern auch für den König und damit für Falméra und das ganze Volk der Ival!«
Bental schob seinen Teller von sich, ignorierte den inzwischen aufgefüllten Becher und stand auf. Da Antarona und Sebastian keine Anstalten unternahmen, sich ebenfalls zu erheben, verkündete er bestimmendem Ton in Richtung Antarona:
»Wenn ihr des Tranks und der Speise genug habt, meine Tochter, so wird euch Medunzia wieder sicher in eure Gemächer geleiten, während ich mit Areos noch zu sprechen habe.« Damit nickte er Hekthur zu, der mit steinernem Gesicht Antaronas Stuhl zurückzog und sie zur Tür aus dem Saal geleitete.
Auf dem Weg dorthin kamen sich Antarona und Sebastian noch einmal zum Berühren nahe. Beide spürten die große Anziehungskraft zueinander und wollten sich gerade wieder in die Arme fallen, als Bental schon zur Stelle war, und Sebastian mit sich beiseite schob.
»Eines muss ich euch noch kund tun, bevor auch ihr eure Gemächer aufsuchen dürft«, erklärte er, während Sebastian aus den Augenwinkeln seinem geliebten Krähenmädchen noch rasch sehnsuchtsvolle Blicke hinterher warf. Er gewahrte gerade noch, wie sie mit bettelnden Augen und Tränen überströmtem Gesicht seine Blicke beantwortete und zögernd der burschikosen Dienerin Medunzia folgte.
Bental wartete, bis sich die Tür hinter Antarona geschlossen hatte. Er verschränkte wieder die Hände auf dem Rücken, nickte leicht, mehr für sich selbst, wie Sebastian vermutete und sprach:
»Wie ihr wohl bereits bemerkt habt, stehen Wachen vor allen Zugängen der Gemächer. Sie unterstehen allein meinen Anordnungen und sind zu eurem Schutz dort. Sie haben Anweisung, auf Begehren eurerseits nicht zu handeln, sollt ihr wissen.« Als Sebastian nicht antwortete, beendete Bental den Abend.
»Ihr dürft euch nun zurückziehen. Hekthur wird euch darüber unterrichten, wann und wie ich euch zum großen Fest erwarte. Und schärft eurem Diener ein, sich an die Regeln des Hofes zu gewöhnen, sowie ich euch rate, nicht zu vertraut mit ihm zu werden, denn er stand einst in den Diensten Quaronas!« Noch mit den letzten Worten drehte er sich um, schritt gemächlich der Fenstergalerie des nächsten Zimmers entgegen und überließ Sebastian seinem verstockten Diener.
In Sebastian kochte die Wut hoch, denn er begriff ziemlich schnell die Taktik des Königs. Die Erklärung hinsichtlich der Wachen war völlig überflüssig, denn Sebastian wusste das ja bereits von seinem Weg zu diesem Saal. Viel mehr wurde deutlich, dass es lediglich eine Finte Bentals war, um zu verhindern, das sich Antarona und Sebastian noch einmal näher kamen. Basti schluckt seinen Zorn nur mit Mühe hinunter und folgte dem Diener zur Tür.
Hekthur begleitete ihn auf den Korridor und zurück in den Treppenturm. Er wünschte ihm eine angenehme Ruhe und verschwand hinter der sich schießenden Tür. Sebastian stand mit der Türwache allein im kahlen, steinernen Turm.
Der Wachsoldat würdigte ihn keines Blickes, starrte ungebrochen auf einen Punkt irgendwo an der gegenüber liegenden Wand. Von dem war kaum mehr als ein Schweigen zu erwarten, dachte Sebastian und begann seinen Aufstieg über unzählige Stufen.
War er zunächst versucht, die Treppe hinab zu steigen, um die unteren Stockwerke zu erkunden, so verwarf er die Idee rasch wieder. Auch vor diesen Türen standen Wachen, die ihm kaum Zugang gewähren würden, da war er sich sicher.
Der Soldat vor der Tür des zweiten Geschosses rührte sich nicht, als Sebastian dicht an ihm vorbei trat. Er stand da, wie das Opfer eines Zaubers, der jedes Lebewesen versteinerte. Erst die Wache vor der Tür seines Geschosses trat bereitwillig und freundlich nickend beiseite, als Sebastian die Stufen herauf kam.
Doch Basti stieg an dem Soldaten vorbei, weiter hinauf. Er wusste, dass sich Antaronas Gemächer im dritten Geschoss befanden und wollte keine Gelegenheit unversucht lassen, zu ihr zu gelangen. Zudem war er neugierig, wie der Wachmann vor seiner Tür reagierte.
Der Soldat nahm ganz unspektakulär wieder seine Position ein und ließ jede Regung in seinem Gesicht erfrieren. Kopfschüttelnd über so viel Kaltschnäuzigkeit erklomm er die weiteren Stufen bis zur Tür des dritten Stocks. Fordernd trat er auf das Podest und vor den Wachsoldaten, der in voller Breite die Tür bewachte.
Wie Sebastian erwartet hatte, wich der Soldat nicht einen Millimeter zur Seite. Mit sturem Geradeausblick sah er einfach durch ihn hindurch. Er hatte auch nicht vor, noch am späten Abend Stress mit diesem menschlichen Bollwerk zu beginnen und schlenderte frech grinsend wieder die Treppe hinab, als hätte er sich eben nur mal die Beine vertreten.
Die Wache vor seiner Tür ließ ihn freundlich in seine Gemächer treten und wünschte ihm sogar einen geruhsamen Schlaf. Wenn er den nur finden konnte, nach all den Erfahrungen dieses Tages!
Im Korridor wurde Sebastian von seinem Diener Frethnal empfangen, der ihm unaufgefordert einen Umhang mit hellem Fellbesatz über die Schultern legte.
»Die Zeit der schlafenden Sonne ist meist sehr kalt, Herr.., besonders hier oben, wo man oft den Wind des Festlands spürt«, klärte er Sebastian auf. Entlang des gesamten Korridors brannten kleine Fackeln und Kerzen in den Halterungen und Basti vermutete, dass Frethnal die Zeit seiner Abwesenheit damit verbracht hatte, all diese Lichter zu entzünden.
»Seid bedankt, Frethnal«, erwiderte Sebastian die fürsorgliche Geste seines Dieners mit einem freundlichen Nicken.
»Es ist schon sehr spät, und ihr werdet wegen des Festes sicher auch viel zu tun haben. Ihr könnt euch nun zurückziehen, ich denke ich brauche euch heute nicht mehr«, versicherte ihm Sebastian.
»Ach und sorgt euch nicht um die Lichter.., ich werde sie löschen, wenn ich mich zur Ruhe begebe«, fügte er noch hinzu.
»Aber Herr.., es ist meine Aufgabe, euch zu Diensten zu sein...«, wollte er aufbegehren, »...und es obliegt dem Kammerdiener jedes Licht...«
»Es obliegt dem Kammerdiener, seinen Herrn allein zu lassen, wenn dieser es wünscht«, unterbrach ihn Sebastian in freundschaftlichem Ton, »und ich möchte allein sein und etwas nachdenken, wenn es euch nichts ausmacht, Frethnal.«
»Sicher, Herr, wie ihr wünscht, so wird es geschehen. Wenn ihr meiner dennoch bedürft, Herr, so bedient euch dieser Glocke...«, womit er nach einer dicken Kordel griff, die aus der hohen Decke heraus hing und mit einem Ring versehen war.
»Zieht daran, so werde ich zur Stelle sein«, versprach er unterwürfig. Sebastian legte ihm versöhnlich eine Hand auf die Schulter und sagte lächelnd:
»Ich denke, das wird nicht nötig sein, Frethnal.., schlaft euch nur gut aus, denn wie ich das sehe, werdet ihr ab Beginn des neuen Sonnenlaufs noch genug durch die Gegend gescheucht werden. Und jetzt ab mit euch!«
Frethnal verbeugte sich tief und huschte dann wie ein flüchtiger Schatten davon. Sebastian hatte nur darauf gewartet, unbeobachtet zu sein. Denn Antarona ging ihm nicht mehr aus dem Sinn. Er wusste, dass sie zu dieser Stunde so einsam und traurig war, wie selten zuvor in ihrem Leben. Doch wie sollte er sie trösten?
Irgendwie musste er einen Weg zu ihr finden! Ihre Zimmer lagen nur ein Stockwerk höher. Es musste doch möglich sein, diese eine Etage trotz sturer Wachen zu überwinden! Mit Sicherheit gab es eine Möglichkeit, er musste sie nur finden!
Entschlossen riss Sebastian eine kleine Fackel aus der Wandhalterung und stieß die Tür zum ersten Zimmer auf, an das er gelangte. Er achtete jedoch darauf, nur Räume zu betreten, die nicht zum Hof hin gelegen waren. Es war nicht nötig, dass Augen aus anderen Stockwerken seine Wanderung durch die Räume beobachteten.
Er befand sich im Rüstzimmer, in das man am Vormittag seine Sachen verfrachtet hatte. Es brannte kein Licht und er sah auch keine Notwendigkeit, eines zu entzünden. Statt dessen hob er die Fackel ein wenig an, um besser sehen zu können und trat durch die nächste Tür ins Schlafgemach. Es bestand aus einem Holz getäfelten Zimmer, mit gekrönten Lilienmotiven an den Wänden und einem gespannten Fußbodentuch mit den Schriftzeichen der Ival gemustert.
In der Mitte stand ein großes, stabiles Bett unter den Ecksäulen eines festen, von Zierleisten umrahmten Baldachins. Eine mit reichen Schnitzereien verzierte Kommode, ein Tisch, ein paar Stühle und ein Armsessel, sowie ein Schrank aus gleichem Holz, füllten den großen Raum nicht ganz aus.
Sebastian spähte in jede Ecke, als hoffte er eine heimliche Treppe zu finden, die ihn ungesehen ein Geschoss höher brachte. Durch einen von Säulen gestützten Bogen gelangte er in das Ankleidezimmer, wo er seine neuen Sachen wusste. Hier brauchte er nicht zu suchen, denn dieses Zimmer hatte er schon in Augenschein genommen, als er sich für die Tafel des Königs ankleidete.
Im nächsten Raum führte eine Tür in eine ringartige Galerie mit vielen Fenstern, in deren Mitte sich ein Treppenturm befand. Die Tür war, wie zu erwarten, verschlossen. Sebastian stemmte sich dagegen, klopfte das Holz ab und stellte fest, dass es das Massivste war, das ihm bisher bei einer Tür untergekommen war. Jeder Versuch, dort hindurch zu gelangen war aussichtslos!
So ging er von einem Zimmer zum nächsten, forschte in diese Ecke und in jene Nische, sah hinter diese Wand und jene Tür, spähte aus Fenstern, deren Verriegelungstechnik er zunächst begreifen musste. Vergebens! Nirgendwo schien es eine Schwachstelle zu geben, die ihm den Weg zu Antarona verhieß.
Er schlich durch ein großzügig angelegtes Bad, durch Vorzimmer, Räume, die mit Schriften voll gestellt waren, Zimmer, die ein bestimmtes Thema zu haben schienen und Kammern, die einfach nur zu irgendwelchen verriegelten, unüberwindbaren Treppentürmen führten, zu denen er keinen Schlüssel besaß.
Drei hintereinander liegende Zimmer mit gemütlicher Einrichtung machten zwischenzeitlich Hoffnung. Im äußeren Zimmer, das von drei Wänden mit großen Fenstern und einer Tür zu einem Balkon beherrscht wurde, befanden sich zwei typische Türen mit Spitzbogen, die in kleine Treppentürmchen führten. Vom Balkon aus konnte Sebastian erkennen, das diese Türmchen lediglich Antaronas Stockwerk mit dem seinen verbanden.
Natürlich waren die Türen fest verschlossen. Die Schlösser waren so massiv, dass man sie hätte aufsprengen müssen, um in eines der Türmchen zu gelangen. Sebastian dachte über den Versuch nach, sich mithilfe von Schwertern, Messern oder anderem Werkzeug durch das Holz zu arbeiten. Da die Türmchen ausschließlich in seinen, sowie in Antaronas Gemächern lagen, mussten die Geräusche nicht unbedingt die ganze Burg aufwecken.
Es würde ein oder zwei Nächte in Anspruch nehmen, sich durch das harte Holz zu schneiden. Wie aber versteckte er die Spuren seines Ausbruchversuchs? Spätestens am Morgen würde irgend ein Bediensteter aus dem Gesinde, oder gar Hekthur selbst, sein heimliches Tun bemerken und ihn verraten. Er musste sich etwas einfallen lassen, das verhinderte, dass jemand sein Bemühen entdeckte.
Inzwischen musste er darüber nachsinnen, wie er Antarona zumindest eine Nachricht zukommen lassen konnte. Intuitiv fielen ihm Tekla und Tonka, Antaronas treue Krähen ein. Wann hatte er die zum letzten mal gesehen? War es bei Antaronas Tante.., auf dem Weg nach Falméra, oder noch bei ihrer Flucht durch die Stadt? Er hatte es vergessen.
Aber waren die beiden Schwarzgefiederten denn nicht immer in ihrer Nähe, egal, wo sich Antarona gerade aufhielt? Einer verzweifelten Hoffnung nachgebend, trat er auf den Balkon hinaus. Ein milder Wind strich ihm ins Gesicht, der von den schattigen Bergen herab wehte, die wie eine Mauer aus Fels und Wald die ganze Burg zu umrahmen schienen.
Der Duft von Tannen und Holzfeuern drang zu Sebastian herauf und erinnerten ihn an die vielen Nächte, die er mit Antarona in Zweisamkeit unter ihren warmen Fellen verbrachte, am glimmenden Lagerfeuer, in weiten Wäldern, oder über den Tälern des Val Mentiér, als sie auf dem Weg zu ihres Vaters Haus waren, oder auf ihrem Weg nach Falméra.
Sebastian spürte die tiefe Sehnsucht, das starke, unbändige Verlangen nach ihrer warmen Haut, nach ihrem Duft, nach ihrer Stimme.., nach Antarona! Er sah zu den dunklen Fenstern hinauf, welche zu ihren Gemächern gehören mussten und stellte sich vor, einen Weg zu ihr zu finden und ganz überraschend unter ihre Decke zu kriechen, die Wärme ihres Körpers zu empfangen, ihr langes, kräftiges Haar zu fühlen, Ihren Atem auf seiner Haut zu spüren...
Aber nicht einmal von ihren Krähen war etwas zu sehen, die ihr wenigstens hätten eine Botschaft von ihm bringen können. Nur der Wind sang sein ewiges Lied, das über jenes Land zog, von dem Sebastian noch so wenig wusste.
Enttäuscht blickte er an der mächtigen Fassade der Burg entlang, die sich scheinbar endlos hinzog, bis zu einem vorspringenden Gebäudeteil, den Sebastian als das große Bad erkannte, an dem ebenfalls ein Balkon hing. Vielleicht konnte er von da aus...
Basti schloss die Tür und hetzte durch die Zimmer zurück zum Bad, das durch einen großen Bogen optisch in zwei Räume geteilt war. Nach Osten hin führte eine große Tür auf den geräumigen Balkon. Erwartungsvoll trat er hinaus, hatte aber allein schon Mühe, um die Ecke zur Fassade zu spähen.
War da am Ende des Flügels nicht noch ein Zimmer mit einem großen Freisitz? Sebastian versuchte sich zu erinnern, während er durch Salon, Ankleidezimmer und Schlafzimmer, sowie durch den Waffenraum in das letzte Zimmer vorstürmte.
Er befand sich in dem Raum, der ihm von Frethnal als Jagdzimmer vorgestellt wurde. Eine großer, beinahe quadratischer Raum, von dessen Wänden ihn die abenteuerlichsten Geschöpfe anstarrten. Ausgestopfte Köpfe von Wesen, die er sich nicht einmal in seiner Phantasie hatte vorstellen können, hingen in Reihe und Glied und schienen ihn zu beobachten.
Blödsinn.., dachte Sebastian, wie konnten tote Tiere ihn anstarren? Dennoch flüchtete er regelrecht durch die große Tür auf den großflächigen Freisitz, der von einer Mauerkrone aus Zinnen umgeben war. Links erhob sich der Schatten eines schlanken Treppenturms, rechts blickte er wie gehofft, an der Fassade entlang.
Tatsächlich schien aus den Fenstern im Raum über seinem eigenen Schlafzimmer ein gelbliches, flackerndes Licht. Antarona.., schoss es ihm durch den Kopf. Sie konnte ebenfalls vor Sehnsucht nicht schlafen! Sebastian sah sich suchend um und fand einige Steinbröckchen, die aus den Fugen der Mauerkrone heraus gebrochen waren.
Gleich mehrere nahm er in seine Hand und warf sie einzeln zu Antaronas Fenstern hinauf. Doch sie prallten jedes Mal entweder an tiefen Laibung oder der dicken Säule ab, die das Fenster in zwei Hälften teilte. Das Fenster selbst war so tief in die Mauer eingelassen, dass es schon an ein Wunder grenzen musste, wenn er die Bleiverglasung traf. So ging es nicht!
Sebastian versuchte seine Chancen abzuschätzen, einfach über die Brüstung zu klettern und sich an den Ornamenten und Gesimsen der Fassade zu den Fenstern seiner geliebten hinauf zu hangeln. Aber das hatte er ja nicht einmal als Stuckateur gewagt. Und dem großen Bergsteiger aus seiner Welt fehlte die Ausrüstung für ein solch waghalsiges Unternehmen.
Blieb nur noch, hinauf zu rufen, wie Romeo es bei Julia getan hatte. Sebastian rief. Verhalten erst, dann gewagter, schließlich so laut, dass er befürchtete, die ganze Burg, Bental eingeschlossen, aufzuwecken. Doch seine Stimme ging im ewigen Rauschen unter, das vom Bach unten herauf drang, der die Burganlage umflutete. Antaronas Fenster blieben geschlossen.
Statt dessen hörte Sebastian am nahen Turm ein Klacken. Er drückte sich in den Schatten der Wand und lugte um die Ecke herum, die schlanke, runde Flucht hinauf. Oben, etwa ein Stockwerk höher, schob sich ein Kopf über das Sims des Turmfensters und Sebastian musste zwei Mal hinschauen, um sicher zu gehen, dass er sich nicht einbildete, was er sah.
Ein feines, elfenhaftes Gesicht mit langer, blonder Mähne erschien und sah suchend umher. Das helle Haar des Mädchens, vom Mondlicht beleuchtet, erstrahlte wie das einer märchenhaften Fee und flog seiner Trägerin wild um den Kopf, als es der Wind ergriff. Nur einen Moment lang konnte er das Mädchen beobachten, dann war es wieder verschwunden.
Jede weitere Hoffnung begrabend, ging Sebastian in das Jagdzimmer zurück und weiter in den Korridor. Niedergeschlagen begann er mehr mechanisch, als mit Überlegung die Lichter zu löschen, wie er es Frethnal versprochen hatte. Mit jeder Flamme, die erlosch, starb auch seine Hoffnung und machte einer düsteren Enttäuschung Platz.
Müde, traurig und ausgelaugt schlich er mit seiner einsamen, letzten Fackel ins Schlafzimmer, entzündete den Leuchter auf der Kommode und legte sich in ein hartes, kaltes und einsames Bett. Er fror angesichts der unerfüllten Hoffnung, mit Antarona unter ihren Fellen zu liegen.
Unruhig wälzte er sich auf seinem Lager hin und her, versuchte sich mit dem zuzudecken, was das Bett ihm bot. Doch die schwere, bestickte Decke war einfach zu steif und viel zu kratzig, um in Frieden einschlafen und die böse Welt vergessen zu können.
Schließlich stand Sebastian wieder auf, nahm den Leuchter von der Kommode und schlich durch die Zimmer, bis er den Raum erreichte, in dem er am Mittag eingeschlafen war. Frierend raffte er sich so viele der weichen Felle zusammen, wie er fassen konnte und trug sie ins Schlafzimmer.
Wie in den kalten Nächten auf dem Weg über die Berge, wühlte er sich in die Pelze und begann irgendwann zu träumen, von einem schönen, behaglichen Zuhause.., von Frieden.., von Antarona...
     
  Wichtiger Hinweis: Die Texte des Autors Frank Adlung, insbesondere die des Romans "Das Geheimnis von Val Mentiér", sind durch notarielle Hinterlegung urheberrechtlich geschützt. Ein Herunterladen und Ausdrucken ist nur für den privaten Zweck des Lesens gestattet. Kommerzielle Nutzung, öffentlicher Vortrag, oder Vervielfältigung und Verfälschung des Inhalts, sowie öffentliche Verbreitung ohne Genehmigung des Autors sind untersagt und werden zur Anzeige gebracht.
 
 
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