Das Geheimnis von Val Mentiér
 
25. Kapitel
 
Auf verborgenen Wegen
 
en ganzen Nachmittag und Abend über waren Gäste eingetroffen. Sie tummelten sich in Gruppen auf dem Hof, oder verschwanden im großen Turm des Ostflügels. Antarona hatte schon früh damit begonnen, sich für das Fest zurecht zu machen. Sie hatte ausgiebig in Rosenblütenblättern gebadet, und ihren Körper mit dem duftenden Öl des Mondbaums eingerieben.
Sie rechnete fest damit, auf der großen Feier in Sebastians Nähe zu kommen und wollte für ihn perfekt sein! Vesgarina half ihr, das schönste Kleid auszusuchen, das gerade eben noch das strenge Reglement des Protokolls erfüllte. Sie legte sich ein pastell- sonnengelbes Kleid zurecht, das an Hüfte, Ausschnitt und Ärmeln mit einer golden schimmernden Bordüre abgesetzt war. Darüber trug sie wieder den goldfarbenen Gürtel ihrer Mutter.
Geduldig flocht sie sich in mühevollen Stunden viele kleine Zöpfe, die aus ihrer schwarzen Mähne optisch herausragten. Dazu besorgte ihr Vesgarina eine rote Blüte aus dem Burggarten, die sie sich ins Haar stecken wollte. Zwischen hunderten von Schuhen suchte sie sich leichte Sandalen aus, die mit langen Lederriemen bis über das Knie gebunden wurden.
Als sie mit ihrem Aussehen endlich zufrieden war, führte sie Vesgarina in den Südsalon, in den das Licht der sich neigenden Sonne fiel. Der geschmackvoll mit Bildern und kleinen Statuen eingerichtete Raum gefiel ihr. Sie konnte zwischen zwei Tischen und einer Gruppe von weichen Sofas hin und her wandern und ihren Gedanken ihren Lauf lassen.
Durch die geöffneten Türen zum großen Freisitz kam milde, nach dem Harz der Nadelwälder duftende Luft herein und lud Antarona instinktiv zu Erinnerungen ein. Sie befand sich gerade mal zwei Tage auf der Burg, vermisste aber schon die Freiheit der Wälder und hohen Bergweiden, die sie stets durchstreifte und die ihr alle Freiheit ließen, die sie sich nur erträumte.
Vor allem aber vermisste sie Ba - shtie. Trotz seiner Unerfahrenheit im Land der Ival schätzte sie aber seine direkte Art, mit selbst fremden Dingen umzugehen. Und es war ihr herz, das nicht mehr auf Areos, den Mann verzichten konnte, der mit den Zeichen der Götter gekommen war und ihr neue Hoffnung im Kampf gegen Torbuk und Karek gegeben hatte.
Es war alles so einfach gewesen, so schön und unkompliziert. Sie jagten zusammen, kämpften miteinander gegen einen gemeinsamen Feind, sie aßen und tranken zusammen und während des Mondes teilte sie ihr Lager mit Ba - shtie, der ihr so viel Wärme und Erfüllung gab. Das erste Mal dachte sie darüber nach, eine eigene Hütte in der Nähe des Hofes ihres Vaters zu haben und mit Ba - shtie einen Sohn groß zu ziehen.
Dann kam Bental.., der König jenes Volkes, für das sie seit frühester Jugend aufbegehrte gegen die schwarzen Reiter der Wilden Horden, die ihre Mutter getötet hatten. Er ließ sie zu sich rufen und erklärte, dass nicht Hedaron, der Holzer, sondern er selbst ihr Vater war und dass ihre Mutter nicht jene war, die ihr die Liebe und den Schutz gab, als sie klein war, sondern eine Prinzessin der Oranuti.
Ausgerechnet eine Oranuti! Eine aus dem Land der Unbekleideten, die sie so hasste, weil sie dem Volk der Ival nicht wirklich halfen. Überall waren Oranuti.., bei jeder Zusammenkunft des Achterrats, auf jedem Markttag in den Dörfern und überall in der Stadt Falméra. Doch nie hatte sie einen die Waffe gegen die schwarzen Reiter erheben gesehen.
Nun wollte man ihr einreden, ihre Mutter sei eine Oranuti gewesen und nicht die liebevolle, gütige Frau, die sie stets Mutter nannte. Bental hatte ihr gesagt, dass er sie als kleines Kind zum Holzer brachte, damit das Volk nicht von Torbuk geknechtet werden konnte. So war Tark gar nicht ihr Bruder.., der gute Tark, der sie beschützt hatte und zu dem sie in der Not gelaufen kam, als ihre Mutter nicht mehr da war.
Das Schlimmste an allem war, dass der Mann, der erste, dem sie wirklich vertraute, welcher ihr Herz besaß, mit dem sie unter dem Segen der Elsiren verbunden war... Dieser Mann sollte auf einem Mal ihr Bruder sein, und Bentals Sohn, und er sollte sich mit einer Oranuti verbinden, nachdem sie ihm sein Herz wieder frei gab!
Hinzu kam noch, dass sie selbst eine halbe Oranuti sein sollte! Das traf sie am schwersten, denn so müsste sie sich ja selbst hassen, für das Blut der Unbekleideten, das in ihren Adern floss. Sie war zur Hälfte Oranuti, behauptete Bental.
Das würde die Farbe ihrer Haut erklären! Bereits als Kind wusch und badete sie sich mehr als alle anderen Kinder, weil ihr ihre dunkle Haut aufgefallen war. Alle ihre Spielgefährtinnen waren blasser, als sie. Stets glaubte sie, schmutzig zu sein, da sie dunkler war. Etwas, das ihr lange, bis in ihre Jugend hinein, zu schaffen machte und wodurch sie sich daran gewöhnte, sich nicht nur am Waschtag zu reinigen.
Im Gegensatz zu anderen Ival und zum Leidwesen ihres Vaters.., des Hedaron, nahm sie täglich ein ausgiebiges Bad im See, rieb sich mit Mondkraut, oder dem Öl des Mondbaums, oder mit dem Saft der Zehn-Finger-Pflanze ein, welche einen Wohlgeruch auf ihre Haut zauberten und diese weich werden ließ.
Auch die Oranuti- Frauen taten dies. Aber sie fühlte sich immer nur als eine Ival, nie als Oranuti. Sie hasste die Oranuti, welche, wie sie glaubte, nicht ehrlich waren! Und nun sollte sie eine von ihnen sein, eine Oranuti! Und sie sollte sich gegen die Verbindung ihres Herzens stellen, obwohl sie fühlte, dass Ba - shtie niemals ihr Bruder war! Sie spürte es einfach.., sie wusste es! Dennoch verlangte Bental von ihr, Ba - shtie.., Areos, freizugeben.
Er gab ihr drei Sonnen und Monde Bedenkzeit. Drei Tage, doch sie wollte keine Entscheidung treffen, bis sie Ba - shtie nicht selbst fragen konnte, ob sie ihm sein Herz frei geben soll. Denn sie spürte noch das gegenseitige Verlangen, das in ihrem Leib glühte, wie ein nicht zu löschendes Feuer. Doch Bental verhinderte seit ihrem Eintreffen auf der Burg, dass sie ihn fragen konnte. Die Ungewissheit raubte ihr Ruhe zum klaren Denken!
Auf diesem Fest, mit Beginn des Mondlaufs, würde sie Ba - shtie sehen und sie würde spüren, ob er noch mit ihrem Herzen verbunden war, oder sich bereits von ihr gelöst hatte. Sie hatte Angst davor, dass er sie nicht mehr begehrte, doch noch mehr ängstigte sie das Warten und nicht Wissen!
Antarona wartete darauf, zum Fest geholt zu werden. Sie wartete eine Zentare, sie wartete drei.., nichts geschah. Zwischendurch erschien Vesgarina. Sie legte eine Elsiren- Krone vor Antarona auf den Tisch, jenes Stirnband, welches die jungen Frauen zum Elsiren- Tanz trugen. Es war ein einfacher Kopfschmuck aus einem edlen Metall, oder Bein, der zu vielen festlichen Anlässen getragen wurde und von Generation zu Generation, von der Mutter an die Tochter weiter vererbt wurde.
Vesgarina legte ihr ein beschriebenes Pergament dazu. Nehmt meine Elsiren- Krone für das große Fest, sè whú Á-mis-rà. Antarona lächelte ihre Kammerzofe dankbar an. Als sè whú Á-mis-rà, meine große Schwester, wurde sie noch von keiner Frau bezeichnet. Es bedeutete ihr sehr viel, von Vesgarina als große Schwester betrachtet zu werden.
»Ist es eure eigene Elsiren- Krone, Garina«, wollte Antarona wissen. Vesgarina legte sich die flache Hand auf die Brust, was so viel bedeutete, dass es ihr Eigentum war. Dann legte sie die Hand flach auf Antaronas Brust, nickte bedeutsam und ihre Augen strahlten vor Stolz. Die Krone sollte ein Geschenk sein!
Antarona war peinlich berührt und verunsichert. Zum einen war sie tief beeindruckt von der Fürsorge ihrer Dienerin und dem Vertrauen, das diese ihr entgegen brachte, zum anderen konnte sie die Elsiren- Krone nicht annehmen, da sie viel zu wertvoll war. Es war ein schönes Stück, aus den weißen Tränen der Götter gefertigt, mit einem aufgesetzten, roten Stein aus Oranutu.
Aber wollte sie das Geschenk ablehnen, so würde sie Vesgarina verletzen und womöglich ihr Vertrauen verlieren. Sie nahm Vesgarinas Hand und legte sie abwechselnd mit ihrer eigenen im Wechsel auf ihr, dann auf Vesgarinas Herz, was so viel bedeutete, dass sie sich als Á-mis-rà, als Schwestern, die Krone teilen wollten.
Vesgarina nickte begeistert, dann fiel sie Antarona um den Hals, wie ein Kind seine Mutter umarmt und drückte sie fest. So viel Vertrauen hatte sie von ihrer neuen Herrin, die sie bereits vor Medunzia beschützt hatte, nicht zu erhoffen gewagt!
Der Anblick ihrer kleinen Zofe erinnerte Antarona an Annuk, an jenes seltsame Mädchen, das ihnen geholfen hatte, die gefangenen Frauen zu befreien und von Torbuks Soldaten so grausam ermordet wurde. Vesgarina würde nichts dergleichen geschehen, nahm sich Antarona fest vor.
Sollten sie die Burg wieder verlassen und ins Val Mentiér zurückkehren, so würde sie das Mädchen mitnehmen! Bisher hatte sie nie eine Vertraute und Freundin zugleich, mit der sie sich austauschen konnte, mit der sie Dinge besprechen konnte, die nur die Frauen etwas angingen, mit der sie offen über Kleider, Schuhe und Herzensdinge reden konnte.
Die Barriere ihrer verlorenen Sprache würden sie schon überwinden können, denn sie verstanden sich bereits jetzt schon ohne Worte wie Schwestern. Antarona war glücklich, Vesgarina an ihrer Seite zu haben, gerade in dieser Zeit, die so voller Ungewissheit für sie war.
Einmal mehr musste sie wieder daran denken, wie verloren sie in diesen Gemäuern doch war. Plötzlich begann sie zu frieren, was aber nicht nur an der sich verabschiedenden Sonne lag. Vesgarina, aufmerksam wie immer, bemerkte ihre fröstelnde Haut und verschwand, um kurz darauf mit einem eleganten, seidenen Schal zurück zu kommen.
Behutsam, als dürfte sie die Gedanken ihrer Schwester nicht stören, legte sie Antarona den leichten Stoff um die freien Schultern. Dankbar sah Antarona ihre Dienerin an.
»Seid bedankt, Vesgarina...«, sagte sie leise, »...es ist wohl besser, drinnen zu warten. Wollt ihr nicht einmal gehen und euch erkundigen, wie lange ich noch warten soll?« fragte sie die Zofe, obwohl sie wusste, was sie von ihr verlangte.
Sollte Vesgarina Medunzia über den Weg laufen, wenn Antarona nicht dabei war... Wer konnte schon sagen, ob Medunzia begriffen hatte, dass es für sie gesünder war, Antaronas Zofe in Frieden zu lassen. Bevor Antarona ihre Gedanken beendet hatte, war Vesgarina schon los gelaufen.
Antarona blickte ihr sorgenvoll nach. Sie würde es sich nie verzeihen, wenn das arme Mädchen diesem Mensch gewordenen Gor zum Opfer fiel! Inzwischen suchten sich die letzten roten Sonnenstrahlen ihren Weg in die Gemächer. Ungeduldig ging Antarona in den Korridor, blickte aus dem Fenster und lauschte.
Der Burghof lag plötzlich wie ausgestorben da. Nur ein paar Kinder tollten unter den Bäumen herum, deren Blätterwerk kaum einen freien Blick auf den Hof zuließen. Dafür konnte sie durch die hohen Spitzbogenfenster des Thronsaals um so besser sehen. Viele Menschen saßen dort auf Bänken, tausender kleiner Lichter funkelten zu ihr herauf und sie sah bunte Fahnen von der Decke hängen.
So sehr sie ihre Augen auch quälte, Ba - shtie konnte sie nirgends erkennen. Doch irgend etwas ging dort unten in dem hohen Saal vor! Und sie hatte eindeutig das Gefühl, etwas entscheidendes zu verpassen. Wurde ihr Ba - shtie etwa schon in einer geheimen Zeremonie mit einer Oranuti verbunden?
Ihre Unsicherheit und Unruhe wuchs. Wieso kam niemand und brachte sie zum Fest, das Ba - shtie zu Ehren gegeben wurde? Schließlich war sie es, die ihn gefunden, und ihn auf beschwerlichem Weg zu König Bental gebracht hatte!
Irgendwo ging eine Tür, dann erschien Vesgarina in Begleitung eines Mannes der Wache. Wie zwei Geister traten sie aus dem Dunkel des langen Ganges.
»Wiesbart, von der Hofwache...«, stellte er sich vor, »...welches ist euer Begehr?« Der Mann hatte ein freundliches, aber auch ein wenig dummes Gesicht und war mittleren Alters. Er steckte in einem typischen Waffenrock der Hofwache. Offenbar war er der einzige, den Vesgarina gefunden hatte.
»Warum werde ich nicht zum Fest geholt, wie es der Wille des Königs war...«, konfrontierte Antarona den Soldaten mit einer Frage, die den armen Mann völlig überforderte. Er trat nervös von einem Fuß auf den anderen und Antarona spürte, wie unangenehm ihm die Situation war. Stockend antwortete er:
»Verzeiht einem einfachen Diener der Burg, Herrin, doch davon ist mir nichts bekannt. Die Wache hat vom Kommandeur der Hofwache für den Lauf dieses Mondes nur die Weisung, euch in euren Gemächern zu bewachen und niemanden, ohne Ausnahme zum Fest zu lassen.«
»Wollt ihr mir dann zumindest verraten, ob das Fest schon begonnen hat, Wiesbart?« Antarona setzte ihr süßestes Lächeln auf, jenes, das auch Ba – shtie jedes Mal schwach werden ließ. Wiesbart war nur ein einfacher Mann und empfänglich für ein Lächeln einer schönen Frau.
»Es hat mir niemand befohlen zu schweigen, Herrin.., so ist es wohl nicht verwerflich, zu berichten...«, entschuldigte er sich mehr vor sich selbst und seiner Ehre als Wachsoldat, als vor seiner Obrigkeit.
»Der König übergibt im Thronsaal den zurück gekehrten Areos, seinen Sohn, dem Volk als Thronerbe. Und er wird ihm wohl erneut das Kommando über die Truppen und Heerlager geben. Und außerdem...«, Wiesbarts Stimme wurde geheimnisvoll und leise, »...wird er ihm vielleicht Tálinos geben, das Schwert der Prophezeihung.., ich habe nur gehört, es soll auf des Königs Anweisung hin aus dem Turm geholt worden sein.., wenn nicht, als um des Areos Willen?« Wiesbart wurde immer ungeduldiger und sah sich ständig um, als erwartete er, bei einem Wachvergehen ertappt zu werden.
»Herrin.., verzeiht, doch ich muss euch wieder verlassen.., ich darf eigentlich meinen Posten nicht verlassen.., ihr versteht.., wenn der Hauptmann der Wache...«
»So geht nur wieder auf euren Posten, Wiesbart...«, beruhigte ihn Antarona und belohnte ihn noch einmal mit ihrem verzaubernden Lächeln, »...ich mag nicht daran Schuld tragen, euch von eurer Aufgabe abgelenkt zu haben.., und habt Dank für euer offenes Wort!«
Der Wachsoldat verbeugte sich vor der geheimnisvollen Herrin, welche seit dem letzten Sonnelauf das oberste Geschoss bewohnte und wurde dann von Vesgarina zur Turmtür gebracht. Auf dem Rückweg begann die stumme Zofe die Leuchter an der Wand des Ganges anzuzünden, denn es war inzwischen so dunkel geworden, dass die ersten Sterne den Himmel eroberten.
Während sich Vesgarina bemühte, die Kerzen und Fackeln im gesamten Geschoss zum Brennen zu bringen, wanderte Antarona an der Fenstergalerie zum Hof auf und ab. Sie wusste nicht, nach was sie suchte, oder wonach sie Ausschau hielt. Vielleicht nach einem kurzen Blick auf das Geschehen, oder nach einer Bestätigung, dass ihr Ba - shtie noch keine Verbindung mit einer Oranuti eingehen musste, oder aber nur nach einem sehnsuchtsvollen Blick auf ihren Geliebten, der ihr scheinbar endgültig entrissen wurde.
Vieles ging ihr durch den Kopf. Wenn sie tatsächlich Bentals Tochter war, wie dieser behauptete, warum nahm sie dann bei einem Fest nicht den Platz an der Seite ihres Vaters ein? Hedaron ließ für den Blick anderer nie einen Zweifel darüber aufkommen, dass sie seine Tochter war. Sie war selbst im Achterrat geduldet, ein Rat, welcher ausschließlich den Männern vorbehalten war.
Wie sollte sie eine Entscheidung über ihre Verbindung mit Ba - shtie - laug - nids, mit Areos treffen, wenn sie mit ihm nicht einmal sprechen durfte? Wie sollte sie wissen, ob er sie noch begehrte, oder sie zugunsten einer Oranuti frei gab?
Zwischendurch erwog sie ernsthaft, Nantakis zu holen und sich notfalls mit Gewalt Zutritt zu der stattfindenden Zeremonie zu verschaffen. Es wäre ihr ein Leichtes gewesen, die Wachen Bentals zu überwinden.., doch dann?
Sie musste sich eingestehen, mehr Angst vor den Folgen ihres Handelns für sich und Ba - shtie zu haben, als vor einem Gefecht mit den Soldaten des Königs. Und sie hatte Angst vor der Ungewissheit, vor der Möglichkeit zu erfahren, dass Ba - shtie sie vergessen hatte.
Sollte er ihre Verbindung nicht mehr wollen, so würde sie ihn schweren Herzens frei geben, denn sie durfte ihm, dem König und dem Volk nicht im Weg stehen! Dann würde sie zu Hedaron und Tark zurück gehen und ihren Kampf gegen Torbuks schwarze Reiter im Val Mentiér fort führen!
Wieder blickte sie sehnsüchtig aus dem Fenster hinab auf den Thronsaal. In die Menschen kam plötzlich Bewegung. Die vielen Lichter verließen den Saal und wanderten in einem Fackelzug den Korridor entlang in den Nordflügel, wo sie einfach verschwanden.
Kurz darauf beobachtete sie, dass der Gang des unteren, östlichen Flügels hell erleuchtet wurde. Menschen bewegten sich dort hin und her, eine Tür wurde geöffnet und Musik drang leise, verweht zu ihr herauf. Einige Gäste wanderten über den Hof und verschwanden anschließend wieder im Licht des Ganges.
Nach einer Weile erschien Vesgarina und bedeutete ihr mit Handzeichen, dass sie das essen ihrer Herrin im Salon aufgetragen hatte. Antarona ging mit ihr, aber nur, um ihre kleine Zofe nicht zu enttäuschen, denn Appetit, oder gar Hunger verspürte sie nicht. Zu sehr bedrückte sie ihre Situation, als dass sie nur einen einzigen Bissen herunter gebracht hätte.
Unlustig knabberte sie an einem Stück Wafan, trank einen Schluck Blütenwein und begab sich sofort wieder in den Korridor, von wo aus sie den Hof überblicken konnte. Inzwischen hatten Diener auf dem ganzen Hof Fackeln aufgestellt.
Doch dadurch konnte sie kaum besser sehen, was dort unten vor sich ging, denn der Feuerschein erleuchtete das Blätterdach der Bäume von unten. Sie blickte auf grün leuchtende Kuppeln, zwischen denen sich der gelbliche Schein der Fackeln ausbreitete, hier und dort von einer dahin wandernden Schattengestalt unterbrochen.
Antarona wusste nicht, worauf sie warten oder hoffen sollte, konnte das geschehen dort unten aber ebenso wenig einfach ignorieren. Also wanderte sie ruhelos, von inneren Widersprüchen zerrissen, an den Fenstern auf und ab, in der verzweifelten Hoffnung, vielleicht Ba - shtie dort unten zu entdecken.
Von Vesgarina sorgenvoll beobachtet, versuchte Antarona ein Fenster zu öffnen, um besser sehen und hören zu können. Doch die Riegel waren allesamt mit einem geschmiedeten Eisenring verschlossen. Kurzerhand nahm Antarona eines der Dekorationsschwerter von der Wand und setzte es am Eisenring an, um ihn zu sprengen.
Sofort flog Vesgarina heran, fiel ihr in die Arme und versuchte sie davon abzuhalten. Sie glaubte, ihre schwermütige Herrin würde sich vor Kummer aus dem Fenster stürzen wollen. Nur mit Mühe gelang es Antarona, ihre stumme Dienerin davon zu überzeugen, dass sie nur besser sehen und in die Nacht hinaus lauschen wollte. Beruhigt versuchte Vesgarina ihr nun zu helfen.
Gemeinsam hebelten sie den Ring hoch, es machte einen Ruck und das Eisen brach und ließ sich aufbiegen. Die Flügel schwangen auf und Antarona versuchte über die Brüstung hinaus zu spähen. Die Fenster waren zu ihrer Freude so tief in das dicke Mauerwerk eingelassen, dass sie es wagen konnte, sich auf das Fensterbrett zu setzen.
Der leichte Wind der Nacht wehte ihr ins Gesicht, spielte mit ihren Haaren und ließ sie erleichtert durchatmen. Von unten drang Musik in wildem Rhythmus herauf, die ihr wie ein Zwang in die Knochen fuhr. Sie tanzte für ihr Leben gern und dort unten spielte eine Musik, die sie nur einmal in jedem Jahr hörte, wenn sie nach Mittelau zum Markt fuhren.
Fast war sie versucht, aufzustehen und auf dem Fenstersims zu tanzen. Doch würde Vesgarina glauben, sie sei völlig durchgedreht und wahrscheinlich sofort die Wachen rufen. Als aber eine langsamere Melodie gespielt wurde, ließ sie es sich nicht nehmen, mit ihrem Gesang mit einzustimmen. Wer würde es schon hören, so weit oben?
Antarona sang und Vesgarina ließ sich von der Stimme ihrer Herrin verzaubern. Es war ein Lied aus Antaronas Kindertagen, das ihre Mutter oft gesungen hatte. Ach ja.., sie war ja nicht ihre Mutter gewesen.., behauptete jedenfalls der König. Aber für sie war sie die Mutter, die ihr Schutz und Trost gab! In der Erinnerung an die Frau, welche sie behütet hatte, legte sie so viel Wehmut und Gefühl in ihren Gesang, dass sie damit ihre Zofe zu Tränen rührte.
Das arme Ding tat ihr leid, sicher erinnerte sie sich ebenfalls an etwas, oder jemanden, der ihr sehr fehlte. Sie wollte keinen weiteren Schmerz wecken und beschloss, das Fenster wieder zu schließen. Unbedacht lehnte sie sich weiter hinaus, um den Riegel zu greifen. Der Wind griff in ihre vornüber gebeugte Gestalt und riss ihr das leichte Tuch von den Schultern. Sie versuchte es noch fest zu halten, rutschte mit einem Bein vom Sims und verlor den Halt...
Vesgarina erstarrte, sah ihre Herrin schon in die Tiefe stürzen, doch im letzten Augenblick hielt sich Antarona mit der anderen Hand am Rahmen fest. Ärgerlich sah sie dem Tuch nach, das der Wind davon trug. Zur Beruhigung Vesgarinas schloss sie das Fenster wieder.
Einen Moment lang überlegte sie, dann stand für sie fest, sie musste, egal wie sie es anstellte, zu Ba – shtie gelangen. Sie brauchte Gewissheit! Es war ihr unmöglich, mit dieser unbestimmten Zukunft weiter zu leben. Der Plan, den sie sich bereits zurecht gelegt hatte, nachdem ihr Vesgarina von geheimen Wegen berichtet hatte, reifte in Minuten Schnelle zu einem unumstößlichen Vorhaben heran.
Sie konnte nicht mehr länger warten, wollte ihn gleich umsetzen.., noch in dieser Nacht! Waren wirklich Hunde in den Fluren unterwegs, so musste sie diese ausschalten, was sie bei ihrer Gabe für eine leichte Übung hielt. Jedoch musste sie eine List anwenden, die mehrer Nächte in Anspruch nahm. Je eher sie damit begann, desto schneller war sie bei Ba - shtie!
Antarona machte spontan auf dem Absatz kehrt, steckte das Dekorschwert wieder in seine Halterung an der Wand, ergriff Vesgarinas Handgelenk und zog die verdutzte Zofe kompromisslos hinter sich her ins Ankleidezimmer. Vor Vesgarinas entsetzten Augen riss sie sich die Kleider vom Leib, kramte ihren alten Hüftschurz und das fadenscheinige Oberteil heraus und legte sich die dünne Lederkleidung anstelle eines Kleides an.
Das Messer steckte sie sich in ihren Metallgürtel, ihr Schwert Nantakis behielt sie gleich in der Hand. Mit der Elsiren- Krone auf der Stirn, die sie ganz vergessen hatte, sah sie eher wie eine thailändische Tempelkriegerin aus, als eine Prinzessin der Ival. Doch das störte sie im Augenblick wenig!
»Los, Garina, du zeigst mir jetzt den verborgenen Weg zu den Gemächern des Areos!« Damit schob sie das inzwischen völlig verängstigte Mädchen auf den Korridor hinaus. Vesgarina wehrte mit den Händen ab und malte in panischer Hast mit den Fingern den Umriss eines Hundes auf eine imaginäre Tafel in der Luft.
»Du musst keine Angst haben, Garina...«, beruhigte Antarona ihre aufgeregte Zofe, »...mit den Hunden werde ich schon fertig! Sie werden ganz brav das tun, was ich will und in ein paar Nächten wird sie König Bental von selbst aus der Burg werfen!« Vesgarina starrte ihre Herrin entgeistert an, die sich gebärdete, wie eine wilde Ve-ni-tries, eine, welcher jeder Mann zu sich in die Felle holen konnte, wenn er ihr nur einen Becher Mestas versprach.
»Vertraut mir, Garina.., habt ihr schon einmal von Sonnenherz gehört, jener Ival, welche mit den Tieren spricht?« Zum ersten Mal in ihrem Leben wagte es Antarona, ihre Gabe offen zu preisen. Als Vesgarina schüchtern nickte, und ihre Herrin verwundert ansah, klärte sie das Mädchen auf:
»Ich bin Sonnenherz, meine kleine Schwester.., so sorge dich nicht, denn die Hunde werden dir nichts tun! Und nun kommt, wir wollen keine Zeit mehr verlieren! Wir müssen zurück sein, bevor das Fest beendet ist!«
Nur widerwillig setzte sich die stumme Zofe in Bewegung und führte Antarona den Flur entlang bis zum Bibliothekszimmer und von dort in einen weiteren Raum mit Büchern. Sie öffnete die Tür zu dessen Vorzimmer, das ungefähr fünf Meter in der Länge und eineinhalb Meter in seiner breite maß und das nur spärlich ausgestattet war.
Die Vorzimmer waren im Grunde nur Bereitschaftsräume des Personals, damit ein Diener rasch bei seinem Herren sein konnte, egal, wo dieser sich gerade aufhielt. Vesgarina tastete die hölzerne Wandvertäfelung an der kurzen Seite des schmalen Raumes ab und drückte dann fest gegen die obere Ecke einer der vielen Holzkassetten.
Mit einem leisen, kollernden Geräusch, wie, wenn jemand Steinkugeln über Fliesenfußboden rollen ließ, schwang ein kleines Türchen auf, gerade mal so groß, dass eine einzelne Person üblicher Größe gebückt hindurch schlüpfen konnte.
Nacheinander zwängten sie sich hindurch und standen im Dunkeln auf dem Podest eines hohen Schachtes. Auf dem steinernen Boden lagen ein paar kurze Fackeln herum, von denen Vesgarina eine anzündete. Dann zog sie an einem Eisen, das aus der Wand ragte und mit dem gleichen Kollern schloss sich die Wand wieder.
Sie standen in einem gemauerten Tunnel, der einen Meter breit und knapp zwei Meter hoch war. Es roch muffig und überall hingen dicke Spinnweben von der Decke herab. Der Gang setzte sich ungefähr zweieinhalb Meter fort, verzweigte sich dann aber nach links und rechts. Direkt zu ihren Füßen aber gähnte ein großes Loch, das in schwarze Tiefe führte.
Antarona erfasste sofort die Lage und spornte ihre Zofe an, die ängstlich und immer noch unentschlossen dastand:
»Los jetzt, Garina.., zeigt mir zuerst, wo die Hunde sind.., macht schon!« Zögernd stieg die Zofe in das dunkle Loch hinab, in dessen Mauerwerk im fünfzig Zentimeter Abstand, ähnlich einer Leiter, massive Eisenbügel eingelassen waren. Antarona folgte ihrem Zimmermädchen, musste aber einigen Abstand halten, denn die Hitze ihrer Fackel war deutlich zu spüren.
Schritt für Schritt ertastete Antarona die Stufen unter sich, geblendet vom Fackelschein Vesgarinas. Nach kurzer Zeit erreichten sie ein neues Podest, von dem aus wiederum eine Verzweigung abging, ebenso, wie oben. Das Loch setzte sich einen Meter versetzt, nach unten fort. Einmal schlug Antaronas Schwert versehentlich gegen eine der Stufen und es gab ein Geräusch, das wie ein Kanonenschuss durch die Stille hallte. Sofort schlug das Gebell von mehreren Hunden an.
»Sssssscht!« Vesgarina warnte ihre Begleiterin mit einem zischenden Laut und mahnte damit zur Ruhe. Offenbar waren all diese geheimen Gänge und verborgenen Wege miteinander verbunden, über viele Flure und viele Stockwerke hinweg. Antarona beruhigte sich damit, dass Hunde keine Leiter hinauf klettern konnten.
Einige Momente später standen sie auf einem weiteren Podest. Vesgarina zeigte auf eine Öffnung im Mauerwerk, die mit einer Holzwand verschlossen war. Sie spreizte die Finger einer Hand und hielt sie sich nach oben vor die Stirn.
»Eine Krone..? Wir sind hier vor Bentals Gemächern, richtig?« interpretierte sie leise die Zeichen ihrer stummen Dienerin, die nickend ihre Annahme bestätigte.
»Sind hier die Jagdhunde des Königs?« fragte sie flüsternd. Vesgarina machte ein Zeichen, dass sie warten sollten. Dann lauschten sie in die Stille hinein. Wie von weit her, wie aus einem anderen Ort, drangen Musik und hunderte von Stimmen an ihre Ohren. Das Fest war also noch in vollem Gange! Sonst war nichts zu vernehmen.
Antarona stieß absichtlich noch einmal vorsichtig gegen die Eisenleiter, ein wenig nur, doch das Geräusch schien jeden Winkel dieses Labyrinths zu erreichen, denn sofort schlugen wieder die Hunde an. Das Bellen kam von unten herauf. Also noch ein Stockwerk tiefer!
Diesmal ging Antarona voran, ließ aber Vesgarina die Fackel, denn sie schien sich mittlerweile zu Tode zu fürchten. Blind erkundete Antarona jeden Meter mit ihren nackten Füßen und ahnte sich tiefer, bis sie wieder festen Boden unter sich spürte. Vorsichtig klopfte sie gegen die Steine der Wand und lauschte. Ein kurzes Bellen folgte. Dem Klang nach kam es aus dem Gang, der sich diesmal nicht weiter verzweigte, sondern direkt von ihrem Stand aus in die Finsternis führte.
Wie an jedem Podest, lagen auch auf dieser Etage einige Fackeln an der Ecke. Antarona musste erst die Kunstwerke der Spinnen entfernen, was ihr sagte, dass schon seit geraumer Zeit niemand mehr diese Gänge benutzt hatte. Sie entzündete sich eine weitere Fackel und ging Vesgarina voran. Der Gang führte gleich zu Anfang in einem steilen Winkel schräg nach oben. In den Fußboden waren kleine Stufen eingemauert, die einigen Halt boten.
Zunächst ging es geradeaus in die Dunkelheit, dann machte der Tunnel einen leichten Knick nach links, führte wieder steil nach unten und leitete sie zu einem neuen Podest. Auch hier ragten Schächte nach oben und unten. Jenseits ging es wieder steil hinauf und gleich wieder in einem Knick links weiter.
Eine paar Minuten lang folgten sie vorsichtig dem Gang. Dicker Staub lag auf dem beim Mauern heraus gequollenen Fugenmörtel. Einmal husten und sie standen im Nebel, der ihnen die Luft zum Atmen nahm. Ständig mussten sie sich ducken, weil ihre Fackeln eine große, verstaubte Spinnwebe entzündete, die dann über ihren Köpfen in Brand geriet und in kleinen Flämmchen zu Boden fiel.
Endlich bog der Gang scharf nach links ab und gleich wieder nach rechts, wo er sich steil nach unten neigte, bis zu einem sehr schmalen Podest, von dem aus es nur noch in einen Schacht nach oben oder unten ging. Vesgarina suchte mit der Fackel herum und fand schließlich unter Zentimeter dickem Staub und unzähligen Spinnweben ein dickes Eisen, das aus der Wand ragte, und an dem ein Faust großer Eisenring baumelte.
Misstrauisch sah Vesgarina das Gebilde an und traute sich nicht, etwas zu unternehmen. Doch Antarona war nicht den langen Weg durch Staub und Dreck gekrochen, um nun unverrichteter Dinge wieder abzurücken! Sie umfasste den Ring und zog vorsichtig daran. Nichts. Sie zog etwas fester... Nichts! Der Versuch, ihn nach links oder rechts zu drehen, endete ebenfalls erfolglos. Das Ding rührte sich nicht! War der etwa fest gerostet?
Vesgarina hatte inzwischen eingesehen, das ihre Herrin nicht die Absicht hatte aufzugeben und versuchte es nun ihrerseits. Vorsichtig schob sie den Riegel in die Mauer hinein. Zunächst sah es so aus, als würde auch dieses Bemühen scheitern, doch dann bewegte sich das Eisen Stück für Stück nach hinten. Schließlich erklang wieder das Kollern und ein kleiner Mauerausschnitt bewegte sich seitlich weg und gab eine kleine Luke frei.
Die entstandene Öffnung war gerade mal siebzig, oder achtzig Zentimeter groß, eben so viel nötig war, um hindurch zu kriechen. Ein diffuses Licht, sowie der Duft nach Wachs und Holz schlug ihnen entgegen. Antarona wollte sich nach draußen schieben, doch etwas versperrte ihr den Weg.
Noch halb im Mauerwerk steckend, ertastete sie eine Kommode, oder einen Schrank, der ein paar Zentimeter vor dem Loch stand. Mit aller Kraft drückte sie dagegen und knarrend und quietschend bewegte sich das Möbelstück. Mehr Licht flutete in das verborgene Gewölbe und Vesgarina löschte vorsichtshalber die Fackeln.
Noch einmal stemmte sich Antarona gegen das schwere Hindernis, dass sich ruckartig und mit ziemlichem Lärm noch ein gutes Stück vorwärts bewegen ließ. Irgendetwas schlug auf dem Boden auf und zersprang klirrend. Doch der Platz genügte, um dahinter aus dem Loch zu krabbeln und sich aufzurichten. Schon während Antarona ihrer Zofe aus der Luke half, erklang wieder das aufgeregte Gebell der Hunde, inzwischen bedrohlich nahe.
Antarona wagte sich hinter der hohen Kommode hervor, während Vesgarina vor Angst zitternd hinter der vermeintlichen Sicherheit des Schrankes blieb. Entsetzt sah sie, wie ihre neue Herrin vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzte, sich einen Weg zwischen den Scherben einer zerbrochenen Vase hindurch suchte und dem wütenden Bellen entgegen ging.
Alles mögliche erwartend hob Antarona skeptisch ihr Schwert und wartete. Der Korridor, in dem sie sich befanden, war mit kunstvollen, dunkelroten Kacheln ausgestattet und mit türkisblauem Stoff bespannt. Goldfarbene Kerzenleuchter an Decke und Wänden spendeten nur spärliches Licht, denn nur in jedem dritten brannten die Lichter.
Der ganze Flur war mit kastanienbraunem Holz verkleidet und zu beiden Seiten des Korridors standen lebensgroße, irdene Skulpturen, Kommoden mit Keramik und Glas, sowie offene Vitrinen und Regale mit allerlei Figuren, goldenen und silbernen Bechern und anderem Kunstwerk. Dazwischen hingen Bilder von irgend welchen Königen und längst verstorbenen Feldherren.
Lauschend verharrte Antarona, wagte eben nur mal, den Staub aus dem geheimen Gang von ihren Oberschenkeln und ihrem Bauch zu wischen. Da! War da nicht ein Geräusch, wie das Traben vieler, kleiner Füße? Gespannt erstarrte jede Faser in ihr und sie wagte nicht zu atmen. Ein Tappen und Hecheln näherte sich schnell und im flackernden Schein der Leuchter wuchs im Bruchteil einer Sekunde ein hässlicher Schatten an der Wand empor.
Beinahe gleichzeitig schoss eine gedrungene, massige Hundegestalt um die Ecke, überschlug sich fast, geriet auf dem Stoffbespann des Bodens ins Rutschen, versuchte mit den kurzen Beinen dagegen zu steuern, riss den Stoff in Fetzen und prallte mit dem ganzen Gewicht gegen eine Anrichte, von der sofort alle Gegenstände herab purzelten und zerbrachen.
Doch das Vieh war wendig und schnell, fing sich sofort wieder und wollte auf Antarona losstürzen. Vesgarina erstarrte. Den Mund zu einem Schrei geöffnet, entfuhr ihr nur ein ächzender Laut. Das Blut sackte ihr aus dem Gesicht, als sie den hässlichen Hund sah, der mehr Ähnlichkeit mit einem zusammen gestauchten Schwein hatte.
Antarona blieb stehen, wo sie stand und streckte der Missgeburt der Natur nur ihre Handfläche entgegen. Augenblicklich stemmte das Tier seine Pfoten gegen den Boden, zerriss mit seiner Masse abermals den Bodenstoff und rutschte wie ein Geschoss auf sie zu. Sie versuchte dem massigen Tierkörper auszuweichen, trat unbedacht in eine der Keramikscherben und fiel...
Hart schlug sie auf dem Rücken auf, rollte sich ab, um wieder auf die Beine zu kommen und spürte einen weiteren stechenden Schmerz in der Seite, der sie fast lähmte und ihr den Atem raubte. Nantakis war klirrend zur Seite geschlittert und unter der Anrichte liegen geblieben. Aus den Augenwinkeln sah sie Vesgarina stumm um Hilfe schreien, konnte sich aber nicht um sie kümmern, denn der Hund machte auf dem glatten Boden kehrt und griff sie erneut an.
Im letzten Moment wehrte sie das knurrende, geifernde Tier mit dem Arm von ihrem Hals ab, konnte aber nicht verhindern, dass es seine Zähne in ihren Oberschenkel schlug, gerade in dem Moment, als zwei weitere Hunde um die Ecke des Flurs getrabt kamen. Antarona zwang sich, ihre Sinne nur noch auf ihren Angreifer zu konzentrieren, packte das Tier mit einem Griff am Kopf und murmelte ein paar seltsame, beruhigende Worte.
Sofort lockerte sich der Biss des Hundes und er wurde von einer Sekunde zur anderen beinahe handzahm. Antarona spürte, wie ihr das warme Blut übers Bein lief und versuchte den Schmerz zu ignorieren. Statt dessen beschwor sie die beiden anderen, herannahenden Köter, indem sie ihnen intensiv entgegen blickte und ihnen vermittelte, dass sie kein Feind war. Die Hunde blieben unvermittelt wie von einem unsichtbaren Blitz berührt, stehen und ließen hechelnd die Zungen aus ihren Mäulern hängen.
Alle drei liefen schließlich wie gelangweilt um Antarona herum, schoben ihre Nasen schnuppernd den Boden entlang und lauschten dem leisen Gesang, den das Krähenmädchen angestimmt hatte. Immer träger und stiller wurden die eben noch blutrünstigen Jagdhunde, bis sie sich endlich, einem Wunder gleich, in einer Ecke zusammenrollten und aus müden Augen vor sich hin glotzten.
Antarona presste die Hand auf ihre Wunde, die stark blutete, aber nicht lebensgefährlich war. Die Zähne des Hundes hatten ihren Lederschurz durchbohrt und ihre Arterie wohl nur knapp verfehlt. Das Leder ihres Hüftschurzes hatte sie anscheinend vor Schlimmerem bewahrt. Kleiderstoff hingegen hätte den Biss kaum gemildert.
Vesgarina stand immer noch kreidebleich und mit schlotternden Knien hinter der Anrichte und starrte mit geweiteten Augen auf die friedlich daliegenden Hunde. Von ihr war keine Unterstützung mehr zu erwarten. Antarona biss die Zähne zusammen, tastete die Bisswunde ab und stellte zufrieden fest, dass kein Knochen angekratzt war.
Dann riss sie den ohnehin schon verdorbenen Spannstoff des Fußbodens in Streifen und band sich mehrere Stücken davon fest um den Schenkel, in der Hoffnung, die Blutung zu stoppen. Anschließend tupfte sie das Blut aus einer kleinen Wunde ihrer Seite ab, die nicht tief war und kümmerte sich zuletzt um ihren Fuß, um den sie ebenfalls einige Streifen vom Bodenstoff wickelte.
Suchend blickte sie sich anschließend nach Nantakis um und entdeckte das Schwert unter der Kommode. In einer einzigen Bewegung zog sie es wieder hervor und sprang auf die Beine. Ihre Verletzungen beeinträchtigten ihre Beweglichkeit nur wenig.
Tröstend wandte sich nun Vesgarina zu, nahm die traumatisierte Zofe in ihre Arme, wischte ihr die Tränen aus dem Gesicht und strich ihr beschützend übers Haar.
»Keine Angst, meine kleine Á-mis-rà...«, beruhigte sie das Mädchen, »...seht, wie friedlich die jetzt sind.., wie kleine Wasel im jungen Sonnenlauf. Ich war nur in eine Scherbe getreten, sonst hätte ich die Tiere sogleich beruhigen können. Nun aber musst du keine Angst mehr haben, diese Hunde wissen nun, dass wir ihnen nichts antun wollen und lassen uns in Ruhe!«
Insgeheim aber wusste Antarona, dass sie so ein unvorhergesehener Fehler schnell das Leben kosten konnte. Ein paar Finger breit höher und sie hätte keine Gelegenheit mehr bekommen, dem Tier ihre friedliche Absicht zu vermitteln.
Es war ein Risiko, indem sie gewagt hatte, ein abgerichtetes Tier zu beeinflussen. Das hatte sie niemals zuvor versucht und es hätte ebenso nicht gelingen können. In den frei lebenden, wilden Tieren des Waldes und der Berge lebte der Geist Talris von der Geburt an, eines jeden Geschöpfes. Manche Tiere in Gefangenschaft vergaßen oft, dass sie Wesen der Götter waren und ließen sich nur schwer über das geheime Band Talris erreichen, das Antarona als außerordentlich ausgeprägte Fähigkeit besaß.
Allmählich beruhigte sich auch Vesgarina und blickte sorgenvoll auf die notdürftigen, Blut getränkten Verbände ihrer Herrin. Antarona wehrte sie mit einer Handbewegung ab, als sie versuchen wollte, die Wunden zu untersuchen.
»Später, meine gute Garina...«, hielt sie ihre Zofe hin, »...später kümmern wir uns darum. Jetzt müssen wir sehen, dass wir von hier fort kommen...«
Doch anstatt wieder in der Luke zum geheimen Gang zu verschwinden, ging Antarona noch einmal durch den ganzen Korridor. Hier warf sie eine irdene Schüssel von einer Anrichte, dort zerriss sie den Stoffbelag des Fußbodens, an anderer Stelle warf sie eine der großen Skulpturen um, die in tausend Teile zersprang.
Die Hunde ließen es tatenlos geschehen, stierten sie nur stoisch an, als hätten sie einen Eimer voll Mestas geleert. Zum Schluss nahm sie ihr Schwert und visierte ein großes Portrait an der Wand an, das einen so hässlichen Mann zeigte, dass sie es schon als Beleidigung ihrer Augen empfand. Im Wirbeln ihres Handgelenks fügte sie dem Bild am unteren Rand vier parallele Schnitte zu, die aussahen, als hätte ein wildes Tier seine Krallen darüber fahren lassen.
Zufrieden betrachtete sie noch einmal den Flurschaden, den sie zusätzlich angerichtet hatte und forderte dann Vesgarina auf, wieder durch die Luke zu schlüpfen. Keine Minute zu früh, wie sich heraus stellte, den in diesem Moment klangen Schritte über den Flur. Schnell bugsierte Antarona ihre Dienerin in das Loch und zwängte sich selbst hindurch. Zuletzt zog sie noch die Kommode zurück und verschloss den Zugang, indem sie am Eisenring zog.
Stille. In totaler Finsternis hörten sie nur ihren eigenen Atem und den gedämpften Klang der sich nähernden Schritte. Dann verstummten die Tritte plötzlich und an ihre Stelle trat ein Fluchen und Schimpfen, das wohl auf die Hunde abzielte.
Antarona tastete im Dunkeln nach einer Fackel, zündete sie an und sah Vesgarina mit der Unschuldsmiene eines Kindes an.
»Die armen Geschöpfe...«, flüsterte sie ihrer Zofe zu, »...konnten gar nichts dafür.., hatten doch nur getan, was man ihnen unter großer Pein beigebracht hat.« Sie trat noch etwas näher an Vesgarina heran und hauchte ihr ins Ohr:
»Glaubt mir.., das geschieht noch ein, oder zwei Male, dann lässt Bental die Hunde in die Ställe im unteren Hof sperren und wir können gehen und tun, wohin und wonach uns der Sinn steht!« Mit Entsetzen im Gesicht wehrte Vesgarina ab, sie hatte von solchen Ausflügen über verborgene Wege erst einmal die Nase voll.
»Was habt ihr, meine gute...«, strahlte Antarona sie im Schein der Fackel lächelnd an, »...es war doch ein großer Spaß, nicht? Niemand braucht wirklich diese Dinge, welche nun entzwei sind. Es waren unnütze Sachen, die nicht zum Leben taugen.., sie behindern nur jene am Leben, welche sie besitzen!«
Antaronas einfache Weltanschauung trauerte in keiner Weise solchen Gegenständen nach, welche man nicht unbedingt zum Überleben benötigt. Schöne Dinge zum Anschauen beschränkten sich in ihrer Vorstellung lediglich auf den einfachen Schmuck, den sie am Leib und in den Haaren trug; allenfalls noch auf Kleider und Schuhwerkskunst.
Auf dem Rückweg überließ Vesgarina ihrer großen Schwester die Führung. Die Lust nach Abwechslung war ihr gründlich vergangen. Antarona hingegen, wäre gern noch weiter durch die geheimen Gänge geschlichen, denn sie brannte darauf, Ba - shties Gemächer aufzusuchen.
Doch zum einen wollte sie schön sein, wenn sie zu ihm ging, zum anderen musste sie aber dringend ihre Wunde versorgen. Zu viele Krieger, das hatte sie gelernt, starben nach Schlachten und Kämpfen an unscheinbaren Wunden, weil diese nicht gereinigt und versorgt wurden. Manchmal brachten kleinste Verletzungen den stärksten Männern rote Wundränder, die dann eiterten und ihnen das Feuer in den Leib trieb, das nicht mehr weichen wollte, und schließlich den Tod.
Wie die meisten Frauen der Ival wusste auch sie gegen fast jedes Leiden ein Kraut. Ihre Mutter hatte sie regelmäßig zu der alten Waldlerin mitgenommen, eine der alten, zurück gezogen lebenden Heilerinnen, die ihr Wissen an die Begnadetsten unter dem Volk weiter gaben.
Auch später noch, als ihre Mutter längst in das Reich der Toten gegangen war, besuchte sie die Alte, blieb Tage, oft sogar Wochen lang bei ihr tief in den Wäldern, suchte Trost, half der Alten so gut sie vermochte bei ihrem Tagwerk und lernte Dinge, welche mit der Vernunft der Menschwesen oft nicht zu erklären waren.
»Macht heißes Wasser zurecht und sorgt für saubere Tücher!« gebot Antarona ihrer Dienerin, nachdem sie die verborgenen Tunnel und Schächte wieder verlassen hatten. Vesgarina, froh darüber, den dunklen Drecklöchern, sowie den Monstern auf vier Beinen heil entkommen zu sein, huschte dankbar davon.
Antarona begab sich ins Ankleidezimmer, legte die Waffen ab und durchwühlte ihr Bündel. Sie förderte einen handgroßen Lederbeutel und ein kleines Messer zu tage und begab sich damit in den Baderaum. Sie stellte einige Kerzen zusammen, um ein helleres Licht zu bekommen, goss Wasser in eine Schale und begann, die notdürftigen Verbände abzunehmen.
Die Bisswunde sah anfangs gefährlicher aus, als sie war. Eine Reihe kleiner, Blut verkrusteter Löcher zierten die Innenseite ihres Oberschenkels, würden aber kaum nennenswerte Narben geben. Ebenso die kleine Wunde, die sie beim Abrollen davon getragen hatte. Ihr Fuß macht ihr mehr Sorgen. Die Keramikscheibe war bis auf den Knochen eingedrungen und vermutlich im Fuß zersplittert.
Den von Blut durchtränkten Verband warf sie in eine Ecke, biss die Zähne zusammen und presste und zog an der Wunde herum, bis diese sich wieder öffnete und stark blutete. Der Schmerz trieb ihr die Tränen in die Augen, doch sie wusste, es musste sein! Gerade rechtzeitig kam Vesgarina mit kochend heißem Wasser und sauberen Tüchern zurück.
»Garina, meine Schwester, ihr müsst mir jetzt helfen«, ordnete sie an, fegte die Dinge auf einer Kommode mit einem Handstreich beiseite und setzte sich darauf, genau unter die eisernen Fackelhalter, die in der Wand eingemauert waren.
»Ihr müsst heißes Wasser in eine Schale geben und das Messer darin abwaschen...«, wies sie ihre Zofe an, »...dann spreizt ihr die Wunde am Fuß und gießt von dem kalten Wasser darüber und schaut nach, ob noch Splitter darin sind!« Vesgarina sah sie entsetzt an. Ihr Gesicht brachte unmissverständlich zum Ausdruck:
»Aber sè whú Á-mis-rà, ich bin kein Medicus und keine Heilerin...«, jammerte ihr Blick, »...ich weiß nicht, wie man das macht.., nein, ich kann das nicht!« Antarona sah die Worte in Vesgarinas Augen, die sie nicht aussprechen konnte.
»Vesgarina.., reißt euch zusammen.., ihr müsst es tun...«, herrschte Antarona sie an, »...ich würde es selbst tun, doch der Schmerz lässt mich nicht klar sehen!« Vesgarina tat ihr leid, doch sie war die einzige, die ihr helfen konnte, ohne dass ihr Ausflug in der Burg die Runde machte.
»Tut es jetzt, Garina.., solange die Wunde noch blutet! Gießt es über die Wunde und seht mit der Messerspitze nach.., wenn ihr einen Splitter entdeckt, so holt ihr ihn heraus.., oder ich werde in das Reich der Toten gehen und ihr müsst euch vor Bental erklären, woher eure Herrin die Verletzungen hatte. Wählt selbst.., und macht endlich.., das Wasser muss noch dampfen, wenn ihr das Messer hinein tut!«
Zögernd legte Vesgarina das Messer in die Schüssel und goss das siedende Wasser darüber. Antarona indes fragte sich, wo dieses Mädchen bisher gelebt hatte, dass es den alltäglichen Anforderungen des Lebens so hilflos gegenüber stand. Jede Frau der Ival, ob klug, oder dumm, ob geschickt, oder unbegabt, wusste, was zu tun war, wenn ein Mitglied der Familie eine Verletzung von der Arbeit, oder vom Kampf mit nach Hause brachte!
Umständlich fischte Vesgarina das Messer aus dem Wasser und hielt es ungeschickt in den Händen. Antarona griff über sich in die eisernen Fackelhalter und hielt sich daran fest.
»Los jetzt...«, fuhr sie die arme, vor Angst bleiche Zofe an, »...öffnet die Wunde und gießt das Wasser hinein.., oder bei den Göttern, ich werde euch mit in das Reich der Toten nehmen!«
Diese Drohung zog offenbar! Vesgarina umfasste mit Widerwillen und zittrigen Fingern Antaronas Wunde und drückte sie auf. Ihr Gesicht verlor noch mehr an Farbe und sie bemühte sich zur Seite zu sehen, als ihr Antaronas Blut über die Fingerkuppen rann.
»Das genügt«, stöhnte Antarona schmerzvoll, »jetzt gießt Wasser darüber, genau in die Wunde hinein!« wies sie das ungeschickte Mädchen an.
Vesgarina nahm wie in Trance einen sauberen Krug Wasser in die Hand und kippte die Flüssigkeit über den blutenden Fuß. Antarona schossen vor Schmerz die Tränen in die Augen, sie verkrampfte sich, zog sich an den Fackelhaltern hoch, dass die Knöchel ihrer Finger weiß hervor traten und unterdrückte einen Schrei. Schweißperlen bildeten sich auf ihrer Stirn und rannen ihr schließlich übers verzerrte Gesicht.
»Jetzt, Vesgarina.., die Messerspitze.., solange die Wunde sauber ist.., sucht nach Splittern guckt genau!« presste Antarona schmerzvoll hervor und bemühte sich, ihren Fuß still zu halten.
Krampfhaft hielt die stumme Zofe das Messer an der Klinge und drückte mit der Spitze in der Wunde herum. Sie zitterte und schwitzte ebenso, wie ihre Patientin, hielt aber tapfer durch. Die Angst vor der Offenbarung ihrer Tat vor dem König war zu groß!
Drei Splitter kratzte das stumme Mädchen aus der Wunde, die durch das kalte Wasser kurz zu bluten aufgehört hatte. Antarona zog sich während der ganzen Prozedur krampfhaft zu den Fackelhaltern an der Wand hoch, schwitzte am ganzen Körper, als säße sie in einer Sauna und rang nach Luft. Ihre Schenkel zitterten vor Anspannung und machten dem Mädchen mit dem Messer die abscheuliche Arbeit nicht leichter.
Endlich schien Vesgarina alle Fremdkörper aus der Wunde entfernt zu haben. Schwer atmend ließ sie das Messer zurück in das heiße Wasser gleiten, hielt sich kurz an der Kommode fest, verdrehte die Augen und sackte wie ein nasser Sack in sich zusammen.
Antarona war ebenfalls nahe daran, zur Mutter der Nacht zu flüchten. Sie wusste bereits vorher, dass ihre Füße empfindlich waren und rechnete damit, vom Schmerz überwältigt zu werden. Nun saß sie schwer atmend, mit schweißglänzendem Körper und verstaubten Haaren auf der Kommode, das Ohnmächtige Mädchen zu ihren Füßen. Ihr Drang, Vesgarina helfen zu müssen, gab ihr die Kraft, durchzuhalten.
Wie ein Tropfen Wasser ließ sie sich von dem Schränkchen gleiten, humpelte zu den Tüchern hinüber und legte sich einen neuen Verband an. Dann griff sie Vesgarina unter die Achseln und schleifte unter größter Anstrengung ins Schlafzimmer. Mit letzter Kraft hob, zerrte und hievte sie ihre Zofe auf ihr königliches Bett.
Bis in Vesgarinas Schlafgemach hätte sie es nicht mehr geschafft. Das Mädchen wog bei leibe nicht viel, doch mit den Verletzungen war Antarona in ihren Bewegungen mehr eingeschränkt, als sie sich selbst eingestehen wollte.
Zunächst wollte sie sich zu ihrer Zofe legen, doch das Bett war einfach zu schmal. Wenn sich Vesgarina im Schlaf drehte und ihr gegen die Verletzungen stieß... Besser, sie ließ sie schlafen und legte sich selbst in Vesgarinas Bett, zwei Räume weiter.
Bevor sie sich zurückzog, nahm sie noch ein paar von ihren schwarzen Fellen und legte sie Vesgarina um die Schultern, denn die Nächte wurden trotz des milden Klimas recht kühl. Dann löschte sie das Licht und schlich sich in Vesgarinas Kammer. Das Bett ihrer Zofe war noch schmaler und etwas härter, was Antarona als angenehm empfand, denn sie war an harte Schlafunterlagen gewöhnt. Ein zu weiches Lager ließ sie nur schwer einschlafen.
Noch während sie darüber nachdachte, bei ihrem nächsten Ausflug durch die heimlichen Gänge Sebastians Gemächer aufzusuchen, holte sich ihr Körper, was sie ihm seit langem vorenthalten hatte. Ruhe! Antarona glitt in das Land von Mutter der schlafenden Sonne und spürte noch das brennen ihrer Wunden, das immer weniger wurde.
Plötzlich fuhr sie auf. Ein Schrei hatte sie geweckt.., ganz nah! Sie hörte ein Poltern, schnelle Schritte.., eine Tür wurde zugeschlagen. Mit einem Satz war Antarona aus dem Bett, ignorierte den stechenden Schmerz im Fuß, stieß die Tür zur Besenkammer auf, hetzte ins Vorzimmer, schnappte sich einen Leuchter und die daneben liegende Zunderdose, und eilte durch den kleinen Baderaum ins Schlafzimmer.
Es war dunkel. Nur ein leises, stimmloses Wimmern und Weinen war zu hören. Vesgarina! Hatte sie schlecht geträumt? Die Funken trafen auf den Docht des Leuchters und langsam breitete sich Licht im Raum aus. Antarona hielt die Kerze hoch und erschrak!
Vesgarina hockte zusammengekauert am Kopfende des Bettes und hielt sich den Arm. Ihre blonden Haare waren Blut verschmiert und zu ihren Füßen, in einem von Antaronas Fellen steckte ein Messer! Sofort dachte Antarona an die Schritte, die sie gehört hatte und riss die Tür zum Korridor auf. Stille. Nur das Schluchzen von Vesgarina, die noch immer verstört im Zimmer auf dem Bett saß.
Antarona kehrte zu ihr zurück, riss das Messer aus den Fellen und warf es wütend auf den Boden, wo es klirrend liegen blieb.
»Es ist vorbei, meine kleine Garina.., es war nur ein grausamer Traum...«, versuchte sie ihre Zofe zu beruhigen, »...ich bin jetzt bei euch.., ihr braucht keine Angst mehr zu haben. Lasst mich euren Arm sehen, ja?«
Antarona wollte vorsichtig Vesgarinas Hand von ihrem Arm weg ziehen, musste aber sanfte Gewalt anwenden, denn das zitternde Mädchen hielt sich krampfhaft eine Wunde zu. Beruhigend redete sie auf ihre Zofe ein, schob die verkrampfte Hand beiseite und begutachtete die Wunde. Ihr Arm war nur angekratzt und hörte bereits zu bluten auf.
Das Mädchen starrte Antarona an, als wäre es noch in einem bösen Traum gefangen. Doch die Wunde war kein Traum.., sie war real, ebenso wie das Messer, das nun am Boden lag. Wenn Vesgarina sich die Verletzung nicht selbst bei gebracht hatte, was Antarona ausschloss, dann war irgend jemand in diesem Zimmer, als Vesgarina schlief!
Jemand hatte versucht, ihre stumme Kammerzofe zu töten! Aber warum? Wem sollte dieses arme Geschöpf, das nicht einmal sprechen konnte, gefährlich werden? Antarona schüttelte unverständlich den Kopf und nahm ihre Zofe in die Arme, wiegte sie wie ein kleines Kind und versuchte ihr die Angst zu nehmen.
Mit viel Geduld bewegte sie das Mädchen dazu, ihr in den Baderaum zu folgen. Im Grunde brauchte sie nur eine Schüssel Wasser und einen Verband, doch sie wollte die Zofe in diesem Zustand nicht allein lassen. Sie stützte das labile, zitternde Wesen und schob sie langsam vor sich her.
Im Bad lagen noch die blutigen Verbände auf dem Boden, rotes Wasser stand in den Schüsseln und das Blut von Antaronas Fuß klebte eingetrocknet an der Kommode unter den Fackelhaltern. Rasch wusch Antarona eine Schüssel aus und goss sauberes Wasser hinein. Dann begann sie mit einem sauberen Tuch behutsam Vesgarinas kleine Stichverletzung zu reinigen.
Das Mädchen zuckte erschrocken zusammen, als sie mit dem kalten Wasser ihren Arm berührte. Antarona begann leise ein Lied zu singen. Es war jenes Lied, welches ihre Mutter anstimmte, wenn ihre Tochter Trost brauchte, oder sich im Wald oder auf dem Hof eine Verletzung zugezogen hatte.
Es half auch bei Vesgarina! Das Mädchen beruhigte sich zusehens und ließ sich nun ohne Scheu verbinden. Anschließend führte Antarona ihre Dienerin wieder zurück ins Schlafzimmer und legte sie auf das Bett.
Vorsichtshalber schob sie das kleine Nachttischchen vor die Tür und stellte eine wackelige Vase darauf. Vor alle anderen Türen schob sie einen Stuhl. Dann zog sie Nantakis, ihr Schwert, dass über dem Kopfende des Bettes hing, aus der ledernen Scheide und legte es neben sich, während sie sich mütterlich an Vesgarinas zitternden Körper schmiegte, sie mit den Armen beschützend umfasste und an sich drückte.
Was für eine blutige Nacht! Antarona seufzte tief und wünschte sich in die Wälder und Wiesen des Val Mentiér zurück. Im Schutz der Bäume, Felsen und Bäche, auf den hohen Weiden, dort fühlte sie sich sicher, sie wurde eins mit ihrer Welt! Selbst Torbuks schwerfällige Soldaten machten ihr dort keine Angst. Doch diese Art von Kampf war sie nicht gewohnt!
Sie kämpfte stets offen und mit der Wendigkeit und Schnelligkeit ihres biegsamen, trainierten Körpers. Aber einer Bedrohung durch Intriganten und schleichende Meuchelmörder, durch Winkelpolitiker und höfische Protokolle war auch sie wenig gewachsen!
Antarona spürte das Metall Nantakis in ihrem Rücken und mit dieser Gewissheit gelang es ihr, allmählich los zu lassen, ihre Sinne treiben zu lassen und mit ihrer Wange an Vesgarinas Nacken, etwas Schlaf zu finden.

Etwas Helles blendete sie. Jemand hielt ihr eine Kerze ins Gesicht. Der Angreifer wollte sicher gehen, dass er nicht die Falsche erwischte, denn er hatte nicht erwartet, zwei Frauen in dem Bett vorzufinden...
Antarona schreckte hoch und hielt automatisch Nantakis in der Hand. Aber es war niemand da! Nur die Strahlen der Sonne schossen durch die nicht ganz zugezogenen Vorhänge und erleuchteten mit hellen Streifen das Bett.
Durch die heftige Bewegung wachte auch Vesgarina auf. Sie rieb sich die Augen und sah Antarona erstaunt an. Erst danach bemerkte sie ihren Verband am Arm und nach und nach schien ihr die Erinnerung zurück zu kommen.
»Kannst du dich an irgend etwas erinnern, hast du gesehen, was in der schlafenden Sonne geschehen ist?« fragte Antarona, ohne Hoffnung auf einen brauchbaren Hinweis. Vesgarina schüttelte den Kopf und blickte sich suchend um. Als sie nicht fand, was sie suchte, stieg sie aus dem Bett und lief in ihre Gemächer.
Kurz darauf kam sie mit ihrer Feder, mit Tinte und Pergament zurück. SCHLAFEN SCHMERZ DUNKEL MANN LÄUFT WEG kritzelte sie darauf und gab es Antarona. Offenbar war sie im tiefen Schlaf überfallen worden. Doch wer sollte dieser kleinen Zofe, die niemandem wirklich gefährlich werden konnte, beseitigen wollen?
Die Überlegung, dass es sich um einen Racheakt handeln konnte, kam Antarona sehr wohl, aber dafür kam eigentlich nur Medunzia in Frage. Das erschien ihr aber absurd, denn Medunzia hätte dann die Last, für ihre Herrin eine neue Zofe zu finden.
Oder wollte jemand mit allen Mitteln verhindern, dass Vesgarina ihre Kenntnisse über die geheimen Gänge an sie verriet? Doch wer konnte Kenntnis davon haben, dass Vesgarina von den Tunneln wusste?
»Vesgarina, sagt.., woher wisst ihr von den geheimen Gängen in der Burg?« Antarona nahm Vesgarina bei den Schultern, um ihrer Frage Wichtigkeit zu verleihen. Die Zofe nahm wieder Feder und Papier zur Hand und kritzelte hastig:
ZOFE VON ASGARINIA FRAU VON KÖNIG WISSEN. Antarona staunte nicht schlecht. Anscheinend wurde das Geheimnis der dunklen Gänge von einer Zofe an die nächste weiter gegeben.
»Könnt ihr mir sagen, wer noch davon weiß.., wer außer euch diese Tunnel kennt?« versuchte sie von ihrer Dienerin zu erfahren. Vesgarina dachte kurz nach, dann schüttelte sie den Kopf und schrieb auf den Zettel: VESGARINA ALLEIN WISSEN. Antarona war skeptisch.
»Aber der König und einige seiner Vertrauten werden doch vom Gang zwischen den Wänden wissen, nicht wahr?« Wieder schüttelte Vesgarina den Kopf. WISSEN NUR ZOFE, schrieb sie auf.
Antarona dachte nach. Wenn das so war, machte es für niemanden einen Sinn, das Mädchen umzubringen, denn sie würde ihr Geheimnis mit in das Reich der Toten nehmen. Entweder gab es noch jemanden, der von den Gängen wusste, oder der Angriff hatte einen ganz anderen Grund.., oder...
Der Schreck fuhr Antarona in die Glieder. Sie kam auf einen Gedanken, den sie, warum auch immer, bisher ausgeschlossen hatte, der aber näher an der Wahrheit zu liegen schien, als ihr lieb war. Was, wenn der Anschlag nicht Vesgarina, ihrer Kammerzofe, sondern ihr selbst gegolten hatte?
Plötzlich passte alles ganz genau zusammen. Der Angreifer hatte Antarona und nicht Vesgarina in dem Bett vermutet, was ja unter natürlichen Umständen auch der Fall gewesen wäre. Das Messer hatte Vesgarina nur am Arm gestreift und steckte in Antaronas schwarzem Fell.
Ihre Haare waren schwarz! Vesgarinas Haare waren blond Und die Haare ihrer Zofe hoben sich im Dunkeln kaum vom Bettzeug ab. Der Angreifer wollte unterhalb der Haare zustechen und hielt das Fell für Antaronas Haare! Dass er Vesgarinas Haare nicht wahrgenommen hatte, rettete ihr das Leben!
Ihre Zofe war nur zur falschen Zeit am falschen Ort, das wurde Antarona nun klar. Ihr selbst galt dieser hinterhältige Anschlag! Doch wer trachtete ihr nach dem Leben? Sie musste sich eingestehen, dass es mehr Möglichkeiten gab, als sie bislang wahrhaben wollte.
Torbuk stand zweifelsohne an erster Stelle der Namensliste derer, die ihr nach dem Leben trachteten. Doch er war nicht auf der Burg! Ebenso wenig befand sich Andreas, Falméras Medicus in diesen Mauern. Eifersucht und verschmähte Liebe hätte sein Motiv sein können.
Medunzia, die Vorsteherin der weiblichen Dienerschaft? Sie würde Antarona kaum verziehen haben, dass sie ihr Nantakis an die Kehle gehalten hatte. Doch riskierte die nach ihren Erfahrungen mit Antaronas Schwert ein solches Risiko? Sicherlich musste nur der Preis stimmen, dann wären einige Menschenwesen bereit, ein anderes in das Reich der Toten zu schicken. Verräter gab es überall!
Schließlich war da noch der unfreundliche Diener mit dem stechenden Blick.., Hekthur! Konnte sie ihm einen Meuchelmord zutrauen? In Gedanken wohl, doch war dieser Mann dazu im Stande, es auch auszuführen?
»Vesgarina.., ihr könnt als erstes das Badezimmer wieder her richten«, trug sie ihrer Dienerin auf, denn ihr fiel etwas Wichtiges ein. Die Zofe, offensichtlich immer noch ziemlich verschreckt, zögerte.
»Garina.., ihr braucht keine Angst mehr zu haben, das Messer sollte mich treffen, nicht euch«, versuchte sie das Mädchen zu beruhigen. Die sah sie aber nur fragend und verständnislos an. Antarona wurde deutlicher und erklärte:
»Wer hätte denn in diesem Bett liegen sollen.., ihr etwa? Nein.., wer hier töten wollte, hatte es auf mich abgesehen, nicht auf meine Kammerzofe!« Diese neue Erkenntnis nahm dem Mädchen aber keineswegs die Angst. Erst als Antarona ihr versicherte, der Täter wäre nicht in der Nacht gekommen, hätte er die Möglichkeit, einen Mord am Tage zu begehen, gab ihr den Mut, ihren Dienst zu versehen.
»Und noch etwas Garina...«, rief ihr Antarona noch nach, als sie schon halb aus der Tür war, »...was in der schlafenden Sonne geschehen war.., sprecht mit niemanden darüber, hört ihr? Wir müssen sehr vorsichtig sein, solange wir nicht wissen, wer uns wohl gesinnt ist und wer nicht!« Vesgarina nickte ernsthaft und verschwand im Ankleidezimmer.
Endlich allein, suchte Antarona den Boden nach dem Messer ab, dass sie in der Nacht aus dem Fell gezogen und fort geworfen hatte. Es lag schräg hinter dem Fuß der Kommode. Sie angelte es hervor und sah es sich genau an. Ein typischer Dolch, wie ihn jede Frau der Ival trug. Es war kein Oranuti- Dolch!
Aber Antarona wusste nur zu gut, dass dies nichts bedeuten musste. Wollte jemand eine böse Tat verschleiern, so waren der Einfälle keine Grenzen gesetzt, das wusste sogar sie, die verworrene, oder gar heimtückische Gedanken mehr als alles andere hasste. Dennoch war dieser Dolch der einzige Anhaltspunkt, den sie hatte.
Das Messer hatte eine einfache Form, besaß aber einen auffälligen, verzierten Griff, der den Leib eines Gors darstellte. Der Kopf bildete den Knauf. Anstelle der üblichen, einfachen Parierstange breitete der Gor seine Flügel aus. Auf seiner Brust, also auf der Mitte des Griffs war ein Zeichen eingeschlagen.
Mit diesem Zeichen begannen viele Namen, die Antarona kannte, wie zum Beispiel Karek, der Sohn Torbuks; Koratan, der Vertraute Bentals, der sich aber noch im Val Mentiér aufhalten musste; Kalvei der Leibarzt des Königs, welcher jedoch sicher andere Möglichkeiten wusste, um ein Menschenwesen in das Reich der Toten zu schicken.
Doch sie alle waren Männer! Aber es war eindeutig der Dolch einer Frau, das erkannte Antarona an der feinen Arbeit und an der Größe der Waffe.
Wer auch immer Eigentümer des Messers war, steckte entweder selbst hinter dem Angriff, oder konnte zumindest einen Hinweis geben. Es gab auch die eher geringe, jedoch nicht gänzlich abwegige Möglichkeit, dass der Besitzer des Dolches selbst der Angreifer gewesen war.
In diesem Fall konnte ihm Antarona leicht auf die Schliche kommen, denn er würde unter allen Umständen versuchen, das Messer zurück zu bekommen, das ihn verraten konnte. Sie musste nur offen Kund tun, nichts von einem Dolch zu wissen, dann würde sich der Eigentümer wohl heimlich auf die Suche begeben. Aber für so dumm, sie mit dem eigenen Messer erdolchen zu wollen, hielt sie nicht einmal ein einfältiges Waschweib.
Die Wachen an den Turmtüren brauchte sie zunächst nicht zu fragen, wer in der Nacht aus diesen Gemächern gekommen war, denn die waren bereits abgelöst worden. Also blieb ihr momentan nichts weiter übrig, als Stillschweigen zu bewahren und ihre nächste nächtliche Wanderung durch die verborgenen Wege vorzubereiten.

Sebastian war an diesem Morgen früh aufgestanden. Nicht etwa, weil er nicht mehr schlafen konnte, sondern weil Frethnal ihn protokollgemäß geweckt hatte. Nach dem üblichen Protokoll, so verriet ihm Frethnal bereitwillig, war es Areos selbst überlassen, wann er mit seinen Aufgaben begann. Doch Areos war lange fort gewesen. Bental hatte deshalb das übliche Protokoll seines Sohnes geändert.
Areos hatte jeden Morgen, wenn nach dem Sonnenlauf der Schatten des großen Wehrturms auf das Haus des Nachtwächters fiel, seine Audienz bei seinem Vater wahrzunehmen. Frethnal war unter Androhung von schwerer Strafe von Hekthur beauftragt worden, für das pünktliche Erscheinen des Areos Sorge zu tragen. Dementsprechend nervös tänzelte der Diener nun um Sebastian herum, als wollte er ihn zu einem Regentanz animieren.
»Frethnal.., tut mir um der Götter willen einen Gefallen...«, beschwerte sich Sebastian, »...ich nehme jegliche Rücksicht darauf, dass ihr euch davor fürchtet, mich nicht rechtzeitig zum König zu bringen. Aber wenn ihr mich noch länger mit eurer Unruhe bedrängt, werde ich sicher gar nicht mehr fertig und wir werden in jedem Fall nicht rechtzeitig da sein!«
Sebastian stand mit unbekleidetem Oberkörper über eine Karte gebeugt und maß mit einer Schnur die Entfernungen der Seewege zwischen Falméra und den Gegenden nördlich Zarollons, wo er den heimlichen Bau von Schiffen für Torbuk vermutete. Die Fenster zum Kartenzimmer standen offen, er genoss die frische Morgenluft und hatte versucht zu ignorieren, dass Frethnal schon seit geraumer Zeit mit seinen Kleidern mal hinter ihm, mal rechts, mal links von ihm stand.
»Also..«, schlug er Frethnal vor, »...ihr dürft euch getrost in eine Ecke, oder nebenan auf den Söller setzen und die Sonne genießen. Von mir aus könnt ihr auch noch ein Weilchen verschwinden, oder aber hier warten.., ganz wie es euch beliebt. Aber bei allen wilden Robrums, lasst mich das hier zu Ende bringen, damit ich nicht ganz mit leeren Händen vor dem Kö.., äh.., meinem Vater stehe!«
Frethnal huschte um den Kartentisch herum und setzte sich schließlich auf einen Stuhl an der Wand, Sebastians Kleidung sauber gefaltet auf seinem Schoß. Die nächsten Minuten hielt er auch still, was Sebastian schon für einen immensen Fortschritt hielt. Nach und nach aber begann der Kammerdiener im Takt mit dem Fuß auf den Boden zu tappen und mit den Fingern am Stuhl zu klopfen.
Am Taktmaß erkannte Sebastian die fortgeschrittene Zeit. Je schneller Frethnal klopfte, desto näher rückte die Zeit der Audienz. Entnervt rollte Sebastian die Karten zusammen und drehte sich um.
»Also schön.., ihr gebt ja doch keine Ruhe mehr. Ich frage mich...«, überlegte Sebastian im Spaß, »...warum ich euch nicht einfach zur Abkühlung im Flutgraben aus dem Fenster werfen sollte. Aber vielleicht tue ich das ja noch!« Frethnal, inzwischen diensteifrig aufgesprungen, schüttelte Sebastians neue Hose und Wams locker aus und hielt sie ihm vor die Nase.
»Weil ihr euch dann selbst die Kleidung suchen müsstet, Herr. Und anziehen müsstet ihr euch dann ebenfalls ohne Hilfe!« Sebastian sah seinen Diener zweifelnd und mit hochgezogenen Augenbrauen an.
»Ach.., was glaubt ihr denn, wer das bisher für mich getan hat, hä?« Sebastian schüttelte lachend den Kopf.
Denkt ihr die Elsiren haben mir jeden Morgen in die Kleider geholfen? Oder Talris persönlich? Mensch.., an dem Tag, an dem ich mich nicht mehr selbst anziehen kann, Frethnal, ich schwöre euch, dann könnt ihr mich an die Fische im See verfüttern, und ich wette, sogar die würden mich wieder ausspucken! Na, dann lasst mal sehen, was ihr da für mich habt!«
Sebastian nahm dem Diener die Sachen ab und warf einen verächtlichen Blick darauf. Haushosen, unten mit einem Band zu binden, ein viel zu großes Wappenhemd und einen Wams, der ihn doch sehr an den bunten Schnappsack des Weihnachtsmanns erinnerte. Dazu ein paar Schuhe, die Sebastian im ersten Augenblick für lederne, etwas zu spitz geratene Bügeleisen gehalten hatte.
»Frethnal...«, polterte er freundlich los, »...ich glaube ihr werdet es nie lernen. Gestern bereits hatte ich euch gesagt, dass ich solch Gauklergewand nicht zu tragen pflege. Ich mache mich ja vor jeder Wache in der Burg lächerlich! Also fort mit dem Zeug und bringt mir meinen Waffenrock und die Stiefel.., und das Hemd, mit dem Wappen, das ich trug, als ich hier ankam!« Frethnal wollte schon losstürzen, doch Sebastian hielt ihn auf.
»Noch etwas.., bringt mir das Schwert, das ich gestern getragen habe und.., bitte, macht nicht solch einen Lärm, wenn ihr durch die Zimmer geht, der König muss ja denken, Torbuk steht schon vor dem Tor!« Sebastian schmunzelte über seinen eigenen Witz. Doch genau das war es, was er König Bental ernsthaft und mit Nachdruck vermitteln wollte.., dass Torbuk bereits so gut wie vor der Tür stand!
Bis Frethnal zurück kam, warf Sebastian noch einen letzten Blick in die Karten, die er für seine Unterredung mit dem König vorbereitet hatte. Dann schlüpfte er in Hemd und Waffenrock, legte sich das Schwert an und klemmte sich die Kartenrollen unter den Arm.
Frethnal voran, stiegen sie im Turm des Thronsaals ein Stockwerk tiefer. Ähnlich, wie in Sebastians Etage gab es auch hier über dem Thronsaal ein großen Studienzimmer mit einem durch Säulen abgetrennten Bücherraum. Riesige Fenster zwischen mächtigen Säulen erlaubten ungehindert den Blick in jeden Winkel des Hofes. Das Vorzimmer, das sich in Sebastians Gemächern an dieser Stelle befand, war hier ein großzügig angelegter Flur.
Dort erwartete sie Hekthur mit streng musterndem Blick. Es war offensichtlich, dass er Sebastians Aufzug in vollem Kriegsrock missbilligte. Doch er wagte nicht, den Sohn des Königs zu tadeln. Statt dessen ließ er seinen Unmut an Frethnal aus.
»Seine gütige Hoheit wartet bereits.., ihr habt euch viel Zeit gelassen...« Sebastian trat dazwischen und beschwichtigte:
»Nun, ich denke, das war mein Verschulden, Hekthur.., mir war noch eine wichtige Sache eingefallen, die ich unserer gütigen Hoheit nicht vorenthalten kann.« Damit tippte Sebastian bedeutsam auf die Kartenrollen, die bei Hekthur einiges Staunen hervor riefen.
»Wie auch immer Herr, Frethnals Anwesenheit ist jedoch nicht länger vonnöten, er hat gewiss noch andere Aufgaben zu erledigen.« Seine Bemerkung klang wie eine Frage an Areos.
»Das ist wahr«, gab Sebastian zu, »Frethnal, ihr könnt den Kartenraum und das Ankleidezimmer aufräumen.., ich denke, ich habe dort ein ziemliches Durcheinander angerichtet. Anschließend mögt ihr tun, was euch beliebt, bis ich wieder da bin.«
Sebastian wusste, dass beide Räume keineswegs unordentlich waren. Auf diese Weise konnte er Frethnal aber ein wenig Freizeit einräumen, ohne dass Hekthur auf den Einfall kam, ihn noch für zusätzliche Dienste einzuspannen. Mit einer tiefen, von Dankbarkeit erfüllten Verbeugung zog sich der Kammerdiener zurück.
Hekthur öffnete die Flügel zu einer großen Tür aus feinstem Wurzelholz und ließ Areos in ein Vorzimmer eintreten. Dann ging er voran durch den Raum, der nur spärlich eingerichtet war und führte Areos durch eine weitere Tür in den Korridor.
Sebastian orientierte sich an den Türmen und hatte dadurch eine Vorstellung davon, wo sie sich befanden. Er folgte Hekthur zum großen Treppenturm und eine Etage tiefer. Als sie dort wieder in den Korridor traten staunte Sebastian nicht schlecht.
Der König stand, nur mit seinem Unterzeug und einem schweren Mantel bekleidet in einer wahren Verwüstung, die nur ein Blitzeinschlag verursacht haben konnte. Überall lagen Scherben, Bilder waren zerfetzt worden, Skulpturen umgestoßen und der Stoff, welcher gewöhnlich ordentlich gespannt den Boden bedeckte, bestand nur noch aus einem wüsten Knäuel loser Stücke.
Neben Bental stand ein Knecht und hielt drei ausgesprochen hässliche Hunde an den Halsbändern, während weitere Diener in Liverees damit beschäftigt waren, die Scherben vom Boden zu lesen, als wären es wertvolle Reliquien.
»Ah.., Areos, mein Sohn...«, begrüßte ihn Bental und präsentierte mit einer ausholenden Geste seines Armes den Schaden.
»Ein Vermögen habe ich für die Abrichtung dieser Tiere ausgegeben.., sie sollten gehorsame Jagdhunde sein und über meine Gemächer wachen. Und nun seht euch um.., seht euch das an! Die vielen Gäste haben sie wohl verschreckt. Sie sind völlig verrückt geworden und haben mir kein Stück auf dem anderen gelassen. Sind eben doch nur dumme Viecher und nur zur Jagd geeignet«, schimpfte der König angesichts der Zerstörung. Zu den Dienern gewandt blaffte er:
»Seht zu, dass ihr mir das Viehzeug aus den Augen schafft.., und räumt hier auf! Die Hunde bleiben beim nächsten Mond im Westflügel, dort stehen nur Schränke, die werden sie wohl kaum umwerfen!«
»Und nun zu euch, Areos.., Hekthur wird euch inzwischen nach oben bringen, wartet dort, bis ich mich fertig angekleidet habe!« Damit verschwand er in der nächsten Tür, die er unnötig laut zuknallte.
Sebastian musste angesichts Bentals Zorns heimlich grinsen. Hekthur übersah es mit eingefrorenem Blick und führte Sebastian auf dem gleichen Wege wieder hinauf in den Korridor, wo er Frethnal entlassen hatte. Basti fragte sich, wozu diese unnötige Wanderung durch des Königs Gemächer gut gewesen war. Anstelle einer Antwort zog Hekthur eine weitere Tür auf, ließ Areos in eine Bibliothek eintreten und verschwand dann ebenfalls. Sebastian war allein. Aufmerksam sah er sich um.
Hohe Regale, vollgestopft mit Schriften und Pergamentrollen machten den Raum kleiner, als er tatsächlich war. In der Mitte stand ein großer verschnörkelter Tisch mit einem goldenen Leuchter.
Sebastian war bereits aufgefallen, dass in den Mauern dieser Burg reichlich Gold verarbeitet wurde, meist in kleineren Gebrauchsgegenständen. Die Goldvorkommen in diesem Land mussten unermesslich sein. Das warf die Frage auf, weshalb die Menschen dieser Gegend ebenso ehrgeizig hinter diesem Metall her waren, wie in seiner Welt, wo doch Gold hier alles andere, als selten war.
Hier schienen Eisen und Kupfer, Holz und Papier doch wesentlich höher im Kurs zu stehen, denn sie waren für das einfache Leben dieser Welt eher von Nutzen. Die Ival und wohl auch die Oranuti hatten sicher bereits den Vorzug des Goldes erkannt, nicht zu rosten, doch Waffen, Beschläge und Werkzeuge ließen sich aus dem weichen Metall nicht fertigen.
Ohne Vorwarnung öffnete sich plötzlich eine Tür Sebastian gegenüber. Bental selbst stand im hellen Rahmen, taxierte ihn mit kritischen Blicken, als würde er ihn an diesem Morgen zum ersten Mal sehen und deutete nickend auf die Kartenrollen unter seinem Arm.
»Wollt ihr mir etwa schon einen Schlachtplan unterbreiten? Na, werden sehen.., kommt erst einmal herein...«, forderte er Sebastian auf und trat zur Seite, »...eure Waffe könnt ihr dort auf den Tisch legen.« Er wies auf eine kleine Ablage in der Ecke des Raumes und fügte gleich hinzu:
»Wie ich sehe, habt ihr euch bereits für ein Schwert entschieden, denn ihr hattet es bereits beim Fest getragen. Das Protokoll verlangt von den jeweiligen Regenten und ihrer Familie bei festlichen Anlässen stets ein Gewandungsschwert.., ich glaube nicht, dass euer Diener versäumt hat, euch dies mitzuteilen. Dazu hat der um seines Lebens zuviel Angst, in Ungnade zu fallen.« Bental ließ Areos gar keine Zeit zu antworten, oder sich zu rechtfertigen und setzte gleich nach.
»In einigen Dingen hatte ich mich in euch getäuscht. Ich glaubte ihr verstündet nichts von Waffen, da ihr wohl nicht von hohem Stand seid und ebenfalls kein Krieger eines meiner Heerlager. Doch mit der Wahl eurer Waffe habt ihr nicht nur mich, sondern meine gesamten Heerführer, ja sogar Tieton schwer beeindruckt. Und mich in sofern noch einiges mehr, da ihr es verstanden habt, meine führenden Krieger und alle Vertreter des Volkes und der Oranuti zu begeistern.«
Bental begann mit verschränkten Händen auf dem Rücken wieder seine Wanderung, die Sebastian bereits kannte.
»Ihr seid der Aufgabe und dem Bild der Erwartungen und Hoffnungen, das hier jeder von euch hat, einem Areos mehr als gerecht geworden. Das gibt euch jedoch keinen Anlass, euch meines Wohlwollens versichert zu fühlen, denn das habt ihr nicht! In dieser Zentare steht ihr immer noch als ein Betrüger und Hochstapler vor mir, der bereits seinen Kopf verloren hätte, wenn mich die Umstände eures Erscheinens nicht zu anderen Plänen gezwungen hätten.« Bental blieb stehen und sah Sebastian mit scharfen Augen an.
»Bis ich nicht genau weiß, wie ich euch einzuschätzen habe, werdet ihr auf Schritt und Tritt überwacht. Ihr werdet euch nicht einmal schnäuzen, ohne dass ich davon erfahre! Als denn.., ihr werdet nun von mir erfahren, welches eure Aufgaben sind, die ihr zu des Volkes und meiner Berater Augenschein zu übernehmen habt. Selbstverständlich wird jede eurer scheinbaren Handlungen und Entscheidungen vorher mit mir abgesprochen sein.., habt ihr das verstanden?« Er ließ Sebastian auch diesmal nicht antworten.
»Damit ihr euch keinen falschen Tatsachen hingebt.., Areos, aber es ist nun einmal so.., wir lieben uns nicht, brauchen aber einander.., ich euch, damit ich nicht die Herrschaft über Volossoda und Falméra verliere und ihr mich, damit ihr nicht euren Kopf verliert!« Sebastian schnallte das Schwert ab und warf es mit einem knallenden Laut auf den kleinen Tisch.
»Darf ich nun auch mal etwas sagen, eure gütige Hoheit?« Bental versuchte seine Überraschung zu verbergen, sah Areos aber mit Staunen an. Nachdem Sebastian vor zwei Tagen ziemlich eingeschüchtert vor ihm gestanden hatte, war er auf einen so unerschrockenen Auftritt von ihm nicht vorbereitet.
»Das gütige Hoheit dürft ihr euch getrost sparen, solange wir allein sind...«, entgegnete Bental frostig, »...wir wissen beide, dass ihr es nicht so meint, genau so, wie die meisten hier, welche mir diese Ehrbezeugung entgegen bringen. Aber sprecht nur frei heraus, so müssen wir uns nicht damit aufhalten, uns gegenseitig etwas vorzuspielen, sondern können ohne Umschweife ehrlich miteinander reden!« Sebastian nickte und sah Bental offen an.
»Also zunächst mal seid ihr mächtig im Irrtum, wenn ihr glaubt, dass ich euch nicht achte und euch mein Herz nicht den wahren Respekt zollt. Ihr irrt euch ebenso, wenn ihr annehmt, ich würde euch hintergehen, oder betrügen wollen. Aber ich will auch schonungslos ehrlich sein. Ich mag alleinige Herrscher nicht besonders, egal wo und in welchem Land, denn nur allzu oft vergessen diese, was gut für ihr Volk ist und was das Volk bedarf!
Dennoch glaube ich aber, dass ihr ein guter König seid, der sein Volk liebt und das Beste für sein Land will. Meine ersten Gedanken über dieses Land und über euch weckte Antarona in mir. Ihre Liebe und Opferbereitschaft für dieses Land und für die Ival hatten mich tief beeindruckt, und mich, wenn ich ehrlich bin, auch sehr schnell für sich eingenommen.« Sebastian wartete kurz, ob Bental etwas sagen wollte.
»Nur weiter...«, bemerkte er gereizt, »...ich höre gern offene Worte. Diese vernimmt ein alleiniger Herrscher, wie ihr mich nennt, nicht oft, denn die Angst lähmt die Zungen der Untertanen mehr als ihren Geist. Ihr habt Mut, das gefällt mir.., habt ihr noch mehr zu sagen?«
»Noch so einiges...«, fuhr Sebastian fort, »...erstens, war es zwischen mir und Antarona, die ihr, nebenbei bemerkt, als eure Tochter mehr als schändlich behandelt, vom Anbeginn unserer Reise nach Falméra klar, dass die Ival ihren König brauchen, ihn als starken König brauchen. Von da an war unser Ansinnen einzig, euch zu dienen und zu helfen.., allein darum sind wir mit der Botschaft des Achterrats nach Falméra gekommen!
Zweitens. Ich wäre nicht der Führer eurer Heerlager, zu dem ihr mich beim Fest ernannt habt, würde ich mich mit einem schmückenden, untauglichen Schwert behängen, mit welchem ich nicht einmal in der Lage wäre, euch gegen einen möglichen Angreifer zu verteidigen. Und so einer mag jederzeit unter euren Gästen sein. Ihr hattet mir Tálinos zugedacht, dann aber wieder fort genommen. Also musste ich mich nach einer Waffe umsehen, mit der ich kämpfen kann. Das Aussehen allein nützt mir nur wenig!«
»Habt ihr etwa allenthalben geglaubt, ich wäre so wahnsinnig und ließe euch Tálinos behalten?« unterbrach ihn der König zweifelnd.
»Niemandem werde ich Tálinos in die Hand geben, wenn er nicht mein vollstes Vertrauen hat. Und dieses besitzt ihr nicht! Tálinos wird bei offiziellen Anlässen stets an eurer Seite sein, für die Augen des Volkes. Danach aber wird es seinen Platz finden, wo es sicher ist!«
»Drittens...«, ließ sich Sebastian von Bentals Kommentar nicht aus dem Konzept bringen, »...meinte ich genau das, als ich sagte, dass Herrscher nur allzu oft vergessen, was das Volk bedarf. Nämlich Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit. Ein Herrscher sollte sein Volk mit ehrlicher Hand und aufrichtigem Sinn führen und nicht beherrschen und belügen!«
»So.., meint ihr...«, warf Bental ein, »...wie viele Völker habt ihr denn bereits geführt.., na? Habt ihr eine Vorstellung davon, wie viele Lügen ein König dem Volk täglich als die Wahrheit verlauten lassen muss, um seine Zufriedenheit und seinen Schutz gleichermaßen zu gewähren?« Bental wurde auf einem Mal lauter.
»Gar nichts wisst ihr! Eure Kenntnisse von den Sorgen und Ängsten eines Herrschers, von seinen Eingeständnissen und unliebsamen Entscheidungen, die er für das Wohl des Volkes scheinbar gegen das Volk treffen muss, sind nicht einen Quart wert!« Aufgebracht lief Bental hin und her. Plötzlich blieb er stehen und sagte mit stechendem Blick:
»Ich will euch etwas sagen. Das Volk ist wie eine Herde einfältiger Horntiere. Es verlangt sein Futter, sein Wasser und es verlangt nach Wohlbefinden und dem Drang, sich zu vermehren. Es mag nicht darüber nachdenken, wie dies zu erreichen und jenes zu bewerkstelligen ist, sondern erwartet, dass es erreicht wird. Dafür hat es seinen König!
Das Volk will nicht wissen, wie schwierig es ist, zu führen.., es will so geführt werden, dass es zufrieden ist! Die Aufgabe eines Herrschers ist es, einen Weg zwischen der Zufriedenheit des Volkes, seiner Sicherheit und den dafür bestehenden Möglichkeiten zu suchen, ihn zu festigen und letztlich zu beschreiten!
Und glaubt mir, es ist dem Volk gleich, ob es mit einer Lüge lebt, solange es sich dabei zufrieden fühlt! Solange die Bäuche, Kammern und Speicher des Volkes gut gefüllt sind und kein Feind es direkt bedroht, solange wird es nicht nach Lüge oder Wahrheit fragen!«
»Da wären wir bei Viertens«, unterbrach Sebastian seinen Herrscher ungeniert. »Denn das Volk ist nicht zufrieden und es weiß um die Bedrohung, die wie eine schwarze Wolke über Falméra hängt. Und über dem Val Mentiér und den Tälern weiter der schlafenden Sonne zu, regnet und stürmt es bereits seit langem! Mit welcher Lüge wollt ihr das Volk angesichts dieser Tatsachen beruhigen?« Bental antwortete und bemerkte erst gar nicht, wie rasch er sich in die Verteidigerposition hatte drängen lassen:
»Wir leben schon so lange mit der Geißel meines Bruders, jeder kennt seit vielen Sommern die Bedrohung, das Volk hat sich daran gewöhnt...«
»Das Volk von Falméra mag sich wohl daran gewöhnt haben...«, fiel ihm Sebastian ins Wort, »...denn hier auf der Insel sieht man keinen Mann von Torbuks Streitmacht.., noch nicht! Aber wie, meint ihr, hat sich das Volk Val Mentiérs und der anderen Täler daran gewöhnt? Glaubt ihr, eine Familie kann sich daran gewöhnen, dass ihr die Ernte zerstört wird, die sie im Winter zum Leben brauchen, dass ihre Töchter geschändet werden und die Kinder von Torbuks Soldaten gebären, dass die Männer verschleppt, oder getötet werden, ja mein Herrscher, glaubt ihr, dass die sich daran gewöhnen?«
Sebastian besaß plötzlich die Kühnheit, ihm einfach das Wort abzuschneiden und nur seine zutreffenden Argumente retteten ihm wohl den Hals.
»Und am Beispiel von Falméra meinte ich nicht nur Torbuk allein, als ich von einer Bedrohung sprach. Vielmehr spreche ich hier auch von den Oranuti!« König Bental starrte ihn an, als hätte Areos mit einem Mal den Verstand verloren. Die Oranuti waren seit vielen Sommern und Wintern seine Verbündeten!
Bevor er noch etwas erwidern konnte, nahm Sebastian seine vorbereiteten Karten, rollte sie auf dem Tisch aus und erklärte Bental seinen heimlichen Verdacht, seine Befürchtungen, die in ihm selbst bereits Antarona geschürt hatte und die Arrak am Vortag beim Fest mit seiner Beobachtung noch untermauert hatte.
Sebastian wusste, wie weit her geholt diese Theorie für den König klingen musste, welcher bedingt durch seine Isolation auf der Insel, nur noch eine Sichtweise, getrübt von der trügerischen Ruhe Falméras besaß. Er zog durchaus die Möglichkeit in Betracht, dass Bental ihm nicht einmal zuhören würde. Doch genau das Gegenteil geschah.
Der König beugte sich über die Karten, zögerlich erst, dann interessierter. Zwischendurch sah er Sebastian an, der in die Karten alle strategischen Möglichkeiten eines Angriffs auf Falméra, sowohl von der Bucht her, als auch von den Elsirensümpfen aus, eingezeichnet hatte. Selbst die Eroberung der Burg hatte er tollkühn nicht ausgelassen, jener Burg, die Bental für uneinnehmbar hielt, was sie aber von einer sorgfältig geplanten und gut ausgeführten List bedroht, nicht mehr war.
Schließlich sah Bental auf und musterte Sebastian eindringlich, bevor er wieder seinen Auf und Ab- Lauf begann. Er sagte nichts. Für Sebastian war das um so bezeichnender, denn er hatte den König zum Nachdenken gebracht. Unverhofft blieb Bental stehen, kehrte zu den Karten zurück und rückte sich die Übersichtskarte des Volossoda mit den Meeresströmungen zurecht.
»Ihr habt bereits mehr getan, als ich euch zugedacht hatte. Vielleicht meint ihr es ehrlich.., vielleicht nicht. Wer versichert mir, dass ihr nicht in den Diensten meines Bruders steht und mich damit zu falschen Handlungen bewegen wollt?«
Bental sah Areos streng an. Er verfolgte mit dem Finger die Strömung auf der Karte bis zu der Gegend im Norden, die Sebastian markiert hatte, jenen Landstrich, von dem er vermutete, dass Torbuk dort mit Hilfe der Oranuti Schiffe bauen ließ. Er schüttelte zweifelnd den Kopf.
»Selbst wenn ich euch glauben wollte, Fremder...«, räumte Bental ein, »...so fehlt es doch an einem Beweis für eure.., nennen wir sie einmal eine abenteuerliche Vorstellung. Was ihr vorgebt, wissen zu wollen, wäre geradezu tollkühn, um nicht zu sagen...«
»Verwegen.., verwegen ist das Wort, eure gütige Hoheit...«, unterbrach ihn Sebastian, »...aber, erlaubt mir gütigst die Bemerkung.., so verwegen ist das gar nicht! Nehmt einmal an, euer Bruder hätte sich tatsächlich in aller Verschwiegenheit mit den Oranuti verbündet, so wäre dies der einzig mögliche Plan, Falméra und das Volossoda ohne große Verluste zu nehmen. Vor allem für die Oranuti, wenn sie in der Tat vor hätten, anschließend noch Torbuk in die Knie zu zwingen.« Sebastian machte eine Pause und sagte, als der König nicht gleich antwortete:
»Denkt darüber nach... es geht gar nicht allein darum, ob es so ist, wie ich vermute, oder ob ich einem Hirngespinst nachjage. Es geht zunächst einmal um die Sicherheit Falméras, das letzte Bollwerk, das eurem Bruder noch im Wege ist!« warnte Sebastian.
»Was, wenn die Schiffe, die meiner abenteuerlichen Vorstellung nach gar nicht existieren können, dennoch plötzlich und unentdeckt bei den Elsirensümpfen landen und gleichzeitig vor der Bucht Falméras aufkreuzen? Wäre Falméra auf eine solche Bedrohung vorbereitet.., hättet ihr die vielen Oranuti, welche vor eurer Tür leben, unter Kontrolle?« Sebastian ließ seine apokalyptische Prophezeihung im Raum stehen.
Der König studierte noch einmal eingehend die Karten und rollte sie dann demonstrativ zusammen. Fragend sah er Sebastian an.
»Und was sollte ich nun eurer Meinung nach tun? Die ganze Burg auf einen bloßen Verdacht hin in Kampfbereitschaft versetzen? Alle Oranuti in Falméra einsperren lassen? Alle wehrhaften Männer der Ival auf Falméra zu den Waffen rufen?« Bental machte eine wegwerfende Handbewegung.
»Könnt ihr überhaupt ermessen, was ihr da von mir verlangt? Alle Männer der Ival wären unter Waffen, in zwei oder drei große Heerlager gezwängt, direkt vor meiner Burg! Kein Schiff würde in dieser Zeit entladen, keine Ernte eingebracht, keine Fische gefangen, kein Feld bestellt. Handel und Wirtschaft würden erliegen, Familien müssten hungern, dazu müsste ich den Sold von drei zusätzlichen Heerlagern und deren Verpflegung aufbringen.., für ein Heer, dass darauf wartet, gegen einen Feind zu kämpfen, der vielleicht nie kommen wird!«
Der König dachte eine Weile nach, sah aus dem Fenster in den Burghof und drehte Sebastian den Rücken zu. Unvermutet wandte er sich wieder um und sagte mit fester Stimme:
»Ihr habt euch mit den Karten viel Arbeit gemacht.., ohne dass ich das von euch verlangt habe. Das spricht für euch! Möglicherweise meint ihr es ehrlich und habt gute Absichten. Doch wie ihr bereits selbst bemerkt habt.., es geht um die Sicherheit Falméras! Was sollte mich dazu bewegen, euch bedingungslos zu trauen? Allein euer Wort? Das gaben mir die Oranuti ebenfalls und haben es sogar mit einem Bündnis besiegelt!« Er hob die Hände an, als würde er darauf warten, dass die reine Erkenntnis vom Himmel fiel und fuhr fort:
»Nein.., wenn ihr eure Vermutung mit nichts weiter, als eurem Wort bestärken könnt, darf ich euch als König weder vertrauen, noch kann ich in das Leben eingreifende Handlungen anordnen, die das ganze Land in Unruhe versetzen würde! Das Volk würde mit Unzufriedenheit reagieren und...«
»Das Volk ist bereits unruhig und unzufrieden, eure gütige Hoheit.., nur ihr habt es bisher nicht bemerkt, oder habt es nicht bemerken wollen!« versuchte Sebastian dem König die Augen zu öffnen.
»Treibt es nicht zu weit...«, warnte ihn Bental, »...was denkt ihr euch eigentlich.., dass ich mir solche Worte von euch bieten lasse?« fragte er mit zusammengekniffenen Augen.
»Ja, eure gütige Hoheit.., das denke ich! Und ich will euch auch sagen, warum ich das denke. Ihr habt mir selbst gesagt, dass euch mit einem ehrlichen Wort mehr gedient ist, als mit ängstlicher Heuchelei. Die meisten in eurer Umgebung wagen nicht, die Wahrheit auszusprechen, aus Angst, sie könnten euren Unmut erwecken und euren Zorn auf sich ziehen. Sie belügen euch aus Angst!« Sebastian blickte Bental offen an.
»Warum wisst ihr denn nichts von der Unzufriedenheit eures eigenen Volkes?« fragte er wagemutig und gab selbst gleich die Antwort:
»Weil niemand es wagt, euch davon zu berichten.., weil niemand den Mut besitzt, euch eine schlechte Nachricht zu bringen... Und warum ist das so? Ich will es euch sagen! Weil sie alle eure Gunst erhoffen, wenn sie euch bei guter Laune halten! Ihr seid umgeben von Beratern, die das an euch herantragen, was ihr gern hören mögt, nicht jedoch die Wahrheit!« Sebastian ließ den König erst gar nicht zu Wort kommen, sondern nutzte die Gelegenheit, ihm noch mehr unangenehme Wahrheiten zu präsentieren.
»Ihr erinnert euch an Arrak, eure gütige Hoheit.., den neu ernannten Heerführer der Windreiter? Er platzte im letzten Augenblick in den Thronsaal und in eure Feier, weil er sich um die Botschafter des Achterrats sorgte.., um Antarona und um mich!«
»Arrak ist mir inzwischen wohl bekannt«, bestätigte Bental, »...in ihm hatte ich mich sicher getäuscht, etwas, das zuzugeben mir leicht fiel, da er sich um das Volk ein um dass andere Mal verdient gemacht hat!«
»Nun, jener Arrak«, fuhr Sebastian fort, »hat etwas gesehen, das euch interessieren sollte...« Sebastian erzählte dem König von den Beobachtungen Arraks und schloss seinen Bericht, in dem er noch anfügte:
»Wenn ihr schon nicht mir Glauben schenken wollt, so mögt ihr doch wenigstens auf jenen hören, den ihr gerade gestern zu einem Heerlagerführer eurer Truppen gemacht habt!«
»Ihr verkennt meine Lage und Macht als König, Areos...«, gab Bental auf einem Mal zu bedenken, »...selbst, wenn ihr euch nicht irrt und Arrak sich ebenfalls nicht täuscht.., ja sogar wenn ich euch glauben, und mich dazu entschließen wollte, entsprechende Maßnahmen zu ergreifen, so wäre es nicht ohne weiteres möglich! Die Folgen hatte ich euch bereits erklärt, welche eben auch meine Berater und das Volk sehr wohl erkennen.« Der König nahm die Kartenrollen zur Hand und hielt sie Sebastian unter die Nase.
»Ich müsste eure Vermutung, euren ungeheuerlichen Verdacht, auch meinen Berater und den Vertretern des Volkes glauben machen! Ihr mögt es nicht wissen, aber ich hatte bereits große Mühe, ihnen die Vorzüge eines Bündnisses mit Oranutu zu erklären und sie letztlich dazu zu überreden. Was glaubt ihr, wie sie darauf reagieren würden, wenn ich ihnen die Oranuti, welche bisher keine offene Feindschaft gegen Falméra gezeigt haben, als plötzliche Verräter und Feinde erklärte?« Der König sah Sebastian neugierig an, als erwartete er einen überraschend brauchbaren Rat.
»Sie würden Zweifel darüber aufkommen lassen, ob ihr König noch mit klarem Sinn zu denken und zu handeln versteht.., Zweifel, die Torbuk, meinem Bruder nur allzu gelegen kommen würden, um seine Hand nach Falméra auszustrecken«, versuchte er Sebastian zu vermitteln. »Denkt also nicht, ich bin allmächtig! Meine Macht als König steht und fällt mit dem Wohlwollen des Volkes. Glaubt ein Volk nicht mehr an seinen Regenten, so wird es auch nicht mehr für ihn kämpfen und sterben!«
Der König schlug mit der flachen Hand auf den Tisch, um die Bedeutsamkeit seiner Aussage zu unterstreichen. Er überlegte kurz, ging dann zur rückwärtigen, rechten Tür und rief hinaus:
»Meine Berater in den großen Sitzungssaal.., und lasst Arrak ebenfalls rufen!« Er stellte sich wieder vor die großen Fenster und blickte in den Hof hinab. Sebastian konnte im einfallenden Licht erkennen, wie jeder Muskel in Bentals Gesicht arbeitete. Kaum wagte er, den König in seinen Gedanken zu unterbrechen.
»Eure gütige Hoheit.., verzeiht.., aber Arrak wird möglicherweise nicht kommen«, ließ Sebastian vorsichtig verlauten. Bental drehte sich um, als hätte ihn ein Skorpion in den Fuß gestochen.
»Was soll das?« empörte er sich, »heißt das, der einzige, der euren Verdacht erhärten könnte, hat selbst Zweifel an eurer Geschichte?«
»Das nicht.., aber wahrscheinlich ist Arrak nicht mehr hier«, versuchte Sebastian zu erklären, worauf Bental ihn scharf ansah.
»Erklärt das näher.., wohin sollte Arrak gehen, ohne von mir geschickt worden zu sein?« Sebastian zuckte mit den Achseln und erwiderte:
»Nun, ihr hattet ihm nicht auferlegt, auf der Burg zu verweilen und so gab er meiner Bitte nach, mir einen Dienst zu erweisen, der ihn von Falméra fort führt«, gab Sebastian bereitwillig Auskunft. Er versuchte Bental schonend beizubringen, dass er über seinen Kopf hinweg begonnen hatte, Nachforschungen hinsichtlich seines Verdachts anzustellen.
»Und wohin bitte führt ihn euer Ersuchen.., gedenkt ihr euren König in euer Geheimnis einzuweihen, oder sollte ich befürchten, dass ihr mich im Dunkeln darüber lassen wollt?« Sebastian hob beinahe vorwurfsvoll die Hände und stellte fest:
»Wenn ihr es noch nicht erkannt habt.., eure gütige Hoheit, ich kämpfe für euch, nicht gegen euch! Und Arraks Weg führt hier hin...«, damit entrollte Sebastian erneut die große Karte und tippte mit dem Finger auf die markierte Stelle im Norden, wo er den geheimen Schiffsbau vermutete. Bental versuchte einmal mehr seine Überraschung nicht zu zeigen und sagte strenger, als gewollt:
»Ihr werdet schneller zu Areos, als ich es gut heißen mag! Wie auch immer...Wann also hattet ihr vor, euer eigenmächtiges Handeln, dessen ihr nicht befugt seid, eurem König mitzuteilen?«
»Ich sah in meinem Handeln nichts, das sich gegen euch richten könnte...«, verteidigte sich Sebastian, »...und ihr selbst hattet mich zum Führer aller Heerlager und eurer Truppen ernannt, wenn ihr euch erinnern mögt...«
»Unter dem Siegel, jedes Handeln zuvor mit mir zu besprechen, wenn ihr euch erinnern mögt!« konterte Bental zornig. Er war offensichtlich verärgerter, als Sebastian erwartet hatte. Der König ahnte anscheinend, dass er nicht viel tun konnte. Weder konnte er Areos einfach aus dem Verkehr ziehen, ohne sich erklären zu müssen, erst recht nicht, nachdem er ihn zum Kommandeur seiner Truppen gemacht hatte, auch wenn dies ausschließlich für die Augen und Ohren des Volkes geschah.
Genau so wenig konnte er ihm in allem freie Hand lassen, da er befürchten musste, seine ohnehin nicht über alles erhabene Machtposition an seinen beim Volk beliebten Sohn zu verlieren. Sebastian wusste aber auch, dass er den Bogen nicht überspannen durfte.
Bental hatte sich garantiert eine Option offen gelassen, ihn jederzeit unter einer plausiblen Erklärung auf nimmer Wiedersehen verschwinden zu lassen. Er hatte es bereits in Worte gefasst: Bis zu einer bestimmten Grenze brauchten sie einander! Mit der Versicherung dieser Tatsache erklärte Sebastian mutig:
»Arrak erschien mir am ehesten befähigt, diese Aufgabe zu lösen, gütige Hoheit. Er ist schnell, wendig, wird, wenn es sein muss, eins mit dem Land und er kann sich jeder Lage schnell anpassen. Darüber hinaus ist er klug. Er weiß seine Beobachtungen richtig zu deuten und kann berichten, ohne von sich selbst voreingenommen zu sein!« Sebastian fuhr mit dem Finger über die Karte nach oben und erklärte:
»Ich habe ihn gebeten, mit ein oder zwei seiner besten Männer an Quaronas vorbei zu schleichen und sich nach der schlafenden Sonne hin durchzuschlagen. Er wird alles vermeiden, das ihn als Spion entlarven könnte. Er wird wie der Wind selbst sein, unsichtbar und schnell. Wenn er hier angekommen ist...«, Sebastian ließ seinen Finger auf der markierten Fläche tanzen, »...wird er nach allem suchen, was meinen Verdacht beweisen könnte. Und er wird einen Weg finden, euch, gütige Hoheit, umgehend zu berichten!«
Bental hatte während Sebastians Erklärung wieder seine Wanderung durch den Raum aufgenommen. Er wählte seine Runden so, dass er am Ende vor Sebastian stehen blieb.
»Euch ist natürlich kein Gedanke gekommen, den König vorher einzuweihen und das Wagnis einer meiner Heerlagerführer mit Tieton und den anderen Vertrauten zu beraten!« Diese Feststellung klang aus Bentals Mund eher wie eine Frage und Sebastian antwortete:
»Nun, ihr schätzt die Aufrichtigkeit, darum will ich euch ehrlich antworten, auch wenn es euer Missfallen erregen sollte. Ich habe in der Tat daran gedacht, mit euch darüber zu sprechen. Doch ich hatte Angst, ihr könntet auf Tieton hören, der mit Sicherheit einen größeren Trupp zur Erkundung verlangt hätte.
Zwanzig Mann erregen im Land des Feindes mehr Aufsehen, als drei, oder ein Einzelner und gefährden mitunter das ganze Unternehmen. Arrak bewegt sich wie das Wild in den Wäldern.., vermögen Tietons Soldaten das auch? Darum habe ich es unterlassen, euch ins Vertrauen zu ziehen. Aber es gibt noch einen Grund:
Ihr habt viele Vertraute und Berater. Stellt euch selbst die Frage, eure gütige Hoheit.., würdet ihr für die Verschwiegenheit eines jeden von ihnen eure rechte Hand, oder gar euren Kopf verpfänden? Ich tue es für Arrak!«
Das Schweigen, dass sich daraufhin im Raum ausbreitete, war Sebastian unangenehm. Bental wandte sich wieder seinen Fenstern zu und schwieg. Er schien nachzudenken und das war für Basti ein untrügerisches Zeichen, dass er voll ins Schwarze getroffen hatte. Eine geraume Zeit später drehte sich Bental um und sprach:
»Bringt mir etwas, womit ich meine Berater und Minister überzeugen, oder zumindest nachdenklich machen kann.., irgend etwas, und wenn es nur ein Soldat Torbuks ist, der unter Schmerzen redet, dann werde ich etwas unternehmen. Doch bis dahin ist diese Sache ein Gespinst eures Kopfes und ihr werdet zu niemandem etwas darüber verlauten lassen!«
Der König nahm die Kartenrollen zusammen und legte sie auf seinen Sekretär, ein altes, verziertes Schrankpult. Offenbar hielt er Sebastians Vermutung für so weit real, dass er die Karten behalten wollte. Dann hatte er es plötzlich sehr eilig.
»Hekthur wird euch mitteilen, welches eure Aufgaben sind, welche ihr zunächst ausüben werdet, als Führer meiner Truppen und jene, die das Volk und unsere Gäste betreffen. Diese Anforderungen werden sich auf wenige Anlässe beschränken. Habt ihr noch etwas, dass meine Aufmerksamkeit erfordert?«
»Ein paar Kleinigkeiten wären da noch, eure gütige Hoheit...«, begann Sebastian vorsichtig. Er spürte, dass Bental zum Ende kommen wollte. Die Theorie vom Verrat der Oranuti und der Möglichkeit einer Invasion hatten den König mehr als nervös gemacht.
»Trotz eurer Entscheidung, auf einen glaubhaften Beweis zu warten, möchte ich euch anbieten, einen Verteidigungsplan für die Stadt und die Burg aufzustellen. Ich habe keine Karte der Burg gefunden.., daher gehe ich davon aus, dass niemals eine angefertigt wurde.« Sebastian wartete, ob Bental nicht vielleicht doch eine aktuelle Karte der Gemäuer aus dem Ärmel zauberte. Als der König schwieg, hakte er nach.
»Ich will, mit eurer gütigen Erlaubnis, die ganze Burg vermessen, aufzeichnen und einen Plan zur Verteidigung unter Berücksichtigung verschiedener Angriffsrichtungen und Schwerpunkten herstellen. Mit einem solchen Plan könnt ihr die Burg und die Stadt in nur einer Zentare kampfbereit machen!«
Sebastian wusste, dass er ein wenig übertrieben hatte. Doch er brauchte einen Plan der Burg, wollte er irgendwann mit Antarona fliehen. Außerdem erhoffte er sich bei der Erstellung der Karte Zugang zu Antaronas Gemächern zu bekommen. Er musste Bental diese Idee wie einen goldgelb knusprig gebratenen Wafan servieren. Und tatsächlich biss der König an.
»Wenn ihr glaubt, dazu befähigt zu sein.., so tut es.., ich werde Anweisung geben, euch Wachen zur Seite zu stellen, die euch dabei unterstützen!« versprach Bental. Sebastian hatte erreicht, was er wollte. Das mit den Wachen rief bei ihm allerdings weniger Begeisterung hervor. Zur Unterstützung.., von wegen! Zur Bewachung traf es wohl eher. Aber allein die Kenntnis über die Lage der Räume, Gänge und Mauern würde ihm schon weiter helfen.
»Da wäre noch etwas.., gütige Hoheit«, nutzte er Bentals momentane Bereitwilligkeit und tastete sich weiter vor.
»Wie ihr sicher bemerkt habt, sind meine Kenntnisse in Schrift und Sprache der Ival im Reich der Götter verloren gegangen. Wessen ich heute Kenntnis besitze, verdanke ich Antarona.., sie ist eine ausgezeichnete Lehrerin! Wenn sie mich die Gepflogenheiten und Sprache der Ival weiter lehren dürfte, so käme dies auch meinen Aufgaben im Umgang mit dem Volk und seinen Vertretern zu Gute.«
»Lasst künftig eure Geschichte beiseite, wonach ihr von den Göttern kommt.., wenigstens, wenn wir allein sind...«, befahl Bental, »...meine Tochter und das Volk konntet ihr damit beeindrucken, bei mir habt ihr damit keinen Erfolg.« Der König kam dicht an Sebastian heran und sagte um einiges leiser:
»Wir wissen doch beide, dass ihr nicht von den Göttern, oder aus dem Reich der Toten kommt. Als Regent über dieses riesige Land kann ich mir nicht leisten, an Ammenmären zu glauben.
Elwha und sein Glaube Talris nützt mir, um das Volk auch in unruhigen Zeiten zu beruhigen. Es ist sehr vorteilhaft, wenn man die Schuld für alles Unangenehme auf den Schultern der Göttern abladen kann. Natürlich werde ich Talris nie leugnen, denn damit gäbe ich das Ruder fort, mit dem sich das Volk und die Armee steuern lässt.
Im Gegenteil gewähre ich dem Volk im Namen Talris und der Götter gelegentlich gewisse Vorzüge, wie die Erlaubnis, in den Nächten mit Feiern und Frohsinn Talris zu ehren. Das Volk ist abgelenkt, findet Kurzweil in der Nacht und ist des Tags zu müde um gegen Jenes aufzubegehren, dessen es unmutig ist!«
So war das also! Sebastian musste beinahe grinsen. Jedoch nur beinahe. Als überzeugter Atheist hatte er zu wissen geglaubt, dass jede Gottheit, egal in welcher Welt, nur eine Erfindung der Mächtigen war und nur der Einschüchterung und Ausbeutung von Völkern diente. Doch seit er die Hallen von Talris betreten hatte, bröckelte die Mauer seiner Weltanschauung. Was er dort sah, war definitiv nicht von Menschenhand geschaffen worden!
Sebastian stellte sich das dumme Gesicht des Königs vor, würde er ihn in die Hallen seines Gottes führen, an den er nicht glaubte, den er nur benutzte, um dem Volk Gesetze aufzuerlegen. Bental mochte wohl atheistische Züge besitzen, doch das Wissen des zwanzigsten Jahrhunderts aus der Welt Sebastians war ihm so fern, wie der Mond!
»Es ist gut...«, unterbrach der König Bastis Gedanken, »...ihr werdet weiter in der Sprache und der Kunde der Ival gelehrt werden, ich werde den Wachen diese Änderung mitteilen!«
Sebastian war verblüfft. Der König erlaubte ihm einfach so, ohne Auflagen, wieder den Umgang mit Antarona? Wo war der Haken? Skepsis machte sich in Sebastian breit. Gleichzeitig aber schlug seine Phantasie Purzelbäume. Er stellte sich bereits vor, wie sie sich in die Arme flogen, sich gegenseitig die Kleider vom Leib rissen, in brennenden Küssen ertranken und ihrer quälend lange angestauten Sehnsucht freien Lauf ließen...
»War das jetzt alles, oder habt ihr noch eine Überraschung, mit der ihr den König zu fordern gedenkt?« störte Bental Sebastians Wunschvorstellung.
»Eine Sache noch, eure Hoheit...«, Sebastian entrollte die Liste der Eltern von Tariz und ihren Freunden, »...wenn ihr mir gütigst erlaubt, über diese Leute hier Erkundigungen einzuholen, oder mir mitteilen wollt, wer diese Menschen sind und was sie tun.« Er gab Bental die Liste und der König las sie mit wachsender Verwunderung.
»Es sind angesehene Bürger der Ival und Oranuti.., ein Fürst der Oranuti ist dabei.., er war mit seiner Familie auf dem Fest...«
»Das ist richtig...«, gab Sebastian zu und unterbrach den König »...darum geht es ja. Ich habe diese Leute auf dem Fest kennen gelernt und sie erhofften sich meiner Gunst der Fürbitte vor euch. Doch dieser gebe ich erst statt, wenn ich weiß, wer diese Leute sind, und wenn ich eure gütige Erlaubnis dazu habe«, erklärte er.
Sebastian befürchtete, dass Bental auf dem ganzen Schleim ausrutschen könnte, den er ihm um den Frack schmierte! Doch der gab sich einmal mehr beeindruckt. Er nickte wohlwollend und sprach:
»Wie ich sehe, habt ihr rasch gelernt! Ihr geht auf die Wichtigsten und Einflussreichsten des Volkes zu bewahrt euch aber dennoch eine Vorsicht, die einem Areos geboten ist. Ich werde die Liste bearbeiten lassen und euch eine Einschätzung geben. Ihr erhaltet sie umgehend zurück!« Plötzlich bekamen Bentals Augen listige Schlitze, als er hinzu fügte:
»So wichtige Vertreter des Volkes sollte man nicht warten lassen, oder nur eine angemessene Zeit, um ihre Angst, Unsicherheit, oder ihre Hoffnungen zu schüren, was einem zum Vorteil gereichen kann. Mag sein, ich werde aus euch noch einen brauchbaren, klugen Gesandten meiner selbst machen.«
»Habt ihr sonst noch ein Begehren?« fragte er dann, wieder mit üblichem Tonfall. Als Sebastian verneinte, schien eine Last und innere Unruhe von Bental abzufallen. Er ging zu dem kleinen Tisch hinüber, der hinter den Säulen stand, nahm Sebastians Schwert und übergab es ihm als symbolischen Rauswurf.
»So dürft ihr nun gehen.., und macht mir einen guten Plan zur Verteidigung der Burg, macht mir eine gesamte Landesaufnahme.., es soll euer Schaden nicht sein!«
Auf dem Rückweg in seine Gemächer achtete er gar nicht auf Hekthur, der ihm bis zum Treppenturm Geleit gab. Vielmehr dachte er darüber nach, dass Bental plötzlich doch ein Interesse an einem dokumentierten Verteidigungsplan zeigte.
Hatten Sebastians strategische Gedanken doch mehr Unruhe in Bental geweckt, als dieser zugeben wollte? Auf jeden Fall konnte er sich nun unter dem Vorwand, ein Kartenwerk zu erstellen, überall Zugang zu verschaffen! Was war, wenn ihm Bental für die Ausführung eine Wache zur Seite stellte, wie er bereits angedeutet hatte?
Sebastian aber wollte sich jederzeit und unbeobachtet mit Antarona treffen können! Er kam zu dem Entschluss, dennoch zu versuchen, den Zugang zu den beiden Türmchen zu erlangen, die allein seine Gemächer mit denen Antaronas verbanden.
»Herr.., ihr seid zurück?« Die Stimme Frethnals machte seinen Gedanken ein Ende. Er war unvermittelt hinter Sebastian aufgetaucht, als hätte er nur auf seine Rückkehr in die Gemächer gewartet.
»Wie ihr unschwer erkennen könnt, mein lieber Frethnal, bin ich das!« gab Basti ironisch zurück. Um Fragereien zu vermeiden, fügte er gleich hinzu:
»Und ich brauche euch jetzt nicht. Wenn ihr weiter nichts zu tun habt, so könnt ihr für mich nach Falméra hinunter gehen.., ich benötige einige Dinge, um neue Karten anzufertigen.., besondere Dinge! Da ich selbst die Burg nicht verlassen darf...«
»Ihr dürft die Burg nicht verlassen, Herr?« fragte der Diener verwundert und sah Sebastian staunend an. Sebastian blickte ebenso überrascht zurück.
»Ich werde auf Schritt und Tritt überwacht, glaubt ihr etwa, Bental lässt mich einfach so aus der Burg spazieren?« Frethnal zuckte mit den Achseln und meinte wie beiläufig:
»Ich habe keine Anweisung, Meldung zu machen, falls ihr verschwunden seid. Ebenso wenig muss ich berichten, wo ihr euch jeweils aufhaltet. Von den Wachen weiß ich, dass sie nur die Aufgabe haben, euch den Zugang zum vierten, zweiten und ersten Stockwerk, sowie zum untersten Kerker zu verwehren. Ansonsten solltet ihr euch frei bewegen dürfen!«
»Das ist ja interessant«, überlegte Sebastian und legte demonstrativ seine Stirn in Falten, um von Frethnal nicht in seinen Gedanken unterbrochen zu werden. Einen Augenblick später schlug er seinem Diener mit der Hand auf die Schulter und kündigte abenteuerlustig an:
»Das werden wir noch ausprobieren! Haltet euch zum Ende des Sonnenlaufs bereit, Frethnal, wir werden einen kleinen Ausflug machen.., vorausgesetzt, ihr habt recht mit dem, was ihr da sagt!« Sebastians Kammerdiener sah etwas verunsichert drein.
»Na, was soll uns schon passieren...«, munterte ihn Sebastian auf, »...allenfalls versperren uns die Wachen den Weg und wir müssen umkehren! So.., und nun könnt ihr bis heute Abend tun, was euch beliebt!« wollte Basti großzügig sein.
»Herr.., euer Mahl.., wo soll ich zur Mittagsstunde euer Mahl servieren?« fragte Frethnal verunsichert und trat nervös von einem Bein auf das andere.
»Wo wird denn das Mahl gewöhnlich serviert?« fragte Sebastian gereizt, denn er wollte endlich unbeobachtet sein.
»Im großen Salon, Herr.., aber wenn ihr geneigt seid...« Sebastian unterbrach ihn genervt und ordnete an:
»Dann serviert ihr es dort.., ich werde geneigt sein, zur rechten Zeit da zu sein, um es zu verzehren.., wenn euch dies genügt.« Frethnal verbeugte sich und verschwand hinter dem Knick des Korridors.
Endlich konnte sich Sebastian damit beschäftigen, was ihm am dringendsten am Herzen lag. Er durchstöberte die drei Waffenräume, die in Nachbarschaft zu seinem Schlafgemach lagen und griff sich verschiedene Dolche, sowie ein scharfes Kurzschwert. Aus dem Schlafgemach holte er sich noch ein großes Tuch.
Mit diesen Dingen begab er sich in das Lesezimmer, jenen Raum, in dem sich die Türmchen befanden, die seiner Schätzung nach im Durchmesser gerade mal drei Meter maßen. Sebastian mied auf dem Weg bewusst den Korridor, sondern ging von einem Zimmer in das andere. So lief er nicht Gefahr, Hekthur oder Frethnal über den Weg zu laufen.
Im Lesezimmer zog er zunächst den Tisch mit den Büchern von den Vorhängen fort, den er davor geschoben hatte. Dann schlug er die Wandtücher zurück und befestigte sie an der Stange über der Tür. Vor dem Durchgang breitete er auf dem Boden das mitgebrachte Tuch aus. Basti begutachtete den Eisenbeschlag des Schlosses, nahm ein Messer und probierte einen ersten Schnitt.
Es war kein hartes Holz. Die Klinge fuhr mühelos mit der Spitze, der Maserung nach, hinein. Sebastian schnitt zunächst ein paar Mal auf der Stelle rechtwinklig um das Schloss herum. Dann folgte er den ersten Schnitten mit schräg gestellter Klinge, so dass sich grobe Späne heraus schälten und auf das ausgebreitete Tuch fielen.
Da er nicht wusste, wie dick diese Tür war, konnte er auch nicht abschätzen, wie lange er brauchen würde, hindurch zu kommen. Doch er bereitete sich darauf vor, einige Nächte damit beschäftigt zu sein. Schnitt um Schnitt vergrößerte er die Kerben um den Schlossbeschlag herum und nach einer Stunde Arbeit hatte sich seine Messerklinge bereits zwei Zentimeter tief in das Holz gefressen.
Vorsichtshalber beließ er es erst einmal dabei. War es nicht inzwischen Zeit, das Mahl einzunehmen? Sebastian zog das Tuch von der Tür zurück, ließ den Wandbehang darüber fallen und schob wieder den Tisch davor. Zusätzlich legte er noch ein paar Bücher und Karten darauf, damit es den Anschein erweckte, er würde an einer wichtigen Sache arbeiten.
Jederzeit konnte Frethnal auftauchen, um nach seinem Verbleib zu sehen, weil das Essen auf dem Tisch stand. Eilig trat Sebastian mit dem Tuch auf den Balkon und schüttelte es über die Brüstung hinweg aus. Damit musste er sich ebenfalls etwas einfallen lassen! Wenn er dies oft genug tat, würde man unten auf dem Burghof die Späne finden. Zumindest Bental konnte dann misstrauisch werden.
Als Sebastian in den Salon trat, war der Tisch bereits gedeckt. Zehn Minuten später erschien Frethnal mit den Speisen. Es gab reichlich gebratenen, gut gesalzenen Fisch, dazu eine Art Rübe oder Kartoffel, die süßlich schmeckte, und ein Gemüse, das dem Kohlrabi aus Sebastians Welt nicht unähnlich war. Frethnal brachte auch einen großen Krug herbei, der ein Getränk enthielt, das kein Wein, aber auch kein Apfelmost war. Eben eine Flüssigkeit irgendwo dazwischen.
»Es ist bereits vorgekostet«, verkündete Frethnal pflichtbewusst. Sebastian guckte ihn an, als hätte er nicht recht verstanden.
»Das ist bitte was?« wollte er genau wissen und suchte sein Essen nach irgend etwas ab, dass ihm verdächtig erschien.
»Vorgekostet, Herr.., eure Speisen wurden gekostet, damit...« Sebastian ließ ihn erst gar nicht ausreden und fragte empört:
»Soll das etwa heißen, jemand hat an meinem Essen herumgeknabbert, ja.., habe ich das richtig verstanden?«
»Herr, es dient eurer Sicherheit...«, verteidigte sich Frethnal, »...alle Speisen der Fürsten und Könige der Ival müssen vor dem Schmause gekostet werden, so...«
»So ist das Protokoll!« nahm Sebastian ihm die Worte aus dem Mund. »Und wenn etwas vergiftet ist, so geht jemand für mich in das Reich der Toten, ja?« Sebastian schüttelte den Kopf über so viel Dummheit.
»Ich hoffe, das seid nicht ihr, Frethnal, der von meinem Teller kosten muss?« fragte Sebastian sarkastisch und nahm sich vor, an diesem Protokoll dringend etwas zu ändern.
An die Möglichkeit, dass ein Spion Torbuks Gift in sein Essen mischen konnte, hatte er gar nicht gedacht. Er kannte weder das Küchenpersonal, noch jene, die das Essen zubereiteten. Entsprechend lange stocherte er mit der Gabel, die eine ungünstig flache Form besaß, auf seinem Teller herum.
Frethnal blieb im Hintergrund stehen und harrte der Wünsche, die seinem Herren vielleicht noch einfielen. Das machte Sebastian noch nervöser, als der Gedanke, plötzlich Schaum vor den Mund zu bekommen.
»Ihr könnt gehen, Frethnal.., ich denke ich habe alles, was ich brauche...«, versuchte Basti die aufmerksamen Augen los zu werden, »...ich bin anschließend im Lesezimmer und arbeite dort an den Karten für den König. Falls nicht gerade die Burg in Flammen steht, wäre ich euch dankbar, wenn ihr mich dann freundlichst nicht stören wollt. Haltet euch aber zum Ende des Sonnenlaufs bereit! Ich werde den kleinen Waffenrock tragen.., und natürlich auch mein Schwert!«
Ohne sich umzudrehen, wusste Sebastian, dass sich sein Diener verbeugte, als er mit einem Ja, Herr den Raum verlies. Sebastian schlang das Essen hinunter, das zu genießen sowieso nicht möglich war, solange er sich noch nicht an die fremde Kost gewöhnt hatte.
Anschließend begab er sich ohne Verzögerung zurück in das Lesezimmer. Tisch abrücken, Tuch ausbreiten und Vorhang zurückschlagen waren eins. Schwert und Messer hatte er unter einem Regal des dunklen, fensterlosen Archivraums versteckt, der zwischen dem Korridor und dem Lesezimmer lag.
Mit fieberhaftem Eifer schnitzte er die nächsten drei Stunden im Holz der Tür herum. Jedes Mal, wenn er Schritte im Flur vernahm, unterbrach er seine stupide Arbeit, schob das Tuch mit den gesammelten Spänen per Fuß an die Wand und zupfte den Vorhang vor die Tür. Dann verharrte er lauschend, jederzeit bereit, den in Karten und Bücher vertieften Areos zu spielen.
Die Zeit verging wie im Flug und als sich die Sonne den Bergspitzen im Westen näherte, betrachtete er sein Werk skeptisch. Eine zwei Zentimeter breite und drei Zentimeter tiefe Rille hatte er um den Beschlag herum in das Holz gegraben. Der Erfolg stand in keinem Vergleich zu dem Haufen Späne, den der dabei produziert hatte. Er fragte sich, ob es nicht einfacher und unauffälliger war, einen Schlüssel herzustellen.
Natürlich! Sebastian hieb sich die geballte Faust auf seinen Oberschenkel. Dass er nicht schon eher darauf gekommen war! Für diese Stunde war es eindeutig zu spät, doch am nächsten Tag wollte er eine ganz andere Strategie ausprobieren.
Damit nahm er das Tuch mit den Spänen zusammen, versteckte das Werkzeug wieder im Archivzimmer und drapierte den Sekretär so, dass er den Zugang zur Tür versperrte. Die Späne trug er auf Zehenspitzen von Zimmer zu Zimmer, bis in das letzte Zimmer im äußersten westlichen Flügel. Die beiden Freisitze dort ragten ein paar Meter über die Felsen hinaus, in der die Burg fußte.
Sebastian schüttelte das Tuch aus und sah zu, wie der Wind seine verräterischen Schnipsel erfasste und Strom aufwärts über dem Burggraben davon trug.
Nach dieser Entsorgungsaktion beeilte er sich, in das Ankleidezimmer zu kommen, bevor Frethnal diensteifrig auf den Einfall kam und nach ihm suchte. Er nahm den Weg über den Korridor, der sich wie eine Ringstraße um alle Flügel der Burg wand. Wie die leeren Gänge eines Museums außerhalb der Öffnungszeiten gähnten ihn die langen Flure an und vermittelten einen Eindruck davon, wie groß die Burganlage war.
Im Ankleidezimmer hatte Frethnal bereits einen sauberen Waffenrock, ein neutrales Hemd, sowie einen Umhang bereit gelegt. Nachdem er die schon bekannten Kleidungsstücke angelegt hatte, betrachtete er sich den Umhang näher, für den es eigentlich viel zu warm war. Das gute Stück war schwarz, besaß innen aber ein rot gefärbtes, leichtes Futter aus dünnem, lose gewebtem Stoff, der in einem Zickzack Muster angenäht war.
Mit einer Kette und einer großen Bronzescheibe, auf der das Wappen Falméras zu sehen war, konnte der Mantel auf der Brustseite des Wams befestigt werden, wie es Sebastian in historischen Spielfilmen bei römischen Legionären gesehen hatte.
Fertig gekleidet wartete er auf Frethnal. Doch der ließ sich tatsächlich so lange Zeit, bis die Sonne hinter den felsigen, teilweise bewaldeten Flanken der Berge verschwand und die Welt von einer Minute zur anderen in eine geheimnisvolle Dämmerung tauchte.
Als er endlich durch die Tür trat, bombardierte ihn Sebastian sogleich mit einer Frage, die ihm schon den ganzen Tag durch den Kopf ging:
»Sagt, Frethnal, wie bezahle ich eigentlich die feil gebotenen Waren und Speisen in der Stadt?« Sebastian hatte beobachtet, wie Antarona bei ihrer Ankunft in Falméra mit Quarts, dem in diesem Land üblichen Ringgeld bezahlt hatte.
Doch er besaß weder dieses seltsame Geld, das aus Ringen verschiedenster Materialien bestand, noch irgendwelche Münzen, oder andere Dinge, die er zum Tausch anbieten konnte. Frethnal sah ihn pikiert an und es war offensichtlich, dass ihm die Situation peinlich war.
»Herr.., ihr wisst das nicht mehr...«, druckste er herum, »...ihr besitzt mehrere Kisten, gefüllt mit Quarts.., ich habe sie.., also Hekthur hatte mir aufgetragen, darauf zu achten, dass sie stets verschlossen sind.«
»Das ist ja wunderbar, Frethnal.., doch sagt, wo befinden sich diese Kisten?« fragte Sebastian, als wäre es das Selbstverständlichste überhaupt. Um nicht einen völlig schwachsinnigen Eindruck bei seinem Diener zu hinterlassen, schwindelte er noch rasch hinzu:
»Wisst ihr Frethnal.., im Reich der Toten und der Götter verlieren sich jedwede Gedanken in alle Winde, damit sich die Seele befreit und Abschied nimmt, von der irdischen Welt. Nun muss ich diese Gedanken erneut ins Leben zurück rufen.., also, habt Nachsicht mit mir.., nun helft mir schon, wo sind die Kisten mit den Quarts, und wo kommen sie her?«
»Nun, Herr.., ihr erhaltet mit jeder Mondwende eine stattliche Anzahl Quarts, über welche ihr frei verfügen könnt. Ebenso erhaltet ihr von den Tränen der Götter, welche aber dem Volk verboten sind, seit Torbuk sie mit Hilfe der gefangenen Ival aus den Bergen holen lässt. Erst, wenn alle Gefangenen befreit sind, erlaubt der König den Handel mit ihnen.«
»Und wo ist das ganze Zeug?« fragte Sebastian ungeduldig. Frethnal führte ihn in das Arbeitszimmer im Südostflügel und erklärte unterwegs:
»Das meiste befindet sich unter dem kleinen Archiv Talris, dort, wo es zu den Kerkern geht. Dort liegen auch die Schätze der Burg verborgen.., schwer bewacht von Genraths Wachen. Einen teil eurer Quarts aber findet ihr hier...«
Sie hatten inzwischen die beiden Räume neben dem großen Bad erreicht, denen Sebastian bisher kaum Beachtung geschenkt hatte. Die Platten der beiden mächtigen Schreibtische in beiden Zimmern ließen sich zur Hälfte aufklappen und in ihrem Hohlraum standen je eine fünfzig mal siebzig Zentimeter große und fünfzig Zentimeter hohe Eisenkiste.
Sebastian staunte nicht schlecht über das Versteck, das er selbst niemals gefunden hätte. Wer kam schon auf den perfiden Einfall, den ganzen Tisch leer zu räumen und zu versuchen, eine Hälfte der Platte hoch zu klappen. Beide Kisten waren mit antiken Vorhangschlössern gesichert, für die Sebastian in seiner Welt allein schon ein Vermögen bekommen hätte.
»Wunderbar, Frethnal.., das ist alles ganz schön...«, kommentierte Sebastian das gelüftete Geheimnis mit seinem Sarkasmus, »...aber wo sind die Schlüssel zu diesen Schlössern?« Der Kammerdiener zuckte mit den Schultern und machte ein ziemlich dummes Gesicht.
»Das weiß ich nicht, Herr.., mir ward nur aufgetragen, zu sehen, ob die Kisten immer verschlossen sind, doch wo die Schlüssel sind, das weiß nur Are.., äh, das wisst nur ihr, Herr!«
»Nun, mein lieber Frethnal.., wenn ich das wüsste, so hätte ich euch kaum gefragt, oder?« Sebastian sah sich im Raum um. Die Schlüssel zu solch Handteller großen Schlössern mussten so sperrig und schwer sein, dass kaum jemand, nicht einmal ein Areos, auf den Gedanken kam, sie ständig mit sich herum zu schleppen. Vermutlich waren sie irgendwo, ganz in der Nähe versteckt. Aber wo..?
Unter Frethnals verwunderten Blicken sah Sebastian hinter jedes Regal, tastete die Unterseiten der Tische ab, klopfte gegen jede Kassette der Holzvertäfelung und stieg tollkühn sogar auf einen Stuhl, um auf den hohen Schränken nachzusehen. Nichts!
Ratlos sahen sich Herr und Diener an. Sebastian machte sich sogar noch die Mühe und durchsuchte die Anrichten, die an den Wänden standen. Zu guter letzt krochen sie beide auf allen Vieren auf dem Boden herum, beklopften die Dielen und suchten nach verborgenen Öffnungen unter dem Stoffbespann, doch ohne Ergebnis. Wer sie beobachtete, konnte annehmen, zwei Psychopaten vor sich zu haben, die glaubten, Hunde zu sein.
»Tja.., so wie es aussieht...«, resignierte Sebastian enttäuscht, »...werden wir wohl einen ziemlich enthaltsamen Spaziergang durch die Stadt machen.
»Nun.., einmal müssen mir die Götter ja meine Erinnerungen zurück geben.., dann holen wir nach, was uns in dieser Nacht verwehrt bleibt!«, prophezeite Basti und sah nicht ein, warum er sich dadurch seine Laune verderben lassen sollte.
»Also los.., Frethnal.., lasst uns gehen, wir werden auch ohne Quarts unseren Spaß haben«, hoffte er zuversichtlich. Sie klappten die Tische wieder zu, räumten den Zierrat wieder darauf und verließen die Räume. Dabei fragte sich Sebastian, wozu er gleich zwei Arbeitszimmer brauchte, wo er doch noch ein Studienzimmer, zwei Bibliotheksräume und ein Lesezimmer in seinen Gemächern hatte.
Allein seine Gemächer entsprachen einem Palast, den sich in seiner Welt nur berühmte Schauspieler und Sänger, oder Ölmultis leisten konnten. Die Anzahl der Quadratmeter zu schätzen, versuchte er erst gar nicht. Er würde sie ohnehin noch feststellen, wenn er die Burg vermaß und als Zeichnung zu Papier brachte.
Frethnal führte Sebastian in den Nordflügel, zu dem kleinen Treppenturm, den Sebastian und Antarona bei ihrer Ankunft auf der Burg hinauf gestiegen waren. Sie gingen die schmale Wendeltreppe hinab und Sebastian musste sich auf seine Füße konzentrieren, um nicht schwindelig zu werden. Unten entließ sie eine Eisen bewehrte Tür auf die Freitreppe zum oberen Hof.
Die Wachleute nahmen Haltung an und verbeugten sich, als sie Areos erkannten. Ab jetzt musste Sebastian seinen Sebastian aufgeben und Areos sein. Er begrüßte jeden Wachsoldaten einzeln und fragte nach dessen Namen, etwas, das ihm sogar Frethnals missbilligende Blicke einbrachte.
»Das Geheimnis ist Volksnähe und eine natürliche, freundliche Haltung zu Bediensteten, was einen gütigen und verständnisvollen und somit beliebten Thronfolger ausmacht!« erklärte er später seinem Diener. Das zumindest schien er mit dem echten Areos gemein zu haben, denn dieser war beim Volk und seinen Soldaten offenbar wesentlich beliebter, als Bental.
Niemand hielt sie auf, als sie auf den nächsten Hof gelangten und von dort über die große Treppe zum mächtigen Innentor. Auf dem Hof saßen Knechte, Mägde und Wachsoldaten mit ihren Familien um kleine Lagerfeuer herum, sangen fröhliche Lieder und spielten seltsame Instrumente dazu, die eine befremdliche, aber mitreißende Musik erklingen ließen.
Kinder tollten umher und kletterten in den Waschzubern herum, die Sebastian bei ihrer Ankunft auf der Burg gesehen hatte. Am Tor trafen sie auf Genrath und seine Wachen, die sofort Aufstellung nahmen, als sie ihren neu eingesetzten Heerlagerführer erkannten. Areos erkundigte sich nach dem Befinden seiner Soldaten und marschierte mit Frethnal an seiner Seite ungehindert auf den unteren Hof.
Auch hier schien das Leben nach Sonnenuntergang lauter, ausgelassener und unbeschwerter zu sein. Im Gegensatz zum Tag, an dem jeder seiner Geschäftigkeit nachging, schien sich in der Nacht das eigentliche Leben zu erwachen. Vorbei an den Wachhäusern, Handwerkerheimen und Ställen.., überall brannten Feuer, um die sich essende und trinkende, singende und tanzende Menschen einfanden.
Allein an der Zugbrücke und dem äußeren Tor war es auffallend still. Die Wachen saßen an einem kleinen Feuer und kontrollierten jeden der die Burganlage verließ, oder in ihre Mauern Einlass begehrte. Areos, der auch hier den Kontakt zu den Soldaten suchte, hatte den Eindruck, plötzlich einem anderen Menschenschlag zu begegnen.
Tatsächlich, so klärte ihn Frethnal auf, gehörten diese Wachen einer anderen Einheit, der so genannten äußeren Wache an. Sie wurden nicht, wie die innere Wache unter Genrath, vor den Burgtruppen, sondern von den Heerlagern gestellt, deren Einheiten auf den begrasten Hügeln links und rechts der Stadt in Zeltstädten lagerten. Sebastian hatte sie noch nicht gesehen, vermutete aber ähnliche Zeltlager, wie jene Torbuks, die er aus der Entfernung vor Quaronas erkennen konnte.
Nachdem sie durch das Haupttor getreten waren, schlug ihnen sofort eine kühlere Luft entgegen. Leiser Wind zog von der Bucht über die Stadt herauf und brachte nach der Hitze des Tages leichte Abkühlung. Sebastian hatte die Wärme in den dicken Steinmauern der Burg gar nicht wahr genommen, erinnerte sich aber an die heißen Temperaturen als er mit Antarona Falméra erreicht hatte.
Aber nicht nur kühlere Luft zog von See her den Bergen zu, sondern auch jede Menge angenehme Gerüche. Es duftete nach Holzfeuern, nach gebratenem Fleisch und Fisch, nach Gewürzen, Kräutern und Seifen und der süßlichen Note von allerlei Backwerk. Sie hatten die Stadt noch nicht ganz erreicht und Sebastian lief schon das Wasser im Munde zusammen.
Dazu trug der Wind verwehtes Lachen, Singen und die Klänge ursprünglicher Musik mit wilden Trommelwirbeln an ihre Ohren. In diesem Moment ärgerte sich Sebastian, dass er die Schlüssel für seine Quartkassetten nicht gefunden hatte. Wahrscheinlich entging ihm in dieser Nacht das pure Leben, welches er mit den Taschen voller Quarts hätte ausschweifend genießen können.
Für kurze Zeit übertönte das Rauschen der wilden Wasser, die vom Burggraben abflossen, die Klänge der Musik. Sie folgten dem breiten Weg durch die Parkanlage zum großen Portal, auf die Freitreppen, die hinunter in die Stadt führten. Links und rechts beleuchteten ins Gras gesteckte Fackeln den Weg. Auf den Freitreppen waren Fackelhalter an den Mauern zu den wohlhabenden Häusern angebracht und erhellten den Weg, der von prächtigen Blumenbeeten gesäumt wurde.
Sebastian warf einen Blick zurück und war begeistert von der Postkarten- Ansicht, die sich ihm bot. Die vielen Feuer und erleuchteten Fenster der Burg ließen die Festung sich in goldenem Licht vom schwarzen Nachthimmel abheben. Türme, Mauern, Söller und Zinnen standen wie erhaben über dem finsteren Gürtel des Parks. Einige Bäume griffen mit schwarzen, bizarren Fingern in die angeleuchteten Mauern und ließen die Burg als mystische, entrückte Bastion erscheinen.
Am dritten oder vierten Podest der Freitreppe verließen Sebastian und Frethnal die großzügigen, flachen Stufen und bogen in eine Querstraße ein und von dort in eine der abschüssigen Gassen, die zum Hafen hinunter führten. Sofort waren sie mittendrin im pulsierenden Leben der Stadt Falméra.
Unzählige Feuerkörbe, Lagerfeuer und Fackeln erleuchteten Stände, Tore und Läden mit allerlei Köstlichkeiten, edlen Stoffen, duftenden Gewürzen und Dingen, die das alltägliche Leben brauchte und die sie sich verkneifen mussten, weil der Thronfolger nicht an sein verschlossenes Vermögen gelangte.
Besonders angetan hatten es Areos und seinen Diener die großen Lagerfeuer auf den Plätzen, an denen wilde Sackpfeifenmusik mit rhythmisch hämmernden Trommeln die Mauern erzittern ließen. Alt und Jung standen um die Feuer herum, junge Paare zuckten und wanden sich in ekstatischen Tänzen zum flackernden Schein der Flammen.
Leicht bekleidete, junge Tänzerinnen, die teilweise nur den Hauch eines Stoffes am Leib trugen, wurden von ihren männlichen Partnern hoch gehoben, durch die Luft gewirbelt und über die Flammen auf die andere Seite des Feuers geworfen, wo sie von den kräftigen Armen eines Anderen aufgefangen wurden. Die Elsirentänze waren in vollem Gange. Sebastian wunderte, dass sich die jungen Feuerspringerinnen nicht verletzten und gab seine Sorge fragend an Frethnal weiter.
»Manchmal verbrennen sie sich, Herr...«, schrie Frethnal gegen den wilden Takt der Musik an, »...dann tragen sie die Wunden offen und mit Stolz und werden von allen Ival dafür bewundert!«
Sebastian schüttelte den Kopf und blickte sorgenvoll den fliegenden Mädchen nach, die mit glänzenden Leibern und zerzausten Haarmähnen durch die Flammen schossen und den jungen Männern, die sie auffingen, anschließend mit ihren Reizen imponierten.
Je heftiger und wilder die Musik spielte, desto ausschweifender und freizügiger gebärdeten sich die Tanzenden. Sebastian sah sich unwillkürlich an den Schauplatz uralter heidnischer Rituale versetzt. Einige Pärchen steigerten sich so sehr in die aufreizenden Tänze hinein, bis ihre Gesichter glühten, die Glieder zitterten und sie den Kreis der Tänzer und Tänzerinnen verließen.
Sebastian musste nicht erst raten, wohin und mit welchen Absichten sie sich zurückzogen. Gleichzeitig stellte er sich Antarona als eine jener freizügigen Tänzerinnen vor und augenblicklich entbrannte in ihm eine tiefe, seinen Leib von innen heraus zerfressende Sehnsucht, die seine Stimmung urplötzlich in ein dunkles Tief sacken ließ.
Wie romantisch, wie wild und ungezwungen hätten sie ihre Liebe hier ohne jegliche Zwänge ausleben können, wäre diesem König nicht eingefallen, dass Antarona seine Tochter hätte sein können. Eine junge Blume wie sie sollte beim Elsirentanz erblühen und nicht im Gemäuer der Burg verwelken und vertrocknen!
Jedes Mal, wenn ihn die Sehnsucht nach Antaronas Duft, nach ihrem verführerischen Leib, nach ihrem Lächeln überkam dachte er daran, was ihm Tariz auf dem nächtlichen Burghof erzählte. Er dachte an den Ort Mehi-o-ratea, an das heimliche Dorf der Liebenden in den Elsirensümpfen. Sebastian kannte bereits die Wirkung der Elsiren auf Geist und Körper des Menschen und wunderte sich nicht mehr über die Wahl dieses Ortes für ein Dorf der freien Liebe.
Allmählich verstand er auch die Taktik König Bentals. Wenn die Ival in jeder Nacht so ausgelassen feierten und bis zur völligen Erschöpfung tanzten, erreichte er gleich zwei Ziele. Zum einen erfuhr das Volk Ablenkung und Spaß, sowie die rebellische Jugend eine Erfüllung ihrer Sehnsüchte. Die allgemeine Unzufriedenheit über die politische Lage sank auf ein scheinbar erträgliches Maß.
Zum anderen waren die Ival nach so durchzechten Nächten einfach zu müde, um neben ihrer täglichen Arbeit noch gegen die unattraktiven Entscheidungen ihres Königs aufzubegehren. Irgendwie erinnerte Sebastian diese Strategie an das Römerreich, wo das unzufriedene Volk ebenfalls mit Spaß und Spiel eingelullt wurde. Die Gladiatorenkämpfe brachten die nötige Ablenkung und das Volk liebte seinen Kaiser für diese Kurzweil.
Auf einem Mal wurde Sebastian bewusst, dass sich viele Augenpaare auf ihn richteten. Er war so in Gedanken versunken, dass er gar nicht bemerkt hatte, wie sich immer mehr Menschen um ihn versammelt hatten und ihn erwartungsvoll ansahen.
Vor ihm stand eine der jungen Tänzerinnen und verschlang ihn schier mit ihren großen, leuchtenden Augen. Ihre dunklen Haare hingen ihr in langen, nassen Strähnen im Gesicht und in den Hüften wiegend tanzte sie ihn an. Sie trug das typische Kleid für den Elsirentanz, ein Hauch von Nichts, dessen dünner Stoff mehr ihre Reize präsentierte, als irgend etwas bedeckte.
Das Kleid und ihr Oberteil waren mit Brandlöchern übersät. Diese Tatsache und ihr Schweiß glänzender Körper erzählten Sebastian, dass sie keinen der Tänze an diesem Abend ausgelassen hatte. Die Fesseln ihrer nackten Füße, die sie mit Lederriemen und daran hängenden Schellen umwickelt hatte stampften fordernd auf den Boden und verursachten einen klingelnden Takt zum anschwellenden Ton der Trommeln.
»A-re-os.., A-re-os.., A-re-os!« brüllten die Menschen um sie herum und klatschen im Takt dazu. Sebastian sah das Mädchen unsicher an, das sich ungeniert wie eine Schlange nach dem Klang einer Flöte aufreizend vor seinen Augen hin und her wand und ihm immer näher kam. Der durchscheinende Stoff ihres Rocks hing an einer Art Gürtel der ihr so tief auf den Hüften saß, dass er befürchtete, sie würde ihn im nächsten Moment verlieren. Ein glitzernder Edelstein saß keck auf ihrem Bauchnabel und warf den Schein der Flammen hundertfach funkelnd zurück. Sebastian musste still lächeln. Seine Welt hatte das Bauchpiercing also nicht entdeckt!
Immer mehr Leute umringten sie und feuerten sie an, sich in den Elsirentanz einzureihen. Inzwischen waren auch einige Soldaten unter den Zuschauern, denen die Anwesenheit ihres Kommandeurs nicht entgangen war. Sie hatten ihre Schwerter gezogen und schlugen mit ihren Messern dagegen. Eine eindeutige, klingende Aufforderung an ihren Heerführer, die kleine Ival durch die Nacht zu führen!
Sebastian blickte sich unschlüssig nach Frethnal um, der den Spagat zwischen biederem Hofprotokoll und uneingeschränkter Volksnähe versuchte und mit gezwungenem Lächeln zaghaft im Takt mit klatschte.
»Ihr müsst mit ihr den Feuertanz der Elsiren tanzen, Herr.., sie erwarten das!« schrie er ihm ins Ohr. Sebastian bekam leichte Panik. Er hatte ohnehin nie viel fürs Tanzen übrig, und nun sollte er ein fast nacktes, fremdes Mädchen umher wirbeln und durch ein Höllenfeuer werfen, dessen Flammenzungen zehn Meter hoch in den Nachthimmel leckten.
Das Mädchen, von den anfeuernden Rufen der Umstehenden ermutigt, ließ erst ihren Po, dann ihr Becken mit flüchtigen Berührungen um Sebastians linkes Bein kreisen, schlang ihm dann die Arme um den Hals und ihr Mund berührte warm sein Ohr.
»Raspina wird ihr Leben lang stolz sein, wenn Areos sie in den Tanz des Feuers führt und sie wird sich in seinen starken Armen so sicher fühlen, dass ihr der beste Sprung von allen gelingen wird!« hörte er ihre säuselnde Stimme. Der leicht süßliche Duft, den ihr feuchter Körper verströmte, berauschte ihn irgendwie und brachte ihn in einen schweren Konflikt, der wie ein angenehmer Fluch durch seinen Kopf zu schwirren schien.
Die Menschen hatte ihn nun einmal erkannt und er musste dem Drängen des Volkes und seiner untergebenen Kameraden nachgeben, wollte er seinen Ruf als volksnaher, bewunderter und beliebter Thronfolger nicht verlieren. Und bei den betörenden Reizen dieser Tänzerin fiel das nicht schwer.
Leicht war die Versuchung, das Feuer seiner bohrenden Sehnsucht nach Antarona mit der Gelegenheit der Stunde und dieser verführerischen jungen Frau zu löschen, die ihn noch dazu anhimmelte, wie einen Gott. Doch Antarona würde ihm mit bloßen Fingern die Augen auskratzen, wenn sie davon erfuhr!
Aber musste sie davon erfahren? Und gebot ihm nicht schon sein Stand, dem Drängen des Volkes nachzugeben? Er wollte nicht, aber er musste doch! Andererseits... Eine Tänzerin wie diese konnte einem Mann ganz schön den Kopf verdrehen und seine Sinne wie Gefühle durcheinander bringen! Wer sah es denn schon, wenn er im wilden, unübersichtlichen Tanz plötzlich mit ihr in den dunklen Gassen verschwand?
Konnte er dann aber noch Antarona mit reiner ehrlicher Liebe im Herzen begegnen, wenn sie sich wieder sahen? Würden sie sich überhaupt wiedersehen? Was, wenn er sie trotz all seiner Bemühungen, einen Weg zu ihr zu finden, dennoch verlor? Dann hatte er diese Gelegenheit, den erfüllenden süßen Nektar einer jungen Blüte zu kosten, umsonst verschmäht!
Sebastian schüttelte unmerklich den Kopf, um seinen Geist wieder von dem Rausch der jungen Tänzerin zu befreien. Nein.., es gab noch etwas anderes, das ihn mit Antarona verband! Sie hatten zu viel erlebt und miteinander durchgestanden, als dass er sie auf diese Weise verraten konnte! Andererseits.., war es denn ein Verrat, wenn er mit dieser Kleinen hier nur tanzte.., nichts weiter?
Er konnte die Augen schließen, sich zwingen, das fremde Mädchen nicht anzusehen und sich bemühen, an Antarona zu denken! Dann würde er sie ja nicht betrügen, oder? Sebastian sah sich um, doch niemand konnte ihm diese Entscheidung abnehmen!
Hatte er Antarona nicht bereits betrogen, in dem er nur darüber nachdachte, mit dieser Tänzerin die Nacht zu verbringen? War es dann nicht sowieso egal? Zum ersten Mal erlebte Sebastian den Zwiespalt zwischen einer gedachten und einer begangenen Untreue. Aber war nicht jeder zweite Mann untreu, ging nicht auch jede Frau einmal in ihrem Leben fremd? War es denn nicht ganz normal?
Liebte er Antarona nicht mehr, bloß, weil er einmal in einer süßen Nacht der Verführung einer fremden Frau nachgab, die er wahrscheinlich nie wieder sehen würde? Aber er war nicht anonym! Er war Areos, der Sohn des Kriegs- und Landesherren dieser Gegend! Das war etwas anderes!
War es das wirklich? Sebastian überlegte, ob er der Versuchung eher nachgeben würde, wenn er anonym blieb. Nein.., er musste jetzt handeln! Die Blicke seines Volkes lagen auf ihm.., die Blicke eines Volkes, das in seiner Kultur mit Sexualität und Treue offensichtlich zwangloser und freizügiger umging, als die Menschen in seiner Welt.
Er musste tanzen.., nur tanzen.., nur für das Volk! Er würde die duftende, feucht glänzende Haut dieses Mädchens gar nicht wahr nehmen! Ihr im Rhythmus kreisender Schoß, ihre langen Beine, die im wilden Tanz für kurze Augenblicke die Obhut des schützenden Stoffes verließen.., all das würde er nur rein mechanisch sehen!
Sebastians Herz raste in der Aufregung vor dem Unbekannten.., er holte tief Luft, um klar zu werden.., er roch den schweren Duft ihres sich vor seinen Augen windenden Körpers...
Anfeuernde Rufe und lauter Beifall brandeten auf, als der Sohn des Königs das schöne Mädchen um die Hüfte fasste, sie dicht an sich heran zog und ihren Leib hautnah an seinem Gesicht vorbei ich die Höhe hob. Anmutig wie eine Balletttänzerin spreizte sie ihre Beine und streckte die Hände zum Himmel. Die schrillen Pfeifen der Musik durchstachen Areos Ohren und das wilde Hämmern der Trommeln ließ seine Brust vibrieren.
Der salzig schmeckende, flache Bauch der Tänzerin berührte seinen Mund, als sie ihre Beine um seinen Oberkörper presste, um nicht den Halt zu verlieren. Sebastian war wie betäubt von ihr und nahm nur wie durch einen Nebel wahr, dass sie sich nach hinten bog, ihre Haare im Drehen durch die Luft flogen und ihre Brüste fast das gespannte Oberteil sprengten.
Die Hitze des Feuers, der Rauch, die Gerüche von verbranntem Holz, Kräutern und Gewürzen.., und das Aroma ihrer Haut... Sebastian bewegte seine Beine nur noch mechanisch, sein Kopf gehörte längst diesem Mädchen, dieser anmutigen Tänzerin Raspina, die ihre Blicke in seinen Augen vergrub und mit ihrem geschmückten Bauchnabel sein Herz zu verschlingen drohte.
Der Trommelwirbel wurde schneller, verlor sich in heillosem Chaos aus dem eigenen Lärm, dem Brüllen der jungen Tänzer und dem völlig enthemmten Kreischen der Tänzerinnen.
Bewegungen und Musik näherten sich einem kollabierendem Krescendo, in dem die ersten Tänzer ihre halb nackten Partnerinnen auf den Boden stellten, von dem sie sich mit Schwung abstießen und mit der Armkraft ihrer Partner durch die Flammen segelten.
Sebastian hielt seine Tänzerin um die Hüfte gefasst, drehte sich und überließ ihren Leib der Fliehkraft. Sie zog sich wieder an ihn heran und lockerte die Klammer ihrer Beine. Er gab ihren Windungen nach und brauchte kein Signal und keine Aufforderung. Irgendwie spürte er es in den Bewegungen Raspinas, dass ihr Sprung an der Reihe war.
Mit vorsichtigem Schwung hob er sie auf den Boden, ließ sie kurz in den Kniegelenken abfedern und hob sie wieder mit aller Kraft hoch. Gleichzeitig spannte sie ihre Beine an und schnellte wie ein Pfeil von der Sehne durch die Luft, um wie von Geisterhand in den stiebenden Funken des Feuers zu verschwinden.
Sebastian hatte die anderen jungen Männer beobachtet und wusste, dass es nun an ihm war, wiederum eine Tänzerin aufzufangen. Er nahm nur den Schatten wahr, der durch die Flammen geflogen kam. Er war nicht auf die Frau vorbereitet, die so unsanft in seinen Armen landete, dass er beinahe den Halt verlor und mit ihr zusammen im Staub landete.
Sie war nicht so klein und zierlich, wie Antarona, oder Raspina. Sie hatte mehr etwas von einem Wesen, dass für diesen Tanz eher ungeeignet gewesen wäre. Sie aufzufangen war schon kein reines Vergnügen. Doch sie im Tanz auch noch hoch zu heben und zu drehen, brachte Sebastian an den Rand seiner physischen Möglichkeiten.
Die Eltern dieses Mädchens mussten sehr wohlhabend sein, denn an Nahrung fehlte es ihr offensichtlich nicht. Ihr Honigkuchengesicht grinste ihn an und er befürchtete schon, sie für den Rest des Abends auf dem Hals zu haben. Sie stampfte mit den Beinen auf den Boden und Sebastian hoffte, dass er nicht aus Versehen mit seinen Füßen dazwischen geriet.
Wie alle Mädchen trug sie das Elsirenkostüm, dass ihr unten herum zu hoch auf den Hüften saß, weil es ihr ganz unverkennbar nicht passte und dass oben herum Mühe hatte, das Dekolltee im Zaum zu halten. Sie duftete auch nicht wie Raspina nach Honigblüten! Sebastian sandte ein Stoßgebet zum Himmel, die Götter mochten doch ein gnädiges Einsehen mit ihm haben und ihm wieder Raspina zuwerfen.
Er war bereits klatschnass geschwitzt und hatte das Gefühl, allein gegen eine ganze Armee gekämpft zu haben, als er endlich an der Reihe war, seine Partnerin zu tauschen. Das wohl genährte Mädchen donnerte auf die Erde, stemmte sich ab, Basti unterstützte sie nach Leibeskräften und lenkte sie noch ein wenig ab, damit sie ihren Überflug nicht genau in der Mitte des Feuers begann. Das hätte übel ausgehen können!
Drei Drehungen, drei Hüpfer, einmal beugt und streckt.., so ging der Tanz.., hielt er nach Frethnal Ausschau und warf diesem sein Hemd zu, als er ihn am Rande der Zuschauer erkannte.
Drei Hüpfer, einmal beugt und streckt, dann drei Drehungen.., erwartete er symbolisch eine weitere feminine Gabe der Götter. Entweder hatten sie ihn erhört, oder Raspina hatte am Ablauf des Tanzes ein wenig manipuliert. Sebastian atmete auf, als er sie erkannte und mit offenen Armen empfing.
Er hielt sie in der Taille und hob sie hoch, wirbelte sie im Gegensatz zu ihrer Vorgängerin wie eine Feder durch die Luft, sog ihren betörenden Duft ein und setzte sie mit den Füßen auf den Boden, um sie wieder anzuheben. Doch dazu kam er nicht.
Plötzlich entwand sie sich seinem Griff und zog ihn mit aller Kraft aus dem Reigen der Tanzenden und aus dem Schein des Feuers heraus.
»Kommt, Sohn der Götter.., Raspina will euch etwas zeigen..!« Mit dem Übermut eines tollkühnen Kindes zog sie ihn hinter sich her in den Schatten eines abgestellten Heukarren und weiter in eine kaum beleuchtete Gasse. Sebastian von ihrer Wildheit und Schönheit gleichermaßen fasziniert, dachte nicht mehr nach, folgte nur noch einer Intuition, die außerhalb seiner Kontrolle lag und seinen Verstand zu überrollen drohte.
Völlig außer Atem kamen sie in einem dunklen Torbogen zum Stehen. Sebastian erkannt nur schemenhaft Raspinas schimmernden Körper, der im Licht der Gestirne neben ihm an der Mauer lehnte und sich nach Atem ringend hob und senkte. Eine prickelnde Stimmung lag zwischen ihnen, der Sebastian eigentlich entfliehen wollte, die ihn aber mit unsichtbarer Macht fest hielt.
Kaum hatten sich Sebastians Lungen ein wenig beruhigt, drängte sich Raspina in ihrem freizügigen Elsirenkleid gegen ihn und er musste sich sehr zusammennehmen, um ihr nicht gleich den dünnen Stoff vom Leib zu reißen.
»Haltet mich fest.., mir ist mit einem Mal so schwindelig...«, hauchte sie ihm ins Ohr, »...haltet mich, Herr, meine Beine versagen mir..!« Er spürte, wie sie an ihm herunter zu rutschen drohte, umfasste schnell ihre Taille, um sie festzuhalten und berührte dabei zufällig ihre Brüste, die sich verführerisch unter dem dünnen Oberteil abzeichneten. Raspinas Atem ging plötzlich wieder deutlich schneller und im nächsten Moment schlang sie ihre Arme um seinen Hals. Ihre Brustwarzen richteten sich auf und drückten sich hart durch den feinen Stoff gegen Bastis Brust.
Sanft drängte Raspina ihren Tänzer mit ihrem Schoß an die Wand und streifte sich ihr Oberteil mit beiden Händen nach oben, so dass ihre erregten Brüste darunter hervorhüpften. Warm und angenehm fühlte sie Sebastian auf seiner Haut.
Das durfte nicht sein! Er musste sich wehren, schoss es ihm durch den Kopf, er musste der Versuchung widerstehen! Aber er war von dem wohligen, berauschenden Gefühl wie gelähmt! Jegliche Kraft war aus seinen Armen gewichen und seine Hände blieben auf Raspinas Hüfte liegen. Er fühlte den kalten Schweiß auf ihrer Haut und gleichzeitig die Hitze in ihrem Innern.
Sie duftete nach Blüten, süßem Honig und Rauch, eine Mischung, die seine Sinne vernebelte und umklammert hielt. Unverhofft spürte Sebastian ihre glühenden Lippen auf seinem Mund. Er wollte sich noch dagegen auflehnen, doch ihre fordernde Zunge ließ ihm keine Wahl und augenblicklich versanken sie in einem endlos langen Kuss.
Sebastian bemerkte den starken Geruch von Mestas und wusste sofort, warum sie sich ihm so freizügig hingab. Offenbar hatte sie mehr von diesem berauschenden Getränk gekostet, als gut für sie war.
Unwillkürlich, oder auch beabsichtigt, schmiegte sich Raspina mit ihrem Schoß an ihn. Fast wie von selbst bewegte sie ihre Hüften dabei leicht kreisend hin und her. Das war einfach zu viel für Sebastian, der in Gefangenschaft der Burgmauern nach Liebe hungerte. Leidenschaftlich schloss er sie in seine Arme und sie küssten sich immer wilder. Dabei rieb sie ihren Po an seinem Bein und er fühlte eine Welle der Erregung in sich aufsteigen und war wie elektrisiert.
Da..! Plötzlich klangen Schritte die Gasse herab! Sofort waren Sebastians sämtliche Sinne alarmiert und ließen ihn erstarren. Während Raspina noch ihre verführerische Haut im Rausch ihrer Gefühle an Sebastians Körper rieb, ignorierte er ihre Berührungen und lauschte angespannt. Die Schritte näherten sich rasch. Raspinas Bewegungen hielten nun ebenfalls inne.
Sebastian zog ihr das Oberteil wieder über die Brüste und gab ihr einen sanften Kuss auf die Stirn. Dann zog er sie fest an sich, drehte sie in seinen Schatten und wollte nach seinem Schwert greifen. Nichts! Seine Hände griffen ins Leere. Er hatte ganz vergessen, dass er Frethnal zu Beginn des Tanzes seine Waffen gegeben hatte. Er konnte sich und das fremde Mädchen nicht verteidigen! Seine Lippen suchten Raspinas Ohr.
»Wenn ich eure Hand drücke, Raspina, dann lauft mit mir so schnell ihr könnt, ja? Und haltet nicht an, bis ich es euch sage!« Sebastian konnte ihre Antwort nicht abwarten, denn schon bog eine Schattengestalt in den Torbogen ein. Sebastian wusste, dass sich die fremden Augen erst an die Dunkelheit gewöhnen mussten, drückte kräftig Raspinas zierliche Hand, stürmte gleichzeitig los und zog sie gnadenlos hinter sich her.
Der fremde Störenfried schrie überrascht und erschrocken auf, als sie beide an ihm vorüber huschten und in die Gasse hinaus liefen. Irgend etwas fiel klirrend zu Boden und der Mann fluchte, doch das nahmen sie kaum noch wahr. Sie liefen die Gasse hinab, auf einen der erleuchteten Plätze zu, wo noch immer die Elsirentänze die Menschen in ihren Bann zogen.
Doch bevor sie den Lichtkreis des Feuers erreicht hatten, übernahm Raspina die Führung und zog den vermeintlichen Areos in eine Quergasse, die nur von ein paar Hauslaternen beleuchtet war. Raspina rannte bergab, sie kreuzten eine weitere Gasse, die wieder auf einen der freien Plätze führte, dann wieder in die Dunkelheit.
Wie viele Gassen, Straßen und Plätze sie hinter sich gebracht hatten, konnte Sebastian nicht mehr sagen. Raspina schien es zu genießen. Sie lachte, stieß Sebastian zum Spaß an, animierte ihn, sie zu kriegen und er ließ sich von ihrer fröhlichen Unbeschwertheit anstecken.
Irgendwann erreichten sie die Stadtmauer, liefen durch das geöffnete, unbewachte Tor und zum Strand hinunter. Überall brannten kleine und größere Feuer, an denen junge Männer und Frauen tanzten, feierten, oder einfach nur darum herum saßen und einem Spielmann zuhörten, der zu seinem Gesang ein Instrument quälte.
Im Osten, vielleicht einen halben Kilometer entfernt, sah Sebastian die Lichter des Hafens blinken. Ab und zu duftete es nach gegrilltem Fleisch, dann wieder nach den Kräutern des Waldes, der sich hinter einem breiten Gürtel aus Sanddünen und niederem Gebüsch erhob.
Raspina lief noch ein gutes Stück den Strand entlang, dann in die Dünen hinein. Übermütig zog sie Sebastian hinter sich her und er vermutete inzwischen, dass sie an diesem Abend nicht nur einen Krug Mestas geleert hatte. Sie liefen durch die bewachsenen Dünen und mancherorts brannte noch ein einsames, verlassenes Feuer, an dem sich wohl jemand sein Abendessen gegart hatte.
An einem dieser Feuer hielt Raspina spontan an, fiel Sebastian um den Hals und küsste ihn so hemmungslos, dass er sich von einer anbrandenden Welle der Gefühle erfasst fühlte und sich willenlos von ihr fort spülen ließ. Sebastian ließ es geschehen, dass sich Raspina das Oberteil auszog, sich in den Sand sinken ließ und ihn mit sich hinab zog.
Noch außer Atem vom Laufen, hoben und senkten sich ihre Brüste und ihr Leib schimmerte wie Bronze im Schein des Feuers. Aufreizend langsam öffneten ihre Finger den Gürtel um ihre Hüfte und wie eine sich lösende Hülle glitt der seidene Stoff plötzlich auseinander und Basti fand die Bestätigung, dass sie darunter tatsächlich nur ihre dampfende Haut trug. Fordernd umfassten ihre Hände Sebastians Hals und langsam zog sie ihn zu sich heran.
Sebastian ließ sich treiben, verschlang mit seinen Augen ihren verführerischen Körper, wanderte mit seiner Hand an Raspinas Arm höher, streichelte zärtlich ihren Hals, spielte mit ihrem seidenen Haar. Sein Gesicht war ihrem ganz nah, er konnte ihren schnellen, heißen Atem spüren und ließ sich vom Duft ihrer Haut berauschen. Ganz sanft küsste er ihre weichen Lippen, ihren halb geöffneten Mund. Bei dieser Berührung fiel der Stoff, der noch ihre Beine bedeckt hatte, wie zufällig in den Sand. Raspina zog Basti zu sich heran und erwiderte seinen Kuss voll verlangender, heißer Leidenschaft.
Ihre nackten Schenkel legten sich einer Würgeschlange gleich um seinen Rücken und er spürte die Hitze ihres Schoßes durch seine Beinkleider, als sich ihre Rundungen verschmust an ihn schmiegten und Sebastian kurz erschauderte. Sie spürte das sofort, drängte sich weiter an ihn und rieb stöhnend jeden Zentimeter ihrer sinnlichen Haut an ihm. Dann ließ sie sich seufzend zurück fallen, öffnete leicht ihre Schenkel und ihr Körper zitterte in angespannter Erwartung.
Kleine Schweißtröpfchen glitzerten auf ihrem Bauch und schmeichelten dem Stein der Oranuti, der in ihrem Nabel funkelte. Kleine Perlen rannen ihr auch übers wie im Fieberwahn glühende Gesicht. Im Zusammenspiel mit ihren vor Erregung flatternden Augenlidern sahen sie aus, wie Tränen.
Sebastians wollte sich gerade seiner Beinkleider entledigen, hielt aber in der Bewegung inne. Er sah Antarona. Er blickte in ihre Augen voller Tränen, sah wieder ihr weinendes Gesicht, als sie in tiefe Enttäuschung gestürzt, an jenem Abend den Speisesaal des Königs verließ, als er sie zum letzten Mal sah.
Er berührte mit dem Finger fast ehrfürchtig Raspinas Schweißtröpfchen, fühlte tatsächlich aber Antaronas Tränen. Wie durch einen Schock erwachte er aus einem wunderbaren Traum. Augenblicklich fiel jede Begierde von ihm ab und wich einer ernüchternden Traurigkeit. Beinahe hätte er der Versuchung nachgegeben, sich von diesem sich nach leidenschaftlicher Erfüllung sehnenden Mädchen verführen zu lassen. Doch Antarona war stärker!
Als wäre ihm ein Schleier von den Augen gefallen, sah er in Raspina plötzlich nur noch ein Schwesterchen, dass den Schutz seiner Obhut bedurfte. Er sah ihren verletzlichen, nackten Körper und zog rein mechanisch den dünnen Stoff ihres Tanzkleids schützend über sie.
Mit einer fahrigen Bewegung wischte sie die Bedeckung wieder beiseite und fuhr sich mit der Hand zwischen die Schenkel, um Sebastian noch weiter anzuheizen. Doch er nahm zärtlich, aber bestimmt ihre Hand und zog sie hoch. Dann hängte er ihr das Oberteil über die Schultern und schlang ihr den Rock um die Hüfte.
Verwirrt und enttäuscht sah sie ihn kurz an, warf sich aber im nächsten Moment wieder übermütig auf ihn, schüttelte die lose Kleidung von sich ab und drückte ihm ihre Brüste ins Gesicht. Sebastian schob sie mit sanfter Gewalt wieder von sich weg und war wütend auf sich selbst, weil er es so weit hatte kommen lassen.
Niemals würde er Antarona für eine andere Frau fallen lassen, war die Versuchung auch noch so süß und verlockend, das fiel ihm nun wie Schuppen von den Augen. Es wurde ihm so unverhofft bewusst, als er die Schweißperlen auf Raspinas Gesicht sah, dass er selbst heftig darüber erschrak.
Ein winziger, glitzernder Schweißtropfen, der einer Träne ähnelte.., der etwas in ihm auslöste und alles war vorbei! Ein Tröpfchen, das alles veränderte, die Sinne ernüchterte und das Herz berührte. Dieses kleine Tröpfchen erzählte Sebastian, wohin sein Herz wirklich gehörte!
»Was tut ihr da...«, fragte Raspina mit entstehendem Zorn in der Stimme, »...wollt ihr nicht die Hitze meines Schoßes kosten, dieser Mond gehört nur uns.., was zögert ihr?« Sebastian hängte ihr die Kleidung wieder um und nahm sie freundschaftlich bei den Schultern.
»Raspina...«, versuchte er ihr umständlich zu erklären, »...vielleicht verstehst du es nicht.., aber ich habe einen großen Fehler gemacht! Es ist nicht deine Schuld.., du bist eine wunderschöne, liebenswerte Frau und keiner, der ein Mann ist, kann dir widerstehen...«
»Aber ihr könnt es, wie es scheint.., ja?« schrie sie ihn enthemmt an und Sebastian war erstaunt, wie schnell sich ihre Sanftheit wieder in wütende Wildheit verwandelte.
»Fast hätte ich es nicht gekonnt, Raspina...«, gab er offen zu, »...du bist so verführerisch, wie eine duftende Honigblüte und ich habe mich von deiner Schönheit verzaubern lassen, von deiner Anmut, die selbst die Tränen der Götter blendet. Doch mein Herz gehört einer anderen Frau und diese Liebe ist nun einmal stärker als...« Traurig und niedergeschlagen unterbrach sie ihn:
»Aber sie ist nicht hier.., warum, Herr, seid ihr nicht bei ihr, wenn euer Herz mit ihrem verbunden ist? Sie sollte es sein, mit welcher ihr den Tanz des Feuers und der Elsiren tanzt! Raspina glaubte, ihr seid einsam und sucht nach einem Herz voller Liebe und nach dem verzehrenden Feuer eines Schoßes... Verzeiht meinem Irrtum!«
Mit den letzten drei Worten schossen ihr die Tränen in die Augen, sie sprang auf, raffte ihr dünnes Kleidchen zusammen und wollte davon rennen. Im letzten Moment hielt Sebastian sie am Arm fest und zog sie beschützend an sich.
»Lasst uns nicht in bösen Gedanken auseinander gehen...«, beschwor Sebastian das enttäuschte Mädchen, »...ich wollte euch nicht verletzen.., es war nur.., meine Sinne erlagen eurer unwiderstehlichen Schönheit und dem Zauber des Feuers und der warmen Nacht, und sie hörten nicht mehr auf mein Herz! Verzeiht mir, wenn ihr könnt.., darum möchte ich euch bitten.«
Traurig sah sie ihn an, wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und legte sich wieder Rock und Oberteil an.
»Sie muss sehr schön sein.., der euer Herz gehört.« sagte sie leise und ernüchtert. Sebastian ging neben ihr her und wagte nicht mehr, sie noch einmal zu umarmen, obwohl er es gern getan hätte. Sie tat ihm leid und er fühlte sich für sie verantwortlich, weil er ihr Hoffnungen gemacht und sie nicht erfüllt hatte.
»Raspina.., du bist ebenso schön.., und eines Tages wirst du ein Herz finden, das frei ist und dir alle Liebe gibt, die du dir wünscht. Bis dahin gib deine Träume nicht auf.., versprichst du mir das?«
»Sie nickte stumm und blickte zu Boden. Sie sah ihn nicht mehr an und als er sich einen Moment bückte, um seine Stiefel neu zu schnüren, ging sie einfach weiter. Sie sagte nichts mehr, sah sich nicht mehr um und blieb nicht stehen. Sie wanderte einfach, wie in Gedanken versunken, langsam weiter den Strand entlang, als hätte sie ihn nie getroffen.
Sebastian blieb stehen und wartete. Raspina ging und ging, wurde kleiner und verschmolz irgendwann mit den entfernten Lichtern des Hafens. So hatte er sich das auch nicht vorgestellt! Schweren Herzens setzte sich Basti auf einen großen Stein und sah auf das friedlich daliegende Meer hinaus. Es war beinahe dieselbe Situation, als jene, die er bei ihrer Ankunft auf Falméra erlebte, wo er auch Antarona einfach weitergehen ließ.
Wartete Raspina vielleicht ebenso auf ihn, wie Antarona an jenem Abend, irgendwo an einer Stelle des Strandes, in der Hoffnung, er würde ihr doch noch folgen?
An diesem Abend hatte er einer jungen Frau vielleicht das Herz gebrochen und ihren Traum von der ganz großen Liebe zerstört. Für eine Nacht. Sie würde es beim nächsten Tanz vielleicht schon wieder vergessen haben. Doch um wie vieles mehr hätte er vernichten können, wäre er der Versuchung erlegen? Er hätte alles, was ihn mit Antarona verband und was sie ihm bedeutete, verloren. Er hätte sie in Gefangenschaft zurück gelassen und sich selbst, sowie das ganze Volk der Ival verraten!
Es war die unerträgliche Sehnsucht nach ihr, die ihn hatte schwach werden lassen, die ihm vorgaukelte, in Raspinas Reizen die Erfüllung zu finden, die er in den einsamen Nächten ohne Antarona entbehren musste. Sebastian hatte gehandelt, wie ein kleiner, dummer Junge, so töricht, wie ein ausgemachter Narr! Fast hätte er dafür die große Liebe seines Lebens aufs Spiel gesetzt! Diese Tollheit hätte er sich selbst nie verziehen!
Leise rauschten die Wellen an den Strand, als wollten sie ihn beruhigen. Der Wind umwehte seinen Oberkörper und ließ ihn leicht frieren. Wo war sein Hemd geblieben? Wo waren seine Waffen, und wo sein Diener Frethnal? Allmählich wurde ihm bewusst, dass er in seinem Rausch jegliche Kontrolle verloren hatte, etwas, das dem Sohn eines Landesherren und dem Führer einer ganzen Armee nie passieren durfte!
Hätte jemand Raspina als Köder auf ihn angesetzt, um ihn in eine Falle zu locken, dann läge er jetzt tot in den Dünen. Was würde dann aus Antarona werden? Antarona... Er sah sie plötzlich bildlich vor sich und bei dem Gedanken an sie kochten wieder Sehnsucht und Begehren nach der Liebe einer Frau in ihm hoch. Dieses Gefühl war Schuld daran, dass er bereit war, sich den Reizen dieser kleinen Tänzerin hinzugeben!
Sebastian stand spontan auf, rannte auf das rauschende Wasser zu, riss sich im Laufen die Sachen vom Leib und warf sich mit voller Wucht in die kalten Wellen. Er brauchte einen kühlen Kopf und einen klaren Verstand! Die Hitze der angestauten Sehnsucht konnte ihm noch Herz und Hirn zerfressen, wenn er nicht acht gab. So etwas durfte er nicht noch einmal zulassen!
Die Abkühlung im Meer tat gut. Sebastian schwamm ein par Mal hin und her, bis er meinte, wieder klar bei Verstand zu sein. Fröstelnd kam er aus dem Wasser, zog seine Beinkleider an und ging in Richtung Hafen. Er nahm sich vor, auf dem Rückweg zur Burg die Tanzfeuer zu meiden. Besser war es, sofort zurück zu kehren. Geld, um etwas zu kaufen, hatte er sowieso keines.
Zwei oder dreihundert Meter hatte er gerade zurückgelegt, als ihm jemand entgegen kam. Sebastian erkannte zwar nur eine Silhouette, doch schon von weitem konnte er ein Schwert erkennen. Der längliche Schatten, den der Unbekannte mit sich führte, konnte nur eine Waffe sein!
Sebastian lief so schnell er konnte zu den Dünen hinüber, doch der Fremde hatte ihn dennoch gesehen und änderte bereits die Richtung. Sebastian sah sich nach ein paar Steinen um, was bei der Dunkelheit nicht ganz einfach war. Aber mit Steinen als Waffe hatte er in der Vergangenheit einigen Erfolg gehabt!
Der Mann aus der Dunkelheit musste die Augen einer Katze haben, denn er kam zielstrebig auf ihn zu. Basti hatte schon die Hände zum Wurf erhoben, als ihn eine vertraute Stimme ansprach:
»Es war nicht leicht euch zu finden, Herr.., ich bringe euch eure Waffen. Der Umhang und das Hemd sind auch dabei!« Frethnal streckte seinem Herrn wie ganz selbstverständlich die Arme entgegen. Alles war da, das Messer, das Schwert, Bastis restliche Kleidung.
»Frethnal.., es ist schön, euch zu sehen!« begrüßte ihn Sebastian. Er schlug seinem Diener freundschaftlich auf die Schulter und sagte:
»Es tut mir leid, dass ich euch einfach so stehen ließ, aber die kleine Tänzerin war kaum zu halten. Wie habt ihr mich überhaupt gefunden?«
»Das ist einfach, Herr.., alle verliebten Paare gehen an den Strand, wenn sie allein sein wollen. Zuerst dachte ich euch in den Gassen zu finden. Verzeiht mir, aber dabei ist euer Schwert zu Boden gefallen, als ich zwei Verliebte in einem dunklen Durchgang überraschte, die sich dort versteckt hatten.«
»Das ist eine gute Waffe, Frethnal.., das muss sie aushalten...«, beruhigte ihn Basti, »...und das mit dem Mädchen.., na ja, es wäre gut, wenn nicht bei Sonnenaufgang gleich die ganze Burg davon weiß.« Sebastian behielt für sich, dass er und Raspina es waren, die Frethnal beinahe über den Haufen gerannt hatten.
»Frethnal ist nur euch ergeben, Herr.., was ihr nicht gewillt seid, wird niemand von mir erfahren! Was ist mit der Tänzerin, Herr.., geht es ihr gut?«
»Danke, dass ihr daran gedacht habt.., ja, ich denke es geht ihr gut! Manchmal, Frethnal.., finden sich zwei Menschenwesen und glauben füreinander bestimmt zu sein.., einfach so, ohne zu überlegen... Und plötzlich spüren sie beide, oder einer von ihnen, dass etwas zwischen ihnen steht, was sie nie überwinden können und möglicherweise auch gar nicht wollen. Und jeder geht wieder seiner Wege.« Sebastian wusste nicht, ob sein Diener überhaupt verstand, was er ihm erzählte und er konnte auch nicht sagen, weshalb er ihm dies überhaupt anvertraute.
»Ja Herr, oft folgt man seinem Herzen einen halben weg und weiß dann erst, dass es der falsche Weg ist«, dachte Frethnal laut. Sebastian nickte und bestätigte:
»So ungefähr hatte ich das gemeint!« Dann gingen sie schweigend durch die Gassen bis zur Freitreppe und weiter zur Burg hinauf. An den Tanzfeuern war es ruhiger geworden, was Sebastian vermuten ließ, dass es bereits weit nach Mitternacht war.
Das Haupttor zur Burg war um Mannes breit geöffnet und nur ein Wachsoldat marschierte davor auf und ab. Die anderen Wachen waren im Sitzen am Feuer eingenickt, einige hielten sich im Schlaf an ihren Lanzen fest, um nicht in die Glut zu kippen.
Diese Auffassung vom Wachdienst würde angesichts der befürchteten Lage auch noch ein Thema zwischen ihm und Bental werden, dachte Sebastian, als sie den Treppenturm hinauf stiegen und er sich geradewegs in sein Schlafgemach begab...

Antarona hatte einen weiteren Tag in ihren Gemächern verbracht. Wie ein gefangenes Raubtier wanderte sie von Zimmer zu Zimmer, durch die Räume und Bibliotheken, durch Salons und Galerien, mit denen sie rein gar nichts anfangen konnte.
Sie war gewohnt, in ihrer leichten Kleidung durch endlose Wälder zu wandern, über Felsen zu klettern, oder stundenlang in Seen zu schwimmen, oder in den Ästen hoher Bäume vor sich hin zu dösen. In dem schweren Stoff eines Kleides durch verstaubte Stuben zu wandeln, machte sie traurig und aggressiv zugleich.
Mit unverhohlener Verachtung sah sie sich die Bilder von Königinnen und Prinzessinnen an, die in den Korridoren hingen und von ähnlichen Schicksalen erzählten. Sie konnte einem Blumenzimmer, einem Frisierzimmer und einem Lesezimmer so gar nichts abgewinnen. Sie las Schriften, wenn es das Überleben erforderte, nicht zum Vergnügen!
Allein dem Ankleidezimmer schenkte sie eine Weile Aufmerksamkeit, jedoch nur so lange, bis sie alle Kleider aus den Schränken geholt und anprobiert hatte. Danach durfte Vesgarina alles wieder einräumen und Antaronas Interesse war grundsätzlich versiegt. Zwei Stunden lang beschäftigte sie sich noch damit, Schuhe anzuprobieren, bis sie zu der Erkenntnis gelangte, dass ein unbesohlter Fuß den Weg fühlen konnte und ein Schuh ihn unweigerlich verfehlen musste.
Den ganzen Tag über spähte sie aus den Fenstern ihrer Gemächer, auf der Suche nach einem Fluchtweg über die Fassade, oder die Dächer der mächtigen Burg. Nicht, dass es sie nicht gegeben hätte... Doch sie wollte zunächst Gewissheit, ob Ba - shtie ihr Herz noch in seinem trug. Nur für ihn war sie bereit, die Gefangenschaft dieser Mauern zu ertragen!
Ihr Blick wanderte aus dem Fenster des Südsalons hinüber zu den bewaldeten Hängen der Berge, die scheinbar unberührt von Menschenhand da lagen. Dabei streifte ihr Blick die Brüstung des Freisitzes, auf der mehrere Krähen saßen und sich die Gefieder putzten. Mochten etwa Tekla und Tonka darunter sein.., hatten die sie endlich gefunden?
Seit sie über das große Wasser geschwommen waren, hatte sie von ihren beiden schwarz gefiederten Freundinnen weder etwas gehört, noch gesehen. Ihr Vater wusste wahrscheinlich nicht einmal, ob es ihr gut ging. Die beiden Schwarzvögel waren die einzige Verbindung zu ihm.
Außerdem musste sie Hedaron warnen! Wenn Bental die Wahrheit gesprochen hatte und sie tatsächlich Bentals Tochter war, so musste Hedaron für den König eine ständige Gefahr darstellen. Wenn der Holzer seine einzige Tochter vermisste, würde er Nachforschungen anstellen. Er war neben wenigen anderen der einzige, der ihr Reiseziel kannte.
Kam er erst einmal nach Falméra, so würde es ihm nicht schwer fallen, über kurz oder lang ihren Aufenthaltsort heraus zu bekommen. Für Bental war er dann einer zuviel, der zu Viel wusste!
Vorsichtig, um die Tiere nicht zu erschrecken, öffnete Antarona die Tür zum Freisitz. Die Krähen saßen da, beäugten sie skeptisch, blieben aber auf der Brüstungsmauer sitzen, als spürten sie, dass von diesem Menschenwesen keine Gefahr ausging.
Antarona konzentrierte sich auf die Krähen, stellte sich vor, eine von ihnen zu sein, ihre schwingen auszubreiten und über die Mauerkante davon zu segeln. Sie sah sich über Hänge fliegen, über Dörfer, über einen Sumpf und schließlich über das große Wasser, wo die aufsteigende Luft selbst sie trug. Sie flog an hohen Felswänden vorbei, über hohe, weite Bergweiden und schließlich über einen See, der leuchtend wie ein Stein von Oranutu unter ihr lag und im Sprühnebel eines mächtigen Wasserfalls endete.
Schwer atmend sah sie die glitzernde Wasserfläche unter sich, die nassen Felsen, den breiten Sandstrand, der geschützt vom Wald den See säumte. Sie rief nach ihren Schwestern, drehte große Kreise über dem See und weiter über die Dörfer, sie suchte nach ihnen, rief nach ihnen, nach ihren Schwestern...
»Sè whú Á-mis-rà, meine große Schwester, was ist mit euch.., soll ich die Wachen rufen?« Antarona verlor die Luft unter den Schwingen und fiel. Sie fiel schnell und all ihr Bemühen, wieder den Strom unter ihren Federn zu spüren blieben erfolglos. Bevor sie auf eine grüne Wiese stürzte, wachte sie auf. Vesgarina war plötzlich hinter ihr aufgetaucht.
Mit großen, entsetzten Augen starrte die stumme Zofe auf die vielen Schwarzvögel, die sich auf dem Boden um Antarona geschart hatten und bei ihrem Erscheinen erschrocken davon flogen. Antarona drehte sich zu ihrer Kammerzofe um und sah sie nun ihrerseits erstaunt an.
»Ihr könnt sprechen, Vesgarina.., wieso könnt ihr plötzlich sprechen?« Das stumme Mädchen sah seine Herrin verstört an und trat vorsichtshalber ein paar Schritte zurück. Sie schüttelte den Kopf und zuckte mit den Schultern. Antarona interpretierte das als Verneinung. Sie hatte doch aber deutlich ihre Frage vernommen! Antarona blickte ihr tief in die Augen und antwortete einfach:
»Nein.., sè whú Á-mis-rà, meine große Schwester, ihr müsst nicht die Wachen rufen und mit mir ist alles gut!« Vesgarina wurde kreidebleich. Sie verstand nicht, wie es ihrer Herrin möglich war, in ihren Kopf zu schauen und fragte sich, was dies für ein Zauber war. Aber auch Antarona war erschrocken. Nie zuvor konnte sie in den Köpfen der Menschenwesen lesen und hören, was diese dachten!
»Es ist kein Zauber, Garina...«, versuchte sie ihre Zofe zu beruhigen, »...es ist wie mit den Tieren der Wälder und wie mit den Jagdhunden Bentals.., ich kann spüren, was sie denken und sie fühlen, was ich ihnen sagen möchte. Es ist nur.., bisher konnte ich an die Menschenwesen nur meine Gedanken weitergeben, wenn ich ganz stark daran dachte. Ihr, Garina, seid die erste, deren Gedanken ich spüren kann!«
Vesgarina fiel unvermittelt eine Geschichte ein, die Reisende auf dem Markttag in Falméra erzählt hatten, von dem Mädchen, das mit den Tieren sprechen konnte.
»Ja...«, bestätigte Antarona, »...ich bin jene, welche die Menschenwesen auch Krähenmädchen nennen, jene, welche die Herzen der Tiere versteht! Ich kann nicht in euren Kopf schauen, Garina, doch euer herz ist mir eine offene Schriftrolle!«
In diesem Augenblick schoss Vesgarina ihr verrat an ihrer Herrin durch den Kopf. Medunzia hatte sie gezwungen, Antarona zu beobachten, ob sie eine Sonne auf der Haut ihres Schoßes trug. Was, wenn ihre Herrin, dies in ihrem Kopf sehen konnte? In panischer Angst wandte sie sich um und stürmte aus dem Zimmer.
»Arme, kleine Vesgarina...«, murmelte Antarona vor sich hin, als sie ihr nach blickte, »...scheu und unbescholten, wie eine Antilope der Wälder.« Sie schloss die Tür zum Freisitz und versuchte die neue Erkenntnis über ihre Fähigkeiten, die ihr oft genug zum Fluch wurden, zu verdrängen, in dem sie weiter durch die Zimmer ging.
Nachdem sie alle Räume untersucht hatte, und auch die scharf bewachten Treppentürme nicht ausgelassen hatte, begann sie ihre Suche von neuem. Wonach suchte sie eigentlich? Fluchtwege gab es reichlich. Diese Wehranlagen, Wälle und Zinnen konnten sie nicht aufhalten, wenn sie es wirklich wollte! Es war etwas anderes, nach dem sie voll innerer Unruhe suchte. Es waren Antworten!
Antarona wollte Antworten auf die Fragen, die sie den langen Weg über die Berge zum König getragen hatten. Sie wollte nicht die Tochter des Königs sein, eingesperrt, wie eine Elsire bei einem Soldaten Torbuks, ein Wesen zum Anschauen; sie wollte frei sein.., wollte kämpfen, für das Volk, für eine bessere Zeit, in der sie selbst einmal ihren Kindern die Schönheit der Berge, Seen und Wälder nahe bringen konnte! Sie wollte leben!
Ziellos schlich sie durch ihre Gemächer, blickte sehnsüchtig durch das in Mustern unterbrochene Glas der Fenster, träumte von ihrem See, ihrer Höhle und von der gefährlichen, aufregenden Zeit mit Ba - shtie. Nie zuvor hatte ihr Dasein in den Wäldern und auf den Felsspornen und Hochweiden der Berge mehr Bedeutung gehabt, als mit ihm.
Jede Gefahr, jeder Kampf gegen Torbuks Schergen, jedes Abenteuer war besser, als in diesen mit nutzlosen Dingen gefüllten Räumen eingesperrt zu sein. Selbst ihren Ausflug der letzten Nacht zog sie dem ewigen Nichtstun vor. Mochten ihre Streifzüge auch oft genug ihr Leben bedrohen, doch ohne sie gab es nichts, das ihr bewusst machte, dass sie überhaupt lebte!
Eine Hoffnung allein war es, für welche sie all dies auf sich nahm. Die Tochter dieses Königs würde sie niemals werden! Sie wollte keine Prinzessin sein, wie die Tränen der Götter im Dunkeln gefangen! Sie hatte einen Vater, der ihr immer ein guter Vater war, sie hatte einen Gefährten, der ihr einmal in Zeiten des Friedens eine gute Heimstatt bauen und dem sie Kinder schenken konnte! Sie, Sonnenherz, brauchte sie nicht, diese riesige Burg, eines Felsens gleich, in der sie eine nutzlose Kriegerin war!
Antarona war keine Ival, die viel über etwas nachdachte, das vielleicht sein würde. Ihre Gedanken waren bestimmt von Entscheidungen, die sie sofort treffen musste, wenn eine Gefahr auf sie lauerte, wenn eine Fährte ihre Aufmerksamkeit erregte, oder wenn sie einfache Wünsche in ihr Herz ließ.
Es fiel ihr schwer, auszuharren und zu warten, zu überlegen, warum Ba - shtie nicht bei ihr war. Er war Areos, der Sohn Bentals.., er war der Erbe dieser Burg, der Erbe des Throns und des Volkes! Er hatte ihr versprochen, mit ihr beim Volk zu leben und sie hatte die Wahrheit in seinen Worten gespürt. Warum war er nun nicht bei ihr? Wo war er, was tat er?
Warum suchte er nicht nach einem Weg zu ihr, wie sie es tat? Hatte er sie bereits vergessen? Hatte sich sein Herz inzwischen doch einer Oranuti zugewandt? Sie musste es herausfinden! Kam er nicht zu ihr, so würde sie einen Weg zu ihm finden! Alles war besser, als in diesen Zimmern voll fremder Dinge zu warten, bis tatsächlich eines Nachts die Waffe des Meuchelmörders sein Ziel fand!
Bei diesem Gedanken holte Antarona den Dolch hervor, den sie seit dem Morgen nach dem Anschlag unter ihrem Gewand trug. Sie hatte nicht darüber nachgedacht, warum sie ihn behielt, war nur ihrem Instinkt gefolgt, der ihr verhieß, dass allein diese Waffe sie eines Tages zu dem Täter aus der Dunkelheit führen würde.
Wer trug einen so seltsamen Dolch bei sich und benutzte ihn für eine versteckte Tat? Die Verzierungen waren nicht alltäglich und mussten den Täter früher oder später verraten! Wer war so dumm und unvorsichtig? Sie schüttelte den Kopf über so viel Einfältigkeit und verbarg das Mordinstrument wieder unter ihrem Rock.
Nein.., sie wollte nicht warten, bis es der Mordbube noch einmal versuchte! Sie musste eine Entscheidung treffen! Während dieses Mondlaufs wollte sie Ba - shtie finden und sehen, ob sein Herz noch bei ihrem wohnte! Aber sie hatte auch Angst! Den Weg fürchtete sie nicht, denn Vesgarina hatte ihr die dunklen, verborgenen Gänge gezeigt. Über sie würde sie in Ba - shties Gemächer gelangen! Allein die Antwort zu ihrer Frage ängstigte sie.
War sie noch mit Ba - shtie - laug - nids verbunden, oder hatte dieser Elwha einen Weg gefunden, den Segen va-ra-hi der Götter und Elsiren aufzuheben? Sie verdrängte diesen Gedanken. Zu sehr bohrte die Sehnsucht nach Ba - shtie Löcher in ihren Leib.
Bei dem Gedanken an ihn spürte sie die Anspannung ihrer Brüste, die ziehende, verlangende Hitze in ihrem Schoß, das Begehren, sich seiner Stärke zu öffnen, das angenehme Kribbeln zu spüren, das durch ihren Leib raste und ihre Sinne verschwimmen ließ, wenn er sie nur berührte!
Antarona krümmte sich und presste ihre Beine zusammen, um dem wohligen Ziehen zu widerstehen, das sogleich in ihren Schoß fuhr, wenn sie sein Bild vor ihren Augen sah. Aber sie konnte sich dem drängenden, ihr Herz umklammernden Wunsch nicht entziehen, seine Haut zu spüren, seine kräftigen Arme... Im Gedanken, den ihr Herz sprach spürte sie ihn in ihrem Schoß und fühlte die Sehnsucht nach Erfüllung, die sie fast krank machte!
Die verwunderten Blicke Vesgarinas verfolgten sie und das besorgte Kammermädchen fragte sie in umständlichen Zeichen, ob ihr die Bisswunde der letzten Nacht schmerzen bereitete. Antaronas Atem beruhigte sich wieder und sie erklärte ihrer Dienerin vertrauensvoll:
»Nein, Garina, es ist ein anderer Schmerz der mich heimsucht! Es ist der Schmerz des Herzens, der stärker ist, als alle Qualen, die Schwerter und Dolche zu tun vermögen! Dieser Schmerz ist innen, meine liebe Garina, er zieht vom Herzen in den Schoß und kein Verband vermag ihn zu stillen!«
Vesgarina nickte verständig, holte Papier und Kohle unter ihrem Rock hervor, welche sie neuerdings immer bei sich trug. Vesgarina lieben Herz keiner weiß, haben auch Schmerz kritzelte sie auf das Pergament und reichte es Antarona.
»Du liebst einen Mann, von dem keiner wissen darf?« interpretierte sie die Zeile fragend. Vesgarina schüttelte heftig ihre blonde Mähne, zeigte dann mit den Fingern einen Mann und bewegte den anderen Finger davor auf und ab. Gleichzeitig hob sie die Schultern.
»Dieser Mann weiß gar nicht, dass ihr ihn liebt.., ist es das, was ihr mir sagen wollt?« fragte Antarona. Ihre Kammerzofe senkte traurig die Augen und bejahte nickend.
»Oh, meine kleine Vesgarina...«, flüsterte Antarona mitleidig, »...und du kannst es ihm nicht einmal sagen!« Sie überlegte kurz und fasste sie dann entschlossen am Arm.
»Wisst ihr, Garina.., wir werden das nicht zulassen.., wir werden etwas tun! Wir werden uns gegenseitig helfen, damit unsere Herzen Erfüllung finden.., was haltet ihr davon? Wie heißt jener, den euer Herz so sehr begehrt, wollt ihr es mir verraten?« Vesgarina zögerte und sah ihre Herrin betreten an.
»Garina.., ich werde es bestimmt niemandem verraten, glaubt mir, denn auch ich habe ein Geheimnis, das ich mit euch teile!« Das Mädchen nahm die Kohle und schrieb:
Ich lieben ist Knecht von König, mich lachen auf Markt, wenn sehen. Antarona las es und sagte aufmunternd:
»Aber wenn er euch angelacht hat, Garina, so kennt er eure schönen Augen und vielleicht haben eure Blicke bereits sein Herz berührt! Wer ist es.., hat er einen Namen?« Antarona wurde neugierig, fieberte mit dem Schicksal ihrer kleinen Zofe mit und vergaß ganz ihre eigene Sehnsucht. Vesgarina fuhr wieder mit der Kohle über das Papier. Frethnal stand dort anschließend in klobigen Buchstaben.
»Wir werden überlegen, wie ihr diesen Frethnal auf euch aufmerksam macht, wenn ihr ihm wieder begegnet! Zunächst müsst ihr ein anderes Kleid tragen, wenn ihr wieder zum Markttag geht! Er muss euch sofort sehen, wie eine strahlende Elsire beim Mondlauf! Kommt, in meinem Ankleidezimmer finden wir gewiss etwas passendes!» Damit zog sie Vesgarina einfach mit sich durch die Räume zum Ankleidezimmer.
»Und eure Haare, Garina.., ihr habt so wunderschöne Haare, wie die Tränen der Götter, lasst sie fliegen.., lasst Frethnal sie sehen, lasst sie ihn verzaubern...«
Vesgarina ließ sich von der Begeisterung ihrer Herrin anstecken, sie auf das nächste Zusammentreffen mit Frethnal vorzubereiten. Und Antarona bemühte sich, aus ihrer unscheinbaren Zofe eine verführerische Göttin zu machen. Ihr wurde kaum bewusst, dass sie im Grunde in Vesgarina nur sich selbst sah, die verzweifelt um ihre Liebe kämpfte.
Stundenlang hockten die beiden Frauen, die ihre innige Freundschaft entdeckten, vor dem Spiegel Antaronas Kommode, kämmten sich gegenseitig die Haare, flochten sich dünne Zöpfe hinein und suchten sich eine für die andere Kleider aus, in denen sie sich gegenseitig bewunderten. Die Zeit verging auf einem Mal wie im Fluge und es dämmerte bereits, als sie fertig waren und sich für ihren Liebsten unwiderstehlich fanden.
Vesgarina trug ein zweiteiliges, rosafarbenes Kleid, das ihren Bauch frei ließ. Antarona zog ihr den Rock noch tiefer auf die Hüfte, damit ihre Figur besser zur Geltung kam und band ihr ein schmales Tuch über den Bauchnabel, das die Reize ihrer Zofe mehr hervor hob, als sie verdeckte.
Dazu schnürte sie ihr feine Sandaletten, die nur ihre Fersen bedeckten und die Sohlen unter den Füßen mit dünnen Lederschnüren gehalten wurden, die über Kreuz bis zu den Knien gebunden waren, was ihre schlanken Beine zum begehrenden Objekt aller Männeraugen werden ließ, wenn sie beim Gehen aus dem hoch geschlitzten Rock traten.
Antarona betrachtete zufrieden ihr Werk und stellte fest, dass aus ihrer Kammerzofe eine Frau geworden war, die jedes Männerherz bis zum Hals schlagen lassen musste. Vesgarina hatte ihre Traurigkeit vergessen, betrachtete sich immer wieder drehend im Spiegel und lächelte glücklich.
»Diese Kleider gehören von diesem Tage an euch, Garina, und verbergt sie bei den Göttern vor der schrecklichen Medunzia! Es ist unser kleines Geheimnis.., und das soll es auch bleiben, nicht wahr?« Die beiden Frauen lachten sich offen an und wussten, dass sie sich ab dieser Stunde stets vertrauen konnten.
Sie fassten sich an den Händen drehten sich vor dem Spiegel um sich selbst und auch Antarona war zufrieden mit ihrem Erscheinungsbild. Sie wollte Ba - shtie überraschen und hatte alle Register gezogen, um so verführerisch wie möglich auszusehen.
Vesgarina hatte ihr geholfen, aus ihren verfilzten, kräftigen Haaren eine glatte, duftende Mähne zu machen, die ihr wie schwarzes, sprudelndes Wasser in lockeren, sanften Wellen auf die Schultern floss. Ihre neue Freundin hatte ihr ebenfalls dünne Zöpfchen in das Haar geflochten und ihre Federn daran gehängt. Andächtig hatte sie ihr die Elsirenkrone auf die Stirn gesetzt, die ihrem Gesicht etwas Mystisches, Geheimnisvolles verlieh.
Sie trug das Elsirenkleid ihrer Mutter, dessen dünner, durchscheinender Stoff nichts von ihren Reizen versteckte, sie aber dennoch wie ein süßes, kaum verhülltes Geheimnis mit einem weiß schimmernden Hauch von Nichts umschmeichelte. Das Oberteil war so leicht, wie ein flüchtiger Nebel am Morgen, so dass es von einem schweren, glitzernden Stein aus Oranutu auf ihren Brüsten gehalten werden musste.
Ein gleicher Stein bedeckte ihren Bauchnabel und ein weiterer sorgte dafür, dass ihr der aufreizend weit in den Schoß ausgeschnittene, tief sitzende Saum des Rockes nicht wieder über die Taille nach oben rutschte. Der Stoff, der in offenen Bahnen daran herab hing, war nicht mehr, als Antaronas zarter Versuch, mit jedem Zentimeter Haut zu provozieren, Beine und Schoß aber scheinbar vor begehrenden Augen zu verhüllen.
Ihre Taille betonte sie mit dem Gürtel, der ebenfalls ihrer Mutter gehört hatte. Die glänzenden Metallscheiben verliehen ihrem Aussehen etwas Wildes, Wehrhaftes, etwas, das Ba - shtie signalisieren sollte, dass er sie erst erobern musste, um den süßen Nektar ihrer Liebe zu kosten!
Sie wollte alles einsetzen, was ihre feminine Schönheit und Anmut aufbieten konnte, um Ba - shtie daran zu erinnern, mit welchem Herz das seine verbunden war. Sie wusste, dass dieses Kleid allein für den Tanz des Feuers, für den Elsirentanz gedacht war. Doch sie wollte Ba - shtie deutlich zeigen, was er verlieren würde, sollte er sein Herz von ihrem abwenden. Sie war sich ihrer Weiblichkeit bewusst und auch der Unwiderstehlichkeit ihrer Gestalt im lichten Schleier dieses Kleides, mit dem ihre Mutter einst das Herz des Holzbauern Hedaron eroberte.
Konnte Ba - shtie dieser Versuchung widerstehen, so war die Verbindung ihrer Herzen zerstört, so war ihr Leben zerstört und alles worauf sie gehofft und an was sie geglaubt hatte! Dann war sie nur noch die Kriegerin, die noch grausamer und unerbittlicher töten wollte und jeden in das Reich der Toten schicken wollte, der seine Hand gegen das Volk der Ival erhob.
Sollte sie Ba - shtie verloren haben, so blieb ihr nur noch der Kampf um die Freiheit ihres Volkes, der Kampf gegen das Böse. Dann gehörte ihr Leib und ihr Geist nur noch der Vergeltung, der Vernichtung Torbuks Truppen und es wäre ihr dann ein Segen, wenn in der letzten Schlacht ein Schwert ihren Bauch durchbohren würde und sie im Reich der Toten Frieden fände!
Tief in Gedanken versunken ging sie am geöffneten Fenster auf und ab, durch das die letzten Strahlen der Sonne eindrangen und den feinen Stoff ihres Kleides in Nichts aufzulösen schienen. Sie träumte von einer kleinen Hütte in den Wäldern und Auen des Val Mentiér; sie träumte von Kindern, die friedlich spielen konnten und sie träumte von Ba - shtie. Sie träumte und wartete auf den Lauf des Mondes.
Es war gerade dunkel geworden, als Vesgarina erschien. Sie hatte sich wieder das einfache Arbeitskleid angezogen. Das gute Kleid, das Geschenk ihrer Herrin, hatte sie wie einen Schatz sorgsam in ihrer Kommode verstaut. Sie würde es tragen, wenn ihre Stunde gekommen war, wenn sie Frethnal begegnete.
Antarona wollte ihre Zofe an der Hand nehmen und sie zum verborgenen Eingang der geheimen Gänge führen, doch Vesgarina weigerte sich. Sie entzog sich ihrem Griff, schüttelte energisch den Kopf und hob abwehrende die Hände. Mit vor Angst geweiteten, entsetzten Augen sah sie Antarona an und begann zu zittern.
»Was habt ihr, Garina...«, wollte Antarona wissen, »...fürchtet ihr euch? Das braucht ihr doch nicht, die Hunde werden uns nichts mehr tun, sie wissen nun, dass wir ihre Freunde sind! Kommt, wir wollen gehen!«
Vesgarina aber sträubte sich vehement, wieder in die Dunkelheit der verborgenen Wege zu gehen. Sie wich ängstlich an die Wand zurück, blickte beschämt zu Boden und schüttelte erneut den Kopf. Offenbar war ihr der Schreck des letzten Ausflugs so sehr in die Glieder gefahren, dass sie sofort wie gelähmt war, wenn sie die Gänge betraten.
»Dann werde ich allein gehen...«, stellte Antarona fest und nahm ihr Schwert von der Wand über dem Bett, »...ich werde mich schon in den Gängen zurecht finden. Ich will nur in Ba - shties Gemächer.., nichts weiter«, erklärte sie ihrer Zofe, um sie wieder zu beruhigen.
»Und ihr, Garina...«, wies sie das Mädchen an, »...geht in eure Gemächer, verschließt die Türen und bleibt dort, bis ich wieder zurück bin!« Vesgarina nickte erleichtert und war froh, nicht noch einmal durch die Dunkelheit zu müssen, an deren Ende vielleicht wieder irgend welche bissigen Kreaturen lauerten.
Vesgarina begleitete Antarona noch zum Einstieg im Vorzimmer der Bibliothek. Auf Nantakis verzichtete Antarona diesmal. Statt dessen nahm sie neben einer kleinen Feuerdose den Dolch mit, der sie erst vor einigen Stunden in das Reich der Toten befördern sollte. Möglicherweise hatte Ba - shtie ihn irgendwo schon einmal gesehen.
»Garina.., ihr wisst genau, dass niemand außer euch diese Gänge kennt?« wollte sie sich noch rasch versichern. Vesgarina zuckte mit den Achseln und malte mit ihrer Kohle auf das Stück Papier, dass sie immer noch bei sich hatte: Vesgarina nicht weiß, glauben allein wissen, weiß von alter Kammerfrau, welche ist in Reich der Toten.
Antarona nickte zufrieden, war aber darauf gefasst, dass sie beide nicht die einzigen waren, die das Geheimnis dieser Burg kannten. Wenn eine alte Kammerdienerin davon wusste, war es möglich, dass auch Medunzia oder Hekthur, zumindest aber der König, von den verborgenen Gängen wusste. Sie musste also auf der Hut sein!
Vesgarina drückte wieder mit aller Kraft die Ecke des Rahmens in der Holzvertäfelung nach innen und die kleine Tür öffnete sich. Antarona stieg in die Dunkelheit und augenblicklich schloss sich das Türchen wieder. Von nun an war sie allein!
Vorsichtig ging Antarona in die Knie, tastete den Boden ab, griff sich eine der Fackeln und öffnete die Feuerdose, eine kleine, metallene Büchse an einem Tragering, in der ein Stück Holzkohle vor sich hin glomm. Sie blies die Glut an und erzündete die Fackel. Sofort war der enge Gang in ein zuckendes Licht getaucht.
Anschließend zog sie sich das Oberteil und den Rock ihres Elsirenkleides aus, nahm sie zusammen und steckte sie sich in den Gürtel, in dem schon der Dolch hing. Sie hatte Angst, sich den feinen Stoff des Elsirenkleides an den vorspringenden, rauen Mörtelresten der Fugen zu zerreißen.
Nackt, wie die Götter ihr den Geist eingehaucht hatten, stieg sie den Schacht hinab. Ab und zu stieß sie absichtlich mit dem Dolch gegen die eisernen Stufen. Jedes Mal erhob sich für einen kurzen Moment das Gebell der Hunde, an dem sie sich orientierte. Die armen, verzogenen Geschöpfe waren doch noch zu etwas nütze! Ihr Kläffen wanderte wie ein Echo durch die Gänge und sie musste genau lauschen, wo die Laute ihren Ursprung hatten.
Offenbar kamen sie aus dem zweiten Stockwerk. Antarona hörte das Gebell auf diesem Podest am deutlichsten. Sie folgte dem Gang nach links, der sich auf und nieder, mal nach rechts, mal nach links wand und schließlich nach einer Ewigkeit in einem winzigen Raum endete. Deutlich konnte sie hinter der Mauer das Schnüffeln, Scharren von Hundepfoten hören.
Antarona wusste, dass die Tiere sie bereits gewittert hatten. Es wunderte sie nicht, denn sie hatte sich für ihren Ba - shtie mit Kräutersalben und Blütenextrakten eingerieben. Sie wollte den Duft einer Götterblüte verströmen und glänzen, wie eine Träne der Götter, wenn sie vor ihm stand! Das blieb natürlich auch den Hunden nicht verborgen, selbst durch die dicken Mauern hindurch nicht.
Die Fackel erhoben, suchte Antarona die Wände nach einer Öffnung ab. Unter dicken, eingestaubten Spinnweben entdeckte sie endlich einen in das Mauerwerk eingelassenen eisernen Ring. Sie löschte die Fackel, legte sie an einen Platz, den sie sich einprägen konnte und zog.
Knarrend und quietschend öffnete sich eine kleine Luke und diffuser Lichtschein fiel in den Gang. Ein Wandbehang, oder eine Decke kam zum Vorschein und sofort zwei schnüffelnde Nasen von Hunden! Antarona konzentrierte sich auf die Tiere und begann leise ein Lied zu summen. Sie spürte die Neugier der Tiere, die sofort in stille Freude umschlug, als sie das Wesen erkannten, das aus der Wand kam.
Vorsichtig schlüpfte Antarona durch die Luke, schlug den Wandteppich zur Seite und begrüßte ihre neuen vierbeinigen Freunde. Mit ihrer Gedankenkraft vermittelte sie den Hunden, sich still in eine Ecke zurück zu ziehen und sah sich um.
Sie befand in einem Raum, der zu beiden Seiten ohne Tür in einen Korridor überging. In Kommoden und Vitrinen an der Wand standen seltsame Gebilde aus Metall und Holz, die keinerlei Sinn ergaben. Drei große Bilder schmückten eine weitere Wand, die beinahe bis zum Boden reichten und Personen zeigten, die so hässlich waren, dass Antarona sich fragte, wer sie waren, dass man ihre Gesichter für die Ewigkeit dem Reich der Götter entzogen hatte.
In eisernen Ständern steckten gelöschte Fackeln, in anderen Schwerter und lange Dolche. An der Korridorwand standen Gestelle, die Antaronas Vater Hedaron benutzt hatte, um die Schwarzvögel daran zu hindern, seine frisch eingebrachte Saat zu stibitzen. Auf diese Halterungen hatte man alte, teilweise kaputte Waffenröcke gehängt.
Antarona schüttelte angesichts solcher Narretei den Kopf. Wer hob so alte Röcke auf, die niemand mehr tragen konnte? Leicht war aus ihnen noch ein Gurt herzustellen, oder ein Armschutz! Doch sie aufzuheben und verstauben zu lassen, überstieg ihre Auffassungsgabe.
Um so leichter fiel ihr das, was sie vor hatte. Sie griff sich ein Schwert aus dem Ständer und begann einen wahren Feldzug der Zerstörung. Und es musste schnell gehen, denn Lärm ließ sich dabei eben nicht vermeiden!
Zunächst einmal fällte sie die hässlichen Waffenröcke, die ihre Zeit überdauert hatten. Dann zerschlug sie blitzschnell die Schränke samt Inhalt, den sie für sinnlosen Tinnef hielt. Anschließend wurden die hässlichen Gesichter Opfer ihrer Strategie.
Die drei Hunde lagen still in einer Ecke und glotzten nur stoisch das nackte, glänzende Mädchen an, das wie ein Wirbelsturm durch den Flur fegte und kein Teil heil auf dem anderen ließ. Sie rührten sich selbst dann nicht, als eine lebensgroße Figur umstürzte und ihnen direkt vor die Pfoten fiel, wo sie in tausend Teile zersprang.
Zuletzt schob sie das Schwert noch in den Stoff, der sich schützend, oder schmückend über den Boden spannte. Es machte Ratsch und der dünne Teppich riss aus seinen Säumen. Antarona zerriss die langen Bahnen so lange, bis sie Schritte hörte, die sich rasch näherten.
Mit dem Fuß stieß sie den Ständer mit den Schwertern um, warf die Waffe in ihrer Hand dazu und zwängte sich wieder durch die Öffnung in den verborgenen Gang. In Gedanken entließ sie die Hunde wieder aus ihrer Teilnahmslosigkeit und verschloss die Luke.
Wie eine Statue blieb sie starr hinter der Wand stehen und lauschte. Ihr Atem ging heftig und sie schwitzte leicht. Auch der Kampf gegen leblose Gegenstände strengte an! Dennoch versuchte sie ihre Lungen zu beruhigen, um besser hören zu können.
Eine Weile blieb es ruhig, dann vernahm sie gedämpftes Fluchen, Poltern und das Jaulen von wenigstens zwei Hunden. Die armen Tiere taten ihr plötzlich unendlich leid. Sie mussten nun für Taten die Prügel einstecken, die sie gar nicht begangen hatten! Leiser Zorn stieg in ihr hoch und sie versuchte etwas, das ihr bis dahin noch nie richtig gelungen war.
Sie legte ihren Kopf an die Wand, schloss die Augen und versuchte sich so fest zu konzentrieren, dass sie sich selbst in eine Art Trance versetzte. Sie sah im Geiste die Hunde vor sich, auf die Hekthur und ein weiterer Diener mit dünnen Stöcken einschlugen. In welche Ecke sich die Tiere auch zu verkriechen suchten, die Schläge erwischten sie gnadenlos!
Antarona spürte den Schmerz der Schläge auf ihrem eigenen Rücken und biss die Zähne zusammen, um nicht aufzuschreien. Ihr Zorn wuchs, sie zitterte am ganzen Leib und ihre Finger verkrallten sich in der groben Mauer. Plötzlich warf sie ihren Kopf nach hinten, taumelte zurück und ballte ihre kleinen Hände zu harten Fäusten. Ihr nackter Körper krümmte sich auf dem Boden zusammen und ihr starrer Blick hätte bei Licht gesehen, einem Betrachter das reine Fürchten gelehrt.
Auf einem Mal vernahm sie durch die Wand ein gefährliches Knurren und unterdrücktes Bellen, vermischt mit den entsetzten Schreien von menschlichen Stimmen. Erleichtert entspannte sie sich wieder und kam schwankend auf die Beine. Dieser Kontakt der Kopfgeister hatte ihr viel Kraft abverlangt. Aber sie hatte durch eine Meter dicke Mauer hindurch das geschafft, was ihr bislang nur mit direkten Blicken gelungen war.
Ein gutes Gefühl, wie der Stolz eines großen Sieges durchfuhr ihre Brust. Und sie ahnte, dass die Götter sie mit einer noch viel größeren Gabe gesegnet hatten, die sie aber noch nicht erfassen konnte. Zufrieden wischte sie sich den Staub des Geheimgangs von der duftenden Haut und entzündete die Fackel.
Ein Loch im Boden und an der Decke führte in die anderen Stockwerke. Es gab also mehrere Schächte, welche nach oben und unten führten. Diese Gänge mussten wie ein Spinnennetz im Gemäuer der ganzen Burg verteilt sein! Antarona überlegte. Ba - shties Gemächer waren unter den ihren.., also musste sie nun ein Stockwerk höher steigen!
Minuten später stand sie auf dem oberen Podest und sah sich auch hier wieder nach einer Öffnung um. Wiederum unter den Hinterlassenschaften kleiner Krabbeltiere befand sich ein eiserner Griff, an dem sie kräftig ziehen musste. Eine kleine Nische, nicht einmal so groß wie ein Waschzuber, entließ sie in schwarze Dunkelheit!
Antarona hatte vorher die Fackel gelöscht und die Feuerdose zu öffnen, wagte sie nicht. Also tastete sie in völliger Finsternis nach der Stelle, mit der sie das Loch in der Wand wieder verschließen konnte. Ihre feingliedrigen Finger wanderten über Kanten, Nuten und Wölbungen an der Wand, bis ihr schließlich ein rollendes Geräusch verriet, dass sie gefunden hatte, wonach sie suchte.
Nun stand sie allein in lichtloser Nacht, in unbekannten Räumen! Ihre Sinne bis zur Qual geschärft, ertastete sie die Wände. Der Raum war nicht sehr groß, vermutlich ebenfalls ein Vorzimmer. Es gab zwei Türen, eine, die sich nach innen öffnen ließ, eine die nach außen auf ging. Welche sich nach außen öffneten, das wusste sie von ihren eigenen Gemächern, führten meist in die einzelnen Zimmer, nicht in den Korridor.
Sie zog sich rasch wieder das leichte Nichts ihres Kleides an, lauschte kurz und drückte vorsichtig den Riegel der Tür auf. Einen Spalt breit öffnete sie die Tür und spähte hindurch. Es war dunkel. Aber nicht so finster, wie im Vorzimmer. Das Licht des Mondes sickerte durch hohe Fenster in den Raum.
Wie eine Schlange wand sich Antarona durch die nicht ganz geöffnete Tür und schloss sie wieder. Ihr sonnengebräunter, schimmernder Körper verschmolz mit dem Holz der Tür und sie sah sich erst einmal gründlich um. Der Raum war relativ klein und nur mit einem Tisch und einigen Stühlen ausgestattet.
Antarona ging behutsam durch das Zimmer, ihre nackten Füße spürten jede nachgebende Diele unter dem Bodenbespann aus Stoff und vermieden das typische Knarren und Knacken des Holzes. Wie ein Geist huschte sie durch die nächste Tür und wieder durch die nächste, bis sie in ein Zimmer gelangte, dessen Boden aus Stein war.
Sie fühlte durch den dünnen Stoff hindurch mit den Füßen sofort den kühleren Boden, dafür sah sie nichts mehr, denn der Raum besaß keine Fenster. Wieder musste sie ihren untrüglichen Tastsinn einsetzen, der ihr verriet, dass sie sich in einem Zimmer voller Rüstzeug befand. Es dauerte eine Weile, bis sie sich zwischen den Schränken und Regalen orientieren konnte und die Tür zum nächsten Raum fand.
Mondlicht flutete durch die Fenster herein und sie erkannte sofort ein Schlafzimmer. Das Bett, sowie alle Möbel schienen jedoch unberührt. Ja, geradezu verlassen wirkte der Raum im kalten Licht der Gestirne. Hatte sie sich geirrt? War ihr Ba - shtie doch in einem anderen Stockwerk untergebracht, oder..?
Ihr Herz blieb fast stehen, als ihr eine Möglichkeit in den Sinn kam, die sie bis dahin ausschließen wollte. Hatte ihn Bental am Ende schon in die Kerker werfen, oder gar hinrichten lassen? Suchte sie nach der Hoffnung ihres Lebens, die schon gar nicht mehr unter den Göttern weilte? Sie schüttelte den Kopf. So einfältig war selbst dieser König nicht, einen lebenden Helden des Volkes zu töten! Und das war Areos nun einmal, das wusste jedes Kind, das erzählte man sich an jedem Feuer!
Mit selbst erkorener Zuversicht schlich sie weiter, von Zimmer zu Zimmer, durch unzählige Räume, bis sie in eine Kammer gelangte, die ihr irgendwie bekannt vorkam. Es war ein Raum mit hohen Fenstern und mit zwei abgerundeten, gegenüberliegenden Ecken, die mit Tüchern verhangen waren. Allein die Tücher kamen ihr bekannt vor. Es waren dieselben, die plötzlich über Nacht in einem Raum ihrer eigenen Gemächer angebracht worden waren und seit dem zwei unansehnliche, versperrte Türen überdeckten.
Doch in diesem Zimmer befand sich ein mächtiger, schwerer Tisch vor einem der Tücher, der mit allerlei Schriften, Rollen und Plänen überfüllt war. Antarona schlich um den Tisch herum, um aus dem Fenster zu sehen. Der Blick nach draußen half ihr, festzustellen, in welchem Flügel der Burg sie sich befand.
Plötzlich spürte sie etwas scharfes, spitzes unter ihrem empfindlichen Fuß. Sie hob es auf und betrachtete etwas, das aussah, wie ein grober Holzspan. Sie wollte ihn schon zur Seite werfen, als ihr das harte Holz auffiel. Es war kein Span von Feuerholz! Aufmerksam sah sie sich um, versuchte mit weit geöffneten Augen die Dunkelheit, die trotz des Mondlichts herrschte, zu durchdringen.
Sie suchte den großen Tisch ab, doch er war aus anderem Holz. Da! Wieder spürte sie feine Späne unter ihren Füßen, kaum größer, als grober Staub! Forschend schlug sie den Wandbehang zur Seite und blickte auf die Tür, deren Holz jemand mit einem scharfen Werkzeug bearbeitet hatte. Eine tiefe Rille zog sich um das ganze Türschloss herum. Es war eine unfertige, nicht sehr geübte Arbeit, stellte sie fest und ließ den Vorhang wieder zurück gleiten. Sebastian hatte sie damit noch immer nicht gefunden!
Vorsichtig, jederzeit bereit sich zu verstecken, oder notfalls sich mit aller Kraft zur Wehr zu setzen, tasteten sich ihre Füße weiter durch die nächsten Räume, die allesamt mit Schriften, Karten und Papierrollen angefüllt waren. Sie wusste, dass sie noch den gesamten Ostflügel vor sich hatte und dass es dort ebenfalls noch einen Zugang zu den geheimen Wegen geben musste.
Das nächste Zimmer war dunkel. Jemand hatte die Vorhänge vor den Fenstern geschlossen. Antarona lauschte angestrengt und stellte fest, dass sie allein in diesem Zimmer war. Sie tastete sich an der Wand entlang, an einer Kommode vorbei... Da stieß sie unversehens mit ihrer tastenden Hand einen wackligen Gegenstand um, der von der Anrichte stürzte und scheppernd und polternd zu Boden fiel.
Antarona hielt vor Schreck den Atem an und rührte sich nicht mehr. Dieser Lärm musste zweifelsfrei jedes schlafende Wesen in der Burg geweckt haben! Doch es blieb alles still. Zu Ruhig, wie sie glaubte. Langsam, in einer einzigen, fließenden Bewegung ging sie in die Knie und tastete den Boden ab.
Sie bekam etwas in die Hand, das sie bereits kannte. Es war eines jener seltsamen Gebilde, mit dem man Türen auf und zu sperren konnte, etwas, das im Val Mentiér niemand brauchte, was aber in Falméra und in dieser Burg beinahe jede Tür sicherte. Man steckte es in ein Loch in der Tür und drehte es herum, um die Tür zu versperren, oder zu öffnen.
Aber noch etwas war zu Boden gefallen. Ein schwerer Standleuchter aus Eisen lag zu ihren Füßen. Sie hob ihn auf, suchte noch die Kerzen dazu und stellte alles wieder auf die Kommode. Dabei fiel ihr auf, dass der Leuchter im Boden ein unförmiges Loch besaß. Deshalb stand er so wackelig auf der Anrichte, dass sie ihn überhaupt erst umstoßen konnte!
Antaronas Tastsinn war so ausgeprägt, dass sie sich sogar in völliger Finsternis zurecht fand. Schnell fand sie heraus, dass der Gegenstand, den man für Türen benutzte, genau in das Loch im Fuß des Leuchters passte. Zwar stand er dann noch unsicherer auf seinem Sockel, doch das Ding gehörte allem Anschein nach da hinein!
Zufrieden, so gut wie keine Spuren hinterlassen zu haben, schlich sie weiter, der nächsten Tür zu, die sie in ein großes Bad führte, das genau unter dem ihren liegen musste. Allmählich verstand Antarona die Struktur dieser Gemäuer. Die Stockwerke glichen sich, bis auf wenige Abweichungen!
Sie nutzte die gewonnene Erkenntnis und stand ziemlich schnell in einem weiteren Schlafgemach, das zwar ebenfalls verlassen war, das aber zumindest benutzt wurde. Und etwas in diesem Raum kam ihr sehr vertraut vor. Sie konnte nicht sagen, was es war, aber sie spürte plötzlich etwas Wohliges, Ziehendes in ihrem Bauch, das ihr eine Vertrautheit vermittelte, wie ihr eigenes Zimmer im Hause ihres Vaters in Fallwasser.
Der Geruch... Natürlich! Sie kannte den Duft, der in diesem Raum lag. Es war eindeutig der Geruch, den Ba - shties Haut und seine Haare verströmten. Ihre ausgeprägten Sinne ließen keinen Zweifel offen, sie war im Schlafgemach ihres Liebsten, den sie so sehr vermisste!
Die großzügigen Fenster ließen so viel Mondlicht herein, dass sie sich genau umsehen konnte. Dort lagen seine Kleider, die er trug, als sie das Haus ihrer Tante verließen. Doch diese Bestätigung brauchte sie gar nicht mehr!
Geschmeidig, wie eine Katze kroch sie in sein Bett, kuschelte sich darin ein und sog kräftig den Duft in ihre Lungen, den Sebastian hinterlassen hatte, als wären es die letzten Atemzüge, die sie auf dieser Welt tun durfte. Sie schlang ihre Beine um die Decke, die nach ihrem Ba - shtie roch, umklammerte sie mit ihren Schenkeln und presste sie sich fest in ihren Schoß, der sehnsüchtig, in heißen Wellen nach dem Takt ihres Herzens pochte.
Verkrampft gruben sich ihre Finger in die Decke, in seinen Duft, als hielt sie ihren Mann von den Göttern selbst umschlungen, als wollte sie ihn niemals wieder los lassen. Sie begann vor Verzweiflung zu schluchzen, als ihr nur zögernd bewusst wurde, dass sich Ba - shtie offenbar nicht in diesen Gemächern aufhielt.
Sie hatte so viel Hoffnung in diese Nacht investiert und geglaubt, Ba - shtie würde sie fest in seine Arme schließen. Statt dessen musste sie sich mit seiner Decke trösten, die ihre Sehnsucht noch verstärkte. Wo war er nur? Die ganze Burg lag ruhig, aus den Fenstern schien kein Licht mehr und selbst in den Korridoren waren bereits die Fackeln gelöscht worden. War ihr Ba - shtie überhaupt noch auf der Burg?
Allmählich beruhigte sie sich und an die Stelle ihrer bohrenden Sehnsucht trat verzweifelte Traurigkeit und Hoffnungslosigkeit. Wie gerne wäre sie in diesem Bett liegen geblieben und hätte auf ihren Liebsten gewartet. Doch würde er in diesem Mondlauf noch kommen? Ebenso wenig wusste sie, wie Vesgarina reagieren würde, wenn sie zu lange ausblieb. Das verschüchterte Wesen war imstande, die ganze Burg zu alarmieren!
Sie musste wieder gehen! Aber sie würde wiederkommen, in der nächsten Nacht, und in der darauf folgenden, wenn es sein musste, in jeder Nacht! Zuletzt sah sie sich noch einmal um. Sie wollte Ba - shtie ein Zeichen zurücklassen, das ihm erzählte, dass sie einen Weg zu ihm gefunden hatte.
Kurz entschlossen knüpfte sie die Bänder an ihren Unterschenkeln auf, an denen sie ihren Federschmuck trug und legte die Federn samt Schnüre auf Ba - shties Kopfkissen. Behütend, fast wie beschwörend, legte sie noch einmal ihre Hand darauf, dann machte sie sich auf den Rückweg.
Ihrer neuen Erkenntnis folgend, suchte sie nach einem Zugang zu den verborgenen Wegen in den Vorzimmern gegenüber dem kleinen Treppenturm auf der Hofseite, dort, wo eine Etage höher der Zugang von ihren Räumen aus zu finden war. Tatsächlich fand sie die Luke an der gleichen Stelle, wie ein Stockwerk darüber, nur dass auf dieser Ebene ein Schränkchen vor der geheimen Öffnung stand. Antarona rückte es beiseite, kroch hindurch und zog das Möbel wieder zurück, bevor sie das Türchen schloss.
Sie brauchte nur noch den Schacht empor zu steigen und war wieder in ihren Gemächern. So einfach und schnell ging das! Im nächsten Mondlauf musste sie nicht erst lange suchen, sondern würde in kürzester Zeit vor Ba - shties Bett stehen!
Bevor sie sich selbst in ihr Schlafgemach zurück zog, suchte sie noch Vesgarina auf, um ihrer Zofe zu sagen, dass alles gut gegangen war. Dann kroch sie in ihre Felle und träumte von Ba - shtie, der sie in der nächsten Dunkelheit mit offenen Armen empfing...

Todmüde und ausgelaugt ließ sich Sebastian auf sein Bett fallen. Es war sehr spät geworden, um nicht zu sagen sehr früh! Er machte sich nicht einmal die Mühe, die Stiefel auszuziehen, riss sich nur noch frustriert das Hemd vom Leib und ließ sich auf seine Decke sinken. Er dachte noch einmal an Raspina, an die Tänzerin, die er vermutlich sehr verletzt hatte.
Es tat ihm leid, aber was sollte er machen? Die Sehnsucht nach Antarona war so groß, dass sie ihm den Verstand raubte! Dieses verzehrende Verlangen nach ihr war so intensiv, dass er sogar schon ihre Nähe spürte, obwohl sie gar nicht da war! Sebastian seufzte verzweifelt. Mittlerweile hatte er sogar schon Antaronas Duft in seiner Nase, diesen unverkennbaren Geruch, den ihre Haut ausströmte, diesen Duft aus irgendwelchen Pflanzen und Blüten, mit denen sie sich immer umgab.
Er war wütend auf sich selbst, dass er fast einer Versuchung nachgegeben hatte, mit der er die Frau verraten hätte, die er über alles liebte. Diese Frau, die ihn sogar mit ihrem Duft betörte, ohne tatsächlich bei ihm zu sein! War er schon so übergeschnappt? Er brauchte dringend Schlaf, wenn er nicht noch verrückt werden wollte! Resigniert zog er sich die Decke über den Körper und verhielt plötzlich...
Da war er wieder, Antaronas lieblicher Duft, der ihm nun doch noch die Sinne zu rauben schien. Er nahm ihn so deutlich wahr, dass er noch einmal die Augen aufschlug und um sich blickte, und er hätte schwören können, sie stand neben ihm! Aber er war allein. Dennoch, ihr Duft war da! Er bewegte sich und er wurde stärker. Wie war das möglich?
Je mehr er sich in seiner Decke vergrub, desto stärker duftete es nach Antarona. War sie hier gewesen? Hatte sie während seiner Abwesenheit in seinem Bett geschlafen? Irgend etwas kitzelte an seiner Wange, während er sich noch mit der Absurdität dieses Gedankens beschäftigte.
Eine Spinne in seinem Bett? Er griff danach und hielt etwas in der Hand, das noch stärker nach seiner Sehnsucht roch, als die Decke! Sebastian stand wieder auf, holte sich eine Feuerdose vom Kamin und zündete den Docht der Lampe an. Was er in seiner Hand hielt, war ihm so vertraut, dass sein Herz vor Freude einen riesigen Luftsprung machte und ihm Tränen der Verzückung in die Augen trieb.
Die Federn mit den ledernen Schnüren und den bunten Steinen, die seine Frau ständig irgendwo am Leib trug! Antarona.., sie war hier! Aber wie hatte sie die Wachen überlisten können? Sebastian überlegte. Warum hatte sie ihm nichts auf ein Papier geschrieben.., ob sie wieder kam, oder wo er sie finden konnte?
Natürlich! Hekthur brauchte es nur zu finden und würde es schnurstracks zum König bringen! Diese Federn konnten von überall her stammen! Er, Sebastian Lauknitz aber wusste, wem sie gehörten! Nun schalt er sich noch mehr einen ausgemachten Dummkopf. Seine Frau hatte endlich einen Weg zu ihm gefunden und er hatte nichts Besseres zu tun, als sich beinahe in den Schoß einer anderen zu verirren!
Ab dieser Stunde hatte er Angst! Er fürchtete sich davor, Antarona konnte wiederkommen und er war nicht da. Was, wenn sie erneut in seine Gemächer fand, während er bei Bental war, oder mit seiner neuen Aufgabe in einem anderen Teil der Burg beschäftigt? Oder hatte sie selbst nur die Möglichkeit, ihn bei Nacht aufzusuchen?
Alle Spekulationen halfen nichts! Er musste warten, bis sie noch einmal zu ihm fand. Nein! Warten würde er nicht! Augenblicklich war er zu müde, doch zu Beginn des Sonnenlaufs wollte er sein Bemühen noch stärker fortführen, das Schloss aus der Tür des kleinen Turms zu schnitzen. Dann war er es, der sie aufsuchte!
Eine Weile lag er noch wach und dachte darüber nach, wie ihre Begegnung wohl sein würde, nach so langer Zeit? So lange Zeit? Sebastian rechnete nach. Die Ankunft in der Burg.., am nächsten Tag die Feier, gestern und dieser Tag. Drei oder vier Tage hatten sie sich nicht gesehen! Andere Paare waren Wochen lang voneinander getrennt!
Sebastian kannte noch aus früheren Zeiten die Aussage Wenn eure Liebe das nicht aushält, dann ist es keine Liebe! Spätesten in diesem Moment wusste er, dass dies ausgemachter Blödsinn war! Liebende hatten ein anderes Zeitgefühl! Es richtete sich nach Sehnsucht, nicht nach Stunden, oder Tage! Diese Weisheit trug er durch den Rest der Nacht...

Den halben Morgen hatte Sebastian Lauknitz verschlafen. Eigentlich hatte er ja gar nicht geschlafen! Er hatte in einem Zustand zwischen Schlafen und Wachen geschwebt, war immer wieder aus wilden, fürchterlichen Träumen hoch geschreckt und erneut in einen Dämmerzustand gefallen, der ihm wiederum Dinge suggestierte, die ihm tiefen Schmerz zufügten.
Wie oft er Antarona in dieser Nacht auf irgend einer Folterbank seinen Namen rufen hörte und sterben sah, konnte er nicht mehr sagen. Aber was er in seinen schlimmsten Träumen sah, die er jemals hatte, machte ihm Angst! Es lähmte ihn. Wollte ihm das Schicksal eine Mitteilung senden, oder waren es einfach nur die Ängste seines Unterbewusstseins, die ihn quälten?
Sebastian versuchte diese Gedanken abzuschütteln, indem er das Fenster aufriss, die frische Bergluft herein ließ und sich im Bad einen ganzen Krug Wasser über den Kopf goss. Frethnal erschien alsbald danach und brachte ihm ein kräftiges Frühstück auf einem riesigen Tablett. Paradoxerweise war es eigentlich Zeit für ein Mittagessen!
Während sich Basti Brot, Käse und Schinken, sowie Weißmehlfladen und eine Art Quark in den Mund schob, drängte Frethnal schon darauf, dass er sich für die tägliche Audienz beim König vorbereitete. Sebastian winkte ab. Dazu war es zu spät! An diesem Tag würde er ohne Hausaufgaben kommen.
Als Sebastian eine Stunde später vor dem König stand, ging alles sehr schnell. Bental wusste von Sebastians nächtlichem Ausflug, wahrscheinlich durch die Wachen, äußerte sich aber nur am Rande und eher uninteressiert dazu.
Seine eigenen Probleme schienen im Augenblick wichtiger zu sein. Bental machte einen ebenso übernächtigten Eindruck, wie Basti.
»Lasst euch eines raten, Areos...«, begann er an diesem Morgen missmutig, »...wollt ihr eure Gemächer bewachen, so setzt nicht auf Jagdhunde! Haben mir den ganzen Nordflügel verwüstet, diese Ausgeburten der Einfältigkeit!« Damit nickte er zu den drei hässlichen Hunden hinüber, die Sebastian schon am Vortag aufgefallen waren. Sie waren an einen mächtigen Eisenring gekettet, dessen Halterung im Mauerwerk des Kamins eingelassen war. Hekthur stand daneben und trug seinen Arm in der Schlinge eines Tuches, das um seinen Hals geknüpft war.
»Ich weiß nicht, was in letzter Zeit in diese Viecher gefahren ist«, fuhr der König fort, »mag es mit eurem Ausflug während letzten Mondlaufs zusammen hängen, oder sie sind einfach vom Dämon der Tiefe besessen, allein die Götter mögen es wissen! Nun, fortan dürfen sie im Stall herum wüten.., mögen sie sich dort die Schädel einrennen!« Sebastian fragte sich, warum ihm Bental all dies erzählte. Schneller, als ihm lieb war, wurde er darüber aufgeklärt.
»Ebenso, wie die dort...«, dabei sah er noch einmal abfällig auf seine Hunde, »erhaltet ihr die Freiheit und Vergünstigung, dass euch Zugang zu jedem Winkel dieser Mauern gewährt wird. Ihr werdet jeden Stein, jeden Raum, jede Zinne und jeden Baum vermessen und aufzeichnen! Ihr werdet mir, so denn ihr euch nicht selbst überschätzt habt, eine zweite, alles umfassende Landesaufnahme anfertigen und werdet mit der Burg beginnen!«
Bental hatte seine übliche Wanderrute im Kreis aufgenommen und Sebastian begann sich zu fragen, ob der vielleicht, ähnlich, wie seine Hunde, zu wenig Auslauf bekam. Der König hielt vor Sebastian an und musterte ihn streng, als hätte er seine Gedanken lesen können.
»Hütet euch jedoch davor, diese Vergünstigung über eure Aufgabe hinaus zu missbrauchen! Seid versichert, auch für euch fände sich noch ein etwas unbequemeres Schlafgemach!« Damit wies er wieder mit dem Kopf auf seine unansehnlichen Köter, die sabbernd da saßen und geduldig auf ihr Schicksal warteten.
»Hekthur wird dafür Sorge tragen, dass ihr alles bekommt, was ihr für diese Arbeit begehrt. Ihr werdet ihm vorher ankündigen, welchen Teil der Burg ihr zu vermessen wünscht und es werden euch zwei Soldaten der inneren Wache als Helfer an eure Seite gestellt!«
Pah.., Helfer! Sebastian wusste genau, das die ihm nicht helfen würden! Vielmehr sollten sie ihn überwachen, damit er nicht dort herum schnüffelte, wo noch nicht aufgeräumt worden war!
Der König ging zu seinem Arbeitstisch hinüber und nahm eine Rolle zur Hand, die er einen Moment lang nachdenklich in seiner Hand wog, dann aber Areos vor die Brust hielt.
»Hier habe ich noch etwas für euch...«, tat er sich großzügig, »...es ist mir rätselhaft, was ihr damit anzufangen vermögt, doch was ihr bislang hervor brachtet, diente in der Tat dem Wohl des Volkes und des Landes.., daher sei euch auch dies fraglos gewährt!«
Basti rollte die Pergamente auseinander und staunte nicht schlecht. Es war eine Aufstellung von Namen und Stand der Eltern von Tariz und ihren Freunden. Der Nachrichtendienst einer Weltmacht hätte es nicht besser zusammenstellen und dokumentieren können!
»Nun zu einer weiteren Aufgabe, die dem Areos von Standes her zukommt und die ihr mit Hingabe erledigen wollt.« Bental stellte dies nicht als Bitte hin und Sebastian wusste, dass er bei Widerspruch mit der Vermessung der untersten Etage der Burg beginnen durfte, welche nie enden würde!
»Ihr werdet nach einem genau vorbestimmten Plan die ganze Armee Falméras kontrollieren.., jede Einheit, jedes Heerlager, jeden Führer, jeden Soldaten, jeden Wachgang, auch jene in der Burganlage! Ihr werdet das schreiben und mir und Tieton berichten, sowie Änderungen oder Anweisungen an die Truppenführer weiter geben! Hekthur wird euch jeweils mitteilen, welchen Truppenabschnitt ihr in den Schein eurer Augen nehmen werdet!«
Sebastian sah die Gelegenheit als günstig an und berichtete Bental von seinen Beobachtungen der letzten Nacht, hinsichtlich der Torwache. Bental hörte aufmerksam zu, bemerkte dann aber nur knapp:
»Tut etwas dagegen.., ihr seid Areos, der Führer meiner ganzen Armee. Euer Wort ist allen Wachen und Soldaten Gesetz, solange es mein Wohlwollen genießt. Ändert es und berichtet mir! Solcher Nachlässigkeiten hinterher zu spüren und die Truppen in Bewegung zu halten, war.., ist Areos Aufgabe! Werdet ihr gerecht und wir werden im Einklang miteinander auskommen!«
Damit war die Audienz beendet. Bental machte nur eine fahrige Handbewegung und Hekthur führte Sebastian zum Treppenturm zurück. Unterwegs testete Basti schon mal die Bereitschaft Hekthurs zur Mitarbeit an seinen Projekten.
»Morgen, zu früher Zentare, werde ich mit der Landesaufnahme, genauer gesagt, mit der Vermessung der Burg beginnen. Mit dem Haupthaus gedenke ich anzufangen.., und zwar von ganz oben, bis ganz unten! Wenn ihr bitte Sorge tragen wollt, dass ich überall Zugang bekomme!«
Sebastian ließ es bewusst wie eine Anordnung klingen, nicht wie eine Frage. Er wollte von Anfang an, insbesondere Hekthur gegenüber, seine Autorität wahren. Zeigte er Schwäche, das hatte er bereits in seiner Welt erfahren müssen, wurde sie schamlos ausgenutzt.
»Außerdem wollt ihr mir bitte jene Dinge besorgen, welche ich noch in einer Liste zusammenstellen werde. Frethnal wird sie euch noch an diesem Tag überbringen! Oder aber ihr stattet mich mit genügend Quarts aus, dann werde ich mir das Gebrauchte selbst besorgen! Und in der Zeit der hoch stehenden Sonne bis zum Mondlauf werde ich die äußere Burgwache mit meinen prüfenden Augen beehren. Ihr werdet jedoch weder Führer, noch Wache davon unterrichten. Allein der König wird davon erfahren, habt ihr mich verstanden?«
Sebastian schlug einen fordernden, herrischen Ton an, um auch Hekthur seinen Status und seine Entschlossenheit klar zu machen. Freundlichkeiten konnte er zu anderer Stunde immer noch wie Geschenke verteilen. Ihn wunderte allerdings, dass Hekthur nicht auf das Thema mit den Quarts einging. Im Grunde hätte er sich doch darüber wundern müssen, dass Areos danach fragte, obwohl er zwei gut gefüllte Kisten davon besaß!
Diese Methode, den Aufenthaltsort des Kassenschlüssels zu erfahren war eindeutig fehlgeschlagen. Sebastian musste um einiges gewitzter an die Sache heran gehen! Hekthur war ein misstrauischer Mann, dem man jedes Detail extra aus der Nase leiern musste. Sebastian überlegte, wie er den Diener Bentals überlisten konnte, als sie bereits die Tür zu Bastis Gemächern erreichten und der Wachsoldat diensteifrig meldete:
»Frethnal erwartet euch im Vorzimmer eures Arbeitszimmers, zusammen mit dem jungen Fräulein, Herr!« Sebastians Frage nach dem Schlüssel zu den Quartkassetten hatte sich plötzlich erledigt. Egal, wie Antarona das geschafft hatte, Hauptsache, sie war da! Sebastian ließ den verdutzten Hekthur einfach stehen, stürmte über den Flur in die Bibliothek, von dort in den Kartenraum und weiter ins Arbeitszimmer.
Er rückte noch einmal seine Kleidung gerade und öffnete beherzt die Tür zum schmalen Vorzimmer. Im Schein eines Standleuchters saßen Frethnal, der sofort aufsprang und.., nicht Antarona! Sebastian gelang leider nicht, die große Enttäuschung zu verbergen, die ihn in diesem Augenblick erfasste.
»Frethnal.., wer im Namen der Götter ist das?« fragte er ziemlich verwirrt und sah das junge Mädchen an, das auf dem einfachen Stuhl saß. Zunächst dachte er mit Schrecken an Raspina, doch diese Frau dort besaß eindeutig mehr von dem, was man in Sebastians Welt mit orientalischen Zügen bezeichnet hätte.
Das Mädchen war schlank, jedoch nicht so grazil und anmutig, wie Antarona. Dennoch lächelte sie schüchtern aus einem hübschen Gesicht, und ihr Blick schien einem ehrlichen und offenen Charakter entsprungen. Ihre dunklen Haare waren nicht so lang und kräftig, wie die seiner Frau und sie trug diese streng nach hinten zu einem kurzen Zopf geflochten, trotzdem bemerkte er ihren Glanz, der nicht unbedingt von harter Arbeit zeugte.
Sebastian trat vor sie hin und musterte sie aufmerksam. Ehrfurchtsvoll stand sie auf und blickte beschämt zu Boden. Das lange dunkelgrüne Überkleid schien sie nur zu tragen, um ein weiß darunter hervor schimmerndes, hoch geschlossenes Kleid hervor zu heben. Die beiden Kleidungsstücke schrieen sich im Kontrast zueinander regelrecht an und doch verliehen sie sich und ihrer Trägerin etwas sehr Elegantes, von fürstlicher Würde getragen.
Um die üppige Taille trug sie einen Metallgürtel, ähnlich dem Antaronas, doch mit wesentlich kleineren Scheiben bestückt. In ihren Nasenflügeln glitzerten zwei winzige Steinchen, wie kleine, vorwitzige Äuglein, ein typischer Schmuck, den meist Oranuti- Frauen trugen.
»Das ist Farasami, Herr.., seine gütige Hoheit hat sie bestimmt, euch in Kultur und Sprache zu unterrichten. Sie wird euch jeden Tag für zwei Zentaren Ival lehren«, informierte ihn sein Kammerdiener kleinlaut. Vermutlich ahnte er, wie Sebastian darauf reagieren würde. Denn schließlich kam er gerade vom König, der nicht ein Sterbenswörtchen von dieser Maßnahme erwähnt hatte.
»Farasami, aha.., nun dann kommt erst mal herein...«, forderte er das Mädchen auf, in sein Arbeitszimmer zu treten, und zu Frethnal gewandt, sagte er:
»Und ihr seht zu, dass ihr irgend etwas Schönes für das Fräulein hier besorgt.., vielleicht etwas Obst, oder so etwas!«
Frethnal entfernte sich und Sebastian sah sich seiner vermeintlich neuen Lehrerin gegenüber. Was sollte eine so junge Frau ihn schon lehren? Er kam sehr schnell auf den Gedanken, dass Bental eher vor hatte, ihn mit diesem viel zu jungen Ding von Antarona abzulenken, als dass sie ihm Ival beibringen sollte.
Ein wenig war er schon von Bental enttäuscht. Glaubte der wirklich, Sebastian würde diese billige Taktik nicht durchschauen? Es lag doch auf der Hand! Für wie einfältig hielt er ihn eigentlich?
»Also gut, Farasami.., zunächst einmal muss ich euch mitteilen, dass ich dieser Tage weder Zeit noch Muße besitze, irgend etwas zu lernen. Das konntet ihr freilich weder wissen, noch ist es an euch, sich darum zu sorgen! Aber da ihr nun schon einmal hier seid.., wie ist euch eigentlich eingefallen, dem Sohn des Königs die Kultur und Sprache seines Volkes nahe zu bringen.., ihr seid doch eine Oranuti.., oder irre ich mich da?«
»Ihr irrt nicht, gütiger Herr...«, antwortete sie mit kindlicher Stimme, »...ich bin eine Oranuti.., aber hier in Falméra aufgewachsen!« fügte sie nicht ohne Stolz hinzu.
»Mein Vater ist der Fürst der dritten südlichen Provinz von Oranutu, aber wir leben in Falméra und reisen nur selten in das Land seiner Väter. Ich spreche so gut Ival, wie Oranutu und ich kenne die Geschichten und Prophezeiungen beider Völker, Herr.« Sebastian lächelte sie freundlich an und stellte fest:
»Das, Farasami, will hier auch niemand bestreiten! Doch meint ihr nicht auch, dass eine Ival Kultur und Sprache der Ival und eine Oranuti Oranutu lehren sollte? Ohne, dass ich euer Wissen und eure Gabe in Zweifel ziehen will, aber glaubt ihr, dass ihr die Richtige seid, mich zu lehren?«
Sebastian sah ihr direkt in die Augen, was ihr mehr als unangenehm war, wie er schnell feststellte. Das Mädchen sah ihn verunsichert an, errötete stark und wagte nicht zu antworten.
»Wie alt seid ihr eigentlich, wenn die Frage erlaubt ist?« wollte er wissen. Noch immer blickte sie starr vor sich hin und Sebastian befürchtete, dass sie im nächsten Moment losheulen würde, so eingeschüchtert saß sie da.
»Na, na, na...«, versuchte er sie zu beruhigen, »...ich bin zwar Areos, der Sohn des Königs, aber deshalb braucht ihr noch lange nicht vor mir zu zittern! Sagt nur einfach, was ihr denkt, es wird euch dafür kein Leid geschehen.., versprochen!«
Im Grunde war Sebastian wütend genug, dieses arme Geschöpf mit Pauken und Trompeten hinaus zu komplementieren. Was hatte sich Bental nur dabei gedacht, ihm ein kleines Mädchen in seine Gemächer zu schicken? Glaubte er, Sebastian würde über ein unschuldiges Kind herfallen und seine Frau, Antarona, einfach so vergessen? Was war das hier.., eine Gladiatorenschule, in der die Kinder der Sklaven zur Kurzweil der Krieger dienten?
Basti musste sich sehr zusammen nehmen, um seinen Zorn vor der Kleinen zu verbergen. Sie war ohnehin schon so verängstigt, dass ihr die Tränen kurz vor den Augenschleusen standen. Er rückte einen Stuhl zurecht und setzte sich ihr schräg gegenüber. Vielleicht löste das den Bann der Furcht etwas, wenn er nicht über den monströsen Schreibtisch zu ihr herab sah, sondern sich mit ihr von gleich zu gleich unterhielt.
Gerade in dieser Sekunde kam Frethnal herein, eine große Schale mit bunten Obststücken in der Hand. Sebastian nahm ihm die Köstlichkeiten ab und schickte ihn mit einem deutlichen Blick wieder hinaus. Lächelnd stellte er die Schale vor dem Mädchen ab und ermunterte sie:
»Schaut.., dies ist alles für euch.., ihr dürft euch davon nehmen, was immer und so viel ihr davon begehrt! Und habt keine Scheu.., hier und solange ich da bin, wird euch niemand etwas tun!« Er wartete, bis sie sich zögernd von den Früchten nahm und fuhr dann fort:
»Und nun, wenn ihr mögt, sagt mir, wie alt ihr seid und was ihr hier wollt, ja? Dann will ich sehen, was ich für euch tun kann. Euer Vater wird nichts von alledem erfahren, was wir beide jetzt sprechen! Es bleibt allein in unser beider Gedanken!«
Sebastian setzte alle Trümpfe auf ein Blatt, denn er glaubte nicht mehr daran, dass Bental und der Vater dieses unbedarften Mädchens sie zu ihm geschickt hatten, um ihn die Kultur der Ival zu lehren. Aber wenn er die wahren Absichten Bentals ergründen wollte, musste er das Vertrauen des Mädchens gewinnen.
»Ich wurde vor dreizehn Wintern als zweite Tochter des vierten Hauses Nuharat geboren, gütiger Herr...«, fing sie leise zu erzählen an, »...mein Vater hat mich geschickt.., er hatte davon gehört, dass seine gütige Hoheit eine schöne Oranuti suchte, die sehr jung sein sollte und von hohem Stand. Er sprach sehr lange mit eurem Vater, seiner gütigen Hoheit und wenn ich euch.., also, wenn ihr durch mich...«, sie sah Sebastian hilflos und flehend an, »...ich sollte neben euch auf dem Thron sitzen und mein Vater würde ein Fürst dieses Landes werden.., wenn ich...«
Sie wusste nicht, wie sie es ausdrücken sollte, aber sie hatte schon genug gesagt. Sebastian ahnte bereits, was ihr nicht über die Lippen kommen wollte.
»Wenn ihr mir Kinder gebären könnt...«, beendete Sebastian ihren Satz, »...nicht wahr.., das hat man euch gesagt.. ist es so?« das Mädchen nickte beschämt und sah ihn bettelnd an.
»Gütiger Herr.., wenn ich meinen Vater enttäusche.., er hat gedroht, mich an Torbuks wilde Reiter zu verkaufen, wenn ich nicht folgsam bin.., er wird mich schlagen, bis ich hässlich bin und dann wird er mich...«
»Er wird nichts dergleichen tun...«, unterbrach er sie und versicherte ihr in väterlichem Ton, »denn ihr werdet folgsam sein! Wohl nicht ganz in seinem Sinne und auch nicht in dem des Königs.., aber in meinem!«
Sebastian schwebte eine Idee durch den Kopf, die erst noch reifen musste. Aber er wollte unbedingt diesem Mädchen helfen, ohne dass es dafür von seiner eigenen Familie mit noch Schlimmerem bestraft wurde und ohne dass der König in absehbarer Zeit dahinter kam.
Mit einer einladenden Geste ermunterte er Farasami, sich ungeniert der angebotenen Früchten zu bedienen und trat ans Fenster, um zu überlegen. Dreizehn! Sebastian schüttelte still und verständnislos den Kopf. Dieser König schreckte wirklich vor gar nichts zurück, um seine Ziele, oder die Zufriedenheit seines Volkes zu erreichen! Nun, diese eine Suppe wollte er ihm gründlich versalzen!
Farasami war definitiv keine Frage von nationalem Interesse! Hier ging es nicht mehr nur um das Opfer eines dreizehnjährigen Mädchens, das dieses für ihr Land, oder für ihre Familie erbringen sollte. Hier ging es um wesentlich mehr! Für Basti ging es zunächst um das Recht aller Kinder in diesem Land, ob nun Ival, oder Oranuti, sich frei vom Zwang unethischer Familieninteressen zu entwickeln und zu entfalten, so, wie er es sich eines Tages ebenfalls für seine Kinder wünschte, sollte Antarona ihm welche schenken.
Zweitens ging es darum, Machenschaften zu vereiteln, welche den Oranuti Gelegenheit gaben, das Volk der Ival immer mehr und immer massiver zu infiltrieren und ihre Gesellschaftsstruktur von innen heraus auszuhöhlen. Die Regierung dieser Insel, in Gestalt des Königs, schien solche Schachzüge auch noch zu unterstützen! Zuweilen fragte sich Sebastian, ob Bental die Absichten der Oranuti nicht erkannte, oder nur nicht sehen wollte?
»Farasami.., ich möchte euch etwas fragen...«, versuchte er die Kleine in beiderseitigem Interesse für sich zu gewinnen, »...würdet ihr euch freuen, in meine Dienste zu treten.., ich meine, in des ihr aus freiem Willen auf der Burg seid? Areos wird aber niemals Hand an euch legen und ihr werdet ihm niemals Kinder gebären.., doch das muss euer Vater zunächst nicht erfahren.., versteht ihr mich?« Sebastian bezweifelte, dass sie wirklich begriff, was er von ihr wollte und versuchte deutlicher zu werden:
»Unsere Väter, der Fürst des vierten Hauses Nuharat und Bental, König von Falméra und Volossoda wünschen, dass ihr mit mir, Areos, während der Mondläufe die Decken und Felle teilt und mir einmal viele Kinder gebärt. Schreit euer Herz so sehr vor Sehnsucht nach meinem, Farasami, liebt ihr mich wirklich so sehr, dass dies euer größter Wunsch ist?« Sebastian sah ihr tief in die Augen, die sie mit erröteten Wangen und peinlich berührt niederschlug.
»Gütiger Herr.., wenn es euer Wunsch ist, so will ich euch lieben und mein Herz mit eurem verbinden und es wird mein Wunsch sein, euch...«
»Farasami.., ihr sollt eure Gefühle nicht nach den Wünschen anderer und auch nicht nach meinen Wünschen richten...«, unterbrach er sie, »...und lasst bei den Göttern dieses gütiger Herr! Wenn ich das wäre, dann hätte ich hier schon einen ganzen Kindergarten sitzen!«
Den letzten Satz sagte er mehr zu sich selbst und so leise, dass Farasami kaum etwas verstand. Lauter fuhr er fort:
»Vertraut ihr mir, Farasami, ja.., wollt ihr mir so vertrauen, dass ihr mir sagt, was in eurem Herzen ist? Dann sagt mir, wo ihr am liebsten wäret! Sagt es mir jetzt, und bitte, nehmt keine Rücksicht auf den König, oder euren Vater, denn sie werden es nie erfahren! Die Worte, welche aus unserem Munde kommen, werden dieses Zimmer nie verlassen!«
Farasami sah Sebastian ängstlich an und er versuchte ein vertrauenswürdiges Lächeln hinzubekommen, was ihm aber unter diesen Umständen schwer fiel. Schließlich sprach sie leise:
»Am liebsten bin ich bei meinen I-vè-ne-ruun, bei meinen Großeltern, Herr. Sie haben einen großen Wasserwagen und fahren damit Bäume aus dem Land der wandernden Sonne dorthin, wo sie schläft. Ich bin gerne bei ihnen und sie sind sehr gut zu mir. Ich darf auf die Pfähle klettern, an denen die Windtücher hängen und kann über das große Wasser schauen. Manchmal darf ich den Wasserwagen lenken, das macht mir am meisten Freude. Mit meiner I-vè-neph-ti gehe ich zu vielen Markttagen in vielen Städten und wir tauschen Hölzer gegen bunte Tücher und schöne Kleider...«
Sebastian ließ sie weiter erzählen. Das Eis zwischen ihnen war endlich gebrochen. Doch er hörte ihr gar nicht mehr richtig zu. Seine Gedanken wanderten schon weit voraus. Dreizehn..! Dieses Kind hatte noch nicht einmal zarte Bande zu einem gleichaltrigen Jungen geknüpft!
Was für ein Vater musste das sein, der seine Tochter derart für seine Ziele missbrauchte? Was mit ihrer Mutter war, konnte sich Sebastian gut vorstellen. Wenn sie überhaupt eine eigene Meinung dazu hatte, so durfte sie diese wohl nie verlauten lassen, ohne dafür bittere Konsequenzen zu erfahren.
Am liebsten wollte Sebastian das Mädchen sofort wieder nach Hause schicken. Doch die Kleine tat ihm leid! Was würde mit ihr geschehen, wenn ihr Vater merkte, dass sie seine Erwartungen nicht so erfüllte, wie er es von ihr gefordert hatte? ...er wird mich schlagen, bis ich hässlich bin.., waren ihre Worte!
Verzweifelt überlegte Basti, wie er Farasami helfen konnte. Er musste sie irgendwie auf der Burg halten und ihrem Vater und Bental gleichermaßen Anlass zu der Annahme geben, sich für sie zu interessieren. Wie lange er das Spiel treiben konnte, ohne dass einer der beiden hinter seine Finte kam, blieb dabei völlig offen. Vielleicht aber gelang es ihm inzwischen, für Farasami eine andere Lösung zu finden.
Aber noch etwas anderes ging ihm durch den Kopf. Nämlich Farasamis Geschichte von ihren Großeltern, die mit einem Schiff Bauholz von Oranutu in den Norden von Zarollon verschifften. Möglicherweise waren es neben vielen anderen auch ihre Großeltern, die das Material für Torbuks Invasionsflotte transportierten. Vielleicht wusste dieses Mädchen mehr über dieses Geheimnis, als Arrak auf seiner Mission jemals würde herausfinden können!
Sebastian hieb sich selbst strafend die Handkante in den Nacken. Auf der einen Seite verurteilte er Farasamis Vater, auf der anderen dachte er nun selbst darüber nach, das Kind auszunutzen, um an die nötigen Informationen zu gelangen. Plötzlich war sie eine Frage von nationalem Interesse! Mehr noch.., sie wurde indirekt zu einem Objekt der nationalen Sicherheit, der Sicherheit von ganz Falméra!
Was sie möglicherweise wusste, konnte unter Umständen die Geschichte dieses Landes verändern! Basti dachte noch weiter. Wenn sie tatsächlich das Wissen besaß, das Bental von einer geplanten Invasion Torbuks und einem geheimen Bündnis zwischen Oranutu und Quaronas überzeugen konnte, so war es leicht, von ihm schützende Optionen für das Mädchen zu erbitten. Dabei lief sie allerdings Gefahr, ihre Familie zu verlieren! Hatte Areos das Recht, oder sogar die Pflicht, das Glück eines einzelnen Mädchens für die Sicherheit einer ganzen Nation zu opfern? Hatte Sebastian Lauknitz das Recht dazu? Moralisch ganz sicher nicht!
Aber was wog mehr, was stand höher.., Glück und Freiheit einer Einzelnen, oder Interessen und Sicherheit einer ganzen Gesellschaft? Eine Frage, die sich Sebastian Lauknitz auf seinem Baugerüst nie stellen musste. Plötzlich war sein Gewissen gefragt. Sein Herz und sein Verstand waren gezwungen, eine solche Entscheidung zu treffen!
Diese Frage konnte er, zumindest solange nicht klar war, was Farasami wirklich wusste, nicht einfach dem König antragen, der eben nicht nur ein geografisches Interesse an Farasami und ihrem Vater hatte. Bental wollte mit diesem Mädchen, das in seinem Aussehen vage Antarona ähnelte, auch Sebastians Interesse an seiner eigenen Tochter versiegen lassen.
Es war also seine, Sebastians Entscheidung! Und auf einem Mal verstand er, was der König mit einer einsamen Entscheidung meinte, als er sich genötigt sah, Sebastian als Areos einzusetzen. Es waren diese Entscheidungen, die einem niemand abnehmen konnte, die man nicht einmal mit jemandem teilen, oder über die man mit jemandem darüber beraten konnte, weil niemand die Hintergründe erfahren durfte!
Sebastian spürte plötzlich die Last dieses Urteils und stellte ernüchtert fest, dass er sich nicht mehr in die Rolle des Bauarbeiters flüchten konnte, der sich über die Entscheidungen von Regierungen aufregte, die Verantwortung aber anderen überließ. Er trug nun selbst mit einsamen Entscheidungen die Verantwortung für ein Volk, wenn auch noch nicht direkt! Und Farasami, wenn sie auch nicht zum Volk der Ival gehörte, war zumindest ein Teil seiner Gesellschaft!
»...und mein Großvater erzählt mir oft Geschichten aus der alten Zeit, als der Gottvater noch über Oranutu wachte und auf den versunkenen Inseln herrschte.« Farasami hatte ihm beinahe ihre ganze Lebensgeschichte erzählt und Basti kam sich ziemlich schäbig vor, weil er ihr nicht zugehört hatte.
»Farasami, ich möchte gern von euch wissen...«, versuchte er aus ihr heraus zu locken, »...ob ihr euch vorstellen könnt, in den Dienst des Hofes von Falméra zu treten. Euer Vater und der König werden glauben, dass sich unsere Herzen verbinden und sie werden euch in Ruhe lassen. In Wahrheit aber werdet ihr mir nur vom Leben der Oranuti erzählen, von ihren Göttern und mir nebenbei bei meiner Arbeit helfen. Das aber wird unser Geheimnis sein! Und wenn es euch beliebt zu gehen, so werde ich euch ohne Bedingungen frei geben! Nun, was haltet ihr davon?«
»Herr.., werde ich trotzdem, wann immer ich mag, meine I-vè-ne-ruun sehen dürfen?« fragte sie vorsichtig. Sebastian musste lächeln und beruhigte sie:
»Wann immer ihr möchtet, werde ich dafür sorgen, dass ihr zu ihnen könnt, ich werde euch sogar zu ihnen bringen lassen, wenn dies euer Wunsch ist«, versprach er ihr.
Basti schämte sich, denn er dachte bei seiner Zusage nicht ganz uneigennützig. Ihm war sofort klar, welche Gelegenheit sich dadurch bot, dass er stets aktuelle Informationen über die Schiffswege zwischen Oranutu, Falméra und Zarollon erhielt, wenn er Farasami regelmäßig zu ihren Großeltern reisen ließ.
»Dann wird Farasami bei euch sein, Herr.., und euch in allem dienen, was ihr verlangt«, schwor sie. Sebastian nahm ihre Hände und zog sie sanft von ihrem Stuhl hoch.
»Ihr dürft nun gehen, Farasami...«, beschloss er, »...geht zurück zu eurer Familie und berichtet eurem Vater, dass ihr Areos Wohlwollen habt und seid morgen zur vierten Zentare der Sonne wieder in meinen Gemächern. Sollte ich auf mich warten lassen, so bleibt bei Frethnal, bis ich für euch Zeit habe!« Farasami wollte sich schon verabschieden, als er sie noch einmal zurückhielt:
»Ach.., und die Schale mit den Früchten dürft ihr mitnehmen, zur Empfehlung an euren Vater!« Das Mädchen verließ das Arbeitszimmer und wurde von Frethnal fort geführt.
Sebastian war mit seinen Gedanken allein und dachte noch einmal über alles nach. Plötzlich ertappte er sich dabei, dass er ebenso wie Bental, mit hinter dem Rücken verschränkten Händen vor den Fenstern auf und ab schritt. Wie kurz war doch der Weg vom Stuckateur zum Krieger und von dort zum besorgten Landesvater! Er besaß noch nicht einmal Bentals volles Vertrauen, zermarterte sich aber schon das Gehirn über das Wohl des Volkes!
Eigentlich wollte Sebastian den Rest des Tages dafür nutzen, sich weiter den Weg in Antaronas Gemächer frei zu schnitzen. Denn ohne Antarona wollte er weder Krieger, noch Areos und schon gar kein besorgter Landesvater sein. Das Glück, mit ihr zusammen zu sein, war überhaupt Voraussetzung für den Mut, für die Motivation, die er für so große Aufgaben aufbringen musste!
Durch Farasami hatte er nun wenigstens zwei Stunden verloren. Er wollte jedoch unbedingt noch an diesem Tag durch die Tür gelangen! Erstens lag noch eine weitere Tür vor ihm, zweitens würde er am nächsten Tag kaum noch Gelegenheit finden, an der Freilegung des Schlosses weiter zu arbeiten. Zu viele Aufgaben warteten auf ihn! Dann blieben ihm nur noch die Nächte. Und je länger er brauchte, um Antarona wieder in seine Arme schließen zu können, desto unausgeglichener war er und desto mehr Fehler unterliefen ihm.
Frethnal kam zurück und Sebastian machte ihm deutlich, dass er nach der überraschenden Einlage mit Farasami nun nicht mehr gestört werden wollte, um in Ruhe seine Landesaufnahme vorzubereiten.
»Aber euer Mittagsmahl, Herr.., was wird damit?« Sebastian hatte gar nicht mehr daran gedacht und im Grunde verspürte er gar keinen Appetit. Er war viel zu versessen darauf, die Tür zum Türmchen auf zu bekommen, als dass er sich zu einem gemütlichen Mahl niederlassen konnte.
»Frethnal.., es genügt, wenn ihr läutet. Ich kann es hören und zwischendurch speisen, wenn ich Zeit habe. Stellt nur alles hin, dann könnt ihr gehen. Ich werde euch nicht mehr brauchen.., auch zum Abend nicht mehr. Wenn also nicht gerade die Burg in Flammen steht und abbrennt, wäre ich euch dankbar, wenn ihr mich ungestört arbeiten lasst!« Der Diener verbeugte sich und wollte sich schon zurückziehen, als Sebastian anfügte:
»Ach und.., Frethnal, ihr haftet mir persönlich mit eurem Kopf dafür, dass niemand Feuer legt!« Frethnal grinste breit und verschwand.
Sebastian verlor keine Zeit mehr. Ohne Aufenthalt begab er sich in das Lesezimmer mit den beiden Türmchen, rückte den Schreibschrank von der Tür fort und holte sein Werkzeug unter dem Regal im Archivraum hervor. Unverzüglich machte er sich an die Arbeit.
Fieberhaft drückte er die Klinge in das harte Holz, wieder und immer wieder, bis die schon vorhandenen Blasen an seinen Handflächen aufgingen. Er wickelte sich etwas Stoff um die Hände und schnitzte weiter, Millimeter um Millimeter. Zwischendurch würgte er sein Essen hinunter und empfand es als eher lästig.
Nach fast drei Stunden fuhr der Dolch endlich zum ersten Mal durch das Holz hindurch und blieb stecken. Mit aller Kraft musste Sebastian ihn wieder aus dem Schlitz ziehen. Doch von da an wurde es leichter. Er grub die Klinge ins Holz und schob sie zum Durchbruch hin. Die Späne, die sich lösten wurden größer und nach einer weiteren Stunde hatte er es beinahe geschafft.
Das Schloss mitsamt seinen Beschlägen hing nur noch oben und unten an der Türkante an ein paar Holzfasern und wackelte schon etwas. Vorsichtig steckte er die Klinge hindurch und hebelte das ganze Teil langsam nach innen. Es knackte und knirschte so laut, dass er schon befürchtete, die gesamte Dienerschaft der Burg damit auf den Plan zu rufen.
Ab und zu hielt er inne und lauschte. Als nichts geschah, bog er das große Holzstück mit den schweren Eisenteilen weiter. Es klemmte! Die letzten Holzstränge hielten gut und das heraus geschnitzte Teil wollte mit seiner hinteren Kante nicht durch die Öffnung gehen. Sebastian musste das beschlagene Teil herausdrücken und gleichzeitig mit dem Dolch weiter bearbeiten, bis es sich ganz herausdrehen ließ.
Ein Knacks, der durch das ganze Türmchen hallte, dann hielt er das Schloss in den Händen und war überrascht, wie schwer es war. Das Ding wog gute drei bis vier Kilogramm! Basti legte es auf den Boden und zog vorsichtig die Tür auf.
Die Scharniere waren so eingerostet, dass jedes Knacken wie ein Pistolenschuss durch das Treppentürmchen hallte. So ging das nicht! Er hatte sich nicht zwei Tage lang die Hände blutig geschnitzt, um nun sein Geheimnis durch lautes Knarren preis zu geben. Sebastian erinnerte sich, in den Waffenräumen Krüge mit einem seltsamen stinkenden Öl gesehen zu haben.
Er tränkte ein Stück Stoff damit und wrang es über den Scharnieren aus. Dann bewegte er die Tür in kurzen, schnellen Bewegungen hin und her, bis sie keinen Laut mehr von sich gab. Er war durch!
Bevor er die Treppe hinauf stieg, beseitigte er noch alle Spuren so gut es ging. Die Späne flogen aus dem Fenster und verteilten sich über dem Umflutgraben, das Schreibpult zog er so weit wie möglich an die Tür heran, zuletzt ließ er den Vorhang herab. Das Werkzeug nahm er gleich mit.
Leise, auf jede Überraschung gefasst, schlich er die schmale und enge Wendeltreppe hinauf und musste aufpassen, dass er nicht daneben trat. Die Stufen waren so ungewohnt klein und steil, dass er den Fuß nicht ganz darauf setzen konnte. Einmal unterbrach ein Fensterchen ohne Glas die eintönige, gebogene Wand. Es war vielmehr nur ein Schlitz, tief in das Mauerwerk eingelassen und schien lediglich der Belüftung zu dienen.
Oben angekommen, stellte Sebastian fest, dass der zweite Part ein wesentlich schwereres Stück Arbeit werden würde. Die Treppenstufen endeten ohne Podest oder Absatz direkt an der Tür. Hier musste er, während er schnitzte, ständig auf den schmalen Stufen halt suchen und konnte deshalb nicht viel Druck auf das harte Holz ausüben. Ein Gerüst wäre von großem Vorteil gewesen, doch das blieb Wunschdenken.
Also begann Sebastian seine monotone Arbeit ein Stockwerk höher von Neuem. Gegen Abend ließ er sich noch einmal im Korridor sehen, wo ihm sofort Frethnal über den Weg lief. Es sah so aus, als hätte der nur auf das Erscheinen seines Herren gewartet. Basti wies ihn an, die Fackeln in den Fluren an diesem Abend nicht zu entzünden und betonte noch einmal, dass er seiner Dienste nicht mehr bedurfte.
Dann zog er sich in das Türmchen zurück und begann seine einsame, schwere Arbeit. Dabei musste er ständig die Stellung wechseln. Mal tat sein Fuß weh, dann der Rücken, zu guter letzt schlief ihm noch das Bein ein, auf das er sich gestützt hatte, um nicht die Stufen hinunter zu poltern. So ließ er die Klinge Stunde um Stunde um den Türbeschlag fahren. Als es dämmerte, holte er sich ein kleines Licht, um wenigstens das Nötigste sehen zu können.
Immer öfter musste er sich kreuzlahm ausruhen und saß dann ausgepumpt und resigniert auf den winzigen, kalten Steinstufen, im Glauben die Klinge nicht auch nur einen Zentimeter mehr anheben zu können. Doch der Wille, seine Sehnsucht nach Antaronas Liebe zu stillen, ließ ihn mit immer längeren Pausen immer weiter machen und es war bereits viele Stunden dunkel, als er schließlich aufgab.
Schloss und Beschläge der Tür waren jedoch nicht einmal zur Hälfte frei geschnitzt. Er würde mindestens noch einen Tag und eine Nacht brauchen. Dabei taten ihm Hände, Arme und Rücken bereits so weh, dass er glaubte, unter eine Herde wilder Büffel geraten zu sein.
Müde und mit schmerzenden Gliedern schlich er die Treppe hinab, zog die Tür zu, verkeilte das Schloss mit Holzstücken aus dem Kamin und ließ den Wandbehang darüber gleiten. Plötzlich hörte er im Nebenraum Dielen knarren! Sebastian erstarrte, wagte kaum zu atmen. Er duckte sich hinter den Schreibtisch und lauschte.
Ganz deutlich hörte er, wie leise Schritte dahin schlichen und hier und dort einer Diele ein kaum hörbares, ächzendes Geräusch entlockten. Da! Wieder! Es kam aus dem angrenzenden Archivraum, dessen Tür Sebastian nur angelehnt gelassen hatte!
War das Frethnal, der sich da mitten in der Nacht durch seine Gemächer stahl? Klack! Eine Tür fiel leise ins Schloss. Stille. Der nächtliche Wanderer war entweder rechts in der angrenzenden Bibliothek, oder links im Zimmer zum großen Südturm verschwunden.
Wer immer es auch war, der würde sich wundern! Sebastian umfasste das kurze Schwert, das er zum Schnitzen benutzt hatte, fester. Leise und schnell huschte er durch das Zimmer und durch Archivraum. Lauschend verharrte er an der Tür. Dass auch unter seinen Füßen die Dielen knarrten, störte ihn nicht. Dieser Spion sollte ruhig wissen, dass er entdeckt war!
Sebastian packte den Riegel, riss die Tür zur Bibliothek mit einem Ruck auf, sah für einen winzigen Augenblick eine geisterhafte, wehende Gestalt und hörte gerade noch, wie die gegenüber liegende Tür zum Vorzimmer ins Schloss fiel. Nun hatte er ihn! Ohne noch auf Geräusche zu achten, hetzte er hinterher.
Während er einen Leuchter entzündete, horchte er an der Tür. Der große Schleicher musste sich noch im Vorzimmer befinden, denn Sebastian hatte keine Tür mehr klappen gehört. Er holte tief Luft, dann rammte er das Kurzschwert mit der Spitze in den Boden, zog mit Schwung die Tür auf, ließ sie gegen die Wand krachen, schnappte sich gleichzeitig wieder sein Schwert und stürmte in das schmale Vorzimmer.
Das Ganze war eine Sache von zwei Sekunden, dennoch schlug ihm gähnende Leere entgegen! Ohne zu zögern öffnete Basti die nächste Tür und stand im verlassenen Korridor. Lähmende Stille. Keine Schritte mehr, nicht einmal ein Dielenknarren. Das konnte nicht sein! Wo war der Kerl hin?
Wenn es kein Gespenst war, das sich in Luft auflösen konnte, musste er irgendwo geblieben sein. Er hatte doch deutlich gesehen, wie der Flüchtende im Vorzimmer verschwunden war! So schnell war kein Mensch, dass er sich hätte über den Flur verdrücken können, ohne Lärm zu verursachen!
Sebastian stand im Türrahmen zwischen Flur und Vorzimmer, regungslos, die Ohren gespitzt, und wartete. Nichts. Kein Knarren, kein Rascheln, auch nicht aus der Bibliothek! Wie vom Erdboden verschluckt!
Wie konnte das sein? Niemand, der aus Fleisch und Blut war, konnte in diesem alten Gemäuer ohne verräterische Geräusche einfach vor seiner Nase verschwinden! Er musste also noch da sein.
Das Schwert erhoben, leuchtete Basti in jeden Winkel, vorsichtig und leise, um beim geringsten Laut, bei jeder Bewegung sofort reagieren zu können. Nichts. Er war allein! Hatte er sich das alles nur eingebildet? War er schon so übermüdet, dass er Dinge zu hören und sehen begann, die es gar nicht gab?
Oder war es tatsächlich ein Geist, der mit ihm sein Narrenspiel treib? Quatsch! Es gab keine Gespenster! Aber es gab ja auch keine Drachen! Wieso sollte es in einer Welt, in der Gore, Robrums und Eishunde, Elsiren und hundert Meter hohe Bäume niemanden aufregten, nicht auch flüchtige Schlossgespenster geben?
Sebastian schüttelte den Kopf, um diesen Unsinn aus seinen Gedanken zu verbannen. Anscheinend begann er langsam überzuschnappen! Wenn das so weiter ging, landete er eher in der Psychiatrie, als bei Antarona. Vielleicht hatte er sich von seinem eigenen Schatten ins Bockshorn jagen lassen!
An sich selbst zweifelnd wanderte er durch die stillen, dunklen Zimmer in sein Schlafgemach und wollte sich schon ins Bett plumpsen lassen, als ihm einfiel, was er in der Nacht zuvor in seinen Decken fand. Er ließ einen Leuchter aufflackern und starrte überrascht, aber erfreut auf den Gegenstand auf seinem Kopfkissen.
Fein säuberlich hindrapiert leuchtete ihm die weiße Muschelkette entgegen, die Antarona stets um den Hals trug. Also war sie wieder hier! Zornig schleuderte Basti den Leuchter auf den Boden und stand im Dunkeln. Was für ein Idiot er doch war! Kratzte die ganze Nacht sinnlos an einer Tür herum, um zu seiner Geliebten zu gelangen und verpasste sie, die offenbar längst einen Weg zu ihm gefunden hatte.
Vor Enttäuschung trat er wütend gegen den Bettkasten, dass der Baldachin wie bei einem Erdbeben erzitterte. Das durfte doch wohl nicht wahr sein! Seine Verzweiflung war so groß, dass seine Tränen nicht mehr zurückhalten konnte. Alles bloß wegen diesem dämlichen König, der ihre brennende Liebe nicht akzeptieren wollte! Wenn er Bental jetzt zu packen kriegte, er würde ihm auf der Stelle den Hals umdrehen und zusätzlich noch grün und blau prügeln!
So wütend war er, dass er unbändige Lust verspürte, sich ein großes Schwert zu holen und alles kurz und klein zu schlagen, was ihm in die Quere kam. Was sollte er mit dreißig Zimmern voller Zierrat und Tinnef, wenn ihn die Sehnsucht nach Liebe aushöhlte, ihm wie ein glühendes Schwert in den Bauch fuhr und ihn von innen heraus verbrannte?
Missmutig trat er einen Stuhl zur Seite, der knallend umfiel. Diesen ganzen Schrott brauchte er nicht! Er wollte Antarona, nichts weiter und sie wollte ihn! Sie brauchten nichts anderes, als ihre Liebe! Sebastian verfluchte den Tag, an dem er die Idee hatte, diesen Ignoranten von einem König um die Autonomie Val Mentiérs zu bitten. Was hatten sie nun davon? Eingesperrt waren sie! Wie Vieh eingepfercht und voneinander getrennt! Und er, Sebastian, machte sich auch noch daran, diese verrotteten Mauern zu vermessen, die ihn von Antarona trennten!
Über diesen Gedanken geriet Sebastian derart in Zorn, dass er alles, was nicht niet und nagelfest, was greifbar war, mit lautem Gepolter durch den Raum feuerte. Erschöpft fiel er endlich auf das Bett, nahm Antaronas Kette, roch gierig daran, umklammerte sie fest mit der Hand, und schlug sich die Faust immer wieder gegen den Kopf. Die Wut auf sich selbst und auf die ganzen Umstände, die ihre Liebe immer wieder unnötig verhinderten, trieben ihm die Tränen in die Augen, bis ihn irgendwann die Müdigkeit erlöste...

Donnernd rauschte der Wasserfall in die Tiefe. Erste Sonnenstrahlen schossen durch die Wipfel der Bäume auf den Bergrücken, standen wie starre Lichtbahnen in der Luft und brachen sich in tausendfachem Glitzern im Nebel, der gemächlich von der weißen Säule des Falls weg zog. Kleine Dunstschwaden zogen aus der Tiefe der Schlucht herauf, durch die sich der Umflutgraben der Burg wand.
Einzelne Stimmen der Vögel begrüßten den neuen Tag, verhalten erst, dann laut und klar, als wären sie es, die das Land zum Leben erweckten. Bald aber drang von den hohen Waldhängen der umliegenden Berge ein tongewaltiges Konzert herüber, das selbst den Bach in der Tiefe überflügelte und keinen Zweifel darüber aufkommen ließ, welche Spezies den Tag begründete.
Antarona stand auf dem Freisitz des Südsalons und blickte in die Weite. Sie hatte von Ba - shtie geträumt, von einer besseren Zeit in ferner Zukunft. Was ihr die Mutter der Nacht zeigte, was ihr sehnlichster Wunsch war, hatte sie nicht mehr einschlafen lassen.
Etwas Geheimnisvolles, Unerklärliches lockte sie auf die Freiterrasse, etwas, dem sie wie einem Ruf durch Sphären hindurch, folgen musste. Es war, als geboten ihr die Götter selbst, ihr Herz und ihre Sinne zu öffnen, für eine Botschaft, die nur sie empfangen konnte.
In ihr hatte sich eine Unruhe ausgebreitet, deren Ursache sie nicht einordnen konnte. Wieder hatte sie sich Zugang zu Ba - shties Gemächern verschafft, wieder war von ihm nichts zu entdecken. Noch dazu wäre sie beinahe entdeckt worden! Irgend jemand war ihr dicht auf den Fersen, als sie im letzten Moment in der Luke des geheimen Ganges verschwinden konnte!
Aber wo war Ba - shtie? Hatte Bental ihn bereits in eine Schlacht gesandt? Oder saß er hilflos im Kerker? Wenn sie doch nur ihren Stein der Wahrheit hätte! Ohne ihn und ohne Tekla und Tonka war sie blind, trotz all ihrer Fähigkeiten!
Oder doch nicht? Sie konnte ja inzwischen sogar Vesgarinas Gedanken spüren! Würde sie Ba - shties Sinne ebenfalls fühlen können, wenn sie sich nur genug anstrengte? Sie schloss die Augen und versuchte ihre Gedanken auf Ba - shtie zu konzentrieren. Doch etwas lenkte sie ab.
Von irgendwo aus dem Wald erklangen leise die Schläge einer Axt und das windverwehte Bellen eines Hundes. Antarona versuchte diese Geräusche nicht in ihren Kopf zu lassen. Vergeblich! Vor ihren Augen entstand ein Bild, dass nichts mit Ba - shtie zu tun hatte.
So sehr sie sich auch bemühte, dagegen anzukämpfen, es gelang ihr nicht. Sie sah mit ihren Sinnen. Auf einer Waldlichtung, die in schräg einfallende Strahlen getaucht war, in denen jedes Stäubchen zum Leben erwachte, erblickte sie einen Mann, der sich den Schweiß von der Stirn wischte.
Er stützte sich auf eine langstielige, zweischneidige Axt, blickte erst fasziniert in den Strahlenreigen der jungen Sonne, der sich wie tastende Finger seinen Weg durch das Blätterwerk der Bäume suchte, dann wieder zu seinem Hund, der übermütig herum sprang und nach einem Schmetterling schnappte, für den er jedoch viel zu langsam war.
Zufrieden spuckte der Mann in die Hände, verrieb die Feuchtigkeit, griff erneut beherzt in den Stiel seines Werkzeugs und setzte gezielt Schlag um Schlag in den Stamm, dass die Späne flogen. Die wurden nun für den Hund interessanter, denn sie blieben irgendwann im taunassen Gras liegen und boten ihm den Jagderfolg, den ihm der Falter nicht gönnte.
»Mach dich hinfort, sonst erwische ich noch deine Nase!« sprach der Mann zu seinem Hund, der immer näher heran sprang und nach den Spänen schnappte.
Antarona stand ohne jede Bewegung schweigend da und sah dem Mann bei der Arbeit zu, der irgendwo tief im Wald hinter zwei oder drei Berghängen, sein Holz schlug. Hohe Tannen, enge Schluchten und graue Felsschrofen lagen zwischen der Himmelsburg Falméra und der Lichtung, auf der jener seinem Tagwerk nach ging, der sie so sehr an ihren Vater erinnerte.
Plötzlich war die Axt verstummt, der Mann lag blutend im Gras und hielt sich mit beiden Händen das Bein. Sein Hund sprang aufgeregt bellend um ihn herum, denn er spürte, dass mit seinem Herrchen etwas ganz und gar nicht stimmte, er roch das frische Blut, sah das unübliche Verhalten und spürte, dass sein zweibeiniger Gefährte Hilfe brauchte. Doch sein Bellen verhallte ungehört in den Weiten der Wälder von Falméra.
Antarona löste sich aus der Trance, in die sie gefallen war und taumelte mit unsicheren Schritten zum Vorzimmer des Südsalons, in dem Vesgarina wartete und an einem Rock ihrer Herrin nähte.

Frohe Lieder von Singvögeln und das unverkennbare Krooh, Krooh der Schwarzvögel drangen an Sebastians Ohr. Es waren die einzigen Laute, die es wagten, die Stille eines geheimnisvollen Morgens auf der Burg zu stören; zumindest die einzigen, die er durch das halb geöffnete Fenster seines Schlafgemachs hören konnte.
Auf den Vorhöfen der Burg war das Handwerk bereits zum Leben erwacht und lärmte mit verschiedenen Geräuschen. Doch die konnte Sebastian auf der Ostseite nicht hören, wenn der Wind von den Zinnen der Burg weg über die Waldhänge strich.
Die Sonnenstrahlen suchten sich ihren weg in das Zimmer und an ein Weiterschlafen war nicht zu denken. Basti erhob sich von seinem Lager und spürte sofort jeden Knochen im Leib. Er hatte es eindeutig übertrieben, in der letzten Nacht. Etwas weniger wäre sinnvoller gewesen, dann hätte er auch Antarona nicht verpasst!
Hatte er eigentlich alles so hinterlassen, dass niemand hinter sein Geheimnis der geöffneten Turmtür kam? Er war sich nicht mehr sicher. Der nächtliche Herumtreiber, der ihn famos zu narren wusste, hatte ihn abgelenkt. Er musste rasch nachsehen, bevor Frethnal, oder gar Hekthur über Späne, oder über eine geöffnete Turmtür stolperte.
Sebastian fand alles zu seiner Zufriedenheit vor. Einer Eingebung folgend trat er in der spitzwinklige Turmzimmer und weiter in das Ringförmige Zimmer des Südturms, das wie ein Panoramazimmer angelegt war und in dessen Kern sich der Treppengang befand, der freilich bewacht war. Möglicherweise aber fand er eine Spur, die ihm verriet, woher sein Gespenst in der Nacht gekommen war.
Wie zufällig sah er aus den Fenstern, die einer Galerie gleich in den Turm eingelassen waren und blieb wie angewurzelt stehen. Dort oben, ein Stockwerk höher, auf der Terrasse seines Salon Talris, stand Antarona!
Er sah nur ihren Oberkörper, der Rest von ihr war von der Brüstung verdeckt, aber sie war es. Wie eine Statue stand sie da, reglos, den Blick auf die Wälder und Berge gerichtet. Sebastian klopfte aufgeregt an die Fensterscheibe, die aus vielen sechseckigen Segmenten bestand. Doch die in Blei gefasste Verglasung verhinderte jeglichen Klang.
Mit fliegenden Schritten stürmte er zurück in das Turmzimmer und weiter in den Salon Talris. Er riss die Tür zum kleinen Balkon auf und rief Antaronas Namen. Nein, er schrie ihn hinauf, damit seine Frau ihn auch ja hörte! Vergeblich. Statt dessen hörte er nur noch, wie eine Tür zugeschlagen wurde.
Zu spät! Er war wieder einmal zu spät gekommen und sie hatten sich wieder einmal verpasst! Es war zum verrückt werden! Eben stand sie doch noch auf dem Freisitz! Wieso fiel ihr gerade in diesem Augenblick ein, diesen wieder zu verlassen? Sebastian rief noch einmal hinauf und wartete. Doch Antarona schien die Tür geschlossen zu haben.
Niedergeschlagen und ein ums weitere Mal ging er enttäuscht in sein Schlafgemach zurück. Frethnal erwartete ihn bereits im Ankleidezimmer. Seine Anwesenheit ging ihm plötzlich auf die Nerven. Aber er selbst hatte dem Kammerdiener ja befohlen, am Morgen zur Stelle zu sein, um mit ihm die Vermessung der Landesaufnahme zu beginnen!
Seufzend nahm Sebastian seine Kleidung von Frethnal entgegen und verschwand im Bad. Wenigstens dort konnte er ungestört nachdenken...

Vesgarina ließ vor Schreck das Nähzeug fallen, als ihre Gebieterin ins Vorzimmer gestürmt kam, sie beim Handgelenk packte und mit sich fort zog.
»Ihr müsst etwas für mich tun.., sofort!« verlangte Antarona und dirigierte ihre Zofe ins Arbeitszimmer. Auf der Suche nach Papier und Tinte riss sie mehrere Schubfächer auf, bis sie das Gesuchte gefunden hatte. Schnell schrieb sie eine Nachricht auf das Papier, faltete es zusammen und erhitzte etwas Siegellack, der mit anderen Utensilien im Schreibschrank lag.
»Garina.., es ist wichtig, dass ihr euch eilt...«, wies sie ihre Zofe an und drückte das Siegel Falméras in den roten Wachs, »...bringt dies auf dem schnellsten Wege zu Genrath, dem Hauptmann der inneren Wache. Wenn er nicht am Tor ist, so sucht ihr ihn.., hört ihr? Gebt nicht nach und lasst euch nicht abweisen, bis ihr ihn gefunden habt.., und beeilt euch!« ermahnte sie das Mädchen und drückte ihr die Papierrolle in die Hand.
Ein wenig verwundert nickte das stumme Kammermädchen und eilte mit der wichtigen Nachricht davon. Antarona sah ihr nach und hoffte, dass Vesgarina nicht ihrer Erzfeindin Medunzia über den Weg lief, die sie womöglich aufhielt.
Sie verstaute das Schreibzeug wieder im Holztisch und begab sich erneut auf die hoch über der Schlucht gelegene Terrasse des Südsalons. Noch einmal versuchte sie sich zu konzentrieren, versuchte Ba - shties Sinne zu erreichen, so, wie sie die von Tekla und Tonka ebenfalls über größere Entfernung fand.
Irgend etwas schien jedoch wie eine unsichtbare Wand in ihrem Kopf zu sein, das sie nicht überwinden konnte. Antarona vermochte ihre Fähigkeit nicht zu lenken oder zu erzwingen. Ihre Gabe kam und ging, und sie hatte keine Macht darüber! Es kostete viel Kraft! Jeder Versuch, jedes anstrengende Bemühen, einen Weg durch die Sinne zu finden, machte ihre Augen müde und die Glieder schwer.
Ihre Beine begannen zu zittern und es war, als wich jegliche Kraft aus ihnen. Völlig ermattet lehnte sie sich an die Fassade und rutschte langsam daran herunter. Entspannt drehte sie sich in die Sonne und fühlte die harten, warmen Steine in ihrem Rücken, ihre Haut rieb sich am porösen Boden. Es machte ihr nichts aus.
Zusammengesunken saß sie an einer kleinen, die Fassade zierenden Säule, genoss Sonne und Wind auf ihrer Haut und machte die Augen zu. Sie hatte das Gefühl, dass ihr der Wind sanft zutrug, was sie sich selbst, auch unter größter Anstrengung, nicht in ihren Kopf holen konnte.
Sie vernahm das Schnauben und Wiehern von Pferden, das Rasseln und Klirren der Waffen und wieder das Bellen des Hundes. Dazwischen ratterten die Räder eines Holzkarren. In ihrem Kopf formte sich ein Bild. Der Mann lag auf Stroh gebettet, einen blutigen Verband um sein Bein. Der Holzkarren holperte über den Waldboden und schüttelte ihn kräftig durch. Freudig sprang der Hund zwischen den ruhig dahin gehenden Pferden herum und schnappte nach den Schwertern der Männer, die vom Sattelzeug herab baumelten. Und alles war gut!
Nein. Es war nicht alles gut! Sie hatte sich gewünscht, ebenso klar und deutlich Ba - shtie in ihren Gedanken sehen zu können. Der Stein der Wahrheit schien etwas von seiner Kraft auf sie übertragen zu haben, das hatte sie bereits erkannt. Doch war es nicht genug dieser Kraft, dass sie es kontrollieren konnte. Im Gegensatz zu ihrer Kugel war sie selbst nicht in der Lage, sich zu wünschen, was sie sehen wollte. Was sie sah, kam und ging einfach, völlig willkürlich!
Ihre Gabe, Dinge zu sehen, oder in die Köpfe anderer zu schauen, gelang ihr zudem nur bei Menschen, wie Vesgarina, deren Seele frei war von Lüge, Hass und Falschheit, deren Herz rein und unschuldig war. Dennoch gelang ihr mit ihrer Fähigkeit immer tiefer zu sehen. Es schien, als eröffnete ihr die Einsamkeit Blicke, von denen sie nie zu träumen gewagt hätte, als würden sich die Eigenschaften ihrer Kugel in ihrem Kopf ausbreiten.
Doch das, was sie sehen wollte, was ihr wirklich am Herzen lag, was ihre tief empfundene Sehnsucht ihr gebot, blieb ihrem inneren Auge verborgen. Ba - shtie wollte ihr einfach nicht in ihren Kopfbildern erscheinen. Sich darauf zu konzentrieren raubte ihr unendlich viel Kraft, die ihr wie gezogene Bänder aus den Gliedern wich.
Antarona dachte sehnsüchtig an den Mann, den sie vergeblich versucht hatte, mit ihren Gedanken einzufangen. Die Sonne wärmte, der Wind auf ihrem Gesicht beruhigte sie, ließ ihren Atem langsamer werden und übergab ihre Sinne der Mutter der Nacht, die am Tag ihre gütigen Hände nach ihrem Kopf ausstreckte und ihn leichter machte.
Ba - shtie trat aus dem Morgennebel heraus, ging auf sie zu und seine kräftigen Arme hoben sanft ihren Körper hoch. Leichter und leichter fühlte sie sich, schließlich glaubte sie zu schweben; dennoch spürte sie Ba - shties Hände, die weich über ihr Gesicht strichen, an ihrem Leib herab fuhren und sie warm und angenehm berührten. Sie hatte es geschafft! Ihre Sinne hatten sie zu ihm gebracht, hatten sich mit ihm verbunden!
Erleichtert schlug Antarona die Augen auf und blinzelte in die stechende Sonne. Eine Gestalt beugte sich wie ein Schatten über sie und drückte sanft ihren Arm. Vesgarina! Enttäuscht, fast schon ärgerlich setzte sie sich auf und sah das Kammermädchen an.
Dann erst bemerkte sie, dass sie völlig nass war, als hätte ein Regenschauer sie übergossen. Schweißperlen rannen an ihrem Körper herunter und sie hatte plötzlich das Gefühl einer unerklärlichen Freiheit, so, als hätte sie eine uralte Last aus sich heraus geschwitzt.
Vesgarina gab ihr die Nachricht zurück, welche sie ihr in Auftrag gegeben hatte. Noch nicht ganz wach, drehte Antarona das Papier und sah erst auf den zweiten Blick, dass jemand etwas dazu geschrieben hatte: Ihr habt einem Vater dreier Kinder das Leben geschenkt. Er dankt der guten Göttin der Himmelsburg. Sein viertes Kind soll zum Dank euren Namen tragen. Er fragt, welchen Namen er seinem Kinde einst geben wird. Genrath.
Antarona stand auf, klopfte sich den Staub der Terrasse aus dem Gewand und verbarg das Papier darunter. Ihre Enttäuschung verblasste hinter der freudigen Gewissheit, dass sie mit ihrer Gabe einen Mann des Volkes retten konnte. So viel Wohlwollen der Götter hatte sie nicht erwartet!
Plötzlich kam ihr die eigene Enttäuschung wie ein Verrat an den Göttern vor. Ihnen war vorbehalten, für wen oder was sie ihre Fähigkeiten benutzte! Wie anmaßend sie gewesen war, zu glauben, sie könnte ihre Gabe, die zweifellos ein Geschenk der Götter war, nur für ihr eigenes Seelenheil verwenden!
Nein! Der Weg zu Ba - shtie war ein anderer! Zu ihm führten die verborgenen Wege dieser Mauern. Auf diese Wege wollte sie sich vorbereiten. So lange wollte sie durch die Gänge gehen und ihren Liebsten suchen, bis sie in seine Arme sinken konnte. Und wenn es drei Monde dauerte! Doch diesmal wollte sie in seinen Gemächern bleiben, sich verstecken und warten. Dieses Mal wollte sie sich von niemandem vertreiben lassen!
»Los, Vesgarina, kommt.., ich will schön sein, so strahlend wie eine Elsire im Mondlauf!« Damit nahm sie ihre Zofe bei der Hand und schritt voll neuer Hoffnung durch die Räume zum Ankleidezimmer. Zunächst musste ihr die Zofe dabei helfen, festzustellen, ob das Elsirenkleid bei ihrem letzten, nächtlichen Ausflug Schaden genommen hatte. Bis auf ein paar schmutzige Stellen, die Vesgarina vorsichtig ausbürsten musste, war es unversehrt.
Dann wiederholte Antarona alles, was sie bereits am Vortag über sich ergehen ließ, um für ihren Ba - shtie die göttliche Verführung in Person zu werden. Sie badete mehrere Stunden in einem Sud verschiedenster wohlriechender Kräuter und Vesgarina musste ihre Haare sogar zwei Mal waschen und kämmen, bis diese so locker wie der Wind selbst über ihre Schultern fielen.
Zuletzt stellte sie sich für den Abend das Öl des Mondbaums zurecht. Den Körper damit eingerieben, verströmte die Haut einen betörenden Duft, welcher kein Männerherz standhaft bleiben ließ!
Nur wenige Kräuterweiber in den Wäldern kannten das Geheimnis seiner Herstellung. Antarona hatte es von der alten Waldlerin gelernt und oft seine Wirkung getestet, wenn sie einem schwarzen Pferdesoldaten eine Falle stellte. Sie hatte Herstellungsweise und Zusammensetzung viele Jahre lang verfeinert und wusste, dass kein Mann dieser Verführung widerstand. Vorausgesetzt, dass er ein Mann war!
Als es nichts mehr zu tun gab, warf sie sich ein sauberes, schlichtes Zweiteiler- Kleid über und wanderte wartend und träumend durch die Zimmer ihrer pompös ausgestatteten Gemächer. Zwischendurch erschien Vesgarina und verkündete ihr in der Sprache der Finger und Mimik, dass ihr Mahl serviert war.
»Ich kann jetzt nichts essen, Garina...« entschuldigte sich Antarona, »...geht nur hin, setzt euch an die Tafel und esst ihr es!« Vesgarina schüttelte den Kopf und strich sich mit gewölbter Hand über den Bauch.
»Ihr habt schon gespeist...«, interpretierte sie das Minenspiel ihrer Kammerzofe und schlug vor: »...so weiß ich etwas mit dem Mahl anzufangen! Tragt es auf die Terrasse des Südsalons.., dort warten viele hungrige Schnäbel auf einen Leckerbissen!«
Das Kammermädchen zeigte sein seltenes Lächeln und ging, den Vorschlag seiner Herrin auszuführen. Antarona setzte ihren Streifzug durch Zimmer und Flure fort und machte es sich zur Gewohnheit, durch jedes Fenster zu sehen. Sie waren ihre Blicke in die Freiheit, ihre Augen der Sehnsüchte und Erinnerungen.
Jedes Fenster bedeutete für Antarona die Flucht in ihre Welt. Diese Burg war nicht ihre Welt! Und immer häufiger dachte sie darüber nach, wie es werden würde, wenn sich Ba - shtie darauf einließ, das Volk an Bentals Seite zu führen.
Wenn erst einmal Frieden war.., wenn die Schlachten geschlagen waren und das Volk eine starke Hand brauchte.., was war dann? Würde Ba - shtie, wie er vor dem Rat der Acht verkündet hatte, die Macht an die Vertreter aller Dörfer und Städte abtreten und sich mit ihr ein Stück land nehmen, eine schöne, gemütliche Hütte bauen, mit ihr Kinder...
Vesgarina unterbrach Phantasie ihrer Herrin von einer schöneren, friedlicheren Zukunft. Kreidebleich, mit zu Tode erschrockenen Augen und entsetztem Gesicht stand sie plötzlich vor Antarona. Sie zitterte am ganzen Leib, als hätte sie einem Felsenbären ins Maul geschaut.
»Was habt ihr, Garina?« fragte Antarona, betroffen vom Anblick ihrer Zofe. Das Mädchen gestikulierte verwirrt hin und her, bis Antarona sie an den Schultern packte und kräftig schüttelte. Vesgarina wies wiederholt in Richtung des Südsalons. Ihre Aufregung wollte sich nicht legen und so beschloss Antarona:
»Los.., zeigt mir, was es dort so Furcht einflößend gibt!« forderte sie das Kammermädchen auf und schob sie vor sich her, dem Südsalon zu.
Die Tür vom Salon zum Freisitz stand offen. Auf der Mauerbrüstung hockten einige von Antaronas gefiederten Freundinnen, scheinbar unbeteiligt. Doch als Antarona auf die Terrasse trat, erstarrte sie bei dem Anblick, der sich ihr bot.
Die Schale mit ihrem Essen, welche sie Vesgarina auftrug, den Schwarzvögeln zu geben, stand auf dem Boden. Davor lag, wie vom Blitz getroffen, eine der Krähen. Sie war tot.
»Habt ihr gesehen, was geschehen ist?« wollte Antarona wissen. Vesgarina gab sich die größte Mühe, unter ganzem Körpereinsatz zu demonstrieren, wie das Tier verendet war. Demnach hatte die Krähe als erste von der Schüssel gefressen und war plötzlich, wie ein Stein umgefallen. Die anderen Schwarzvögel hatten den Tod ihrer Gefährtin gesehen und daraufhin den Appetit auf das angebotene Mahl verloren.
Antarona untersuchte das Essen, konnte jedoch nichts Auffälliges feststellen. Ein Schwarzvogel verendete nicht einfach so ohne Grund! Fragend sah sie zu den anderen Vögeln hinüber, die auf der Mauerbrüstung saßen. Sie konzentrierte sich und wurde eins mit dem Wesen dieser Vögel, zu denen sie einen ganz besonderen Bezug hatte.
Sofort wusste sie, dass von der Speise in der Schüssel Gefahr ausging. Sie fühlte, dass die Krähenvögel den Tod in diesem Essen spürten. Sie waren so klug, diese Schwarzvögel! Das Mahl war vergiftet worden, daran bestand kein Zweifel! Antarona ließ die Vögel durch ihre Gedankenkraft wissen, dass ihnen keine weitere Gefahr drohte.
Der Anschlag galt ihr! Erst der Angriff mit dem Messer, nun der Versuch, sie mit Gift umzubringen. Wer in dieser Burg hatte ein so großes Interesse daran, sie zu töten? War es Torbuks lange Hand, die sich nach ihrem Leben ausstreckte, oder war sie noch jemand ganz anderem im Wege?
Behutsam nahm Antarona ihre tote Schwester der Schwarzvögel in die Hände und legte sie auf die breite Brüstung der Mauer. Die Götter würden entscheiden, was mit ihrem Leib geschah! Ihr Geist war bereits bei ihnen im Reich der Toten! Vielleicht würde ihre Schwester Schwarzfeder irgendwann zurückkehren, so, wie Areos aus dem Reich der Toten zurück gekommen war.
Sie stand entspannt und mit geschlossenen Augen da und stimmte einen leisen Gesang an. Ein Lied, das von der Schwester mit den schwarzen Federn erzählte, von ihrem Leben und von ihrem Tod. Vesgarina verstand es nicht. Sie schauderte sich vor ihrer Herrin, die sich so seltsam, so geheimnisvoll benahm.
Allein die Schwarzvögel spürten die Verehrung für ihre Schwester, die aus den leisen Klängen sprach. Sie saßen auf der Mauerkrone, hielten mit dem Putzen ihres Gefieders inne und lauschten bewegungslos dem Singen ihrer aufrecht gehenden Schwester. Der Wind spielte mit ihrem Gefieder, wie er mit Antaronas Haaren spielte.
Die Zeremonie, die der Beschwörung böser Dämonen glich, war Vesgarina unheimlich. Sie begann zu frieren, zog sich in den Salon zurück und lief mit der nackten Angst in den Augen und in ihrem Herzen davon.
Nachdem Antarona die Seele ihrer Schwester losgelassen hatte, breiteten die Krähen auf der mauer wie auf Kommando ihre Flügel aus, ließen sich vom Wind anheben und segelten über die Schlucht des Umflutgrabens davon. Antarona blickte ihnen in Gedanken nach. Dann nahm sie die Schüssel und warf sie voller Zorn über die Mauer.
Wem außer Torbuk und Karek war sie so verhasst, dass er sie auf so hinterhältige Weise töten wollte? Jemand, der genau wusste, wie gut sie mit Waffen umzugehen wusste! Denn sonst hätte er sie zweifelsohne mit sehr viel weniger Aufwand in das Reich der Toten schicken können.
Ab sofort musste sie bei jedem Schritt auf der Hut sein, mehr, als sie es in den Wäldern war! Sie war sicher, dass es der Meuchelmörder bei nächster Gelegenheit wieder versuchen würde. Sie wollte es ihm so schwer wie möglich machen, wusste aber auch, dass er eindeutig im Vorteil war.
Ihr Gegner kannte sie, wusste um ihrer Gepflogenheiten, beobachtete sie möglicherweise. Sie selbst hingegen war blind! Als Gefangene dieser Mauern war sie ihm hilflos ausgeliefert. Wenn sie leben wollte, und bei den Göttern, das wollte sie, musste sie zu jeder Tages und Nachtzeit bewaffnet sein, nicht mehr schlafen und nicht essen!
Hinter jeder Tür, in jedem Schrank, in jedem Krug Wasser oder in jeder dunklen Nische konnte der Tod lauern. Er konnte sie in Gestalt eines Pfeils, oder in Form von Gift ereilen! Sie musste in jeder Sekunde wachsam sein, stets auf der Lauer nach einem möglichen Angreifer.
Sie fühlte sich so unbehaglich wie nie zuvor. Draußen in den Wäldern warnte sie das Gespür der Tiere, die Geräusche der Blätter und Gräser, zuweilen sogar der Wind und das Wasser, das vom Himmel fiel. Dort war sie eins mit allem, was sie umgab, denn alles lebte! In dieser Burg aber war sie umgeben von toten Dingen, die nicht mit ihr sprachen. Sie verrieten einen Mordbrenner nicht, wenn er ihr des Nachts im schwarzen Schatten eines der vielen Schränke auflauerte!
Entschlossen, sich jedem zu stellen, der ihr das Leben nehmen wollte, ging sie in den angrenzenden Raum zu ihrem Schlafgemach, der eigens zum Verschönern des Körpers und der Haare eingerichtet worden war, den sie aber nur als Ablage ihrer Dinge nutzte.
Sie suchte das kleine Messer aus ihrem Bündel und band es sich mit ledernen Schnüren an den Oberschenkel. Zusätzlich legte sie den Gürtel ihrer Mutter an und steckte den Dolch hinein, der ihr schon einmal zum Verhängnis werden sollte. Anschließend suchte sie Vesgarinas Gemächer auf, welche direkt nebenan lagen.
Das Kammermädchen saß zusammengekauert auf seinem Bett. Sie hatte Angst. Antarona nahm sie schützend in die Arme.
»Ihr könnt nichts dafür, Garina., euch will niemand ans Leben, ihr braucht euch nicht zu fürchten«, versuchte sie die Zofe zu beruhigen. Doch Vesgarina hatte Angst um sie, ihre gütige Sè whú Á-mis-rà! Antarona sah es in den Gedanken ihrer Kammerzofe.
»Ihr braucht euch nicht zu sorgen, ich bin jetzt gut gerüstet, gegen jeden Angreifer. Mein Mahl und mein Wasser werdet ihr künftig selbst für mich aus der Küche holen, Garina. Ihr werdet euch davon überzeugen, dass es aus den Kesseln kommt, aus dem auch die anderen speisen!«
Sehr wohl wusste Antarona, dass sie ihre Dienerin damit ebenfalls zur Zielscheibe derer machte, die sie auslöschen wollten. Sie musste nach einer anderen Lösung suchen! Bis dahin blieb ihr nichts weiter übrig, als Vesgarina zu vertrauen.
»Ihr werdet euch nun ausruhen!« bestimmte sie. »Heute werde ich eurer Dienste nicht mehr bedürfen, ihr könnt also tun, was immer ihr mögt!« Damit strich sie Vesgarina noch einmal mütterlich über den Kopf und schloss die Tür.
Dann wanderte sie ruhelos und nachdenklich durch die Räume. Ohne Ba - shtie war sie in diesen Mauern keineswegs mehr sicher! Ba - shtie.., Areos, hatte die Macht, sie zu beschützen, denn er war ja der Sohn des Königs. Oder würde er ebenfalls das Opfer des geheimnisvollen Meuchelmörders werden? Dass Torbuk sie beide in das Reich der Toten wünschte, war ihr klar. Doch wie weit reichte seine Macht innerhalb dieser Mauern?
Sie musste ihn warnen. Er war ebenso in Gefahr, wie sie selbst. Doch dazu musste sie erst einmal zu ihm gelangen! Ihre innere Stimme sagte ihr, dass sie Ba - shtie - laug - nids in dieser Nacht sah. Ein unerklärliches Gespür machte sie so sicher, dass sie auf der Stelle ruhiger wurde und nur noch aus reiner Liebessehnsucht dem Augenblick entgegen fieberte, wo sie Ba - shties Arme fest um ihren Leib spüren würde.
Auf ihrer Wanderung, um die Zeit bis zum Abend zu füllen, gelangte sie an das Ende des Westflügels. Links endete der Gang im Treppenturm, der, wie alle Türme bewacht war. Rechts befand sich zwischen zwei Pfeilern eine kleine unscheinbare Tür, die verschlossen war. Was verbarg sich dahinter?
Neugierig sank Antarona auf die Knie und spähte durch das große Schlüsselloch. Sie sah einen staubigen, langen Gang mit Bretterboden. Da! War da nicht eine Bewegung? Mehr das Huschen eines Schattens! Angestrengt lugte sie durch das zugige Loch, bis ihr das Auge tränte. Sicher gab es zu dieser Tür so eine eigenartig geformte Stange, die man durch das Loch steckte und drehte. Genau so sicher war aber auch, dass diese sich nicht in ihren Gemächern befand!
Wie bekam sie eine Tür auf, deren Öffnungsstange sie nicht besaß? Suchend sah sie sich um. Ihr Blick fiel auf ein paar ziemlich angerostete Dekorschwerter an der Wand, die von einem Eisenhaken über Kreuz gehalten wurden.
Schnell nahm sie die Waffen herunter, stellte eine in die Ecke und hebelte mit der anderen den Haken aus der Wand. Geistesgegenwärtig fing sie ihn auf, bevor er auf den Boden fallen und Lärm verursachen konnte. Das krumme Ende des Hakens versuchte sie in das Türloch zu stecken und erst sah es so aus, als würde er nicht hinein passen.
Doch etwas angewinkelt ging er hinein. Nun musste sie ihn nur noch drehen! So sehr sie sich auch bemühte, das Ding schlug an einer Stelle an und drehte sich nicht mehr weiter. Ihre Hände besaßen einfach nicht genug Kraft, um den Haken gegen das unsichtbare Hindernis zu drehen.
Fieberhaft überlegte sie, womit sie mehr Kraft auf den Haken ausüben konnte. Spontan fiel ihr der Kamin im Zimmer neben dem Südsalon ein. Dort gab es eine kräftige, langstielige Zange, mit welcher brennendes Holz gewendet wurde!
Antarona versuchte es erneut, setzte die Zange an und bewegte sie nach unten. Es gab ein hässliches Geräusch und sie glaubte schon, den Haken abgebrochen zu haben. Doch plötzlich schwang die Tür ein paar Zentimeter auf.
Sie wartete ein paar Sekunden, um sicher zu gehen, dass sie niemanden auf den Plan gerufen hatte, der ihr Vorhaben hätte vereiteln können. Erst dann schob sie vorsichtig die Tür auf, die in ihren Gelenken knarrte, als wollte sie sich brüllend gegen die Störung ihrer Ruhe beschweren.
Hoffnungsvoll trat sie in einen staubigen Korridor, der auch nicht annähernd etwas Geheimnisvolles verbarg. Außer jede menge Ratten, Mäuse und anderes Ungeziefer, dass in den Dörfern die Ernte der Bauern dezimierte. Wie eine flüchtende Armee flitzten die Nager in ihre Verstecke, wo immer auch Antarona einen Fuß hin setzte.
Der Boden war mit Brettern vernagelt und niemand hatte sich die Mühe gemacht, die Fugen zu schließen. Ein Paradies für die kleinen grauen Kobolde. Der Korridor erstreckte sich gut vierzig Meter weit und endete an einem zugemauerten Fenster. Links und rechts gingen kleine Räume ab, die nichts weiter waren, als Bretterverschläge, die man mit allerlei Gerümpel voll gestellt hatte, das anscheinend niemand mehr brauchte. Da lagen alte Schilde, verbogene und geborstene Lanzen, verstaubte Kinderwiegen, ganze Stapel von gedrechselten Hölzern und jede Mange Stühle, Tische und Kommoden.
Sie befand sich ganz eindeutig in jenen Räumen, die unter dem Dach lagen. Da diese Zimmer mit der verzweigten Holzkonstruktion nicht gut zu bewohnen waren, hatte man sie kurzerhand verschlossen und nutzte sie, um Dinge zu verwahren, die Antaronas Ansicht nach eher in den Kamin gehörten!
In einem Verschlag entdeckte Antarona Truhen, die Ballen von verschiedensten Stoffen enthielten. Bei jedem Deckel, den sie öffnete, schlug ihr ein fürchterlicher Gestank entgegen. Sie kannte diesen Geruch. Es war eine Pflanze, deren getrocknete Blätter die kleinen Plagegeister der Nacht fern hielten. Offenbar hatte man nicht gerade wenig davon in die Truhen gegeben.
In einem anderen Verhau fand sie, ebenfalls in Truhen eingelagert, Reste von verschiedenem Leder. Da war kräftiges, für das Zeug der Pferde und feines, für Waffenröcke, Kleidung und Fußkleider. Ein weiterer Raum war angefüllt mit Bildern. Künstler hatten auf verschieden großen Stoffbahnen die Hässlichkeit von Personen der Vergangenheit fest gehalten.
In jedem zweiten Bretterraum war eine Dachgaube bis an die Fassadenkante heran gebaut worden. Eine große Tür führte ins Nichts. Antarona öffnete aus Neugier hier und dort eine und blickte in schwindelnde Tiefe. Ein mächtiges schmiedeeisernes Rad war jeweils am Deckenbalken befestigt und ganze Batterien von schweren Eimern aus dem Metall der Waffen hingen rechts und links daneben.
Auf dem Rad lag ein gutes, brauchbares Tau, das man sauber aufgewickelt an Lederriemen darunter gehängt hatte, damit es die kleinen Bewohner dieser Zimmer nicht zernagen konnten. Sicher benutzte man das Tau, um Dinge zu den Dachräumen hinauf zu ziehen. Doch in solchen schweren Eimern? Antarona schüttelte den Kopf angesichts solcher Narretei.
Zwei Räume führten zu Treppentürmen. Antarona wagte jedoch nicht, die Türen zu öffnen. Die Türme waren mit Sicherheit bewacht und sie wollte nicht riskieren, entdeckt zu werden.
Zum Schluss sah sie sich noch die Bilder an, die aufrecht in Holzrahmen hintereinander gestellt waren. Die Bilder waren mal mehr, mal weniger gut gemalt. Blasse, tote Gesichter starrten sie an und sie beschränkte sich darauf, die Kleidung der jeweils dargestellten zu betrachten. Zum Teil waren es sehr hübsche und einfache Gewänder, in denen sich alte Könige, Fürsten und Heerführer zeigten.
Plötzlich lief ihr ein eiskalter Schauer über den Rücken. Ahnungslos hatte sie ein weiteres Bild zur Hand genommen und es beinahe vor Schreck wieder fallen lassen. Fassungslos starrte sie auf das Gemälde einer energisch drein blickenden Frau, das mit nur wenigen Farben gemalt war. Nicht aber die Person oder ihre Kleidung war es, die Antarona erstarren ließ.
Was in ihr Entsetzen auslöste, war etwas, das die Frau am Kleiderband trug. Sie trug denselben Dolch, der in Antaronas Gürtel steckte! Jener Dolch, durch den sie vor zwei Nächten den Tod finden sollte! Aufgeregt legte Antarona das Bild auf den Boden, zog den Dolch aus ihrem Gürtel und legte ihn daneben, um die Details zu vergleichen.
Jeder Zweifel schien ausgeschlossen. Der Dolch, den diese Frau auf dem Bild trug, war eben jener, durch den Antarona sterben sollte! Wer war diese Frau? War sie es, die Antarona so sehr bis aufs Blut hasste, um sie in das Reich der Toten zu schicken? Lebte diese Frau ebenfalls auf der Burg? Warum aber verbarg man dann ihr Bildnis in der Vergessenheit dieser staubigen Räume?
Zu viele Fragen waren es, auf die Antarona keine Antwort wusste. Eilig sah sie noch die restlichen Bilder durch, hoffte auf weitere Hinweise, fand aber nur noch weitere, unbekannte Ahnen von Königen, Göttern und Kriegern. Bei dem Bild eines jungen Mädchens hielt sie noch einmal inne. Die Augen kamen ihr bekannt vor! Doch so sehr sie darüber grübelte, sie konnte den Blick keiner ihr bekannten Person zuordnen.
Antarona schüttelte den Kopf. Sie starrte schon zu lange auf diese verstaubten Abbilder von Toten, so dass ihr Blick bereits getrübt war. Doch ihre innere Stimme sagte ihr, dass diese Augen sie erst kürzlich angesehen hatten! Sie betrachtete das Bild noch einmal näher und ihr fiel etwas auf, das dieses Mädchen auf dem Bild eine Kette mit Anhänger trug.
Es war nicht sehr deutlich gemalt. Der Anhänger, wahrscheinlich aus seltenem Mondmetall, schien eine gewundene Schlange, oder mehrere, in sich verwobene Schwerter darzustellen. So einen Anhänger hatte sie noch nie gesehen.
Beide Bilder stellte sie etwas abseits, um sie bei Bedarf sofort wieder zu finden. Dann wurde es allmählich Zeit, die Dachzimmer wieder zu verlassen. Zum einen wurde es inzwischen dunkel, so dass Antarona ohnehin nichts mehr erkennen konnte, zum anderen wollte sie vermeiden, dass jemand ihren Streifzug entdeckte, schon allein wegen des Bildes mit dem Dolch.
Das Schloss der Tür ließ sich nur mit der Gewalt der Zange wieder verschließen. Antarona nahm sich vor, Wagenfett zu besorgen, um alle Türen damit einzuschmieren, welche sie mit ihren durchdringenden Geräuschen verraten konnten.
Zurück im Ankleidezimmer bereitete sie sich auf ihren Geliebten vor. Ausgiebig rieb sie sich mit dem Öl des Mondbaums ein, bis ihre Haut matt glänzte und verheißungsvoll duftete. Dann legte sie sich das Elsirenkleid um, was bei dem wenigen, dünnen Stoff keine große Sache war. Zum Schluss behängte sie sich mit dem schweren Gürtel ihrer Mutter, in den sie den Dolch ihres geheimnisvollen Angreifers steckte. Sie richtete noch einmal die Federn in ihrem Haar und war dann bereit für die lang ersehnte Erfüllung ihrer Liebe!
Auf dem Weg zum Vorzimmer der Bibliothek übte sie noch einmal den aufreizenden Gang, den sie immer dann angewendet hatte, wenn es galt, einem von Torbuks Kriegern die Sinne zu nehmen, um ihn leichter töten zu können. Mit der Entdeckung, die sie bereits sehr früh machte, nämlich jene, welche Wirkung ihre Bewegungen auf Männer hatte, besaß sie eine Waffe, die für ihre zumeist männlichen Feinde gefährlicher war, als die Schneide eines Schwertes!
Sie hatte beobachtet, dass auch ihr Mann von den Göttern, Ba - shtie - laug - nids, sehr empfänglich für solche Reize war. Und sie wollte schonungslos alles einsetzen, um ihn nicht zu verlieren! Mit diesem Gedanken stieg sie durch die Luke in der Wandvertäfelung, hinein in die Dunkelheit der verborgenen Wege, die sie zu ihrem Liebsten bringen würden...

Während Sebastian in seine Kleider stieg, legte er sich einen Plan zurecht, wie er das erste architektonische Projekt seines Lebens beginnen sollte. Als Basis für sein Vorhaben bedurfte es eines genauen Grundrisses. Also musste er, entgegen seiner ersten Vorstellungen, im Erdgeschoss anfangen!
Als wichtigstes Werkzeug hatte er sich eine zwanzig Meter lange Leine auf einer drehbaren Holzspindel besorgen lassen. Aus dem Gedächtnis hatte er sich den Abstand eines Meters auf dem Fußboden aufgezeichnet und nach diesem Maß Knoten für ganze und halbe Meter auf der ganzen Länge der Leine gebunden.
Für einen Stapel Papier sowie Feder und Tinte war ebenfalls gesorgt. Was Sebastian noch brauchte, war ein Klemmbrett und großes, wirklich großes, gerolltes Papier! Doch das würde sich mit der Zeit finden. Dass er in diesem Land nicht einfach in einen Laden gehen, und die Dinge aus dem Regal nehmen konnte, war ihm inzwischen klar geworden.
Was er nicht wusste, war, wie er sich den Weg zu Antarona fertig frei schnitzen konnte, wenn er den ganzen Tag damit beschäftigt war, Land, Stadt und Burg zu vermessen, sowie Nachmittags noch Wachen und Heerlager zu inspizieren. Aber vielleicht war das ja die Strategie Bentals, ihn von Antarona fern zu halten? Obwohl..,
Die Vermessung der Burg war seine eigene Idee gewesen, um einen möglichen Weg in Antaronas Gemächer zu finden! Nun machte es keinen Sinne mehr. Doch er hatte Bental die Sache warm geredet und der würde nun nicht mehr locker lassen. Seufzend musste er es akzeptieren, wie es war.
Dabei kam ihm das erste Mal in den Sinn, wie unterschiedlich die Entwicklungsstufen dieses Landes waren. Er befand sich in einer Stadt, in einem Bauwerk, das er in seiner Welt dem sechzehnten oder siebzehnten Jahrhundert zugeschrieben hätte. Doch keine fünfzig Kilometer weiter begann ein Land, das abgeschiedene Täler besaß, in denen die Menschen lebten und sich kleideten, wie in der Steinzeit. In den Städten ausgereifte Architektur, in den Dörfern Holz-, Stroh-, und Lehmhütten ohne Fensterverglasung! Krasser konnte ein Unterschied nicht sein.
Auf dem Weg zum Lesezimmer, in das Sebastian seine Arbeit wegen des Zugangs zu den beiden Türmchen verlegt hatte, lief ihm Frethnal über den Weg.
»Herr, die Magd von gestern ist wieder hier.., sie sagt, ihr hättet sie geheißen, wieder zu kommen. Soll ich sie wieder fort schicken?«
»Ach ja.., die hatte ich ganz vergessen...«, erinnerte sich Basti, ...wie hieß sie doch gleich? Fetmani, Farasami..? Egal, bringt sie erst mal ins Beratungszimmer, bis ich alle Dinge beisammen habe. Und Frethnal.., bringt ihr Wasser und etwas zu essen!«
Sebastian suchte sich zusammen, was er für seine Arbeit brauchte. Dabei fiel ihm etwas in die Hände, das er ebenfalls vergessen hatte. Die Rolle mit Informationen über Tariz Eltern und denen ihrer Freunde. Auch darum musste er sich kümmern. Er hatte es den jungen Menschen versprochen.
Sie waren die Generation, die heranwuchs, die Hoffnungsträger und er brauchte ihre Sympathien! Manch unattraktiver Weg ließ sich bereiten, wenn man beim Volk beliebt war, das hatte sogar Bental angedeutet. Solche kleinen Gesten prägten sich bei den Einzelnen ein, werteten das Oberhaupt eines Landes Stückchen für Stückchen in der Beliebtheit auf.
Die Zeit drängte, trotzdem überflog Sebastian schnell den Inhalt des Papiers. Die Angaben waren jedoch so komplex, dass er die Rolle wieder zur Seite legte. Die Sache musste warten! Er musste sich etwas einfallen lassen, und das brauchte Zeit zum reifen! Sebastian bekam zwangsläufig eine Ahnung davon, was es bedeutete, ein Land zu regieren. Es war ein ständiges Schachspiel mit Prioritäten und Kompromissen!
Der nächste Kompromiss wartete schon, in Form eines jungen Mädchens, das unter seiner Obhut beschäftigt werden wollte. Sebastian trat ins Beratungszimmer, das sich im Nordflügel befand. Farasami erhob sich, verbeugte sich ehrfürchtig und sah ihn scheu an.
»Also.., das Verneigen lasst ihr künftig mal sein.., sonst bekommt ihr noch einen krummen Rücken«, bemerkte Basti etwas gereizt, denn er wusste beim besten Willen nichts mit diesem Kind anzufangen.
Er legte seine Vermessungsunterlagen auf dem Tisch ab und musterte Farasami von Kopf bis Fuß. Entgegen seiner Erwartung trug sie die typische Kleidung der Ival. Ein vorn hoch geschnürtes hellblaues Oberteil mit kurzen Ärmeln und Goldborte, sowie einen tief auf den Hüften sitzenden, langen und geschlitzten Rock gleicher Farbe. Ein langes, schmales Tuch bedeckte nur dekorativ ihren Bauch.
Solche Gewänder trugen die Ival in den Städten, oder an Markttagen, sofern sie nicht arbeiten mussten. Die Arbeitskleider hingegen waren einfacher, farbloser, ohne Zierrat und bedeckten auch die Bauchpartie. Sie waren praktisch!
Die Kleidung der Oranuti hingegen glich eher der Arbeitskleidung der Ival, mit dem Unterschied, dass die Gewänder bis zum Hals geschlossen waren. Das freizügige Präsentieren von Körperteilen war den Frauen der Oranuti verboten. Sogar die Haare mussten in der Öffentlichkeit nach einer bestimmten Weise aufgesteckt getragen werden. Dafür bestachen die bunten und schillernden Stoffe aus Oranutu, die inzwischen auch Ival- Frauen für sich entdeckten.
Sebastian vermutete, dass Farasami von ihrer Familie, speziell von ihrem Vater dazu genötigt wurde, ein gewagtes Kleid der Ival zu tragen, um dem Sohn des Königs zu gefallen. Sie trug betont offenes Haar und ein Stirnband, das ihre leicht gekräuselte Mähne halbwegs im Zaum hielt. Es war völlig klar, weshalb man sie Sebastian auf den Hals geschickt hatte! Er würgte seinen Unmut darüber hinunter und sprach:
»Farasami.., ich möchte euch, auch im Namen König Bentals, auf Burg Falméra willkommen heißen! Wenn es nach den Wünschen eures Vaters und denen des Königs geht, so teilt ihr mit mir das Schlafgemach. Doch dieser Vorzug ist einer anderen Frau vorbehalten.., ich will darauf auch nicht näher eingehen.« Sebastian setzte sich auf die Tischkante vor Farasami und teilte ihr weiter mit:
»Ich werde darüber nachdenken, welcher Ausweg sich für uns beide finden lässt. Bis dahin tretet ihr in meine Dienste und im Sinne eurer Zukunft werde ich euch dafür entlohnen. Je einen Quart am Tag werde ich für euch in ein Kästchen legen, das ihr am Ende mitnehmen dürft. Einen halben Quart erhaltet ihr täglich in die Hand.., was sagt ihr dazu?«
»Farasami wird tun, was immer von ihr verlangt wird, Herr«, antwortete sie und in ihrem Blick flammte die vage Hoffnung auf, sich zunächst nicht diesem Areos hingeben zu müssen. Sebastian bezweifelte jedoch, dass sie halbwegs wusste, worum es letztendlich ging.
Er musste ihr Schicksal in die Hand nehmen.., er, Areos von Falméra war nun für sie verantwortlich! Das konnte ja noch lustig werden, schoss ihm der pure Sarkasmus durch den Kopf. Von Antarona wünschte er sich Kinder und nun besaß er plötzlich eine fast erwachsene Tochter, die er seiner Geliebten erst einmal erklären musste und die diese möglicherweise auch noch als Konkurrenz betrachtete.
Sebastian Lauknitz lernte schnell und stellte fest: Der Sohn eines Königs zu sein, war ein ganz unattraktiver Job. Stuckateur war einfacher!
»Nun gut, Farasami.., ich denke, ich nehme recht an, dass ihr des Schreibens und des Lesens kundig seid.«
Sebastian fragte es nicht, er wollte statt dessen eine Bestätigung. Denn sie war ja unter dem Vorwand geschickt worden, ihn Kultur und Sprache zu lehren. Farasami nickte bestätigend und antwortete artig:
»Ich kann gut Schriften lesen und schreiben.., Ival und Oranuti, Herr.« Sebastian hatte nichts anderes erwartet und kam sogleich auf den Einfall, sie als eine Art Sekretärin zu beschäftigen. Sie half ihm bei seiner Arbeit und konnte zudem noch etwas lernen.
Seine Idee hatte nur einen einzigen Haken. Sie war eine Oranuti! Als seine Sekretärin hatte sie zwangsläufig Zugang zu Wissen, von dem er wollte, dass es den Oranuti verborgen blieb. Wer garantierte ihm, dass dieses naive Mädchen nicht alles preis gab, was sie sah und hörte? Denn hin und wieder würde sie ja ihre Familie besuchen! Was, wenn ihr Vater sie aushorchte, oder gar zu Spionage anstiftete?
Sebastian musste sich auch hier etwas einfallen lassen. Spontan ging er in das Vorzimmer, in dem sein Diener wartete.
»Frethnal...«, überrumpelte er den armen Mann, »...es gibt etwas zu tun! Farasami wird auf Burg Falméra bleiben und für mich einige Arbeiten verrichten. Natürlich habt ihr über alles zu schweigen, was sie betrifft.., auch vor dem König.., ist das klar?« Sebastian wartete, bis Frethnal ihm seine Loyalität bestätigt hatte, bevor er weiter sprach:
»Ihr werdet mir dafür sorgen, dass sie in den beiden Beratungszimmern wohnen kann.., das heißt, ihr besorgt für sie ein paar Kommoden, einen Tisch und Stühle und was Frauen sonst noch so brauchen. Das Besprechungszimmer richtet bitte so her, dass ich mit ihr dort die tägliche Arbeit verrichten kann. Der Raum daneben wird demnach das neue Beratungszimmer!
Und.., was noch wichtiger ist, Farasami hat Zugang zu allen Arbeits- und Beratungszimmern des Nordflügels und seines Korridors. Die Türen zu allen anderen Räumen bleiben ab sofort verschlossen. Nur ihr, Frethnal, und ich selbst werden einen Schlüssel haben! Wollt ihr das bitte veranlassen, ja? Und besorgt ihr als erstes ein Arbeitskleid, egal woher, aber bringt es bald!«
»Es ist bereits so gut, wie geschehen, Herr!« bestätigte Frethnal und entfernte sich, während Sebastian wieder zu Farasami zurück ging.
»Ihr werdet mich ab jetzt bei meiner täglichen Arbeit unterstützen und, wenn ich nicht bei euch bin, Aufgaben bearbeiten, die ich euch auftragen werde«, erklärte er ihr freundlich. »Eure Kleid ist wunderschön, doch für diese Aufgaben denkbar ungeeignet. Mein Diener besorgt euch bereits etwas anderes, Passendes.«
Sebastian wartete auf eine Reaktion Farasamis, doch das Mädchen schwieg. Sie sah ihn nur erwartungsvoll, aber auch ängstlich an und es war ihr anzumerken, dass sie sich vor dem neuen und Unbekannten, das auf sie zukam, fürchtete.
»Nun habt mal keine Angst...«, versuchte er auf sie einzugehen, »...so schlimm wird das alles nicht! Ich werde euch zwei Zimmer herrichten lassen, gleich nebenan, in denen ihr euch nach Belieben einrichten könnt. Braucht ihr etwas, so sagt es und ihr bekommt es! Habt ihr Fragen, so findet ihr am Ende des Flügels Frethnals Gemächer. Er wird euch stets helfen, wenn ihr etwas bedürft!«
Sebastian fragte das Mädchen nach ihren sonstigen Fähigkeiten aus und erfuhr von ihr, dass sie gerne Nozéru spielte. Dies war ein Musikinstrument, von dem ihm bereits Antaronas erzählt hatte, welches der ihm bekannten Blockflöte ähnlich sein sollte. Doch Sebastian hatte nie ein Nozéru gesehen.
Inzwischen war Frethnal zurückgekehrt und brachte für Farasami ein schlichtes Arbeitskleid. Er führte sie zum Umkleiden in eines der Beratungszimmer, die sie ja ohnehin beziehen sollte. Anschließend schickte ihn Sebastian voraus, um die Vermessung des Erdgeschosses vorzubereiten.
Kurz darauf erschien Areos neue Schreiberin in ihrem Arbeitsgewand und sie folgten Frethnal über den Nord- Treppenturm. Die wachen an den Turmtüren machten keinerlei Schwierigkeiten. Offenbar waren sie entsprechend unterrichtet und angewiesen worden.
Sebastian begann mit der Torgalerie und sie arbeiteten sich Raum für Raum in den Ostflügel vor. Basti skizzierte die Räume als Gesamtgrundriss auf eine großes Papier, legte aber für jeden Raum noch zusätzlich eine kleine extra Skizze an. Mit Frethnal maß er dann die Längen ab, die Farasami gewissenhaft in die Zeichnungen eintrug und beschriftete.
Als sie den Tafelsaal erreicht hatten, war es Zeit geworden, das Mittagsmahl einzunehmen. Frethnal wollte ihnen das Essen im Salon Sebastians Gemächer auftischen. Doch Basti hatte etwas anderes im Sinn.
»Wo essen denn die Bediensteten.., wo esst ihr selbst, Frethnal«, wollte er wissen. Frethnal sah ihn überrascht an, erklärte aber bereitwillig:
»Wir, die Bediensteten der gütigen Hoheiten speisen in einem Raum neben der Küche, Herr. Alle anderen nehmen ihr Mahl im Gesindehaus oder im Wirtschaftshaus zu sich.«
»Das mit der Küche klingt doch gut, Frethnal...«, entgegnete Sebastian, »...dann werden wir heute zusammen mit den Bediensteten speisen! So kann ich mir die Küche ansehen und jene kennen lernen, welche die grobe Arbeit verrichten.«
Der Diener sah seinen Areos entsetzt an. Zunächst fehlten ihm die Worte, die anschließend wie ein Wasserfall aus ihm heraus sprudelten:
»Herr.., das darf nicht sein.., es ist euer unwürdig, Herr, mit dem Gesinde zu speisen! Ihr habt nie zuvor mit denen am Tisch gesessen, denen ihr befehlt, Herr. Wenn dem König davon zu Gehör kommt...«
»Papperlapapp.., den König braucht das ja nicht zu interessieren...«, unterbrach Sebastian den fassungslosen Diener, »...wenn ihr es ihm nicht erzählt? Also los, keine Widerrede! Ihr bringt uns jetzt zur Küche.., wir werden dort unser Mahl einnehmen«, ordnete er an. Frethnal tänzelte nervös um Sebastian und Farasami herum, machte vage Anstalten, sie zur Küche zu führen, bewegte sich aber nicht wirklich.
»Frethnal...«, drohte ihm Sebastian, noch mit Spaß in der Stimme und betont freundlich, »...wenn ihr euch nicht bald bewegt, werdet ihr feststellen, wie mein gütiger, hochwohlgeborener Fuß in eurer bescheidenen Sitzgalerie landet.., habt ihr verstanden?«
Offenbar nahm Frethnal die Warnung ernster, als sie tatsächlich gedacht war. Er verbeugte sich dreimal unterwürfig und trabte dann ohne weitere Verzögerung voran. Er führte sie in den Ost- Turm und über die Treppe ins Untergeschoss. Bereits im Turm ließen Gerüche erahnen, wohin sie sich begaben.
Vor der Tür zum Kellergeschoss schreckten sie zunächst einmal den Wachsoldaten auf, der verschlafen an der Wand lehnte und bei Areos Erscheinen vor Schreck seine Wachgleve, eine Art Lanze, los ließ, die knallend zu Boden fiel. Sebastian schüttelte nur den Kopf und sah den Mann tadelnd an. In diesen Mauern würden ihm wohl noch häufiger Fälle von Wachvergehen auffallen.
Am Rande stellte er fest, dass der Treppenturm auf dieser Etage keineswegs endete. Er führte noch tiefer hinab! Sebastian fragte nicht ganz ohne Staunen Frethnal danach aus.
»Dort geht es zu den Kerkern, zu den Schatzkammern und einigen Gängen, von denen nur seine gütige Hoheit weiß, Herr«, klärte dieser Basti auf.
Anschließend traten sie durch die Tür in den Kellergang. Augenblicklich wurde Sebastian klar, dass sich das eigentliche Leben der Burg hier unten abspielte! Köche, Mägde, Zofen und Diener, eilten mit Kesseln, Tabletts und anderen Dingen die Korridore entlang, wichen geschickt einander aus, kamen aus irgendwelchen Räumen und verschwanden wieder in welchen.
Die Wände waren aus nacktem Stein und ein wenig schmutzig, was kaum auffiel, weil alle zwei Meter eine Fackel in eiserner Halterung steckte und zuckendes Licht verbreitete. Die Deckengewölbe waren relativ hoch, höher, als Sebastian sie aus den alten Burgen seiner Welt kannte. Anscheinend waren die Baumeister Falméras fähiger, als jene des europäischen Mittelalters.
Frethnal führte Farasami und Sebastian in einen schmaleren Gang, der parallel verlief, Küche von Vorratskammern trennte und am kleinen Nord- Turm endete. Die nächste Tür führte in die eigentliche Garküche. Dampf und allerlei Appetit machende Düfte, sowie laute, hektische Geräusche schlugen ihnen entgegen. Köche und Mägde waren so beschäftigt, dass zunächst niemand von den unangemeldeten Eindringlingen Notiz nahm.
Sebastian tauchte ein in eine andere Welt dieser Burg. Unzählige Stimmen redeten und riefen durcheinander, es wurde gelacht, gescherzt und geflucht, während die Mahlzeiten garten, brieten und dünsteten, die er täglich in seinem Salon serviert bekam.
Hochrote Gesichter beugten sich über Töpfe und Pfannen, flinke Hände schnitten Fleisch oder schnippelten Gemüse und jene, die glaubten dieses laute Chaos unter Kontrolle zu haben, klatschten in die Hände, um sich Gehör zu verschaffen.
Kleine Oberlichtfenster reihten sich mit tiefen Schächten unter der Decke des Gewölbes, ließen etwas Licht herein und führten direkt nach außen. Darunter hatte man aus Holz trapezförmige Kästen angebracht, die weit über die an der Wand angebrachten Öfen hinaus ragten, über und auf denen Kessel hingen und standen und mächtig dampften. Der meiste Dunst zog durch die Kästen in die Lichtschächte ab. Küchenjungen standen neben jedem Kasten und lenkten den Dampf mit dünnen Holzfächern in die richtige Richtung.
Sebastian war fasziniert. Dunstabzugshauben waren also keine Erfindung seiner technisierten Welt des zwanzigsten Jahrhunderts! Wenn auch die Ventilationstechnik noch nicht sehr ausgereift war, so funktionierte dieses System dennoch tadellos!
Nach geraumer Weile schien einer der Köche Areos durch den Dunst hindurch erkannt zu haben. Er klatschte lautstark in die Hände und verkündete dem restlichen Personal die Anwesenheit seiner Hochwohlgeboren. In wenigen Sekunden erstarb jedes Geräusch, außer dem Brodeln und Zischen der Speisen in Pfannen und Töpfen. Selbst die Küchenjungen ließen ihre Wedel sinken und gaben den Dampf frei.
»Oh, bitte.., lasst euch nicht stören...«, verkündete Sebastian laut, »...macht nur weiter.., ich will nicht das gute Gelingen der Speisen aufhalten! Ihr tut hier alle eine gute Arbeit.., macht nur weiter so!« Zu dem Koch, oder jenem, den er dafür hielt, sagte er:
»Wenn ihr die Güte habt, mir verraten zu wollen, wie ihr das hier alles macht und welche Gaumenfreuden wir an diesem Tage erwarten dürfen...« Sebastian hatte noch nicht ganz ausgesprochen, schon begann der Mann ihm jede Kleinigkeit zu erklären und musste gegen die Stimmen anbrüllen, die nun wieder anschwollen.
Sebastian kostete von verschiedenen Zutaten, sah sich alles genau an und war beeindruckt, wie gut eine so einfache, mit Menschen voll gestopfte Küche funktionierte. Als er keine Fragen mehr hatte, führte sie der Koch in den nächsten Raum, eine Bräterei.
In diesem Raum war ein riesiger, relativ flach gemauerter Ofen in der Mitte angeordnet. Ein wahres Höllenfeuer loderte in seinem Mauerkranz, über dem an langen, kräftigen Ketten große Kessel hingen, und an einem Spieß ein ganzer Ochse goldbraun vor sich hin brutzelte. Zwei ausgewachsene Männer drehten den Spieß, der quietschte, als wollte er die Qual seiner Fleischlast kund tun.
Auf vier mächtigen Säulen ruhte eine gemauerte Haube, die Rauch und Dunst aufnahm und scheinbar in die Gewölbedecke ableitete. Mägde und Köche mit großen Holztellern sprangen mit Messern bewaffnet um den riesigen Braten herum und schnitten Stücke aus ihm heraus, die sie in einen angrenzenden Raum trugen, dessen Tür weit offen stand.
In diesem Raum, der etwa vier Meter breit und gut zehn Meter lang war, stand ein massiver, langer Tisch, auf dem die Speisen angerichtet wurden. Teller, Platten, ja ganze Tafeln wurden hier appetitlich zusammengestellt und anschließen hinaus getragen.
Zum folgenden Raum stand ebenfalls die Tür offen. Aus ihm kam ein verführerischer, süßer Duft mit der Note nach Verbranntem Holz. Sebastian trat in die Backstube und wurde von einem Koch zum nächsten weiter gereicht. Der neue Küchenchef erklärte ihm die drei großen Backöfen, deren schräg gemauerte Schlote zur Außenwand hin führten.
In einem wurde das leckere Krustenbrot gebacken, das Sebastian bereits bei Högi Balmer begeisterte. Im nächsten Ofen buk Steinkuchen auf dünnen Steinplatten. Aus ihm drang der unwiderstehliche Duft, der das Wasser im Munde zusammenlaufen ließ. Es war ein Kuchen mit Baumfrüchten belegt, denen Äpfel am ähnlichsten kamen.
Der dritte Ofen war mit Gebäck vollgestopft, das Sebastian an Butterplätzchen erinnerte, nur eben viel größer. Hitze und ein starker Duft nach Vanille schlug ihnen entgegen, als der Koch die halbrunde Klappe öffnete, um nach der Bräune seines Backwerks zu sehen.
An der gegenüber liegenden Wand waren Arbeitsplatten angebracht, an denen kräftige Frauenarme Teig mischten, kneteten und in die Formen schlugen. Geübte Hände fertigten Brot, um eine ganze Burg mit Soldaten und Gesinde satt zu bekommen. Eine große Aufgabe! Sebastian stellte sich in die Mitte des Raumes und verkündete laut seine Anerkennung an jeden, vom Koch bis zur Magd, lobte ihren Fleiß und die Kenntnis ihres Faches.
Volksnähe praktizieren, sich interessiert am Gesinde zu zeigen, ihnen Bestätigung zu geben, war sein Rezept, sich beim Volk beliebt zu machen. Aber dieses Bemühen wurde manchmal auch auf eine harte Probe der Nachsicht und Toleranz gestellt, die auch ein Areos von Falméra erst lernen musste. Er ahnte noch nicht, dass er in Kürze Gelegenheit dazu bekommen würde.
Frethnal ließ ihn durch eine weitere Tür treten, die in einen großen Raum führte, der mit drei Reihen Tischen und Stühlen voll gestellt war. Fackeln rings um an den Wänden gaben dieser kleinen Halle etwas Gemütliches, Heimeliges.
»In diesem Raum speist das Gesinde, Herr.., alsbald alles essen fertig bereitet ist!« verkündete Frethnal nicht ganz ohne Stolz. Etwas zurückhaltender fügte er hinzu:
»Es ist nicht statthaft, Herr, doch wenn ihr es wünscht, werde ich euch einen Tisch frei halten lassen!« Sebastian winkte lässig ab.
»Nicht nötig, Frethnal.., wir werden uns einfach dazu setzen, wo Platz ist! Schließlich will ich doch all jene kennen lernen, die sich ein um den anderen Tag um unser leibliches Wohl bemühen, nicht wahr?« Sebastian musste seine Schadenfreude verstecken, als er Frethnals verdutztes Gesicht sah. Mit bierernsten Ton fragte er:
»Wie um alles bei den Göttern schafft ihr das alles in die Gemächer und in die Salons? Das Speisen müssten doch eiskalt sein, den ganzen Weg über die Turmtreppen hinauf!«
»Nein, Herr...«, berichtigte Frethnal die falsche Vermutung, »...dazu gibt es den Speisezug, Herr, seht selbst...« Damit öffnete er die Tür zu einem schmalen, dunklen Raum, ließ Sebastian eintreten und wartete selbst im Türrahmen.
»Nun.., Frethnal.., ich denke, dass diese Speise nicht für seine gütige Hoheit gedacht ist, obwohl sie ihm wahrscheinlich ebenfalls sehr munden würde«, stellte Sebastian lachend fest. Das Bild, das sich ihm beim Eintreten in die finstere Kammer bot, besaß peinlichen und belustigenden Charakter zugleich.
Eine der jungen Mägde saß auf einem Tisch an der Wand, hatte die oberen Schnüre ihres Arbeitskleids einladend geöffnet und sich den Rock bis zum Gesäß hochgeschoben. Ihre Beine schlangen sich um die Lenden eines jungen Burschen und mit den Händen hielt sie sich an langen Ketten fest, die aus einem Schacht aus der Decke baumelten und wild klirrten. Die Hände des Jünglings suchten gleichzeitig unter ihrem Rock wohl nach süßeren Früchten, als jene, die er in der Küche zu finden gewohnt war.
Sein Gesicht hatte sich in der warmen Tiefe ihres üppigen Dekolltee vergraben und fuhr erschrocken hoch, als sich die Tür öffnete und plötzlich Licht herein fiel. Das Mädchen erschrak mit einem spitzen Schrei auf den Lippen, als Areos, der Sohn des Königs, seinen gnädigen Kopf in die Kammer steckte.
Beide kannten die Strafe für ihr Verlangen, dem sie nicht mehr widerstehen konnten. Nachdem Areos selbst sie auf frischer Tat ertappt hatte, durften sie erst recht keine Gnade erhoffen. Nach dem Gesetz Talris erwartete beide die Demütigung, öffentlich ausgepeitscht und entblößt an den Pranger gestellt zu werden.
Sebastian hatte dieses Gesetz in den Schriften seiner Bibliothek gelesen. Der Stadthalter hatte gewöhnlich darüber Gericht zu halten. Da das Vergehen jedoch auf der Burg geschah, war es am jeweils regierenden König, darüber zu urteilen.
Solche Urteile, das hatte er auch nachlesen können, endeten nicht selten mit dem Tode der Delinquenten, da dem Volk wohlwollend eingeräumt wurde, die am Pranger stehenden zu schmähen, zu schänden, oder mit Steinen und anderen Dingen zu bewerfen.
Sebastian dachte gar nicht daran, die beiden dem Tode zu weihen, für ein Vergehen, dass er sich mit Antarona selbst sehnlichst wünschte! Seine eigene Sehnsucht wurde den beiden zur Verbündeten.
»Na.., haben wir da etwas zu viel Feuer im Blut, ja?« fragte Sebastian scheinheilig und leicht amüsiert die beiden vor Schreck starren Gesichter.
»Ist ja auch nicht weiter verwunderlich, bei der Hitze und all dem Dampf hier drinnen, was?« Er sah ungeniert zu, wie sich die beiden eilig die Kleider richteten und sich demütig vor ihm auf die Knie warfen.
»Verzeiht uns Herr.., bitte habt Erbarmen mit ihm, bestraft mich, ihn trifft keine Schuld.., ich war es, der es nach Liebe gelüstete!« flehte die Magd ihn an. Sofort aber schob sich der Bursche vor sein Mädchen.
»Hört nicht auf sie, Herr...«, setzte sich nun der junge Mann für seine Geliebte ein, »...es war allein mein Ansinnen, in diese Kammer zu gehen! Bestraft mich so hart euch der Sinn steht, doch lasst sie gehen, lasst ihrer Gnade walten, Herr, sie wird euch auch immer treu zu Diensten sein!«
»Oh ja...«, bestätigte Sebastian belustigt, »...welcher Dienste ist mir völlig klar, hat es ja eben deutlich bewiesen, dass sie darin Talent hat, nicht? Aber so leicht kommt ihr mir nicht davon!« drohte er mit wedelnder Hand und beobachtete, wie beiden die Gesichtszüge entglitten und nackte Angst in ihren Blicken Einzug hielt.
»Ich will euch sagen, was mit euch geschehen wird«, prophezeite Sebastian und ergötzte sich daran, dass die beiden kreidebleich um die Nasen wurden.
»Ihr beiden sucht euch jetzt ein weniger belebtes Plätzchen und was ihr dort tut, will ich gar nicht wissen! Danach geht ihr hinaus zu den Pferdetränken und kühlt eure überhitzten Gemüter ab, damit ihr nicht noch das ganze Gesinde mit eurem Fieber ansteckt! Und in einer halben Zentare sehe ich euch wieder bei der Arbeit, ansonsten darf ich euch versichern, wird der Pranger euch einholen!«
Zwei ungläubige Augenpaare starrten ihn an. Hatten sie etwa nicht recht gehört? Sollten sie straffrei ausgehen? Sie blieben vor Sebastian knien und schienen nicht ganz verstanden zu haben.
»Was ist...«, fragte Sebastian ungeduldig, »...habt ihr etwas mit den Ohren? Ich will mir ungestört den Aufzug ansehen! Wenn es euch jedoch derart brennend danach gelüstet, am Pranger zu stehen, so ließe sich auch das einrichten. Doch danach steht mir im Augenblick wirklich nicht der Sinn. Habe wohl besseres zu tun, als euer eins zu züchtigen!« Sebastian sah sie auffordernd an und machte eine wegwischende Handbewegung, die keinen Zweifel mehr offen ließ.
»Danke, gnädiger Herr, seid vielmals bedankt.., eure Güte ist uns bekannt, immer eure Diener, Herr...« stammelten die beiden. Sebastian hingegen verlor allmählich das Interesse an der Geschichte.
»Nun macht schon, dass ihr mir aus den Augen kommt und sucht euch gefälligst künftig einen stilleren Ort für eure heimlichen Freuden!«
Die beiden Liebenden huschten eiligst an ihm vorbei und verschwanden im angrenzenden Gang. Offenbar kam ihnen die Milde nicht ganz geheuer vor und sie beeilten sich lieber, bevor Areos seine Güte vielleicht doch noch einmal kritisch überdachte!
Areos interessierte sich aber mehr für den Speiseaufzug. Am Ende langer Ketten war eine Art Schränkchen gehängt, und konnte mit entsprechender Muskelkraft zu einer Öffnung in jedem Geschoss gezogen werden. Markierungen an den Ketten zeigten der Bedienung an, wann der Aufzug die richtige Position der jeweiligen Etage erreicht hatte.
Es war eine eigentümliche Welt, in der Sebastian als Areos Einzug gehalten hatte. Feuerwaffen waren noch nicht bekannt, doch mit anderen mechanischen Finessen war man wohl vertraut. Auch bautechnisch waren die Ival Falméras, gemessen am Val Mentiér, weit fortgeschritten, was die Burg mit ihren außergewöhnlich großen Räumen bewies.
Einer dieser Räume war der Speisesaal für das Gesinde, in den sie nun zurück gingen. Er maß elf mal fünfzehn Meter. Und obwohl das Gewicht der Mauern von fünf Stockwerken und dem Dachgeschoss auf seinem Gewölbe lastete, stützte keine Säule die weiten Gewölbebögen. Die Baumeister Falméras mussten brillante Statiker sein.
Der Koch wollte schon einen Tisch für Areos und seine Begleiter frei räumen lassen, doch Sebastian lehnte dies ab.
»Hier unterbricht niemand sein Mahl...«, stellte Sebastian bestimmend fest, »...wir können uns irgendwo dazwischen setzen!« Frethnal schaute etwas pikiert drein, fügte sich aber kommentarlos. Als Kammerdiener war er üblicherweise gewohnt, in der Nähe seiner Herrschaft zu speisen, meist im Vorzimmer zu jenem Raum, wo diese sich jeweils aufhielt.
Sebastian setzte sich ungeniert zwischen eine ältere, ziemlich beleibte Magd und einen Küchenjungen, der mit dankbaren Areos Platzwahl quittierte und ihn vor dem walkürenhaften Weib abschirmte. Eine andere Magd stellte ihm einen großen Teller mit Ochsenfleisch und Gemüse vor die Nase, sowie eine Schale Suppe und einen kleineren Teller mit dem lecker duftenden Obstkuchen.
Es wurde hinter vorgehaltener Hand getuschelt und geflüstert. Man stieß sich gegenseitig mit den Ellenbogen an und warf sich schräge Blicke zu. Einige Male sah Sebastian einzelne Mägde oder Diener Grimmassen schneiden. Die Stimmung war bedrückt, man fühlte sich ertappt, kontrolliert, eingegrenzt.
Schließlich war Areos, der Sohn des Königs anwesend! Ein falsches Wort während des gelockerten Beisammenseins des Mahls und man wanderte auf nimmer Wiedersehen in den Kerker.
»Sagt, gute Frau...«, wandte sich Sebastian an die neben ihm sitzende Magd, »...geht es hier immer so verhalten zu.., ich meine, so verzagt und flüsternd? Man könnte ja annehmen, der König sei in das Reich der Toten gegangen, so eine Stille herrscht unter euch.«
»Es ist nicht seine gütige Hoheit, Herr...«, verriet ihm die Frau mutig, »...ihr seid es mit Verlaub, ihr seid hier. Niemand wagt vor euch das Wort zu erheben!« Sebastian sah sie eine Minute lang an, dann erhob er sich und schlug mit dem Holzlöffel gegen den großen Tonkrug, der in der Mitte seines Tisches stand.
Sofort verstummte jedes heimliche Wispern, jedes Kaugeräusch, jedes Schlucken. Die Männer und Frauen, Mädchen und Jungen erstarrten zu einer Armee steinerner Wesen.
»Hört mich an.., alle...«, verkündete Sebastian laut und deutlich, »...diese Frau hier gab mir soeben zu verstehen, dass keiner von euch den Mund auf zu tun wagt, so lange ich unter euch weile. Was soll das?«
Sebastian ließ diese Frage im Raum stehen und löste damit eine noch tiefere Stille, sowie Betroffenheit und Ratlosigkeit in den Gesichtern aus. Niemand wagte zu atmen. Sebastian nickte verstehend und fuhr mit freundlichem Ton fort:
»Ich möchte, dass sich ein jeder so verhält, als wäre ich gar nicht hier. Ihr könnt lachen, singen, von Verderbtheit erzählen und von mir aus auch über den König und mich lästern. So weiß ich wenigstens was das Volk wirklich denkt!« Sebastian sah sich um, doch nicht einer besaß den Mut, das betretene Schweigen zu brechen. Die meisten Augen suchten sich einen imaginären Punkt auf dem Tisch, nur wenige sahen ihn offen und interessiert an.
»Ich will ehrlich und ohne Falsch zu euch sein...«, versuchte er es anders, »...ich bin nicht unter euch getreten, um euch ob eurer Treue zu prüfen. Ich bin nur hier, weil ich diese Mauern ausmessen will! Da ich aber feststellen muss, welch großes Misstrauen in euch ist, sollte ich wohl häufiger unter euch weilen. So kann mir jeder sagen, was er auf dem Herzen hat!« Sebastian sah von einem zum anderen und erklärte schließlich:
»Leute.., Volk von Falméra, ich bin nicht euer Feind! Der Feind.., die Bedrohung, ist dort draußen, hinter dem großen Wasser und wohl auch in Falméra selbst.., das wisst ihr! Doch wie wollen wir den Feind daran hindern, dieses Land, diese Stadt, euer Leben und eure Familien zu knechten, wenn wir uns so misstrauen? Ich, Areos von Falméra werde das nicht zulassen!« Damit hieb er die Faust auf den Tisch, dass die Becher und Teller in die Höhe hüpften.
»Ich werde euch sagen, was wir ab jetzt tun werden!« kündigte er an. »Ihr werdet keine Geheimnisse mehr vor mir haben und mir eure Sorgen, Ängste und Wünsche mitteilen, wenn euch danach ist. Ihr werdet jetzt und hier so sein, wie ihr es immer tut, wenn ich nicht hier bin! Nichts, was einer hier spricht, wird diesen Raum je verlassen. Und ich werde niemanden dafür bestrafen lassen, was immer er auch sagt!«
Sebastian blickte in die Runde, doch einen jeden schien plötzlich der Mut verlassen zu haben. Er, Areos, musste den ersten Schlag tun, um die Wand zwischen ihnen einzureißen!
»Also...«, begann Sebastian und bemühte sich, sehr offen zu wirken, »...ein jeder von uns wird nun etwas vom heutigen Tage kund tun, ganz gleich was es ist! Und ich erlaube mir jetzt, damit anzufangen.«
Er wartete einen Moment, um die Spannung zu erhöhen und um selbst ruhiger zu werden, denn er war sich alles andere als sicher, seine verängstigten Untertanen mit dieser Einlage von seiner offenen Art überzeugen zu können.
»Als ich gerade den Speiseaufzug ausmessen wollte...«, fing er zu erzählen an, »...da ist mir etwas sehr wunderliches widerfahren. Ich fand darin ein junges Pärchen, das sich wohl unbeobachtet wähnte und sich ohne Scham seiner Gelüste hingab.«
Sebastian wartete auf eine Reaktion, doch dem Gesinde schienen die Zungen abgestorben zu sein. Offenbar erwartete man nun eine allgemeine Rüge, oder gar Bestrafung. Statt dessen lachte Sebastian offen in die Runde und erklärte:
»Nun, ich habe den beiden geraten, sich rasch abzukühlen.., vermutlich halten sie in diesem Augenblick ihre Köpfe in die Pferdetränke!«
Plötzlich war hier und dort ein verhaltenes Kichern zu hören, doch ohne Scheu seine Schadenfreude zu zeigen, wagte niemand. Für Sebastian war es jedoch das Signal, dass er sich auf dem richtigen Weg befand.
»Und für die Zukunft hoffe ich...«, fuhr er fort, »...dass sich für solche heimlichen Treffen andere Plätzchen finden lassen, als der Speiseaufzug. Wenn nun jemand die beiden in des Königs Gemächer hinaufgezogen hätte...«
Dieser Vorstellung konnte sich nun niemand mehr ohne eines gewissen Humors entziehen. Irgend jemand begann zu lachen und alle fielen mit ein. Die Wand zwischen Areos und seinem Gesinde schien, zumindest für den Augenblick, eingerissen!
Einem Hilfskoch fiel ein, dass sich ein ähnlicher Vorfall schon einmal ereignet hatte und meinte, den anderen die Geschichte nicht vorenthalten zu dürfen. Sebastian hörte interessiert zu und forderte alle auf, ebenfalls von peinlichen und lustigen Situationen zu erzählen. Bald beherrschten laute Stimmen, ungezwungenes Lachen und Rufen den Raum. Sie hatten vergessen, dass der Thronerbe ihre Belustigungen teilte.
Sebastian war zufrieden. Areos war nun einer von ihnen, einer des Volkes! Er war nicht länger das Abstrakt, das sich wie eine Natter unter ihresgleichen begab, um irgendwelche Übeltäter ausfindig zu machen.
Als er schließlich die Gemeinschaft der Bediensteten verließ, bedachte man ihn nicht mehr mit entsetzten, ängstlichen Blicken, sondern mit einem Lächeln. Der Anfang war gemacht, und das war mehr, als Sebastian sich erhofft hatte.
Mit gestärktem Selbstvertrauen ging er seiner nächsten Aufgabe entgegen. Die Bewachung der Burg war angesichts einer möglichen Bedrohung durch eine Invasion eine Angelegenheit, der höchste Priorität galt. Doch dazu musste er zunächst Wachabläufe, Wachgänge und die jeweils zuständigen Wachführer kennen lernen.
Am oberen Tor entließ er Frethnal und Farasami und wies seinen Diener an, das Mädchen in seine neuen Gemächer zu bringen. Danach stieg er den Treppenturm hinab zur inneren Wache. Seine Hoffnung, Genrath dort anzutreffen, erfüllte sich jedoch nicht. Ein ihm unbekannter Mann hatte Wachdienst, der ihn nur widerwillig in die Abläufe der Wachgänge einweihte. Sebastian ließ sich davon jedoch nicht beirren. Akribisch hielt er alles fest, was ihm auffiel und unterstrich in seinen Aufzeichnungen, was er für reformbedürftig hielt.
Er befragte die Wachsoldaten nach Befinden und möglichen Verbesserungen. Ihm war klar, dass ein Soldat, der zwölf Stunden bei dünner Suppe und vertrocknetem Brot auf Wache stand, kaum mehr die Aufmerksamkeit und Motivation besaß, einen verdeckt geführten Angriff rechtzeitig zu erkennen und die richtigen Gegenmaßnahmen einzuleiten.
Manches, das ihm auffiel, bedurfte dringend das Interesse des Königs. Die Sicherheit Falméras und der Burg stand auf dem Spiel. Sebastian wagte aber nicht, bereits eigenmächtig Anordnungen zu Veränderungen zu geben. Doch sobald ihm Bental freie Hand in dieser Sache ließ, wollte er gravierende Sicherheitsmängel konsequent ausmerzen!
An der äußeren Wache traf Sebastian, wie zu erwarten, eine ziemlich locker geführte Wachmannschaft an, die alles mögliche im Kopf hatte, nur eben nicht Wache zu halten! Bereits auf dem Weg zum Haupttor fiel ihm das unbesetzte Hoftor auf, das ebenso, wie das Brückentor wie ausgestorben da lag. Nicht einmal auf den Wehrgängen war eine Wache zu entdecken.
Jeder konnte die Tore passieren, ohne gesehen zu werden. Handwerker aus Falméra, Geschäftsleute aus Oranutu, Wagengespanne, ja ganze Reiterscharen passierten die Wehranlagen, ohne dass sich jemand für sie interessierte. Selbst bei Tage konnten mehrere Fuhrwerke eine ganze Armee in die Burg schleusen und Bental würde es erst merken, wenn sie ihm auf den Teller seines Mittagsmahls spuckten!
Vor Sebastian ging eine Schar Mägde mit Einkaufskörben daher, die unbehelligt sämtliche Tore passierten. Lediglich am Haupttor wurde ihnen Aufmerksamkeit zu teil, das aber auch nur, weil sie Frauen waren. Während die wenigen Wachsoldaten mit den Mägden flirteten, fuhren drei mit Holz beladene Wagen durch das Tor. Wenn nun unter der ersten Schicht Holz bis an die Zähne bewaffnete und entschlossene Krieger Torbuks steckten?
Die Wachen waren träge und noch dazu in einem so laxen Trott eingefahren, dass sie der spontane Besuch des Areos nur insofern interessierte, von ihm in eines seiner Heerlager aufgenommen zu werden. Auf seine Frage hin, auf welche Personengruppen, oder Situationen sie besonderes Augenmerk zu richten hätten, wussten die Soldaten keine Antwort. Sie besaßen nicht einmal so etwas, wie einen Wachauftrag.
Sie bewunderten allesamt die legende Areos, umringten ihn mit Fragen und Lobhudeleien und wollten letztlich nur in eine seiner Einheiten versetzt werden, um dabei zu sein, wenn es eines Tages zum offenen Konflikt mit Quaronas kommen sollte.
Die Wacheinheiten, das hatte er bereits beim Fest herausgefunden, standen in ständiger Konkurrenz mit den Streitkräften. Es gab eine strenge Teilung zwischen beiden Einrichtungen. Offenbar erntete man in den Streitkräften mehr Ruhm und mehr Sold.
Sebastian hielt das für einen Vorteil der Sicherheit, welchen er noch zu verstärken gedachte. Eine Art Gewaltenteilung innerhalb der bewaffneten Kräfte hatte sich selbst bei diversen Diktatoren des zwanzigsten Jahrhunderts bestens bewährt!
Abschließend schritt Basti noch die Wehrgänge ab und unternahm einen ausgiebigen Fußmarsch um die Burg herum, soweit das Gelände dies erlaubte. Dort, wo sich die Mauern aus den steilen Felsen erhoben, war mit einem Angriff kaum zu rechnen.
Der einzige schwache Punkt schien ihm der Turm am Wasserwehr. War dieser mit dem äußeren Wehrgang erst einmal erobert, stellte er eine ernsthafte Bedrohung des gesamten Westflügels der Burg dar. Ansonsten blieben die Tore und die Waldstücke im Norden und Osten der Burg die erkannten Schwächen. In die kleinen Wäldchen konnte eine ganze Armee einsickern und unerkannt bis vor die Mauern der Burg gelangen, um einen Überraschungsangriff zu starten.
Im Sonnenuntergang sitzend dachte Sebastian nach. Wäre er jener, der eine feindliche Streitmacht gegen Falméra zu führen hätte, so würde er in drei Wellen angreifen, um Stadt und Burg erfolgreich zu erobern. Eine starke Welle würde bereits zwei Tage zuvor im Süden Falméras landen und sich in den Elsirensümpfen zum Marsch auf die Stadt vorbereiten.
Zeitgleich mit dem Angriff von Süden her, den er Nachts, drei Stunden vor Hellwerden anginge, würde er drei weitere Wellen in der Bucht und im Hafen landen. Eine Massive, sowie zwei Geteilte. Die geteilten Wellen würden eine Stunde vor der Massiven links und rechts, weit vor dem Hafen anlanden und sich im Dunkeln an der Stadt vorbei, durch die Wälder bis zu den Heerlagern links und rechts der Stadt und an die Burgmauern vorarbeiten und dort in Stellung gehen.
Die Massive musste genau zum Hellwerden in den Hafen segeln und die Stadt angreifen. Die Burg würde zusätzliche Wachen zur Verteidigung der Stadt entsenden und die offenen Tore würden in diesem Augenblick von zwei Wellen in die Zange genommen werden. Die Heerlager an den Stadtgrenzen wären durch die dritte geteilte Angriffswelle gebunden und somit zunächst nicht verfügbar.
Würden sich die Heerlager als wehrhaft erweisen, wäre Verstärkung von den Landungstruppen von Süden heranzuführen. Nach Niederwerfung der Heerlager wäre die Stadt eingekesselt und praktisch erobert. Allein die Burg bliebe das Problem, sollte die schnelle Zangenbewegung nicht funktionieren.
Es gab drei Schlüsselstellungen, die Sebastian für einen Verteidigungsplan ins Auge fassen musste: Die Elsirensümpfe, die ungeschützte Bucht mit den weit in das Wasser hinaus gebauten Hafenanlagen und die Burg. Die Westseite der Insel kam für eine Landung kaum in Betracht, solange die Oranuti nicht offen in die Kämpfe eingriffen, was nicht zu erwarten war. Noch nicht!
Um im Osten anzulanden, musste Torbuk eine ganze schiffbare Streitmacht weit in den Süden des Festlands, durch unwegsame Elsirensümpfe hindurch, nach Oranutu hinein verlegen, um sie dort einzuschiffen und die starke Meeresströmung überwinden zu können.
Aus taktischer Sicht war der Aufwand zu groß und würde zu viel Zeit in Anspruch nehmen. Eine solche Truppenbewegung bliebe nicht unentdeckt und würde selbst König Bental aus seinem Dornröschenschlaf reißen!
Die Oranuti hingegen kämen allenfalls für Sabotageakte und für die passive Unterstützung von Torbuks Armee in Frage. Oranutis kämpften nicht, so lange sie andere für sich kämpfen lassen konnten. Sie fochten mit Holzlieferungen, Infiltration und wahrscheinlich mit den Tränen der Götter.
Seufzend stand Sebastian auf und schleuderte missmutig einige Steinchen in den Bach, der vom Umflutgraben gespeist wurde und nach Falméra hinab floss. Antarona spürte die Bedrohung, er konnte sie sogar strategisch nachvollziehen, freilich nur in der Theorie. Doch niemand sonst wollte die Gefahr sehen, in der Falméra schwebte!
Er musste als Areos seine Popularität und sein Ansehen als Waffe einsetzen und Farasamis Vertrauen gewinnen. Er musste das Mädchen entgegen seiner Philosophie ausnutzen! Er war gezwungen, sich dieser unpopulären, einsamen Entscheidung zu bedienen, um möglichst schnell seine Vermutung bestätigen zu können. Solange Arrak nichts von sich hören ließ, war sie allein der Schlüssel zur Wahrheit über die tatsächliche Gesinnung der Oranuti.
     
  Wichtiger Hinweis: Die Texte des Autors Frank Adlung, insbesondere die des Romans "Das Geheimnis von Val Mentiér", sind durch notarielle Hinterlegung urheberrechtlich geschützt. Ein Herunterladen und Ausdrucken ist nur für den privaten Zweck des Lesens gestattet. Kommerzielle Nutzung, öffentlicher Vortrag, oder Vervielfältigung und Verfälschung des Inhalts, sowie öffentliche Verbreitung ohne Genehmigung des Autors sind untersagt und werden zur Anzeige gebracht.
 
 
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