Das Geheimnis von Val Mentiér
 
28. Kapitel
 
Gefangen
 
ebastian fragte sich, wie ein Mensch nur so lange schlafen konnte, als er am Morgen aus den Fellen kroch und Antarona ansah, die immer noch selig schlummerte. Er hatte vom langen Liegen Rückenschmerzen bekommen. Anstelle Müdigkeit verspürte er nun wachsenden Tantendrang, denn die Sonne hatte sich bereits weit über die bewaldeten Bergrücken erhoben.
Es war Zeit, etwas zu tun. Auf dem Weg durch die geheimen Gänge in seine eigenen Gemächer, überflutete eine Vielzahl von Ideen seine Gedanken, und am liebsten hätte er alles sofort in Angriff genommen. Das aber war kaum möglich.
Zunächst galt es, die restlichen Heerlager und ihre Führer aufzusuchen. Zuvor wollte er Frethnal die Vermessungsarbeit an der Burg aufbürden, um sich selbst zu entlasten. Doch schon mit diesem Einfall wuchsen die Zweifel, sein Diener könnte der Aufgabe nicht gewachsen sein und massenhaft Fehler in die Skizzen und ihre Beschriftungen einbauen.
Frethnal erwartete ihn bereits im Vorraum seines Schlafgemachs. Es wunderte ihn nicht mehr, dass Sebastian vom Korridor her eintrat und bereits seinen Waffenrock trug. Der Diener hatte sich inzwischen daran gewöhnt, dass sein Herr zu ungewöhnlichsten Zeiten auftauchte, oder ging, oder gar mitten in der Nacht von irgendwoher zurückkam, ohne dass er ihn hatte fortgehen sehen.
Sebastian ließ seinem Diener beinahe grenzenlose Freiheiten und der dankte es ihm, indem er zwar über das Wohl des Areos wachte, ihm aber keine Moralpredigten hielt, wie sie Hekthur oftmals über die Lippen kamen.
Eigentlich sah Sebastian in Frethnal mehr den Freund und Vertrauten, als den Bediensteten. Ebenso wie Antarona in ihrer Zofe Vesgarina, schätzte er in seinem Diener den einzigen Verbündeten, den er in diesen Zentaren auf der Burg hatte, dem er blind vertrauen konnte.
Mit ausdrucksloser Miene hörte sich Frethnal Sebastians Vorschlag an, die Skizzierung und Vermessung der Burganlage weiterzuführen. Ein knappes Ja, Herr, wie ihr wünscht, Herr war die Antwort. Sebastian musterte seinen Diener mit skeptischem Blick.
»Mein guter Frethnal, ihr seid euch sicher, diese Aufgabe genau und gewissenhaft bewältigen zu können? Ihr zeichnet die Wände, die Türme und Treppen und schreibt die Längen, Breiten und Höhen dazu, so genau, dass ich anschließend in Finsternis durch die Burg laufen kann, wenn nur die Karte beleuchtet ist?«
Der Diener blickte Sebastian verwirrt an und es war ihm anzumerken, dass er sich der Komplexität der Aufgabe kaum bewusst gewesen war. Sebastian erkannte es an seinem unsicheren Blick.
»Wisst ihr was«, lenkte Basti beruhigend ein, »ihr zeichnet mir zunächst die Räume und Gänge, die Türme, Treppen und Korridore auf, so gut ihr vermögt. Dann sehen wir weiter. Sucht euch einen geeigneten Helfer eurer Wahl, wenn ihr wollt und beginnt, wenn ihr bereit seid. Na, wie ist das, darf ich mich auf euch verlassen?« Angesichts der nun wesentlich einfacher klingenden Anforderung hellte sich Frethnals Miene mit einem Schlag auf.
»Natürlich Herr, euer treu ergebener Diener wird euch nicht enttäuschen, Herr!« Dann verfinsterten sich seine Züge wieder etwas und er bekam einen traurigen bis nachdenklichen Ausdruck.
Als fühlte er sich in seiner Haut nicht mehr ganz wohl, druckste er mit deutlichem Räuspern herum und trat nervös von einem Bein auf das andere. Sebastian bemerkte die Wandlung sehr wohl, stemmte die Fäuste in die Hüften und forderte Frethnal ein wenig genervt auf:
»Na nun spuckt es schon endlich aus! Was habt ihr noch auf dem Herzen?« Frethnal drehte sich Hilfe suchend nach der Tür um, starrte dann auf den Boden, als hätte jemand die Antwort auf die Dielen geschrieben.
»Los, heraus damit, ich habe nicht den ganzen Tag Zeit«, drängte Sebastian ungeduldig. Frethnal bekam einen roten Kopf und gestand stotternd:
»Es ist so, Herr, dass.., also ich meine, vielleicht ist es möglich, dass Vesgarina mir bei dieser Sache zur Hilfe gereichen kann.«
»Ach so ist das«, reagierte Sebastian vergnügt, »na, wenn das alles ist? Daraus macht ihr ein solches Dramenstück?« Sebastian amüsierte sich köstlich über Frethnals überraschten und verdutzten Gesichtsausdruck. Und je mehr er lachte, desto dümmer schaute sein Diener drein.
»Von mir aus könnt ihr sie gerne mitnehmen«, ermutigte er ihn, »ich werde mit Antarona sprechen, letztendlich muss sie das wohl entscheiden, denn es ist ja ihre Kammerzofe, nicht wahr? Meinen Segen habt ihr, und ich denke Antarona wird ebenfalls nichts dagegen haben. Natürlich werdet ihr mir bei eurer Ehre versichern, gut auf das Mädchen aufzupassen, was?«
»Natürlich, Herr, ich werde sie behüten und schützen, wie mein eigen Herz, Herr!« ereiferte sich ein plötzlich erleichterter und gelöster Diener. Lächelnd sagte Sebastian:
»Dann wünsche ich euch beiden viel Spaß dabei, Frethnal, und lasst endlich einmal dieses dämliche Herr!« Damit ließ er Frethnal stehen. Sein Diener musste nicht sehen, wie ein flüchtiges, leicht schadenfrohes Lachen über sein Gesicht huschte.
Mochten die beiden sich ruhig näher kommen, dachte Basti, während er sich auf den Weg zum Außentor machte. Einer Verbindung zwischen Vesgarina und Frethnal stand wohl auch in Antaronas Interesse, denn sie mochte Frethnal ebenfalls.
Möglicherweise sahen sie beide, er und Antarona, dieser Verbindung mit etwas wehmütiger Eifersucht, aber auch mit gönnerhaftem Interesse entgegen, weil ihnen ihre eigene Verbindung öffentlich noch lange versagt bleiben würde. In Frethnal und Vesgarina, die sie ja ständig um sich hatten, konnten sie eine offen gelebte Liebe heimlich mitfühlen.
»Einen frohen Tag, Areos Herr, wie ist euer hochwertes Befinden?« unterbrach eine raue Stimme seine Nachdenklichkeit. Tieton, der ihm zufällig über den Weg gelaufen war, verbeugte sich mit einer übertriebenen Geste, die beinahe schon einen spöttischen Charakter besaß.
Sebastian war stehen geblieben und blickte seinem Gegenüber offen in die Augen. Des Königs Kriegsberater glaubte offenbar an seine Überlegenheit Sebastian gegenüber und verstand es zumindest nach Außen hin, dies überschwänglich zur Schau zu tragen.
»Habt Dank für eure Nachfrage, es geht mir gut«, antwortete Sebastian nüchtern. Er wollte schon weitergehen, besann sich aber und fügte hinzu:
»Ich hoffe, euch selbst bescheren die Götter ebenfalls einen erfolgreichen Tag.« Sebastian hatte nicht wirklich das Bedürfnis, diesem Menschen zu huldigen.
Aber sie wurden von vielerlei Augen beobachtet. Von Areos, dem Sohn des Königs, erwartete jedermann ein korrektes, höfisches Auftreten, also auch den Austausch von Höflichkeiten mit wichtigen Männern, ob man diese nun für Freunde hielt, besonders mochte, oder nicht.
Im Falle Tietons hatte Sebastian das unbestimmte Gefühl, das dieser heimlich interagierte. In welcher Weise, das hatte er noch nicht herausgefunden, ja, er hatte noch nicht einmal den Ansatz einer Vermutung. Aber Menschenkenntnis und Bauchgefühl, bei Sebastian wohl ausgeprägt, warnten ihn, Tieton zu sehr zu vertrauen.
»Wie ich hörte, nehmt ihr sämtliche Truppen Falméras in Augenschein. Was glaubt ihr wohl dort zu finden, lasst mich nachdenken.«
Tieton drehte die Augen zum Himmel und tat, als wühlte er in seinen Gedanken. Dann hieb er seine Faust in die geöffnete Handfläche, dass es klatschte und sprach mit offenkundiger Erkenntnis:
»Ach ja, wie wäre es denn mit einer Verschwörung gegen den König? Möglicherweise von engen Verbündeten, die geneigt sind, abtrünnig zu werden? Vielleicht hofft ihr genau das zu finden, vielleicht...«
Sebastian lächelte Tieton offen an und für einen etwas entfernt stehenden Beobachter mochte es tatsächlich so aussehen, als tauschten die beiden wichtigen Männer reine Höflichkeiten aus.
»Herr von Tieton, habt ihr eine klare Frage an mich, so stellt sie und ich will sie euch gerne beantworten. Vermutungen hingegen solltet ihr besser dem Rat des Königs vortragen. Ich bin sicher, dort wird man euren Ahnungen und Eingebungen gern Gehör schenken. Wenn ihr mich nun entschuldigen wollt, seine gütige Hoheit wünscht eine schnelle Erledigung seiner Aufträge, auch von mir!«
Sebastian nickte Tieton kurz zu und wandte sich bereits zum Gehen, als er noch einmal dessen zweideutige Stimme vernahm:
»Warum, so fragte ich mich schon, nehmt ihr keines der vorzüglichen Reittiere aus den Burgstallungen, wenn ihr es so eilig habt? Ich bin sicher, wenn ihr euren hoheitlichen Vater darum ersucht, wird er euch das feurigste und ausdauerndste Tier seiner Zucht überlassen. Ich selbst bevorzuge einen dunkelbraunen Pla-ka mit schwarzer Mähne. Im Wald ist er bestens getarnt.« Als Tieton sicher war, dass sich Sebastian noch einmal auf ihn einließ, setzte er hinzu:
»Möglicherweise würde euch unsere gütige Hoheit jenen Pla-ka überlassen, welcher euch in der letzten Schlacht zu Felde trug, jenen kohleschwarzen. Nein, halt! War es nicht ein weißes Tier, so weiß, wie der lange Schnee?« fragte Tieton mit unschuldigem Ton. Doch sein lauernder Blick verriet ihn.
Er wollte Sebastian testen. Was wusste dieser Tieton? Hatte er eine Vermutung, was Sebastians wahre Identität betraf? Ahnte er, dass Sebastian gar nicht Areos, König Bentals Sohn war? Was aber war es, das Tieton zu Zweifeln veranlasste, wo doch alle anderen sich fraglos täuschen ließen?
Wenn sich Sebastian auf ein längeres Gespräch mit Tieton einließ, welches Areos Vergangenheit zum Thema hatte, so war es nur eine Frage der Zeit, bis er sich in seinen Antworten so verzettelte, dass Tieton in seinen Ahnungen bestätigt wurde.
Sebastian wusste noch viel zu wenig über die Figur, die er bislang nur so gut gespielt hatte, weil er Fragen wie solcher Tietons, geschickt und erfolgreich ausgewichen war. Er konnte sich nicht auf eine Diskussion mit Tieton einlassen, und schon gar nicht darauf, mit ihm in die Stallungen zu gehen. Er konnte ja nicht einmal reiten!
Und genau das war eine seiner Schwächen, welche Tieton, oder sonst jemand niemals herausfinden durfte! Aber als hätte Tieton Gedanken lesen können, fragte er scheinheilig:
»Ihr vermögt doch noch so vortrefflich zu reiten? Oder ist das eine Gabe, welche ihr im Reich der Toten ebenfalls eingebüßt habt? Es heißt, wer von dort zurück kommt, hat viele Dinge, welche ihm anheim waren, einfach vergessen. Wenn ihr wünscht, so können wir jederzeit gemeinsam einen Ausritt unternehmen, wobei ich euch gerne einen meiner eigenen Pla-ka überlasse. Ihr könnt ihn selbstverständlich frei wählen.«
»Seid bedankt für dieses freundliche Angebot, Tieton«, lenkte Sebastian so unauffällig, wie möglich ein, »doch im Augenblick kann ich es nicht annehmen. Wenn ich nicht mehr durch die dringenden Aufgaben seiner gütigen Hoheit beansprucht bin, freue ich mich, auf euren Vorschlag zurückzukommen.«
»Nun, ich werde warten, Areos, Herr. Wir werden sicher viel Spaß miteinander haben, wie einst auf dem Felde vor Quaronas nicht wahr?«
Sebastian ging nicht darauf ein. Die Falle war zu offensichtlich, eigentlich eines Tieton nicht würdig. Wahrscheinlicher aber war, dass dieser ihn aus der Reserve locken und zu einer unüberlegten Aussage verleiten wollte.
Sebastian hielt Tieton bislang für berechenbar. Doch er musste seine Ansicht revidieren und ihn eine Stufe gefährlicher einordnen. Und wie zur Bestätigung sprach der:
»Wie mir berichtet wurde, mangelte es euch bisher an Zentaren, euch zu jenem Pla-ka zu begeben, welches euch durch die große Schlacht trug. Ihr solltet euch aber eine Zentare nehmen! Man blickt auf euch, Areos!« Tieton klopfte Sebastian gespielt freundschaftlich auf den Arm, bevor er fortfuhr:
»Hört auf meinen Rat, denn es könnte schnell die Mär aufkommen, der große Krieger Areos dankte nicht seinem Reittier, welches ihm im Kampfe treu diente. Dies wäre kein gutes Beispiel für die jungen Krieger, welche sich noch als Helden beweisen wollen, meint ihr nicht auch?«
»Herr von Tieton«, lenkte Sebastian ab und ging zum Gegenangriff über. »Ich bin noch nicht so unbeweglich, dass ich für drei Steinwürfe Weg ein Reittier aufzäumen ließe! Und im Augenblick ist es dringender, Falméra auf einen möglichen Angriff vorzubereiten, anstatt großzügige, spaßhafte Ausritte zu unternehmen. Vielleicht solltet ihr euren Tatendrang etwas mehr darauf ausrichten, euch Falméras Wehrhaftigkeit zu versichern, meint ihr nicht auch?«
Sebastian benutzte bewusst Tietons Worte, um ihm die Stirn zu bieten. Noch verzichtete er darauf, seine Machtstellung dazu zu benutzen, um seinen Kontrahenten zum Schweigen zu bringen. Sich solcher Maßnahme zu bedienen, wäre unter Umständen ein Zeichen von Schwäche gewesen. Unvermögen und Schwäche sprachen sich innerhalb der Truppe schnell herum, untergruben Respekt und Autorität, das wusste Sebastian nur zu gut.
»Mag es sein, dass ihr Torbuks Armee weit über die Maßen fürchtet?« fragte nun Tieton. Dies war fast schon eine Beleidigung, denn was galt schon ein Krieger, der eine feindliche Armee fürchtete? Was galt zudem ein Heerführer, der sich die gleiche Schwäche eingestand?
Natürlich hatte ein Areos Angst vor der gegnerischen Streitmacht, sonst wäre er kaum ein umsichtiger Feldherr. Doch diese Angst durfte nicht Geist und Herz eines Kriegers ergreifen! Aber genau das warf ihm Tieton in versteckter Andeutung vor.
»Ich fürchte mich vor keiner Armee, Herr von Tieton, denn wir haben selbst eine gute, schlagkräftige Truppe. Doch ein Heerführer, der den Feind leichtfertig unterschätzt ist nicht unbedingt mit Vorteil beraten, das seht ihr doch ein?« Sebastian gab nun seinerseits Tieton keine Gelegenheit zu antworten und setzte sofort mit gleicher Waffe nach:
»Sich auf die Stärke des Gegners einzustellen und gut vorbereitet zu sein, ist ein Handeln von Klugheit, Geschick im Felde und Besonnenheit, wohl aber kaum ein Zeichen von Schwäche. Wenn ihr es wünscht, so will ich euch gern einmal das Geheimnis dieser Unterschiede angedeihen lassen.« Tieton ging nicht auf diese Provokation ein, sondern konterte:
»Auch Torbuks Armee war nach der großen Schlacht geschwächt, Areos, Herr. Es ist kaum anzunehmen, dass sie sich schneller erholt haben, und stärker sind, als unsere Truppen, zumal wir ja einen starken verbündeten, die Oranuti, an unserer Seite wissen. Wozu also die übertriebene Vorsicht, welche nur unnötig Arbeit macht, Ernte und Handel behindert?«
»Nun, Tieton«, antwortete Sebastian ruhig und mit integrer Sicherheit, »auf dem Wege vom Totenreich hierher, durchschritt ich das Tal Mentiér, sowie die große Ebene von Quaronas und habe mich selbst von Zustand, Kampfstärke und Kriegsbereitschaft der feindlichen Heerlager überzeugt.«
Sebastian machte bewusst eine Pause, um seine Worte wirken zu lassen und nickte schwergewichtig dazu, bevor er alles auf eine Karte setzte, Tieton direkt ansah, und fragte:
»Wann wart ihr eigentlich das letzte Mal in der Nähe Quaronas, oder im Val Mentiér?« Unerwartet in Verlegenheit geraten, sah Tieton zur Seite, setzte eine Miene auf, als missbilligte er irgendetwas, und trat einen Schritt zurück, als müsste er dort etwas sehr Störendes mit dem Fuß beiseite schubsen. Er vermochte sein Unbehagen kaum zu verbergen.
»Seit der großen Schlacht war ich nicht wieder dort, Herr, doch ich habe Späher ausgesandt...« Sebastian ließ ihn nicht ausreden. Er quittierte Tietons Aussage mit einem überdeutlichen, feststellenden »Aha!«, und verbeugte sich flüchtig vor dem plötzlich zweifelnden Mann. Mit den Worten:
»Ich wünsche euch noch einen angenehmen Tag«, ließ er den Verdutzten einfach stehen. So, als hätte er sich gerade mal nach dem Wetter und dem Stand der Ernte erkundigt, ging Sebastian ruhigen, aber zügigen Schrittes weiter. Ein fremder Beobachter mochte nicht vermuten, wie verunsichert Sebastian selbst sich fühlte.
Auf dem Weg zwischen den einzelnen Heerlagern, die rund um die Stadt verteilt, manchmal drei Kilometer voneinander entfernt lagen, ließen ihn die Gedanken an das Gespräch mit Tieton nicht mehr los. Fast wäre seine falsche Identität aufgeflogen. Mit katastrophalen Folgen!
So etwas durfte nicht wieder geschehen! Sebastian überlegte, wie er in Zukunft ein solches Risiko vermeiden konnte. Ihm war klar, dass er viel zu wenig über den echten Areos von Falméra wusste. Wenn er dessen Rolle perfekt spielen wollte, so musste er auch dessen Erfahrungen und Erlebnisse kennen, seine Erinnerungen haben, nicht die Erinnerung des Volkes an ihn!
Außerdem musste er dringend reiten lernen! Nicht auszudenken, wenn Tieton herausgefunden hätte, dass der Führer aller Heerlager nur einmal in seinem Leben auf einem Pferd gesessen hatte, und das auch noch ängstlich an den Rücken eines halbnackten, verwilderten Krähenmädchens geklammert!
In diesem Punkt hatte Tieton recht und nun fiel es Sebastian selbst wie Schuppen von den Augen: Ein Heerführer klapperte nicht zu Fuß seine verstreut liegenden Truppenteile ab! Es war eines Heerführers unwürdig, und erst recht eines Areos von Falméra!
Verschiedentlich bot ihm der Kommandant eines Heerlagers ein Pferd an. Doch Sebastian lehnte stets mit dem Hinweis ab, sich auch das Gelände zwischen den Lagern sorgfältig einzuprägen zu wollen. Und er prägte! Abends erzählten ihm seine Füße, wie sehr er prägte. Wie sollte er auch einem Tieton, oder irgendwelchen Kommandanten erklären, dass er nicht reiten konnte?
Unbedacht hatte er sich sogar schon einmal zwischen zwei Lagern von einem Bauern mit einem Eselskarren mitnehmen lassen. Der Sohn des Königs auf einem Eselskarren! Vermutlich hatte man ihn nur deshalb nicht erkannt, weil diese Vorstellung für Jedermann unmöglich erschien.
Doch spätestens, wenn es zum Kampf mit Torbuks Einheiten kam, war er gezwungen, auf einem Pla-ka, einem Pferd zu sitzen und sich darauf fortzubewegen. Irgendjemand musste ihn dringend in der Kunst des Reitens schulen. Antarona? Sie war die naheliegendste Person, denn mit ihr teilte er ohnehin die Geheimnisse seiner kriegerischen Unzulänglichkeit.
Sebastian wanderte den ganzen Tag in der Rolle des Areos über staubige Wiesenwege, über Hügel und durch Sonnendurchflutete Wälder von einem Heerlager zum nächsten. Am Nachmittag hatte er weitläufig die halbe Stadt Falméra umrundet.
Zwischendurch hatte er sein Schwert verflucht, das ihm beim Gehen fortwährend gegen die Beine schlug. Kurzerhand hatte er es vom Gürtel genommen und trug es über die Schulter, wie einen derben Knüppel. In den Lagern, von denen er an diesem Tage nicht weniger als fünf aufgesucht hatte, erwartete ihn im Zelt des jeweiligen Kommandanten Erfrischung und jede Menge Arbeit.
Mit Papieren unter dem Arm, die er entrollt und zum besseren Transport gefaltet hatte, trottete er müde und abgeschlagen in Richtung Burg zurück. Es war Nachmittag. Die Schatten wurden allmählich länger und die Sonne verbreitete selbst auf den Wiesen ein goldenes Licht.
Am Straßenrand, unweit einer Stelle, wo der Weg wieder einmal in ein Waldstück führte, lag ein umgestürzter Baum. Der Blitz eines schweren Gewitters mochte diese mächtige Holzsäule einmal zu Fall gebracht haben. Stumm, die dicken Arme ohne Blätter von sich gestreckt, lag er da. In der Sonne des Tages hatte sich das Holz erwärmt und lud nun den müden Wanderer zum Sitzen ein.
Dankbar ließ sich Sebastian auf dem verwitterten Stamm nieder. Sein Blick schweifte über die sanften Hügel, über Wäldchen und üppige Wiesen, auf denen hier und dort das Vieh der Bauern, oder die Pferde der Heerlager grasten. Dahinter, versteckt, lagen die Dächer Falméras, die sich deutlich vom tiefen Blau der Meeresbucht abhoben.
Zu beiden Seiten der Stadt schoben sich steile Berge empor, die mit grauen, schroffen Felsen in einem samtgrünen Waldsaum fußten. Was für ein schönes Land! Sebastian konnte sich gar nicht satt sehen, an diesem idyllischen Bild. Es vermittelte Frieden, Glück und ein Gefühl von Geborgenheit, das man empfand, wenn man sich an einem Ort zuhause fühlte.
Der Anblick täuschte gewaltig über die Bedrohung hinweg, die über diesem Paradies lag. Das einzige, was daran erinnerte, dass sich dieses Land praktisch im Kriegszustand befand, waren die Heerlager, deren Zelte hier und da als kleine weiße Punkte im Grün leuchteten. Doch das Volk nahm die Gefahr nicht mehr wahr. Die Îval hatten sich mittlerweile an den Anblick der Kriegslager gewöhnt, die wie kleine Dörfer vor ihrer Stadt lagen und mit denen reger Handel zu treiben war.
Viele Mädchen hatten sich heimlich mit Kriegern verbunden, viele Bauern sich mit ihnen angefreundet, so dass ein ständiger Verkehr von Fußvolk zwischen Falméra und den Lagern stattfand. Die Îval sahen die Krieger vor ihrer Haustür nicht mehr als Verteidiger ihrer Heimstatt. Längst hatten sie die angebliche Bedrohung durch Torbuk in den Hintergrund ihres Lebens geschoben.
Erhöhte Steuerabgaben, die wachsende Präsenz der zumeist vermögenderen Oranuti in ihrer Nachbarschaft und die Neugier darauf, welches junge Paar sich am Abend bei den Elsirentänzen am besten hervortat, beschäftigten sie mehr, als die Frage, was Torbuk mit seiner Armee in den Tälern des Festlandes trieb. Quaronas, das Val Mentiér, Zarollon, das alles lag scheinbar weit entfernt von ihrem Interesse.
Nur jenen, welche an der westlichen Küste lebten, wie Antaronas Tante mit ihrer Familie, wurde zeitweise bewusst, dass es außer Falméra noch eine andere Welt gab, wenn an klaren Tagen am Horizont über dem großen Wasser Wolken auftauchten, die gar keine waren. Dann sahen sie die unendlich weit entfernten Gipfel der Berge, die aus dem ewigen Eis ragten.
Der eine oder andere mochte sich in diesem Moment vielleicht daran erinnern, dass es dort unter diesen Bergen auch Îval gab. Und wer von ihnen unregelmäßigen Kontakt zum Festland unterhielt, konnte nicht leugnen, dass die Brüder und Schwestern dort täglich ums nackte Überleben kämpften. Doch es waren nur noch wenige, denen diese Tatsache noch ins Bewusstsein drang.
Zu groß war die Ignoranz geworden, das einschläfernde Gefühl der vermeintlichen Sicherheit. Die Îval auf Falméra wähnten sich auf ihrer Insel, abgeschirmt vom großen Strom des großen Wassers gegen alle Feinde von außen beschützt und behütet. Dass die Gefahr in Gestalt der Oranuti bereits in ihrer Nachbarschaft Fuß gefasst hatte, vermochte kaum jemand so zu sehen. Wie auch, wenn nicht einmal der Landesherr, der Hüter des Volkes diesen Weitblick besaß?
Sebastian nahm sich vor, in dieser Sache etwas zu ändern. Er wollte die Îval aufrütteln, das Volk aufklären, ihm in Erinnerung rufen, dass ihre Brüder und Schwestern unter der Willkür Torbuks und Kareks starben und Quaronas bereits seine schwarzen Klauen in Richtung ihrer sonnigen Insel ausstreckte.
Allein die Gefahr, welche die vielen Oranuti im Lande darstellten, konnte selbst Areos nicht in das Bewusstsein des Volkes bringen. Er konnte, wollte und durfte nicht gegen die seit langem ansässigen Mitbürger der Oranuti hetzen, ohne einen für das Volk sichtbaren Beweis für die verräterischen Absichten ihrer Fürsten zu liefern.
Viele Îval waren mittlerweile mit Oranuti befreundet oder auch in Blutsverwandtschaft verbunden. Selbst mit einer nicht mehr von der Hand zu weisenden Erkenntnis über die Absichten der Oranuti Fürsten würde es schwer werden, wenn nicht gar unmöglich, die Spreu vom Weizen zu trennen, dem König loyal gesinnte Oranuti von heimlichen Wegbereitern Torbuks und infiltrierenden Invasoren zu unterscheiden.
Sebastian musste den König dazu raten, sich bereits in diesen Tagen Gedanken darüber zu machen, wie mit den Oranuti auf Falméra zu verfahren wäre, wenn eine sichere Erkenntnis Land und Volk dazu zwingt, sich gegen die meisten der zugewanderten Handelsleute und Fürsten zu stellen.
Es würde dann kaum möglich sein, jeden Oranuti und jede mit einer, oder einem Oranuti verbundene Familie der Îval auf Volks- und Königstreue hin zu überprüfen. Sebastian ahnte ein heilloses Chaos, vielleicht sogar in Form eines Bürgerkriegs, auf Falméra zukommen. Von innen heraus durch so eine Belastung geschwächt, wäre Falméra Torbuks Truppen hilflos ausgeliefert, selbst wenn diese auf rohen Baumstämmen angerudert kämen.
Plötzlich drangen Stimmen an Sebastians Ohr. Ihm war, als hätte er vorher schon etwas gehört, doch er war so sehr in seine Gedanken vertieft, dass er es nicht ernsthaft wahrgenommen hatte. Nun aber konzentrierte er sich auf seine Umgebung und lauschte.
Da! Es klang von weit her, wie, wenn Männer sich mit einem Zwerg unterhalten würden. Er drehte den Kopf und versuchte die Richtung festzustellen, aus der die Stimmen zu ihm herüberwehten. Niemand war weit und breit zu sehen, und doch klang es, als würde jemand drüben am Waldrand reden. Da es sowieso Zeit war und er in genau diese Richtung musste, entschied Sebastian, seine beschauliche Pause zu beenden und der Sache auf den Grund zu gehen.
Vorsichtig schritt er weiter, immer vorausspähend, um nicht plötzlich überrascht zu werden. Nach einigen Metern führte ihn der Weg wieder in den Wald. Warmer Sonnenschein fiel in schrägen Strahlenlanzen durch die Bäume, durch Tausende winziger Insekten und Blütenstaub leuchtend sichtbar gemacht.
Auch die Stimmen wurden deutlicher. Sie hallten zwischen den Bäumen und der Effekt erinnerte Sebastian an die Hallen von Talris, wo sich der Schall ebenfalls zwischen den Säulen hochgeschaukelt hatte. Nur wurde jeglicher Ton im Wald von genügend Strauchwerk und Laub auf dem Boden etwas gedämpft.
Ohne Zweifel konnte Sebastian bereits drei Stimmen unterscheiden, obwohl er die Sprecher noch nicht sehen konnte. Es musste sich um mindestens zwei Männer handeln, die mit einem alten Männlein, oder einer alten Frau stritten. Ungefähr sechzig bis siebzig Meter voraus bog der Weg nach rechts ab. Sebastian verließ den Pfad und schob sich langsam durch das Unterholz zwischen den Bäumen hindurch.
Wäre es früher Morgen gewesen, wenn Laub und Zweige auf dem Boden feucht vom Tau waren, so hätte er sich völlig lautlos bewegt. Antarona hatte es ihm beigebracht. Doch der Wald war ausgetrocknet und so knackte doch mal ein Stück Holz, oder seine Füße verursachten ein leises Rascheln.
Die Stimmen aber waren so laut, dass Sebastian hoffte, sein Anschleichen bliebe unentdeckt. Leicht geduckt, mit dem Schwert Äste und peitschende Zweige von seinem Gesicht fern haltend, schlich er um einen mannshohen, moosbewachsenen Felsen herum, folgte einer Rinne, die bei starkem Regen entstanden war, und sah bald voraus eine sonnige Lichtung durch die Bäume schimmern.
Die dicken und hohen Stämme der Laubbäume standen nicht sehr dicht, so dass Sebastian bezweifelte, sich nahe genug an den Rand der Lichtung heranpirschen zu können. Was hätte er in diesem Augenblick für Renos und Ronas Gesellschaft gegeben! Als sie noch bei ihm waren, bevor er sie am Strand des Festlands zurücklassen musste, war ihm ihr Wert gar nicht bewusst gewesen.
»Nun lasst’s gut sein, Alte, freuet euch, dem König dienen zu dürfen...« Der Wind verzerrte nun nicht mehr die Stimmen und Sebastian lauschte den Worten der Fremden, während er sich weiter anschlich.
»Ach lasst doch das alte Weib und kommt, wir haben schon genug Zentaren verloren«, vernahm Basti noch eine zweite Männerstimme. Er war nur noch etwa zwei Steinwürfe vom Waldrand entfernt und konnte eine blühende Wiese zwischen den Bäumen erkennen, die im Sonnenlicht des Nachmittags lag.
»Nein, das betrügerische Bauernpack soll mal sehen, dass es mit uns nicht machen kann, was ihm beliebt«, hörte Sebastian nun wieder den ersten. »Die Alte will uns die Quarts aus der Tasche lunsen, dagegen hab’ ich etwas.« Dann fügte er lauter hinzu, und meinte wohl jene, die er mit Alte bezeichnete:
»Los, wertloses Weib, gib endlich heraus, was uns zusteht, sonst macht ihr mit meinem Dolch Bekanntschaft!« Zu seinem Begleiter gewandt, wieder etwas leiser und leicht belustigt, sprach er:
»Was meint ihr, Hunroth, soll ich ihr zuerst die Ohren abschneiden? Zu hören vermag sie mit ihnen ja doch nicht, wie es scheint.«
»Ach, tut was ihr wollt, aber kommt endlich! Wir müssen die Pla-ka noch auf die Weide bringen und zur schlafenden Sonne erwarte ich mein Mädchen«, rief der mit Hunroth Angesprochene ungeduldig.
Inzwischen hatte sich Sebastian im Schutz von Bäumen, Sträuchern und Felsblöcken bis an den Waldrand herangeschoben. Eine einsame, Gras bewachsene Lichtung breitete sich vor ihm aus, über der unzählige Moskitoschwärme tanzten.
Zwei bewaffnete Reiter mit Ross und Rüstzeug standen auf dem Weg, der sich über die freie Wiesenfläche hinzog. Vor ihnen stützte sich ein altes Kräuterweib gekrümmt auf ihren dicken, knorrigen Stab und stellte sich schützend vor einen Tragekorb und ein Bündel Reisig, das sie auf dem Weg abgesetzt hatte.
Die Frau schien alt, knöchern und gebrechlich. Unter ihrem Kopftuch lugten eine große Hakennase sowie ein paar Haarstränen hervor, die silbern im Sonnenlicht glänzten. Vor ihr altes, lumpiges Kleid, hatte sie mit einem groben Strick eine leuchtend blaue Schürze gebunden, die so gar nicht zu ihrem restlichen, eher schmuddeligen Äußeren passen wollte.
Einer der Reiter stieg nun unbeholfen vom Pferd und hatte Mühe, seinen Waffenrock nicht mit dem Zaumzeug des Pla-ka zu verheddern. Der andere blieb aufgesessen und versuchte sein Reittier zu beruhigen, das nervös im Kreis tänzelte. Es waren Krieger irgendeines der Heerlager, die Sebastian im Laufe des Tages besucht hatte. Die runden Schilde, welche an ihren Pla-ka befestigt waren, glaubte er schon gesehen zu haben.
Die Krieger eines jeden Truppenteils trugen identische Zeichen auf ihren Kampfschilden, damit die Einheiten im Gefecht weithin sichtbar gut zu unterscheiden waren. Das Heerlager mit dem Zeichen der Schildkröte hatte er am Morgen aufgesucht.
Der abgesessene Soldat hatte inzwischen ebensolche Schwierigkeiten mit seinem Pferd, wie sein Kamerad. Er musste sein störrisches Tier mit der ganzen Kraft seines Körpers beiseite schieben, um sich der alten Frau zuwenden zu können. Die murmelte irgendwelche monotonen Sätze vor sich hin, als wäre sie geistig leicht abgedriftet.
Sebastian beobachtete aus seinem Versteck heraus und überlegte, was er tun sollte. Durfte er sich hier einfach einmischen? Er wusste ja nicht einmal, worum es ging! Und überhaupt, was ging ihn so eine alte Kräuterhexe an? Was hätte wohl Antarona an seiner Stelle getan? Sebastian musste nicht ernsthaft überlegen. Er wusste, was sie getan hätte! Sie stellte sich immer auf die Seite der Unterlegenen, es sei denn, diese hatten die Maßregelung verdient, welche ihnen angedacht war.
Der Reiter baute sich in voller Körpergröße vor dem Weiblein auf, das er mit mindestens drei Köpfen überragte, und zog seinen Dolch, der in Länge und Größe seinem Schwert kaum nachstand.
»Nun wollen wir doch mal sehen, was ihr dagegen tun wollt«, tönte der Mann selbstsicher und hielt der Alten die blinkende Klinge vor die Brust. Dann forderte er ärgerlich:
»Jetzt gebt schon heraus, was wir fordern, sonst geht es euch schlecht! Wir sind Reiter des Königs, keine hergelaufenen Bauern, die ihr an der Nase herumführen könnt, merkt euch das!«
Die Frau hatte Mühe, zu ihm aufzusehen, wich aber um keinen Zentimeter zurück. Sie blieb erstaunlich ruhig, bewegte sich nicht und starrte den Krieger nur ausdruckslos an. Das brachte diesen wiederum noch mehr in Rage.
»Was ist mit euch, Alte, habt ihr mich nicht gehört?« fragte er wütend und mit einem eleganten Hieb seiner Waffe riss er der alten Frau das graue Kopftuch vom Haupt, wirbelte es herum und ließ es achtlos auf die Wiese segeln. Ihre silbergrauen Haare flogen wie Spinnweben im Sonnenlicht auf und fielen ihr ins Gesicht zurück.
Der Reiter auf dem Pferd, ein Hüne mit rotem Vollbart und ebenso kupfern leuchtenden Haaren hatte mittlerweile sein Tier in den Griff bekommen und sah seinem Kameraden eher gelangweilt zu.
»Also Ohren habt ihr doch«, machte sich dieser über sein Opfer lustig, »womöglich hört ihr besser damit, wenn ich sie euch etwas weiter mache, was?«
Die Spitze seiner Dolchschneide wanderte an der eingefallenen Schulter der Alten vorbei und verharrte an ihrem Ohr, das unter dem langen und verfilzten Haar nur zu erahnen war.
»Ich werde euch die alten Lappen mal etwas druchbohren, damit der alte Mist herauskommt und ihr die Reiter des Königs...«
»Das würde ich an eurer Stelle nicht tun!« rief Sebastian laut und deutlich aus seiner Deckung heraus, gerade als der Mann seinen Dolch langsam gegen den Kopf der Alten drücken wollte. Seine Stimme rollte wie ein drohendes Echo über die Lichtung. Er wollte sich nicht einmischen, doch konnte er Antarona nie wieder unter die Augen treten, hätte er einfach zugesehen.
Völlig überrascht und gehetzt sah sich der Krieger um. Sein verdutztes Gesicht konnte er dabei kaum verstecken. Diesen Moment nutzte die Alte und hob ihren Arm an. Etwas winzig Kleines hielt sie in der Hand und streckte es dem Soldaten entgegen. Sebastian konnte nicht genau erkennen, was es war, doch es blitzte und blinkte im Sonnenlicht, wie ein Stein, der bunte Funken versprühte. Dazu erklang ein Schellen, wie es kleine Glöckchen verursachten.
Geblendet und irritiert zog sich der Reiter einen Schritt zurück, stolperte über einen Stein und schlug rücklings hin. Bevor er sich aufrappeln konnte, ging die Alte ganz langsam auf ihn zu, den funkensprühenden Stein wie ein Pendel hin und her schwingend. Der andere Mann musste hart in die Zügel greifen, um sein verschrecktes Pferd zur Ruhe zu zwingen.
»Ich hab’s euch gesagt, lasst die Alte ziehen, die macht nur Ärger!« klagte er seinen Kameraden an. »Da seht ihr es, nun haben wir den Verdruss! Was, wenn die jetzt einen bösen Zauber auf uns legt?« kreischte er in panischer Angst.
Sebastian wollte die Situation entschärfen, bevor sich der gestürzte Reiter wieder aufrichten konnte, und noch etwas geschah, das vielleicht nicht wieder gut zu machen war. Das Schwert vorgestreckt, trat er auf die Lichtung und ging in ruhigem Schritt auf die Kontrahenten zu.
Bewusst drehte er sich etwas in die Sonne, so dass die Reiter das leuchtend bunte Wappen auf seinem Hemd sehen mussten. Das Wappen des Königs zeigte Wirkung. Beide Reiter starrten Sebastian mit staunendem Blick entgegen, als würden sie einen Geist erblicken.
Nur die alte Frau blieb unbeeindruckt. Sie war noch immer auf den am Boden liegenden Krieger fixiert und sprach unbeirrt weiter, als beschwor sie einen mächtigen Fluch herauf. Ihr faltiges, tiefbraunes und wettergegerbtes Gesicht blieb dabei ebenso regungslos, wie ihre kleinen, stechenden Augen, die aber entgegen Bastis Vermutung, keinen Hass versprühten.
Ihr Blick vermittelte einen gütigen, bis gleichgültigen Ausdruck, der sich in ihrem zerfurchten Gesicht wiederfand, das von vielen Entbehrungen und Erfahrungen des Lebens erzählte. Die Zähne schienen ihrer gähnenden Mundhöhle längst entfallen und die knochigen Hände zitterten leicht, indem sie noch immer das kleine, funkelnde Objekt über den Soldaten des Königs hielt.
Der, wie auch sein Freund, schienen wie gelähmt. Erst ein böser Zauber, der über sie hereinbrach, dann noch ein Heerlagerführer mit dem persönlichen Wappen des Königs! Das war auch für zwei so hartgesottene Kämpfer ein zu viel an Überraschung.
Freundschaftlich und versöhnlich legte Sebastian seine Hand auf den Arm der Alten und senkte ihn mit sanfter Gewalt.
»Lasst es gut sein, Mütterchen, das wollen wir doch alle nicht, dass hier jemand zu Schaden kommt, nicht wahr?«
Erst jetzt gewahrte die Frau den Heerführer in seinem prachtvollen Waffenhemd. Sie blickte Sebastian an und ein leichtes, kaum wahrnehmbares Leuchten huschte über ihre Augen. Schwer stützte sie sich auf ihren krummen Stock und sagte krächzend:
»Niemandem will die alte Binerin schaden, Herr. Doch tat Not diese dort«, damit wies ihr dürrer Finger auf die Krieger, »das Fürchten zu lehren, wie sie anderen Furcht zufügen!« Sebastian musste sich ein wenig abwenden, denn die Alte verströmte einen penetranten Geruch nach Verwesung, Tod, nach menschlichen Exkrementen und mangelnder Hygiene. Sie stank ganz einfach!
Selbst aus ihrem Mund fuhr eine übel riechende Wolke, die deutlich dokumentierte, was die Alte in den letzten drei Wochen gegessen haben musste. Froh, sich einen Moment von ihr abwenden zu können, herrschte er die beiden Reiter an:
»Was war hier los? Antwortet gefälligst, oder ich sorge dafür, dass ihr für den Rest eurer Zentaren die Kotgruben eures Lagers ausheben und zuschütten dürft!«
Sebastian reckte sich und stemmte demonstrativ seine Fäuste in die Hüften, um Stärke zu demonstrieren. Doch war er immer noch einen guten Kopf kleiner, als die Reiter. Allein das Wappen auf seiner Brust verhinderte wohl, dass die beiden auf den Einfall kamen, ihn nach allen Regeln der Kunst zu verprügeln. Stattdessen verteidigte sich der Gefallene:
»Die alte Me-rile¹ wollte uns betrügen, Herr, ich wollte ihr nur...« Sebastian unterbrach ihn mit einer strengen Handbewegung.
»Ich weiß, was ihr nur wolltet, ihr habt es ja laut genug durch den Wald posaunt«, hielt er dem Mann bissig vor.
»Wie war das, ihr wolltet ihr die Ohren durchbohren? Hatte ich das richtig verstanden?« Sebastian wandte sich dem anderen Mann zu, der nun Anstalten machte, von seinem Pla-ka herunterzusteigen.
»He ihr da, Rotfuchs, ja vorsichtig mit euren Bewegungen, bleibt besser, wo ihr seid! Also, wie war es denn nun wirklich? Jetzt aber die Wahrheit, wenn ich bitten darf!« sagte er in scharfem Befehlston. Der Krieger, der etwas mehr Verstand zu besitzen schien, als sein grober Kamerad, verbeugte sich tief und sprach demütig:
»Es war ein Missverständnis, Areos, Herr, wir wollten der Alten nicht an den Saum. Wir wollten ihr Äpfel abkaufen und zwei Quarts dafür geben. Sie aber wollte zehn Quarts haben, weit zu viel für die schlechten Früchte! Dann wollte uns die Alte gar keine Äpfel mehr geben. Das erregte den Unmut meines Schildkameraden, Herr.«
»So einen Unmut, dass er ihren Kopf aufspießen wollte?« fragte Sebastian lauernd. Der andere Reiter kam nun sehr rasch auf die Beine und wiegelte ab:
»Das hätte ich niemals wirklich getan, gütiger Herr, glaubt mir, ich schände keine alten Weiber, noch niemals! Ich wollt ihr nur einen Schreck einjagen, das ist alles, Herr!«
»Nun, damit hattet ihr ja respektablen Erfolg«, stellte Sebastians Sarkasmus fest. Dann drehte er sich wieder zu der Alten um und meinte ein flüchtiges, schadenfrohes Lächeln in ihren Augen gesehen zu haben.
»Hat es sich so zugetragen, ehrwürdiges Mütterchen?« fragte er sie freundlich. Die Alte kicherte aber nur vor sich hin, wie eine geistig Verwirrte und hob drohend ihren Finger, der nur aus Haut und Knochen zu bestehen schien. Leise krächzte sie:
»So sie das Böse im Leibe tragen, und eben dieses säen, so ernten sie Böses, das ihnen nimmt, was ihnen teuer!« damit spuckte die Alte beiden Reitern vor die Stiefelspitzen. In diesem Augenblick stand das blanke Entsetzen in den Gesichtern der kampferprobten Krieger, als hätten sie gerade eine ganze feindliche Armee aus dem Wald treten sehen.
Sebastian reichte es nun. Er war nach diesem langen Tag nicht mehr in der Stimmung für Hexenzauber auf der einen und primitiver Dummheit auf der anderen Seite.
»So, Schluss jetzt!« rief er. Und zu dem alten Weiblein gewandt: »Habt ihr meinen Reitern bereits die Äpfel gegeben?«
»Sie wollten sie für einen zu gering an Lohn, dann verschmähten sie der Binerin Baumfrüchte und schimpften gar lästerlich«, erzählte sie. Sebastian sah sie durchdringend und mit offenen Augen an.
»Habt ihr bereits Quarts von den beiden erhalten?« wollte er wissen. Daraufhin zeigte ihm die Alte nur tonlos ihre leeren, ledernen Handflächen, die leicht zitterten. Tief einatmend drehte er sich wieder seinen Kriegern zu. Die sahen zu Boden und bewegten sich nervös auf der Stelle, als galt es ein unsichtbares Feuer auszutreten.
»Also habt ihr keine Forderungen mehr an das Mütterchen zu stellen, ist das richtig?« Mit scharfem Blick sah er seine Soldaten an.
»Wenn ihr es so sagt, Herr, so wird es schon recht sein.« antworteten sie wie aus einem Munde. Sebastian ließ seine Blicke noch einmal zwischen der Alten und den beiden Reitern hin und her schweifen. Als beide keine weiteren Forderungen vorbrachten, machte er eine auffordernde Handgeste zu seinen Reitern.
»Dann auf die Pla-ka mit euch, aber rasch. Ich nehme an, ihr habt noch etwas anderes zu tun, als arme Kräuterfrauen um ihr wenig Obst zu bringen, oder?« Die beiden nickten nur und wollten schon ihre Rosse antreiben, als Sebastian sie noch einmal aufhielt:
»Auf ein Wort noch!« Er wartete, bis sie ihm zuhörten. »Wir, die Reiter des Königs, sind dazu da, das Volk zu schützen, nicht aber, es zu berauben! Habt ihr das verstanden? Merkt euch das für die Zukunft! Und nun hinfort mit euch, bevor mir einfällt, was ich noch mit euch anstellen möchte!«
Das ließen sich die beiden nicht zweimal sagen und hieben ihren Pla-ka die Fersen in die Seiten. Sebastian war sich nicht ganz im Klaren darüber, ob sie eher vor ihm als Krieger, oder vor Areos dem Sohn des Königs, oder aber vor der vermeintlichen Zauberkraft der Alten Reißaus nahmen.
Er sah den beiden kopfschüttelnd nach. Dann hob er der Alten Kopftuch auf und reichte es ihr. Etwas beschämt sagte er:
»Es tut mir leid, Mütterlein, dass ihr von meinen Soldaten belästigt wurdet. Ich denke, die tun so etwas nicht noch einmal« Er beobachtete, wie die Alte mit umständlichen Handgriffen ihr Tuch aufknotete und es sich schließlich wieder um den Kopf band. Er hielt ihr solange den Stock und versuchte etwas über die Alte zu erfahren.
»Wohin führt euch euer Weg, Mütterchen?« wollte Basti wissen. Wieder auf ihren Stecken gestützt, krähte sie heiser:
»Im Blattgrund unten, ja, da liegt der Binerin Kate. Muss gehen, dorthin zu kommen, Herr«. Nun, mit Blattgrund konnte Sebastian recht wenig anfangen. Von einem solchen Ort hatte er noch nicht gehört.
»Blattgrund, ist das weit von hier«, fragte er weiter, »wo genau ist das?« Das Weiblein streckte seinen dürren Arm aus und wies in die Richtung zwischen Falméra und der Burg.
»Jenseits der Burgtreppen, an der Stadtmauer entlang, in den Grund«, erklärte sie mit ihrer krähenden Stimme umständlich.
»Nun, da haben wir ja fast den gleichen Weg«, stellte Sebastian fest, steckte sich das Schwert in den Gürtel zurück und machte Anstalten, sich ihren Obstkorb auf den Rücken zu laden. Der Tragekorb war nicht sehr schwer, für eine alte Frau aber alles andere als leicht.
»Bürdet euch nicht auf, was eurer ergebenen Dienerin Lasten, Areos, Herr«, wollte sie ihn davon abhalten, ihr tragen zu helfen.
»Ist nicht der Binerin Recht, des Königs Sohn, welcher dieser nicht ist, ihre Ernte zu tragen.« Sebastian nahm auch noch das Reisigbündel auf seine Schulter und sagte lachend:
»Ach, macht euch mal keine Sorgen, ehrwürdiges Mütterchen, ich bin kräftig genug. Warum sollte ich euch nicht helfen, wenn es euch doch umso schwerer auf den Schultern lastet? Davon wird mir schon kein Zacken aus der Krone brechen!«
Sebastian sprach den letzten Satz einfach nur so daher. Es war eine gebräuchliche Redensart in seiner Welt, derer sich bereits sein Vater bedient hatte. Die Alte aber sah ihn bei diesen Worten seltsam lächelnd an. Und erst da drangen ihre Worte deutlich in sein Bewusstsein: ...des Königs Sohn, welcher dieser nicht ist...
Wie meinte sie denn das? Ahnte, oder wusste die Alte, dass er nicht Bentals Sohn war? Aber woher? Etwas Geheimnisvolles hatte diese alte Frau, das nicht zu durchschauen war. Sebastian musste mehr über sie erfahren!
»Sagt, Mütterlein«, suchte er das Gespräch, während sie langsam neben ihm her wackelte, »lebt ihr dort mit eurer Familie, im Blattgrund?« Ohne aufzublicken krächzte sie:
»Keine Familie, immer allein, die Binerin. War immer allein, besser so.« Sebastian nickte nur, dachte darüber nach, wie er noch mehr von ihr erfahren konnte.
»Ihr sei gern allein?« Sie ließ seine Frage unbeantwortet und winkte nur mit der freien Hand müde ab. Sebastian fühlte sich ihr aber irgendwie verpflichtet. Er wagte einen letzten Versuch:
»Na ja, manchmal kann man Geschehnisse besser vergessen, wenn man allein ist.« Er hatte das nur so daher gesagt, um das Gespräch nicht sterben zu lassen.
Die Alte aber blieb abrupt stehen, blickte mit ihren kleinen, listigen Augen zu ihm auf und musterte ihn interessiert. Er hatte das Gefühl, sie vermochte in seine Gedanken zu sehen. Das gleiche Gefühl hatte er manchmal, wenn Antarona ihn so ansah. Es war so etwas, wie eine innere, geistige Verbundenheit zweier Seelen, die nicht mehr der Worte bedurften, um sich zu verstehen.
Nachdem sie beinahe zwei Stunden meist schweigend nebeneinander her gegangen waren, erreichten sie das große Portal und die Freitreppen, die von der Burg zur Stadt hinunter führten. Sebastian bot der Alten an, ihr die Lasten bis hinunter in ihren Grund zu tragen. Doch davon wollte sie nichts wissen.
»Meiner Männer wegen stehe ich tief in eurer Schuld, Mütterlein«, sagte er zum Abschied, »daher lasst es mich wissen, wenn ihr einmal in Not seid.« Die Alte sah ihn lange an und sprach dann:
»Areos, Herr, der ihr nicht aus dem Geschlecht derer von Falméra seid, tragt ihr dennoch die Güte der Götter in euch. Ihr habt eine Geringere erhoben zu euer gleichen Stand, dafür habt Dank. Die Götter mögen behüten, beschützen und Wunder tun. Sie vermögen dennoch nicht, zu erwecken, was zu Staub.«
Sebastian hörte ihre Worte, verstand aber nicht deren Sinn. Doch er begriff, was das Herz der Alten ihm vermitteln wollte. Er fühlte es wie eine Stimmung, die plötzlich von ihm Besitz ergriff.
»Nehmt denn zum Dank dieses«, krächzte ihre leise Stimme, »in ihm ist der Geist der Wolfzahnfrau. Tragt es wohlbehütend. Es wird euch vor euren Feinden schützen, jenen die ihr seht, und jenen die euch nach Gut und Leben trachten im Verborgenen!«
Während sie die Worte mühevoll hervorbrachte, hielt sie ihm den wundersamen Stein hin, welcher auf der Lichtung gegen den Reiter bunte Funken sprühte. Sebastian wehrte höflich ab.
»Gutes Mütterlein, das kann ich nicht annehmen! Ich habe ein gutes Schwert. Ihr jedoch braucht solchen Schutz, gebt ihn nicht fort.« Er wollte nur freundlich sein, denn er glaubte nicht an irgendwelche heimlichen Zauber und Schutzgegenstände.
»Nehmt, nehmt es, nehmt Herr«, drängte sie ihm aber das glitzernde Stück auf und drückte es mit der ganzen Kraft ihrer Knochenhand vor seine Brust.
»Ihr sollt leben für neues Leben, für des Volkes Leben! Die Macht der Wolfzahnfrau, nehmt sie, euch diene sie, für das Gute alle Zeit!« Mit scharfem Blick starrte sie ihn an und stieß ihm die Hand mit dem Amulett fordernd und unablässig mit kurzen, heftigen Schlägen vor die Brust, bis er es ihr endlich abnahm.
Ihre kleinen stechenden Augen durchbohrten scheinbar seinen ganzen Körper und Sebastian wurde unbehaglich und unheimlich zumute.
»Tragt das Zeichen jener auf eurer Brust, welche Mut und Klugheit aus den Adern der Grauhunde nahm, um das Leben der Ihren zu bewahren. Die Götter mögen euch führen, Herr Areos!« Sie wandte sich um, nahm ihre Lasten auf und humpelte, tief auf ihren Stock gebückt davon.
Sebastian schüttelte verständnislos den Kopf, sah abwechselnd auf das davonziehende Weib und das pflaumengroße Amulett, das in seiner Hand bunt blinkend und glitzernd das letzte Sonnenlicht zurück warf. Sebastian drehte den Gegenstand und wahre Sternenfunken tanzten auf allem, was sich in seiner Nähe befand: Auf Baumstämmen, Zweigen, an den Säulen des Portikus, ja sogar auf dem Grasboden.
Es war ein eiförmiger Gegenstand, der in der Mitte eine kleine Kante aufwies und aus zwei Hälften zusammengesetzt schien. Doch ließ er sich nicht öffnen. Nicht durch drehen, ziehen, drücken. Er blieb verschlossen.
Ein wenig erinnerte Sebastian das Teil an eine winzige Urne, oder an ein wohlgeformtes Wespennest. Aus seinem oberen Ende ragte ein ellenlanges Lederband, auf das zwei bunte Holzteile, einige Metallglöckchen, sowie der drei Zentimeter lange Reißzahn irgendeines Raubtieres gesteckt war.
Der Gegenstand selbst war bei näherer Betrachtung mit Tausenden von winzigen, kaum Millimeter großen Glimmerplättchen behaftet, die im Licht bunt funkelten. Sie ähnelten Glimmerschiefer, nur diese hier strahlten intensiver und farbenfroher. Was mochte darin sein? Ein besonderer Stein? Geheimnisvolle, heilende Kräuter?
Eines jedenfalls stand fest. Die beiden Reiter, Krieger des Königs und harte Burschen, die so leicht nichts erschüttern konnte, reagierten schockiert und wie gelähmt, als die Alte das Ding vor ihre Nasen hielt. Was war so gefährlich an diesem glitzernden Ei, dass es ihnen eine solche Furcht einjagte?
Sebastian hob gleichgültig die Schultern und band das Geschenk der Kräuterfrau an seinen Gürtel. Als schmückendes Accessoire machte es sich ganz gut, befand er, als er durch das große Burgtor schritt.

Antarona wachte sehr spät auf und ihre Hand tastete suchend nach Sebastian. Doch außer leeren Fellen und Decken bekam sie nichts zu fassen. Enttäuscht wälzte sie sich auf ihrem Lager herum, hielt sich die Hand gegen das einfallende Tageslicht seitlich an die Stirn und blickte an die Decke des Baldachins.
Was hatte sie denn erwartet? Dass er nun ständig in ihrer Nähe blieb und ihre Hand hielt? Ja. Nein! Natürlich nicht!
Sie wusste um die große Aufgabe, die Preis war, für die Billigung von Rat und König, der Bitte des Achterrats zu entsprechen. Mochte König Bental auch tatsächlich ihr leiblicher Vater sein und eigene Pläne mit ihr verfolgen, Antarona aber ließ nicht ab, ihrem Herzen zu folgen. Und das gehörte nicht nur Areos, ihrem Ba - shtie - laug - nids, sondern dem Volk der Îval, das im Val Mentiér täglich neuen Gräueltaten durch Torbuk und Karek ausgesetzt war.
Es machte sie bereits unruhig und krank, in dieser Burg wie eine Gefangene fest zu sitzen, während ihr Volk litt. Doch wollten sie und Ba - shtie etwas daran ändern, so musste sie diese unerträglichen Zentaren still erdulden.
Wie mochte es inzwischen ihrem Vater ergangen sein? Natürlich dachte sie dabei nicht an den König. Mochte dieser denken und sagen, was er wollte, ihr Vater war und blieb immer noch Hedaron, der Holzer von Fallwasser. Ging es ihm gut? Seit sie die letzte Nachricht mit Tekla und Tonka, ihren beiden Krähen an ihn gesandt hatte, waren die beiden Schwarzvögel nicht mehr aufgetaucht.
Antarona spürte zwar, dass es den Vögeln gut ging, aber sie konnte sich nicht erklären, was die beiden so lange aufhielt. Längst hätten sie mit einer Botschaft Hedarons zurück sein müssen. Sie nahm sich vor, die beiden später zu rufen. Sie vermochte sie natürlich nicht mit ihrer Stimme zu rufen, wohl aber mit ihren Sinnen.
Als Vesgarina in ihrem Schlafgemach auftauchte und fragte, ob sie ihr ein Bad bereiten sollte, war es bereits Mittag. Und nach dem Bad musste ihr Vesgarina etwas zu Essen bringen, weil es für das Mittagessen bereits weit über die Zeit war.
Gelangweilt und ziemlichen Stimmungsschwankungen ausgesetzt, stand Antarona etwas später am großen Fenster des Blumenzimmers, das den Blick auf die Burghöfe und über die weiter entfernt liegenden Dächer Falméras gestattete und spähte nach Sebastian aus.
Sie wusste nicht, ob er draußen unterwegs war, und auch nicht, welche Aufgabe ihm an diesem Tag zukam. Immer wieder versuchte sie eine Sinnesverbindung zu ihm aufzubauen, doch unter dem Zwang, es unbedingt zu wollen, gelang es ihr einfach nicht. Möglicherweise wurde ihre Fähigkeit auch von ihrer Stimmung behindert, die, seit sie um ihre Schwangerschaft wusste, Höhen und Tiefen erfuhr, die ihr zuvor fremd gewesen waren.
Kurz entschlossen schlenderte sie schließlich durch die vielen Räume zurück, mit dem Ziel, die Sonne auf dem Freisitz des Südsalons zu genießen. Ihrer Kammerdienerin hatte sie gestattet, sich zu Frethnal zu gesellen. Die beiden liebten sich und Antarona erfreute sich an ihrem Glück, dass sie, im Gegensatz zu ihr selbst, irgendwann vor dem Volk und den Göttern als anerkanntes Paar verband.
Im Ankleidezimmer entledigte sie sich noch rasch ihrer Kleider und band sich nur den knappen Lederlappen ihres abgetragenen Hüftschurzes und das ebenfalls schon zerschlissene Oberteil um. Die Kleider beengten und behinderten sie, erinnerten sie ständig daran, welche Freiheiten sie mit dem Gang nach Falméra eingebüßt hatte. Auf den leisen Sohlen ihrer nackten Füße durchmaß sie die Zimmer und Kammern, die ihr trotz ihrer Weitläufigkeit wie ein Gefängnis erschienen.
Befreit zog sie die Tür zum Freisitz auf und atmete die klare Luft ein, die vom donnernden Wasserfall herüberwehte. Dankbar ließ sie sich auf die Knie sinken, warf das Oberteil achtlos in eine Ecke, schloss die Augen, streckte die Arme gegen die Sonne und fühlte den Wind auf ihrer Haut. Es war, als würde der Atem Talris alles schmutzige, alles Bedrückende und Beklemmende von ihr fortwehen, als würde er sie reinwaschen.
Antarona versuchte ihre Sinne zu sammeln, versuchte alle ablenkenden Gedanken aus ihrem Kopf zu verbannen, doch es gelang ihr nicht. Der Wind, der ihren nackten Körper umschmeichelte, nahm jedes Mal wieder die gleiche Gestalt an. Sie spürte Ba - shties Hände, die ihre Rundungen liebkosten, ihren ganzen Körper streichelte und mit feuchten Küssen übersäte.
So sehr sie sich auch zu konzentrieren versuchte, sie schaffte es nicht, ihre Sinne zu bündeln und mit dem vorbeiwehenden Wind auf die Reise zu schicken. Was war mit ihr los? Warum gelang es ihr nicht mehr? Enttäuscht schlug sie die Augen auf und sah an ihrem Leib herab. Als würde sie versuchen, etwas Hemmendes von sich abzustreifen, strich sie mit den Händen über ihre Brüste und ihren Bauch.
Sofort regten sich ihre Brustwarzen. Sie wurden hart und Antarona spürte ein leichtes Ziehen in ihnen. Und je näher sie mit den Händen ihrem Schoß kam, desto intensiver fühlte sie auch dort etwas, das sie zusammenzuziehen schien. Skeptisch blickte sie an sich herab, kniff sich in die glatte, straffe Haut, als wollte sie prüfen, ob sie noch sie selbst war.
Etwas schien sich in ihr zu verändern. Verlor sie allmählich die Reinheit ihres Herzens, welches ihr bisher erlaubte, ihre Sinne auf die Reise zu schicken? Noch einmal schloss sie die Augen und versuchte, in sich hinein zu horchen. Es entstand ein Bild, in dem sie sich zweimal sah, als hätten sich Leib und Seele geteilt.
Nachdenklich presste Antarona die Hand auf ihren Unterbauch. War es möglich, dass jenes kleine Herz, gemacht aus Ba - shties und ihrem, das erst seit wenigen Zentaren unter ihrem Herzen schlug, sie so veränderte? Sie wusste, dass die Frauen ihres Volkes sich veränderten, wenn ein kleines Herz unter ihrem eigenen heranwuchs. Aber das brauchte eine sehr lange Zeit!
Sie schüttelte den Kopf. Das konnte es nicht sein! Oder doch? Verlor sie durch das kleine Herz nach und nach all ihre wertvollen, geheimnisvollen Kräfte? Würde sie eines Tages nicht mehr mit dem Wind sehen können, nicht mehr die Tiere verstehen und nicht mehr wie ein Sturm kämpfen können? Dieser Gedanke macht ihr Angst.
Nein! Sie wollte es noch einmal versuchen! Anders, als beim ersten Versuch, konzentrierte sie sich auf das Tosen des Wasserfalls, der drüben, unter dem Licht der Sonne über die Felskante stürzte. Sie versuchte der Stimme des Wassers zu lauschen, vernahm bald den Wind, wie er hier und dort den Strom erfasste, zerstäubte und als Nebel in die Bäume trug. Sie fühlte den Wind, wie er ihre Haut streichelte, schließlich durch sie hindurch zog, endlich ihre Gedanken mitnahm und davon trug.
Sie flog über das Land, über das große Wasser, die Elsirensümpfe und über die hohen Berge. Im Geiste flog Antarona über eine mächtige, zerklüftete Felskante und...
Was sie sah, erschreckte sie. In einem Talkessel, wild verwuchert und voller Felsen und Steine, saßen vier Gore! Sie zerfleischten ein großes Tier, eine Kuh, nein, einen Zugochsen! Noch etwas vermochte sie zu sehen! Die Tiere waren mit dicken Ketten an alte, knorrige Bäume gebunden. Und sie sah Männer, schwarz gekleidete Männer, die um ein Lagerfeuer saßen und Fleisch brieten.
Vorsichtig ging sie näher heran, um besser sehen zu können. Einer der Männer hob plötzlich einen glühenden Stock auf und warf ihn nach ihr. Damit hatte sie gerechnet! Ohne Hast breitete sie ihre schwarzen Schwingen aus und segelte davon, zog eine weite Bahn und ließ sich vom Wind noch einige Male über das Lagerfeuer tragen. Wütend sahen ihr die Männer nach.
Doch sie war ihnen überlegen, denn sie vermochte sich hoch über ihnen weit auf Abstand zu halten. Dann ließ sie sich auf einem Felsen nieder, von dem aus sie die Männer, sowie die Gore gleichermaßen beobachten konnte.
Nicht lange ließen sie die Männer in Ruhe. Schon langte einer nach ein paar Steinen und sie wusste genau, was er damit vor hatte. Bereit, den kommenden Geschossen aus dem Weg zu gehen, ließ sie den Wind unter sich hindurchgleiten, drehte sich in den Strom der Luft, und als der erste Mann zum Wurf ausholte, ließ sie sich vom Wind erfassen.
Plötzlich aber spürte sie einen stechenden Schmerz an ihrer Seite. Sie hörte etwas knallen und ein Schlag traf sie sehr schmerzvoll, ließ sie taumeln und fallen. Antarona schlug irgendwo auf und sah aus den Augenwinkeln, wie die Männer nun alle begannen, ihre Steine nach ihr zu werfen.
Krachend schlugen die Geschosse auf die Felsen, zerbarsten und deckten sie mit einem wahren Hagel von Steinen und spitzen Splittern ein, die sie schmerzhaft attackierten. Sie wälzte sich zur Seite und entging gerade noch einer großen Steinschuppe, die auf den steinigen Boden des Freisitzes schlug und in tausend Teile zersprang.
Etwas verwirrt sah sie sich um. Sie lag auf dem großen Balkon des Südsalons und blutete. An ihrer Seite und ihrem Oberschenkel verspürte sie einen stechenden Schmerz. Gleichzeitig gewahrte sie ein surrendes Geräusch und einen Lidschlag später schlug etwas Schweres heftig auf dem Boden auf, Teile spritzten seitlich davon und sie wurde erneut getroffen, diesmal nahe ihrem Bauchnabel.
Warmes Blut lief über ihre Finger, als sie die Hand auf ihren Bauch presste. Um sich herum sah sie den Boden von Trümmern bedeckt, von Steinen, die gewöhnlich auf Dächern lagen. In Sekundenschnelle erkannte sie die Gefahr, drehte sich geistesgegenwärtig um die eigene Achse und rollte sich über die scharfen Bruchstücke hinweg aus der Gefahrenzone.
Kein Augenzucken zu früh, denn schon raste ein neues Geschoss von oben herab und schmetterte zu Boden. Antarona drückte sich an die Brüstung des Freisitzes und spähte noch oben. Gerde sah sie noch, wie ein paar Arme aus der Dachgaube heraus einen Dachstein aus seiner Verankerung riss, und ihn nach unten rattern ließ. Sekunden später krachte der schwere Stein ein paar Meter von ihr entfernt auf dem Boden auf.
Sehr schnell wurde Antarona klar, dass sie nur mit viel Glück dem Tode entronnen war. Nur ein Zucken später und sie hätte zerschmettert zwischen den Trümmern gelegen! Tiefer Zorn kochte in ihr hoch, als sie begriff, dass dort oben irgend jemand absichtlich diese todbringenden Stücke herab warf.
Die Wut gab ihr Kraft! Ihre Wunden ignorierend, sprang sie mit gewohnter Gewandtheit auf, wich einem neuen Geschoss aus und eilte in den Schutz des Salons. Als galt es, einen Wettlauf zu gewinnen, rannte sie durch die Räume, sprang über Tische und hechtete über im Weg stehende Anrichten bis ins Schlafgemach.
Dort riss sie Nantakis unter ihrem Bett hervor und stürmte auf den Korridor. Gehetzt blies sie sich die langen Haare aus dem Gesicht und sah sich um. Wie kam einer in das Dachgeschoss, das über ihren Gemächern lag? Ihr Blick wanderte über die Decke und registrierte jede Kante, jede Kassette der Holzvertäfelung, jede Außergewöhnlichkeit.
Doch es war nichts zu entdecken, das einen Hinweis auf einen Zugang in der Decke zum Dachgeschoss gegeben hätte. Antarona hetzte zur nächsten Luke in die geheimen Gänge, zwängte sich hindurch und zog sich die Leiter hinauf nach oben. Bevor sie dem Geheimgang wieder entstieg, lauschte sie an der kleinen Tür.
Ein leises Kratzen und Scharren war zu hören, mehr nicht. Sie musste den heimlichen Angreifer überraschen, sonst würde dieser klar im Vorteil sein. Wer immer auch dort oben umher schlich, er kannte sich offenbar gut aus.
Konzentriert spannte sie jede Faser ihrer Muskeln an, holte tief Luft und schob gleichzeitig den Riegel zurück. Nur schwer ließ sich das angerostete Ding bewegen. Antarona musste sich Zeit lassen, um sich nicht mit einem Geräusch zu verraten. Wartete sie andererseits zu lange, konnte der geisterhafte Werfer inzwischen das Weite gesucht haben.
Als sie den Riegel bis zum Anschlag zurückgeschoben hatte, warf sie sich mit ihrem ganzen Gewicht, den Griff Nantakis voraus, gegen die Luke. Das massive, schwere Ding schwang auf und sie purzelte regelrecht aus der Wand. Sofort verstummte das schabende Geräusch. Antarona ging in die Hocke und sah sich lauernd um, während sie ohne hinzuschauen mit einem Fuß die Luke leise zudrückte.
Das Dachgeschoss war ähnlich gegliedert, wie das Stück, welches sie von ihren Gemächern aus betreten konnte, nur eben viel größer. Ein Wirrwarr von mächtigen hölzernen Stempeln, Streben und Balken verdeckten ihr die Sicht. Dieses dunkle Labyrinth aus Holzstützen gewährte ihr nicht mehr Sicht, als zwei bis drei Lanzenlängen.
Die Dachgaubenfenster, die nach Süden zeigten, mussten auf der anderen Seite liegen! Antarona wiegte hin und her, versuchte, an den Stützen und Balken vorbeizuspähen, erkannte aber nur wieder neue Holzkonstruktionen.
Behutsam setzte sie einen Fuß vor den anderen, schlich um eine Mauersäule, vermutlich ein Kaminschlot, dann um eine Kammer herum, an schrägen Balken vorbei. Sie bewegte sich fast lautlos, wie eine Pantherin auf der Jagd, jede Sekunde bereit zum Sprung, den Feind ohne Vorwarnung anzuspringen.
Ehe sie noch die Dachfenster erreichte, huschte plötzlich ein Schatten zwischen dem Gebälk dahin. Mit erstaunlicher Akrobatik wand sich Antarona durch die verzweigten Balken und folgte dem Unbekannten. Der steckte in einem langen, dunklen Umhang, der ihn aber nicht zu behindern schien. Nur einmal blieb der Stoff des Mantels an einem vorspringenden Holzende hängen und riss mit hässlichem Geräusch entzwei.
Den Vorteil des Angreifers, sich auf dem Dachboden gut auszukennen, machte Antarona mit Schnelligkeit, Wendigkeit und nicht zuletzt mit ihrer freizügigen Kleidung wett. Ihr schlanker, nackter Körper bewegte sich flink und biegsam wie eine Schlange durch die Verästelung der Dachkonstruktion und hatte den vermummten Täter fast eingeholt, als dieser in einer Tür verschwand, die knallend hinter ihm zufiel. Ein klackendes Geräusch verriet ihr, dass von außen ein Riegel vorgeschoben wurde.
Aber das sollte eine Kriegerin der Îval nicht aufhalten! Sie hatte mit Nantakis schon oft gegen die schwarzen Reiter der wilden Horden Torbuks gefochten und nie hatte ihr Schwert auch nur einen Kratzer davongetragen. Sie wusste, was die Klinge aushielt.
Vorsichtig steckte sie die Klinge in den winzigen Spalt und fing an, das Holz von der Einfassung fort zu hebeln. Die Klinge hielt Erstaunliches aus! Doch ihre Kraft reichte nicht, um den Riegel zu sprengen. Verzweifelt hieb sie mit der Waffe gegen das Holz der Tür, dann gegen die Beschläge selbst.
Das Eisen der Beschläge wies zwar deutliche Kerben auf, ebenso das harte Holz, doch bis sie sich durch die massive Tür gearbeitet hätte, wären Stunden vergangen! Nantakis allerdings, büßte nichts an Schärfe und Stabilität ein.
Dennoch hatte auch diese Wunderwaffe ihre Grenzen. Das Schwert ließ sich nicht zerstören und unterstützte jeden Handstreich seines Besitzers, sofern dieser nicht die Gebote Talris verletzte. Dennoch vermochte es nicht, mit seiner Zauberkraft alles zu zerschlagen. Eisen und hartes, dickes Holz ließen sich nicht einfach so durchtrennen!
Enttäuscht und nicht ganz ohne Zorn im Bauch trat Antarona den Rückzug an. An einem Balken fand sie den Stofffetzen, der dem Phantom vom Umhang gerissen war. Aus diesem Stoff waren Umhänge gemacht, welche oft von Reitern getragen wurden. Im Augenblick konnte sie damit nicht viel anfangen und klemmte sich das Beweisstück hinter das Band ihre Hüftschurzes.
Dann, nach kurzer Suche, fand sie das Fenster, an dem das Phantom gestanden haben musste. Es war noch geöffnet. Doch Antarona musste sich kräftig hinaufstemmen und bedenklich weit hinauslehnen, um nur die Brüstung ihres Freisitzes zu erkennen. Kopfschüttelnd musterte sie die Stellen, aus denen die Dachsteine herausgerissen wurden, um sie der Schwerkraft zu überlassen.
Wer auch immer dies getan hatte, musste zuvor von anderer Stelle aus gesehen haben, dass sie sich auf dem Freisitz aufhielt! Schlussendlich kam jeder in Frage, der Zugang zu den Treppentürmen hatte, denn allein die Türme lagen höher, als ihre Gemächer mit dem Freisitz. Die einzige Ausnahme war das Dachgeschoss. Doch sie selbst hatte ja gerade festgestellt, dass der Freisitz von dort nur schwer einzusehen war.
Antarona schloss das Dachfenster und hieb mit Nantakis gezielt auf den hölzernen Rahmen ein, bis dieser nur noch ein loses Konstrukt war. Das würde dem Attentäter beim nächsten Mal deutlich verleiden, sich am Fenster hochzuziehen!
Nun erst erinnerte sie sich wieder ihrer Wunden. Skeptisch sah sie an sich herab und befühlte die mit Blut verkrusteten Stellen. Gleichmütig zuckte sie mit den Schultern. Ein paar Kräuterauflagen und es war vergessen!
Gleichzeitig aber wurde ihr bewusst, dass sie außer ihrem knappen Hüftschurz keine Kleidung trug. Zu frieren brauchte sie zwar nicht, denn das Dach hatte sich in der Sonne kräftig aufgeheizt, doch so völlig unbekleidet fühlte sie sich nur in der Einsamkeit ihrer heimatlichen Bergweiden und Wälder wohl.
Trotzdem wollte sie rasch in ihre Gemächer zurückkehren, bevor sich Vesgarina über ihr Verschwinden Gedanken machte. Als sie aber die Einstiegsluke zu den verborgenen Wegen öffnen wollte, offenbarte sich ihr das nächste Problem. Der Durchschlupf, gerade mal einen halben Meter im Quadrat, ließ sich von dieser Seite aus nicht öffnen!
Es befand sich kein Griff, oder Ring daran, keine Vertiefung, nur eine glatte, leicht im gemauerten Wandstück versenkte Fläche ohne Angriffspunkte. Als letzten Ausweg steckte sie die Spitze Nantakis in den Riss zwischen Luke und Wand und versuchte sie aufzudrücken. Vergebens! Das Ding saß felsenfest!
Antarona überlegte und erinnerte sich daran, dass sich die Öffnung nur sehr schwerfällig und unter Einsatz ihres ganzen Gewichts bewegen ließ. Also musste die Durchgangstür selbst aus massivem Stein sein! Darauf hatte sie nicht geachtet, als sie so schnell aus dem Versteck gestürmt war! Was nun?
Die Arme schützend vor ihren Brüsten gekreuzt, stand sie ratlos inmitten des eingestaubten Gewirrs aus Balken, Stützen und Verstrebungen. Nun ärgerte sie sich über ihre eigene überstürzte Handlung, einem Phantom hinterher zu jagen, ohne sich wenigstens das Oberteil überzuziehen. Doch im Grunde wurmte sie mehr, dass ihr der Unbekannte entwischt war.
Nun musste sie über einen der Treppentürme in ihre Gemächer zurückkehren. Sie wusste, dass König Bentals Anweisung an die Wachen, sie nicht aus ihren Gemächern entwischen zu lassen, nach wie vor bestand. Doch was sollten die schon unternehmen? Sie wollte ja nicht hinaus, sondern hinein!
Still lächelnd stellte sie sich im Geiste vor, wie sie fast unbekleidet vor der Wache auftauchte, und Einlass in jene Räume begehrte, die sie eigentlich gar nicht hatte verlassen dürfen. Sie kannte die Männer, meist einfältige Kerle, die bei ihrem Anblick alles um sich herum vergaßen und nur noch an das Eine dachten. Jeder von ihnen würde ihr verunsichert den Weg freigeben, zumal sie sich mit Nantakis meisterhaft zu verteidigen wusste.
Die erste Turmtür, an die sie gelangte, war verschlossen. Wahrscheinlich hielt ein dicker, klobiger Riegel das massive Hartholz im Rahmen. Unbeirrt wanderte Antarona weiter, mit ihrem Schwert die Spinnweben fortwischend, die unter der Last des Staubs sofort in sich zusammenfielen.
Auch die Tür zum Südturm war verriegelt. Das Holz, seit dem Einbau der Tür weitgehend ausgetrocknet, wies Risse auf, durch die sie die Klinge ihres Schwertes stecken konnte. So sehr sie sich auch dagegen stemmte, sie vermochte die Tür dennoch nicht zu sprengen. Vermutlich lag von außen ein mächtiger Querbalken davor.
Der Westturm besaß erst gar keinen Zugang zum Dachraum. Die Tür, die wohl seit Ewigkeiten nicht mehr benutzt wurde, war zugemauert worden. Alles war so massiv und gewaltig gebaut, dass sie selbst mit Nantakis nichts ausrichten konnte. Ein anderes Schwert hätte bereits nach den ersten Versuchen seine Klinge eingebüßt.
Nach einer guten Stunde, während der sie beinahe jeden Winkel des Daches nach einer Schwachstelle durchforstet hatte, stand sie, vom Zentimeter dickem Staub verdreckt, wieder vor der Luke zum Geheimgang. Inzwischen meldete sich der Durst in ihrem Bewusstsein.
Aber auch ihre Wunden machten ihr Sorgen. Sie waren zwar nur klein und oberflächlich, doch sollten sie gereinigt und mit Kräutern bedeckt werden. Oft hatte sie schon starke Krieger in das Reich der Toten gehen sehen, weil diese kleine Wunden nicht weiter beachteten. Sie bekamen dann rote Ränder, wurden dunkel und brachten dem Betroffenen die heiße Haut, so dass er regelrecht verglühte.
Antarona wollte so nicht vor die Götter treten! Es musste doch einen Weg aus diesem Labyrinth aus Dachständern geben! Notfalls musste sie doch noch damit beginnen, sich mit Nantakis durch das Holz einer der Türen hindurch zu arbeiten. Als Ba - shtie einen Weg zu ihr über die kleinen Türme gesucht hatte, war es ihm auch gelungen!
Allerdings, gestand sie sich ein, hatte ihr Mann mit den Zeichen der Götter ausreichend Wasser zur Verfügung, war nicht verletzt und musste auch nicht in der sengenden Hitze eines von der Sonne aufgeheizten Dachraumes arbeiten! Irgendeinen anderen Weg musste es doch noch geben!
Von neuem begann sie den gesamten Dachstuhl zu durchkämmen. Dabei nahm sie besonders die Schornsteine unter die Lupe, denn in ihr starkes Gemäuer waren meist die Luken zu den verborgenen Wegen eingelassen. Nichts!
Tollkühn schnitt sie mit Nantakis Klinge sogar in die Steinfugen, um die Festigkeit der Mauern zu prüfen. Die Fugen selbst waren zum Teil ziemlich bröckelig, doch die massiven Steine ließen sich im ganzen Gefüge nicht einmal bewegen. Aussichtslos!
Mittlerweile musste es Nachmittag geworden sein. Die erstickende Hitze lastete auf dem Dach, wie ein Höllenfeuer. Antarona hatte angefangen, das Türholz des Südturms mit Nantakis Schneide zu bearbeiten. Minute um Minute, Stunde um Stunde und Spänchen für Spänchen schnitzte sie mit der Schneide ihres Schwertes in stickiger Luft aus der Tür. Schweißbäche rannen ihr über den Körper, vermischten sich mit dem Dreck und Staub unendlicher Zentaren und verklebten ihre Haut.
Es hatte keinen Sinn, den Schweiß fortzuwischen, denn er war überall. Fuhr sie sich mit dem Arm über die Stirn, so verteilte sie nur die salzigen Bäche, die ihr in den Augen brannten. Ihre langen Haare, der Stolz einer jeden Îval- Frau, wurden ihr zum Fluch. Sie klebten ihr in Strähnen am Körper und machten sie allmählich so wahnsinnig, dass sie bereits daran dachte, sie mit ihrem Schwert abzuschneiden.
Fieberhaft arbeitete sie an einer großen Kerbe im Holz, bis ihr die Zunge dick wurde, und am Gaumen haftete. Selbst das Leder ihres Lendenschurzes klebte an ihr, wie eine festgewachsene, zweite Haut, denn es hatte sich fast vollständig mit Schweiß vollgesogen. Erschöpft ließ sie das Schwert klirrend zu Boden fallen, ging in die Knie und lehnte sich schwer atmend an eine Holzstütze.
Ihre Lungen pumpten schwer und sie spürte ihr Herz bis zum Hals schlagen. Resigniert sah sie zu, wie sich ihr eigener, nass glänzender Leib unter der erdrückenden Last der Hitze unter der mühsamen Anstrengung, die dicke Luft zu atmen, hob und senkte. Fahrig versuchte sie mit den Händen über Brüste und Bauch zu streichen, um den Schweiß abzustreifen, doch die müden Hände versagten ihr den Dienst. Dabei fiel ihr auf, dass sie ihre Haut mit Blut beschmiert hatte.
Entsetzt warf sie einen Blick in ihre Handflächen, die mit bluteigen Rissen und Schnitten übersät waren. Sie hatte Nantakis bei der Arbeit an der Klinge angefasst, um mehr Druck ausüben zu können. Dass sie dabei allmählich ihre Hände zerschnitt, hatte sie nicht bemerkt. Nun, da es ihr bewusst geworden war, begannen ihre Hände zu brennen und im Takt des Herzschlags zu pochen.
Das klebrige Schweiß-Blut Gemisch konnte sie nicht einmal abwischen. Woran auch? Ihr ganzer Körper war verdreckt, als hätte sie sich im Schlamm gesuhlt. Also ließ sie ihre Arme locker neben sich fallen, hielt die Handflächen geöffnet und hoffte, dass sie irgendwann trockneten.
Aber wie sollte es nun weitergehen? Sie hatte das Türholz, gemessen an seiner Stärke, gerade mal angekratzt! Fuhr sie mit der Arbeit fort, so waren ihre Hände in ein paar Zentaren nur noch blutige Klumpen, die zu nichts mehr taugten!
Während sich trotz der Ruhepause noch immer neue Schweißperlen auf ihrer Haut zu Rinnsalen sammelten, erinnerte sie sich daran, dass sich im Dachraum neben ihren Gemächern abgetrennte Kammern befanden, in denen allerlei Kram unter den Staubschichten ruhte, der ihr in dieser Lage vielleicht hätte helfen können. Gab es in diesem Teil des Daches keine Kammern? Oder waren sie ihrem Blick in der Eile nur entgangen?
Antarona setzte sich auf und sofort liefen ihr wieder beißende Tropfen übers Gesicht. Jede noch so kleine Regung schien Bäche von Schweiß zu produzieren. Wie lange konnte sie das ohne Wasser durchstehen? Sie hatte davon gehört, dass Reisende und Händler in Oranutu durch karge Gegenden kamen, in denen kein Bach floss, kein See und keine Quelle das ausgedörrte Land bereicherte, ja, in dem nicht einmal eine Wasser spendende Pflanze zu finden war.
Oft hatte sie als Kind den Geschichten jener Leute gelauscht, die ohne einen Tropfen Wasser bei glühender Hitze bereits nach einer Sonnenwanderung dem Tode nahe gewesen sein wollten. Aber diese hatten zuweilen noch den kühlenden Wind auf ihrer Haut!
Da fiel Antarona das Gaubenfenster ein, aus dem die Hände des Phantoms langten, um sie mit Dachsteinen zu erschlagen. Sofort war sie auf den Beinen und bereute ihre spontane Reaktion sofort wieder. Augenblicklich breitete sich ein Schwindelgefühl in ihrem Kopf aus und schob ihr einen dunklen Schleier vor die Augen. Mit panischem Griff hielt sie sich an einem Holzpfeiler fest und wartete mit zitternden Knien, bis der Nebel vor ihrem Blick verschwand.
Abgekämpft, wie nach einer langen Schlacht, hob sie Nantakis auf und schlich langsam zum Fenster, das anderthalb Mann hoch über ihr das Licht des Tages in Form von Staub durchwirkten Streifen herein ließ. Nun richtete sich ihr Zorn ein zweites Mal gegen sich selbst. Sie hatte den Rahmen kaputt geschlagen, um ihren Freisitz von wiederholten Attacken zu schützen!
Diese Tat hinderte sie nun selbst daran, sich hinaufzuziehen, um Luft zu schnappen. Aber es musste noch mehr Fenster und Dachöffnungen geben! Ihr Blick wanderte zwischen den Balken hindurch, suchte in der Höhe nach Unterbrechungen in der Dachfläche und wurde fündig!
Neben sieben weiteren Gauben, in denen Fenster eingelassen waren, gab es weiter oben kleinere Dachgauben mit fensterlosen Öffnungen, die mit Holzläden verschalt waren. Wenn es ihr gelang die alle zu öffnen, mochte die Luft frei durch den Dachraum ziehen und ihr das Atmen leichter machen! Aber zuerst musste sie dort hinauf!
Kurz entschlossen umfasste sie die nächste Holzstütze, krallte ihre Zehen in die raue Oberfläche und griff mit einem Ruck ihres Körpers höher. So hangelte sie sich Stück für Stück nach oben, bis zum ersten Querbalken. Dann eine schräge Querstrebe hinauf und wieder klammerte sie sich wie ein Äffchen an einen Stützbalken.
So gelangte sie immer weiter hinauf. Doch je höher sie kletterte, desto dicker und heißer wurde die Luft. Als sie auf der Höhe der Fenster angelangt war, schien der Raum zu glühen. Schnell balancierte sie auf einem Balken zum Fenster hinüber, denn schon spürte sie Übelkeit und Atemnot. Mit panischen Griffen öffnete sie den Riegel des Holzverschlags. Ein angenehmer, kühler Luftzug strömte herein und Antarona ließ sich dankbar auf dem schmalen Balken nieder, um die Frische zu genießen.
Wie im Geäst eines riesigen Baumes tänzelten ihre sensiblen Füße anschließend über das Gebälk zum nächsten Fenster, und weiter zu einem auf der gegenüberliegenden Seite. Mittlerweile spürte sie deutlich den Durchzug, der an einigen Stellen sogar den Staub von den Balken aufwirbelte.
Sie öffnete noch vier Fenster in der unteren Fenstergalerie, die bereits mit blindem Glas ausgestattet waren, und kletterte schließlich wieder nach unten. Nach und nach nahm die brütende Hitze ab und Antarona begann wieder die Turmtür mit ihrem Schwert zu bearbeiten.
Zentare um Zentare kratzte sie sich tiefer ins Holz, bis ihre Hände so sehr zerschnitten waren, dass es nicht mehr ging. Sie brauchte etwas, um ihre Hände zu schützen! Erneut kam ihr in den Sinn, nach Kammern zu suchen, in denen altes Zeug gelagert war.
Tatsächlich entdeckte sie am Ende des großen Dachraums ein paar Verschläge aus ungehobelten Latten zusammen gezimmert. Doch unter den dicken, flauschigen Staubschichten der ersten Kammer fanden sich nur altes Holz, alte Kriegsschilde und ein paar Holzzuber, deren Material rissig geworden war.
Im nächsten Abteil lagen Papierrollen, zum Teil schon vergilbt und brüchig. Es waren alte Karten über Schlachtenaufstellungen, Abgabenlisten von Steuern, Viehzählungen, und Manches mehr. Antarona überlegte, ob die Rollen ihre Hände schützen konnten, wenn sie die scharfe Schneide Nantakis umfasste. In der ärgsten Not musste es gehen!
Eine Kammer weiter entdeckte sie drei alte Schränke, die so groß und schwer waren, dass sie sich fragte, welcher arme Tropf diese über die Turmtreppe heraufgeschleppt haben mochte. In der Hoffnung, etwas Brauchbares zu finden, öffnete sie alle Türen, doch die Schränke waren leer.
Fündig wurde sie erst in der letzten Kammer, in der ebenfalls ein mächtiger, mit geschnitzten Wappen verzierter Schrank stand. Innen auf dem Boden lag ein Streifen groben Bauernstoffes. Er musste einstmals zu einem Arbeitskleid gehört haben. Nun würde er Antarona als Handschutz dienen!
Kräftig schlug sie den Stoffstreifen um einen Stützbalken, bis der Staub heraus war, dann trennte sie das lange Stück in zwei Hälften und wickelte sie sich um die Hände. Der Schmerz in Armen und Händen blieb, doch weiteren Verletzungen konnte sie erst einmal vorbeugen.
Bis zur Dämmerung schnitzte Antarona an der Kerbe in der Tür herum. Hindurch war sie aber noch lange nicht! Wie vermochte Holz so hart zu sein? Dunkel erinnerte sie sich an eine Begebenheit, bei der ihr Vater ebenso hartes Holz hatte bearbeiten müssen. Er hatte es mit zwei Knechten in einer klaren Vollmondnacht in der Zeit des langen Schnees geschlagen. Es war so hart, dass er fürchterlich fluchte, als sein Werkzeug arge Mühe damit hatte.
Die Späne, die sie aus der Tür schnitt, waren so dünn und klein, dass es noch zwei Tage dauern mochte, bis sie ein so großes Loch geschnitten hatte, dass sie mit dem Arm hindurch und an den Riegel langen konnte. Müde dachte sie darüber nach, ob ihr Bemühen überhaupt Sinn machte.
Natürlich konnte sie mit voller Wucht auf das Holz einschlagen. Doch es war zweifelhaft, ob sie mit weniger zielsicherer Einwirkung weiter kam. Außerdem mussten die Schläge wie Donner durch den Turm hallen und die Wachen auf den Plan rufen. Möglicherweise sogar mehrere Feinde, die sie dann in der Falle wähnten. Nein! So verzweifelt war sie noch nicht!
Außerdem würde Ba - shtie sie alsbald vermissen und nach ihr suchen. Irgendwann musste er die Steintrümmer und die Spuren ihres Blutes auf dem Freisitz finden. Würde er dann nicht nachforschen, wie die Dachsteine auf den Freisitz gelangt waren? Musste er darum nicht irgendwann durch eine dieser Türen treten und sie in seine starken Arme schließen?
Ohne diese Hoffnung aufzugeben, wollte Antarona aber weiterhin versuchen, sich aus eigener Kraft zu befreien. In einer Zentare würde es vollends dunkel sein, so dass sie ihre Arbeit mit dem Schwert nicht fortsetzen konnte. Zu Beginn des neuen Sonnenlaufs aber wollte sie weitermachen, bis jemand, sie setzte ihre Hoffnung auf Ba - shtie, sie aus ihrer misslichen Lage befreite.
Für diesen Tag blieb ihr nichts weiter, als sich einen erträglichen Schlafplatz zu suchen, was nicht schwer viel, denn in diesem staubigen Raum war ein Platz so gut, wie der andere. Sie holte sich ein paar Papierrollen aus einer der Kammern und fegte damit eine Ecke hinter einem großen Balken sauber.
Mit den Händen den Griff Nantakis umklammernd rollte sie sich schließlich hinter dem Kantholz zusammen und die Müdigkeit ließ sie in einen unruhigen Schlaf fallen. Doch nicht sehr lange.
Bald weckte sie die Kälte, die ihr schonungslos über die Haut und in die Knochen kroch. Mittlerweile hatte sich der große Raum durch die geöffneten Fenster und die verschwundene Sonne so weit abgekühlt, dass sich Antarona zitternd nach ihren Fellen und Decken sehnte. Außer Staubflocken gab es nichts, mit dem sie hätte ihren bloßen Körper bedecken können.
Zuerst drängte sie sich dichter an den mächtigen Balken, dessen Holz etwas Wärme von der Hitze des Tages gespeichert hatte und rollte sich noch mehr zusammen, um der Kälte so wenig Angriffsfläche wie möglich zu bieten. Doch schon bald fror sie am Po, am Rücken, an Armen und Brüsten und sie wusste schon nicht mehr, wie sie sich noch zusammenkauern sollte, um dieser neuen Pein zu entgehen.
Erst wurde sie beinahe gar gekocht und nun schien das Schicksal vorzuhaben, sie schlicht erfrieren zu lassen! Mittlerweile war es stockfinster geworden, und ein Aufstieg in die Dachkonstruktion, um die Fenster wieder zu schließen, kam nicht in Frage.
Bebend vor Kälte überlegte Antarona, ob sie nun doch mit dem Knauf ihres Schwertes gegen die Tür hämmern sollte, um sich bemerkbar zu machen. Aber ihren Stolz aufgeben, ohne direkt in Lebensgefahr zu sein? Diese Blöße durfte sie sich einfach nicht geben!
Andererseits vermochte sie sich nicht vorzustellen, wie viel kälter es noch werden würde. Die Nacht hatte ja erst begonnen! Was konnte sie tun, wenn es unerträglich wurde? Sollte sie möglicherweise versuchen, Ba - shtie mit ihren Sinnen zu erreichen? War sie fähig, sich trotz der Kälte so konzentrieren, dass sie eine Verbindung zu ihm fand?
Dazu musste sie ihre Sinne auf die Reise schicken. Doch in dieser Zeit war sie praktisch wehrlos. Sollte der Angreifer überraschend zurückkommen, so war sie ihm zumindest einen Moment lang hilflos ausgeliefert. Noch verwarf sie diese Möglichkeit, ersann aber gleich eine Neue.
In einer der Kammern hatte sie unzählige Papierrollen gefunden. Wenn es ihr gelang, sich damit zu bedecken, so war das sicher nicht mit einem warmen Fell zu vergleichen, doch es war besser, als nichts! Um erst einmal wieder warm zu werden, beschloss sie, die Rollen in ihre Schlafecke zu holen.
Wie blind tastete sie sich durch den unbeleuchteten Raum. Dabei hatte sie das Gefühl, als würde nun der Wind durch jede Ritze pfeifen. Während des Sonnenlaufs hatte sie darum gebetet. Antarona biss die Zähne zusammen und ging weiter, mit Nantakis den Weg sondierend. Dennoch knallte sie plötzlich mit dem Kopf gegen ein hartes Hindernis. Die Querbalken! An die hatte sie nicht mehr gedacht.
Leicht benommen hielt sie sich an der Ursache ihres Schmerzes fest und für einen Augenblick war sogar die Kälte vergessen. Wie sollte sie in dieser Finsternis die Kammer mit den Papierrollen finden, wenn sie schon nicht die Hand vor Augen erkennen konnte?
Erst blickte Antarona eine Weile in die leere Dunkelheit, zwang sich ruhig zu atmen, dann schloss sie die Augen. Zunächst versuchte sie an Ba - shtie zu denken, um die Kälte aus ihren Gedanken auszuschließen. Sie dachte an die Stunden, die sie auf der Waldlichtung über der Burg verbracht hatten, nachdem sie durch die Tiefe des Berges geirrt waren.
Nach und nach erkannte Antarona die Bäume, sah immer deutlicher die knapp über dem Boden ausladenden Äste, die mächtigen Stämme, die in den Himmel wuchsen und jene, die der Sturm zu Fall gebracht hatte. Sie wanderte durch den Wald und fühlte sich mit einem Mal sicherer, als hinter den dicken Mauern der Himmelsburg.
Als pirschte sie sich an ein Wild heran, schritt sie vorsichtig, aber zielstrebig zwischen den Stämmen hindurch, umging einen Felsen und trat durch ein natürliches Portal, das zwei junge Bäumchen bildeten. Plötzlich stand sie in hohem Gras, das mit leisem Rascheln ihre nackten Beine umstrich. Dahinter versperrt ihr eine Felswand den Weg.
Sie bewegte sich seitwärts und rauschend teilte sich das trockene Gras vor ihr, floss wie eine instabile Masse links und rechts von ihr fort. Antarona schlug die Augen auf und tastete mit einer Hand und Nantakis die Umgebung ab. Lautes Rascheln ertönte und irgendetwas Leichtes fiel gegen ihre Waden. Sie hatte die Rollen gefunden! Sie hatte sich ihren Weg gedacht.
Nun aber besaß sie nicht mehr den Ehrgeiz, das ganze Zeug wiederum durch das Labyrinth aus Holz zu schleppen, obwohl ihr dabei sicherlich wärmer geworden wäre. Starr vor Schmutz war sie ohnehin schon. Also wühlte sie sich in den Berg aus Papierrollen, krümmte sich darunter zusammen, zog die Knie unters Kinn und versuchte an Ba - shtie zu denken.
Als kalter Nebel sich endlich lichtete, sah sie den Mann, den ihr die Götter gesandt hatten. Erst schattenhaft, dann deutlicher erkannte sie seine Statur, beobachtete, wie er sein Schwert ablegte und dann durch etwas Niedriges, Enges kroch. Es wurde dunkel.
So sehr sie sich auch konzentrierte, ihre Sinne blieben taub und blind. Antarona versuchte ruhiger zu atmen, die Verbindung wieder lebendig werden zu lassen, vergebens! Die Lider wurden ihr schwer und das Geräusch ihres eigenen Atems schläferte sie ein.
Erst die Kälte, die wie ein lauerndes Tier um sie herum kroch und sie schließlich unangenehm berührte, weckte sie wieder. Ihrem Gefühl nach hatte sie gerade mal ein paar Atemzüge lang geschlafen. Die Kälte schien überall gleichzeitig an ihr zu nagen, wie eine Horde Darwicks, ohne dass sie sich dagegen wehren konnte.
Verzweifelt setzte sich Antarona auf, wiegte mit dem Oberkörper leicht vor und zurück und versuchte, sich einen warmen Ort vorzustellen. Allmählich fühlte sie den fröstelnden Hauch weichen. Sie fühlte warme Strahlen auf ihrer Haut, wie von einem Feuer und versuchte, mit ihren Sinnen jenes Wirrwarr der Gedanken zu durchdringen, zu ordnen, das ihr nun durch den Kopf wirbelte.
Als das Bild klarer wurde, sah sie Ba - shtie. Er stand an einem Kamin, dessen Feuer verlockend prasselte. Es war ihr Kamin! Ba - shtie stand am Kamin ihres Hauses in Falméra. Aber er war nicht allein! Sie, Antarona, war bei ihm! Sie fühlte, wie er ihre Hände nahm, sie zu sich heran zog… Dann erschrak sie.
Sie fühlte ihn, doch sie sah einen anderen Körper! Sie war nicht sie selbst! Ihr Ba - shtie hielt eine andere Frau an den Händen! Eine Frau mit sehr hellen Haaren! Kurz bevor der Schreck sie aus ihrem Traum riss, erkannte sie die Frau: Vesgarina!
Ba - shtie vergnügte sich mit ihrer kleinen, stummen Kammerzofe! Abwechselnd fuhren Kälte und Hitze über Antaronas Haut, schüttelten sie erbarmungslos durch, bis sie nur noch fror. Ausgerechnet Vesgarina! Hatte sie ihren Ba - shtie verführt, war sie die lang gesuchte Verräterin? Wollte sie ihn, den Sohn des Königs, für sich haben?
Ein eiskalter Schauer überzog Antaronas Körper. Kraftlos und zitternd rollte sie sich zur Seite, als hätte sie sich dadurch aus ihrem eigenen Traum herausretten können. Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit erfüllten sie und ließen sie noch erbärmlicher frieren, als zuvor. Vesgarina, diese kleine, falsche Schlange!
Mit der Empörung über diesen Verrat stieg wieder etwas Wärme in ihren Leib. Entschlossen, ihren Ba - shtie - laug - nids nicht kampflos einer Nebenbuhlerin zu überlassen, nahm sie Nantakis und tastete sich zu der Turmtür zurück, in der ihr Schwert bereits deutliche Spuren hinterlassen hatte.
Einige Male stieß sie sich den Kopf an unsichtbaren Balken, denn sie war nicht mehr so konzentriert. Ständig spukten Vesgarina und Ba - shtie durch ihren Kopf, und das, was sie miteinander taten, während sie in diesem hölzernen Irrgarten gefangen war. Erst jetzt wurde ihr so richtig bewusst, wie sehr sie Ba - shtie liebte!
Was ihr die Mutter der Nacht verraten hatte, schmerze sie tief, so tief, dass sie vor Trauer zu weinen begann, gleichzeitig aber vor Zorn und Hass Kräfte entwickelte, die sie noch nicht an sich kennen gelernt hatte. Der Schmerz in ihrem Bauch war schlimmer, als jener, den sie empfand, als ihre Mutter in das Reich der Toten ging.
Antarona hatte das Gefühl, jemand stieß ihr einen stumpfen Gegenstand in den Bauch und drehte ihn permanent darin herum. Sie fühlte sich elend, kraftlos, dann aber wieder mit dem Mut, geboren aus der Enttäuschung beseelt. In dem Aufruhr der Gefühle achtete sie nicht mehr darauf, dass die scharfe Schneide ihres Schwertes Nantakis ihre Hände zerschnitt. Sie wollte nur noch aus ihrem Gefängnis heraus.
Sie wollte von Ba - shtie selbst hören, dass er unter Vesgarinas Felle gekrochen war, und wollte ihrer Dienerin in die Augen sehen, der sie so vertraut hatte! Sie musste Klarheit haben! Und sie wollte kämpfen!
Im Wechselbad ihrer Empfindungen malte sie sich die verschiedenen Szenarien aus, die sie erwarteten, sobald sie diesem großen Käfig entflohen war. Hatte Ba - shtie sie tatsächlich belogen, so wollte sie ihm die Augen auskratzen, damit er weder Vesgarina, noch sonst irgendeine Frau jemals wieder ansehen konnte!
Und Vesgarina wollte sie zu den Waschweibern im unteren Burghof verbannen. Dort konnte sie sich ihre zarten Hände schwielig arbeiten! Aber im Grunde wollte sie das alles nicht. Sie wollte nur ihren Ba - shtie! Sie vermochte ihm ja gar nicht weh zu tun, denn ihr Herz war mit seinem verwachsen. Rissen sie auseinander, so glaubte sie sterben zu müssen.
Hin und her gerissen zwischen Liebe, Hoffnung und Zweifeln, bemerkte Antarona gar nicht, dass sie längst aufgehört hatte, das Holz der schweren Tür mit dem Schwert zu bearbeiten. In ihrem Kopf schwirrte es, als tobten dort Tausende von Ná-chins herum. Alles wirbelte durcheinander. Sie wusste nicht mehr, was sie tun sollte, ließ das Schwert sinken und lehnte sich gegen einen Stützbalken, um aufkommendem Schwindel zu begegnen.
Das Durcheinander in ihren Gedanken formte sich zu einem Chaos bekannter Bilder. Sie sah ihre Mutter, bedrängt von schwarzen Reitern, dann einen Mann, der Dinge von einer Klippe in den See warf, sie sah einen Mann in seltsamen Gewändern, der ihr Herz umklammerte, der ihren Schoß pochend und heiß und ihren Kopf schwindelnd machte.
Dann erblickte sie plötzlich sich selbst. Sie wanderte durch die Gänge der Burg. Alle Gegenstände, alle Türen und Fenster flogen nur so an ihr vorüber. Sie bewegte sich schnell, als jagte sie etwas. Aber es war kein Wild, das sie verfolgte, es waren Menschen!
Und dann hatte sie jene eingeholt, die ihre Gefühle durcheinander gebracht hatten. Sie sah Ba - shtie, Vesgarina und Frethnal. Sie standen auf dem Freisitz, der zu ihren Gemächern gehörte. Die Sonne schien und Ba - shtie musste sich mit der Hand die Augen abschirmen, als er herauf sah. Er blickte ihr direkt ins Gesicht! Antarona sah sich aus dem Dachfenster beugen und Ba - shtie spähte zu ihr herauf.
Plötzlich verlor sie das Gleichgewicht, ruderte mit den Armen, spürte einen stechenden Schmerz und fiel! Sie fiel ins Bodenlose, dann, fast gleichzeitig, hob etwas sie an, um sie gleich wieder in eine Leere zu werfen. Sie schien zu schweben und zu fallen gleichzeitig. Endlich sank sie in eine schwarze, stille Tiefe.
Irgendwann tauchte sie aus einem Gewirr von Stimmen, Bildern und Eindrücken auf, versuchte festzustellen, wo sie sich befand, spürte aber nur ein heißes Brennen in ihrem Hals und auf ihrer Haut. Unfähig, sich zu bewegen, glaubte sie in der Glut eines Elsirenfeuers gefangen zu sein. Das Atmen fiel ihr schwer, ihre Haut fühlte sich kalt und nass an, obwohl sie eine mörderische Hitze spürte.
Dann hörte sie Ba - shties Stimme und schließlich sah sie ihn. Er stand einem großen Mann mit seltsamen Kleidern gegenüber und sie spürte abgrundtiefen Hass zwischen den beiden Männern. Eine riesige Armee stand hinter dem Mann, der ihren Ba - shtie scharf beobachtete und sie spürte die Bedrohung, die von diesem Fremden ausging. Der Mann lachte gehässig und böse.
Es war kein Mann des Volkes, auch kein Oranuti, das erkannte Antarona an seiner Kopfform und an seiner Statur. Er hielt einen kleinen, schwarz glänzenden Gegenstand in der Hand und zeigte damit auf Ba - shtie. Es war ein böses Ding, das fühlte sie, etwas, das mächtiger war, als jede Waffe!
Sie versuchte Ba - shtie zu warnen, sie rief seinen Namen, doch er hörte sie nicht. Die Bilder verschwammen und bald verloren sie sich in einem schwarzen Nebel, der immer dichter wurde, bis sie nur noch Leere und Frieden empfand.
Irgendwann kamen die Bilder zurück, nur kurz. Antarona erschrak zutiefst, denn sie erblickte Ba - shtie blutend auf dem Boden liegend. Rings um ihn herum lagen gefallene Krieger mit eingeschlagenen Schädeln, abgetrennten Gliedmaßen und aufgeschlitzten Leibern. Schwarzer, stinkender Rauch stieg überall auf, wehklagende Stimmen jammerten im Wind und das Gras war getränkt von Blut.
In tiefer Verzweiflung sank Antarona auf die Knie, betastete Ba - shties leblosen Körper und begann ihren Schmerz aus ihrem Herzen in die Welt hinaus zu schreien. Sie bebte, schrie, klagte und verfluchte ihre Götter, die sie um das Glück ihres Lebens betrogen hatten. Schließlich schrie sie nicht mehr, sondern winselte nur noch heiser und brach schließlich über Ba - shties Leichnam zusammen.
Dann erblickte sie sich noch einmal selbst. Das Blut sickerte ihr aus mehreren Schnittwunden, doch sie spürte es nicht. Die Wunden, die sich in ihr Land gegraben hatten, schmerzten stärker, als ihre Verletzungen. Müde, verdreckt und niedergeschlagen schritt sie über verbrannte Erde, vorbei an brennenden Büschen, Hütten und Palisaden. An einigen Stellen standen oder knieten Überlebende der geschlagenen Bauernarmee des Areos und flehten zu den Göttern um ihre Familien, um ihre Frauen, Töchter und Söhne.
Auch Antarona trauerte. Aber sie litt zweifach. Sie hatte an diesem Tag ihren Sebastian und ihre Heimat gleichermaßen verloren, vermutlich sogar ihre Hoffnung. Brand- und Leichengeruch lag in der Luft und verstärkte noch die schmerzende Leere in ihrem Herzen, das noch vor ein paar Tagen mit so viel Zuversicht angefüllt war...
Erst eine tiefe, unendliche Finsternis, dann ein winziges Lichtlein, das immer größer und heller wurde und sie schließlich warm einhüllte, bescherte ihr endlich einen gnädigen Frieden, der sie hochhob und in eine andere Welt trug, die keinen Schmerz mehr kannte…

Die Dämmerung war bereits hereingebrochen, als Sebastian in seinen Gemächern auf Frethnal traf. Er kam ihm auf dem Korridor entgegen, die Arme mit Papierrollen beladen, und schien selbst gerade erst mit seiner Arbeit fertig zu sein.
»Ich habe ein schönes Stück Arbeit geschafft, Herr«, verkündete er schon von Weitem, »wollt ihr einmal sehen, Herr?« Sebastian war müde und kaum mehr in der Stimmung, sich monotone Zeichnungen anzusehen.
»Frethnal, ich bin stolz auf euch!« lobte er seinen Diener. »Ich weiß gar nicht, was ich ohne euch täte. Es war ein anstrengender Tag für uns beide. Legt mir die Rollen einfach im Arbeitszimmer auf den Tisch, ja? Ich sehe sie mir an, wenn die Sonne ihre neue Wanderung beginnt.« Das gewohnte Ja, Herr hörte Sebastian schon nicht mehr.
Er machte sich nicht einmal die Mühe, seinen Waffenrock abzulegen, sondern eilte ohne Umwege zum nächsten Eingang der verborgenen Wege. Wie gewöhnlich vergewisserte er sich, ob niemand in der Nähe war, bevor er den Ausstieg in Antaronas Stockwerk verließ.
Alles war dunkel, kein Leuchter brannte. Selbst im Korridor waren die kleinen Wandfackeln noch nicht entzündet worden. Vorsichtig schlich er durch Antaronas Räume, bereit, sich sofort hinter Möbeln, oder in den Vorzimmern zu verbergen, was jedoch im Grunde nicht nötig war, da sich außer Vesgarina und Antarona niemand in dieser Etage aufhielt.
Doch von beiden fehlte jede Spur. Sebastian wunderte sich ein wenig, denn Bentals Weisung an die Wachen, Antarona nicht aus ihren Gemächern zu lassen, war keinesfalls aufgehoben. Wahrscheinlich hatte der König selbst sie zu sich rufen lassen.
Ein wenig enttäuscht kehrte Sebastian in seine Räume zurück. Ohnehin fühlte er sich ziemlich müde und abgeschlagen, so dass er zunächst daran dachte, ein paar Stunden zu schlafen. Entweder schlich sich Antarona irgendwann noch zu ihm, oder er selbst wanderte noch einmal über die Geheimgänge zu ihr hinauf.
Seine Kleidung ließ er achtlos neben das Bett fallen. Mit müden Knochen öffnete er noch ein Fenster, da ihn das monotone Rauschen des Wasserfalls besser einschlafen ließ, dann warf er sich auf das Lager und streckte seufzend seine Glieder aus. Minuten später war er fest eingeschlafen.
Es musste tiefe Nacht sein, als ihn die Kälte weckte. So heiß es auch an den Tagen wurde, in den Nächten kühlte es sich beinahe bis an die Frostgrenze ab. Vermutlich war die winterliche Luft schuld daran, die vom Festland herüberströmte, und bei fehlender Sonneneinstrahlung die Temperaturen derart absinken ließ. Tagsüber sorgte der warme Meeresstrom im Zusammenspiel mit der Sonne für das milde bis heiße Klima.
Sebastian zog sich Felle und Decken über den Kopf, denn er war zu müde und zu faul aufzustehen, um das Fenster zu schließen. Doch die Wärme in seinem Bett kam nicht im Mindesten an die Hitze heran, die Antarona verströmte, wenn er sich unter ihren Fellen an sie kuschelte.
Antarona! Warum war sie noch nicht zu ihm gekommen? Selbst eine lange Unterredung mit Bental dauerte nicht die ganze Nacht hindurch! War sie vielleicht eingeschnappt, weil er nicht in ihren Gemächern auf sie gewartet hatte? Im halbwachen Zustand dachte er nach und schwankte zwischen Weiterschlafen und aufstehen.
Eigentlich war er noch todmüde und er musste am Morgen wiederum früh aufstehen. Andererseits ließ ihm der Gedanke keine Ruhe, nicht zu wissen, was mit seiner Frau war. Möglicherweise hatte Bental ihr weitere Einschränkungen oder Forderungen aufgebürdet und sie brauchte ihn gerade jetzt, um sich anzulehnen.
Mit einem Mal war Sebastian hellwach und in einem Satz aus dem Bett heraus. So oder so würde er keine Ruhe mehr finden, bis er Gewissheit hatte, dass es seiner Frau gut ging. Egal, wie sie sich gerade fühlte, er wollte bei ihr sein!
Rasch schlüpfte er in seine Kleider und schon war er unterwegs zu ihr. Diesmal nahm er den Weg über das kleine Türmchen im Salon. Das ging wesentlich schneller und in der Nacht war kaum zu erwarten, Bental, Hekthur oder Medunzia über den Weg zu laufen.
Einen Stock höher angekommen, öffnete Sebastian einen kleinen Spalt breit die Tür und lugte hinaus. Nichts. Alles Ruhig, geradezu totenstill. Leise huschte er durch die Tür und machte sich auf den Weg durch Antaronas Zimmer. Er berührte hier einen Leuchter, roch dort an einer Fackel und befand, dass diese in den letzten vierundzwanzig Stunden nicht gebrannt hatten.
Also ging er davon aus, dass Antarona ebenfalls übermüdet und inzwischen tief eingeschlafen war. In der Vorfreude zu ihr unter die Felle zu kriechen, schlich er in ihr Schlafgemach. Enttäuscht musste er feststellen, dass ihr Bett verwaist war. Es war nicht einmal benutzt worden!
Also zurück in das andere Schlafgemach, in dem sie ihn zuletzt mit ihren Reizen verführt hatte. Wahrscheinlich hatte sie dort auf ihn gewartet, und war schließlich eingeschlafen. Doch wieder wurde Sebastian enttäuscht. Auch hier lagen alle Kissen und Felle säuberlich geordnet und unangetastet auf dem Lager.
Hatte sie etwa wieder einmal das Lager mit ihrer Zofe getauscht? Oder hatten sie sich sogar beide in die Kammer Vesgarinas zurückgezogen? Aber aus welchem Grund? Sebastian blieb nun nichts anderes übrig, als es herauszufinden.
Er wusste von Antarona, dass die drei Kämmerchen Vesgarinas, im Ostflügel an ihre eigenen Räume grenzten. So huschte er wieder zurück, und stand alsbald vor der Tür, welche in Vesgarinas Kammer führen musste. Doch er traute sich nicht, einfach einzutreten. Zaghaft, um die beiden Mädchen nicht zu erschrecken, klopfte er an die Tür.
Nichts. Sebastian wartete einen Moment und pochte noch einmal an das klangvolle Holz, nun schon entschlossener. Es dauerte eine Weile, dann hörte er ein leises Geräusch und kurze Zeit später öffnete sich die Tür, ein Licht blendete ihn kurz und Vesgarinas Augen blickten ihn erstaunt an.
In einem leichten Nachtgewand stand sie vor ihm, ihr Haar leuchtete wie das eines Engels und sie schien zu frieren.
»Verzeiht mein Eindringen zu später Zentare, aber ist Antarona bei euch?« Sebastian flüsterte, als wollte er verhindern, dass er jemanden aufweckte.
Die Zofe zuckte mit den Schultern und setzte eine unschuldige, fragende Miene auf. Dann forderte sie ihn mit einer stummen Geste auf, hereinzukommen. Etwas peinlich berührt trat Sebastian in Vesgarinas bescheidene Kammer. Das Mädchen stellte den Leuchter auf den einzigen, kleinen Tisch im Raum, zog eine Schublade auf und holte mit sicherem Griff Feder und Tinte heraus.
Ich hatte gedacht, meine Herrin ist bei euch, Herr, schrieb das Mädchen auf ein Blatt und sah ihn mit übergroßen Augen verwundert an.
»Nein, ist sie nicht«, erklärte ihr Basti, »kann es sein, dass der König sie rufen ließ?« forschte er weiter. Vesgarina schüttelte langsam den Kopf und schien zu überlegen.
Das glaube ich nicht, Herr, kritzelte sie schnell auf das Papier, meine Herrin sah ich nicht, seid sie mit euch… Vesgarina schämte sich, den Satz zu Ende zu schreiben. Sebastian verstand aber auch so, was sie ihm miteilen wollte.
»Das heißt, ihr habt sie seit dem letzten Abend nicht mehr gesehen? Habt ihr das gemeint?« Vesgarina nickte schuldbewusst. Wahrscheinlich machte sie sich Vorwürfe, nicht nach ihrer Herrin geforscht zu haben, nachdem sie diese den ganzen Tag nicht gesehen hatte.
»Also, ich war in allen Räumen, sie ist nirgends zu finden«, teilte er der kleinen Wenderin mit. Da hob Vesgarina plötzlich die Hand, um sich Achtung zu verschaffen. Sie machte Sebastian ein Zeichen, dass er ihr folgen sollte und eilte in Antaronas Schlafkammer. Bedeutsam ging sie vor Antaronas Schlaflager in die Knie und sah unter den Bettkasten.
Ihrem Beispiel folgend, spähte auch Sebastian unter das Bett, während Vesgarina mit der Laterne den dunklen Raum ausleuchtete. Nun, er hatte kaum erwartet, Antarona unter ihrem Bett anzutreffen. Die stumme Kammerzofe jedoch vollführte mit ihren Händen aufgeregte Bewegungen, als wollte sie ihn auf etwas Wichtiges aufmerksam machen.
Als Sebastian nicht gleich verstand, sprang sie auf und holte ihr Schreibzeug. In aller Eile zeichnete sie Antaronas Schwert Nantakis nach, wies dann unter das Bett und zuckte fragend mit den Schultern. Nun glaubte Sebastian zu begreifen, was sie ihm sagen wollte.
»Du meinst, sie hat ihr Schwert mitgenommen, das sie sonst unter ihrem Bett verbirgt?« Vesgarina nickte heftig, dass ihr die Haare wild um den kleinen Kopf flogen.
»Lasst mich überlegen«, sprach Sebastian mehr zu sich selbst, aber auch laut genug für das Dienstmädchen.
»Sie ist irgendwohin gegangen, wohin sie nicht ohne ihr Schwert gehen würde, richtig?« Forschend sah er Vesgarina an, die wiederum mit einem deutlichen Nicken bestätigte.
»Also«, fuhr er in seinen Vermutungen fort, »kann sie nur nach Falméra gegangen sein, vielleicht zu den Elsirentänzen.«
Vesgarina zog ihn am Ärmel und schüttelte heftig den Kopf. Sie öffnete Antaronas Schrank mit den Elsirenkleidern, machte eine ausholende Geste und klappte die Hände zusammen. Sebastian viel schwer, ihre Zeichensprache zu deuten.
»Meint ihr nun, es fehlt ein Kleid, oder glaubt ihr, dass alle Kleider da sind?« fragte er. Vesgarina ging in ihre Kammer zurück und kam mit Papier und Tinte zurück. Alle Elsirenkleider da, Schurz aus Leder fort, stand darauf.
»Ihr seid sicher, dass Antarona nur ihren Schurz trägt, sonst nichts?« fragte Sebastian ungläubig. Das Kammermädchen nickte schnell und holte das Oberteil aus Leder hervor, das Antarona gewöhnlich zu ihrem Schurz getragen hatte.
Sebastian drehte das weiche Leder zweifelnd in den Händen und betrachtete es von allen Seiten. Antarona hatte nie ein Problem daraus gemacht, selbst auf der Insel Falméra in der freizügigen Kleidung der Îval- Mädchen herumzulaufen. In der Stadt, oder in der Burg trug sie aber wenigstens stets ein schlichtes Arbeitskleid. Doch dass sie nur in ihrem Schurz, ohne Oberteil, nach Falméra gegangen war, konnte er sich nicht vorstellen. Jedenfalls nicht freiwillig.
»Vesgarina, glaubt ihr, jemand könnte eure Herrin gegen ihren Willen fortgebracht haben?« Forschend sah er der kleinen Kammerzofe in die Augen. Er wusste inzwischen, dass Antarona diesem Mädchen beinahe alles anvertraute. Möglicherweise wusste ihre Dienerin mehr, als er.
Das Mädchen zuckte mit den Achseln und nickte bedächtig. Sie hielt es also für möglich! Entführt! Sebastian wurde abwechselnd heiß und kalt, als er darüber nachdachte, was Torbuk mit ihr anstellten würde, sollte er sie in die Finger bekommen.
Aber hatte dieser Tyrann so viele Spione in der Burg, dass er Antarona einfach so entführen konnte? Eine Frau, die wachsamer war, als ein Luchs und kämpferischer, als eine Tigerin? Da musste schon eine kleine Armee anrücken, um Antarona Holzer gefangen zu nehmen. Selbst, wenn sie Nantakis verlor, würde sie jedem Angreifer noch die Augen aus den Höhlen kratzen.
Tatsache war, dass sie verschwunden war. Aber wie? Und wo sollte er sie suchen? In Falméra, oder gleich in Torbuks Festung? Wenn der Fürst von Quaronas in ihr die Tochter Bentals vermutete, was Sebastian nicht mehr für ganz ausgeschlossen hielt, so würde er sie so lange und grausam foltern, bis sie genau dies zugab. Mit so einem Geständnis würde er dann vor den Rat Falméras ziehen, um den Thron zu beanspruchen.
Abgesehen davon bekam er Nantakis in die Hände und womöglich noch andere wertvolle Informationen. Beispielsweise, die Überlegung, dass der Mann, der aus dem Reich der Toten zurück gekommen war, gar nicht Bentals Sohn war!
Doch das war zunächst nebensächlich, jedenfalls für Sebastian. Er wollte in erster Linie die Frau zurück bekommen, die er liebte und die er sich geschworen hatte, zu beschützen. Nun, so sicher, wie er und Bental sie in ihren Kammern geglaubt hatte, war sie offenbar doch nicht gewesen!
»Wo habt ihr das hier gefunden?« fragte er Vesgarina und hielt ihr Antaronas Lederoberteil unter die Nase. Die kleine Dienerin wies zum Westflügel und ging zielstrebig voran, von Sebastian ungeduldig gefolgt. Im Salon deutete das Mädchen durch das Fenster auf den Freisitz.
Sebastian öffnete die Tür, trat auf den geräumigen, weit ausladenden, dunklen Balkon und sah sich um. Das Rauschen des Wasserfalls klang aufdringlich herüber, ab und zu vom Wind unterbrochen. Wenn hier jemand Antarona hinterrücks angegriffen hätte, so dürfte er möglicherweise damit Erfolg gehabt haben, denn der Lärm vom tosenden Wasser, das über die Felsen stürzte, verschluckte jedes leise Geräusch. Ungehindert vermochte sich jeder, der sich halbwegs geschickt anstellte, anzuschleichen, ohne gehört zu werden.
»Vesgarina, wo genau lag das Oberteil?« wollte Sebastian wissen. Er hatte noch keine Ahnung, was ihm diese Information bringen konnte, doch sollte Antarona tatsächlich entführt worden sein, zählte jeder noch so unbedeutende Hinweis.
Das Mädchen wies an eine Stelle, nicht weit von der Tür. Sebastian versuchte mit Hilfe seiner Phantasie zu recherchieren. Antarona musste sich wie eine Furie gewehrt haben. Jemand packte sie am Oberteil, um sie durch die Tür in den Raum zu bugsieren und riss es ihr dabei vom Leib. Dass es achtlos liegengeblieben war, erzählte ihm, wie rücksichtslos die Angreifer vorgegangen waren.
Aufmerksam suchte Sebastian den Boden nach kleinen Spuren ab. Doch er fand nichts. Ungewöhnlich, wenn an dieser Stelle tatsächlich ein Kampf stattgefunden hatte. Es fand sich kein Tropfen Blut, keine Stofffaser, ja nicht einmal ein Haar. Es war, als wäre der ganze Freisitz gründlich geputzt worden.
In der Hoffnung, doch noch etwas zu finden, setzte er seine Suche im Salon fort. Da mögliche Entführer seine Frau kaum über die Brüstung in die schwindelnde Tiefe getragen haben konnten, mussten sie Antarona, wie jedes irdische Wesen, auf normalem Weg durch die Räume getragen haben.
Jedoch auch im Salon fand sich keine Spur. Kein umgekippter Stuhl, keine Schramme an Schränken, oder Anrichten, rein gar nichts! Aber Antarona wurde doch nicht von Geistern fortgebracht! Dass sie aber unter Zwang verschwunden war, stand für Sebastian inzwischen zweifelsfrei fest. War sie freiwillig und mit Überlegung irgendwohin gegangen, so hätte sie sich vorher zumindest ein einfaches Kleid übergeworfen.
Vielleicht wurde sie am Ende gar nicht entführt, sondern musste Hals über Kopf fliehen? Hatte am Ende Bental seine Hände im Spiel? Ihn hatte Sebastian seit seinem Aufbruch zur Inspektion der Truppen auch nicht mehr gesehen. Hatte sich inzwischen eine neue Situation ergeben, von der er gar nichts wusste?
Es waren einfach zu viele Fragen offen, um gezielte Mutmaßungen anzustellen, das musste Sebastian endlich einsehen. So kam er nicht weiter. Auch konnte er um diese Zeit unmöglich den König wecken lassen, wenn er sich nicht absolut sicher war, dass es nicht doch eine ganz einfache, harmlose Erklärung für Antaronas Verschwinden gab.
Also musste er zunächst das Naheliegendste ausschließen. Und das war immer noch die Möglichkeit, dass Antarona aus freien Stücken ihre Gemächer verlassen hatte. Aber wie? Und wohin mochte sie so spärlich bekleidet gegangen sein, wenn sie doch Nantakis mitgenommen hatte?
Sebastian überlegte. Über die Treppentürme war sie ganz sicher nicht gegangen, denn die wurden nach wie vor bewacht. Um sicher zu gehen, wollte er aber jede Wache befragen. Die kleinen Türmchen kamen ebenfalls nicht in Frage. Die Vorhänge vor deren Türen waren seit ihrem letzten Aufenthalt nicht bewegt worden.
Blieb nur die plausibelste Erklärung: Antarona war über die Geheimgänge verschwunden. Aber wohin, und vor allem warum? Wenn sie sich in Gefahr wähnte und zu fliehen vorgehabt hätte, wohin wäre sie gegangen? Zunächst wohl in ihr Haus in Falméra. Das kannten nur sie selbst, Sebastian und Frethnal. War sie tatsächlich so eilig dorthin aufgebrochen, dass sie nicht einmal etwas auf den Leib ziehen, und ihre Dienerin informieren konnte?
Sebastian wollte nicht auf den Morgen warten. Er wollte der Sache sofort auf den Grund gehen. Egal, was vorgefallen war, den Fakten nach war Antarona möglicherweise in Not.
»Vesgarina, zieht euch etwas über, wir gehen nach Falméra hinab«, forderte er das Dienstmädchen auf. »Ich hole Frethnal, ihr wartet hier auf uns, habt ihr verstanden?« Die Kleine nickte kurz und huschte davon.
In Windeseile hetzte Sebastian von Turm zu Turm, öffnete die Tür und riss den jeweiligen Wachsoldaten aus seinem Dämmerschlaf. Doch niemand wollte Antarona ihre Räume verlassen gesehen haben. Aber das hatte er bereits vermutet. Ohne zu zögern begab er sich nun zu Frethnals Schlafraum, weckte ihn und wartete, bis er sich angekleidet hatte.
Umgehend kehrte Sebastian mit seinem Diener in Antaronas Gemächer zurück, freilich durch die verborgenen Gänge, denn es musste nicht jeder in der Burg sofort mitbekommen, dass Antarona verschwunden war. Für Sebastian war es schon zuviel an Aufruhr, dass er die Wachen befragt hatte. Da er aber der eingesetzte Führer aller Soldaten war und ohnehin gerade mit der Inspektion der Truppen beschäftigt war, konnte er seine Fragen jederzeit mit einer Routinekontrolle begründen.
Schon etwas außer Atem erreichten Sebastian und Frethnal das Schlafgemach Vesgarinas, die gerade fertig geworden war. Die beiden sahen sich ein wenig beschämt an, doch die knisternde Spannung zwischen ihnen entging Sebastian nicht.
»Nun begrüßt euch schon endlich, ich gehe inzwischen etwas nachsehen«, forderte er die zwei grinsend auf, drehte sich um und ging durch die Tür in den Korridor. Gerade noch rechtzeitig war ihm ein Gedanke gekommen, vage nur, aber möglich. Vielleicht stöberte Antarona im Dachbodenraum herum, um noch einmal die Bilder durchzusehen?
Sebastian öffnete die Tür und wusste sofort, dass er einem Wunschtraum hinterher gejagt war. Der Raum war in finsteres Schwarz getaucht. Ohne Fackel konnte in diesem Loch niemand etwas sehen, auch Antarona nicht. Gleichzeitig fragte er sich, wie sie aus der Burg heraus gekommen war, selbst wenn sie die verborgenen Wege benutzt hatte.
Die einzige Möglichkeit boten die Gewölbe und Gänge unter der Burg, der Weg, den sie beide gerade erst entdeckt hatten. Sebastian hoffte inständig, dass Antarona nicht so tollkühn gewesen war, diesen Weg allein zu gehen. Ohne Sicherung waren die dunklen Gänge nicht ganz ungefährlich. Sollte sich in Falméra keine Spur von ihr finden, kam er nicht umhin, auch die verzweigten Gänge im Felssockel der Burg nach ihr abzusuchen.
Ohne weiteren Aufenthalt kehrte Basti zu Vesgarina und Frethnal zurück, die sich immer noch in den Armen lagen, und vor Sehnsucht fast verschlangen.
»So, nun müssen wir aber los«, beendete er ihre Liebesbekundungen, stellte aber gleichzeitig in Aussicht:
»Alsbald werden Antarona und ich nach Mehi-o-ratea gehen. Ihr beide werdet uns begleiten, dann habt ihr noch genug Zeit für euch!«
Ihm entging nicht, wie sich die Gesichter der beiden von einer Sekunde zur anderen aufhellten. Nun aber begaben sie sich erst einmal zu dem kleinen nördlichen Treppenturm, der sie in das Torhaus führte. Im Wachraum schreckten sie innere Burgwache auf. Die Wachsoldaten hingen auf ihren Stühlen, wie müde Reiter auf versteinerten Pferden und dösten vor sich hin.
Inzwischen mussten sie wohl den neuen Heerführer verfluchen, der zu den unüblichsten Zeiten in ihren Wachstuben auftauchte und sie jedes Mal bei einem Wachvergehen ertappte. Doch diesmal kamen sie mit einem blauen Auge davon. Sebastian war weit davon entfernt, ihnen eine Standpauke zu halten. Er hatte ganz andere Sorgen.
Ungehindert verließ er mit dem Dienerpaar die Burg und sie stiegen rasch die Freitreppen nach Falméra hinab. Zwei, oder drei Pärchen kamen ihnen entgegen, wohl die letzten Unentwegten der Elsirentänze. In jener Gasse, in der sich Antaronas Haus befand verlangsamte Sebastian seinen Schritt. Er wollte sicher gehen, dass sie niemand beobachtete, wie sie das Anwesen betraten.
Der dunkle Flur gähnte ihnen entgegen. Sebastian nahm eine kleine Handfackel, zündete sie mit seinem Feuerzeug an und zauberte tiefe Verwunderung auf Vesgarinas Gesicht. Was Frethnal bereits kannte, hatte sie noch nie in ihrem Leben gesehen. Ein kleines Ding, das einfach so, aus dem Nichts, Feuer spuckte!
Mit der Fackel wiederum entzündete Basti eine Lampe, die er Frethnal in die Hand drückte. Leise öffnete er die Tür zum Wohnraum. Er fand ihn so vor, wie er ihn mit Antarona verlassen hatte. Anscheinend war seither niemand in diesen Räumen gewesen.
»Ihr seht euch hier unten um, ich gehe nach oben«, bestimmte er und ließ die beiden zurück. Das Knarren der Holztreppe gefiel ihm gar nicht, aber er vermutete sowieso keine große Überraschung. Oben angekommen durchsuchte er alle Räume, einschließlich Antaronas Schränke mit den Kleidern.
Wie zu erwarten, fand er nicht einmal einen Anhaltspunkt, dass sie nach ihrem gemeinsamen Aufenthalt noch einmal da gewesen war. Immer mehr verdichtete sich nun sein Verdacht, Antarona sei entführt worden! Sebastian dachte bereits darüber nach, wie man sie wohl von der Insel schaffen wollte, ohne dabei gesehen zu werden, als er von unten her ein lautes Poltern und Scheppern vernahm.
Mit einem Satz war er im Flur, nahm gleich drei Stufen auf einmal die Treppe hinab und sah schon von oben Vesgarina vor dem brennenden Kamin des Wohnraums liegen. Von Frethnal war nichts zu sehen. Fluchend durchmaß Basti den Raum und kniete sich vor das blonde Mädchen. Sie rieb sich den Knöchel und sah den Sohn ihres Königs schuldbewusst an.
Anscheinend wollte sie nur etwas mehr Licht machen und zündelte einfältig am Inhalt des Kamins herum. Das Feuer, durch das knochentrockene Holz genährt, begann wohl so heftig zu brennen, dass sie sich erschrocken hatte und hingefallen war. Natürlich polterte dabei der Schürhaken zu Boden.
Sebastian stand auf und schüttelte zweifelnd den Kopf, während er Vesgarina die Hände entgegenstreckte, um ihr aufzuhelfen.
»Kann man euch nicht mal zwei Zentaren allein lassen, ohne, dass etwas passiert? Wo zum Donnerwetter ist Frethnal?« Das Mädchen ließ sich hochziehen, knickte mit dem Fuß um und fiel Sebastian in die Arme. Er hielt sie fest an den Händen gepackt, damit sie ihr Gleichgewicht wiederfand, und sah in ihre großen, unschuldigen Augen, die nach draußen in den Garten wanderten.
»Er wollte im Garten nachsehen, ob…« Sie nahm seinen intensiven Blick wahr und bekam wieder weiche Knie und einen hochroten Kopf. Sebastian aber ließ sie nicht los. Doch etwas Ketzerisches schoss ihm durch den Kopf. Wäre er diesem Dienstmädchen als erstes in dieser Welt begegnet, so wäre er ohne weiteres auch bei ihr schwach geworden. Sie war das Abbild eines Engels.
In diesem Augenblick kam Frethnal in den Wohnraum gestürmt. Er sah Sebastian Vesgarinas Hände halten und prallte gegen eine unsichtbare Mauer. Und er hätte nicht dämlicher dreinschauen können. Um die zweideutige Situation zu klären, und kein Misstrauen aufkommen zu lassen, fuhr Sebastian seinen Diener barsch an:
»Frethnal, wo treibt ihr euch eigentlich herum? Hatte ich etwas von Garten gesagt? Ihr geistert dort draußen im Dunkeln herum und Vesgarina brennt inzwischen das halbe Haus ab. Hatte ich euch nicht mal gesagt, ihr sollt auf sie aufpassen?«
Frethnal erwachte aus seiner Starre, trat rasch zu ihnen, nahm Sebastian das Mädchen ab und führte sie zu einem Stuhl.
»Also kümmert euch gefälligst um sie! Seht nach, ob sie sich verletzt hat, und dann macht endlich das verdammte Feuer aus«, forderte Sebastian in etwas ruhigerem Ton, »sonst haben wir noch die Neugierigen von ganz Falméra auf dem Hals. Ich will nicht, dass noch jemand dumme Fragen stellt, was in diesem Hause vorgeht!«
»Ja, Herr, wie ihr wünscht«, rief der Diener, der gleichzeitig ziemlich unbeholfen Vesgarinas Fuß untersuchte.
»Und Frethnal, lasst endlich dieses dämliche Ja Herr, sonst vergesse ich mich«, rief Sebastian noch über die Schulter, indem er wieder nach oben ging. Prompt folgte ihm ein Ja Herr.
Heimlich lächelnd schüttelte Basti den Kopf. Das zumindest würde er niemals ändern können. Aber wenigstens hatte er die Situation gerettet. Am wenigsten konnte er im Augenblick gebrauchen, dass es zwischen ihm und Frethnal zu Missstimmigkeiten kam, noch dazu wegen einer Lappalie.
Eigentlich war es nicht nötig, noch einmal in die oberen Räume zu gehen, doch erstens konnte Sebastian dort in Ruhe über die weiteren Schritte nachdenken, und zum anderen gab er Vesgarina und Frethnal Gelegenheit, ein paar Minuten für sich zu sein und die Situation zu klären, die zumindest aus Frethnals Sicht hätte missverstanden werden können.
Sorgenvoll blickte Sebastian aus dem Fenster in die stille Gasse hinunter und versuchte abzuwägen, wie er nun am sinnvollsten vorgehen sollte. Befand sich Antarona in den Händen irgendwelcher Entführer, so mussten diese sie im Schutz der Nacht von der Insel zum Festland bringen, also in diesem Moment.
Dies ging entweder mit einem anlandenden Boot, irgendwo an der westlichen Küste, oder mit einem Schiff der Oranuti, das in den frühen Morgenstunden auslaufen sollte. Wie auch immer, es war beinahe unmöglich, das zu verhindern.
Sebastian konnte nicht mit einer vagen Vermutung als Grund die im Hafen liegenden Schiffe der Oranuti mitten in der Nacht durchsuchen lassen. Dazu waren die Beziehungen, gerade nach der Audienz der Oranuti- Handelsvertreter beim König, viel zu angespannt.
Genauso wenig war es möglich, die gesamte Westküste von jetzt auf gleich, ohne Genehmigung von König und Rat von beliebig vielen Truppenteilen durchsuchen und überwachen zu lassen. Dafür war es ohnehin längst zu spät. Stellte sich außerdem Antaronas Verschwinden hinsichtlich einer Entführung letztlich als Irrtum heraus, so hatte er mit seiner Entscheidung auch noch alle Möglichkeiten verspielt, Bental die zeitweise Autonomie des Val Mentiér abzuringen.
Er konnte also nur etwas unternehmen, das so wenig bürokratischen Staub wie möglich aufwirbelte. Bei diesem Gedanken musste Sebastian trotz der ernsten Lage schmunzeln. So primitiv und Hinterwäldlerisch diese Welt auch sein mochte, in die er wer weiß wie geraten war, sie hatte ebenso, wie seine Welt ihre gesellschaftlichen Zwänge und einengenden Regeln!
Und genauso, wie in seiner Kultur, vermochte er auch hier, diese nur mit Diplomatie, Erfindungsgabe und kleinen Lügen zu umgehen. Er musste also bis zum Morgengrauen die Schiffe der Oranuti durchsuchen, ohne, dass diese sich kompromittiert fühlten, und musste gleichzeitig die Küste nach unplanmäßigen Wasserfahrzeugen absuchen lassen, ohne eine ganze Truppe ausrücken zu lassen.
Unmöglich! Zumal auch die Wachen am Haupttor nichts Verdächtiges bemerkt hatten. Es war kein Karren aus der Burg gefahren, auch waren keine großen Lasten herausgetragen worden. Sebastian hatte als einzige Begründung für ganz gleich welche Maßnahme, nichts als seine Vermutungen.
Nein, bevor er irgendetwas unternahm, das nicht ohne Folgen bleiben würde, musste er ausschließen können, dass sich Antarona nicht doch irgendwo in der Burg, oder in den Katakomben unter der Burg befand. Zeit, um dies festzustellen blieb ihm bis zum Morgen, also vielleicht drei bis vier Stunden!
Eilig stürmte Basti die Treppe hinunter in den Wohnraum. Frethnal, der sich immer noch um seine geliebte bemühte, sah ihn mit staunenden Augen an.
»Was ist mit Vesgarina, Frethnal, wird sie laufen können?« erkundigte er sich bei seinem Diener. Als dieser bejahte, ordnete Sebastian an:
»Wir gehen sofort zur Burg zurück! Frethnal, wir brauchen Seile, Eisenstecken, oder Fensterhaken, irgend so etwas, und jede menge Fackeln. Vesgarina bleibt in ihrer Kammer, wir zwei gehen in die Kerker!«
»Aber wir kommen dort unten nicht hinein, Herr, nicht, ohne die Erlaubnis des Königs!« gab Frethnal zu bedenken.
»Das lasst mal meine Sorge sein, Frethnal. Sagt mir lieber, wo ich Genrath finden kann, wenn er keine Wache hat.« Der Diener wunderte sich wohl über diese seltsame Frage, antwortete aber nach kurzer Überlegung:
»Der wird wohl im Wachhaus schlafen, Herr.« Sebastian nickte, als hätte er genau diese Antwort erwartet und scheuchte seine beiden Begleiter mich einer Geste seiner Hand hoch.
»Wir müssen los, uns bleibt nicht viel Zeit. Wenn Antarona nicht in der Burg ist, muss ich die Wasserwagen der Oranuti im Hafen festhalten. Und dazu brauche ich handfeste Argumente, um von Bental eine Erlaubnis zu erhalten!«
Sebastian sah den beiden an, dass sie nicht viel von dem verstanden, was er sagte. Doch darum konnte er sich im Moment nicht kümmern. Es reichte, wenn Frethnal ihm half!
Im Eiltempo schritten sie zur Burg zurück, wo Frethnal den Büttel weckte, welcher wiederum den Diener des Stallmeisters aus dem Bett holte. Der glotzte die kleine Gruppe mit staunendem Blick an und begriff nicht, wozu einer mitten in der Nacht Seile und Eisenstecken brauchte. Sebastian wurde allmählich ungeduldig.
»Guter Mann, wozu wir das Zeug brauchen, soll eure Sorge nicht sein. Aber wenn ihr es jetzt nicht herausgebt, dann werdet ihr in ein paar Zentaren eine ganz andere Sorge haben, wenn ihr vor den König treten müsst!« Sebastian hatte in dieser Situation keine Hemmungen, einen armen Stallknecht mit einer faustdicken Lüge einzuschüchtern.
Als er die Drohung erst einmal begriffen hatte, eilte er mit einer Laterne voraus, in die Remise, die an die Stallungen grenzte. Sebastian und Frethnal warfen sich einige Seile, sowie Leinenbeutel mit einseitig spitz geschmiedeten Eisenstecken, die für Fackelhalter vorgesehen waren, über die Schulter.
Das ganze Zeug schleppten sie nun bis vor das Wachhaus, in dem Sebastian Genrath, den Hauptmann der inneren Wache zu finden hoffte. In einem spärlich eingerichteten Wachraum riss Sebastian einen jungen Burschen der Schildwache aus seinen Träumen. Der erschrak dermaßen über den hohen Besucher, dass er einen nicht enden wollenden Hustenanfall bekam.
Schließlich stolperte er eine Treppe hoch und kam nach einigen Minuten mit einem verschlafenen Genrath zurück. Der staunte nicht schlecht, den Sohn des Königs zu dieser Stunde vor sich zu sehen.
»Was ist euer Begehr, Herr, euer ergebener Diener stets zu Diensten. Greifen Torbuks Soldaten an, Herr?« Sebastian lächelte den Wachführer an und sagte:
»Wenn dies so wäre, so wäret ihr vermutlich bereits im Reich der Toten. Aber es ist dennoch Gefahr im Verzug. Darum muss ich dringend wissen, wer Zugang zu den unteren Kerkern hat, ich meine, wer zu dieser Zentare dort hinein kommt, versteht ihr?«
»Gütiger Herr«, sprach Genrath, »zu dieser und zu jeder anderen Zentare hat jener den Schlüssel, welcher die Wache geht. Doch lässt er niemanden in die Kerker, der nicht vom König, oder von mir dazu bemächtigt ist, Herr.«
»Seht ihr, Genrath«, erklärte Sebastian, »genau das hatte ich mir gedacht! Darum werdet ihr uns jetzt begleiten und der Wache anweisen, uns die Türen zu öffnen.«
Der Wachführer ahnte nicht wenigen Ärger auf sich zukommen, trat verlegen von einem Fuß auf den anderen und druckste herum.
»Aber Herr, wenn der König nicht ausdrücklich in einem Papier darum…« Sebastian schnitt ihm das Wort ab und erklärte:
»Mein lieber Genrath, jemand ist vielleicht in den Brunnenschacht gefallen und möglicherweise verletzt in den Gängen des Kerkers gelandet. Wenn sich das als wahr herausstellt, müssen wir ihn retten, jetzt sofort! Wollt ihr zu dieser Zentare den König wecken lassen, um ein Papier mit Siegel und Signum von ihm zu erbitten? Glaubt ihr, er würde euch inmitten der schlafenden Sonne mit freundlichen Worten empfangen?« Sebastian ließ die Worte wirken und beobachtete, wie es in Genraths Kopf zu arbeiten begann. Er ließ ihn einen Moment in seinen eigenen Zweifeln schmoren, bevor er ihm vorschlug:
»Ihr könnt aber auch ohne viel Hadern öffnen lassen und wir überzeugen uns gemeinsam davon, ob wir die vermisste Person dort finden, oder nicht. Die Kerkerzellen und ihre Bewohner indes interessieren uns gar nicht. Wir suchen nur die Gänge ab und ihr habt wieder eure Ruhe. Wohingegen ihr euch weigert und seine gütige Hoheit am morgen davon erfährt…«
Sebastian brauchte den Satz erst gar nicht zu beenden. Die Angst, in Ungnade zu fallen, ließ den Wachführer schnell einlenken, zumal er Areos, und mittlerweile auch Antarona mehr als ergeben war. Außerdem hoffte er, bald in eines der Heerlager versetzt zu werden, die einem Truppführer einiges mehr an Freiheiten ließ.
»Es wird gut sein, wenn ihr es sagt, Herr, schließlich seid ihr ja Areos, seiner gütigen Hoheit Thronerbe«, versuchte er seine Entscheidung zu untermauern.
»Eben«, bestätigte Sebastian knapp seine Rechtfertigung. »Ich wusste, dass ich mich auf euch verlassen kann, Genrath«, lobte ihn Basti noch ein wenig, »ich werde dem König persönlich berichten, dass ihr ein Mann seid, auf den man zählen kann. Möglich, dass man euch bald einen höheren Stand gewährt.
Diese Aussicht wirkte Wunder. Genrath ereiferte sich förmlich, Sebastian und Frethnal in die Unterwelt der Burg zu führen. Im Treppenturm entließen sie Vesgarina, die in Antaronas Gemächer hinauf huschte, die sie auf Sebastians Anweisung hin, nicht mehr verlassen sollte, bis ihre Herrin wieder da war, oder er selbst sie dort abholte.
Dann stiegen sie, Genrath voran, den Turm hinab. Im Erdgeschoss saß ein Wachsoldat auf den Stufen zur Turmtür und döste. Sein erwachen hatte er sich wahrscheinlich ruhiger vorgestellt. Als er die Männer kommen sah, ergriff ihn leichte Panik. Ehe er noch eine Erklärung abgeben konnte, fuhr ihn Genrath an.
»Wie kommt ihr dazu, während der wache zu schlafen, Kerl? Nun steht nicht so da und glotzt! Geht gefälligst voran!« Damit wies Genrath die Treppe hinab. Der Soldat hetzte ihnen vorweg mit schepperndem Schwert die Treppe hinunter und blieb unten vor der Tür stehen, wie ein Hund, der nun auf seine Belohnung hoffte.
»Schlüssel raus!« blaffte ihn sein Wachführer an. »Aufschließen!« Gehorsam steckte der Wachmann einen riesigen Schlüssel in das alte Schloss und drehte ihn knackend zweimal herum. Ratternd und klirrend entwirrte er die dicke Eisenkette vor dem Riegel und schob diesen mit einem knallenden Geräusch zurück. Knarrend zog er die Tür auf.
Der Geruch nach Moder und Fäulnis schlug ihnen entgegen. Sebastian nahm zwei Fackeln von Frethnals Arm, zündete sie unter des Wachführers erstauntem Blick an und gab diesem eine davon. Mit der anderen tastete er sich selbst in den Stollen hinein.
Sebastian verfolgte den Weg, den er mit Antarona gegangen war. Allerdings ließ er sich von Genrath über eine Treppe eine Ebene tiefer führen. Dort suchte er das Stollenloch, durch das er mit Antarona noch weiter in das Innere des Berges gelangt war.
Die Verblüffung Genraths war fast grenzenlos, als ihn Sebastian durch den Schacht noch weiter nach unten führte. Schnell waren ein paar Eisensticken in die Wand geschlagen und ein Seil daran befestigt. Dann führte er seine Begleiter noch tiefer und spürte deutlich das Unbehagen, das beide ausstrahlten.
Vor dem letzten schrägen Schacht hielt Sebastian an und ließ die restlichen Seile einfach liegen. »Ich denke, hier kehren wir um«, schlug er vor. Frethnal und Genrath teilten gern seine Ansicht, waren sie doch froh, aus diesem finsteren Loch endlich wieder heraus zu kommen.
Von Antarona allerdings hatten sie nicht auch nur ein Haar entdeckt. Basti verzichtete darauf, auch den letzten, gefährlichen Stollen bis zum Ausgang zu untersuchen. Hatte Antarona tatsächlich diesen Weg gewählt und war sie bis zu diesem Punkt gekommen, so hatte sie auch aus dem Berg herausgefunden!
Und sollte sie draußen gestürzt sein, so fand er sie von außen bei Tageslicht eher, als in der Dunkelheit des Berginnern. Die Seile ließ Sebastian absichtlich liegen, als sie umkehrten. Mit ihnen konnte er irgendwann den schrägen Schacht sichern, so dass man ihn gefahrlos benutzen konnte.
Ein wenig beschmutzt, aber erleichtert, aus diesem Höllenloch heraus zu sein, ließ Genrath die Tür wieder verschließen. Sebastian aber plagten neue Sorgen. Wo war Antarona? Selbst sie, Kriegerin, Seherin, Schamanin, und was sonst noch, vermochte sich nicht einfach in Luft aufzulösen!
Bis zum Sonnenaufgang durchsuchte er mit Frethnal das ganze, verzweigte System der geheimen Gänge. Aber nicht einmal eine winzige Spur war von Antarona zu entdecken. Auch Sebastians anschließender Ausflug über den Wildbach und den Pfad, der zum Ausgang der Höhle unter der Burg führte, blieb erfolglos. Es war, als hätte sich sein Krähenmädchen selbst in eine Krähe verwandelt und war davongeflogen.
Gegen Mittag kam Sebastian nicht mehr umhin, König Bental vom Verschwinden seiner Tochter zu berichten. Mit gemischten Gefühlen trat er in den kleinen Audienzraum des Herrschers und es war sofort klar, dass dieser bereits bestens unterrichtet war. Bevor Sebastian etwas sagen konnte, ergriff seine Hoheit das Wort.
»Ich hatte mich schon gefragt, wie lange eure heimlichen Ausflüge gut gehen. Und ich hatte euch mehr als einmal ausdrücklich gewarnt! Jetzt haben wir den Verdruss, und ihr«, Bental zeigte überflüssigerweise auf Sebastian, denn es war ja sonst niemand anwesend, »werdet mir dafür einstehen, wenn meinem heimtückischen Bruder tatsächlich jener Handstreich geglückt ist, für den ich ihn eigentlich zu dumm gehalten hatte.«
»Noch ist ja gar nicht sicher, dass Antarona entführt wurde«, gab Sebastian zu bedenken, »vielleicht ist sie einfach nur auf die Jagd gegangen!«
»So könnt ihr euch glücklich schätzen!« Der König ließ Sebastian seine übelste Laune spüren. »Ist sie durch eure Nachlässigkeit in die Hände Quaronas gefallen, so verpflichtet besser einen Magier, um sie zu befreien, sonst ergeht es euch schlecht. Findet Torbuk heraus, dass mein Erstgeborener eine Tochter war, so wird euer Hals der erste sein, der dies zu spüren bekommt, dessen seid gewiss!«
Bental wandte sich von Basti ab, marschierte erst zum Fenster, dann in die Mitte des Raumes und blaffte zur Tür hin:
»Elwha und Tieton zu mir! Aber noch vor dem nächsten Mond, wenn ich bitten darf!« Anschließend widmete er sich wieder seinen schon legendären Rundgängen. Plötzlich blieb er vor Sebastian stehen und musterte ihn von Kopf bis Fuß, bevor er androhte:
»Das wird ein Ende haben, das verspreche ich euch! Diese Herumtreiberei an den Küstenstränden und Elsirenfeuern, es ist einer Prinzessin der Îval nicht geboten! Das Risiko habe ich zu tragen, und das Volk von Falméra! Ich werde nicht zulassen, dass meines Vaters Erbe an Quaronas fällt, weil es meiner Tochter und ihrem Gaukler dünkt, das Leben von Spielleuten ihrer angeborenen Verpflichtung vorzuziehen!«
»Tochter, ja? Sagtet ihr Tochter?« platzte nun Sebastian voller Empörung heraus und vergaß jegliche Vorsicht. »Das ist euch aber früh eingefallen! Ihr sprecht von eurer Tochter, welche ihr aber vor eurem Volke leugnet!« Bental wollte etwas erwidern, doch Sebastian ließ ihn nicht zu Wort kommen.
»Ja, ja, ich weiß. Eine kleine Lüge zum Wohle des Volkes! Aber wie nahe steht ihr denn eurer Tochter? So nahe, dass ihr alles daran setzt, sie zu finden, auch, wenn dabei die Wahrheit herauskommt? Oder ist sie euch nicht doch so fern, dass ihr Verschwinden zu eurem Vorteil gereicht? Ihr müsstet euch dann weder eurem Volk, noch Torbuk, noch dem Rat erklären! Das Problem hätte sich schön von selbst gelöst, nicht wahr?«
»Seid dankbar, wenn sich das Problem, wie ihr es zu nennen pflegt, nicht von selbst löst!« bellte nun Bental zurück. »Wenn meine Tochter nicht wäre, so hätte ich euch bereits um eine Kopfeslänge kürzen lassen!«
»Ach ja?« erwiderte Sebastian frech, »und wer hätte dann den auferstandenen Areos gespielt? Wer hätte Antarona zu euch gebracht?« Die Argumente hatten sich gegenseitig ausmanövriert, die Ankläger sich festgefahren.
»Warum lasst ihr uns nicht unser Leben so, wie wir es wollen?« fragte Sebastian wieder ruhiger, »unsere Ziele sind eure Ziele, und unsere Gedanken sind euch gewidmet, euch, dem Land und dem Volk! Was wir taten und noch tun wollen, hat ebenfalls das Wohl des Volkes im Sinn. Lasst Antarona ihre Freiheiten und ihr werdet eine Tochter und Königin gleichermaßen haben. Sperrt ihr sie aber ein, so habt ihr eine Sklavin mit leerem Herzen, welche in diesen Mauern an Trauer und Hass zugrunde geht. Und der Hass wird sich gegen euch richten, Hoheit!«
Sebastian beobachtete Bental, den fürs Erste zum Schweigen, vielleicht sogar zum Nachdenken gebracht hatte. Mutig hakte er nach:
»Wenn euch an eurer Tochter wahrlich so sehr gelegen ist, wie ihr selbst vorgebt, dann seid nicht so töricht und verjagt sie mit eurem Unverständnis! Opfert sie nicht eurem Zwist mit eurem Bruder! Lernt sie so zu lieben, wie sie ist und ihr werdet an ihr ebensolche Freude haben, und stolz auf sie sein können, wie auf euren Sohn Areos!« Der König ging in Gedanken versunken hin und her. Basti hatte ihn fast überzeugt.
»Antarona ist gewiss keine brave Prinzessin, die in einer Kammer sitzt, webt und töpfert nur des Königs Tochter spielt und auf das Volk herabsieht. Sie ist das Volk! Ich habe sie auf einem entbehrungsreichen Weg kennen und lieben gelernt und ich kann euch versichern, eure Hoheit, sie ist noch mehr, viel mehr! Sie ist Oranuti und Îval, sie ist Kriegerin, Mutter, sowie gerechte und gütige Herrscherin. Sie ist Anführerin und Denkerin. Antarona ist das Blut des Volkes, ihr Mut, ihre Stärke und ihre Klugheit vermögen die Lebensader dieses Landes zu sein, wenn - ihr - sie - nicht - erdrückt!«
Den letzten Satz sprach Sebastian deutlich und langgezogen, um Bental dahin zu bringen, die außergewöhnlichen Fähigkeiten und die Eigenständigkeit seiner Tochter erkennen und wertschätzen zu lernen. Aber mit ihrem Eigensinn umzugehen, damit hatte bereits ihr Ziehvater Hedaron seine Mühe.
Bental nickte gewichtig zu Sebastians Ausführungen, nahm seine Rundwanderung wieder auf und sprach wie zu sich selbst:
»In ihr fließt mein Blut und das ihrer Mutter gleichermaßen. Damit vermag sie gleich einer Felsenbärin zu werden.« Er blieb vor Sebastian stehen, sah ihm in die Augen und fragte ernst:
»Seid ihr stark genug, solch einer Frau durch ein ganzes Leben voller Verantwortung für ein ganzes Volk zu folgen? Glaubt ihr, das Ungestüm in ihr im Zaume halten zu können?«
»Nun, ich liebe sie«, antwortete Sebastian ohne Umschweife, »und ich folge ihr um ihretwillen, sowie um ihrer Taten und Gedanken willen. Was das Ungestüm in ihrem Herzen betrifft, eure Hoheit, so ist die Frage, ob ich es überhaupt bremsen will. Das Feuer in ihrem Blut sollte niemand löschen, denn das Volk, besonders im Val Mentiér, braucht seine Helden oder Heldinnen, zu denen es aufsieht, die es mitreißt, neue Hoffnung weckt und in eine neue Zeit führt!«
Der König hörte gespannt zu und musterte Sebastian während seiner flammenden Rede wie ein Professor seinen Studenten bei der mündlichen Klausur ansah.
»Nein, Hoheit«, fuhr Basti fort, »Antarona ist wie ein feuriger Pla-ka, man muss ihn laufen lassen, dann wird er wissen wohin er zu treten vermag und trägt einen überall hin. Legt ihn in Zaum, so wird er tiefsinnig, müde und lahm und ist nur noch ein Schatten seiner selbst!«
Einsichtig nickte Bental, zeigte sogar offen seine Erleichterung darüber, dass er mit jemanden über sein Kind sprechen konnte. Dann ging eine Wandlung in ihm vor, die ein guter Beobachter nur seiner Mimik entnehmen konnte.
»Nur müssen wir sie erst einmal wiederhaben, nicht wahr? Dann mag sich alles weitere ergeben. Ihr werdet weiter Areos sein und ihr werdet dafür sorgen, dass ich meine Tochter unversehrt wiedersehe! Geht jetzt und bringt mir mein Kind zurück!«
Es war alles gesagt. Sebastian verbeugte sich und wandte sich zum Gehen. Noch einmal hielt ihn Bentals Stimme auf. Des Königs einsame Silhouette, die vor dem großen Fenster im Gegenlicht stand, sprach:
»Seid bedankt für eure Worte. Eure Offenheit und Ehrlichkeit, sowie eure Treue zum Volk der Îval erheben euch zu dem einen, welcher würdig ist, sein Herz mit dem meiner Tochter zu verbinden!«
Das war mehr, als Sebastian sich in den letzten Wochen gewünscht, ja als er je zu hoffen gewagt hatte! Anscheinend war Bental bewusst geworden, dass ihm nur noch ein Kind geblieben war. Das Kind, das er verleugnet hatte, um seinem Bruder nicht den Thron überlassen zu müssen, und das nun wieder in sein Leben getreten war.
Antarona hatte nun zwei Väter. Sebastian fragte sich, was geschehen würde, wenn der König herausfand, dass Hedaron ihr mehr Vater war, als er es je sein konnte. Und Antarona selbst zog ein freies Leben in den Wäldern des Val Mentiér den strengen Hofzwängen vor. Sie würde sich kaum ein zweites Mal in den Mauern dieser Burg einsperren lassen.
War das auch der Grund für ihr Verschwinden? War sie aus ihrem Gefängnis geflohen, weil sie es nicht mehr ohne die Freiheiten einer Waldläuferin ausgehalten hatte? War die Sehnsucht nach den Wäldern, den Wiesen und Felsen so unerträglich geworden, dass sie einfach ohne ein Wort gegangen war?
Aber ohne ein Wort zu ihm, Ba - shtie? Oder war sie am Ende allein nach Mehi-o-ratea aufgebrochen? All diese Möglichkeiten ergaben keinen Sinn. Aber wo sollte er noch suchen? In seiner letzten Verzweiflung ging Sebastian noch einmal zum Hafen hinunter. Frethnal ließ er auf der Burg zurück. Falls es von dort Neuigkeiten gab, konnte er ihm die Nachricht überbringen.
In der Bucht lagen noch immer die gleichen Schiffe der Oranuti vor Anker. Wäre Antarona auf einen dieser Wasserwagen gebracht worden, so hätte der Kapitän wohl mit der nächsten Tide das Weite gesucht. An und auf den Schiffen jedoch ging der Be- und Entladebetrieb mit gewohnter Routine weiter.
Ratlos stand Sebastian an der alten Mauer, die Falméra zum großen Teil umgab, und blickte in die Bucht hinaus. Er war mit seiner Weisheit am Ende. Ein Mensch verschwand einfach. Das gab es auch in seiner Welt. Doch dort hätte er Polizei, Suchdienste und Krankenhäuser abtelefonieren können. In dieser Welt aber, die in vielerlei Hinsicht mittelalterlichen Charakter besaß, war er auf sich gestellt.
Die Gluthitze der Mittagssonne brannte ihm auf den Kopf und sorgte dafür, dass ihm selbst das Denken schwer fiel. Sehnsüchtig schweifte sein Blick zum Horizont, wo der warme Strom auf die kalte See traf. Dahinter war bitterkalter Winter. Eine kleine Abkühlung wäre nicht schlecht gewesen. Rona und Reno, die sie am Strand des Festlands zurückgelassen hatten, sehnten sich indes sicher nach wärmeren Gefilden.
Rona und Reno! Das war’s! Wenn Sebastian die beiden Hunde an seiner Seite hätte, so wäre Antarona schnell gefunden! Fieberhaft dachte Sebastian nach, vergaß, dass ihm der Schweiß von der Stirn lief und sah sich um.
Wenn ein Fischer das Risiko auf sich nehmen würde, ihn über das große Wasser und den gefährlichen Strom übersetzen würde, konnte er Högi Balmers Hunde holen. Natürlich blieb zweifelhaft, ob sie sich noch immer an diesem Strand herumtrieben. Es war jedoch die beste Alternative, die ihm bis dahin eingefallen war.
Doch wo fand er einen Fischer, der ein Boot besaß und mutig genug war, zu wagen, was sogar die Wasserwagenkapitäne der Oranuti fürchteten? Für eine übertrieben große Summe Quarts sollte sich schon einer finden! Natürlich hatte Sebastian keine Quarts bei sich. Und ohne, dass ihn das Ringgeld anlachte, würde sich wohl keine Seele zu einem solchen Unternehmen überreden lassen.
Entschlossen, seinen Plan in die Tat umzusetzen, hetzte er wieder den Weg zur Burg hinauf. Ohne zu zögern füllte er einen faustgroßen Beutel mit dem Ringgeld aus seiner Schatulle. Als er die erstaunte innere Burgwache zum vierten Mal innerhalb eines Sonnenlaufs passierte, war Genrath gerade dabei, die Wachmannschaften zu tauschen.
»Sagt, getreuer Genrath«, nahm Sebastian den Mann zur Seite, »wisst ihr einen unerschrockenen Mann mit einem Boot, der für eine Hand voll Quarts seine Furcht überwindet und einen Mann und zwei Hunde über das große Wasser und den Strom bringt?«
Der Wachführer, der kaum geschlafen haben konnte, musterte Sebastian und ihm entging nicht dessen innere Unruhe und Angst. Leise fragte er:
»Ist die Lage bereits so ernst, dass ihr solches riskieren wollt, Herr?« Sebastian war erschrocken darüber, welche Wirkung sein Äußeres auf andere hatte.
Ein Heerführer durfte sich Gefahr, Angst und Unsicherheit niemals anmerken lassen! Jede Stimmung übertrug sich nur allzu rasch auf die Truppe und konnte sogar Schlachtentscheidend sein.
»Seid ohne Sorge, Genrath«, beruhigte ihn Basti, »Falméra ist im Augenblick nicht bedroht. Doch jene, die man Sonnenherz nennt, und mit welcher mein Herz verbunden, ist möglicherweise in großer Gefahr.«
Genrath holte tief Luft, streckte sich, um seinen wartenden Wachmännern zu zeigen, dass er sie immer noch im Blick hatte. Dann beugte er sich zu Sebastian vor und fragte beinahe flüstern:
»Sie war es, welche wir in den dunklen Gängen unter Burg suchten, nicht wahr?« Die Katze war nun aus dem Sack. Aber Sebastian hatte das bereits in Kauf genommen, als er Genrath ansprach. Er vertraute dem Mann, der ihnen einst den Weg in die Burg öffnete und der dem Areos anscheinend bis in den Tod treu ergeben war. Sebastian nickte kaum merklich.
»Ja«, gab Sebastian zu, »sie ist plötzlich verschwunden und vielleicht von Torbuks Schergen entführt worden. Deshalb brauche ich zwei Hunde vom Festland, die ganz sicher ihre Spur aufnehmen könnten.«
»Lasst mich euch begleiten, Herr!« bat Genrath spontan. »Ein Wort aus eurem Munde und ich stehe an eurer Seite, egal gegen welchen Feind es geht, oder welch gefahrvollen Weg gehen werdet!« Sebastian zögerte mit seiner Antwort, hatte aber nicht mit der Hartnäckigkeit Genraths gerechnet.
»Herr, ich kenne einen, der Sonnenherz sein Leben dankt.« Genrath erzählte Sebastian in kurzem Abriss vom Holzfäller, dessen Unfall Antarona im Tagtraum sah, und diesen dadurch rettete.
»Und manch einer in der Truppe kennt die Geschichten und Heldenranken um die geheimnisvolle Kriegerin aus dem Val Mentiér, die es mit einem Dutzend von Torbuks besten Soldaten gleichzeitig aufzunehmen vermag und mit den Tieren spricht. Es ist mein tiefster Wunsch, Areos und Sonnenherz zu dienen, Herr. Das Volk spricht bereits davon, dass ihr jene seid, welche die alte Prophezeihung erfüllen werden. Bitte, Herr, lasst mich an dieser großen, ehrvollen Tat als euer ergebener Diener teilhaben!«
»Kennt ihr den einen, der uns über das große Wasser bringen kann?« fragte ihn Sebastian geheimnisvoll. »Ich will, dass es ein Îval ist, kein Oranuti, versteht ihr mich?«
Bastis Augen bohrten sich in Genraths Gesicht. Er wollte sicher gehen, einen wahren Verbündeten vor sich zu haben, dem das Schicksal des Volkes ebenfalls am Herzen lag. Genrath nickte gewichtig und sagte mit fragendem Tonfall:
»Wenn ein Oranuti uns hinüber bringt, könnte es geschehen, dass drüben am Strand eine kleine Überraschung auf uns wartet, Herr.« Er begann leicht säuerlich zu grinsen und fuhr fort:
»Ich denke da an ein Begrüßungsgeleit zur Burg Quaronas, oder an Büsche und Sträucher, welche Augen haben, vielleicht sogar Waffen. Ja, Herr, ich kenne einen, der keine Fragen stellt, wenn ihr ihn bittet, und welcher ein Îval reinen Blutes ist!« damit streckte sich Genrath ein weiteres Mal und rief deutlich zu seiner Wachgruppe hinüber:
»Degenhart, zu mir!« Ein junger, schlaksiger Bursche mit kurzen, wirren Haaren trat aus der Gruppe und schritt ohne Eile zu ihnen herüber. Er hatte ein gütiges, fast dümmliches Gesicht, oberflächlich. Denn wer näher hinsah, konnte wache, große Augen darin erkennen, die einen Gegensatz zu der hakenförmigen Nase und den etwas abstehenden Ohren standen.
Seine lässige, fast schon respektlose Art war ebenso trügerisch, wie sein Aussehen. Mit einer Bewegung, die glauben machte, er hätte seine Glieder nicht recht unter Kontrolle, verbeugte er sich erst vor Sebastian, dann vor seinem Kommandeur.
»Degenhart von Hainen, Schildträger, Herr«, stellte Genrath den Herbeigerufenen vor. »Sein Vater ist Fischer und Mitglied im Ältestenrat von Wiesport, einem Ort nahe der großen Flussmündung. Wenn der Sohn ist, wie sein Vater, dann kenne ich keine besseren und furchtloseren!« Genrath wandte sich nun dem hochgewachsenen Jungen zu.
»Weshalb seid ihr nicht auf einem eures Vaters Booten, sondern führt Schwert und Schild im Namen des Königs, antwortet!« Der Junge ließ sich nicht aus der Ruhe bringen, auch nicht durch die Tatsache, dass Areos vor ihm stand. Er sah neugierig von einem Herrn zum anderen und sprach:
»Mein Vater mag dem Volke dienen, so er es mit den Gaben des großen Wassers nährt. Diese Gabe ist aber nicht mir anheim, Herr. Ich mag dem Volke dienen, so ich es mit Herz und Hand gegen jeden und alles schütze und behüte, welches ihm schaden will!« Sebastian musterte ihn skeptisch.
»Das sind große Worte, mein junger Freund. Vermögt ihr diesen auch Taten folgen zu lassen?« Sebastian sah Degenhart forschend an und sagte dann: »Ich habe euch auserwählt, dieser Frau dort die Hände abzuschlagen, denn sie hat sich an königlichem Besitz vergriffen!«
Damit wies Sebastian auf eine junge, aber ungepflegte, nicht gerade schön anzusehende Magd, die mit einer Schüssel bewaffnet gerade zufällig über den Burghof hinkte, so dass ihr die schmutzige Brühe darin in kleinen Schlucken über den Rand schwappte.
»Sie ist eine gute Seele, Herr, fleißig und nicht schwatzhaft«, antwortete der Bursche prompt. »Sie schafft mehr als andere Weiber, denn sie sorgt für sich und ihren Bruder, welcher nicht alle Sinne beieinander hat. Einige Männer der äußeren Wache wollten sie mit vielen Quarts in ihr Nachtlager holen. Doch sie verschmähte jeden, da sie ihren Eltern am Sterbebett gelobte, den Jockel, ihren Bruder zu hüten, solange er dessen bedarf. Sie ist eine rechtschaffende Îval, Herr! Verzeiht, aber ich werde ihr ohne das Siegel seiner gütigen Hoheit nicht die Hände abschlagen! Und sollte das königliche Gericht über sie urteilen, Herr, so werde ich für ihren gut Leumund aussagen!«
Mit diesen Worten griff der junge Soldat in seinen Waffenrock und förderte einen kleinen Beutel zu Tage. Ohne zu überlegen reichte er ihn Sebastian.
»Herr, ich bitte euch, nehmt, dies es ist mein Sold der letzten acht Monde. Vergeltet damit die Schuld dieser armen Frau, die gewiss nicht um ihrer selbst willen Hand an fremdes Gut legte!«
Offen, mit beinahe revolutionärem Starrsinn hielt der junge Mann Sebastian den Beutel hin und sah ihm offen in die Augen. Der vermeintliche Areos musterte den Jungen eine Weile von oben bis unten. Dann packte er den Jungen unverhofft an der Schulter und drehte ihn zu den anderen wartenden Soldaten herum.
»Genrath!« rief er lauf, damit es jeder hören konnte. »Hier haben wir mal einen königlichen Schildträger, der wahrhaft diesen Namen verdient, der etwas wert ist, der mit dem nötigen Mut bereit ist, ohne Eigennutz für König und Volk zu streiten!« Sebastian wandte sich anschließend an Degenhart.
»Junger Freund, vielleicht habt ihr bereits davon gehört, dass hinter dem großen Wasser ebenfalls Menschenwesen des Volkes leben. Diese Îval leben in steter Angst vor dem Tod. Sie werden ein ums andere Mal von Torbuks wilden Horden überfallen, ausgeplündert, versklavt und geschändet.«
»Ja, Herr, ich weiß um die Îval am Rande des ewigen Schnees. Der Bruder meines Vaters trieb Handel mit ihnen. Eines Tages aber kam er nicht von dort zurück. Wir haben ihn nie wieder gesehen!« Sebastian nickte in Anteilnahme und fragte ihn:
»Degenhart, Männer wie euch brauche ich, wenn ich einmal gegen jene ziehe, welche die Îval dort unterdrücken, welche eurem Vater den Bruder nahmen.« Sebastian legte freundschaftlich seine Hand auf Degenharts hohe, knochige Schulter.
»Ich frage euch jetzt und hier! Wollt ihr mit mir ziehen, wenn es soweit ist, das Volk zu befreien? Wollt ihr jetzt mit mir gehen, um die Frau zu suchen, die seit langem allein für die Îval hinter dem großen Wasser kämpft, jene Frau, die sich Sonnenherz nennt, die mit mir nach Falméra kam, um für ihr Volk zu bitten?«
»Herr, eurem ergebenen Diener Degenhart kann keine größere Ehre zu Teil werden, als Sonnenherz und euch zu dienen und zu schützen. Weit eilt Sonnenherz ihr großer Ruf voraus. Ihre wundersamen Taten wandern in ehrfürchtigen Worten durch die Zelte aller Heerlager und jeder Krieger würde ihr gern die Füße küssen, Herr! Doch...« Degenhart sprach nicht weiter und sah das erste Mal zu Boden.
»Was, ihr wollt nicht?« fragte Sebastian erstaunt. »Warum nicht?« Er sah den jungen Burschen mit ungläubigen Augen an und stellte fest:
»An Mut scheint es euch doch nicht zu mangeln, ebenso wenig an Kraft, Ehre und Begeisterung! Was, bei allen Göttern vermag euch zu schrecken, im Kampf neben Areos und Sonnenherz, neben Arrak und Frethnal und vielen anderen Beherzten zu streiten? Ein Herz, das mit dem euren verbunden ist?«
»Degenharts Herz ist frei, Herr, das ist es nicht. Ich bitte euch zu verzeihen, Herr, ich will augenblicklich mit euch gehen, doch muss ich dies der Ehre halber an ein Versprechen binden, welches ihr mir gewähren müsst!« forderte der angeworbene Jüngling.
»Hat man da noch Worte? Genrath, was sagt ihr dazu?« fragte Sebastian verblüfft. »Jeder reißt sich darum, in die von Areos geführte Truppe aufgenommen zu werden, und dieser hier, Degenhart von Hainen, stellt Bedingungen, mir, Areos von Falméra!«
»Sagt mir eines, junger Freund«, versuchte Sebastian ihm zu entlocken, »was ist so von Herzen euer Begehren, dass ihr es wagt, dem Sohn des Königs ein bindendes Versprechen dafür abzuverlangen, dass er euch freiwillig ein Privileg zuteil werden lässt, für das sich alle anderen ein Ohr abschneiden würden, um es zu erhalten? Los, redet schon!« Sebastian stemmte seine Fäuste in die Hüfte und wartete.
»Herr, Degenhart von Hainen folgt euch auf der Stelle, wenn ihr ihm bei Talris und den Göttern versichert, dass ihr der Magd Xanthia nicht die Hände abschlagen lasst und euch vor dem Gericht des Königs wohlwollend für sie verwendet!«
Der junge Krieger war sichtlich erleichtert, die schweren Worte endlich über die Lippen gebracht zu haben. Sebastian starrte ihn an und wusste nicht, was er sagen sollte. Fassungslos fragte er:
»Und das ist alles? Mehr fordert ihr nicht?« Degenhart wich seinem forschenden Blick keine Sekunde aus und sagte mit dem Mut eines Mannes, der alles auf eine Karte gesetzt hatte:
»Ja, Herr, das ist alles! Und wenn ihr mich noch so hart straft, Herr, dies jedoch ist meine Forderung, von der ich nicht ablasse!« Kerzengerade stand der junge Mann vor Sebastian, der es als erster gewagt hatte, Areos etwas offen abzufordern.
»Sagt, Degenhart, mögt ihr diese Magd, oder liebt ihr sie gar, heimlich, ohne ihr wissen?« fragte Sebastian, der die Forderung seines Soldaten noch immer nicht ganz glauben mochte.
»Nein, Herr. Aber ich achte sie für das, was sie tut und dafür, wie sie es tut. Sie ist eine ehrliche Frau, die anderen hilft, ohne darum gebeten worden zu sein. Sie ist eine gute Frau, sie ist eine Îval! Und ich, Herr, bin ein Krieger des Königs, der sich bei den Göttern verbürgt hat, jedes Menschenwesen der Îval zu schützen, ob arm, oder reich, ob schön, oder hässlich, ob gesund, oder krank, ob von niederer Herkunft, oder von hohem Stand...« Da fiel ihm Genrath ins Wort:
»Hütet eure Zunge, Degenhart! Wohl steht ihr in meiner Gunst, doch noch seid ihr ein einfacher Schildträger und kein Krieger! Ihr wollt es werden. Darum wundere ich mich sehr, dass ihr euch dies zunichte macht, indem ihr es wagt, dem Sohn des Königs ein Wort abzuverlangen. Was ist in euch gefahren?«
Nun war es Sebastian, der wiederum Genrath zum Schweigen brachte. Er legte dem Wachführer die Hand auf den Arm und sprach versöhnlich:
»Genrath, lasst ihn und hört mir zu«, und lauter rief er: »Hört mir alle zu! Dieser hier, Degenhart von Hainen, Schildträger in meines Vaters, des Königs Burgwache, hatte den Mut, ohne seiner selbst zu achten, für eine einfache Magd einzustehen, und sie in seiner Achtung ihr gegenüber, zu unseres Gleichen zu erhöhen.«
Sebastian machte eine gedankliche Pause, denn bis hierhin musste allen Anwesenden unklar sein, was er mit seinen Worten zum Ausdruck bringen wollte.
»Nun, Degenhart von Hainen, ihr habt damit bewiesen, dass ihr bereit seid, auch für den Geringsten des Volkes euer Schwert zu erheben, um ihn zu schützen, selbst, wenn es euch den eigenen Kopf kostete. Das ist wahrer Edelmut, der seinesgleichen zu suchen vermag. Darum seid ihr nicht länger würdig, des Königs Schildträger zu sein!« Sebastian schwieg einen Moment und wartete die Reaktionen ab.
Genrath blickte irritiert auf seinen Heerführer, die angetretenen Wachsoldaten sahen teils betreten zu Boden, teils überrascht auf ihren Wachführer. Allein Degenhart nahm das Urteil wenn auch nicht gelassen, so doch mit unerschütterlicher Fassung. Stolz hob er das Kinn zum Trotz. Sebastian begann zu lächeln und rief noch mehr Verwunderung hervor, als er fortfuhr:
»Ihr seid nicht länger würdig, des Königs Schildträger zu sein«, wiederholte er noch einmal betont, »denn ihr seid nun würdig, ein Krieger des Königs und des Volkes zu sein! Ein Krieger, der seinen Stand verdient und diesen Namen mit Stolz tragen darf! Eure Forderung hat mir bewiesen, dass ihr für das Volk einsteht, mit Mut, mit Ehre und mit Verantwortung! Dies macht euch zu einem Krieger! Mich, Areos von Falméra, würde es mit Stolz erfüllen, wenn ihr euch zum Eintritt in das Heerlager entschließt, das mein Wappen auf seinen Schilden führt!«
»Genrath«, wandte sich Sebastian wieder an den Wachführer, »lasst euch ablösen, kommt mit Degenhart zum Hafen hinunter und wartet dort auf mich!« Froh, durch Areos Beliebtheit wieder einen Anhänger an seiner Seite zu wissen, stieg Sebastian in seine Räume hinauf und füllte ein Lederbeutelchen mit Quarts, bevor er sich unverzüglich auf den Weg zum Hafen machte.
Dort warteten bereits Genrath und Degenhart. Bei ihnen war ein älterer Mann, krummbeinig und mit vom Wetter gegerbtem Gesicht. Degenhart war ihm wie aus dem Gesicht geschnitten. Der Mann trug die einfache, von der Arbeit schmutzige Kleidung eines Fischers.
»Dies ist mein Vater Ernfried von Hainen, Herr«, stellte Degenhart ihn vor. Der alte Mann verbeugte sich und Sebastian sah in kluge, wache Augen, die unter buschigen Brauen hervorstrahlten. Er hatte ein gutmütiges Gesicht, doch die silbergrauen, kurzen Bartstoppeln verliehen ihm dennoch ein verwegenes Aussehen. Sebastian wusste vom ersten Augenblick an, dass ein Mann vor ihm stand, den das Leben mit Höhen und Tiefen geschult hatte.
»Ihr seid bereit zu wagen, was alle anderen mehr fürchten, als die Dämonen aus der Tiefe der Erde?« fragte Sebastian skeptisch. Ernfried nickte bedächtig und es schien, als überlegte er sich gründlich seine Worte, bevor er antwortete.
»Herr, ich fahre seit Kindesbeinen an über das große Wasser. Den Strom fürchte ich nicht, denn auch der endet irgendwo. Allein, was hinter dem großen Wasser sich zum Sprung rüstet, ist, was ich mit Sorge sehe. Nur ungern ließ ich meinen Sohn ziehen, der danach dürstet, für das Volk zu kämpfen.« Freundlich lächelte Sebastian den Alten an.
»Euer Sohn ist nicht nur mutig und stark, guter Mann, er ist auch klug und umsichtig. Seid gewiss, er wird sein Schicksal nicht unbedacht herausfordern. Doch ich weiß, er wird euer herz mit Stolz erfüllen!« Sebastian sah dem Alten an, dass ihn seine Worte keineswegs beruhigten. Wie auch? Ein Vater sorgt sich nun einmal um seine Kinder, egal, zu welch ehrenvollen Taten sie aufbrechen.
»Ernfried, vermögt ihr uns sofort überzusetzen?« wollte Sebastian wissen. Degenharts Vater antwortete aber nicht. Er starrte an ihm vorbei und schien sein Interesse auf etwas anderes zu richten. Fragend sah Sebastian den Fischer an.
»Diese Schwarzvögel dort, Herr, sie gebärden sich seltsam, und zeigen keinerlei Scheu«, erklärte dieser seine Unaufmerksamkeit und deutete auf die Hafenbrüstung in Sebastians Rücken. Verwundert drehte Basti sich um und traute seinen Augen nicht.
Auf der dicken Mauer, die beinahe ganz Falméra umgab, hockten zwei Krähen und spreizten abwechselnd die Flügel, als wollten sie Aufmerksamkeit erregen. Die vier Männer standen nicht einmal zwei Meter entfernt. Doch das schien die beiden Vögel nicht zu stören. Im Gegenteil! Sie bewegten sich so auffällig, als wollten sie die Anwesenden bewusst provozieren. Ihr Verhalten hatte sogar etwas Bedrohliches.
»Herr, ich werde ihnen den Garaus machen«, verkündete Degenhart eifrig, »die werden euch nicht mehr belästigen!« Schon griff der junge Krieger an seinen Gürtel und hatte im nächsten Augenblick eine Steinbola in der Hand, drei in Leder gewickelte Steine, die durch Schnüre oder Lederriemen miteinander verbunden waren.
Mit ihnen brachte man leicht ein gegnerisches Pferd, oder einen laufenden Mann zu Fall. Die einfache Waffe eignete sich aber auch dazu, kleineres Wild zu erlegen. Degenhart schwang die drei Steine und ließ sie um seine Faust kreisen, während er zielte.
»Halt, wartet, mein junger Freund«, hielt Sebastian ihn auf. Eine Krähe sah freilich aus, wie die andere. Und doch glaubte er Tekla und Tonka zu erkennen. Waren Antaronas Krähen in der Nähe, konnte sie selbst möglicherweise nicht weit sein. Ihre beiden schwarz gefiederten Freundinnen schienen ihre verlängerten Augen und Ohren zu sein. Sebastian vermutete inzwischen sogar, dass Antarona eine Art geistige Verbindung mit den beiden Vögeln eingehen konnte.
Wenn das stimmte, dann war es ihr durch die beiden Schwarzvögel vielleicht möglich, Sebastian eine Nachricht zu senden, und falls sie in Not war, einen Hilferuf. Sebastian beobachtete die beiden Krähen und forderte die anderen mit einer deutlichen Geste auf, ein Stück zurück zu treten.
Mittlerweile war Sebastian klar geworden, dass diese Tiere äußerst intelligent waren. So wunderte es ihn nicht, dass sie sich in die Lüfte erhoben, sobald er ihnen seine Aufmerksamkeit schenkte. Die beiden Vögel kreisten drei Runden über den Männern, dann schwebten sie in Richtung zur Burg davon.
»Das sind wahrscheinlich Antaronas Krähen«, erklärte Sebastian den fragenden Gesichtern seiner Waffenbrüder, »dann können wir uns den Weg über den Strom und das große Wasser sparen. Vermutlich wissen die beiden Tiere, wo sich Sonnenherz befindet.« Degenhart nickte vielsagend und dachte laut:
»Ich habe davon gehört, dass Sonnenherz auch das Krähenmädchen genannt wird. Es wird erzählt, sie vermag ihre Gedanken mit jedem Krähenvogel auf die Reise überall hin zu schicken. Sie sieht, was die Vögel sehen, sie fühlt, was diese spüren und sie kann eins werden mit ihnen.«
»Ach, was ihr Jungen euch da immer ausdenkt«, schüttelte sein Vater vorwurfsvoll den Kopf, »wie kann einer eins werden mit einem Schwarzvogel, das ist doch eine allzu kühne Mär!« Sebastian wedelte mit der Handfläche und blickte Ernfried geheimnisvoll an.
»Na ja, etwas ist schon dran, an den Erzählungen der Leute. Ich habe selbst erlebt, wie Sonneherz durch ihre beiden Vögel erfahren hat, dass sich eine Horde feindlicher Reiter näherte. Fest steht, dass sie eine besondere Gabe hat, mit den Tieren.«
In diesem Augenblick schossen zwei Schatten durch die Luft heran, breiteten die Flügel aus und landeten wieder auf der Mauer. Wie zur Bestätigung Sebastians Verteidigung Antaronas Künste gegen die Zweifel seiner Männer stießen die beiden Vögel ein langgezogenes Kroooh, Kroooh aus und hüpften ungeduldig auf den blankpolierten Steinen der Mauer herum.
Kurz darauf stießen sie sich ab und segelten erneut zur Burg hinauf, zielstrebig, als wollten sie den Männern etwas zeigen, oder sie zu einem bestimmten Ort führen. Sebastian überlegte. Waren die beiden Krähen ein Hilferuf Antaronas, den sie zu ihm sandte, weil sie sich in Not befand? Doch warum flogen Tekla und Tonka dann stets zur Burg zurück? Antarona befand sich nicht in den Mauern der Festung! Oder doch? Hatte er irgendetwas übersehen?
Seiner rationellen Überlegung folgend, müsste Sebastian mit den Männern zum Festland übersetzen, um Balmers Hunde Rona und Reno zu holen. Da er aber nicht wissen konnte, ob die beiden sich immer noch in der Nähe des Strandes herumtrieben, oder längst zu Högi Balmer zurückgelaufen waren, wollte er sich lieber auf seine Intuition verlassen.
»Ich denke, wir versuchen erst noch etwas anderes, bevor wir uns auf das große Wasser wagen«, verkündete Sebastian spontan und schuf damit Verwirrung bei seinen Begleitern. Unschlüssig und skeptisch sahen sie ihn an.
»Ernfried, seid bedankt für eure Mühe«, würdigte er Degenharts Vater, »vielleicht brauche ich euch noch einmal, dann sende ich euch einen Boten.«
Damit gab er dem Mann ein paar Quarts, die dieser aber gar nicht annehmen wollte. Er wäre dankbar und stolz gewesen, dem Areos von Falméra mit seinen bescheidenen Diensten helfen zu können, erklärte er. Nachdem er seinen Sohn verabschiedet hatte, ging er wieder seinem Tagwerk nach.
Sebastian und seine neuen Verbündeten aber machten sich auf den Weg zur Burg. Es galt nun, das Gemäuer von oben bis unten zu durchsuchen, und Sebastian wollte nicht eher ruhen, bis er Antarona gefunden hatte. Er nahm sich vor, auch des Königs Gemächer und Arbeitszimmer nicht auszulassen. Notfalls wollte er sie des Nachts über die Geheimgänge durchsuchen.
Sie stiegen gerade die Freitreppen hinauf, als die beiden schwarzen Schatten erneut herangesegelt kamen. Tonka und Tekla ließen sich auf den breiten Stufen nieder und hüpften den Männern vor den Füßen herum, um kurz darauf wieder zur Burg hinaufzufliegen.
Nun gab es keinen Zweifel mehr! Antarona musste die beiden Krähen geschickt haben, um Hilfe zu holen. Basti legte noch einen Schritt zu. Wie oft war er an diesem Tag diese Treppen hinauf und hinab gerannt? Eine bemerkenswerte Leistung! Schließlich waren es keine Treppen, die man von Rom oder Athen her kannte. Diese waren ein deutliches Stück monumentaler!
Verschwitzt erreichten die Männer den unteren Burghof und hielten nach Tekla und Tonka Ausschau. Die schossen plötzlich um die Burgmauer herum, dass Sebastian sogar den Luftzug spüren konnte, nutzten einen Auftrieb, schwebten hoch über die Mauerkrone davon und verschwanden hinter dem westlichen Treppenturm.
»Sie fliegen auf die Seite der wandernden Sonne, Herr«, stellte Genrath überflüssigerweise fest. »Wir können ihnen dorthin nicht folgen, die Schlucht ist zu schmal, dort ist nur das wilde Wasser!«
»Ach was«, widersprach Sebastian, »wir gehen auf einen der Söller, von dort aus können wir sehen, wohin sie fliegen!« Zwei, drei Stufen auf einmal nehmend, hetzte Sebastian die Treppe des Torhauses hinauf, lief über den oberen Hof und rannte beinahe die Wache über den Haufen, die hinter der Tür zum großen Treppenturm stand.
Der Soldat wollte eben laut seinen Unmut über das rüde Eindringen kundtun, als er Areos und Genrath erkannte. Stattdessen verschluckte er sich an seinem Protest und verbeugte sich so tief, dass er sich beinahe den Schädel am erhöhten Podest der Korridortür einschlug.
»Na, na, na«, ermahnte ihn Sebastian, »gebt acht auf euch, Mann! Wie wollt ihr wachen, wenn euch der Schädel brummt?
Damit ließen sie den verdutzten Mann stehen, stürmten die Treppe hinauf und machten erst an der Tür zu Antaronas Gemächern halt. Genrath verlor keine unnötige Zeit.
»Tür auf!« bellte er dem Soldaten knapp zu, der vor dem Zugang Wache hielt. Der Wachmann riss fast das Türblatt aus den Angeln und verbeugte sich wie sein Kamerad ein paar Etagen tiefer. Nur, dass durch die Verbeugung niemand mehr die enge Treppe zum Podest passieren konnte.
»Ist schon gut, Mann«, beruhigte ihn Sebastian ungeduldig, und zu Genrath gewandt sagte er: »Wer ist eigentlich jemals auf den dummen Einfall gekommen, dieses zwanghafte Verbeugen einzuführen? Vor lauter Verbeugerei und Ja Herr Rufen, kann hier ja niemand mehr klar denken!«
Er wartete eine Antwort erst gar nicht ab, sondern lief ohne zu Zögern den Korridor entlang, stieß die Tür zu Antaronas Salon auf und gleich danach die Tür zum Freisitz. Sebastian sah sich um, doch die beiden Krähen konnte er nirgends entdecken. War er doch einem Irrtum aufgesessen? Vielleicht konnte er sie vom Südturm aus besser erspähen? Also wieder zurück! Fast wäre er noch mit Genrath und Degenhart zusammengeprallt, die etwas langsamer waren und erst jetzt in der Tür erschienen.
»Genrath, ich denke, ihr könnt mit unserem jungen Krieger wieder zur Wache zurück gehen. Frethnal und Antaronas Kammerzofe können mir nun eher helfen, sie kennen sich hier am besten aus. Wenn ich euch brauche, werde ich euch rufen lassen. Und in Kürze, sobald ich das mit dem König und Tieton besprochen habe, werde ich euch ohnehin zum Heerlager versetzen!« Sebastian war schon an den beiden vorbeigegangen, als er sich noch einmal umdrehte.
»Und denkt dran: Kein Ja Herr und keine Verbeugung, wenn ich bitten darf!« Damit ging er den Korridor zurück zu Vesgarinas Kemenate.
Sebastian klopfte an und wunderte sich nicht, dass Frethnal die Tür öffnete. Es war gut, dass sich Frethnal um sie kümmerte, solange Antarona nicht da war. Doch darauf einzugehen, war nicht der richtige Augenblick.
»Frethnal, Vesgarina, kommt mit, Antarona muss sich noch hier in der Burg befinden!« forderte er die beiden auf und ging zum Südturm voran. Oben auf der höchsten Zinne trat er auf die luftige, den Turm umlaufende Außengalerie und blickte sich um. Doch von Tekla und Tonka war nicht eine Feder zu sehen.
Die drei stiegen wieder herab und begaben sich erneut auf den Freisitz. Sebastian glaubte dort am ehesten weiter zu kommen, wo sich Antaronas Spur mit ihrem Oberteil verloren hatte. Kaum standen sie auf der großen Terrasse, da kamen Tonka und Tekla herangesegelt und setzten sich auf die breite Balustrade.
Unruhig hüpften sie dort hin und her, führten einen wahren Tanz auf und ließen sich schließlich von einer Böe erfassen und erneut davontragen. Immer höher ließen sie sich vom Wind tragen, bis sie hoch über Sebastian und dem Dienerpaar jeglichen Blicken entschwanden.
Was sollte das? Sebastian kam sich ziemlich genarrt vor. Antarona konnte ja wohl kaum im Himmel sein! Wenn die beiden Krähen ihn zu ihrer menschlichen Freundin führen wollten, wieso entschwebten die dann in unerreichbare Höhen? Mit ratlosem Blick sah er Vesgarina und Frethnal an. Deren unbewegte Gesichter verrieten Basti, dass er von ihnen wenig Hilfe zu erwarten hatte.
Resigniert ging er in den Salon zurück und weiter in die Bibliothek. Mit wenig Hoffnung, auf einen brauchbaren Hinweis zu stoßen, sah sich Sebastian noch einmal um. Ihm fiel jedoch nicht das Geringste auf, worauf sich etwas schließen ließe.
Unschlüssig, wie er nun weiter vorgehen sollte, wanderte er in den Salon zurück. Vesgarina und Frethnal standen noch immer auf dem Freisitz. Eine große Hilfe waren sie nicht. Vielleicht hätte er lieber Genrath und Degenhart in seiner Nähe behalten sollen. Möglicherweise hätten die wenigstens einen Vorschlag gehabt!
Mittlerweile wurde es Abend. Die Sonne stand knapp über der gegenüberliegenden Bergkette und sandte ihre letzten, flachen Strahlen durch die großen Fenster des Salons. Im Spiel von Licht und Schatten suchte sich der letzte, goldene Schein den Weg in die verborgensten Winkel des Raumes. Jeder Gegenstand, jeder Krümel auf dem Fußboden erzeugte einen schmalen, schwarzen Strich.
Etwas neben der Tür zum Freisitz warf einen sehr langen Schatten. Sebastian wäre der kleine Gegenstand gar nicht aufgefallen, hätte nicht sein langer Schatten das Leuchten auf dem Fußboden unterbrochen. Er hob einen unscheinbaren grauen Steinsplitter auf, der eine frische Bruchstelle aufwies. Wie kam der in den Salon? Die Wände bestanden aus weicherem, gelblicherem Gestein.
Sebastian rief Antaronas Zofe herein, ließ den kleinen Stein in seiner Handfläche auf und ab fliegen und fragte sie:
»Vesgarina, Wann habt ihr in diesem Raum das letzte Mal sauber gemacht?« Das Mädchen begann an seinen Fingern anscheinend die Tage abzuzählen, als ihr Blick auf den Steinsplitter in Sebastians Hand fiel. Sie riss erschrocken die Augen auf und senkte sie sogleich wieder beschämt zu Boden. Sebastian war ihre Reaktion nicht entgangen.
»Was ist damit, Vesgarina, was ist mit diesem Steinchen?« wollte er wissen. Die kleine Kammerdienerin zeigte nach draußen auf den Freisitz und fasste sich dann an ihr Herz, als wollte sie sich für etwas entschuldigen. Sebastian bohrte weiter:
»Ist der von dort draußen, von der Brüstung, oder vom Fußboden?« forschte Sebastian weiter. Vesgarina aber zuckte nur unwissend mit den Schultern, wies erneut auf den Freisitz und zeigte dann zum Korridor.
So kam Sebastian nicht weiter! Kurz entschlossen ging er in Antaronas Bibliothek, suchte in den Schubladen Feder, Tinte, sowie Pergament und brachte es in den Salon. Vesgarina tauchte die Feder in das Tintenfass und kritzelte in ihren unbeholfenen Buchstaben:
Herr mag verzeihen, hat vesgarina bei sauber machen fussboden verloren.
So richtig verstand Sebastian das Mädchen nicht. Er sah sich suchend um und fragte dann:
»Wo hattet ihr denn sauber gemacht und wo kam dieser Stein her?« Vesgarina nahm erneut die Feder zur Hand und Basti wartete auf das, was sie aufschrieb. Dann zeigte sie wieder auf den Freisitz.
Machen sauber Balkon, viele Steine und viele Sand, und Oberteil von Schwester Sonnenherz, las er. Was bedeutete das? Wie sollten Steine und Sand auf den Freisitz gelangen, der immerhin im obersten Geschoss lag? Sebastian überlegte angestrengt.
»Vesgarina, wohin habt ihr Steine und Sand gebracht?« fragte er schließlich. Das Mädchen schrieb nur das Wort Hof auf den Zettel und zeigte zur Tür zum Korridor. Sebastian versuchte geduldig zu bleiben und Verständnis für das stumme Mädchen aufzubringen, aber es fiel ihm schwer.
»Los, Vesgarina, ihr zeigt mir jetzt, wo ihr das Zeug gelassen habt! Geht voran. Frethnal, ihr kommt ebenfalls mit!« bestimmte Sebastian.
Die Kammerzofe führte sie auf den inneren Burghof. Es war ihr anzusehen, dass ihr die ganze Sache peinlich war, ja sogar sehr unangenehm. Anscheinend glaubte sie, etwas falsch gemacht zu haben, für das man sie nun bestrafen wollte. Sebastian versuchte sie zu beruhigen.
»Macht euch keine Gedanken, Vesgarina, ihr habt alles richtig gemacht. Zeigt mir nur, wo ihr Sand und Steine hingebracht habt, dann ist alles gut!«
Das Mädchen führte sie zu einer Stelle, wo der Flügel des Thronsaals im spitzen Winkel an den Südflügen grenzte. Sie hatte den Schutt einfach in die Nische gekippt. Sebastian musste leicht grinsen. Die kleine Belustigung verging ihm aber, als er die Menge sah, welche Vesgarina dort heimlich entsorgt hatte. Wie war all das Zeug auf den Freisitz gekommen? Da kam ihm eine Idee!
»Frethnal, besorgt mir schnell zwei Körbe!« wies er den Diener an. »Die müssen aber dicht sein, es darf nichts heraus fallen!« Augenblicklich machte sich sein Diener auf den Weg und kam schon nach kurzer Zeit mit zwei eng geflochtenen Körben in Form von großen Schalen zurück.
Mit den Händen schaufelte Sebastian den ganzen Steinschutt in die Körbe. Dann drückte er einen Korb Frethnal in die Hände, nahm selbst den anderen und ging damit zum Freisitz zurück. Dort angekommen stellte er beide Körbe auf den Boden und sagte zu Vesgarina:
»So, und nun verteilt bitte alles so auf dem Boden, wie ihr es vorgefunden habt! Und versucht es möglichst genau so zu machen, versteht ihr?«
Vesgarina sah ihn an, als zweifelte sie an seinem Verstand. Trotzdem begann sie den ganzen Dreck mit den Händen auf dem Balkon zu verteilen. Dabei gab sie sich zweifellos Mühe. Sie schob mit dem Fuß hierhin einen brocken, und dorthin ein paar Splitter, bis sie sicher war, dass alles so war, wie an jenem Tag, als sie sich über den Schmutz wunderte.
Plötzlich lief sie nach drinnen und war verschwunden. Fragend sahen sich Sebastian und Frethnal an. Doch da erschien Vesgarina wieder in der Tür, Antaronas Oberteil in der Hand. Sie legte es dorthin, wo sie es gefunden hatte. Dann trat sie zur Seite und präsentierte Sebastian mit einer vielsagenden Geste ihr Werk.
»Gut, dass ihr an das Oberteil gedacht habt, kluges Kind!« lobte Sebastian das Mädchen. Anschließend betrachtete er den Haufen Schutt, der nicht so aussah, als hätte ihn jemand bewusst auf den Freisitz gekippt. Das Zeug lag viel zu zerstreut! Als hätte es jemand aus großer Höhe auf den Balkon geworfen.
Sebastian trat bis an die Brüstung zurück und spähte zum Dach hinauf. Neugierig folgten Frethnal und Vesgarina seinem Beispiel. Vom letzten Sonnenstrahl beleuchtet, schimmerten die von Hand behauenen Steine rötlich herab. An einer Stelle, direkt unter einer Dachgaube befand sich aber eine dunkle Stelle, als fehlten dort jene Steine, welche die Dachfläche bildeten.
Genaueres konnte Sebastian nicht erkennen. Inzwischen aber misstrauisch geworden, wollte er der Sache unbedingt auf den Grund gehen. Zwar glaubte er nicht, dass ein paar zufällig herab gefallene Dachsteine mit Antaronas Verschwinden zu tun haben sollten, einen anderen Hinweis gab es aber nicht.
»Frethnal, geht und holt Genrath herbei! Er soll aber den Schlüssel zum Dachgeschoss mitbringen!« wies er seinen Diener an, der sofort loslief. Noch einmal warfen Sebastian und Vesgarina einen Blick in die Höhe und sahen gerade noch, wie ein Krähenpaar vom First der Dachgaube abhob und in weiten Kreisen zu ihnen herabschwebte.
Einen Moment später landeten Tekla und Tonka wiederholt auf der Brüstung und gebärdeten sich, als wollten sie sich als Zielscheibe anbiedern. Als Sebastian einen Schritt auf sie zuging, breiteten sie die Schwingen aus und ließen sich vom Wind wieder hinauf tragen, zu jenem Dachfirsten, unter dem anscheinend die Steine fehlten. Das war nun für Sebastian Anlass genug, das Dach genauer in Augenschein zu nehmen!
Er wartete nicht auf Frethnal, sondern ging mit Vesgarina zum Turm. Auf der Treppe trafen sie mit Frethnal und Genrath zusammen.
»Habt ihr den Schlüssel zum Dach?« erkundigte sich Basti. Genrath, ziemlich außer Atem, winkte ein paar Mal mit der Hand ab, bis er wieder Luft bekam.
»Es gibt keinen Schlüssel, Herr. Vor den Türen liegen nur ganz gewöhnliche Riegel, welche jeder aufzuschieben vermag!« brachte er stoßweise hervor.
»Also los«, befahl Sebastian, zog sein Schwert und ging voran, die Treppe hinauf. Es war nicht gerade vorteilhaft, mit gezückter Waffe die enge Steintreppe zu begehen, aber er wusste nicht, was ihn dort oben erwarten würde.
Mit blankem Schwert auf alles vorbereitet zu sein, war ja kaum ein Zeichen von Schwäche. Schließlich hatte es Sebastian bereits mit Goren, Robrums und anderen Wesen zu tun bekommen, die nach seinem Wissen eigentlich nicht existieren dürften.
Was auch immer sich dort oben befand. Hatte es Antarona auf dem Gewissen, oder hielt es sie gefangen, dann mochten ihm die Götter gnädig sein, oder auch nicht, Sebastian würde es in die tiefste Hölle schicken!
Die Tür, die aus dem Turm ins Dachgeschoss führte, war klein. Sie war so klein, dass man eher hindurch kriechen, als gehen konnte. Dennoch war sie übertrieben dick, massiv, und von so hartem, schwerem Holz, dass Sebastian eher an ein Verlies dachte, als an einen Dachboden. Den mächtigen, verrosteten Riegel musste er zunächst mit dem Knauf seines Schwertes losschlagen, bevor er sich bewegen ließ.
Durch diese Tür war in der letzten Zeit definitiv niemand gegangen! Ein kreischendes Geräusch entfuhr den alten Scharnieren, als er sich mit einem Fuß gegen die Wand stemmte und die Tür mit aller Kraft aufzog. Sebastian blickte in eine dämmrige Welt, die nur aus kreuz und quer verlaufenden, dicken Balken zu bestehen schien.
Behutsam machte er einen Schritt vorwärts und war sofort in eine kleine Staubwolke gehüllt, die vom Boden aufstieg.
»Hier sollte mal gründlich geputzt werden«, bemerkte er. Allerdings galt sein Kommentar eher dem Zweck, sich selbst Mut zu machen, als der Absicht, das Dachgeschoss reinigen zu wollen. Es war ziemlich dunkel, recht zugig und reichlich kühl in der Welt, die er hoch über den Gemächern als Entdecker bereiste. Der Wind pfiff leise durch ein paar geöffnete Dachfenster und ließ ihn frösteln.
Der nächste Schritt zeigte Sebastian die Tücken von Holzbalken und dass es nicht immer ein unbekanntes Tier sein musste, von dem Gefahr ausging. Krachend fuhr sein Schädel gegen einen Querbalken, den er in der Finsternis glatt übersehen hatte. Ärgerlich rieb er die getroffene Stelle, die sofort zu einer dicken Beule anschwoll.
»Da, nehmt Herr, damit wird es besser gehen!« Genrath reichte ihm eine brennende Fackel. Das zuckende Licht reichte gerade mal aus, um die nächsten hinterhältigen Balken zu entlarven. Aber es reichte, um ihnen aus dem Weg zu gehen. Der Nachteil jedoch lag darin, dass sich die erste große Spinnwebe, die in Reichweite hing, in einem kleinen Feuerball auflöste.
»Verflucht noch mal«, schimpfte Sebastian laut, »wir werden die halbe Burg verbrannt haben, bevor wir etwas finden!« Fackel und Schwertklinge voran, tastete er sich in den Raum, der von einer komplizierten Dachkonstruktion bestimmt war.
Anders, als der Dachraum, in dem Antarona die alten Gemälde gefunden hatte, war dieser darauf ausgerichtet, ein zweigeschossiges, spitzes Dachwerk zu tragen, das ebenfalls dazu beitrug, die Himmelsburg aus der Ferne noch mächtiger und eindrücklicher erscheinen zu lassen. Die Baumeister hatten sich wohl nicht getraut, auf die vierte Ebene noch ein fünfte zu setzen, um die Vorbauten zu überragen. Also hatten sie einfach das leichtere Dach höher gebaut.
Sebastian malte sich die Katastrophe aus, sollte jemals während eines Gewitters ein Blitz in dieses Holzlager fahren. Das brennende Gebälk würde in die Burg stürzen und alles vernichten, was nicht schnell genug herauskam.
»Frethnal, Genrath, ihr geht nach links, ich sehe mich auf der anderen Seite um«, entschied Basti, als er eine Art Durchgang erreichte, der in der Länge das ganze Dach zu durchmessen schien. Aber auch dieser Korridor durch das Balkenwerk hatte seine Fallen.
Dicke Trägerbalken lagen als Stolperfalle auf dem Boden. Aus ihnen strebten mächtige Querverbinder, die den angenommenen Flur unterbrachen. Vorsicht war bei jedem Schritt geboten. Sebastian versuchte sich zu orientieren und festzustellen, wo das Dachfenster mit den fehlenden Steinen liegen musste. Eine Schleifspur, die im dicken Staubbelag des Bodens deutlich zu sehen war, wies ihm den Weg. Jemand war also dort unterwegs gewesen.
Das Fenster in der schmalen Dachgaube war jedoch verschlossen. Sebastian packte mit beiden Händen in den rahmen und wollte sich daran hochziehen, um aus dem Fenster aufs Dach sehen zu können. Die Tücken lagen nicht nur im Gebälk!
Mit einem Ruck löste sich die lockere Holzverkleidung des Rahmens und ehe er reagieren konnte, lag er auch schon rücklings im Staub. Die Einzelteile des Rahmens prasselten auf ihn nieder und ein Kante erwischte genau die beule an seinem Kopf.
Wie aus weiter Ferne hörte Sebastian durch den Krach hindurch jemanden nach Areos rufen. Hustend und vom Staub eingenebelt, befreite er sich von den Brettern, die allesamt bereits angeknackst waren und stand schwankend auf.
»Areos, Herr, kommt rasch, wir haben sie gefunden! Schnell hierher, hiiierheeer!« Genraths Stimme hallte mit solcher Energie durch den verästelten Raum, als wollte er eine neue Regierung ausrufen. Doch Sebastian war nicht so töricht, gleich planlos drauflos zu laufen. Eine Beule am Kopf genügte!
Zügig, aber mit Bedacht wählte er seinen Weg durch das Labyrinth der Holzträger und folgte Genraths Rufen. Ungeduldig rief er zurück:
»Was im Namen der Götter habt ihr gefunden?« Inzwischen kam er schließlich am anderen Ende des Dachbodens an, und sah schon von weitem, dass sich Frethnal und der Wachführer über eine unbekleidete Person beugten.
Sebastian musste kein Kombinationsgenie sein, um zu wissen, dass es sich um Antarona handelte. Vor Sorge einem Herzstillstand nahe, kletterte er über einen letzten Strebbalken.
»Geht mal zur Seite, los, macht mal Platz da!« Als hätten ihm die beiden etwas unschätzbar Wertvolles wegnehmen wollen, schob er sie rücksichtslos beiseite und beugte sich über den leblosen, halb nackten Körper seiner Frau. Er legte sein Ohr zwischen ihre Brüste und lauschte dem schwachen Herzschlag. Antarona war weder bei Bewusstsein, noch ansprechbar und ihre Haut fühlte sich kalt an.
»Frethnal, holt Decken, so viel ihr tragen könnt, warme Felle und Decken!« Sebastian musste seinen Diener erst anstoßen, so schockiert starrte dieser auf den zerschundenen, zierlichen Körper zu seinen Füßen.
»Los, macht schon, und bringt gleich Vesgarina mit!« buffte er ihn noch einmal an. Das riss Frethnal aus seiner Fassungslosigkeit und er rannte zum Treppenturm zurück.
»Sie war eingesperrt und konnte nicht mehr heraus«, stellte Genrath fest, nachdem er die Tür untersucht hatte, vor der sie Antarona gefunden hatten. Sebastian sah auf und erkannte die deutlichen Spuren, die Antaronas Schwert an der dicken Tür hinterlassen hatte. Nantakis, ihr Schwert hielt sie noch in ihrer blutverkrusteten Hand.
Vorsichtig nahm Sebastian es ihr ab und nahm ihre Hände in die seinen. Tiefe Schnittwunden bedeckten ihr Handflächen und Sebastian liefen die Tränen über die Wangen, als er sein Krähenmädchen so daliegen sah.
»Genrath, los, helft mir mal!« bat er seinen neuen Verbündeten. Behutsam hob er mit dessen Hilfe Antaronas verletzlichen Körper hoch und bettete sie in seine Arme. Zärtlich strich er ihr die schmutzigen, verklebten Haare aus dem Gesicht und küsste ihre Wangen. Sie sollte wissen, dass er nun bei ihr war, und spüren, dass sie sich in Sicherheit befand!
»Ein Kampf hat hier nicht stattgefunden«, erklärte Genrath, der nun begann, die Spuren im Staub zu entschlüsseln. Sebastian aber hörte gar nicht hin. Seine Gedanken drehten sich nur um Antarona und Frethnal, wann der endlich mit den Fellen kommen würde.
Dann fühlte Sebastian ein Zittern durch ihren Leib fahren, das nicht mehr enden wollte. Seine Arme drückten ihren Körper fest an sich, um sie zu wärmen. Dabei sah er zu den Dachfenstern hinauf und schüttelte den Kopf. Sie musste völlig unterkühlt sein! Verzweifelt versuchte er sie mit seinem Atem zu wärmen, was aber völlig sinnlos war. Doch in seiner Angst um sie verlor er fast den Verstand.
Schließlich zog er sein Hemd aus und wickelte Antarona unbeholfen darin ein, um sie wenigstens optisch vor der Kälte zu schützen. Gleichzeitig bemerkte er die Verletzungen an ihrem Bein und am Bauch. Es waren keine tiefen Wunden, doch sie waren an den Rändern gerötet und ganz offensichtlich entzündet.
In so einem fall hätte er Antarona mit ihrem Kräutersachverstand um Hilfe gebeten. Doch diesmal war sie es selbst, die dieser Heilkunst bedurfte. Um die Zeit zu überbrücken, die plötzlich dahin kroch, wie eine Schnecke auf Sand, wiegte er ihren Körper liebevoll hin und her, wie den eines kleinen Kindes. In diesen unendlich langen Minuten wurde ihm klar, dass er nicht nur das wertvollste Geschenk seines Lebens in den Händen hielt, sondern tatsächlich sein Leben!
Dieser zerbrechliche Körper, der so hilflos in seinen Armen lag, dieses Schutz bedürftige Wesen allein machte sein Leben aus! Instinktiv legte Sebastian seine Hand auf Antaronas Bauch, als wollte er das kleine Herz schützen, das unter dem ihrem heranwuchs. Es mochte bei dem Zyklus der Îval noch lange dauern, bis sich überhaupt ein neues Leben erahnen ließ, doch die Wärme seiner Hand würde ihm und ihr Kraft geben!
Sebastian litt mit ihr. Er spürte jeden Schmerz, den Antarona empfand, und noch stärker. Er zog sie zu sich heran, wollte eins werden mit ihr, wollte ihr jedes Leid am liebsten abnehmen, oder zumindest mit ihr teilen. Ihre Schwäche und Verletzlichkeit war seine Trauer, seine eigene Hilflosigkeit.
Das Schlimmste aber war die Ungewissheit. Denn er wusste nicht, ob Antarona unter einem Schockzustand litt, oder einfach nur an Unterkühlung. Ebenso wenig konnte er diagnostizieren, ob ihre Wunden eine Blutvergiftung auslösen konnten. Schonungslos wurde ihm bewusst, wie schnell der Tod herbeieilen konnte, wenn keine ärztliche Hilfe verfügbar war. Und der einzige wirkliche Arzt, den Sebastian in dieser Welt je zu Gesicht bekam, mochte wer weiß wo sein. Außerdem hatte sich sein Verhältnis zu Andreas, Falméras Medicus bereits vor vielen Wochen deutlich abgekühlt.
Fieberhaft dachte er darüber nach, wie er seiner Frau helfen konnte. Vage erinnerte er sich daran, dass Bental eine Art Leibarzt hatte. Doch wo dieser zu dieser Stunde zu finden war, entzog sich seinem Wissen. Er musste rasch den König benachrichtigen! Wenn seine gütige Hoheit daselbst nach dem Medicus schickte, bestand wenigstens die Hoffnung, dass der noch in dieser Nacht erschien.
Plötzlich wurde mit einem knallenden Geräusch der Riegel auf der anderen Seite der Tür zurückgezogen. Die Tür schwang auf und Sebastian musste sich mit Antarona in den Armen zur Seite drehen, damit nicht noch das schwere Holz gegen ihren Kopf schlug. Frethnal stand in der Tür, die genauso niedrig war, wie die des Südturms.
Sein Diener hatte die Arme voll Decken und Felle, die er neben ihm und Antarona auf den Boden legte. Hinter Frethnal erschienen Hekthur und Vesgarina im beleuchteten Türrahmen. Der Krieger, der vor dem Zugang wache gehalten hatte, und sich wahrscheinlich schon gefragt hatte, was da hinter der zugesperrten Tür vorging, erleuchtete mit einer Fackel die nahe Umgebung.
Verwundert fragte sich Sebastian, warum der Mann Antaronas Befreiungsversuche ignoriert hatte. In der Stille des oberen Treppenturms musste er ihre Kratzgeräusche mit dem Schwert doch gehört haben! Er wollte dem Mann später gründlich auf den Zahn fühlen. Doch augenblicklich hatte Antarona Priorität!
»Vesgarina, gebt mir das große dunkle, weiche Fell dort und helft mir«, bat Sebastian Antaronas Zofe. Das Mädchen sah besogt aus und ein paar kleine Tränen kullerten ihr über die Wange, als sie ihre Schwester Sonnenherz in diesem Zustand erblickte.
Vorsichtig hob Basti Antaronas still vor sich hin zitternden Körper an und wickelte sie mit Hekthurs und Vesgarinas Hilfe darin ein.
»Nun musst du nicht mehr frieren, mein Engelchen«, flüsterte er ihr ins Ohr und küsste ihre trockenen Lippen. Sie sollte von nun an jeden Moment spüren, dass er bei ihr war! Dann betteten sie das Krähenmädchen auf eine der grob gewebten Decken und bedeckten sie mit einem weiteren, warmen Fell. Genrath half ihm nun das Bündel auf eine weitere, große Decke zu heben.
»Los, jeder eine Ecke, und jetzt, hebt an!« befahl Sebastian. Antarona schwebte vom Boden hoch und acht kräftige Männerarme versuchten sie schonend durch die enge Tür und über die Wendeltreppe des Turmes eine Etage tiefer zu tragen.
»Vesgarina, ihr nehmt bitte das Schwert«, rief er noch schnell über seine Schulter. Offenbar hatte Nantakis seiner Frau, warum auch immer, den Dienst versagt, denn wieso sonst war sie mit einem Schwert, das solche Kräfte besaß, nicht durch die Tür gekommen? Trotzdem wollte er um keinen Preis riskieren, dass diese Waffe durch seine Unachtsamkeit in falsche Hände geriet.
Es war nicht einfach, Antarona über den Treppenturm nach unten zu tragen. Um sie auf den engen Stufen so waagerecht wie möglich zu halten, mussten Hekthur und Frethnal, die vorangingen, sie hoch heben und Genrath und Sebastian in gebückter Haltung absteigen. Die Enge des Turms aber machte mehr Schwierigkeiten, als die Neigung der Treppenstufen, und Sebastian schalt sich einen Narren, dass er nicht den breiteren Südturm gewählt hatte.
Schließlich trugen sie Sebastians größten Schatz in ihre Räume und betteten sie auf das große Lager ihres Schlafgemachs. Im Gegensatz zum zugigen Dachboden hatte sich in ihrem Schlafzimmer die Wärme des Tages gehalten. Erleichtert atmete Basti aus. Antarona war zumindest räumlich in Sicherheit!
Auch Sebastian fand zu seiner inneren Sicherheit zurück. Seine gewohnte, rationelle und vernünftige Handlungsweise erlangte, wenn auch nur oberflächlich, wieder Oberhand über seine Gefühle.
»Hekthur, wenn ihr bitte seine gütige Hoheit unterrichten wollt.« Sebastian ließ diese Frage wie eine Anordnung klingen. Für Auslegungen seiner Befehle war im Moment zwar die ungünstigste Zeit, doch er brauchte Hekthur und wollte ihm nicht unhöflich begegnen. Zu Vesgarina sagte er einer inneren Eingebung folgend:
»Bereitet einen heißen Zuber und werft hinein, was ihr von Antaronas Kräutern findet! Und beeilt euch!« Das Mädchen nickte kurz und eilte davon. Sebastian selbst hätte liebend gern sofort damit begonnen, nachzuforschen, was Antaronas bewogen haben mochte, sich dort oben einzuschließen.
Einen Teil der Geschehnisse hatte er sich bereits selbst zusammengereimt. Irgendwie mussten sich Dachsteine gelöst haben und waren wohl mit ziemlichem Lärm auf den Freisitz gekracht. Das musste Antarona bewogen haben, auf dem Dachboden nachzusehen. Warum sie jedoch letztlich dort oben gefangen war und woher ihre Verletzungen stammten, blieb für Sebastian nach wie vor ein Rätsel.
Hatte man sie vielleicht absichtlich dort hinauf gelockt? Steckte am Ende doch eine geplante Entführung dahinter? Wenn ja, dann hatten die Angreifer ziemlich rasch gelernt, dass man Sonnenherz nicht einfach so einfangen konnte. War sie deshalb eingesperrt, weil die Entführer plötzlich kalte Füße bekamen, als sie erkennen mussten, dass sie gegen Antaronas Kampfkunst keine Chance haben würden?
Ein Beben fuhr durch Antaronas leib und riss Sebastian aus seinen Gedanken. Trotz der dicken, warmen Felle schien ihr erbärmlich kalt zu sein. Ein Schüttelfrost jagte den nächsten. Vorsichtig legte er ihr eine Handfläche auf die Stirn und erschrak. Ihr Gesicht schien wie in einem Feuersturm zu glühen. Es gab keinen Zweifel, sie hatte hohes Fieber! Durch die entzündeten Wunden, durch eine Lungenentzündung, oder beides? Egal, das Fieber musste runter! Sebastian betete zu ihren Göttern, dass diese sie nicht schon zu sich rufen sollten!
Aber allein mit Beten würde er ihr nicht helfen können! Kurz entschlossen zog er sich aus, kroch zu ihr unter die Felle und umklammerte ihren Körper, als wollte er sie ummanteln. Wie oft hatte er in kalten Nächten, während ihrer Wanderung über die Berge ihre jugendliche Hitze gesucht. Nun konnte er ihr seine Wärme geben!
Er spürte, wie Antarona der Schweiß aus den Poren trat, und sie gleichzeitig vor scheinbarer Kälte zitterte. Er rechnete im Geiste nach: Sie musste nahezu zwei Tage und Nächte dort oben unbekleidet, und ohne Essen und Trinken zugebracht haben. Natürlich! Außer an Unterkühlung und Erschöpfung litt sie wahrscheinlich noch an Durst! Sie musste völlig dehydriert sein! Warum hatte er nicht früher daran gedacht?
In diesem Augenblick kam Vesgarina ins Zimmer und staunte nicht schlecht, ihre kranke Herrin mit Areos in eindeutiger Situation im Bett vorzufinden.
Mit umständlichen Zeichen bedeutete sie ihm, dass der Zuber gerade mit heißem Wasser gefüllt wurde. Als Basti nicht gleich antwortete, wies die kleine Dienerin mit beiden Händen fragend auf das Blumenzimmer und zeichnete ein paar imaginäre Blätter in die Luft.
Offensichtlich wollte sie nach Antaronas Kräutern suchen. Sebastian war nicht unbedingt in der Stimmung, das naive Mädchen aufzuklären, und sagte nur:
»Lasst erst mal das Bad und holt jene Kräuter, welche Sonnenherz in heißem Wasser zu trinken pflegt. Dann setzt davon einen Sud auf, aber nicht zu stark! Das Zeug bringt ihr dann schnellstens hierher, habt ihr das verstanden?« Wieder nickte die brave Zofe und ihre kleinen Füße beeilten sich, in das Zimmer nebenan zu kommen, auf einen Stuhl zu steigen, und die von Antarona an der Decke aufgehängten Kräuter zu durchforsten.
Sebastian indes hoffte, dass sie gut aufgepasst hatte, wenn Antarona einmal einen Tee bereitet hatte, und inzwischen wusste, welches das richtige Kraut für einen Trinksud war. Nein! Er konnte das nicht dem Zufall überlassen, er musste sich selbst überzeugen!
Gerade, als er unter Antaronas Decke hervorgekrochen, erschienen Hekthur und Frethnal in der Tür. Zurückhaltend aber neugierig blickten sie herein.
»Bleibt eine Zentare hier«, bat er die beiden, »ich muss kurz Vesgarina helfen!« Er trat in das Blumenzimmer und sah sich ehrfürchtig um. Antarona hatte das sogenannte Blumenzimmer in kürzester Zeit in einen Kräutergarten verwandelt. Da hingen getrocknete Pflanzen mit und ohne Wurzeln und in verschiedenen Formen und Farben von der Decke.
Auf Bänken in Fensternähe standen irdene Töpfe mit wohl gedeihenden Kräutern und verliehen dem Raum einen angenehmen, geheimnisvollen Duft. Ratlos folgte Sebastian Vesgarinas ebenso fragenden Blicken nach oben, wo ein Meer an Pflanzen trocknete. Was von all diesem Zeug vermochte ihr zu helfen? Was war als Tee trinkbar? Waren giftige Pflanzen darunter, die womöglich mehr schadeten, als halfen?
An einer Stelle hingen kleine, schwarze Beeren in flachen Trauben. In ihnen glaubte Sebastian Holunderbeeren zu erkennen, doch sicher war er nicht. Halfen getrocknete Holunderbeeren als Tee aufgebrüht gegen Fieber? Von der Wirkung ihres Saftes als reife Beere wusste er. Aber getrocknet?
Ihm wurde schnell klar, dass er von diesen Dingen so gut wie nichts wusste. Jemand musste her, der sich mit Kräutern auskannte, der um ihre verschiedene Wirkung wusste und sie auch anzuwenden verstand! Da schoss ihm die rettende Idee durch den Kopf und intuitiv tastete er nach einer geheimnisvollen, glitzernden Kapsel, die er seit drei Tagen an seinem Gürtel trug.
Im Eilschritt ging er in Antaronas Gemach zurück, wo Hekthur und Frethnal noch immer warteten. Umständlich knotete er das Amulett los, das ihm Glück und Schutz gewähren sollte und gab es dem verdutzt dreinblickenden Frethnal.
»Wisst ihr um einer alten Kräuterfrau im Blattgrund?« fragte er seinen Diener, der nur um so dümmer schaute. Hekthur indes schien in Falméra und Umgebung besser bescheid zu wissen.
»Ihr meint die Alte Amme?« fragte er und hob zweifelnd die Schultern, »wenn sie noch lebt, dort, im Blattgrund, in einer alten Kate hatte sie gehaust, windschief und halb verfallen, die Hütte!«
»Keine Sorge, die lebt! Und wie die lebt!« versicherte ihm Sebastian überlegen und wandte sich dann wieder Frethnal zu:
»Lasst euch von Hekthur erklären, wie ihr zu diesem Kräuterweib findet, und bei den Göttern, egal wie ihr es anstellt, aber bringt die Alte schnell hierher! Gebt ihr das Amulett da, so wird sie wissen, wer euch geschickt hat. Und Frethnal, sie mag nach Tod und nach sonst was riechen, die Alte, aber behandelt sie mit Respekt, sonst wird euch der Dämon holen! Und dieser Dämon werde ich sein! Also, egal wie, nehmt von mir aus zwei Männer von Genrath mit, aber bringt das Weib hierher, schnell!«
Nachdem die beiden Diener den Raum verlassen hatten, beugte sich Sebastian wieder über Antarona. Sie lag da, fiebernd, mit schweißnassem Gesicht. Was vermochte er inzwischen zu tun? Er überlegte, was seine Mutter getan hatte, wenn er als Kind mit einer dicken Erkältung das Bett hüten musste.
Er bekam heiße Milch mit Honig, Wärme und kalte Wadenwickel. Vor allem aber sorgte seine Mutter dafür, dass er stets von seinem Schweiß reingewaschen wurde. Sauberkeit ist der halbe Sieg über jede Krankheit, hatte sie immer gesagt!
Zunächst flößte er seinem fiebernden Krähenmädchen klares Wasser ein. Sie schluckte es nur widerwillig, hustete, spie es wieder aus, und wurde von Sebastian genötigt, erneut zu schlucken. Sebastian bemühte sich verzweifelt, ihren ärgsten Flüssigkeitsverlust auszugleichen. Einen Tee konnte er später noch zubereiten lassen.
Nachdem Antarona wenigstens etwas reflexartig getrunken hatte, wurde Sebastian richtig lebendig. Er würde nicht einfach zusehen, wie ihm das Liebste, das er hatte, unter den eigenen Händen hinweg starb!
»Vesgarina!« rief er die kleine Zofe, »wie weit sind die Frauen mit dem Wasser?« Das stumme Mädchen flitzte hin und her und blieb dann vor Sebastian stehen und machte mit der flachen Hand eine Bewegung, welche wohl die Füllhöhe des Zubers anzeigen sollte.
»Gut, das reicht!« legte er fest und schob das Mädchen vor sich her ins Blumenzimmer. Gezielt pflückte er die Pflanzen von der Decke, die er mit ziemlicher Sicherheit kannte und reichte sie Vesgarina. Etwas, das wie Kamille aussah, ein Kraut, das nach Thymian roch, Blätterrispen, die ganz sicher Pfefferminze waren und nicht zuletzt Brombeerblätter, die er noch aus dem Garten seiner Großeltern kannte, die aber in dieser Welt viel größer gediehen.
»Werft das ganze Kraut in den Zuber und rührt gut um!« wies er die Zofe an. Er selbst hob Antarona aus dem Bett und trug sie ins Bad, in dem ein gut kalfaterter und bis zum Rand gefüllter Zuber vor sich hin dampfte. Er setzte Antarona in einen Stuhl und überließ sie einen Moment der Obhut ihrer Dienerin, während er sich zum Erstaunen Vesgarinas bis auf die Leinenhosen auszog.
Dann stieg er, Antarona auf den Armen in den großen Trog. Hastig musste er nach Luft schnappen. Das Wasser war zwar nicht kochend, doch so heiß, dass es ihm den Atem nahm. Die Kräuter entfalteten ihre ätherischen Öle und die Dämpfe fuhren ihm wie Glassplitter in die Nase. Langsam ließ er sich mit Antarona in den Sud gleiten und begann ihren Körper gründlich abzuschrubben.
Vesgarina stand daneben und sah peinlich berührt zur Seite. Es war ihr unangenehm, solch freizügiges Gebaren zu beobachten, doch darauf konnte Sebastian keine Rücksicht nehmen. Er konnte sie auch nicht gehen lassen, denn er brauchte sie, um mal Antaronas Kopf, mal ihre Arme zu halten und ein anderes Mal, um ihm zu helfen, die entkräftete Patientin zu verlagern.
Zwischendurch wurde Antarona von einem Hustenanfall durchgeschüttelt. Die Dämpfe zeigten Wirkung. Sebastian nahm das als positives Omen und beobachtete, wie der Schweiß über Antaronas Antlitz rann. Schwitzen ist immer gut bei Erkältung, dachte er zufrieden.
Fürsorglich wusch und spülte er den ganzen Dreck von ihrem Körper, den Antarona sich während ihres zwei Tage langen Martyriums eingefangen hatte. Schließlich meinte Sebastian, dass es gut war. Vesgarina hielt Leinentücher bereit, während Sebastian versuchte, mit Antarona in den Armen aus dem Zuber zu steigen, ohne umzufallen.
Sofort hüllten sie das kranke Krähenmädchen in die Tücher trockneten sie umständlich ab und brachten sie wieder zu Bett. Sebastian deckte sie gut zu, ließ aber ihre Beine frei und wies Vesgarina an, kühle Wadenwickel zu fertigen. Sanft nahm er ihr Handgelenk, fühlte den Puls und legte sein Ohr auf ihre Brüste, um ihrem Herzschlag zu lauschen.
Zufrieden stellte er fest, dass ihr Herz einen kräftigeren, ruhigeren Takt schlug. Vesgarina bereitete nun feuchte, kühle Tücher vor, die Sebastian seiner Frau um die Waden schlang und sie gut zudeckte. Das ganze machten sie im Zehnminutentakt, bis sie Stimmen und Schritte hörten.
Frethnal erschien mit der alten Binerin in der Tür. Sebastian machte der Alten Platz, die sich über Antarona beugte, die Felle beiseite schob und das Krähenmädchen gründlich untersuchte, wie es ein Arzt kaum besser vermocht hätte.
Sie legte ihre altem knochigen Hände abwechselnd auf verschiedene Stellen von Antaronas Körper und murmelte unverständliches Zeug, das wie Zaubersprüche klang. Vesgarina und Frethnal hielten einen weiten, respektvollen Abstand zu der alten Kräuterfrau. Sie war ihnen nicht geheuer.
Die Hände der Alten wanderten über Antaronas Brüste, dann über ihren Bauch. Plötzlich sah die Binerin Sebastian mit einem vielsagenden Blick an, als wollte sie ihm ein Geheimnis mitteilen. Er seinerseits konnte ahnen, was der Alten aufgefallen war und nickte bedeutsam.
Sebastian war unerklärlich, wie sie Antaronas Schwangerschaft nur durch Handauflegen zu erkennen vermochte. Doch irgendwie entstand zwischen ihm und der Alten eine Art telepathische Verbindung, denn sie verstanden sich ohne Worte.
Kritisch begutachtete die Binerin Sebastians Wadenwickel und nickte anerkennend. Anschließend untersuchte sie Antaronas Wunden. Die schienen ihr am meisten Sorgen zu bereiten, denn sie ließ sich dazu hinreißen, zu sprechen, was sie äußerst selten tat:
»Habt ihr jenes Kraut, welches des hellen Mondes in den Sümpfen der Elsiren wächst?« fragte sie krächzend. Sebastian hob unwissend die Schultern und wies zum Blumenzimmer.
»Schaut dort, ehrwürdiges Mütterchen, diese Kräuter hat Antarona während des langen Weges vom Val Mentiér bis hierher selbst gesammelt. Sie hütete sie wie ein Heiligtum der Götter!«
Die Alte watschelte auf ihren Krückel gestützt in Antaronas Schatzkammer und blickte freudig staunend zur Decke. Einen Moment lang wanderte sie unentschlossen unter der Kräutergalerie umher, dann schien sie sich entschieden zu haben. Fordernd, ohne einen Ton zu sagen zeigte sie mit ihrem Stöckel auf ein unscheinbares Kraut, das für Sebastian so aussah, wie das ihm bekannte Heidekraut.
Basti zog sich einen Tisch heran, hüpfte auf die massive Platte und pflückte die gewünschte Trockenpflanze von der Leinenschnur, an das es geknüpft war. Dabei fragte er sich, wann Antarona das ganze Zeug dort oben festgebunden haben mochte.
Kaum hielt die Alte das Kraut in ihrer zittrigen Hand, so zeigte sie mit dem Stock bereits auf ein anderes, das natürlich am gegenüberliegenden Ende des Raumes von der Decke baumelte. Mit Schwung schob Sebastian den schweren Tisch dorthin und holte das Begehrte herab. Aber schon wies die Binerin auf etwas neues, das sie entdeckt hatte und fuchtelte Sebastian mit ihrem verdrehten, krummen Knüppel vor der Nase herum, dass er schon bangte, sie würde ihm mit dem Ding den Schädel einschlagen.
Geduldig holte er ihr auch dieses Gestrüpp herunter. Er war ja froh, dass sie ihm überhaupt half. Zweifel an ihrer Kunstfertigkeit und ihrem Heilwissen hatte er keine. Irgendetwas sagte ihm, dass diese Alte Hexe auf ihre Weise ebenso zu heilen vermochte, wie Andreas, der, gemessen an den Möglichkeiten dieser Welt, mit erstaunlichen medizinischen Kenntnissen beseelt war.
Noch unzählige Male durfte Sebastian den unhandlichen Tisch hin und her schieben, bis das Kräuterweib zufrieden war und offenbar alles hatte, was sie brauchte. Sie sprach so gut wie nie, deutete nur mit ihrem Knüttel auf alles, was sie benötigte und bald sah es an Antaronas Krankenlager so aus, wie in einer wahren Alchemistenküche.
Töpfchen und Krüge standen neben Schälchen auf den Anrichten, der Tisch war mit Tüchern, Häufchen von zerstoßenen Kräutern, Fett, Teilen von Baumrinden und allerlei seltsamen rituellen Gegenständen beladen. Sebastian wagte nicht, der Alten auch nur einmal in ihr Tun hineinzureden, betete aber, dass sie wusste, was sie tat, und vor allem, dass ihr Bemühen, seine kleine Frau zu retten und sie bald wieder gesund zu machen Erfolg haben würde.
Zwischendurch musste Sebastian noch eine Frau aus der Küche holen lassen und losschicken, einen bestimmten Pilz aus dem Wald zu holen. Neben jeder Menge Hokuspokus, den die Alte zelebrierte, brachte sie aber auch Anwendungen zum Einsatz, die selbst für Sebastian nachvollziehbar waren.
So reinigte sie zum Beispiel mit abgekochtem, warmen Wasser Antaronas Wunden und bedeckte sie anschließend mit der Paste aus vielerlei zerstoßenen Kräutern, dem Saft diverser frischer Blumen und Pflanzen, sowie letztlich noch mit einem großen, schützenden Blatt, das den Rhabarberblättern, die Basti noch aus seinen Kindertagen kannte, nicht unähnlich waren.
Außerdem braute die Binerin irgend einen Pflanzensaft zusammen, der aussah, wie abgestandenes Moorwasser, und den sie Antarona mit fiel geduld Schlückchenweise einflößte. Mittlerweile dachte Sebastian daran, dass er mit der Alten möglicherweise besser bedient war, als mit Andreas, der sicher noch einen tief sitzenden Groll gegen ihn und Antarona hegte. Schließlich hatte ihn das reizvolle Krähenmädchen für Sebastian Lauknitz verschmäht!
Irgendwann, es mochte vielleicht eine Stunde vergangen sein, hörte Sebastian lautes Gebrüll und hektische Schritte auf dem Korridor. Wer wagte es, solch einen Lärm in Antaronas Gemächern zu veranstalten, während sie krank und hilflos auf ihrem Lager lag?
»Genrath, geht und seht nach, was da los ist« ordnete er verärgert an. »Und wenn nicht gerade die Burg abbrennt, so schmeißt den Störenfried in hohem Bogen hinaus!«
Doch der Störenfried war schon da! In Person Bentals daselbst, der mit forschem Schritt durch die Tür marschierte und um ein Haar mit dem Hauptmann der Wache zusammengestoßen wäre. Als er die Binerin erblickte, wich abrupt jedes Fleckchen Farbe aus seinem Gesicht, um als intensives Rot wieder darin aufzusteigen. Mit offenem Mund starrte er die Kräuterfrau an. Schließlich hatte er seinen ersten Schock überwunden.
»Was macht die Alte hier?« donnerte der König los und es klang, als würde er ohnehin keine Antwort, oder Entschuldigung gelten lassen.
Hekthur stand neben seinem Herren, in leicht demütiger, gebeugter Haltung, eindeutig schuldbewusst, und knetete sich nervös die Hände durch.
»Die Amme vom Blattgrund ist hier als Heilerin, eure gütige Hoheit, der Herr Areos ließ sie holen, um eure Tochter...« Bental ließ den wie auf wundersame Weise plötzlich schüchtern gewordenen Hekthur gar nicht ausreden.
»Wozu bezahle ich einen hochgelehrten Medicus, wenn ihr mir eine alte, von allen Gelehrten verfluchte Amme in die Burg holt, um an meiner Tochter Magie und Alchemistenzauber auszuprobieren? Hinfort mit ihr und schickt nach meinem Medicus! Los, sorgt dafür, dass mir das alte Weib aus den Augen kommt!«
Alle standen wie angewurzelt da, sahen unschlüssig zwischen Bental und Areos hin und her, und wussten beileibe nicht, was sie nun tun sollten. Nur die Binerin selbst schien von Alledem nichts mitzubekommen. Sie tat, als wären ihre Ohren mit einem Mal zugewachsen und machte in aller Seelenruhe damit weiter, Antaronas Körper mit einem stark nach Baldrian riechenden Öl einzureiben. Ihre Ignoranz heizte Bentals Zorn erst recht an.
»Was steht ihr da, wie die Waldtrolle?« erregte sich der König, »Genrath, seht zu, dass die Alte augenblicklich in ihr Loch im Blattgrund verschwindet, und zwar für immer, oder ich vergesse mich!«
Nun war es Areos, der einschritt. Sebastian stellte sich dem König in den Weg und sprach in ruhigem Wortlaut:
»Eure gütige Hoheit, gütiger Vater, auf ein Wort bitte.« Sebastian deutete mit der flachen Hand nach nebenan und bat den König mit dieser Geste in den Salon.
Bental folgte ihm und schloss selbst die Tür zu diesem großen Raum, der durch eine Tür mit der Galerie des Ostturms verbunden war. Als hätte es Sebastian geahnt, öffnete er die Tür und ließ die nächtliche Luft, sowie das Rauschen des zu Füßen der Burg tobenden Wildwasser hereinströmen. Anscheinend wollte er sich etwas Zeit verschaffen, um sich für die folgende Auseinandersetzung eine Strategie festzulegen.
»Diese Frau, Hoheit, wir stehen in ihrer Schuld. Zudem glaube ich fest an ihre Heilkunst, denn sie hat Antarona in das Leben zurückgeholt«, versuchte Sebastian die Binerin zu verteidigen.
»Und außerdem war sie...« Wie zuvor schon Hekthur, unterbrach Bental auch Sebastian, als wäre darüber zu reden, vergeudete Mühe.
»Und außerdem wünsche ich dieses Weib nie wieder in meiner Burg zu sehen!« verkündete er lautstark. »Inständig hatte ich gehofft, sie wäre inzwischen im Reich der Toten«, gab er etwas leiser zu, bemüht, dass seine Stimme nicht durch die massive Tür drang, »statt dessen kriecht sie noch immer durch den Blattgrund!«
Sebastian sah ihn forschen an und als er sich endlich umdrehte, fasste er den Mut der Verzweiflung, geboren aus der Angst um Antarona zusammen, und bohrte nach:
»Ihr kennt die Binerin, gütige Hoheit? Aber womit hat sie euch so vergrämt, dass ihr solchen Hass gegen sie hegt? Immerhin war sie sofort bereit, mitzukommen und zu helfen!« nahm Basti die Alte in Schutz.
»Oh ja«, bestätigte Bental sarkastisch, »ist sofort mitgekommen! Die Neugier trieb die Alte Kröte hier herauf, glaubt mir, nur die blanke Neugier!« Bental kam soweit auf Sebastian zu, dass er seine Stimme nicht mehr erheben musste und fragte skeptisch:
»Woher wisst ihr eigentlich von der alten Amme? Ihr könnt kaum über ihr verborgenes Loch, den Blattgrund gestolpert sein, oder?«
Sebastian klärte den König auf und berichtete von dem Vorfall mit der Alten und den beiden Kriegern. Allerdings verschwieg er Bental das geheimnisvolle Amulett, dass ihm die Kräuterfrau schenkte.
»Und in meiner Not, und der gebotenen Eile fiel mir nur die Binerin ein, eure gütige Hoheit, sie war das Naheliegendste, und sie musste ich nicht erst suchen lassen!« erklärte Sebastian.
»Nein, suchen musstet ihr sie beileibe nicht, denn sie steckt anscheinend seit Anbeginn der Zentaren in ihrer Höhle dort unten«, bestätigte Bental beinahe angewidert.
»Aber sie beherrscht ihre Heilkunst«, warf Sebastian wohlwollend ein, »ich verstehe nicht...« Bental fiel ihm abermals ins Wort:
»Ihr müsst das auch nicht verstehen, es ist eine uralte, lange und leidige Geschichte. Und ich bin nicht in der Stimmung, das alles wieder aufzuwärmen! Ich will, dass dieses alte Weib verschwindet und mir nicht mehr unter die Augen kommt, basta!«
»Nun, sie mag verschwinden«, gab Sebastian bestimmt zu, »doch nicht eher, bis Antarona die Augen auftut, und ich gewiss bin, dass sie wieder genesen ist!« Bentals Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen, aus denen er Basti böse anfunkelte.
»Die Alte hat euch wohl ebenfalls schon verhext, was? Hier entscheide immer noch ich, der König, was mit meiner Tochter geschieht, merkt euch das, Herr von Irgendwo und Nirgendwo!«
Sebastian musste erst einmal schlucken. An dieser Stelle hätte er im Grunde klein beigegeben. Doch hier ging es einmal mehr um Antarona, um Sonnenherz, um die Zukunft dieser Welt und nicht zuletzt um die Frau, die er abgöttisch liebte!
»Nein, das entscheidet ihr nicht!« bot Sebastian ihm die Stirn. Er raffte sich, sog tief die Luft von draußen ein und sagte mit vorwurfsvoller Stimme:
»Wo wäre denn eure Tochter, wenn ich nicht wäre? Was glaubt ihr, wo wäre sie denn, wenn wir nicht mit dem Mut der Verzweiflung den langen Weg auf uns genommen und mit List in die Himmelsburg gekommen wären? Ich will euer Gedächtnis mal etwas auffrischen, verehrter Herr König!« Sebastian baute sich vor dem Herrscher auf, was er niemals hätte wagen dürfen, wenn sie nicht allein gewesen wären.
»Sie war ein kleines Mädchen mit dem Mut einer großen Kriegerin, die jenen Îval Mut machte und eine letzte Hoffnung gab, welche ihr, großer König im Stich gelassen habt! Sie wusste nichts von ihrer Herkunft, dennoch hatte sie von Jugend an euren Kampf geführt und hat im Val Mentiér bereits mehr Kämpfe gefochten, als euer großer Kriegsrat Tieton!« Sebastian schnappte nach Luft, denn die Worte wollten ihm nicht so schnell aus dem Munde sprudeln, wie sie sich in seinem Kopf formten.
»Und noch etwas werde ich euch sagen! Antarona Holzer war glücklich bei ihrem Vater, der euer Schicksal teilte, denn auch ihm war die Frau viel zu früh von den Göttern genommen worden. Das Krähenmädchen, oder Sonnenherz, wie sie euer Volk nennt, hatte früh ihre Mutter entbehrt, und dabei denke ich nicht an eure Gemahlin Asgarinia, der ihr die Tochter vorenthalten hattet und ihr Herz gebrochen habt!«
Bental sank unter den Vorwürfen, deren Wahrheit die ihn selbst mächtig belasteten, sichtbar in sich zusammen. Er wusste, dass Sebastian recht hatte. Er wusste, was er seiner Tochter schuldig war, und dass er diese Schuld niemals würde vergelten können.
»Nun mögen die Umstände so gewesen sein, wie sie waren, und mögen euch die Götter euer Handeln von einst verziehen haben, denn ihr habt eure Entscheidung für das Wohl des Volkes gefällt. Doch nun ist eure Tochter hier und ihr wüsstet nicht einmal um ihr Wohlsein, wenn der Rat der Dorfältesten des Val Mentiér sie mir nicht als Führerin anvertraut hätte!«
Je schwächer der König wurde, desto stärker entwickelte sich Sebastians Enthusiasmus, ihm die Augen zu öffnen und einmal gehörig die Meinung zu sagen.
»Eure Tochter war glücklich, wo sie war! Sie führte ein gefahrvolles, entbehrungsreiches Leben, doch sie war glücklich damit! Sie lebte für das einfache Volk, sie liebt das einfache Volk und sie liebt ihre Freiheit, zu entscheiden, wann und wo sie durch Wälder streift, durch Seen und Flüsse schwimmt oder auf Berge klettert. Und nun kommt ihr, und meint, sie mit eurer Macht als König in die Rolle zwängen zu müssen, die ihr selbst eurer Tochter im entscheidendsten Augenblick des Lebens genommen hattet!«
Sebastian ließ einen Moment der besinnlichen Ruhe verstreichen und beobachtete Bental, der zusammengesunken auf einem der Stühle saß und verzweifelt drein blickte. Irgendwie tat er Sebastian leid. Wie erschütternd musste es für einen Vater sein, zu erkennen, dass er in seiner Rolle versagt hatte.
Aber Antarona lebte und er hatte die Chance, wieder ihr Vater zu sein, wenn er es nur von Herzen anginge! Sebastian setzte sich neben seine gütige Hoheit, und nun versuchte er dem geklärten Herrscher Mut zu machen.
»Antarona ist nun hier. Sie ist in der Burg ihres Vaters, doch sie ist nicht glücklich. Und ihr meint, ihr König zu sein, und fragt euch, was dieses wunderbare Geschöpf , mit einem Herzen so groß, wie das eines Felsenbären, so aufsässig und traurig macht. Warum versucht ihr nicht weniger ihr König, als denn mehr ihr Vater zu sein?«
»Seid ihr nun fertig?« fragte Bental mit leiser Stimme und blickte Sebastian müde an. Offensichtlich hatten ihm die Worte der Wahrheit ziemlich zugesetzt.
»Nein, noch nicht ganz«, stellte Sebastian klar und fuhr fort. »Ihr mögt nun eure Gefühle als Vater entdeckt haben, das mag ich kaum in Zweifel ziehen. Doch das Recht, Antarona das Leben, wie sie es liebt, zu verbieten, habt ihr damit nicht! Das habt ihr vor zwanzig Wintern vertan! Doch wenn ihr Antarona wirklich als Tochter wünscht, dann gebt ihr die Freiheit, selbst zu entscheiden. Ich bin sicher, sie wird sich für das Volk entscheiden!«
Sebastian ging nun wie sonst der König auf und ab, und kam sich nicht einmal seltsam vor, mit Bental für einen Moment die Rolle getauscht zu haben.
»Aber bis dahin«, setzte Sebastian noch einmal nach, »entscheide ich, was gut für sie ist, denn ich bin jener, den sie sich für das Leben an ihrer Seite erwählt hat! Die Alte wird also bleiben und Antarona pflegen, es sei denn, ihr habt etwas gegen ihre Heilkenntnisse vorzubringen. Habt ihr das?« fragte Sebastian zum Abschluss seiner Rede lauernd.
König Bental winkte nur müde ab. Was zwischen ihm und der Alten jemals vorgefallen war, konnte Sebastian nur erahnen. Vermutlich lag der Grund für Bentals Abneigung gegen die Binerin viele Jahre zurück. Noch während er darüber nachdachte, stand Bental auf und wanderte im Zimmer umher. Dachte er darüber nach, was Sebastian ihm gesagt hatte?
»Ihr mögt mit einigem recht haben, was ihr über Antarona gesagt habt«, gab er unverhofft zu, »und ich wäre ein schlecht beratener König, würde ich euer Wort übergehen. Doch wagt nicht, meinen Hofstaat gegen mich aufzubringen!«
»Niemand und ich am allerwenigsten mag irgendjemanden gegen euch aufhetzen, eure gütige Hoheit«, lenkte Basti ein, »doch es geht hier um Antarona, die nicht nur eure Tochter ist! Auch Hedaron, der Holzer hat ein Recht, sie seine Tochter zu nennen. Er hat sie mit der Liebe eines Vaters aufgezogen. Habt ihr euch in all den Jahren nach ihr erkundigt, habt ihr gefragt, wie es ihr geht?« Bental sah zu Boden und antwortete nicht.
»Ich vermute mal, nicht«, gab Sebastian die Antwort. »Ihr solltet Antarona spüren lassen, dass sie selbst frei entscheiden mag. Nur so wird sie ein wenig wieder eure Tochter sein! Und wenn ich euch recht raten darf, so vergrämt sie nicht, um euretwillen und um des Volkes Willen!«
»Das Volk weiß nicht, dass sie meine Tochter ist, habt ihr das schon vergessen?« warf Bental fast störrisch ein. Sebastian nickte gewichtig.
»Ja, Hoheit, da mögt ihr schon Recht haben. Doch sie ist eben nicht nur eure Tochter, sie ist auch eure wichtigste Kriegerin, eure wertvollste Verbündete! Ihr vertrauen die Menschenwesen der Îval, sie bewundern sie, und ihr würden sie ohne zu fragen bis in den Tod folgen! Sie, Sonnenherz, und Arrak mit seinen Windreitern waren über lange Zentaren und sind auch jetzt noch, die letzte Hoffnung der Îval im Val Mentiér, denn von ihrem König haben die Menschenwesen dort schon lange nichts mehr gehört! Antaronas Einfluss im Val Mentiér kann der goldene Schlüssel zu den Herzen des Volkes dort sein, wenn ihr ihn denn zu erkennen und zu schätzen vermögt!«
»Vielleicht sollte ich euch zu meinem persönlichen Berater machen«, sagte Bental mit einer Stimme, die es Sebastian unmöglich machte, zu erkennen, ob er das wirklich ernsthaft in Betracht zog, oder nur ironisch meinte. Deshalb wagte er zu antworten:
»Vielleicht solltet ihr das, eure gütige Hoheit, vielleicht solltet ihr das wirklich!« Doch Sebastian wusste, dass er das selbst gar nicht wollte.
Sein Ziel war, mit Antarona in Frieden Kinder großziehen, eine kleine Farm bewirtschaften und vielleicht ein paar Pla-ka züchten. Das musste ja nicht bedeuten, dass er einer Regierung, in welcher Form auch immer, mit Rat zur Seite stand. Heimlich dachte er aber an eine Demokratie, nicht jedoch an eine totalitäre Monarchie. Das jedoch war noch weit entfernte Zukunftsmusik.
»Nun, mag die Alte meine Tochter gesund pflegen. Danach will ich sie aber nicht mehr auf der Burg sehen, verstanden?« Bental schien sich von seiner Reise in die Vergangenheit rasch zu erholen. Bevor er ging, verlangte er:
»Sorgt dafür, dass die Amme diese Räume nicht verlässt! Und ihr persönlich geleitet sie hinaus, wenn sie fertig ist!« Damit verschwand der König, ohne noch einmal nach seiner Tochter zu sehen. Sebastian war das ganz lieb so. Besser er hielt sich zurück und brachte nicht alles durcheinander!
Erleichtert atmete Sebastian noch einmal tief ein und aus, dann ging er in Antaronas Schlafgemach zurück. Vesgarina und Frethnal saßen am Tisch und nutzten eine freie Stelle auf der zugestellten Platte, um sich an den Händen zu halten. Die Binerin saß auf Antaronas Lesestuhl, eine kleine, dickwandige Schale auf dem Schoß und zermalmte irgendwelche getrockneten Blätter mit einem Stößel, der aussah, wie eine kleine Keule.
Hekthur indes war verschwunden. Wahrscheinlich hatte ihn der König rufen lassen, nachdem ihm Sebastian so zugesetzt hatte.
Die alte Binerin nickte zufrieden, als sie sah, dass Sebastian ohne den König zurückkam. Sebastian beugte sich über Antarona und sah, dass sie fest schlief und ruhig atmete. Etwas beschämt wandte er sich an die Alte:
»Gutes Mütterchen, ich weiß nicht, was einst zwischen euch und dem König einmal war. Aber glaubt mir, er ist euch ebenso dankbar, wie ich es bin, was ihr für Antarona tut. Und ich bitte euch, hört nicht darauf, was Bental sagt, er ist in Sorge um seine Tochter, er meint es nicht so. Und ich möchte euch bitten, weiter für Antarona da zu sein, so lange sie euer bedarf. In ihr zumindest werdet ihr eine dankbare Freundin finden.«
»Ist recht«, krähte die Alte, »die Binerin tut, was sie tun muss, nicht für den König, welcher die seinen vergisst. Sie tut es für Sonnenherz, die gut ist zu jedem, mag er noch so gering sein!« Damit widmete sie sich wieder der Staubwerdung ihrer Kräuter.
Aber was meinte sie damit, den König, welcher die seinen vergisst? Anscheinend wusste die Alte mehr, als man ihm, Sebastian als Areos, wissen lassen wollte. Aber er wollte auch nicht im Beisein Frethnals und Vesgarinas nachbohren.
»Frethnal, Vesgarina, ihr könnt inzwischen die Decken und Felle zu den Waschweibern hinunter tragen. Das ganze Zeug ist voller Staub vom Dachraum!« Gehorsam packten die beiden zusammen, was Antarona warm gehalten hatte und brachten es hinaus.
Sebastian wartete, bis die Tür ins Schloss gefallen war, dann wagte er, die Kräuterfrau mit ihren verborgenen Andeutungen zu konfrontieren.
»Sagt, Mütterchen, was meintet ihr damit, der König vergisst die seinen?« wollte er wissen. Doch die Alte tat, als hätte sie ihn nicht gehört. Sie sah nicht einmal von ihrer Arbeit auf. Sebastian seinerseits wollte sie auch nicht bedrängen und achselzuckend beließ er es dabei.
Schließlich befand die Binerin, dass ihr kraut fein genug gemahlen war. Sie gab etwas von dem übelriechenden Fett in die Schale zu dem Pulver, sowie etwas Wasser. Mit einem kurzen Stöckchen verrührte sie das ganze zu einer Paste, die sie direkt auf Antaronas Wunden strich.
»Viele hat die Binerin geheilt«, sagte sie plötzlich und unerwartet, »viele geheilt und viele in diese Welt geholt! Dann kam der Medicus, aus dem Reich der Toten war er gekommen. Hat dem König weise getan, mit seinen ketzerischen Händen, und ihn geblendet mit Worten aus dem Reich der Toten! Die Binerin, die brauchte er dann nicht mehr.«
Sie sagte das, als wäre es die selbstverständlichste Sache der Welt. Und doch fühlte Sebastian, wie gekränkt sie war. Nein, sie hegte nicht Groll und Hass, aber sie schien sehr enttäuscht und tief verletzt.
»Aber die Binerin weiß, was niemand sonst weiß. Man hasste sie dafür und man wollte machen, dass sie schweigt. In den Blattgrund verbannt auf ewig. Und wieder aus dem Reich der Toten gekommen, einer, der nicht ist, wie die anderen! Einer, der das Herz der Sonne berührt, das nur Trauer kennt. Einer, dem die Elsiren wohl sind, einer, der die Binerin achtet.«
Die Alte versuchte Antarona auf die Seite zu drehen und mühte sich damit ab, ihre kurzen Ärmchen über das Lager zu recken. Sebastian ging ihr sogleich zur Hand und fragte, wie ganz nebenbei:
»Und dieser eine, wer mag das wohl sein?« Das Kräuterweib tauchte wieder den Stock in die Paste und behandelte die letzte von Antaronas äußeren Verletzungen.
»Die Binerin sieht die Zeit der Prophezeihung kommen. Die Sonnen sind gezählt. Der die Zeichen der Götter trägt, ist da! Hat Tálinos und das Volk gleichsam berührt, jener, aber sie sehen ihn noch nicht. Die Binerin sieht ihn!« Im nächsten Moment legte sie ihre Heilutensilien beiseite und kam so dicht an Sebastian heran, dass er den Atem anhalten musste. Die Frau duftete noch immer nach alle dem, wessen man sich in seiner Welt des Abends durch Duschen entledigte.
»Herr, es sind zwei, welche das Volk berühren, doch er ist nicht sein Sohn, wie sie nicht seine Tochter ist!« Damit wandte sie sich ab und begann damit, ihren schmuddeligen Umhängebeutel mit den Kräutern vollzustopfen, die Sebastian von der Decke Antaronas Blumenzimmer geholt hatte. Anscheinend sah sie das Grünzeug als Lohn für ihre heilkundigen Dienste an. Sollte sie! Sebastian hätte ihr noch viel mehr gegeben, wenn sie es verlangt hätte.
Doch was meinte sie mit ihrer rätselhaften Äußerung? Es sind zwei, welche das Volk berühren, doch er ist nicht sein Sohn, wie sie nicht seine Tochter ist. Meinte sie damit ihn, Areos und Antarona? Schon einmal, als er ihr gegen die Krieger half, machte sie zum Abschied eine ähnliche Bemerkung.
Mochte sein, dass sie herausgefunden hatte, dass er nicht Bentals wahrer Sohn war. Aber woher wollte sie wissen, dass Antarona nicht Bentals wahre Tochter war, wenn Bental doch den eindeutigen Beweis dafür erbrachte? Wie sonst, wenn er nicht ihr wahrer Vater war, vermochte er zu sagen, welches Muttermal sie an ihrer intimsten Stelle trug?
Gut, es gab nur Bentals Aussage. Hedaron war bislang noch nicht dazu gehört worden. Und irgendwie glaubte Sebastian, dass die Alte noch viel, viel mehr wusste. War das der Grund, weshalb Bental die Alte eher in das Reich der Toten wünschte, als in einen verborgenen Winkel unter seiner Burg? Ahnte Bental, was die Alte alles wusste? Geheimnisse, die Torbuk möglicherweise rechtmäßig auf den Thron bringen konnten?
Gleichzeitig schien Bental sie so zu fürchten, das er es nicht wagte, sie einfach verschwinden zu lassen. Hatte er Angst vor ihren Fähigkeiten, die schon die beiden Krieger eingeschüchtert hatten? Und als hätte die Binerin Gedanken lesen können, stand sie auf einem Mal wieder dicht neben ihm und hielt ihm etwas Glitzerndes hin. Das geheimnisvolle Amulett, das er Frethnal als Erkennungszeichen mitgegeben hatte!
»Herr, bewahret und behütet es, denn es hält Falsch und Verderben von euch fern!« krächzte sie leise. Sebastian nahm es dankend zurück und sah das Ding mit nicht mehr ganz so lächerlichem Blick, denn es hatte ihm ja bereits sehr geholfen. Wer weiß, ob die Alte mit Frethnal gegangen wäre, hätte dieser ihr nicht das Amulett gebracht.
Noch einmal sah die alte Binerin nach ihrer Patientin, dann nahm sie ihren verdrehten Knüttel und schickte sich an zu gehen.
»Moment mal«, hielt Sebastian sie auf, »ihr wollt gehen? Aber was wird aus Sonnenherz, wenn ihr fortgeht?« fragte er unsicher.
»Bleibt nur immer bei ihr, Herr«, antwortete sie, während sie auf den Korridor hinaus hinkte, sie wird schlafen. Drei Sonnen und zwei Monde wird sie schlafen, und dann wird sie leben! Bleibt nur immer bei ihr, Herr, bleibt für immer bei ihr!« Sie drehte sich nicht einmal um, sie ging einfach. Völlig verunsichert lief Sebastian hinter ihr her.
»Aber was begehrt ihr als Lohn, ehrwürdige Mutter, was kann ich für euch tun?« Doch die Alte winkte nur über ihre Schulter hinweg ab, wankte Stufe um Stufe den Treppenturm hinab und ließ den Areos einfach stehen.
Kopfschüttelnd ging er zu Antaronas Lager zurück und knüpfte sich das geheimnisvolle Amulett der Alten wieder an seinen Gürtel. Sie hätte von ihm haben können, was sie wollte! Eine ganze Kiste voller Quarts, Waffen, sogar Gold hätte er ihr gegeben! Tollkühn hätte er ihr sogar an einem Ort ihrer Wahl ein Häuschen bauen lassen.
Doch sie forderte nichts, begehrte nichts. Sie war, zumindest von Bental, nicht erwünscht, kam dennoch, half, und ging. Ohne ein überflüssiges Wort, ohne Gegenleistung! Eine seltsame alte, wahrscheinlich aber sehr weise Frau!
Antarona würde wissen wollen, wer ihr in der Not geholfen hat. Was sollte er ihr sagen? Eine alte Hexe, verbannt in den Blattgrund? Sebastian wusste nicht einmal, was der Blattgrund war, den Bental abwertend das Loch nannte. Welches Geheimnis verbarg sich hinter dieser alten Frau?
So seltsam und skurril ihre Erscheinung auch war, er achtete sie und nahm ihre Worte ernst. So setzte er sich an Antaronas Bett und schwor sich, nicht von ihrer Seite zu weichen, bis sie wieder erwachte, so, wie es ihm die Alte aufgetragen hatte.
Nein, das war es nicht genau, was die Binerin sagte! Sebastian erinnerte sich. Sie sagte Bleibt nur immer bei ihr, Herr, bleibt für immer bei ihr! Sie sagte für immer! Sie wollte, dass sie zusammen blieben, so, wie es bereits die Elsiren bestimmt hatten! Und so eigenartig das Kräuterweib auch war, sie hatte gewiss einen Grund dafür, den er, Sebastian oder Areos, nicht in Zweifel ziehen sollte.

Einen Tag, eine Nacht, noch einen Tag und eine weitere Nacht wachte Sebastian mit Bangen am Lager seines geliebten Krähenmädchens. Er aß nicht, trank nur wenig, und ließ außer Frethnal und Vesgarina niemanden in das Zimmer und in Antaronas Nähe. Ihr Fieber ging zwar allmählich zurück, doch er wollte Antarona die nötige Ruhe gewährleisten, um richtig gesund zu werden.
Selbst Bental hätte er abgewiesen, wäre dieser auf den Gedanken gekommen, Antarona zu sehen. Die alte Binerin hatte in Sebastian etwas bewegt, innerlich etwas ausgelöst. Er sah seine kleine Frau nicht mehr nur als das Wesen, das er über alles liebte, sondern fast schon als eine Art Geschenk der Götter, als etwas Heiliges! Und dabei hatte er nie viel mit Glauben und Gott im Sinn gehabt.
Doch die Alte vermittelte ihm indirekt eine Sichtweise auf sich und Antarona, die einer Vorbestimmung, einem Schicksal gleichkam, das nicht verändert werden durfte, das um jeden Preis, auch für das ganze Volk der Îval, bewahrt werden sollte. Vielleicht waren er und Antarona die Zukunft des Volkes der Îval?
Wie hieß es noch in der überlieferten Prophezeihung, die ihm bereits Högi Balmer vorbetete?
Doch nun ist die Zeit der Prophezeihung gekommen. Der Befreier steht vor den Toren Quaronas und Falméras und Zarollons. Er wird das Schwert Tálinos ergreifen, das Schwert der Götter und der Könige und wird mit seiner leuchtenden Klinge die Prophezeihung erfüllen. Er wird die Tränen der Götter unter das Volk säen und die Armut und Angst vertreiben. Er wird den Achterrat führen und die Windreiter um sich sammeln und das Böse vernichten. Er wird mit der Macht der drei Türme und der Macht der Götter Frieden und Wohlstand im Land schaffen... Es gibt ihn bereits! Er weiß es nur noch nicht. Er ist schon unter uns, aber die Macht der Götter hat ihn noch nicht erreicht. Er muss in seinem Herzen noch geboren werden. Er muss selbst seine Bestimmung finden. Er wird großes Leid erfahren und der Schmerz in seinem Herzen wird ihm zeigen, dass nur er es sein kann, der das Volk befreien wird. Er wird das Schwert Tálinos führen und die Menschen Volossodas werden ihm folgen, wie die Windreiter ihm folgen werden, weil sie die Zeichen der Götter und der Könige an ihm erkennen. Torbuk und Karek werden ihre wilden Horden um sich scharen, weil sie ihn fürchten werden. Sie werden ihre Krieger gegen ihn aussenden, doch sie werden ihn nicht bezwingen, denn die Macht der Götter wird wie eine mächtige Kraft über ihm wachen...
Das Leid, von dem Balmer sprach, welches der Befreier des Volkes erfahren würde, war damit die Angst um Antarona gemeint, die er gerade erfuhr? Würde vielleicht noch etwas viel Schlimmeres auf sie beide zukommen? Aber konnte es noch Schlimmeres geben, als das, was sie bereits erlebt hatten?
Was Sebastian vor allem interessierte und was ihn während des langen Wartens auf Antaronas Genesung immer mehr beschäftigte, war die Frage: Wie viel Wahrheit barg diese Prophezeiung? War das alles ernst zu nehmen?
Konnten damals, im alten Ägypten, die Sklaven ernst nehmen, dass einer kommen würde und sie aus der Knechtschaft der Pharaonen befreien würde? Die Menschen hatten daran geglaubt. Die Not und Verzweiflung machte sie glauben. Und tatsächlich, so erzählt die Geschichte, kam Moses und befreite das Volk!
War es von den Christenmenschen im römisch besetzten Gebiet einfältig zu glauben, der Erlöser, von Gott gesandt, würde sie befreien? Nun die Befreiung war eher im übertragenen Sinne in Form eines Weiterlebens der Seele nach dem irdischen Tod zu verstehen. Doch die Menschen glaubten daran. Die Not und Verzweiflung machten sie glauben. Und tatsächlich, so berichtet die Geschichte, sandte Gott seinen Sohn zu den Menschen.
Und immer wieder in der Menschheitsgeschichte gab es jene, die durch Legenden oder Prophezeiungen angekündigt wurden, an die ganze Völker glaubten. Und sie kamen. Sie kamen jedes Mal und befreiten die Menschen von der Unterjochung. War ihm und Antarona ein ähnliches Schicksal zugedacht? War ihnen vorbestimmt, sich für das Volk zu opfern?
Nein! Sebastian wollte das nicht. Er verzichtete gern darauf ein auferstandener Areos zu sein. Er hatte seine große Liebe gefunden, nein, wiedergefunden, und er wollte nichts weiter, als leben! Er wollte zusammen mit Antarona und ihren Kindern ein schönes, friedliches, irdisches Leben genießen! Wenn dazu allerdings nötig war, Torbuk und Karek aus dem Land zu jagen, so würde er es tun!
Halt! Moment mal? Hatte es sich so vielleicht immer in der Geschichte zugetragen? Wollten sie das möglicherweise alle nur? Wollte auch Moses nur ein friedliches Leben führen, und Jesus von Nazareth, und Andreas Hofer? Wollten all diese Erlöser, Befreier und Revolutionäre im Grunde nur einen Raum für ein friedliches, glückliches Leben schaffen, um redlich zu arbeiten, um ihre Kinder großzuziehen?
Sebastian Lauknitz war weder Gelehrter eines Glaubens, noch Historiker, und schon gar nicht sah er sich als Befreier eines ganzen Volkes. Aber vielleicht waren und wollten sie das alle nicht, die in der Geschichte der Menschenwesen etwas bewegten. Hatte der Gang der Geschichte, hatten die Menschen, die sie bewunderten, sie zu diesen Helden, Erlösern und Revolutionären gemacht?
Was tat er da eigentlich? Er spielte den Sohn eines Königs, der er gar nicht war! Vielmehr sollte er mit Antarona ins Val Mentiér zurück gehen und eines der kleinen fruchtbaren Seitentäler besiedeln und eine Familie gründen.
Wie schön und ruhig konnten sie es dort haben! Freilich nur unter dem Gesichtspunkt, dass die Machthaber Quaronas verschwanden. Waren es also immer die Bösen, welche die Helden und Befreier schufen? Heftig schüttelte Sebastian den Kopf. Man konnte ja verrückt werden, wenn man über so etwas nachdachte!
Mit solchen, ihn marternden Gedanken wachte er am Lager seiner Frau. Vesgarina und Frethnal brachten Wasser, Essen und frische Tücher, die er Antarona immer wieder neu um den Leib wickelte.
Er versuchte ihre Haare zu kämmen, gab es aber bald auf. Ihre lange, schwarze Mähne war zu fest, zu widerspenstig und zu verfilzt. Und wie sollte er ihre Haarpracht waschen, wenn sie wie tot in ihrem Bett lag? Also wusch er ihr nur den Schweiß von ihrem Körper, hielt ihre Hand und strich ihr liebevoll zum zig tausendsten Mal über Wangen und Stirn.
In der Nacht strahlte der Mond durch das Fenster und Sebastian konnte trotz seiner bleiernen Müdigkeit nicht schlafen. Vielleicht lag es auch an dem unbequemen Lehnstuhl, den er sich an Antaronas Bett gerückt hatte. Er war selbst zum länger darauf Sitzen zu hart, geschweige denn, um darin zu schlafen.
Also räumte Sebastian etwas auf. Er säuberte die Schalen und Näpfe, in denen die alte Binerin ihre Kräutersalben hergestellt hatte. Danach ordnete er die vielen Tücher und Decken, die durcheinander geraten waren, und zuletzt verwahrte er Antaronas Kleidung, einschließlich ihres abgetragenen Lederschurzes in ihrem Schrank. Er sah sich um. Fast perfekt!
Aber eben nur fast. Immer noch lagen ihre persönlichen Gegenstände und Waffen herum. Sebastian sammelte ihren Gürtel ein, fand ein Lederbeutelchen mit seltsamen Steinen darin, auf einem Stuhl lag der Dolch der Krenja und Antaronas Muschelkette, die sie eigentlich ständig trug und die bereits mit ihr verwachsen schien.
Wahrscheinlich hatte sie ihr die alte Amme abgenommen, um sie besser einsalben zu können. Sebastian verstaute die Dinge in einer kleinen Truhe, in der das Krähenmädchen auch ihre Quarts aufbewahrte. Dabei stieß er gegen etwas, das an der Wand entlang rutschte und scheppernd zu Boden fiel. Nantakis! Vesgarina hatte Antaronas Schwert achtlos an die Wand gelehnt.
So offen sollte diese Waffe nicht herumstehen! Wenn jemand aus Torbuks Lager sie in die Finger bekäme und nach Quaronas schmuggelte… Nicht auszudenken! Sebastian nahm das breite und phantasievoll geformte Schwert und suchte einen geeigneten Platz dafür. Im Vorbeigehen fiel für einen Moment das Mondlicht darauf, das in feinen Strahlen durch den Fenstervorhang herein schien. Aber was war das?
Sebastian war, als hätte das Schwert im Schein des Mondlichts aufgeleuchtet, wie wenn es von einem blauen Feuer entzündet worden wäre. Er ging vorsichtig zwei Schritte zurück und hielt es in den Lichtstrahl des Erdtrabanten. Staunend riss er die Augen auf und ein Schauer jagte über seinen Rücken!
Dort, wo das Mondlicht auf Nantakis traf, wurde eine glimmende und hellblau aufflammende Schrift sichtbar, ähnlich einer fluoreszierenden Tinte unter ultraviolettem Licht. Verwundert rieb Sebastian mit den Fingern über die Schriftzüge, die in Îval verfasst waren. Aber die in ganzer Länge aufleuchtenden Sätze ließen sich nicht fortwischen, ja es sah beinahe so aus, als schienen sie durch seine Finger hindurch!
Irgendein Material war in filigranen Lettern in Antaronas Schwert eingearbeitet, das unter Mondlicht zu glühen begann. Sebastian ging zum Fenster, schob den Vorhang ein Stück zur Seite und hielt Nantakis direkt in den Mondschein. Sofort flammte die Schrift auf und Sebastian glaubte sich in ein unwirkliches Märchen versetzt.
Er versuchte die glimmende Inschrift zu entziffern und stellte fest, dass sie in den alten Zeichen der Götter verfasst war, die er bereits in den Hallen von Talris gesehen hatte. Viele Zeichen fanden sich in der neuen Schrift wieder, welche allgemein von den Îval benutzt wurde.
Bis auf wenige, besondere Zeichen und einige Wortwendungen hatte er sich beim Studieren der alten Karten Falméras auch die alte Schrift angeeignet. Was dort im Metall der Klinge erglühte, las sich bei ungefährer Übersetzung wie eine Art Wegbeschreibung.
Basti drehte das Schwert und auch auf der anderen Seite fand sich eine glimmende Inschrift, mit Blumen und Pflanzenranken reich verziert. Wusste Antarona welches Geheimnis ihr Schwert besaß? Wenn, dann hatte sie es ihm verschwiegen. Aber warum?
Und warum war es ihm niemals aufgefallen? Oft waren sie bei Mondlicht unterwegs gewesen, und meist trug Antarona ihre Waffe blank, nur mit einer Lederkordel gesichert, über dem Rücken. Eine leuchtende Schrift wäre Sebastian sofort aufgefallen. Und wahrscheinlich nicht nur ihm!
Während er überlegte, sah er zum Mond hinauf. Funktionierte dieser Zauber etwa nur zu einem bestimmten Zeitpunkt? An diesem Abend leuchtete der Welt Trabant groß und rund. Vollmond! War dies das Geheimnis, offenbarte sich die Schrift nur bei Vollmond? Oder war die Entfernung des Mondes zur Erde, welche sich ja bekanntlich änderte, entscheidend für das Phänomen?
Aber ganz gleich, wie dieser Effekt entstand, er wollte unbedingt herausfinden, was dort eingebrannt stand! Möglicherweise gab die Inschrift einen Hinweis darauf, wo er sich befand, oder sonst irgendetwas Bedeutendes. Wenn sich ein Waffenschmied anschickte, ein Schwert zu schaffen, in dem eine verborgene Inschrift ruhte, so musste diese Nachricht etwas sehr Wichtiges beinhalten!
Bevor Sebastian sich daran machte, die Lichtgravuren zu entziffern, suchte er fieberhaft nach Papier, Tinte und Feder. Er musste unbedingt notieren, was dort geschrieben stand! Vage erinnerte er sich daran, wo Vesgarina das Schreibzeug Antaronas gefunden hatte. Er hetzte wie der Wind durch die Räume, holte das Gesuchte, legte Nantakis offen auf die Fensterbank und begann die glimmenden Sätze Wort für Wort abzuschreiben, die er anschließend sinngemäß übersetzte:

Tafel der Götter Zeit
Am Wege sonnverbrannt
Wirft die Strahlen weit
Auf Himmelsweg gebannt

Pfad an Mauer steil
Tiefe gähnend und leer
Schattig windiger Keil
Blick auf eisiges Meer

Stille und Kälte warten
Schreiende Einsamkeit
In Stein gesäter Garten
Wird endlos und weit

Weg durch Felsgewirre
Zwischen Eises Spitzen
Jeder Blick führt irre
Die Schritte zu richten
Über dir das Felsendach
Aus tiefer, nasser Klamm
Brüllender Stimme Bach
In der Finsternisse Bann

Hohe Weiden wohl zum Glanz
Einer jeden vergangenen Reise
Blicket auf den Mauerkranz
Ferner Gipfel im ewigen Eise

Jenseits wilder Quellen
Ein Wald himmelwärts
Bäume nimmer zu fällen
Stark einem mutigen Herz

Entlassen auf grüne Au
Zu Füßen der Felsen Band
Unendlich weiter Götterbau
Über leerem Wüstenland

Es klang wie eine poetische Beschreibung eines Weges, doch was bedeutete sie? War es die Beschreibung zu einem großen Schatz, etwa zu den Hallen von Talris? Dass Nantakis irgendeinen Bezug zu den mächtigen Götterhallen besaß, war Sebastian spätestens klar geworden, als das Schwert ihn und Antarona vor den todbringenden, blauen Blitzen beschützt hatte.
War Antaronas Waffe eine Art Schlüssel? Ein Passierschein in die Welt der Götter? Oder hatte Jemand nur das künstlerische Bestreben gehabt, eine außergewöhnliche, wundersame Waffe zu schmieden, um sich einen Namen als bester Schmied zu machen? Wozu dann aber diese eigenartige Beschreibung einer Landschaft?
Schuf einer eine besondere Waffe, so versah er sie eher mit einer Weisheit, oder einer Verzierung, nicht aber mit einem Rätsel, oder? Sebastian wurde aus der Inschrift nicht schlau. Er verstaute Nantakis unter Antaronas Bett, wo es Vesgarina gesucht hatte, als Antarona verschwunden war. Die Abschrift des Spruches aber wollte er so bald wie möglich in sein Tagebuch übertragen, das nun schon so manche Absonderlichkeit dieser Welt auf seinen Seiten dokumentierte.

Um die Mittagszeit des dritten Tages hatte Sebastian bereits Zweifel, ob Antarona je wieder aufwachen würde. Das Fieber, das sie so geschwächt hatte war vollends verschwunden. Doch sie schlief immer noch tief und fest, wie eine Tote. Als hätte ein Fluch sie in einen hundertjährigen Schlaf versetzt.
Sebastian selbst war inzwischen so todmüde, dass er eine ganze Woche hätte am Stück schlafen können. Er wachte nun wie viele Stunden an ihrem Bett? Zwischendurch war er auf dem Stuhl eingeschlafen, hatte sich den Rücken verdreht, war vor Schmerz aufgewacht, und begann von neuem die Prozedur, Antarona trocken und sauber zu halten.
Außerdem konnte er sie unmöglich allein lassen, selbst wenn Vesgarina an ihrer Seite blieb. Wie sollte dieses unbedarfte, stumme und zierliche Kammermädchen einen weiteren Angriff verhindern, wenn Antaronas unbekannter Feind eine neue Chance witterte? In ihrem Zustand war sie jedem Angriff hilflos ausgeliefert!
Einzig und allein ein Gedanke hielt ihn aufrecht und ließ ihn die Strapazen ertragen: Antarona musste wieder gesund werden! Sie war das einzige, das ihm noch wichtig war! Ohne sie war sein Leben wertlos! Er durfte sie nicht einfach in das Reich der Toten gehen lassen! Dieses kleine Mädchen, diese wunderbare Frau, diese große Kriegerin, sie musste leben!
Um nicht wieder in einen Halbschlaf im Sitzen zu versinken, wanderte er durch mehrere Zimmer auf und ab. Nach jeder Runde überzeugte er sich, dass Antaronas Atem ruhig ging, dann setzte er seine Wanderung fort.
Gegen Abend öffnete er die Tür zu Antaronas Freisitz, lehnte sich auf die breite Brüstung und sah zum Wasserfall hinüber, der den reißenden Bach im Burggraben speiste. Wie schön mochte selbst ein Leben auf dieser Burg sein! Doch auch hier war der Einfluss Torbuks zu spüren. Sebastian dachte da an die beiden Attentate, die Vesgarina und Antarona nur knapp überlebten. Ein anderes, unschuldiges Mädchen aber musste sein junges Leben dafür lassen.
Nein! Das war nicht das Leben, welches er sich vorstellte! Ständig auf der Hut zu sein, nicht umgebracht zu werden? Lieber wollte er mit Antarona in beinahe steinzeitlichen Verhältnissen in den Wäldern am ewigen Eis leben. Ein solches Dasein wäre härter, aber friedlicher. Nicht umsonst hatte sich Högi Balmer in die Einsamkeit seiner Alm zurückgezogen. Dort ließ man ihn in Frieden!
Plötzlich spürte Sebastian etwas Nasses in seinem Gesicht. Wehte das Wasser vom Wasserfall so weit herüber? Wieder fiel ein dicker Tropfen auf seine Nase. Verwundert blickte er nach oben und staunte. Dicke, schwarze Wolken waren von Westen, vom Festland her aufgezogen. Ein mächtiges Unwetter schien seinen Weg nach Falméra gefunden zu haben.
Seit sie in Falméra angekommen waren, kannten sie nur mildes Klima und Sonnenschein satt. Doch nun schienen die Titanen ihre Schleusen zu öffnen und Sebastian dachte mit Grauen an das Unwetter, das er auf Balmers Alp erlebt hatte. Rasch zog er sich in den Salon zurück und schloss die Tür. Keinen Augenblick zu früh!
Einen Lidschlag später prasselte ein Regen nieder, der den Freisitz schnell in einen kleinen See verwandelte. Es wurde merklich kühler und mit einem Schlag herrschte stockfinstere Nacht. Sebastian kehrte in Antaronas Zimmer zurück und riss die Fenster so weit auf, wie es unter den himmlischen Kaskaden möglich war. Frische Luft musste herein!
Es schüttete wie aus Eimern und Sebastian dachte daran, dass die Elsirenfeuer an diesem Abend wohl kalt blieben. Vermutlich waren die Nächte in den Regenperioden die einzigen, in denen die Îval Falméras zum Schlafen kamen.
Vesgarina kam mit einer Lampe herein, stellte sie auf den Tisch und zog sich sofort wieder fröstelnd zurück. Basti nahm wieder den Platz neben Antaronas Bett ein, und lauschte dem auf und abschwellenden Rauschen des Regens. Er konnte nicht mehr unterscheiden, welches Geräusch vom Regen, dem Wasserfall, oder dem Bach herrührte.
Aber die frische Luft tat gut. Sie machte aber auch müde. Mit einem Mal spürte Sebastian die Abgeschlagenheit in seinen Knochen. Die Suche nach Antarona, das Wachen an ihrem Bett, all die vielen Stunden, in denen er nur ein paar Minuten lang eingenickt war.
Wie immer stellte er ein paar Stolperfallen, wie Metallschalen, oder Krüge in die Türen, klemmte sich sein Schwert zwischen die Knie, nahm Antaronas Hand in seine und versuchte abzuschalten, die Augen zu schließen und seine Sinne schweifen zu lassen.
Eines nahm er sich felsenfest vor: Um jeden Preis wollte er Antarona von der Burg Falméra fortbringen. Sie gehörte nicht in diese Gemäuer, ihre Natur war es, durch Wälder zu streifen, zu jagen, zu leben, und nicht ihr Dasein tatenlos in verstaubten Zimmern und Gängen zu fristen.
Sebastian wollte nicht länger zulassen, dass Sonnenherz, die Kriegerin vom Val Mentiér hinter meterdicken Mauern eingesperrt war. Er drückte leicht ihre Hand, wie um sein Versprechen zu besiegeln, und Antarona drückte seine Hand, um zu zeigen, dass sie ihn verstanden hatte. Er spürte den Druck ihrer Hand?
Urplötzlich war er hellwach. Das Leben war in seine Frau zurückgekehrt! Ihre Hand umschloss seine Finger! Sebastian beugte sich vor, vergaß das Schwert, das polternd zu Boden ging, und rückte die Lampe näher an ihr Lager.
Das Krähenmädchen schlug die Augen auf und lächelte ihn an, als wenn sie sagen wollte: Sieh her, du Ungeduldiger, hast du geglaubt, ich lasse dich allein? Sebastian Lauknitz sandte ein Stoßgebet zu den Göttern, zu denen er nicht einmal einen wirklichen Bezug hatte. Aber seine Dankbarkeit kannte in diesem Augenblick keine Grenzen.
»Oh, mein Engelchen, ich bin so froh, endlich wieder dein Lächeln zu sehen, du glaubst gar nicht, wie glücklich ich darüber bin!« flüsterte er ihr ins Ohr.
»Ba - shtie, was ist mit Sonnenherz geschehen?« hauchte sie matt. »Engelsen ist so müde, die Beine, die Arme, Glieder wie aus Stein.« Allein von diesen paar Worten wirkte sie so erschöpft, wie nach einer Schlacht. Sebastian legte sich neben sie auf das große Bett, umfasste mit einem Arm ihren dick in Felle eingehüllten Leib und sagte:
»Tage hab ich um dich gebangt, aber jetzt weiß ich, dass alles gut wird! Du warst sehr krank, aber nun wird es dir schnell besser gehen, das verspreche ich dir! Ruhe dich aus, solange du magst. Ich bin an deiner Seite, solange du dich schwach fühlst. Und was immer auch dein Herz begehrt, du sollst es bekommen!«
»Euch, Ba - shtie, nur nach euch begehrt mein Herz. Kommt unter Antaronas Felle, ihr ist so kalt«, bettelte sie schwach. Sebastian schloss das Fenster, lehnte Nantakis und sein Schwert an das Lager und kroch zu ihr unter die warme Hülle. Wärme suchend schmiegte sie sich an ihn, sein Arm legte sich schützend um ihre Taille und bald waren sie eingeschlafen.

Sebastian wachte früh am Morgen auf. Der Himmel war Wolken verhangen und die Temperaturen mussten gerade mal zehn Grad nach Celsius erreichen. Ihm kam es bitterkalt vor. An diese extremen Wetterphänomene musste er sich noch gewöhnen.
Antarona lag wie ein kleines Kätzchen tief unter dem Berg von Fellen eingerollt und schlief fest. Basti deckte lächelnd noch ein paar Decken über den Haufen und ließ einen Moment die kühle Luft durch das Fenster herein. Kurz darauf erschien Vesgarina mit einer Schaufel voll Glut, die sie über ein paar Holzscheite im Kamin schüttete.
»Guten Morgen Vesgarina«, begrüßte sie Sebastian, »glaubt ihr, ihr könntet in der Küche ein kräftiges Frühstück für eure Herrin richten lassen?« Das Kammermädchen hob unwissend die Schultern, was Sebastian in der Weise deutete, dass sie es versuchen wollte.
»Und wenn es euch nichts ausmacht, so könnt ihr auch im Esszimmer und im Salon zum Freisitz den Kamin anzünden«. Sie sah ihn ein wenig seltsam an, nickte aber zur Bestätigung. Sebastian vermutete, dass sie üblicherweise einen etwas anderen Befehlston gewohnt war.
Wahrscheinlich hegten Frethnal und Vesgarina zunächst ein gesundes Misstrauen gegenüber der freundschaftlichen Art ihrer Herrschaft. Aber was Antarona und Sebastian brauchten, waren vielmehr Freunde, als unterwürfige Diener, die sie insgeheim weit von ihnen fort wünschten.
Doch die beiden schienen mittlerweile zu erkennen, welch glückliches Los sie gezogen hatten. Viele Bedienstete in den Herrschaftshäusern der Oranuti hatten weitaus weniger Freiheiten. Aber gerade am Beispiel dieser beiden erkannte Sebastian, wie schwer es irgendwann werden würde, den Gedanken einer frei wählbaren Demokratie unter das Volk zu säen.
Die Îval kannten seit der Zeit, als ihre Götter auf der Welt wandelten, nur Könige, die ihnen sagten, was gut war und was zu tun war. So etwas wie Mitbestimmung, oder Selbstbestimmung kannten sie nicht. Für das Volk war immer alles schön einfach gewesen. Der König bestimmte, der Herold verbreitete seine Wünsche unter dem Volk und die Îval handelten danach. Taten sie es nicht, so drohten unmenschliche Strafen, oft sogar Folter und Kerker.
Bental war bereits eine neue Generation der Könige. Er hatte inzwischen begriffen, dass ein Rat, zusammengesetzt aus Trägern verschiedener Verantwortungsbereiche, Fortschritt und Wohlstand auch für das Volk bedeutete. Allerdings reichte sein Einfluss nicht mehr weit über die Grenzen Falméras hinaus.
Sebastian musste erreichen, dass sich die noch halbwegs freien Täler zusammenschlossen und gemeinsam mit der Armee des Stadtstaates Falméra die Macht auf dem Festland zurückgewann. Erst dann war eine stufenweise Demokratisierung Volossodas möglich. Bis dorthin war es ein langer Weg, der an diesem Tag damit begann, dass der aus einer Lüge geborene Königssohn einer verborgen gehaltenen Prinzessin den Frühstückstisch bereitete.
Sebastian zog den kleinen runden, aus einem Stück Wurzelholz geschnitzten Tisch des Salons der großen Tafel des Esszimmers vor. Der Blick über den Freisitz zum Wasserfall hinüber, war zu reizvoll, als dass er auf ihn verzichten mochte.
Ein Rasseln im Vorzimmer sagte ihm, dass der Speiseaufzug bedient wurde. Kurz darauf kam Vesgarina mit vollen Händen herein. Sebastian wies sie an, die Speisen im Salon aufzutragen, was sie offensichtlich für eine gute Idee hielt. Sie nickte freudig, und stellte das vielseitige Frühstück auf einen kleinen Kartentisch, den Sebastian ihr heranzog.
Mit einem als Feuerhaken verwendeten, alten Langschwert fachte er noch einmal die Glut im Kamin an, legte ein paar dicke Holzscheite nach und begab sich wieder in Antaronas Schlafgemach. Gerade, als er hereinkam, schlug sie die Augen auf.
»Guten Morgen, meine allerschönste Prinzessin von Falméra«, begrüßte er sie überschwänglich. Antarona schälte sich ungeniert aus ihren Fellen und streckte ihre Arme in die Höhe. Gleichzeitig bemerkte sie die Kälte, hielt sich schützend die Hände vor die Brüste und war im Begriff sich wieder rasch in den Fellhaufen zurückzuziehen.
»O nein«, verwehrte ihr Sebastian diesen Luxus und schnappte sich ihren zierlichen, strampelnden Körper, »das Volk ruft nach seiner Befreiung! Hier wird nicht mehr geschlafen!«
»Ba - shtie, seid ihr von Sinnen?« rief sie empört. »Lasst Sonnenherz sofort wieder herunter, oder...« Sie sprach nicht weiter, denn anscheinend gefiel ihr diese Art, in einen neuen Tag, in ein neues Leben geholt zu werden.
»Was oder?« fragte Sebastian übermütig, fasste sie um die Taille, zog ihren warmen Körper fest an sich und entlockte ihrem süßen Mund einen langen, sehnsuchtsvollen Kuss. Dann zog er zwei große Felle von ihrem Schlaflager und wickelte sie darin ein, bevor er sie hochhob und auf seinen Armen durch die ausgekühlten Räume in den wohlbeheizten Salon trug. Behutsam setzte er sie an den kleinen Tisch, der überladen war mit fürstlichen Speisen, Obst und Gebäck.
Antarona brauchte eine Weile, um richtig wach zu werden und zu realisieren, dass sie an einem reich gedeckten Tisch saß, und nicht mehr auf einem leeren, kalten und staubigen Dachboden.
»Also, soll ich dich füttern, oder möchtest du selbst essen«, fragte Sebastian sie nicht ganz ohne Ironie. Er bemerkte, dass seine Frau aus dem Fenster auf den Freisitz starrte, als schaute sie in eine weit entfernte Welt und wusste, dass er ihr etwas Zeit lassen sollte.
»Wie fühlst du dich?« forschte er nach einer Weile des Schweigens. Antarona wurde bewusst, wo sie war und antwortete ernst:
»Schmutzig, Ba - shtie, Sonnenherz fühlt sich schmutzig und entzwei.« Sebastian nickte gewichtig und schlug ihr vor:
»Weißt du was, mein Engelchen? Du stärkst dich erst einmal mit guten Früchten und mit dem, was du magst, dann werde ich dich in Ruhe lassen, und du kannst dich in Vesgarinas Hände begeben.«
»Ba - shtie, so hatte es Sonnenherz nicht gemeint!« stellte sie klar. »Es ist nur...« Sie wusste nicht, wie sie es sagen sollte.
»Was ist dort draußen?« fragte er. »Meinst du das Wetter? Kurz bevor du das erste Mal erwacht bist, fing der Regen an und der Himmel verfinsterte sich.«
»Nein, es ist etwas anderes! Dies ist nicht die Welt von Sonnenherz, Ba - shtie«, begann sie zu erklären, »jemand versucht sie zu töten, verbirgt sich aber vor einem offenen Kampf!« Dann erzählte sie ihm, was ihr auf dem Freisitz widerfahren war, und dass sie versucht hatte, den geheimnisvollen Attentäter zu fassen, und wie sie sich dabei mehr oder weniger selbst eingesperrt hatte.
Sebastian hörte ihr schweigend zu. Dann sah er eine Weile nachdenklich hinaus und diese Insel kam ihm plötzlich düster vor, wie etwas Unheilvolles, das über ihnen hing. Sebastian verstand sein Krähenmädchen. In den engen Mauern der Burg, umgeben von einer Vielzahl von Menschen, war es nicht mehr möglich Freund von Feind zu unterscheiden. Es gab keine Möglichkeit, sich zu verteidigen.
Wohingegen Antarona in den Wäldern einen Feind bereits spürte, bevor er angriff. Außerdem wurde sie draußen rechtzeitig von Tekla und Tonka gewarnt, wenn Unheil drohte. Sebastian fasste es in wenige Worte:
»Antarona, du bist hier einfach nicht sicher! Mag diese Burg auch deinem Leibesvater gehören, die Feinde, Torbuks Häscher, lauern möglicherweise hinter jeder Tür. Du musst hier heraus, wir müssen die Burg so schnell wie möglich wieder verlassen, aber das hatten wir ja sowieso vor. Ich werde Bental davon überzeugen, dass wir ihm draußen mehr von Nutzen, und sicherer sind, als unter seinem riesigen Dach!«
Kurz sah er Antaronas Antlitz sich aufhellen. Dann wurde sie wieder nachdenklich und fragte ihn schuldbewusst:
»War Sonnenherz viele Sonnen und Monde lang krank? War es Vesgarina, die sie wieder gesund machte?«
Sebastian sah sie forschend an. Offenbar hatte sie keinerlei Erinnerungen an die Tage, an denen sie das Fieber in seinen Klauen hielt.
»Du standst bereits vor dem Tor zum Reich des Todes, mein Engelchen. Einer alten Kräuterfrau verdankst du dein Leben! Die Götter waren so gütig, und hatten sie mit zuvor über den Weg laufen lassen. Und wenn ich es recht bedenke, so war es, als hätte die Alte geahnt, dass ich sie bald dringend brauchen würde.«
Nun erzählte Sebastian von seinem Erlebnis mit der alten Binerin und den beiden Soldaten, und wie die Alte gegen Bentals Willen ihr das Fieber aus dem Leib trieb und ihre Wunden heilte.
»...sie benutzte dazu deine gesammelten Kräuter aus dem Blumenzimmer, ich hoffe, dass du mir das verzeihst«, schloss Sebastian.
»Ba - shtie, dazu sind die doch da, um zu heilen und zu helfen! Sie sind uns Menschenwesen ein Geschenk der Götter!« Plötzlich wurde Antarona still und überlegte.
»Was hast du?« wollte er wissen. Das Krähenmädchen brach sich nachdenklich ein Stück Brot ab und sprach:
»Ba - shtie, wenn sie es war, die Sonnenherz die heiße Haut und die glühenden Augen nahm, so hat sie ein gutes Stück Dank verdient. Wer ist sie, was wisst ihr über sie?«
Sebastian zuckte mit den Achseln und berichtete ihr, was er über die Binerin wusste. Dann löste er das glitzernde Amulett der Alten von seinem Gürtel und hielt es Antarona hin.
»Das hat sie mir geschenkt, als ich ihr gegen die Soldaten half. Ich kann nicht viel damit anfangen, aber sie meinte, es würde mich vor Bösem und Hinterhältigem beschützen. Weißt du, was es ist? Die Alte nannte es die Kraft der Wolfzahnfrau, oder so ähnlich.«
Antarona erblickte das Amulett in Form einer Walnuss und wich erschrocken ein kleines Stück zurück. Zumindest von Antarona hatte er diese Reaktion nicht erwartet. Sebastian dachte, dass sie sich mit solchen Dingen auskannte, und sich kaum davon beeindrucken ließ.
»Es ist ein sehr mächtiger, sehr alter Zauber, Ba - shtie«, flüsterte Antarona ehrfürchtig. »Wer es mit Recht trägt, vermag alles gegen ihn gerichtete Böse von sich abzuwenden. Das Böse wird mit den Zähnen der Eishunde zerrissen. Doch wenn jener, der es besitzt, ansinnt, es für das Unheil über andere Menschenwesen zu verwenden, so wird es sich mit gleicher Macht gegen ihn wenden. »Du glaubst an solche Zauberei?« fragte Sebastian fassungslos. Achselzuckend antwortete seine Frau:
»Sonnenherz vermag es nicht genau zu deuten, doch es ist etwas sehr Machtvolles, etwas, das so stark ist, wie Talris und die Götter selbst. Und nur die Zauberin, von welcher ihr dies habt, vermag es euch wieder zu nehmen.«
»Also, das macht mir jetzt Angst«, gab Sebastian beeindruckt zu. »Wie meinst du denn das, nur die Alte kann es mir wieder nehmen?« Antarona sah ihn unsicher an. Anscheinend suchte sie nach den richtigen Worten. Dann sagte sie zögernd:
»Ba - shtie, dies ist so mächtig, dass es nun in euch ist. Die Magierin hat es euch gegeben und ihr habt es genommen!«
»Antarona, was zum Donnerwetter bedeutet das?« Sebastian konnte seine eigene Unsicherheit kaum noch verbergen.
»Es bedeutet«, begann sie geheimnisvoll, »dass es Kraft besitzt, auch wenn ihr es nicht bei euch tragt. Die Macht der Wolfzahnfrau ist nun in euch, wenn ihr Gutes tut, Ba - shtie. Tut ihr aber Böses, so vermag sie euch ebenso zu vernichten! Es ist wie eine ewige Gabe, wie eine Kraft von Geburt an. Ihr könnt tun, was immer ihr wollt, doch ihr werdet niemals vermögen, diese Macht selbst von euch fortzunehmen. Nur die alte Ammenfrau vermag dies!«
»Na, das ist ja ganz großartig!« brach es aus Sebastian wie pure Ironie heraus. »Da helfe ich der Alten aus der Patsche und die hängt mir einen unsichtbaren Fluch an, der mich umgehend hinrichtet, wenn ich nur mal eine Kartoffel klaue! Na bravo!« Antarona blickte ihren Gefährten verwundert an.
»Ká-toff-el? Bra-fo? Was bedeutet das, Ba - shtie?« Er verkniff seine Lippen zu einem dünnen Strich und winkte mit einer Hand gleichgültig ab.
»Ach, nur so eine Redensart aus meiner Welt. Es bedeutet so ungefähr, dass ich nun wohl sterben muss, wenn ich mir auf dem Markt einfach, ohne vorher zu fragen eine Frucht nehme, und dafür nicht einen Quart gebe«, versuchte er seiner Frau den Gedanken zu erklären.
»Nein, Ba - shtie, so ist es nicht«, versuchte Antarona ihn zu beruhigen. »So ein machtvoller Zauber schadet euch nur, wenn ihr dem Volk zu schaden denkt, oder töten wollt, ohne die Not, euch erwehren zu müssen, oder...«
»Ja, ich habe schon verstanden, es gilt nur gegen wirklich große, böse Ansinnen«, lenkte Sebastian ein und fragte gleichzeitig:
»Aber sag, was, oder wer ist die Wolfzahnfrau?« Antarona griff beherzt nach einem Stück Gebäck und klärte ihn auf:
»Es ist eine uralte Mär, welche die Alten den Kindern an den Feuern des langen Schnees erzählen, wenn das ewige Eis das Leben schlafen macht. Es ist eine Geschichte, welche jede Frau, jeder Mann und jedes Kind der Îval kennt.«
Sebastian hatte in Antarona ungeahntes Interesse geweckt. Sie war plötzlich hellwach, begann alle möglichen Speisen in sich hineinzustopfen und erzählte ihm mit Hingabe die geheimnisvolle Geschichte, die für Sebastian wie ein altes Märchen klang:
Einst lebte in den Tälern der schlafenden Sonne Volossodas eine gute Frau. Die gebar ihrem rechtschaffenden Manne zwei Kinder, ein Mädchen und einen Knaben. Sie besaßen nicht viel und lebten in Bescheidenheit und Demut vor Talris und den Göttern. Sie gaben den Armen und halfen, wo immer sie die Not anderer sahen.
Auf ihrem kleinen Hof besaßen sie um die zwanzig Nuk-trins, welche allesamt aus ihrer eigenen Zucht stammten. Sie lebten von den Tieren, verkauften den Käse aus ihrer Milch und die Wolle, welche sie ihnen einmal im Jahr, in der langen Sonne, bescherten. Es war ein karges Dasein, doch sie alle waren glücklich und zufrieden.
Da kam eine Zeit bitterer Not und Kälte über das Land und der lange Schnee wollte nicht mehr weichen. Talris verdunkelte die Sonne und ließ sie nicht mehr scheinen. Es fehlte an Grün für die Nuk-trins und es fehlte den Kindern an Kleidung und am täglich Brot.
Aber nicht nur die Menschenwesen erfuhren die große Prüfung der Götter. Alle Geschöpfe Talris darbten in diesen Zentaren, litten des Hungers und der Kälte und viele von ihnen starben. Als die Not am ärgsten war, trieb es auch die Eishunde, welche die Kälte gewohnt waren, in die Täler, nahe den Menschenwesen.
So kam auch eine Eishundmutter an den Hof der guten Frau und ihrer Familie. Des Nachts riss sie eines der Nuk-trins, um ihre Jungen zu nähren, die durch die große Kälte vom Tode bedroht waren. Die Frau aber war sehr erzürnt darüber, denn ihre Familie brauchte die Nuk-trins für ihr selbst Überleben. Sie hieß ihren Mann eine Falle bauen, um den Räuber zu fangen.
In der folgenden Nacht kam die Eishundmutter wieder, denn sie wusste nun, wo Nahrung für ihre hungrigen Kinder zu finden war. Blind vor Not trat sie in die Falle, welche gnadenlos zuschnappte. Sie tobte, biss um sich, doch all ihr Bemühen, sich zu befreien blieb zwecklos. Vom Lärm aufgeweckt eilten die Bauersfrau und ihr Mann mit Knüppel und Axt bewaffnet herbei, um dem Räuber den Garaus zu machen.
Verzweifelt bettelte die Eishundmutter, und bat um Vergebung, nicht um ihretwillen, sondern um des Lebens ihrer Kinder, die des Hungers litten. Da erbarmte sich die Frau, denn sie wusste um die Liebe und Angst einer Mutter zu ihren Kindern. Sie gab der Eishündin vom Fleisch aus ihrer eigenen Kammer, dass sie ihre Kinder nähren möge, und versprach stets das ihre zu teilen, solange die große Kälte fortdauerte.
So kam die Eishündin noch einige Male und die Frau gab ihr, was sie entbehren konnte. So lebten die Eishunde und so lebten die Menschenwesen gleichermaßen.
Als nun die große Kälte ihrem Ende zuging, kam die Eishündin ein letztes Mal. Die Bauersfrau gab ihr wiederum aus ihrer Kammer. Da sprach die Eishundmutter zu der Frau:
»Ihr habt mich und meine Kinder in der Not vom Tode bewahrt, seid gütig und gnädig gewesen zu einer Geringeren. Zum Zeichen des Dankes sollt ihr einen meiner Reißzähne bekommen, jener meiner mächtigen Waffen. Tragt ihn um euren Hals und er wird euch und eure Kinder stets beschützen und behüten!«
So brach sie sich einen der scharfen Zähne aus dem Maul und gab ihn der Frau. Die tat, wie ihr geraten. Fortan trug sie den Zahn um ihren Halse und wurde seither von Jedermann nur noch die Wolfzahnfrau geheißen. Der Zahn der Eishundmutter aber tat von diesem Tage an seinen mächtigen Zauber, und der Frau und ihren Kindern ward niemals mehr ein Leid geschehen, solange sie lebten.
»Das ist zweifellos eine wunderschöne Geschichte«, gab Sebastian zu, als seine Frau geendet hatte, »doch mag ein altes Märchen wohl kaum etwas mit diesem Ding hier zu tun haben, oder?« Dabei schwenkte er das Amulett der Ammenfrau hin und her. Antarona sah nachdenklich zu. Sie schien seine Zweifel zu überdenken und sagte schließlich:
»So erhebt eure Waffe gegen Sonnenherz, Ba - shtie, dann wird sich erweisen, ob die Macht der Wolfzahnfrau euch dafür straft«, schlug sie mutig vor. Doch von solchen Experimenten wollte Sebastian nichts wissen.
»Auf was für Einfälle du kommst«, schüttelte er den Kopf, »niemals werde ich auch nur daran denken, eine Waffe gegen dich zu erheben!« stellte er fest.
Vielleicht steckte auch ein wenig mehr Respekt vor dem Amulett dahinter, als er zugeben wollte. Oft hatte er in seiner Welt von Voodoo Zaubern gehört, die funktioniert hatten, ohne dass die Wissenschaft je eine Erklärung dafür gehabt hätte. Was, wenn es doch Dinge und Phänomene zwischen Himmel und Erde gab, welche schier unglaublich und unerklärbar waren, aber eben nur, weil sie vom Wissen der allgemeinen Menschheit nicht zu ergründen waren?
Seit Sebastian Gore und Robrums, die Hallen von Talris sowie Elsiren gesehen hatte, war er sich nicht mehr sicher, was er für realistisch halten, oder als Märchen behandeln sollte. Nicht zuletzt die leuchtende Inschrift von Antaronas Schwert war etwas, das mit rationellem Verständnis nicht erklärt werden konnte.
»Irgendwie ist hier alles nur wie ein Traum«, versuchte er sich selbst eine Antwort zu geben. Antarona schnappte das Wort auf, das sie aus seinem Munde schon öfter gehört hatte.
»Ein Traum?« Ihr Blick unterstrich das Bedürfnis nach einer Erklärung. Basti holte vielsagend mit einer Hand aus und meinte nur beiläufig:
»Ach, nicht wichtig, eine Geschichte von Mutter der Nacht, etwas, das uns unsere Sinne erzählen, das aber nicht wirklich ist, etwas, das wir uns nur vorstellen, wie es sein könnte.«
Antarona wurde auf einmal sehr schweigsam, sah Sebastian mit beinahe ängstlichem Blick aus großen Augen an und hob ihre Hand, als wollte sie ihm etwas Wichtiges mitteilen. Doch dann ließ sie ihre Geste wieder fahren und sah traurig, fast schon gebrochen zu Boden. Ihre Reaktion war ihm nicht entgangen.
»Was hast du mein Engelchen, was bedrückt dich auf einmal?« wollte er wissen. Sie sah ihn an, als müssten sie sich nun für immer trennen und sagte leise:
»Ihr irrt, Ba - shtie, was uns die Mutter der Nacht erzählt, ist wahr. Sie zeigt uns, was war und was sein wird. Manchmal sind es Bilder, wie im ruhigen Wasser, Bilder, welche noch geschehen werden.« Antarona begann zu zittern und plötzlich füllten sich ihre Augen mit Tränen, die ihr über die Wangen liefen. Sebastian lief um den Tisch herum, nahm sie in den Arm und versuchte sie zu trösten.
»Na, so schlimm wird es doch wohl nicht sein. Weißt du was, erzähl es mir, und du wirst sehen, dass es dann gar nicht mehr so schlimm ist!«
Antarona aber schlang in einer verzweifelten, Hilfe suchenden Bewegung ihre Arm um seinen Hals und dann brach es erst recht aus ihr hervor. Sie weinte, dass er glaubte, ihr zarter Körper müsste auseinander brechen. Unverhofft drückte sie ihm einen salzigen Kuss auf die Lippen und sah ihn mit übergroßen, verwässerten Augen an.
»Ba - shtie«, flehte sie schluchzend, »zieht nicht in diese Schlacht, bitte! Versprecht Sonnenherz, nicht in die große Schlacht zu ziehen, bitte, versprecht es, jetzt sofort!«
Sebastian war so erstaunt und ergriffen von ihrem Ausbruch, dass er zunächst gar nicht wusste, wie er reagieren sollte. Sie, Antarona, die große Kriegerin weinte sich die Augen aus dem Kopf, weil sie Angst vor einer Schlacht hatte? Wie viele Kämpfe hatte sie überstanden, in der die Gegner zahlenmäßig überlegen waren! Und nun fürchtete sie sich vor einer Schlacht, welche gar nicht stattfand?
»Aber mein Engelchen, ich ziehe doch in gar keine Schlacht, wovon redest du nur?« versuchte er sie zu beruhigen. Doch sie schlug sich die Handflächen vor die Augen und schüttelte heftig den Kopf.
»Ihr werdet in die Schlacht ziehen, Ba - shtie, Sonnenherz hat es gesehen. Die Mutter der Nacht hat es ihr gezeigt, dort oben, wo das Dach über der Burg ist!« Allmählich ging Sebastian ein Licht auf.
»Ach, du hast das alles nur geträumt, das Fieber, die heiße Haut hat gemacht, dass du das so gesehen hast! Du musst dich nicht fürchten, mein Liebes, das ist nicht wahr, es gibt doch gar keine Schlacht! Wir wissen ja nicht einmal, ob Torbuk…«
»Versprecht es mir, Ba - shtie, versprecht es«, drängte sie ihn verzweifelt, »dass ihr nicht geht, wenn sie zur großen Schlacht rufen, bitte!«
Antarona stand die nackte Angst ins Gesicht geschrieben, etwas, das Sebastian niemals für möglich gehalten hätte. Sie hatte Angst um ihn! Sie hatte Angst, ihn, Sebastian Lauknitz, zu verlieren!
»Aber nun sieh mal«, redete er ruhig auf sie ein, »selbst wenn es irgendwann einmal zum Kampf kommen würde, ich werde doch auf mich aufpassen, und du selbst hast mich doch gelehrt, das Schwert zu führen, und du hast es mich gut gelehrt!« Doch Antarona wollte sich nicht mehr beruhigen. Kopfschüttelnd unternahm Basti noch einen Versuch:
»Nun hör mal, du hörst jetzt erst mal auf zu weinen, dann erzählst du mir, was dir die Mutter der Nacht gezeigt hat, ja? Und wir werden sehen, ob tatsächlich etwas Wahres daran ist. Und außerdem: Hast du vergessen, dass mich das Amulett der alten Binerin beschützen wird, überall, wohin ich auch gehe?«
Allmählich beruhigte sich das Krähenmädchen wieder und begann stockend und mit verklebten Augen zu berichten:
»Ich sah euch, Ba - shtie, bedroht von einem Mann, von einer dunklen Macht, welche stärker ist, als jedes Schwert, mächtiger, als jede Heerschar und schneller, als ein Blitz! Ein Fremder, Ba - shtie, einer wird kommen, der nicht Ival ist, und nicht Oranuti. Und er trägt eine Waffe, welche schnell tötet, ein fürchterlicher Dolch, welcher Blitze schleudert. Das Volk wird machtlos sein. Viele werden in das Reich der Toten gehen, Volossoda wird brennen und ein großes Leid wird über das Land unter dem ewigen Eis kommen.«
Antarona war bemüht, die Fassung zu behalten, aber erneut wurde sie von traurigen, ängstlichen Gefühlen durchgeschüttelt, die sie mit sich fort rissen. Wieder schossen ihr Tränen in die Augen, die blanke Angst erkennen ließen. Ihr Blick trat eine Reise an, in eine weite, virtuelle Ferne, ihre kleine Hand krallte sich mit der kraft der Verzweiflung in Sebastians Arm und ihr Körper zitterte wie Birkenlaub im Gewitter.
»Sonnenherz sah euch, Ba - shtie«, berichtete sie wie aus einem Alptraum, »Sonnenherz kniete über euch und ihr lagt da, überall war Blut und kein Leben mehr war in euch. Ihr tratet jene Reise an, die lange Reise in das Reich der Toten. Überall ringsum roch es nach Tot und Vernichtung, die Dörfer brannten und die Männer, welche mit euch kämpften, klagten zu den Göttern.«
Sebastian wollte seine Krähenfrau beruhigen, legte einen Arm um sie, wollte ihr das Gefühl geben, sie vor einer bösen Zukunft sicher beschützen zu können. Doch sie wehrte ihn ab und sprach weiter, als erzählte sie ihm etwas, das sie gerade auf einem Bildschirm zu sehen bekam.
»Frauen und Mädchen irren weinend und klagend umher, das Blut ihrer Männer und Brüder an den Kleidern, welche sie in Sicherheit tragen, damit sie den Weg in das Reich der Toten in Frieden gehen mögen. Auch Sonnenherz schreit ihr Leid zu den Göttern hinauf. Sie beklagt ihr Land, ihr Volk und jenen, dessen kleines Herz unter ihrem schlägt. Ein Herz, das ohne Vater aufwachsen würde, ohne Ba - shtie - laug - nids!«
Völlig apathisch saß Antarona da, starrte gegen die rückwärtige Wand, als könnte sie durch sie hindurch in eine weite Landschaft blicken. Tränen traten aus ihren leeren, verwässerten Augen und rannen ihr über das blasse Gesicht. Es schien, als wäre jegliche Hoffnung aus ihrem Herzen gewichen, sie wirkte wie eine leblose, zerbrechliche Hülle, die jeden Moment zu Staub zerfallen wollte. Wie gefangen in einem fernen Seelenbild sprach sie weiter:
»Sonnenherz sieht euch auf dem Weg in das Land der Götter. Es ist ein leidvoller Weg in das Reich der Toten. Ihr geht durch eine weiße Leere, wo nichts ist, wo nichts wächst, wo nur Eis ist und dunkler Stein. Ihr werdet gepeinigt von den Eishunden der Dämonen, die in der weiten Leere lauern, euch Körper und Geist zu rauben. Sonnenherz sieht, wie ihr leidet unter dem Schmerz und der Kälte.«
Plötzlich hellte sich Antaronas Antlitz auf, ja sie lächelte beinahe zufrieden. Als hätte sie das Paradies erblickt, sagte sie ruhig:
»Ich sehe euch in ein Licht treten, Ba - shtie. Es ist eine Höhle, ein helles Licht im ewigen Eis, seltsame Bilder, die sich bewegen. Ihr öffnet die Tür in das Reich der Toten. Dort ist ein anderes Licht, eine andere Luft...«
Damit versiegte ihre Prophezeihung. Wie unter Drogen gesetzt, starrte Antarona vor sich hin, regte sich nicht mehr und schien sich gedanklich in einer Sackgasse zu befinden. Sebastian nahm sie in den Arm, streichelte ihr über den Kopf und sprach beruhigend:
»So schnell werde ich nicht in das Reich der Toten gehen, das verspreche ich dir, mein Engelchen. Wir vermögen immer noch selbst unser Schicksal zu bestimmen. Und ich habe vor, noch eine lange zeit mit dir zusammen zu sein, hörst du?« Er schüttelte sie leicht und es schien, als holte er sie damit aus ihrer Traumwelt zurück.
Er blickte in ihr Gesicht und entdeckte hinter einem gequälten Lächeln eine tiefe Sorge. Offenbar ließ ihr Traum sie nicht mehr los, schien ihr Angst zu machen. Sie glaubte an das, was ihr die Mutter der Nacht erzählte. Sebastian wusste, dass Träume die verborgenen Wünsche und Ängste des Lebens wiederspiegelten, doch bei Antarona war er sich nicht mehr so sicher.
Etwas von ihrer Angst übertrug sich auf ihn. Er vermutete, dass Antarona Kräfte und Fähigkeiten besaß, die jenseits aller rationeller Erklärungen lagen. Vielleicht hatte sich sogar ein Teil der Kraft ihrer geheimnisvollen Kugel aus dem See auf sie übertragen. In dieser Welt schien ja einiges möglich zu sein, das er bisher für Utopie gehalten hatte.
»Weißt du was«, schlug er ihr mit neuem Optimismus vor, »wir verlassen die Burg und gehen nach diesem Ort, von dem du gesprochen hast, Mehie-onatia...«
»Mehi-o-ratea, Ba - shtie, es heißt Mehi-o-ratea«, berichtigte sie ihn und überwand für einen kurzen Moment ihre Traurigkeit. Bevor sie wieder in ihre düstere Prophezeihung verfiel, versuchte Sebastian ihr Mut und Hoffnung zu machen.
»Sieh mal, du hast mir selbst von der großen Prophezeihung des Volkes erzählt. Wenn ich jener bin, der auserwählt ist, mit dir das Volk zu befreien, dann kann das, was du in deinem Traum gesehen hast, gar nicht eintreten! Wenn die Prophezeihung stimmt, dann werden wir siegen, wenn es gegen Torbuks Armee zum Kampf kommt!«
Antarona sah ihn mit von Tränen geröteten Augen unsicher an und Zweifel schienen sich in ihr auszubreiten. Resigniert hob sie die Schultern, und meinte:
»Die Prophezeihung wird eintreten, so steht es seit Alters her geschrieben! Aber Sonnenherz weiß auch, was sie bei Mutter der Nacht gesehen hat. Auch dies wird eintreten!«
»Aber das kann so nicht sein«, wiedersprach ihr Basti, »wie soll denn beides geschehen? Wie kann ich in der Schlacht, die wer weiß wann und wo stattfindet, fallen und in das Reich der Toten gehen, wenn ich anschließend die Prophezeihung erfüllen werde? Nein, mein Engelchen, ich glaube, es ist nur deine Angst, die du in den Bildern der Mutter der Nacht siehst, mehr nicht!«
Sebastians Frau sah zu Boden. Sie wich seinem Blick aus, als wollte sie ihm ein fürchterliches Geheimnis verheimlichen, das in ihren Augen geschrieben stand. Sebastian vergrub sein Gesicht in ihren Haaren und hielt sie um die Hüfte umklammert, als wollte er versuchen, in ihre Gedanken, in ihre Empfindungen einzutauchen.
Er wollte eins sein mit ihr, wollte sich am liebsten in ihr Herz flüchten, sich für immer an sie klammern, und musste sich dennoch eingestehen, dass auch in ihm die Angst schlummerte, dieses zauberhafte Wesen eines Tages wieder zu verlieren. Antarona spürte seine Sehnsucht nach ihrer Nähe, schlang ihrerseits ihre Arme fordernd um seinen Hals und flüsterte:
»Lasst uns in das Dorf der Liebenden gehen, Ba - shtie, lasst uns jetzt gehen, lasst uns nicht mehr warten! Sonnenherz spürt die Zentaren schnell fliehen, schneller, als der Wind!« Sebastian nickte bestätigend.
»Ja, ich werde zu Bental gehen und ihm mitteilen, dass ich die Küste von Falméra bereisen werde, um mir einen Überblick über die Landungsmöglichkeiten einer feindlichen Flotte zu verschaffen. Dann werden wir einige Zeit nur für uns sein, was sagst du dazu?« In ihrem Blick lag immer noch traurige Nachdenklichkeit, aber auch Hoffnung.
»Wann geht ihr zu Bental, Ba - shtie? Wann werdet ihr es ihm sagen?« Plötzlich mochte es ihr nicht schnell genug gehen, aus den Mauern dieser Festung herauszukommen. Sebastian lächelte sie verständnisvoll an und versprach ihr:
»Jetzt gleich, mein Engel, ich werde keine Zentare mehr verlieren! Lass dich inzwischen von Vesgarina mit einem Bad verwöhnen, ich werde Bental von der Wichtigkeit einer Küsteninspektion überzeugen und gleich wieder zu dir kommen!«
Sebastian wartete noch, bis sich seine Frau in der Gesellschaft ihrer Kammerdienerin befand, dann machte er sich auf den Weg zum Audienzsaal des Königs.
»Nun, in welchem Zustand sind meine Truppen«, empfing ihn Bental, ohne Zeit zu verlieren. Sebastian, der immer mehr von seiner Scheu vor dem großen Monarchen verlor, ging erst gar nicht auf dessen Frage ein, sondern gab zunächst darüber Auskunft, was ihm am wichtigsten erschien.
»Eurer Tochter geht es wieder gut, eure gütige Hoheit, sie hat geschlafen, gegessen und im Augenblick macht sie sich gerade präsentabel, für den Fall, dass ihr sie sehen wollt.« Sebastian wartete die Reaktion seines gegenüber ab, doch als sich Bental eher unbeeindruckt zeigte, ging Sebastian ins Detail:
»Es mag euch nun interessieren, oder nicht, jedenfalls muss ich euch mitteilen, dass jenes offensichtliches Missgeschick eurer Tochter keines war. Sie ist auf dem Freisitz ihrer Gemächer hinterrücks angegriffen worden, und zwar vom Dach her mit Dachsteinen!«
Bental sah erstaunt auf, jedoch noch mit einer genügenden Portion Zweifel im Blick. Sebastian berichtete weiter, wie Antarona die Verfolgung des Attentäters aufgenommen, und sich so in die prekäre Lage gebracht hatte, die zum bedenklichen Zustand ihrer Gesundheit geführt hatte.
»Und wenn die alte Binerin nicht sofort gekommen wäre«, schloss er, »so hättet ihr womöglich noch ein Kind verloren, Hoheit.«
Bental wurde mit einem Mal überraschend umgänglich, bot Sebastian ihm gegenüber einen Stuhl an und sagte müde:
»Ihr habt schnell reagiert und indem ihr nach der Amme schicktet, zweifellos das Leben meines Töchterchens bewahrt. Dafür stehe ich in eurer Schuld. Vielleicht hatte ich euch zu Unrecht mit so viel Misstrauen bedacht, doch ich trage die Verantwortung für ein weites Land und ein großes Volk. Ihr werdet mir meine Vorsicht nachsehen.«
»Nun, ich werde sie euch nachsehen«, bestätigte Sebastian, »was aber gedenkt ihr gegen die Angriffe auf Antarona zu unternehmen?« Scharf sah er den König an, der nun seinerseits Sebastian durchdringend musterte.
»Soweit ich mich erinnern kann«, gab Bental zu bedenken, »haben die Angriffe erst begonnen, nachdem ihr beide mit erstaunlicher Tatkraft versucht habt, euch heimlich dem Schutz der Burg zu entziehen.«
»O nein, so war das aber nicht«, entgegnete Basti, »denn soweit ich mich erinnern kann, haben alle Angriffe auf Antarona innerhalb dieser Mauern stattgefunden! Dreht es nun nicht so hin, als würden wir den einzigen Schutz, eure Burg, meiden. Denn draußen, selbst unter dem Volk, war Antarona sicherer, als hier! Dort vermag sie sich zu verteidigen. Habt ihr die vielen Jahre vergessen, die sie schutzlos im Val Mentiér lebte, stets der Bedrohung ausgesetzt, von Torbuks Häschern geschnappt zu werden?« Sebastian wartete einen Kommentar Bentals nicht ab, sondern sprach weiter.
»Warum wohl, hat sie dort so lange überlebt, ohne eure Fürsorge und ohne den Schutz eurer Mauern? Ich will es euch sagen, gütige Hoheit: Weil sie ein Teil dieses Landes ist, weil sie eins werden kann mit dem Wald, mit jedem Baum, mit den Felsen der Berge, ja sogar mit dem Wasser. Es ist ihre Welt, dort draußen! Hier drinnen aber, findet sie sich nicht zurecht, hier bedarf sie eures Schutzes, den ihr eurer Tochter nicht zu gewähren vermögt!«
Einen Moment lang ließ er seine Worte auf den König wirken, dann konfrontierte er ihn mit seiner festen, unumstößlichen Absicht:
»Ich habe vor, die gesamte Küste Falméras nach Stellen auszukundschaften, an denen es Torbuk, oder den Oranuti möglich wäre, eine große Streitmacht zu landen. Und ich werde eine große Truppenübung hinsichtlich meiner Erkenntnisse vorbereiten, die dem Schutz dieser Insel dient. Ich werde also eine Weile unterwegs sein. Da ihr nicht in der Lage seid, Antarona, meine durch den Segen der Elsiren mit mir verbundene Frau zu schützen, werde ich sie mitnehmen! Auf gar keinen Fall werde ich sie allein in ihren Gemächern zurücklassen, seid euch dessen gewiss, Hoheit!«
Das saß! Der König schnappte nach Luft, unterließ es aber, seine Macht zu demonstrieren. Anscheinend war ihm klar geworden, dass er weder Sebastian noch Antarona wirksam in der Burg festhalten konnte. Selbst sein großes Aufgebot von Wachen, welche alle Türen der Treppentürme kontrollierten, hatten nicht zu verhindern geschafft, dass sie beide heimlich die Elsirentänze besuchten.
»Ihr meint also, meine Tochter allein beschützen zu können?« fragte Bental lauernd. Sebastian fand den versuchten Einwand lächerlich und stellte klar:
»Seid versichert, Hoheit, Antarona vermag sich durchaus selbst zu beschützen, wenn sie sich in ihrer gewohnten Umgebung aufhält! Ich selbst habe gesehen, wie sie mit einem ganzen Trupp von Torbuks wilden Horden fertig geworden war. Wie ein Blitz fuhr sie zwischen sie und veranstaltete unter ihnen ein heilloses, vernichtendes Blutbad!«
Der König zog ungläubig die Augenbrauen hoch und wusste nicht recht, ob er angesichts dieser Mär lächeln, oder seinen Unmut zum Ausdruck bringen sollte. Sebastian sah die Zweifel in seinen Augen und versicherte:
»Eure Tochter vermag so vortrefflich mit dem Schwert, sowie mit Bogen und Pfeilen umzugehen, dass sie einem erfahrenen Krieger in nichts nachsteht. Lasst euren besten Kämpfer gegen sie antreten und ich verbürge mich dafür, dass er ein schreckliches Erlebnis erfahren wird!« Bental schwieg und blickte nachdenklich drein.
Er war ein Herrscher, der gewohnt war, zu befehlen, dessen Wort Gesetz war, und der keinerlei Schwäche zeigte, wie aussichtslos eine Lage sich auch gestaltete. Doch ging es um seine Tochter, so schien er mit völliger Unsicherheit geschlagen. Vermutlich war es das Schuldgefühl, sie all die vielen Jahre ihrer Kindheit und Jugend ignoriert zu haben, das nun seine Entscheidungen lähmte.
Sebastian mochte dies nur recht sein. Er liebte Antarona, wie sie war, mit all den Facetten ihrer Unbändigkeit, Natürlichkeit und Wildheit, mit ihrer gleichzeitigen Sanftmütigkeit und Herzenswärme, die von einer Sekunde zur anderen umschlagen, und sie in eine gefährliche Tigerin verwandeln konnte.
Die Vorstellung, das behütete und beengte Dasein in ihren Gemächern würde aus ihr ein verkümmertes welkes Pflänzchen, eine verblühte Blume machen, ängstigte ihn. Antaronas Wesen zu ändern hieße, ihr das Leben aussaugen! Das würde er nicht zulassen!
Aber dass Bental sich so schnell von seinem Standpunkt überzeugen lassen wollte, machte Sebastian misstrauisch. In der Regel bedurfte es langer Dialoge, um ihn von einer Meinung zu überzeugen. Sollte das plötzlich anders sein, nur weil es um Antaronas ging?
Möglicherweise lag es daran, dass es ihm nicht gelang, zu seiner Tochter ein Vertrauensverhältnis zu schaffen, wie es zwischen Vater und Tochter sein sollte. Die Jahre der Vernachlässigung und Verleugnung standen einfach zwischen ihnen.
»Nun, ich mache euch für Die Sicherheit meiner Tochter verantwortlich«, schloss Bental diesen Teil der Unterredung.
Er hielt diese Aussage für überflüssig, denn bevor sie Falméra erreicht hatten, waren sie trotz aller Gefahren auch allein klar gekommen! Niemand, außer Hedaron, ihr Bruder Tark und Sebastian selbst hatte sich bis dahin um Antaronas Wohlergehen gesorgt.
War es nur die Angst, Torbuk könnte von der Existenz einer erstgeborenen Tochter des Königs erfahren, die Bental dazu bewog, plötzlich ein verstärktes Interesse an Antaronas Lebensweise zu zeigen? Sebastian würde es wohl nie wirklich erfahren.
Was immer auch des Königs Beweggrund sein mochte, für Sebastian stand fest, Antarona dorthin zu bringen, wo sie ohne Zwänge leben konnte, wie es ihrer Natur entsprach. Das hieß in erster Linie heraus aus der Burg! Gegenüber Bental ließ er dahingehend auch keinen Zweifel mehr aufkommen.
Die Belange der Heerlager waren dann rasch geklärt. Sebastian unterbreitete dem König Vorschläge, zur neuen Verteilung der einzelnen Truppenteile unter Berücksichtigung seiner neuesten, strategischen Erkenntnisse.
Diese musste Bental zunächst in endlosen Debatten mit seinem Rat, vor allem aber mit dem Kriegsrat Tieton, besprechen, bevor er eine Entscheidung fällte. Die Tatsache, dass Tieton nur darauf wartete, einen Vorschlag Areos abzulehnen, gab Antarona und ihm Gelegenheit zu einer längeren Auszeit und zu einer Reise an die Küste, nach Mehi-o-ratea.
     
  Wichtiger Hinweis: Die Texte des Autors Frank Adlung, insbesondere die des Romans "Das Geheimnis von Val Mentiér", sind durch notarielle Hinterlegung urheberrechtlich geschützt. Ein Herunterladen und Ausdrucken ist nur für den privaten Zweck des Lesens gestattet. Kommerzielle Nutzung, öffentlicher Vortrag, oder Vervielfältigung und Verfälschung des Inhalts, sowie öffentliche Verbreitung ohne Genehmigung des Autors sind untersagt und werden zur Anzeige gebracht.
 
 
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