Das Geheimnis von Val Mentiér
 
30. Kapitel
 
Ein heimlicher Pakt
 
ebastian stand im Saal, der Talris zu Ehren eingerichtet war und wartete vor der großen Flügeltür zum Thronsaal. Er zog das Schwert Tálinos aus der Scheide, die an seinem Waffenrockgürtel hing und hielt es ins Licht. Neugierig besah er es sich von allen Seiten. Zum zweiten Mal hielt er die berühmteste und wichtigste Waffe der Îval in den Händen, doch zum ersten Mal hatte er Gelegenheit, sie eingehender zu betrachten.
Knauf, Griff und Parierstange waren aus polierter, golden schimmernder Bronze gefertigt, und mit Mustern und Symbolen verziert, die Sebastian an die keltische Kultur erinnerten. Anfänglich hatte er geglaubt, reines Gold war das Material des Griffes. Doch die Vertiefungen, in denen sich Patina abgelagert hatte, verrieten das wahre Material.
Grüne Edelsteine waren in die Parierstange eingefasst und glänzten matt. Die Klinge hingegen besaß den gleichen bläulichen Schimmer, wie Nantakis und Basti fragte sich, ob auch Tálinos bei Mondschein eine Inschrift preis gab.
Insgesamt sah das Schwert des großen Sonnenkönigs aus, als sei es nur zur Zierde gedacht. Doch nachdem Sebastian ein par Hiebe und Paraden ausprobiert hatte, stellte er fest, dass es die selben Eigenschaften aufwies, die auch Nantakis zu etwas Besonderem machten, und durchaus den Belastungen in einem Gefecht gewachsen war.
Heimlich brannte Sebastian darauf, noch mehr über diese gehüteten Schwerter herauszufinden, doch das musste warten. Nur widerwillig schob er die geheimnisvolle Klinge in die Scheide zurück. Bentals Kammerdiener musste nicht unbedingt sehen, wie interessiert er an dieser Waffe war, die ihm als Areos wohl offiziell gehörte, die ihm aber als Fremden, welcher er tatsächlich war, nur zu besonderen Anlässen zu tragen gewährt wurde.
Gelangweilt trat Basti an die großen Fenster neben dem Erker, in dem eine Art Altar für Gott Talris errichtet worden war. Er blickte genau zum Wasserfall, der scheinbar stumm in die Tiefe rauschte. Noch ein gutes Stück weit darüber hatte er mit Antarona am Vormittag gestanden.
Sein nächster Blick fiel auf den geschmückten Altar Talris. Die mächtige Sonnenkachina, ein Mosaik aus Gold, Silber und Edelsteinen, ein wahres Kunstwerk, thronte als schweres Standbild darüber. Blumen, Früchte aus der Ernte sowie Kräuter und Waffen waren als Opfergaben auf den Tisch drapiert worden.
Sebastian war versucht, von den Früchten zu kosten, doch er beherrschte sich. In dieser Burg konnten selbst die Wände Augen und Ohren besitzen. Eine solche Verfehlung mochte sogar den König selbst in den Kerker bringen!
Von der Warterei genervt, stellte sich Basti wieder vor die schwere Tür, wippte auf den Zehenspitzen ungeduldig auf und ab und spielte mit dem Griff Tálinos. Warum dauerte das so lange? Was machte Hekthur so lange dort drinnen beim König? Er war hineingegangen, als Basti, in seinen besten Waffenrock gekleidet, seine Aufwartung machte und hatte ihm vorher eindringlich eingeschärft, den Saal Talris nicht zu verlassen, bis er selbst ihn holen würde.
Seit dem übte sich Sebastian, in der Rolle des Areos in Geduld, lauschte dem lauter werdenden Stimmengewirr, das vom Korridor hereindrang, zählte das Klappen und Knallen der Türen, das durch die ganze Burg zu hallen schien, und beobachtete die Sonne am milchigen Himmel, der sich mehr und mehr zuzog, als wollte er das Fest mit einem Unwetter überschatten.
Plötzlich öffnete sich ein Flügel der riesigen Tür, aber nicht Hekthur trat herein. Es war Bental der Erste, der König selbst, welcher den Raum betrat. Wie von Zauberhand schloss sich die Tür hinter ihm wieder mit einem hallenden Krachen.
Bental schritt zunächst, ohne auf Sebastian zu achten, an den Altar heran und begutachtete den Aufbau. Als er ihn wohl zufriedenstellend fand, drehte er sich um und unterzog Sebastian einer ebenso genauen Prüfung. Seine Augen musterten ihn von oben bis unten und bevor Sebastian einen Gruß aussprechen konnte, stellte Bental gereizt fest:
»Ihr tragt keinen Umhang. Wollt ihr die Güte haben, mir zu erklären, wo euer Prachtumhang ist?« Sebastian, der die überrumpelnde Art Bentals bereits kannte, ließ sich nicht einschüchtern.
»Ich weiß von keinem Prachtumhang, Hoheit, außerdem ist es sehr warm, um nicht zu sagen drückend und heiß, da muss ich nicht noch einen...«
»Ihr wisst, dass ich Wert auf das Protokoll lege«, unterbrach ihn Bental, »euer Kammerdiener mag euch mehr ein Freund sein, als Bediensteter, doch er hat eine Aufgabe. Erfüllt er sie nicht, so lasse ich ihn durch einen geeigneteren ersetzen!«
»Frethnal trifft keine Schuld, Herr«, verteidigte Sebastian seinen Freund, »es war meine Entscheidung, den Umhang nicht zu tragen, weil es sehr warm ist!«
Bental sah ihn durchdringend an und Basti wusste, dass er ihm nicht glaubte. Der König öffnete die Tür zum Thronsaal und rief nach Hekthur, der wie ein Geist augenblicklich erschien.
»Sucht Areos Prachtumhang und bringt ihn hierher! Sofort!« trug er ihm barsch auf. Dann warf er die Tür knallend ins Schloss und wandte sich wieder Sebastian zu.
»Ihr werdet neben mir, auf der linken Seite des Throns sitzen und mit mir die Gäste empfangen. Einige werden bereits in den Reihen sitzen, wenn wir eintreten. Andere, ausgesuchte Gäste, dazu gehört der Fürst Jamálin und seine Familie, werden uns durch den Protokollmeister angekündigt und vorgestellt. Danach nehmen sie ihre Plätze in den ersten Reihen ein. Sie sind unsere besonderen Gäste. Habt ihr das verstanden?«
»Es war mehr als deutlich«, bestätigte Sebastian. Doch irgendwie hatte er das Gefühl, dass dies noch nicht alles war. Er behielt recht. Bental räusperte sich laut und fuhr fort:
»Zu meiner Rechten wird die Tochter Fürst Jamálins sitzen. Und nun hört gut zu! Wie ihr es anstellt sei euch überlassen, doch ich erwarte, dass ihr euch von vorteilhaftestem und ehrfürchtigstem Benehmen ihr gegenüber leiten lasst, denn ihr werdet es sein, welcher Jamálins Tochter dazu auffordern wird, sich auf der rechten Seite des Throns niederzulassen!«
Sebastian glaubte nicht recht zu hören, denn soweit er von Elwha wusste, saß rechts neben dem König stets jene, welche sich mit seinem Sohn verbinden würde. Dieser Platz gehörte in jedem Fall Antarona! Es wäre der schlimmste Verrat an ihr, sollte er eine andere Frau auffordern, diesen Platz einzunehmen!
»Verzeiht, eure gütige Hoheit, aber das kann ich nicht tun! Ihr wisst, dass jener Platz so oder so Antaronas Platz ist, nach Geburtsrecht, und auch...«
»Ja, das weiß ich«, gab Bental gereizt zu, »und erzählt ihr mir nichts von Geburtsrecht! So, wie es aussieht, wäre es möglicherweise Antaronas Platz. Sie ist meine Tochter, sie ist, wie ihr behauptet, durch die Elsiren mit euch verbunden. Aber das Volk, Torbuks heimliche Beobachter, meine Berater und wer weiß, wer sonst noch, sie alle wissen dies nicht, und sie dürfen es unter gar keinen Umständen erfahren! Wüssten sie davon, so wäre das Königreich für die Îval verloren!«
Bental verschränkte wie üblich in solch verzwickter Lage seine Hände auf dem Rücken, trat ans Fenster, und tat, als beobachtete er den Wasserfall. Dann drehte er sich um und sagte mit etwas versöhnlicherem Ton:
»Wir müssen alle Beobachter glauben machen, dass mein Sohn Areos, der ja durch euch aus dem Reich der Toten zurückgekehrt ist, ansinnt, sich traditionsgemäß und nach den Geboten der Götter, mit einer Prinzessin der Oranuti zu verbinden.«
»Aber was soll aus Antarona werden, Hoheit, mal ganz abgesehen davon, dass ich die Verbindung mit ihr trotz allem gespielten Schein niemals aufgeben werde!« fragte Basti besorgt und vorwurfsvoll. Bental breitete fast hilflos seine Arme aus und antwortete verzweifelt:
»Ja, glaubt ihr vielleicht, ich verleugne meine eigene Tochter zum Vergnügen? Meint ihr, ich mache das Volk gerne glauben, dass sie nur eure Sklavin ist, eine Ve-ni-tries zu eurer Zerstreuung?« Sebastian machte einen Schritt auf Bental zu und drohte:
»Ihr seid der König, fürwahr, doch nennt Antarona niemals wieder eine Ve-ni-tries, sonst werdet ihr es bereuen!« Bental blickte ihn halb mitleidig, halb belustigt an als er sagte:
»Lasst das, ihr macht euch lächerlich! Vergesst nicht, dass ihr zu einem nicht unerheblichen Teil mit schuldig an dieser misslichen Lage seid! Hättet ihr nicht unüberlegt das Volk begeistert, sondern euch bei eurem Erscheinen auf der Burg in Besonnenheit geübt, so hätten wir gemeinsam nach einer anderen Möglichkeit suchen können!«
»Oder ihr hättet zumindest mich sofort in den Kerker werfen lassen, nicht wahr?« konterte Sebastian wütend. Bental sah ihn eiskalt an und sagte:
»Was ich immer noch tun könnte, das solltet ihr niemals vergessen!« Sebastian erhob in erregter Geste seine Arme gen Himmel und antwortete:
»Oh, wie könnte ich das jemals vergessen? Ihr ruft es mir ja bei jeder Gelegenheit in Erinnerung!« beschwerte sich Basti beleidigt.
»Offenbar ist es auch nötig«, verteidigte sich der König, »denn ihr scheint nicht begreifen zu wollen, dass wir diese Zentaren nur miteinander überstehen können. Wollen wir die nötige Stärke und Festigkeit im Volk erhalten, die wir im Kampf gegen Torbuk brauchen, so wird uns nichts anderes übrig bleiben, als uns gegenseitig zu helfen!« stellte Bental fest.
»Jedoch nicht auf Kosten Antaronas, und schon gar nicht um den Preis unserer Liebe!« hielt Sebastian dagegen. Seine Hoheit nickte gewichtig, sah verloren aus dem Fenster und gab seufzend zu:
»Das ist mir inzwischen auch klar geworden! Aber unzählige Augen sind auf uns, sind stets auf den Thron gerichtet! Daher müssen wir allen Beobachtern glauben machen, dass ihr zumindest beabsichtigt, euch der Tradition und den Geboten der Götter zu fügen. Wenigstens zum Schein, begreift ihr das endlich?« Allmählich wurde Bental ungeduldig. Erklärend fuhr er fort:
»Es darf niemand Zweifel an eurer Absicht hegen! Je überzeugender ihr also eure Rolle als Areos wahrnehmt, desto weniger bin ich gezwungen, euch und meine Tochter zu überwachen und in eurer Freiheit einzuengen!«
»Und was stellt ihr euch vor, wie wir das Spiel des Scheins spielen sollen?« fragte Sebastian skeptisch. Denn er wollte sich nicht in Verpflichtungen verstricken, die ihm Antarona aus den Armen riss, und aus denen er irgendwann nicht mehr heraus kam.
»Zuerst einmal«, legte Bental fest, »werdet ihr während des Festes Jamálins Tochter Hoffnungen machen. Ich muss den Fürsten für eine Weile bei guter Laune halten, jedenfalls so lange die Verhandlungen über die Wirtschaftswege andauern. Solange er glaubt, Areos von Falméra interessiert sich für seine Tochter, kann ich ihm Eingeständnisse abringen und mögliche Forderungen ausschlagen.«
»Und ich soll dabei den Lockvogel spielen, und dafür womöglich noch meine Verbindung mit Antarona aufs Spiel setzen?« beschwerte sich Basti. Der König hob unschuldig die Schultern.
»Ihr habt euch das selbst auferlegt, als ihr dem Volk glauben machtet, Areos ist aus dem Reich der Toten zurückgekehrt! Nun beklagt euch also nicht!«
Mittlerweile entstand Unruhe hinter der geschlossenen Tür zum Thronsaal. Sebastian hörte gedämpft viele Stimmen und Geräusche, als würde der ganze Saal umgeräumt. Plötzlich öffnete sich die Tür einen Spalt breit und Hekthur schob sich herein.
Über dem Arm trug er einen roten, mit Gold abgesetzten Umhang, den Sebastian noch nie zuvor gesehen hatte, und überreichte ihn Bental. Der gab ihn an Basti weiter.
»Werft euch den Umhang um, ich möchte einen Sohn an meiner Seite haben, keinen Wegelagerer!« Dann warteten sie. Bental sah aus dem Fenster dem fallenden Wasser zu, Sebastian starrte die Tür an, durch die sie in Kürze als König und Prinz von Falméra und Volossoda schreiten würden und legte sich den Prachtumhang an.
Dann war es soweit. Irgendetwas schlug dreimal gegen die gigantische Tür, für Bental offenbar das ausgemachte Zeichen. Er stellte sich neben Basti vor die Tür, schob seinen imaginären Sohn in die richtige Position und schlug mit dem Knauf seines Schwertes einmal gegen das polierte Holz.
Augenblicklich schwangen die mächtigen Flügel auseinander. Der riesige Saal war vom Rauch der vielen Fackeln leicht eingenebelt und das Licht fiel in sichtbaren Strahlen durch die Fenster herein. Prächtig gekleidete Schildwachen mit schweren Umhängen und geschmückten Lanzen säumten den Mittelgang und schirmten den Weg zum Thron vor den Gästen ab.
Auf ein Zeichen des Protokollmeisters hoben die Wachen die Lanzen und ließen sie gleichzeitig mit einem markerschütternden Hall wieder auf den Boden knallen.
»Seine gütige Hoheit Bental der Erste, König von Falméra und Volossoda, und Prinz Areos von Falméra!« kündigte die laute Stimme des Protokolliers an. Das Echo der Stimme war noch nicht verhallt, als mehrere Fanfaren eine schnelle Abfolge von nicht enden wollenden Tönen durch den Saal schmetterten.
Während dieser Klänge schritten Bental und Sebastian den Gang entlang, Bental voran, Sebastian leicht versetzt dahinter. Wo sie entlang gingen entrollten sich von oben, von den Emporen herab, die Fahnen der Stände von Falméra.
Als sie sich dem Thron näherten, erhoben sich Elwha und Tieton in der ersten Bankreihe von ihren Sitzen und mit ihnen die wichtigsten Berater und Heerlagerführer. Sie stellten sich im Spalier links und rechts des Gangs auf und warteten, bis König und Prinz an ihnen vorüber geschritten waren.
Bental und Sebastian drehten sich vor den drei Stufen zum Thron dem Saal zu, verbeugten sich leicht als Respektbezeugung vor den Vertretern des Volkes, stiegen dann die weißen Stufen hinauf und setzten sich auf die beiden mittleren von vier Thronsesseln, die mehr unbequemen Stühle entsprachen.
Es waren weit ausladende Stühle, überladen mit feinsten Schnitzereien. Die Rückenlehnen ragten zweieinhalb Meter in die Höhe. Bentals Thronsitz war mit ultramarinem Stoff bespannt. Seine Lehne überragte die anderen drei um Kopfeshöhe und gipfelte in einer vergoldeten Krone. Der Sitz neben ihm, mit einer kleineren, einfacheren Krone verziert, leuchtete in rotem Stoff. Dieser Sitz, der Königin des Landes vorbehalten, war leer.
Sebastians Sitz bespannte ein tannengrüner Stoff und der noch freie Platz neben ihm war purpurfarben ausgeschlagen. Die Armlehnen der Thronsitze waren ebenfalls mit überladenem Schnitzwerk bedacht, so dass sie ihren eigentlichen Zweck nicht mehr erfüllen konnten.
Vergeblich versuchte Sebastian seine Arme aufzulegen und eine bequeme Sitzposition zu erlangen. Schließlich legte er die Hände nur angewinkelt auf die Löwenköpfe, die am Ende der Armlehnen in den Saal blickten.
Der Thronsaal wirkte um einiges geräumiger, als Basti ihn in Erinnerung hatte. Die vielen Menschen, die dicht gedrängt in den Reihen saßen, ließen den ganzen Raum monumentaler erscheinen. Nur die vorderen Reihen waren nicht voll besetzt. Sie waren den besonderen Gästen vorbehalten.
Während der Protokollmeister die Tür zum Saal Talris schloss, ließ Basti seinen Blick über die Reihen mit den Volksvertretern und geladenen Gästen schweifen. Tausende von Augenpaaren blickten erwartungsvoll zu ihm auf. Nur vereinzelt hörte man ein Wispern, sonst war es totenstill.
Die Emporen waren ebenfalls mit Leuten besetzt, die hinter dem üppigen Blumenschmuck hinweg auf den Thron herab sahen. Bunte Fahnen hingen unter den dazu gehörigen Schilden, die fest an der Brüstung angebracht waren und für die Stände, Städte sowie die Heerlager des Reiches standen.
Der Protokollmeister schritt nun feierlich den Quergang entlang und öffnete die Seitentür zum Ostflügel, wo die Gästezimmer lagen. Wie durch unsichtbare Fäden gesteuert, hoben die Schildwachen ihre Lanzen und ließen sie auf ein Zeichen hin wieder auf den Boden knallen.
»Der Rat der Fürsten von Oranutu!« verkündete die laute Stimme und einen Augenblick später schritten fünf prunkvoll gekleidete, alte Männer mit gepflegten Bärten den Gang entlang. Vor dem Thron blieben sie stehen und verbeugten sich tief.
»Der Rat von Oranutu entbietet ihrer gütigen Hoheiten die Grüße des Friedens, im Namen des Volkes von Oranutu!« sprach ihr Anführer in feierlichem Ton.
»Die Vertreter des Volkes der Oranuti sind uns zum Fest Talris willkommen«, antwortete Bental ebenso überschwänglich.
Nun trat der zweite Vertreter Oranutus vor, hielt eine große Pergamentrolle in den Händen, die mit bunten Bändern zusammengebunden war. Der Protokollmeister nahm sie ihm ab und reichte sie dem König hinauf.
»Das Volk von Oranutu bittet hiermit um Erweiterung und Ausbau der Handelsbeziehungen zwischen unseren Völkern sowie eine bessere Nutzung der Handelswege.« erklärte der Abgeordnete.
Sebastian wusste, dass dies längst ein Thema im Rat gewesen war. Unfreiwillig war er vor kurzem Zeuge der Debatte zwischen den Vertretern der Oranuti und Bental geworden. Ob eine Entscheidung gefallen war, wusste er nicht. Doch diese Schriftrolle schien die offizielle Forderung zu enthalten, die weniger als Bitte zu verstehen war.
»Der Rat der Îval wird darüber beraten. Wir werden später beim Fest Gelegenheit haben, darüber zu sprechen«, versprach der König und gab die Abgeordneten mit einer Geste seiner Hand frei, so dass sie sich in die Bänke setzen durften.
Erneut hieben die Lanzen mit einem ohrenbetäubenden Knall auf den Boden. Als das Echo im Saal kaum verhallt war, kündigte die Stimme an:
»Fürst Osárul, Herr über die Provinzen der wandernden Sonne von Oranutu mit Familie und Gefolge!« Sogleich schritt ein dicker Mann den Gang herauf, den Sebastian schon von weitem an seiner prächtigen Kleidung erkannte.
Es war jener Oranuti, der es gewagt hatte, Antarona herauszufordern, und an dessen Kehle noch vor ein par Zentaren Sebastians Schwertspitze schwebte. Seine Söhne, die versucht hatten, Antarona in den Rücken zu fallen, gingen etwas versetzt hinter ihm. Ihnen folgten die Frauen, welche die drei bereits bei dem Zwischenfall begleitet hatten.
Zögernd kam der Mann durch den Spalier der Schildwachen, und Sebastian sah ihm an, wie unangenehm es ihm war, jenem unterwürfig gegenüber zu treten, der ihn noch vor kurzer Zeit nur allzu deutlich in seine Schranken gewiesen hatte.
Er blickte beschämt zu Boden, als er an den Stufen zum Thron stehen blieb, und Bental zog seine Augenbrauen hoch, verwundert über solches Verhalten, das eines Oranutis völlig unüblich war. Der König konnte freilich nicht wissen, was unterhalb der Burgmauern vorgefallen war.
Beschämt wich der Mann Sebastians Blicken aus und über gab dem Protokollmeister eine Rolle. Das Schriftstück wurde Bental übergeben, der den Oranuti fragend ansah.
»Es geht um den Abbau von Holz in euren Wäldern, gütige Hoheit«, stammelte der eingeschüchterte Mann, »zum Bau weiterer Wasserwagen für den Handel zwischen unseren Völkern, Herr!« erklärte er demütig. Der König wies ihm mit einer Handbewegung seine Plätze in den Sitzreihen zu und antwortete:
»Es wird sich eine Zentare finden, in der wir noch darüber sprechen werden!« Der Oranuti schlich sich mit seiner Familie auf die zugewiesenen Plätze. Abermals erklangen die Lanzen und des Protokollmeisters Ruf ertönte:
»Fürst Jamálin, abgeordneter der Oranuti von Falméra, mit Frau Zecilia und Tochter Raspina!« Gemächlich kam ein kräftiger, hochgewachsener Mann herein, der von zwei Frauen begleitet wurde. Sebastian stockte der Atem.
Das Mädchen, die seine Tochter sein musste, und ein teures, aufwendig besticktes Elsirenkleid trug, war keine andere, als jene Tänzerin, die ihn damals, als er von Antarona getrennt war, verführen wollte. Die kleine, von Mestas angeheiterte Raspina vom Elsirenfeuer, deren Reizen er beinahe verfallen war! Fürst Jamálin reichte dem Protokollier ebenfalls eine Rolle und sprach, indem er jedoch nicht Bental, sondern Sebastian anblickte:
»Eure gütige Hoheit, dies ist meine Tochter Raspina, welche sich hochglücklich schätzen würde, euch kennen lernen zu dürfen«, stellte er das Mädchen vor. Dann sah er zu Bental und fügte hinzu:
»Die Schrift indes ist jene Bitte der Überlassung des einsamen Tals jenseits der Hochebene zum Zwecke der Besiedelung, wie bereits mit euch beraten sowie ein Vorschlag zur Erweiterung der Handelswege nach Falméra.« Bental antwortete ähnlich, wie bei den anderen Bittstellern, sah dabei aber Sebastian mit aufforderndem Blick an.
Noch ganz benommen von der Überraschung, Raspina plötzlich als Tochter Fürst Jamálins vor sich zu sehen, brauchte er einen Augenblick, um sich zu fangen. Natürlich hatte er die Weisung Bentals nicht vergessen, sich um die Tochter des Fürsten zu kümmern. Doch nun bekam die Situation noch eine ganz andere Wendung. Trotzdem musste er tun, was der König von ihm verlangt hatte.
Etwas unsicher stand auf, als jener, den das Volk und alle Anwesenden für den Areos von Falméra hielten, und stieg die drei Stufen des Throns hinab.
»Fürst Jamálin«, wandte sich Sebastian an den großen Gast, »es ist eine Ehre für mich, euch und eure Tochter in der Burg Falméras zu begrüßen. Ich würde mich ebenfalls glücklich schätzen, wenn eure Tochter für die Dauer der Feier den Platz an meiner Seite einnimmt, und wenn ich sie, euer Wohlwollen vorausgesetzt, zum Tanz führen darf«.
Dabei blickte er Raspina in die Augen, vermisste aber das hoffnungsvolle Strahlen, mit dem sie ihn bei ihrem ersten Treffen so bezaubert hatte. Als sie sich das zweite Mal eher zufällig beim Elsirentanz trafen, schien Raspina einem Mann zugetan, und begegnete ihm offen, freundschaftlich, ohne Ablehnung, aber auch ohne Zuneigung. An diesem Abend aber, war sich Sebastian keinesfalls mehr sicher, wie das Mädchen zu ihm stand. Sie blickte bescheiden zu Boden.
Die Oranuti hatten ganz eigene Verhaltensregeln, die teilweise in ihrem Glauben begründet lagen. So ziemte es sich für eine unverbundene Frau nicht, einem Mann ohne die Erlaubnis ihres Vaters, oder eines anderen männlichen Familienmitglieds, direkt und offen ins Gesicht zu sehen.
Allerdings schickte es sich auch für einen männlichen Bewerber nicht, sie direkt anzublicken. Der Oranuti- Fürst schien Areos dieses Fehlverhalten nur deshalb nachzusehen, weil der Werber ein Îval war, und er seine eigenen Pläne mit seiner Tochter verfolgte.
»Ich gebe meine Tochter im Vertrauen auf den Verbund unserer Völker und euch zu Ehren in eure Hände. Führt sie nach der Sitte der Îval zum Tanz. Sie wird euch folgen und euch nicht enttäuschen!« sagte der Fürst feierlich und für alle im Saal hörbar.
Sebastian aber kam es eher so vor, als wollte Fürst Jamálin sein einziges Kind für seinen politischen Erfolg verschachern. Anscheinend glaubte er, König Bental und seinem Sohn Areos mit der Anmut seiner Tochter Sand in die Augen zu streuen, und sie für seine Zwecke gefügig machen zu können.
Hätte Basti seine Option in Bezug auf Antarona vor Bental nicht mit allem Mut deutlich gemacht und verteidigt, so wäre es dem Fürsten womöglich gelungen, den König einzuwickeln. So aber war beiden klar, dass sie Fürst Jamálin nur ein Interesse Areos an seiner Tochter vorspielen würden.
Allein Raspinas wegen machte sich Sebastian Sorgen. Wenn ihr Herz wieder ungebunden war, und sie wider Erwarten eine Zuneigung zu Areos entwickelte, wurde die Sache schwierig. Sebastian brachte es kein zweites Mal fertig, ihre Gefühle zu wecken, um sie dann wiederum abzuweisen.
Doch die Politik verlangte, dass er ihr zumindest nach Außen, die Hoffnung auf den Thron in Aussicht stellte. Und zur Überraschung aller Anwesenden im Saal sprach Sebastian:
»Ich werde euer Vertrauen nicht enttäuschen.« Damit nahm er Raspinas Hand und führte sie auf den Platz an seiner Seite. Ein Versprechen zum Tanz war eine Sache. Doch nun führte Areos eine Prinzessin der Oranuti auf den Thron Falméras.
Zunächst herrschte ein angespanntes, erwartungsvolles Schweigen. Der ganze Saal schien den Atem anzuhalten und beobachtete, wie Areos das schöne Mädchen vorsichtig die Stufen hinaufführte. Raspina war verführerisch schön, eine wahre Prinzessin ihres Volkes, obwohl sie, wie Antarona, ein Mischblut war.
Aber gerade mit ihrem dunklen Hautteint, vereint mit ihrer für die Îval- Frauen so typisch schlanken Gestalt, zog sie die Menschen im Saal in ihren Bann. Das Schauspiel war perfekt. Areos holte sich die schönste aller Oranuti- Mädchen, dazu noch eine Prinzessin auf den Thron!
Irgendeiner, ein Begeisterter, oder nur einer, der dem König huldigen wollte, um sich in Erinnerung zu rufen, brach den Bann der Stille. Das laute Hurraa, hoch dem Areos hallte durch den Saal, brach sich kaum an den Säulen und kam als Echo zurück. Sofort fielen andere mit ein und es entstand ein Jubel, der nicht enden wollte. All dies kam bereits der hochoffiziellen Verbindung zwischen der Oranuti- Prinzessin und dem künftigen Herrscher über Falméra und Volossoda gleich.
Sebastian aber dachte an Antarona. Der ganze Jubel, die überschwängliche Begeisterung, alles drang wie durch ein Schleier in seine Sinne, wie durch unsichtbare Nebel, die Antarona heraufzubeschwören schien. Sebastians Herz zog sich zusammen. Antarona saß in ihren Gemächern eingesperrt. Zweifellos hörte sie den Jubel.
Sie war nicht so einfältig, als dass sie nicht ahnen würde, wem diese Begeisterung galt. Sie würde aber auch wissen, dass nicht Sebastians Auftritt allein solche Ovationen auslösen konnte. Sebastian stellte sie sich vor. Zusammengekauert im Dunkel, tieftraurig und verzweifelt unter einem der großen Fenster des Korridors, weinend, zitternd, allein.
Warum musste er ihr das antun? Warum flohen sie nicht in die Wälder? Die riesigen, waldbedeckten Weiten, über die sie am Mittag geblickt hatten, sie würden sie verschlucken, umhüllen, beschützen. Sie vermochten sie zu verbergen, ihnen die Freiheit zu geben, ihre Liebe zu leben!
Doch Sebastian ahnte, dass Antarona selbst nicht dazu bereit war. Ihr ging es um die Freiheit der Îval! Lieber litt sie selbst unendliche Herzensqualen, wie Tausende von Messerstichen, die sie innerlich zerrissen, als dass sie um ihretwillen mit Ba - shtie in eine Zweisamkeit floh, und ihr Volk einem unheilvollen Schicksal überließ!
Sie war die wahre Prinzessin der Îval! Keine andere Frau, und war sie noch so schön, vermochte an das heran zu reichen, was Antarona für ihn verkörperte. Sie war für Sebastian mehr, als nur ein braves Mädchen, das er umsorgen, behüten und lieben konnte.
Antarona war ihm sanftmütige Liebe, wilde, unbändige Leidenschaft, gnadenlose Kampfgefährtin, kritische, kluge Beraterin, sensible Schönheit, und nicht zuletzt Mutter seiner Tochter, auch wenn es noch viele Zentaren ihr süßes Geheimnis bleiben würde.
So schlecht, wie in diesem Augenblick, hatte sich Sebastian lange nicht gefühlt. Was er hier tun musste, kam ihm wie ein Verrat an Antarona vor. Und während ihn das Volk, die Gäste, und die hohen Persönlichkeiten Falméras umjubelten, hob er nur rein mechanisch Raspina auf den hohen Sessel des Throns, was wieder neuen Beifall auslöste.
Fürst Jamálin und seine Frau hatten inzwischen auf der ersten Bank Platz genommen und sahen verzückt zu ihnen herauf. Offenbar hatte der Fürst zwar gehofft, doch nicht erwartet, dass seine Tochter noch an diesem Abend auf dem Thron von Falméra sitzen würde, was einem Versprechen zu einer Verbindung so gut wie gleich kam.
Bental schien diese Entwicklung ebenfalls zu gefallen. Er nickte Raspina wohlwollend, fast väterlich zu, und hätte er nicht vorher Sebastian in seine Pläne eingeweiht, so hätte Basti nun annehmen müssen, um eine Zwangsheirat mit Raspina nicht mehr herum zu kommen.
Raspina selbst aber schien, wie Sebastian, mit den Gedanken weit fort zu sein. Aus der Entfernung und für die tausend Augen im Saal waren sie das perfekte Traumpaar. Doch Sebastian sah die Augen des Mädchens, das nun an seiner Seite auf dem Thron Falméras saß und den Blick scheu zu Boden richtete. Er verlor sich aber im Nirgendwo. Es waren nicht die Augen eines verliebten, vor Aufregung und fiebernder Hoffnung strahlenden Mädchens, das sein Herz in die Hände seines Traumprinzen legte.
Aus Raspinas Blicken sprach unerfüllte Sehnsucht, verborgene Trauer, Hoffnungslosigkeit, das Abbild eines unglücklichen Herzens. Aber nur Sebastian konnte es erkennen. Alle anderen sahen eine wunderschöne Prinzessin, die einer wunderbaren Mär gleich, alsbald eine Königin werden würde.
Wieder wanderten Sebastians Gedanken zu Antarona. Er wünschte sich, der wahre Areos würde wie durch ein Wunder tatsächlich aus dem Reich der Toten auferstehen. Er würde Raspina zur Frau nehmen, und alle wären zufrieden.
Antarona und Sebastian würden ihm helfen, für ihn kämpfen, bis das Volk Val Mentiérs von der Tyrannei des Torbuk befreit war. Danach, im Frieden, wäre ihnen das Leben vergönnt, das sie sich so sehr wünschten. Ein Leben, in dem sie ihrem Töchterchen ein Zuhause schenken konnten, in dem sie sich vor aller Welt ihre Liebe gestehen, und als Paar leben durften!
Aber so einfach war es nicht. Alles schien so ausweglos kompliziert. Er, Sebastian musste Areos sein, damit Torbuk keinen rechtsmäßigen Anspruch auf den Thron erheben konnte und Antarona sollte seine Schwester sein, was jedoch niemand erfahren durfte. Sie würden erst wirklich frei sein, wenn Torbuk besiegt war. Solange würde ihre Liebe ein Geheimnis zwischen ihren Herzen bleiben...
Die Lanzen der Schildwachen ließen erneut die Säulen des Saals erzittern. Der nächste Gast erschien mit seiner Bittrolle. Wie viele der besonderen Gäste noch vor den Thron traten, wurde Sebastian nicht mehr bewusst.
Er war gedanklich damit beschäftigt, wie es wohl Antarona ging, und versuchte gleichzeitig zu ergründen, wie Raspina zu ihm stand. Verliebte sich das Mädchen erneut in den Thronfolger von Falméra und Volossoda, so befand er sich in einer moralischen Zwickmühle, die seinem schlimmsten Alptraum noch in den Schatten stellen würde!
Irgendwann ließen die Fanfaren die Wände erzittern. Der Protokollmeister öffnete die schwere Flügeltür zum Saal Talris. Der Altar zu ehren des Sonnegottes war von brennenden Fackeln erleuchtet. Ehrfürchtig standen die Menschen im Thronsaal auf und drehten sich um, so dass sie den Altar anblickten.
Auch Bental stand auf und Sebastian tat es ihm nach. Er reichte Raspina die Hand und sie glitt, auf seinen Arm gestützt, elegant von ihrem Sessel.
In diesem Moment erschien Elwha im Seitengang und schritt würdevoll den Gang entlang, durch das Portal und verbeugte sich zuerst vor dem geschmückten Altar, dann vor dem Thron. Er hielt eine große Schriftrolle in der Hand.
Sebastian hatte das Protokoll des Fest Talris in der Bibliothek nachgelesen, und wusste, was nun kommen sollte. Elwha brachte den Göttern seinerseits ein obligatorisches Opfer in Form eines Kräuterbüschels dar, drehte sich dann den Menschen im Saal zu und entrollte die Schrift.
Dann verlas er feierlich die Entstehungsgeschichte des Landes, des Volkes der Îval, des Throns der Götter sowie die für alle Zentaren weisende Mär, dass Gott Talris dem Thronerben der Îval eine Prinzessin der Oranuti durch das Feuer des Himmels sandte, um das Volk mit frischem Blut rein zu halten.
Elwha predigte das Gebot der Götter, an das der Thronerbe von Falméra gebunden war, seine Prinzessin von Oranutu symbolisch durch das Feuer der Elsiren, durch das reine Feuer der Götterwesen zu empfangen. Nur eine so gereinigte Frau war würdig, den Thron der Îval zu besteigen.
Zwischendurch pries Elwha alle Götter, die Stützen des Himmels, welche Talris trugen. Er berichtete aus den alten Rollen von den Hallen von Talris und ihren Inschriften, den Geboten aller Götter, die sie den Îval aufgetragen hatten, um in Frieden und Einklang mit ihres Gleichen zu leben.
Dann nahmen einige Fackelträger im Gang Aufstellung. Anschließend kamen fast unbekleidete Tänzerinnen wie luftige Schmetterlinge hereingeflattert. Es waren junge, ausgesuchte Îval- Mädchen. Sie trugen nichts weiter, als einen dünnen Hüftschurz, der Sebastian an den knappen Lederschurz Antaronas erinnerte.
Er war das kaum verhüllende Kleidungsstück aller jungen Îval- Mädchen, das Symbol der unschuldigen, unberührten Oranuti- Braut, welche sich dem Thronfolger der Îval als Geschenk der Götter hingab. Die Mädchen wirbelten durch den Spalier der Fackelträger, sprangen auf und nieder und gebärdeten sich, als fielen sie aus großer Höhe auf die Erde.
Endlich warfen sie sich vor Elwha und dem Altar auf den Boden, zeigten ungeniert ihre Schönheit und Reinheit symbolisch mit ihrer makellosen, nackten Haut, und schienen keine Scheu zu haben, sich so zu präsentieren. Kurz darauf traten die alten Könige der Îval, symbolisch von jungen Männern dargestellt, in den Saal. Sie schritten in Richtung Altar, blieben jedoch vor den Fackelträger stehen und warteten ungeduldig.
Nun sprach Elwha symbolisch den Segen der Elsiren. Sogleich erhoben sich die Mädchen, sprangen elegant auf die Füße und begannen erneut zu tanzen. Allerdings nahm der tanz mehr und mehr erotische Züge an. Die Mädchen spielten im Tanz mit ihren Reizen und boten sich regelrecht sehnsuchtsvollen Blicken an.
Dann, auf ein Zeichen Elwhas, sprangen sie über ein unsichtbares Hindernis, das zwischen den Fackelträgern zu bestehen schien. Die jungen Männer, die auf der imaginären anderen Seite warteten, fingen sie mit sicherem Griff auf und wirbelten sie im Tanz herum, bis Elwha seinen Stab mit lautem Knall auf den Boden hieb.
Unter dem lautem Beifall des Saals warfen nun die Jünglinge ihre Mädchen sanft zu Boden. In ekstatischen Bewegungen wanden sich die gespielten Oranuti- Bräute unter den jungen Männern, die sich über ihren unverhüllten Körpern abstützten und mit eindeutigen Bewegungen den Geschlechtsakt simulierten.
Der Saal tobte vor Begeisterung. Die Verbindung der Herzen zwischen dem Thronfolger der Îval und seiner Oranuti- Prinzessin war, zumindest symbolisch betrachtet, vollzogen!
Sebastian sandte ein inbrünstiges Stoßgebet zu jenen Göttern, sie mochten gnädigst verhindern, dass von ihm und Raspina das gleiche Schauspiel erwartet wurde. Das würde sich wohl draußen auf dem Burghof am großen Elsirenfeuer vor aller Augen vollziehen.
Auch Antarona würde vom Fenster aus zusehen. Ein solcher Anblick musste ihr einen Stich ins Herz versetzen, der vielleicht tiefer ging, als sie verkraften konnte. Sebastian spürte, was sie empfinden würde. Sie fühlten wie ein Herz!
Als die Zeremonie vorüber war, die Tänzerinnen und Tänzer wieder in der Seitentür des Saals verschwunden waren, hob Elwha noch einmal seine Stimme an. Er sprach nun vom Geschenk der Götterwesen an die vier alten Könige der Menschenwesen Arkadon Nantakis, Trámon Tálinos, Issny Vaventis und Reothor Semparos, die alle vier von Gott Talris ein Geschenk erhielten, um die Menschenwesen zu beschützen.
Die vier magischen Schwerter, von denen Antarona eines besaß, und eines genau in diesem Augenblick an Sebastians Waffenrock hing: Tálinos! Es war das einzige, dem Volk als noch existierend bekannte Schwert. Die drei anderen galten als verschollen. Der Sage nach hatten sie die Götter wieder zu sich genommen, nachdem sich die alten Könige verfeindet hatten.
Niemand, nicht einmal der König, ahnte, was Sebastian wusste. Es existierte noch ein zweites, der alten magischen Schwerter der Götter. Nantakis, Antaronas Schwert! Und es war besser, wenn niemand davon erfuhr.
Nun war es an Areos, in Szene zu treten. Er kannte den Ablauf des Protokolls, und wusste, dass nun seinem Schwert, Tálinos, der alljährliche Segen gegeben wurde. Damit wurde symbolisch die Macht dieser göttlichen Waffe erneuert.
Sebastian wusste, dass dies unnötig war. Die Schwerter mit dem bläulichen Schimmer verloren ihre unterstützende Kraft nicht einfach, Nantakis hatte es bewiesen! Doch er hütete sich, seine Erkenntnis verlauten zu lassen. Manches Wissen war als Geheimnis gut aufgehoben!
Auf das Zeichen Elwhas hin nahm Basti Raspinas Hand, schritt mit ihr in feierlicher Würde den Thron hinab, den Gang entlang und trat vor den Altar Talris. Dort zog er das blanke Schwert aus der verzierten Scheide und legte es auf den Altartisch zu den reichhaltigen Gaben. Anschließend schritt er mit Raspina zum Thron zurück.
Elwha sprach irgendwelche Gebete und Beschwörungen für die vier Elemente Feuer, Erde, Luft und Wasser. Dabei blies er Rauch auf die Schwertschneide, als Symbol für die Luft, er goss Wasser darüber, und bestreute sie mit Erde. Zuletzt hielt er das Schwert kurz in die Flamme, die in einer Schale loderte.
Schließlich trug er es zum Thron und zu Sebastian zurück, als symbolisches Geschenk der Götter an die Menschenwesen. Unter dem Beifall und den Hochrufen der Menschen im Saal, schob Basti die Waffe unter den argwöhnischen Augen Bentals wieder in die Scheide zurück.
Endlich erhob sich der König von seinem Thronsessel, gab Sebastian ein Zeichen, ihm zu folgen, und ging mit festlicher Würde dem Ausgang des Saals zu. Die Fanfaren schmetterten eine widerhallende Abfolge von Tönen, die Sebastian nur als Lärm empfinden konnte.
Basti nahm Raspinas Hand und führte das ihm anvertraute Mädchen in gebührendem Abstand hinter Bental her. Hinter Ihnen reihten sich die anderen Gäste ein, sobald sie an ihnen vorüber geschritten waren. Das Ganze erinnerte Sebastian an eine Hochzeit, bei der er selbst die Hauptrolle spielte. Ein leichtes Frösteln lief ihm bei diesem Gedanken über den Rücken.
Der andächtige Teil des Festes war mit der Zeremonie abgeschlossen. Nun folgte der eigentlich vergnüglichere Teil. Aber gerade diesem blickte Basti mit gemischten Gefühlen, um nicht zu sagen mit Unbehagen entgegen.
Welche Erwartungen Fürst Jamálin an ihn stellte, war ziemlich klar. Doch was würde Bental letztlich von ihm fordern? Verlangte er schließlich doch noch, dass sich Areos mit Raspina vor den Göttern verband? Wog plötzlich das Interesse des Volkes, der Politik mehr, als sein eigenes?
Ohne Eile gingen sie den Korridor zu den Festsälen im Ostflügel entlang. Sebastian führte Raspinas am Arm, wagte aber nicht, sie offen anzusehen. Sie war letztlich, ebenso, wie er selbst, der Spielball in dieser politischen Intrige. Wie weit sie wiederum den Zielen ihres Vaters zu folgen bereit war, und was ihre eigenen Wünsche waren, musste Basti freilich erst noch herausfinden. Verstohlene Blicke warf er ihr zu, als sie durch den Flur gingen, der in das Dämmerlicht der Fackeln getaucht war.
Sebastian wusste, was Festgesellschaft und Tradition noch von ihnen erwarteten. Raspina war kein dummes Kind und kannte ebenfalls das Protokoll. Bevor sie beide den Elsirentanz eröffnen würden, musste er Raspina unbedingt unter vier Augen sprechen! Nur so war zwischen ihnen zu klären, was Jamálins Tochter selbst von diesem Abend erwartete.
Auch Raspina riskierte einen seitlichen Blick, scheu, unsicher. Es entsprach ganz und gar nicht ihrer Art. Sebastian hatte sie anders kennengelernt. Dass sie sich unter den Blicken ihrer Eltern nicht so freizügig gebärdete, wie an den nächtlichen Elsirenfeuern, war verständlich. Doch irgendwie spürte Sebastian eine verborgene Angst, die das Mädchen im Griff hielt.
Festlich gekleidete Bedienstete öffneten die mächtigen und hohen Flügeltüren zum Festsaal. Fackeln, Kerzen, Öllampen, Lichter über Lichter verwandelten die beiden Festsäle in eine leuchtende, glanzvolle Kulisse.
Sebastian träumte davon, Antarona, als die Prinzessin von Falméra, durch diese Tür in den prunkvoll geschmückten Saal zu führen. Raspina war zweifellos eine strahlende Schönheit an seiner Seite. Und schon ihr Anblick vermochte Männern den Kopf verdrehen, denn genau wie Antarona, wusste auch sie ihre Reize vorteilhaft einzusetzen. Basti war ihnen beinahe einmal erlegen! Aber er mochte sie nicht so, wie er Antarona liebte, verehrte und begehrte. Raspina war nicht die Frau, die seine Phantasien mit ihm teilte, mit der er sein Leben verbringen wollte!
Mit einem aufgesetzten, erzwungenen Lächeln führte Basti das Mädchen zum Kopfende der riesigen Tafel, die den Festsaal beherrschte. Die aneinander gereihten Tische waren mit so vielen Köstlichkeiten bedeckt, dass sich Sebastian fragte, ob dafür die Nahrungsmittel der ganzen Insel beschlagnahmt worden waren.
Er wusste nur zu gut, wie bescheiden die Îval lebten. Sie hungerten nicht, doch eine solche, hier dargebotene Vielfalt fand selten in die vier Wände eines der bescheidenen Heime des Volkes. Raspina setzte sich an die Tafel und nahm die üppigen Speisen und Getränke mit einer gelassenen Selbstverständlichkeit hin.
Antarona hingegen hätte Türen und Tore geöffnet, und die Gaben der Götter an das Volk verteilt. Das war der Unterschied! Mochte sich Raspina auch an den Elsirenfeuern in der gleichen Ekstase verlieren, wie alle jungen Frauen, so blieb sie doch die Tochter eines Oranuti- Fürsten.
Antarona hingegen war eine Tochter des Volkes, wohl mit dem Geist und der Würde der Könige beseelt, doch mit einem Herzen für jene, welche das Land auf ihren Schultern trugen! Und sie besaß das nötige Temperament, das Sebastian Lauknitz in seinen Bann schlug. O ja, sie vermochte ihn wie eine gigantische Welle aus Leidenschaft und purer Lust zu überrollen. Gleichzeitig gelang es ihr immer wieder, ihn zu überraschen.
Genauso stürmisch, wie sie ihn von den Füßen reißen konnte, war ihr als zweite Seite eine Sanftmütigkeit und tiefer Liebe anheim, die sein Herz warm, ja fast mütterlich zu umklammern vermochte. Es waren die spontan auftretenden, krassen Gegensätze in ihr, die Sebastian faszinierten.
Raspina dagegen kam ihm wie ein zwar süßes und verführerisches, aber eher naives, unschuldiges Mädchen vor, das einen Mann allein durch seine jugendlichen Reize anzog. Sie erweckte in einem das väterliche Bedürfnis, sie zu behüten, zu beschützen und gleichzeitig das Verlangen nach ihrem makellosen, glatten Körper. Das war es auch schon!
Sie würde niemals die Frau sein können, die den Mann an ihrer Seite geistig und kreativ inspirierte, ihm mit Rat und Tat zur Seite stand, ihm notfalls in wichtiger Entscheidung die Stirn bot. Schon gar nicht war sie eine Frau, die bereit war, mit ihm auf ein Schlachtfeld zu ziehen! Ebenso wenig würde sie jemals ein Volk führen können. Ihr fehlte das geheimnisvolle letzte Zehntel ihres Wesens, das eine Frau in sich tragen und erwecken konnte, um Menschen, Männer, wie Frauen gleichermaßen zu begeistern, sie überzeugend mitzureißen. Sebastian hatte genau das in Antarona gefunden!
Bei diesen Gedanken rief sich wieder Janine in Erinnerung. Das genau war diese rätselhafte Verbindung, die er zwischen Janine und Antarona gefunden hatte! Antarona begegnete ihm mit der gleichen spontanen, temperamentvollen, und freimütigen Art, die Janine verkörpert hatte. Sie besaß das gleiche Wesen! Dass sie sich auch äußerlich ähnelten, mochte dem Zufall gutgeschrieben sein.
»Das Mahl zu Ehren Talris, und zur Freude unserer Gäste mag beginnen!« Bentals laute und deutliche Stimme riss Sebastian aus seinen Gedanken. Er brauchte eine Weile, um zu begreifen, dass ein Diener geduldig neben ihm wartete.
Nun kam Basti nicht mehr umhin, Raspina direkt anzusehen. Er blickte in eine Vertrautheit, gewiss, aber es war kein Verlangen, kein Begehren zwischen ihnen, das die Luft auf geheimnisvolle Weise elektrisiert hätte. Erleichtert lächelnd fragte er:
»Welche dieser Köstlichkeiten darf ich euch bringen lassen?« Dabei ließ er seine Hand einladend über den Tisch fahren.
»Ich möchte gern Wafan, und von jedem Gebäck dort, von jedem, hört ihr?« Mit großen, leuchtenden Augen sah sie den Diener an, der sich augenblicklich befleißigte, ihren Wünschen nachzukommen.
Ein Kind, dachte Sebastian, ein großes, reizvolles, begehrenswertes, aber naives Kind! Er verstand es nicht. Was hatte ihn an jenem Abend, als er das erste mal die Elsirenfeuer besuchte, dazu bewogen, trotz seiner tiefen Liebe zu Antarona, den süßen Verlockungen dieses arglosen Mädchens nachzugeben?
War es die unschuldige Reinheit, die sie ausstrahlte, dieses Unangetastete, das jeden Mann verlockend dazu einlud, es zu berühren, zu entdecken und zu erforschen, und es schließlich in Besitz zu nehmen? Oder war es ganz einfach seine Einsamkeit gewesen, die Sehnsucht nach Liebe und Wärme, die er durch die Trennung von Antarona ertragen musste?
Ein wenig hatte Sebastian Angst, allzu tief nachzuforschen. Womöglich entdeckte er in den Tiefen seines eigenen Wesens etwas, das ihm nicht gefiel? Musste er vielleicht erkennen, dass er, süßen Verlockungen ausgesetzt, nicht treu sein konnte?
Unmerklich schüttelte er den Kopf, wie um sich selbst aus einem Irrgarten der Sinne zu befreien. Worüber dachte er eigentlich nach? Zweifelte er an sich selbst? Raspina holte ihn aus seiner Geisteswelt zurück, als vermochte sie in seinen Gedanken zu lesen.
»Sie ist nicht an eurer Seite, jene, welcher ihr euer Herz geschenkt habt?« fragte sie traurig, und Sebastian war sich seines Urteils hinsichtlich ihrer Naivität nicht mehr ganz so sicher. Als er nicht sofort antwortete, gestand sie ihm leise:
»Auch jener, der mein Herz umklammert hält, darf nicht meine Hand halten. Mein Vater wünscht, dass ich euer Herz berühre. Doch ich vermag es nicht, denn mein Herz ist mit einem anderen verbunden. Als ihr mich das erste mal beim Tanz berührtet, glaubte ich, unsere Herzen wären füreinander bestimmt, doch dann...«
»Ja, ich weiß«, gab sich Sebastian schuldbewusst, »ich hätte das erst gar nicht geschehen lassen dürfen. Wir waren in dieser Nacht zwei verlorene Seelen, wie zwei einsame Wasserwagen im Sturm, die verzweifelt nach einem schützenden Hafen suchten. Ich wusste auch nicht, dass ihr die Tochter des...« Sebastian hielt mitten im Satz inne.
Bental und Fürst Jamálin beobachteten sie aufmerksam, als wollten sie ergründen, wie weit sich die beiden näher kamen. Basti behagte das gar nicht und er beschloss, das Gespräch später fortzusetzen. Er war sicher, dass man an ihren Augen ablesen konnte, dass sie eher ernsthafte Worte wechselten.
Zumindest dem Fürsten Jamálin aber war sehr daran gelegen, dass sich seine Tochter mit Areos amüsierte. Nachdenkliche, oder gar traurige Mienen mussten ihn zwangsläufig irgendwann misstrauisch machen.
»Lasst uns später darüber weiterreden, Raspina, euer Vater beobachtet uns und der König scheint auch ein großes Interesse daran zu haben, was wir uns zu sagen haben.« Das Mädchen nickte und blickte beschämt auf seinen Teller. Doch genau das wollte Sebastian vermeiden!
»Versucht ein wenig fröhlich auszusehen, ja?« riet ihr Sebastian. »Wir beide werden schon einen Weg finden, welcher nach unserem Herzen ist, und denen dort recht erscheint!« beruhigte er sie und nickte zu Bental und ihrem Vater hin. Erklärend fuhr er fort:
»Lasst uns sie wenigstens glauben machen, dass wir einander gut verstehen, damit brechen wir unseren Herzensschwur nicht, und sie sind zufrieden! Wenn ihr wollt, können wir uns gegenseitig helfen, was haltet ihr davon?« Raspinas Züge hellten sich wieder etwas auf, sie neigte ihren Kopf zu ihm herüber und flüsterte:
»Ja, ich vertraue euch, das will ich gern annehmen. Ich bin froh, in euch einen guten Freund zu finden, lasst uns Verbündete sein, wie zwei, die ein Geheimnis bewahren!« Sebastian nickte und Raspina rang sich sogar ein leichtes Lachen ab.
Ihr Vater, der sie nach wie vor beobachtete, sog das, was er sah auf, wie ein trockener Schwamm das Wasser. Es gefiel ihm, sein Töchterchen in guter, unbeschwerter Unterhaltung mit dem Thronerben von Falméra zu sehen. Wahrscheinlich wähnte er sich bereits an seinem politischen Ziel.
Bental hingegen ahnte, dass zumindest sein imaginärer Sohn nur schauspielerte. Doch er ließ sich nichts anmerken, stieß den Fürsten freundschaftlich an, zwinkerte ihm mit den Augen zu und nickte in die Richtung der beiden offensichtlich flirtenden Kinder.
Das Mahl zog sich noch eine ganze Weile hin, und Sebastian kamen die Minuten wie Stunden vor. Immer noch einmal wurden die Speisen ergänzt und die Getränke nachgefüllt, bis auch der Letzte, bezeichnenderweise jener dicke Oranuti, mit welchem Antarona und Sebastian aneinander geraten waren, mit einem deutlichen Rülpser bekundete, endlich satt zu sein.
Kurz darauf ließ der Protokollmeister seinen Stab zu Boden fahren. Der trockene Knall unterbrach die Tischgespräche und im Festsaal kehrte erwartungsvolle Stille ein.
»Das Feuer Talris wird nun entfacht«, verkündete er. Sogleich erhoben sich alle von den Plätzen, doch niemand wagte, den Saal vor dem König zu verlassen. Wieder gab Bental seinem Sohn Areos ein Zeichen, dann schritt er über den Korridor in das Gesellschaftszimmer, dessen Fenster weit geöffnet waren, und weiter über die kleine Treppe auf den Burghof.
In der Mitte des Hofes, nicht weit vom Brunnen begann unter den geschäftigen Händen einigen Gesindes ein stattliches Elsirenfeuer in den nächtlichen Himmel zu lodern. Es war nicht so groß, wie die Feuer unten in der Stadt, oder am Strand, doch es genügte, um eine Tänzerin hindurch zu werfen.
Neben dem inneren Ostturm begannen die Spielleute ihre Instrumente zu stimmen. Man hörte einzelne Trommel- oder Paukenschläge, das krächzende Schnarren eines Seiteninstruments, ab und zu auch den klagenden Jammerlaut einer Sackpfeife.
Die Gäste und alle Anwesenden versammelten sich in einem weiten Kreis um das Feuer. Sie hielten respektablen Abstand, denn den meisten Platz benötigten die Tänzerinnen und Tänzer. Niemand wollte riskieren, dass eine der Tänzerinnen unverhofft aus den Flammen auftauchte, und ihm gegen den Kopf flog.
Der Protokollmeister gab das Zeichen an die Spielleute. Mit einem langgezogenen kreischenden Ton und einzelnen, intervallartigen Schlägen auf die Trommel kündigten die Musiker ihre Darbietung an.
»Euer hochwohlgeboren, gütige Hoheit Bental, König von Falméra und Volossoda, und Prinz Areos mit Prinzessin Raspina von Oranutu«, erhob sich die heisere Stimme des Spielmannführers, »Hochverehrte Gäste, Fürsten und Edelleute, verehrtes Volk von Falméra, liebes Fahrensvolk!«
Er gab den Umstehenden mit einer kleinen Pause Gelegenheit, ihre Gespräche zu beenden, bevor er fortfuhr, das eintönige Jaulen der Sackpfeife im Hintergrund zu übertrumpfen:
»Nun ist an der Zentare, Gott Talris selbst zu huldigen, für Schutz und Gnade, welche er seinen Menschenkindern stets einen Sommer und einen Winter bescheret. Es war in guter alter Zentare, als die Götterwesen den Königen der Menschenwesen eine wunderschöne Prinzessin zum Geschenk machten. Durch das Feuer des Himmels ward sie gesandt, und bestimmt, den Platz neben dem Thron einzunehmen!« Die Musik steigerte sich unmerklich und der Sprecher hob seine Stimme an:
»Dies bekunde nun die Tänzerinnen und Tänzer mit ihrer Darbietung zur Freude unser aller Augen und Sinne! Lasset die Götter euch die Weiber schenken, und lasset euch, holde Mädchen, von euren Erwählten euch empfangen! So denn zusammenführet, was sich liebt und ehrt, seine Herzen verbunden, ein Leben lang!«
Die Musik wurde ohrenbetäubend laut und eine gemäßigte Melodie setzte ein. Sebastian wusste, dass man von ihm erwartete, den Tanz zu eröffnen. Mit fahrigen Bewegungen löste er Tálinos von seinem Gürtel und übergab das Schwert für die Dauer des Tanzes an Bental. Etwas unsicher führte er anschließend Raspina in den Kreis neugieriger, sensationslüsterner Menschen, deren Gesichter vom Feuerschein glühten, wie die Fratzen von Teufeln.
Das frisch aufflammende Feuer zwang zur Bewegung, wollte man sich nicht Haut und Haare versengen. Sebastian zog sein besticktes Hemd aus und warf es traditionsgemäß in die Zuschauer.
Eine junge Oranuti, in einem gewagt freizügigen, von glitzernden Steinen besetzten Elsirenkleid, aber dennoch mit dem traditionellen Gesichtsschleier der streng gläubigen Oranuti- Mädchen fing es auf. Sie trug auch diese typische bunte Kopfbedeckung junger, unverbundener Oranutis, die ihr Haar, den Stolz eines jeden Mädchens, verbarg. Sebastian entging nicht ihre schlanke, für eine Oranuti unübliche Figur.
Mehr bekam er von der unbekannten Schönen nicht zu sehen, die nun sein Hemd für ihn aufbewahrte. Und er bezweifelte, dass er das Kleidungsstück jemals wiedersehen würde. Oft genug fanden sich an den Elsirenfeuern junge Mädchen ein, ohne Tanzpartner, die nicht am Elsirentanz teilnahmen, aber von heimlicher Sehnsucht getrieben, die Hemden ihres Favoriten fingen, und damit verschwanden. Meist hüteten sie dann ihre Trophäen über viele Jahre hinweg, wie einen heimlichen Schatz. Das bestickte Hemd mit dem Wappen des Thronfolgers war sicher eine begehrte Beute.
Tanz und Pflicht forderten nun seine Aufmerksamkeit. Er musste sich den Rhythmus der Spielleute verinnerlichen, den richtigen Zeitpunkt abwarten, um einzusteigen.
Dann nahm er Raspina an der Hüfte und begann den Tanz. Es gelang ihm nicht, die Tanzweise Antaronas gänzlich abzulegen, er hatte sich zu sehr daran gewöhnt. Also hatte Raspina einige Mühe, seiner Choreografie zu folgen.
Die umstehende Menge fing an begeistert zu klatschen und zu johlen, und feuerten das Paar an, dem offiziell vorbehalten war, den Tanz zu eröffnen. Basti versuchte die alte Tanzweise, die er am Anfang kennengelernt hatte, ließ aber immer wieder Figuren Antaronas moderner Version mit einfließen.
Er war Areos, der heimliche Held der nächtlichen Elsirenfeuer! Die Zuschauer erwarteten etwas Besonderes! Dass die Bewunderung und die daraus erfolgende Erwartungshaltung eigentlich Antaronas gebührte, interessierte niemanden.
Niemand blickte verwundert, dass Raspina, und nicht die schlanke, grazile Kriegerin mit den langen schwarzen Haaren an seiner Seite tanzte. War es tatsächlich so, wie Bental sagte, dass Antarona bei allen nur als seine Sklavin zum persönlichen Vergnügen galt?
Sein Herz zog sich zusammen, je mehr er darüber nachdachte. Antarona allein stand es zu, diesen Tanz mit ihm zu eröffnen! Nach allem, was er ihr zu verdanken hatte, und vor allem vor ihrer tiefen Liebe kam er sich plötzlich wie ein schäbiger Verräter vor. Dass der Zwang Bentals hinter dieser Entscheidung steckte zählte nicht. Sebastian hätte sich ja weigern können, oder eine Ausrede erfinden, er wäre krank, oder hätte sich den Fuß verdreht, oder so etwas.
Statt dessen gab er dem politischen Willen nach, und beging dieses größte aller Feste mit einem fremden Mädchen, noch dazu mit einer Tochter aus einem Oranuti- Geschlecht!
Verstohlen sah er zu den hohen Fenstern hinauf. Ob Antarona ihn beobachtete? Natürlich tat sie das! Alle Lichter waren aus, um diese Zeit! Sie hatte die Lichter gelöscht, um besser sehen zu können! Sicher stand sie hinter einem der großen Fenster im Korridor und sah unter Tränen dem fröhlichen Treiben im Burghof zu.
Oder sie lag weinend auf ihrem Bett, enttäuscht, verlassen und verraten. Und er, ihr Ba - shtie, vergnügte sich mit einer anderen! Er verfluchte sich selbst, nicht den Mumm gehabt zu haben, gegen Bentals Entscheidung aufzubegehren, sich gegen sie durchzusetzen!
In seinen Gedanken hatte er gar nicht bemerkt, dass sie bereits eine Runde um das Feuer getanzt waren. Jeder erwartete nun von ihm die Geste, welche auch die anderen Tanzpaare dazu aufforderte, sich in den Reigen einzureihen.
»Areos«, rief Raspina gegen den Lärm der wilden Musik an, »wollt ihr die ganze Nacht nur mit mir allein um das Feuer tanzen?« Plötzlich wurde er sich seiner Pflichten bewusst. Er war unkonzentriert! So etwas konnte beim Elsirentanz böse Folgen haben, wenn er zuließ, dass seine Partnerin falsch absprang, oder er sie nicht sicher auffing!
Rasch gab Areos das ersehnte Zeichen und sofort reihten sich die anderen Tänzerinnen und Tänzer ein. Er hatte das Gefühl, die Musik würde plötzlich lauter spielen. Tatsächlich aber legten die Spielleute nur etwas an Tempo zu und kürzten den Takt. Die Musik bekam dadurch einen noch wilderen, ungezügelteren Charakter.
Entsprechend ausgelassen wurde auch der Tanzstil, was dem König und seinem Protokollmeister sicher missfiel. Sebastian stellte mit Erstaunen fest, dass einige Tanzpaare, allesamt Kinder von Edelleuten und einflussreichen Eltern, bereits die neue, von Antarona ins Leben gerufene Choreografie tanzten.
Antarona hatte ein großes Stück Kultur der Îval revolutioniert und neu geprägt! Alle schienen inzwischen am neuen Tanz ihr Können unter Beweis zu stellen, ohne zu ahnen, dass es sich dabei um eine Schwertkampftechnik handelte. Aber ausgerechnet sie, die Mutter dieser Technik, durfte bei diesem Fest nicht dabei sein. Sie, die es mehr als jeder andere verdient hatte, diesen Tanz in das höchste Fest der Îval zu tragen!
Immer wieder suchte Areos Blick zwischendurch die hohen Fenster der Fassade ab. Sah er nicht doch Antarona an einem der Fenster stehen? Achtete sie aus der Entfernung darauf, wie er tanzte, wie nahe er dabei seiner zwangsweisen Tanzpartnerin kam?
Plötzlich bekam er einen derben Stoß in die Rippen. Er riss Raspina im letzten Augenblick herum, denn fast wären sie mit dem vor ihnen tanzenden Paar böse zusammengestoßen. Raspina war es, die ihm den Stoß versetzt hatte. Dankbar nickte er ihr zu, und erntete ihren vorwurfsvollen Blick.
Er war einfach nicht bei der Sache! Seine Gedanken drehten sich nur um Antarona. Den Tanz, die Führung des jungen Mädchens in seinen Armen, alles ließ er nur rein mechanisch geschehen. Er musste sich zusammenreißen! Wenn Antarona ihn beobachtete, so musste sie ja daran zweifeln, dass er je etwas von ihr gelernt hatte!
Seine Sinne wieder bewusster auf den Tanz gerichtet, wirbelte er Raspina in der neuen Choreografie um sich herum, ließ sie sich durch die Fliehkraft von sich entfernen, zog sie aber wieder schwungvoll zu sich heran. Dann ließ er sie los, tat, als wollte er sie attackieren, umtanzte sie wie ein angriffsbereiter Panther sein Opfer. Raspina stieg sofort auf diesen Tanzstil ein und zeigte Areos, dass sie inzwischen ebenfalls den neuen Elsirentanz des Areos und seiner geheimnisvollen Kriegerin aus dem Val Mentiér beherrschte.
Sie war lange nicht so gut, so wendig und schnell wie Antarona, doch es gelang ihr, Areos voll zu fordern, und ihm die Gelegenheit zu nehmen, zu den Fenstern im vierten Stock hinaufzuspähen. Gedanklich aber vermochte sie ihn nicht auf sich zu fixieren.
Eine tiefe Liebe war stärker als jede Versuchung, das glaubte Sebastian nun zu wissen. Etwas befreiter, etwas konzentrierter widmete er sich nun dem Tanz und seiner, für das Schicksal Falméras wichtigen Partnerin. Der Tanz, die Musik, der Takt wurden wilder, zügelloser, forderten die volle Aufmerksamkeit jeder Tänzerin und jeden Tänzers.
Nicht lange, und die Zentare zum ersten Absprung näherte sich. Die Trommeln hämmerten in einem kaum noch mit den Füßen zu folgenden Takt, die Melodie verlor sich in einem Dauerton höllischen Lärms. Nackte Füße stampften nur noch unkontrolliert auf den staubigen Boden, die Schellen an den Fußgelenken der Tänzerinnen übernahmen den Takt, klingelnd, scheppernd.
Schließlich endete der stoische Trommelschlag abrupt. Nur der Jammernde Ton der Sackpfeifen und das singende Schnarren der Leier blieb. Das Zeichen für den nahenden Absprung! Der erste Tänzer im Reigen, Areos, musste beginnen. Er griff Raspina sanft und fest in die Taille und hob sie leicht an. Ihre Beine und Füße mussten sich auf seinen Rhythmus einstellen, wollte sie mit dem nötigen Schwung den Flug durch die Flammen antreten.
Die Schellen an ihren nackten Fesseln gaben nun den akustischen Takt für das gegenüber dem Feuer tanzenden Paar. Das Klingen der vielen Glöckchen stimmte sich ab, das Hochheben und wieder auf die Füße setzen der Mädchen synchronisierte sich.
Areos hob Raspina an, und sie stieß sich mit einem laut die Musik übertönenden Schellenschlag vom Boden ab, ließ sich von ihm wieder auffangen und federte, wieder mit dem Schlag der Glöckchen ab. Immer wieder, immer höher, die Trommeln setzten in diesem takt wieder leise ein, steigerten sich schnell zum Donner.
Höher und höher flogen die Tänzerinnen, angefeuert vom infernalischen Ton der kreischenden und hämmernden Instrumente. Dann war es soweit. Die trommeln brachen im Takt ab, eine Pause in der Auffangphase, ein mächtiger Paukenschlag beim Abstoßen, Sebastian griff Raspina in die Pobacken und hob sie mit aller Kraft an. Sie ruderte mit den Armen, lenkte sich rechts in die Flammen und war für Areos Augen verschwunden.
Eine Sekunde später flog links aus der Feuersbrunst ein Schatten auf ihn zu. Eine flatternde Gestalt, ein wehendes Kleid, wehende Haare, eine nackte Taille... Zupacken! Halten! Abfedern! Eine blonde, hochgewachsene Îval lag nun in seinen Armen, ihr Kleid hatte Feuer gefangen und die Glut schon die Hälfte des Stoffes gefressen.
Im Tanz ging Areos in die Knie und schlug die kleinen Flämmchen aus, die sich hartnäckig wehrten, auf seine Hose unter dem Waffenrock übergriffen, aber irgendwann erstarben. Areos neue Tanzpartnerin war schlank, drahtig, scheinbar etwas älter, als Antarona. Ihre hellblonden Haare umrahmten ein feines Gesicht von herber, kühler Schönheit, wie sie Sebastian von Norwegerinnen kannte. Und tatsächlich mochte die junge Frau aus den Gebieten der schlafenden Sonne stammen, aus Zarollon, oder noch weiter aus dem Norden.
Sie war leicht, wie eine Feder, beinahe so leicht wie Antarona, und genoss es scheinbar, sich vom Thronerben herumwirbeln zu lassen. Die Musik setzte wieder voll ein, alle Tänzerinnen und Tänzer hatten offenbar erfolgreich ihre Partner getauscht. Außer verbrannten Elsirenkleidern war kein nennenswerter Verlust zu beklagen.
Das Mädchen, das Areos nun führte, hatte seine Haare teilweise in kleine Zöpfchen geflochten, die wie dünne Seile in der Luft herumflogen. Sie besaß etwas unnahbares, aber auch lockendes, etwas, das Männer anmachte, etwas, das sie reizte, eine solche Frau zu erobern. Sie lächelte vielversprechend, geheimnisvoll, als wollte sie ihn herausfordern.
Da verfing sich der Rest ihres Kleides in den Beschlägen seines Waffenrocks. Ein großes Stück des durchscheinenden Stoffes blieb an dem metallenen Zierstück hängen und gab den Blick auf ihre langen, schlanken Beine frei. Aber es machte ihr nichts aus. Im Gegenteil! Es schien ihr zu gefallen, den Sohn des Königs mit ihren Reize zu locken.
Areos, der eine weitere Entkleidung seiner Tänzerin vermeiden wollte, entledigte sich, in die Choreografie eingebunden, seines Waffenrocks, was beim Publikum eine genau gegenteilige Stimmung auslöste. Die Zuschauer meinten, er wäre ihrer Schönheit verfallen und signalisierte ihr seinerseits seine Bereitschaft, ihr Herz zu erobern. Die Menge grölte und johlte anfeuernd, sie wollten mehr sehen.
Plötzlich gab es keinen Unterschied mehr zu den Elsirenfeuern unten am Strand. Die Zuschauer, mit Ausnahme des Königs, und vielleicht Raspinas Eltern, wollten die Vereinigung zwischen den Tänzern und Tänzerinnen sehen! Angeheizt durch die zügellose Musik, verdrängten sie das letzte Tabu, das Protokoll der Himmelsburg!
Doch die Tanzpaare verhielten sich zur Erleichterung Areos diszipliniert. Ihnen war offenbar bewusst, dass dies der Elsirentanz des Hofes, und nicht einer der freien Feuertänze des Volkes, oder gar Mehi-o-rateas war. Was die Zuschauer sehen wollten, blieb unerfüllt.
Areos warf den abgenommenen Waffenrock, wie zuvor sein Hemd, in die umstehende Menschenmenge, und wieder war es die geheimnisvolle Oranuti, die seine Kleidung auffing. Wie der Geist einer Göttin stand sie da, in ihrer Schönheit herausragend, einsam, verlassen in der Menge, als wartete sie sehnsüchtig auf einen Tanzpartner, der sie aus ihrer Starre erlöste.
Sebastian war versucht, sie sich als Tanzpartnerin zu holen. Doch damit hätte er den Fürsten Jamálin vor den Kopf gestoßen, und die politischen Folgen wären unabsehbar gewesen. Er musste seine Neugier, die Versuchung verdrängen. Bental erwartete, dass er sich ans Programm hielt. Sein König würde mehr als nur ungehalten reagieren, wenn er das Protokoll brach.
Im nächsten Augenblick war das Oranuti- Mädchen in der Anonymität der Schaulustigen verschwunden. Zudem forderte die blonde Îval seinen ganzen Einsatz. Sie war eine gute, fast perfekte Tänzerin, und mit etwas Übung vermochte sie sogar Antarona Konkurrenz zu machen. Raspina kam ihm im Gegensatz zu ihr geradezu schwerfällig vor.
Mit spielerischer Leichtigkeit ging sie auf Sebastians Tanzstil ein, ließ sich führen, wie ein Schmetterling in einer Abendbrise, und ließ sich ohne große Anstrengung in die Höhe katapultieren. Aber sie zeigte ihm auch, dass sie sehr wohl in der Lage war, auch ihren Willen durchzusetzen. Zwischendurch zwang sie Areos immer wieder ihre eigene, eher elfenhafte, ruhige Choreografie auf, und er war machtlos gegen ihre unergründliche Dominanz. Er spürte, dass diese Frau pure Herausforderung war, der er sich gern im Spiel gestellt hätte.
Die Musik nahm wieder an Schnelligkeit und Intensität zu. Der nächste Absprung kündigte sich an. Mit reiner Begeisterung für den Tanz stieß sich das Mädchen ab, als der donnernde Paukenschlag ertönte, und flog weit über die Flammen dahin. Fast gleichzeitig tauchte Raspina aus dem Feuer auf, etwas unbeholfen, so dass Areos all seine Kräfte mobilisieren musste, um sie sicher aufzufangen und auf den Boden zu setzen.
Auch ihr Kleid hatte Feuer gefangen, reichlich Stoff eingebüßt, und gab Teile ihrer Rundungen preis, die jedoch noch viel von ihrer Kindlichkeit verrieten. Raspina besaß noch nicht die feminine Eleganz, wie sie Antarona, oder jene Unbekannte, welche Areos Kleidung gefangen hatte, ausstrahlten.
In dem Hintergrund dieser Entdeckung, die er scheinbar erst jetzt bewusst gemacht zu haben glaubte, schrie Areos seiner Tanzpartnerin gegen den Lärm der Musik ins Ohr:
»Lasst uns ein par Zentaren verhalten, und miteinander reden, ja?« Raspina nickte, und so kindlich, wie sie ihm in diesem Augenblick auch erschien, zeigte ihr Gesicht doch eine ernsthafte Reife und Vernunft, die er in ihr nicht vermutete.
Unter dem Beifall der Zuschauer traten sie aus dem Kreis der Tanzenden und bahnten sich mit Mühe einen Weg durch die dicht gedrängt stehenden Menschen. Sebastian zog das Mädchen in den hinteren, dunkleren Teil des Hofes, und führte sie zwischen den zweiten Brunnen und der mauer des westlichen Treppenturms.
Hier waren sie ziemlich ungestört. Kommende und gehende Gäste und Bedienstete wanderten in einiger Entfernung als Silhouetten vorüber, warfen große, zuckende Schatten, die ihren abgeschiedenen Standort immer wieder in Dunkel hüllten.
»Raspina«, begann Sebastian vorsichtig, »wie mir scheint, ist dein Vater sehr darauf bedacht, dass wir uns näher kommen, näher noch, als sich nur ein Tanzpaar kommt.« Er ließ es mehr wie eine Feststellung klingen, obwohl es eher eine Frage sein sollte. Raspina blickte traurig zu Boden.
»Mein Vater ist ein guter Mann, er ist nicht wie andere, er sorgt sich um sein Volk, und besonders um jene Oranuti, welche in Falméra sind. Aber er verlangt von mir, dass ich euch gefalle, und dass ich euch, wenn ihr es wünscht, zum Mann nehme, für alle Zeiten. Lehnt ihr mich ab, so wird er denken, ich hätte mir nicht genug Mühe gegeben, euch zu gefallen. Er wird dann sehr zornig sein!« Sebastian nickte gewichtig und führte sie zum Rand des Brunnens.
»Setz dich, Raspina, und erzähl mir alles«, forderte er sie freundschaftlich auf. Das Mädchen wischte sich die Tränen aus den Augen, die plötzlich hervortraten, als die Last des Schweigens von ihr genommen war.
»Nachdem wir uns vor einigen Zentaren beim Feuertanz trafen.., also als wir am Strand.., oh, es tut mir so leid, ich hatte damals zu viel Mestas getrunken und wusste nicht mehr, was ich tat!« Sebastian legte ihr beruhigend den Arm auf die Schulter.
»Ist schon gut, mach dir keine Gedanken, ich hätte es sowieso nicht ausgenutzt, oder zugelassen. Deshalb waren wir dann ja so ohne Worte auseinander gegangen.« Raspina nickte leicht und erklärte schluchzend:
»Ich weiß, Areos, ich war ja dabei. Ich ging einfach den Strand hinab, achtete gar nicht mehr darauf, wohin ich ging. Beinahe wäre ich unter der Hafenmauer ins tiefe Wasser gefallen. Aber da war auf einem Mal dieser... Mauretan heißt er. Er hat mich davor bewahrt, einen dummen Tat zu begehen. Und wir haben uns verliebt, so richtig, dass unsere Herzen fest verbunden sind!«
»Aber das ist doch sehr schön!« warf Sebastian ein, und versuchte sie zu trösten. Doch Raspina weinte wie ein kleines Kind und schniefte:
»Mein Vater.., er will nichts von Mauretan wissen, er sagt, er ist ja nicht einmal Heerführer und wird es auch niemals sein. Er will ihn nicht! Er will, dass ich mein Herz mit eurem verbinde, und hat mit dem König ein Abkommen unter Vätern getroffen!« Sebastian verstand sie und allmählich wurde ihm deutlich, wie alles zusammenhing.
»Mein Vater will das große Tal in der erwachenden Sonne«, verriet sie ihm nun unter Tränen, »er will es für das Volk der Oranuti, welche auf Falméra sind. Dafür sollt ihr mich bekommen!« Vertrauensvoll nahm Sebastian ihre Hände in seine und gestand ihr:
»Das alles kommt mir so bekannt vor. Weißt du, auch der König würde es gerne sehen, wenn wir beide unsere Herzen verbinden. Aber ich kann nicht. Mein Herz ist bereits mit dem jener verbunden, die das Volk unter dem Namen Sonnenherz kennt. Die Elsiren haben den Bund besiegelt, und wir lieben uns sehr!«
»Dann wollt ihr mich gar nicht?« hellte sich ihre Miene hoffnungsvoll etwas auf. »Ihr werdet es meinem Vater sagen, dass sich euer Herz nicht mit meinem verbinden kann?« fragte sie ängstlich.
»Na ja, das wird nicht ganz einfach werden, denke ich«, gab er kleinlaut zu, »wir müssen überlegen, wie das am besten zu machen ist, ohne dass es ernsthafte Folgen hat.« Raspina sah ihn verständnislos an und Sebastian sagte geheimnisvoll:
»Was ich dir jetzt erzähle, musst du in unser beider Wohlwollen für dich behalten, du darfst mit niemandem darüber sprechen. Auch dein Vater darf nicht wissen, dass wir darüber gesprochen haben!«
»Wenn es unsere Herzen rettet, so soll es mir recht sein«, antwortete sie skeptisch, »doch was mag so viel Gewicht haben, dass ihr, der Sohn des Königs, nicht mit meinem Vater darüber sprechen könnt?«
»Macht, Raspina, die Macht Land zu erobern, zu besitzen, die Macht zu herrschen, einem ganzen Volk seinen Willen aufzuzwingen! Dein Vater will Land, will den Einfluss der Oranuti auf Falméra verstärken, obwohl es dem Volk der Îval nicht gut tut. Und mein Vater möchte seinem Wunsch nachkommen, da er sonst einen Rückgang des Handels fürchtet. Wir beide, Raspina, wir sind das Spielzeug der Macht unserer Väter, oder sollen es zumindest sein, wenn wir es zulassen.«
Sebastian wusste, dass er die Lage nicht ganz wahrheitsgetreu wiedergegeben hatte, wollte aber Raspina nicht überfordern. Das Mädchen sah ihn aus geröteten Augen an und fragte mit leichter Hoffnung in der Stimme:
»Wie meint ihr das, wenn wir es zulassen? Haben wir denn eine Wahl?« Mit einem überlegenen Lächeln versuchte er Raspinas letzte Skepsis fortzuwischen.
»Wenn wir in dieser Sache zusammenhalten, haben wir gewiss eine Wahl!« versicherte er ihr. Dann neigte er seinen Körper dicht zu ihr hin und sprach leise, beinahe flüsternd:
»Wir müssen nur deinen Vater dazu bringen, kein Interesse mehr an dem Land zu haben, und wir müssen ihn davon überzeugen, dass nur Mauretan der richtige Mann für dich ist. Und ich werde dem König unter dem Siegel der Verschwiegenheit kundtun müssen, dass ich dich als zukünftige Königin für ungeeignet halte.«
»Aber wie wollt ihr das alles anstellen?« fragte Raspina mit neu aufkeimendem Misstrauen. Schon war sie wieder den Tränen nahe.
»Das geht natürlich nur, wenn wir beide uns vertrauen, und uns miteinander abstimmen. Lasst mich überlegen«, versuchte Basti Zeit zu gewinnen, »was würde deinen Vater davon abbringen, dieses Land zu wollen, und was würde ihn deinen Mauretan wohl heißen?« überlegte er laut. Raspina blickte niedergeschlagen auf ihre nackten Füße und bemerkte mehr für sich selbst:
»Mauretan ist in den Augen meines Vaters ein Nichts, er ist Krieger in einem Heerlager. Er entstammt einer Fischerfamilie und hat wenig Aussicht, etwas anderes zu sein, als ein einfacher Krieger. Aber er ist sehr gut zu mir, wir fühlen mit dem gleichen Herzen, und wenn es nicht anders geht, wollen wir nach Mehi-o-ratea gehen, und für immer dort leben!«
Sebastian musterte sie eindringlich und befand, dass sie es durchaus ernst meinte. Aber war es nur ihr Wille? Stand Mauretan wirklich hinter ihr, liebte er sie wirklich, wollte er mit ihr sein Leben teilen? Wenn sie beide nach Mehi-o-ratea gingen, wäre Mauretan in den Heerlagern für immer geächtet und galt fortan bei allen Kriegern als Vogelfrei.
Er verlor damit jedes Recht als Krieger und Bürger von Falméra. Jeder Krieger mochte ihn erschlagen, wenn ihm danach war, und würde von keinem Gericht des Königs dafür belangt werden. Das aber verschwieg er Raspina. Sie würde sonst jegliche Hoffnung verlieren, vielleicht sogar das Vertrauen in ihn, Areos, den Sohn ihres Königs.
Er musste Mauretan in ihren geheimen Pakt mit einbeziehen, wollten sie die Willkür Jamálins und Bentals erfolgreich abwenden. Eine andere Lösung fiel ihm nicht ein.
»Raspina, wisst ihr, in welchem Heerlager Mauretan dient?« fragte Sebastian das Mädchen. Raspina schüttelte traurig den Kopf und hob ahnungslos die Schultern. Er ließ aber nicht locker.
»Versucht euch zu erinnern, hat er einmal erzählt, wo sein Lager liegt, ist es weit entfernt, oder nahe an der Stadt? Trug er einmal seinen Waffenrock, habt ihr das Wappen darauf erkannt?« Basti zog alle Register seiner Fähigkeiten.
»Ja«, besann sich das Mädchen, »er trug ein Wappen, in der Farbe der Sonne war es, und der Kopf eines Pla-ka und ein Schwert waren darauf zu sehen! Doch wie vermag uns das zu helfen?« Freilich waren Sebastians Gedanken zu komplex, um sie Raspina in der Kürze zu erklären. Daher sagte er nur:
»Vertraut mir, ja? Ich glaube, ich habe einen Weg gefunden, wie uns beiden geholfen werden kann. Ihr, Raspina, bleibt jetzt schön hier sitzen, und lauft mir nicht fort! Ich bin sogleich zurück, dann sehen wir weiter.«
Damit ließ er das Mädchen in der Dunkelheit zurück. Es ging nicht anders, doch er rechnete damit, dass sie sich in Aussicht auf eine Lösung wieder etwas beruhigte.
Sebastian mied das Elsirenfeuer und die Menschenmenge, in der sich zweifellos noch Bental und Jamálin aufhalten mussten. Nicht auszudenken, wenn er einem über beiden über den Weg lief, ohne Raspina! Aufmerksam nach allen Seiten spähend, huschte er zum inneren Tor und öffnete die Tür zum Wachraum.
Als hätte er in ein Wespennest gestochen, stoben die Wachsoldaten erschrocken auseinander, die eben noch die Köpfe zusammengesteckt hatten. Einer ließ noch rasch einen Krug verschwinden, in dem sich gewiss keine Ziegenmilch befand. Genrath, der Wachhauptmann stellte sich schützend vor seine Männer.
»Areos, Herr, das Tor hat eine eingeteilte Wache, Herr, die Männer hier haben nur für eine Zentare...« Sebastian unterbrach ihn, winkte lapidar ab und sagte:
»Das will ich gar nicht wissen, Genrath, die Männer sollen ruhig auch ein bisschen feiern, solange sie ihren Wachauftrag nicht vernachlässigen. Mit euch allein habe ich zu reden, draußen bitte!«
Mit einem erleichterten ja Herr folgte ihm Genrath zuerst hinaus, dann in den gegenüberliegenden Treppenturm, dessen Eingangsraum nur spärlich beleuchtet war.
»Genrath, ich habe wieder einmal einen Auftrag für euch, der absolute Verschwiegenheit erfordert«, kündigte Areos mit leiser Stimme geheimnisvoll an.
»Ihr sucht einen eurer zuverlässigsten Männer aus, und schickt ihn auf der Stelle und eilig in das dritte Heerlager der berittenen Kohorten. Es liegt nur ein par Zentaren vor der Stadt in der erwachenden Sonne. Sorgt dafür, dass er sich dem Heerlagerführer als mein persönlicher Melder zu erkennen gibt! Er soll den Krieger Mauretan, Sohn des Fischers, und seinen Kohortenführer schnell und ohne jede Verzögerung zu mir bringen. Hier, nehmt das, es wird euren Mann als mein Melder ausweisen!«
Damit legte Areos seinen ledernen Gelenkschutz ab, der des Königs Wappen trug, und gab ihn Genrath. Dann fügte er noch hinzu:
»Ich erwarte euch dann am kleinen Brunnen im inneren Hof!« Sebastian wollte sich schon zum Gehen abwenden, drehte sich aber noch einmal um und ermahnte den Wachführer:
»Ach und Genrath, diese Beredung hat niemals stattgefunden, haben wir uns verstanden? Egal, wer danach fragt, ihr werdet euch nicht mehr erinnern können, ebenso, wie eure Männer. Sollte es nötig sein, dann macht den Kerlen dort drinnen klar, dass ich sehr wohl weiß, welchen Inhalt ihre Krüge verbergen!« Damit nickte er zum Wachraum hin.
»Seid meiner Verschwiegenheit gewiss, Herr«, versicherte der Hauptmann. Sie verließen den Treppenturm, sahen nach allen Seiten, ob niemand ihre Zusammenkunft beobachtet hatte, und trennten sich. Sebastian schlich sich wieder zu Raspina zurück, die immer noch auf dem Brunnenrand saß.
Doch als er sie erreichte, lagen seine Sachen in ihrem Schoß. Beschützend hielt sie ihre Hände auf seinen Waffenrock, das bestickte Hemd und den Umhang. Lächelnd präsentierte sie ihm die Kleider, die das fremde Oranuti- Mädchen aufgefangen hatte.
»Woher habt ihr meine Kleidung, Raspina«, fragte er verwundert und ein wenig enttäuscht, denn er hätte gern die Bekanntschaft der schönen, geheimnisvollen Unbekannten gemacht.
»Sie hat es mir gebracht, als ihr fort wart, Areos, jene, die am Rand des Elsirenfeuers stand und uns beobachtet hatte. Sie war plötzlich da, hinter mir, als wäre sie aus der Mauer getreten, und hat mir eure Kleider zum Tausch da gelassen«, antwortete seine kleine Verbündete. Sebastian sah sie fragend an.
»Was heißt das, sie hat sie zum Tausch da gelassen?« wollte er wissen. Irgendwie ahnte er, dass es mit der bloßen Rückgabe seiner Sachen noch nicht belassen war.
»Sie hatte sich meinen Armreif dafür erbeten«, berichtete Raspina, »er war nichts besonderes, ich hatte ihn von einem Freund meines Vaters, der mit Dingen handelt, welche aus den Bäumen gemacht sind, welche tief unten im großen Wasser leben.«
Er versuchte sich den Armreif Raspinas in Erinnerung zu rufen. Ja, entsann er sich, sie trug einen tiefroten Reif, der von weißen Adern durchzogen war. Nun wurde ihm klar, dass es ein Korallenreif gewesen war. Koralle, in seiner Welt beinahe schon am aussterben und daher begehrt, schien bei den Oranuti keinen großen Wert zu besitzen.
»Hat die Oranuti sonst noch etwas gesagt, etwa, dass sie mir etwas mitzuteilen hätte?« hakte Sebastian neugierig nach. Aber Raspina schüttelte nur den Kopf.
Er fand es reichlich merkwürdig. Eine einsame Oranuti, von Gestalt wahrscheinliche eine Schönheit, errang die Kleidung des begehrtesten Tänzers, und anstatt sie, wie üblich, als Trophäe zu behalten, tauschte sie ihre Beute gegen einen unbedeutenden Armreif bei dessen Tanzpartnerin ein. War sie am Ende eine Spionin, eine, die im Zahlbuch Torbuks stand?
Skeptisch untersuchte Sebastian seine Kleider, konnte aber nichts Verdächtiges feststellen. Wohl aber bemerkte er, dass Raspina vor Kälte zitterte. Hier, abseits des Feuers, griff die Kühle der Nacht nach der nur dünn bekleideten Tänzerin. Ohne zu zögern hängte Sebastian ihr seinen Umhang um, rieb den Stoff auf ihren Schultern und legte den Arm um sie.
»Das wird euch warm halten, denke ich«, sprach er väterlich, »und nun will ich euch meinen Plan erklären.« Er wartete, bis Raspina sich etwas wohler fühlte, bevor er ihr seine Absichten mitteilte, die sie beide zu einer kleinen Verschwörung vereinen sollten.
»Also, Raspina, ihr wollt Mauretan, ich will Sonnenherz! Und wir müssen beide unsere Väter glauben machen, dass dies auch in ihrem Sinne ist«, stellte Sebastian noch einmal fest, um Missverständnisse auszuschließen. Ernst sah er Raspina tief in die Augen und fragte beinahe beschwörend:
»Wie weit seid ihr bereit zu gehen, dass ihr euer Herz mit dem Mauretans verbinden könnt? Was ist es euch wert, welches Opfer würdet ihr dafür bringen? Wolltet ihr euren eigenen Vater darum mit einer Unwahrheit beladen, welche ihm aber nicht schaden soll, vermögt ihr das zu tun?«
Basti fragte es so eindringlich, und Raspina war anzusehen, dass sie mit ernsthaften Zweifeln darüber nachsann. Sie betrachtete die angesengten Stellen ihres Kleides und schien zu überlegen, mit sich noch im Unreinen. Doch dann blickte sie Areos offen ins Gesicht und verkündete mit einer wie neu geborenen Selbstsicherheit:
»Alles, Areos, ich will alles dafür tun, und wenn es meinem Vater nicht an Leib und Seele schadet, so mag ich ihn auch mit einer Lüge hintergehen!« Areos nickte feierlich und bekräftigte ihren Mut mit einem freundschaftlichen Händedruck.
In diesem Moment kam eine einzelne Person langsam aus dem Lichtkreis der Feiernden auf sie zu. Sebastian gebot Raspina zu schweigen und sie warteten. Möglicherweise war es jemand, der sich etwas abseits vom Trubel erholen wollte. Doch als sich die Augen des Störenfrieds an das Dunkel gewöhnt hatten, kam er rasch zielstrebig auf die beiden zu.
»Frethnal«, rief Sebastian seinem Diener entgegen, »Was bei den Göttern schleicht ihr hier herum, wie eine Schlange auf Beute?«
»Verzeiht Herr, euer ergebener Diener wollte euch nicht stören«, entschuldigte sich Frethnal unterwürfig, »doch der König selbst beauftragte mich, nach euch zu sehen. Er macht sich Sorgen um euch, Herr, und um die Tochter des...«
»Ja, ja, ja«, unterbrach ihn Basti genervt, »nun habt ihr uns ja gefunden, nicht wahr? Der König wünscht sich, dass wir einander näher kommen. Nun, ich arbeite daran, wie ihr seht! So geht denn hin und erzählt ihm und seinem neuen Verbündeten, was ihr gesehen habt!«
»Sehr wohl, Herr«, verbeugte sich Frethnal und wollte wieder in der Nacht verschwinden. Basti aber reif ihm noch nach:
»Frethnal! Ein Wort noch! Wenn ihr seiner gütigen Hoheit berichtet habt, dann kommt ihr hierher zurück, stellt euch dort drüben bei den Fackeln auf, und sorgt dafür, dass wir nicht mehr gestört werden, ja?«
»Sehr wohl, Herr, nicht mehr gestört!« wiederholte der Diener laut, aber eher mehr für sein eigenes Gedächtnis.
»Und Frethnal«, hielt ihn Sebastian noch einmal auf, »lasst endlich einmal dieses alberne sehr wohl Herr!« Damit verschwand der gutmütige Diener im Gegenlicht des großen Feuers und Sebastian, alias Areos wandte sich wieder Raspina zu. Inzwischen war ihm klar geworden, wie sie beiden Vätern kräftig in die Suppe spucken konnten, ohne ihnen ernsthaft zu schaden.
»Nun hört gut zu, Raspina«, begann er. »Wenn Mauretan damit einverstanden ist, so wirst du deinem Vater alsbald in Ehrfurcht gestehen, dass ein kleines Herz aus Mauretans Saat unter deinem Herzen wohnt!«
Das Mädchen wurde trotz des roten Scheins des Feuers urplötzlich leichenblass. Sie starrte Areos an, als hätte von ihr verlangt, sich von der höchsten Zinne der Burg zu stürzen, und im Grunde genommen kam es für sie auf dasselbe heraus.
»Nein! Bei den Göttern, das kann ich nicht tun, was verlangt ihr da nur von mir?« begehrte sie halb erschüttert, halb trotzig auf. Sebastian aber argumentierte schonungslos weiter, denn die Zeit rann ihnen allmählich davon.
»Was ist schon dabei?« fragte er und beschwichtigte, »ihr tut doch nichts, was ihr nicht sowieso eines Tages tun werdet, denn ihr liebt doch Mauretan von ganzem Herzen und ihr wollt mit ihm euer Leben teilen, oder etwa nicht?«
»Das schon«, bestätigte Raspina kleinlaut, fügte aber verzweifelt hinzu: »Doch mein Vater wird mich bis zum Tode prügeln, wenn ich ihm das gestehe, und er wird von mir verlangen zu einer Heilerin zu gehen, um das kleine Herz in meinem Leib töten zu lassen!« Sebastian wiegte den Kopf nachdenklich, dann entgegnete er:
»Nun, dann wird die Heilerin eben feststellen, dass der Tod des kleinen Herzens nicht möglich ist, ohne euer eigen Leben zu gefährden!« Dabei dachte Sebastian an die alte Binerin, welche sich möglicherweise auf einen solchen Handel einlassen würde, sollte es nötig werden. Dann fiel Sebastian noch eine List ein:
»Außerdem wird euer Vater nicht wagen Hand an euch zu legen, wenn ihr erst einmal in den Stand der Burgfrauen von Falméra erhoben worden seid!« verkündete er siegessicher.
Burgfrauen, das wusste Sebastian aus den Schriften, waren seit jeher immer wieder berufen worden und standen unter dem persönlichen Schutz des Königs. Wer sie anging, hatte sein Leben verwirkt, und mochte mit der irdischen Welt abschließen, oder in weite Ferne entfliehen. Auch eine Erwählte des Thronerben, wurde automatisch in diesen Stand erhoben, der ihr Schutz und Unterkunft in den Mauern der Himmelsburg gewährte.
Als Raspina noch immer zögerte, entsetzt und skeptisch drein blickte, versuchte sie Basti noch auf eine einfachere Weise zu beruhigen:
»Raspina! Du bist das einzige Kind Fürst Jamálins! Denk doch mal nach! Welcher Vater wird seinem einzigen Kinde etwas antun, nur weil es seine Forderung ausschlägt, einen Mann seiner Wahl zu nehmen?«
»Jeder Vater, welcher ein Oranuti ist«, schluchzte das Mädchen, »wenn seine Tochter etwas tut, das seine Ehre, oder sein Ansehen unter den Oranuti beschmutzt. Er hat nach den Geboten unserer Götter das recht dazu!« klärte sie ihn auf und fügte hinzu:
»Er wird nicht zulassen, dass ein einfacher Krieger ohne Stand seine Tochter bekommt. Es verletzt seinen Stolz!« Basti legte ihr beruhigend seine Hand auf den Arm.
»Nun, ich denke, da wird sich etwas machen lassen«, stellte er ihr in Aussicht, »schließlich bin ich der Führer aller Heerlager!« Er rückte noch ein Stück näher an Raspina heran und sie steckten die Köpfe zusammen, wie wahre Verschwörer es tun. Sebastian wollte nun wissen:
»Wenn ich euch nun helfe, und euch den Weg bereite, mit Mauretan eine Verbindung einzugehen, werdet ihr mir dann ebenfalls helfen, eurem Vater das Land, welches er so begehrt, auszureden?«
Raspina versprach es und Sebastian versuchte ihr zu erklären, wie sie ihren Vater beeinflussen und zu einer Änderung seiner Absichten bewegen konnte.
»Also hört genau zu! Ihr werdet eurem Vater erzählen, ihr habt auf dem Fest gehört, dass auf den hohen Weiden zwischen der Burg und dem Tal der roten Steine, sowie auf dem Land hinter dem Tal, über den Felsen neue Heerlager aufgestellt werden sollen. Sagt ihm einfach, ihr habt es von einem Berater des Königs gehört, der in eurer Nähe stand! Wollt ihr das für mich tun?« Das Mädchen sah in verwundert an und fragte skeptisch:
»Das ist alles, was ihr von mir verlangt? Mein Vater wird das aber nicht einfach so glauben«, warf sie bedenklich ein. Sebastian lenkte zuversichtlich ein.
»O, ich werde schon dafür sorgen, dass er es glaubt. Er wird sich gewiss davon überzeugen wollen, und ich werde das nötige dazu tun, damit er das zu sehen bekommt, was er sehen soll!«
Gerade, als er darüber nachdachte, ob er sie in Einzelheiten einweihen sollte, näherte sich Frethnal vorsichtig von weitem. Gleichzeitig huschte plötzlich im Schatten der Burgfassade eine Gestalt an ihnen vorbei. Sebastian sah dem Geist verwundert nach, seine Augen vermochten gerade noch einen wehenden golden Stoff wahrzunehmen, der im Restlicht schwach funkelte. Ein Hauch von Zitronenduft stieg ihm kurz in die Nase.
Staunend sah er Raspina an, die ebenso ratlos drein schaute. Anscheinend hatte sich eine Frau, oder ein Mädchen in der Mauernische verborgen, um ihrem heimlichen Gespräch zu lauschen. Neugierige Weiber, dachte Basti. Da war auch schon Frethnal heran.
»Genrath ist mit zwei Kriegern da, Herr. Er sagt, ihr hättet nach ihnen geschickt.« Sebastian winkte ihn heran.
»Holt die beiden her, sagt Genrath meinen Dank und gebt ihm das hier!« damit griff er in seine Hosentasche und gab Frethnal einige Quarts Ringgeld. Der Diener verschwand in Richtung inneres Tor und Sebastian sagte zu Raspina:
»Ich habe eine freudige Überraschung für euch, wartet hier eine Zentare, und lauft mir ja nicht davon!« Dann ging er Frethnal entgegen. Zwei kräftige Männer folgten ihm. Einer im Waffenrock des Kohortenführers, mit entsprechenden Beschlägen auf seinem Ledergürtel, der andere im schlichten Rock des Kriegers.
»Mauretan?« sprach Areos den einfacher gekleideten an. Dieser verneigte sich vor seinem ranghöchsten Heerführer und antwortete etwas unsicher:
»Ja, Herr, Mauretan, dritte Kohorte, dritte berittene Garde der Heerlager, Herr! Ihr habt nach mir schicken lassen, Herr?«
»So ist es!« bestätigte Sebastian. »Ihr seid mit Raspina, Tochter des Jamálin gut bekannt?« fragte Sebastian direkt und schonungslos. Der junge Mann trat nervös von einem Fuß auf den anderen und bejahte die Frage.
»Dann könnt ihr jetzt zu dem Brunnen dort hinüber gehen. Ihr werdet dort auf mich warten!« ordnete Basti an und sah hinter dem Jüngling her, der skeptisch und vorsichtig in die Dunkelheit schritt.
Sebastian musste bei der Vorstellung schmunzeln, wie er plötzlich überraschend seine Liebste vorfinden würde. Rasch aber wurde er wieder ernst und wandte sich dem Kohortenführer zu, einem kräftigen, mittelgroßen Mann, dem man seine Erfahrung im Kampf ansah.
Sein Gesicht war gezeichnet von einer Vielzahl von Narben, die er sich kaum im Schlaf zugezogen hatte. Seine harten, unerbittlichen Augen verrieten einen ernst zu nehmenden Gegner, der seinem Feind keine Chance lassen würde. Dieser Mann hatte bereits Schlachten geschlagen.
»Ihr seid der Kohortenführer jenes Jungen dort?« fragte Areos mehr der Form halber. Der Mann nickte knapp und stellte sich vor:
»Hetarus, Herr, dritte Kohorte, dritte Reitergarde, Herr.« Sebastian schickte den gerade zurückkehrenden Frethnal wieder auf seinen Sicherungsposten, um nicht noch von einem angetrunkenen Gast gestört zu werden, dann sagte er zu Hetarus:
»Ich möchte gern etwas über Mauretan wissen, euren Krieger, welcher mit euch gekommen ist. Was vermögt ihr mir über ihn zu sagen?« Der Kohortenführer wurde zwar nicht nervös, doch er wollte nicht mit der Sprache heraus. Vermutlich befürchtete er Repressalien, wenn er die falsche Antwort gab.
»Sprecht nur frei heraus«, forderte Areos den Mann auf, »es wird euch niemand nachtragen, wenn ihr etwas sagt, das nicht für die Gunst des Mauretan spricht. Ich will eine ehrliche Antwort von euch und ich halte euch für erfahren genug, sie mir kund zu tun. Ich nehme an, ihr habt bereits in Schlachten gekämpft.«
Areos sagte das ganz bewusst als Feststellung, nicht als Frage, um den Mann aus der Reserve zu locken. Der ließ sich aber nur schwer beeindrucken. Dennoch antwortete er pflichtgemäß:
»Ich diente in eurer alten Reitergarde, Herr«, bestätigte Hetarus stolz, »in der fünften Kohorte, welche in der großen Schlacht eure rechte Flanke deckte und auch hielt, Herr!«
Sebastian wusste, warum Hetarus das besonders hervorhob. In den Schriften konnte er nachlesen, dass die Schlacht auch darum verloren ging, weil die linke Flanke eingebrochen war, durch Verrat zwar. Böse Zungen behaupteten jedoch, sie wäre bei besserer Führung dennoch zu halten gewesen.
»Nun, ich dachte mir, dass ihr ein erfahrener Krieger seid«, schmeichelte ihm Areos, »darum glaube ich von euch ein ehrliches Urteil über jenen jungen Mann dort zu hören. Sagt mir also, führt er sich gut, ist er lehrbar, ist er mutig, oder übt er sich eher in Rückhaltung?« Hetarus hob unsicher die Schultern, teilte Areos dann aber selbstsicher mit:
»Er hat bis zu dieser Zentare noch keinen Kampf in einer Schlacht bestritten, Herr, wie könnte ich da über ihn urteilen? Doch zeigt er Mut und Besonnenheit in den Feldübungen. Er vermag seine Waffenbrüder anzuspornen und ist ein guter Reiter wie Schwertkämpfer, der seinen Pla-ka achtet und gut behandelt. Ich darf euch bei meiner Ehre als Krieger Kunde tun, dass er in der ganzen Kohorte geachtet und als guter Freund befunden wird!«
Areos wiegte gewichtig seinen Kopf hin und her, als fiel ihm die Entscheidung nicht leicht, bevor er dem verdutzten Mann mitteilte:
»Nun, Hetarus, ich habe eine schlechte Nachricht für euch. Ihr werdet euch einen neuen Reiter suchen müssen! Mauretan wird ab dem nächsten Sonnenlauf nicht mehr in eurer Kohorte dienen!«
Der Kohortenführer war auf eine solche Entwicklung nicht gefasst, und ihm fiel vor Schreck der Unterkiefer herunter, für einen Moment nur, dann hatte sich der hart gesottene Mann wieder in der Disziplin.
»Ohne euren Unmut zu schüren, Herr, aber darf euer ergebener Diener, wissen, warum das?« fragte Hetarus vorsichtig. Sebastian lachte ihn freundschaftlich an und sprach:
»Natürlich dürft ihr das, Hetarus, und meinen Unmut hättet ihr erregt, hättet ihr nicht gefragt! So kann ich euch mitteilen, dass ich Mauretan eine andere Aufgabe zugedacht habe. Möglicherweise als Kohortenführer in einem neuen Heerlager.«
»Verzeiht, Herr«, entgegnete Hetarus, »aber Mauretan ist nur von geringstem, einfachstem Stand, der Sohn eines Fischers, bedenkt das wohl, Herr!« Sebastian legte dem Kohortenführer seinen Arm auf die Schulter und sagte mit mildem Ton:
»Seht Hetarus, das ist euer Vorteil! Ihr seid nicht der Sohn des Königs, ihr seid nicht der Führer der Heerlager, und müsst euch nicht mit solchen Entscheidungen herumärgern! Ihr müsst euch nur um eure Krieger, eure Waffen und eure Pla-ka kümmern.« Er machte eine gedankliche Pause und sprach weiter:
»Ich hingegen, Areos von Falméra, muss in jedem Sonnenlauf, zu jeder Zentare Dinge zum Wohle des Volkes tun, welche niemand sonst verstehen mag. Ich muss mich außerdem dem König selbst erklären, wohingegen ihr euch eurem Heerlagerführer erklären müsst. Und diesem werde ich mitteilen, dass er einen Krieger ersetzen muss!«
Sebastian dämpfte nun seinen Ton und gab dem Kohortenführer das Gefühl, als würde er ihn in ein großes Geheimnisses einweihen.
»Hetarus, wenn es jetzt auch nicht so aussehen mag, doch die Zentare einer alles entscheidenden Schlacht wird nicht mehr allzu fern sein, ob nun vor den Toren Falméras, oder jenen von Quaronas. Ich brauche Führer wie euch, welche aus den jungen Männern starke und kluge Krieger machen, die den Feind nicht zu fürchten brauchen!« Areos schritt neben ihm dem Tor zu, von gleich zu gleich, gab ihm so das Gefühl, so wichtig, wie ein Heerlagerführer zu sein.
»Ihr habt schon einmal unter meinem Wappen gekämpft, Hetarus, und wir wurden geschlagen. Aber ich habe daraus gelernt, wir alle haben daraus gelernt! Und das nächste Mal werden wir siegen! Wollt ihr mir das glauben?«
»Ja, Herr«, bestätigte Hetarus. Areos nickte zufrieden und fuhr fort:
»Gut. Dann sorgt dafür, dass eure jungen Krieger dies ebenfalls glauben. Und kümmert euch nicht darum, wenn ich, oder der König, einmal einen Krieger zu unseren persönlichen Diensten berufen. Dies dient ebenso unserem Ziel, wie eure Aufgabe, die Krieger für einen Kampf vorzubereiten, wollt ihr mir das ebenfalls glauben?«
»Ja Herr«, versicherte der Mann abermals. Areos bot ihm zum Abschied seinen Arm, in den Hetarus zögerlich in der Weise einschlug, wie es die Krieger untereinander taten, und gab ihm noch ein Wort mit auf den Weg.
»Ich vertraue auf euch und eure Erfahrung als Kohortenführer, Hetarus. Kehrt nun zu eurem Lager zurück! Ich will eure Mühe nicht vergessen und eurem Heerlagerführer wohlwollend berichten, wie zuverlässig und treu ihr meinem Ruf gefolgt seid!«
Der Kohortenführer verneigte sich leicht, wandte sich um und ging erhobenen Hauptes dem Tor zu. Sebastian aber kehrte zum Brunnen zurück, und fand Raspina und Mauretan in enger Umarmung. Er räusperte sich laut, denn die beiden hatten ihn wegen der lauten Musik der Spielleute nicht kommen hören. Mauretan verbeugte sich tief vor Areos und fragte offen:
»Ihr habt mich rufen lassen, Areos, Herr?« Sebastian packte ihn an der Schulter und zog ihn ein Stück weit von Raspina fort.
»Ja, das habe ich, Mauretan«, bekundete er mit strenger Stimme. »Zunächst einmal, meine Krieger verbeugen sich nicht, sondern verneigen sich nur, wenn sie eine Waffe tragen! So manch einer hat sich dabei schon eine Wunde zugefügt, welche nicht mehr heilen wollte. Nun aber auf ein anderes Wort!« Sebastians Tonfall wurde etwas vertrauter.
»Wie ich vernehmen konnte, seid ihr ein guter Krieger, oder doch wohl auf dem besten Wege, einer zu werden! Habt ihr vor, für immer Krieger in meiner Reiterkohorte zu bleiben, oder habt ihr euch noch ein anderes, höheres Ziel gesetzt?« fragte Sebastian offen heraus. Ebenso offen antwortete der junge Mann:
»Herr, ich bin nicht von hohem Stand, daher vermag ich keine andere Bitte zu stellen, als in eurer dritten Kohorte bleiben zu dürfen!« Sebastian seufzte, denn er befürchtete, dass dies noch eine längere Unterredung werden würde.
»Na schön, junger Mann«, begann er, »nun vergesst mal euren Stand und antwortet mir frei heraus: Könnt ihr euch vorstellen, Kohortenführer in einem Heerlager zu werden, das ich neu aufstellen werde? Traut ihr euch eine solche Aufgabe zu?«
»Ja, Herr, das täte ich wohl. Doch welcher Art soll das Heerlager sein? Verzeiht die Frage, Herr!« gab Mauretan zurück.
»Nun, eure Frage zeigt mir, dass ihr nachdenkt! Und ich will euch nicht verschweigen«, gestand Sebastian, »dass es ein Heerlager zur Überwachung der Küste Falméras sein wird. Sollte Falméra angegriffen werden, so seid ihr im Kampf an der vordersten Linie! Eure Kohorte wäre die erste, welche dem Feind entgegen zu treten hätte! Doch muss es erst gar nicht dazu kommen, wenn ihr wache und aufmerksame Augen besitzt, und diese auch zu benutzen wisst!«
Areos erklärte ihm in Kürze, was er mit der Aufstellung eines Heerlagers zur Sicherung der Küste bezweckte und wie dies geschehen sollte.
»Ihr wäret zunächst mit dem Bau und der Bedienung der Meldeanlagen betraut. Ebenfalls wäre es eure Aufgabe, Wachtposten einzuteilen, diese zu überwachen und auszubilden. Über eure neuen Aufgaben hättet ihr aber unbedingt Schweigen zu bewahren! Selbst mit eurer Familie und Raspina dürftet ihr nicht darüber sprechen!« ermahnte ihn Areos. Er sah Mauretans Unsicherheit und fragte:
»Habt ihr damit Hader, so sagt es gleich heraus. Es gibt sicherlich eine große Zahl junger Männer, die einer solchen Aufgabe zugetan wären, wenn sie dafür Aussicht hätten, eine Ständerolle zu erhalten«, gab er wie beiläufig zu verstehen.
»Heißt das etwa...« Mauretan wagte seine Vermutung und heimliche Hoffnung nicht auszusprechen. Areos nickte zustimmend und vollendete seinen Gedanken.
»Ja, das heißt, ihr würdet in den Stand der Edelleute erhoben werden, mit Rolle und Wappen! Mit der Aussicht, dann einmal Heerlagerführer zu werden, eure Tüchtigkeit, eure Klugheit und euren Mut vorausgenommen. So würde euch sicher auch Fürst Jamálin wohl heißen und einer Verbindung seiner Tochter Raspina mit euch zustimmen.«
»Aber Herr, da weiß ich gar nicht, was ich nun sagen soll«, entfuhr es dem Jungen vor Überraschung und er ließ seinen Mund offen stehen, als hätte ihn die überwältigende Nachricht gelähmt. Areos lachte ihn aufmunternd an und riet ihm:
»Nun, zuerst würde ich an eurer Stelle den Mund schließen, sonst verirren sich darin noch ein paar Ná-chins. Ansonsten sagt einfach nur Ja! Allerdings, zwei Bedingungen muss ich von euch fordern!«
»Alles Herr, alles, was ihr wollt, fordert von mir, was euch beliebt, ich werde es euch erfüllen!« warf sich Mauretan ins Zeug, als er seinen ersten Schreck überwunden hatte. Die Ereignisse schienen ihn schlicht zu überrollen.
»Nun mal langsam, so schlimm wird es nicht werden«, beruhigte ihn Areos. Er zog den Jungen etwas dichter an sich heran, um nicht so laut gegen das Hämmern der Musik anschreien zu müssen.
»Als erstes geht es um Raspina, ihr liebt sie doch?« Die Frage schien ziemlich überflüssig, doch Sebastian wollte Mauretan das Gewicht seiner Entscheidung vor Augen führen.
»Ja Herr, ich liebe sie sehr und ich tue alles was nötig ist, um mit ihr verbunden zu bleiben!« sagte er so feierlich, als sprach er ein Gelübde.
»Ihr würdet euer Leben für sie geben, wenn dies gefordert würde?« forschte Areos weiter nach und sah ihn eindringlich an.
»Ja Herr, das würde ich ohne zu zögern!« kam es selbstsicher aus seinem Munde. Sebastian nickte beruhigt und fuhr fort:
»Dann hört mir mal gut zu, Mauretan! Egal, was jemals geschehen mag, ihr werdet Raspina niemals allein lassen, oder einer unnötigen Gefahr aussetzen! Ihr werdet sie als die mit euch verbundene Frau ehren und wert schätzen, niemals schlagen, oder sonst wie verletzen, wollt ihr mir das bei eurem Leben versprechen?«
»Ja Herr, das will ich!« verkündete er strahlend. Das genügte Sebastian. Er schob Mauretan zurück zum Brunnen, wo Raspina immer noch wartete und sagte:
»Ihr werdet zu Beginn des Sonnenlaufs zu eurem Heerlager zurückkehren und alles holen, was euer ist. Dann geht ihr zu Genrath, dem Hauptmann der Torwache! Ich werde alsbald die Küste bereisen und nach einem guten Platz für das neue Heerlager suchen. Ihr werdet mich begleiten, bis wir einen geeigneten Ort gefunden haben! Nun die zweite Bedingung: Ihr werdet über all das und jedem gegenüber Stillschweigen bewahren, wie ein Toter!« Sebastian machte eine ausholende Armbewegung über den Burghof und fuhr fort:
»Für diese Nacht seid ihr als mein persönlicher Gast auf dem Fest Talris willkommen. Ich werde mit Raspina zur Gesellschaft zurückgehen. Ihr folgt ein par Zentaren später. Ich werde tun, als stellte ich euch Fürst Jamálin vor. Habt ihr das verstanden?« Mauretan nickte und bestätigte mit dem üblichen Ja Herr, das Sebastian beinahe schon zu den Ohren heraus hing.
Raspinas Hand auf seinem Arm, sittsam ins Gespräch vertieft, so gesellten die beiden sich wieder in die Runde des Königs und Fürst Jamálins, um die sich bereits einige Oranuti und ein par Sebastian unbekannte Edelfrauen geschart hatten.
Das Wummern und Jaulen der Musik zwang sie zu schreien, wenn sie sich verständigen wollten. Das veranlasste Bental, seine engere Gesellschaft in den Festsaal zu bitten, wo Früchte und Getränke gereicht wurden. Dort reichte ihm der König Tálinos. Er hatte das Schwert während des Tanzes an sich genommen und Sebastian legte es sich wieder um. Die Lautstärke der Musik war einigermaßen erträglich, und Fürst Jamálin fragte seine Tochter:
»Nun, hat dir der Tanz Freude bereitet, mein Kind?« Raspina blickte ihm völlig unbedarft in die Augen und antwortete:
»Areos ist ein vorzüglicher Tänzer, Vater. Wir haben uns gut unterhalten.« Der Fürst neigte den Kopf etwas und bemerkte vorsichtig:
»Ihr wart ja auch eine Weile fort, nicht wahr?« Für diese Zweideutigkeit wäre Sebastian dem Vater Raspinas am liebsten an die Kehle gefahren. Doch er beherrschte sich und konterte:
»Ich war so frei, eurer Tochter die Küche zu zeigen«, log er frech. Und gerade wollte er noch etwas hinzusetzen, als sich Mauretan zögerlich der Rinde der großen Männer näherte. Sebastian sah ihm an, dass er sich so unbehaglich wie nie zuvor in seinem Leben fühlte. Als Fürst Jamálin den Mann erkannte, der sich trotz Verbot heimlich mit seiner Tochter traf, quollen ihm fast die Augen über. Er schnappte wie ein Erstickender nach Luft und lief rot an.
»Was macht dieser hier?« entfuhr es ihm mit der ganzen Entrüstung eines betrogenen Vaters. Sebastian reagierte sofort, fasste Mauretan am Ärmel und zog ihn in den Kreis. Er bot all seine Schauspielkunst auf und verkündete laut:
»Eure gütige Hoheit, Fürst Jamálin, Raspina, werte Anwesende, ich möchte einen persönlichen Gast, einen guten Freund, und einen Krieger vorstellen, der sich im Dienste seiner gütigen Hoheit mit besonderem Mut und Einsatz über die Maßen hervorgetan hat!«
Sebastian beobachtete das Antlitz des Fürsten, in welchem sich pure Entrüstung in unkontrollierten Zuckungen und in zusammengekniffenen Lippen zeigte. Sebastian aber geriet nun erst recht in Fahrt, angesichts des offensichtlichen Erfolgs seiner Aktion.
»Mauretan hat sich mit besonderem Geschick, großem Mut und unermüdlichem Einsatz meine persönliche Hochachtung verdient, und ich werde ihn als Kohortenführer und später wohl als Heerlagerführer einer neuen Einheit einsetzen, sofern eure gütige Hoheit eine Ständerolle bejaht.« Damit sah er Bental direkt an, der mit fahriger Handbewegung die Ankündigung absegnete.
Fürst Jamálin platzte fast. Und Bental sah sich in einer Zwickmühle. Nie hätte er einer Ständeerhebung am Rande eines Festes zugestimmt. Doch ebenso wenig konnte er die Autorität seines imaginären Sohnes untergraben. Also war die Erhebung Mauretans in den Stand der Edelleute eine so gut wie beschlossene Sache!
»Verehrte hohe Herren, hier haben wir einen Krieger, einen Mann, der etwas wert ist, der einmal Großes erreichen wird! Männer wie ihn braucht das Land, durch Männer wie ihn gelangte die Himmelsburg seit jeher zu Ruhm und Ehre!« pries Sebastian den Liebsten Raspinas. Und Basti ging noch weiter.
»Er wird künftig als mein persönlicher Berater, und auf meiner nächsten Reise als mein persönlicher Schutz dienen!« Damit war Mauretan für jeden unangreifbar, welcher sich nicht auch mit dem König überwerfen wollte.
Sebastian wusste, dass er den Bogen weit überspannt, und sich weit über seine Fähigkeiten hinaus gewagt hatte. Doch letztlich ging es um ihn und Antarona! Um ihr gemeinsames Leben, ihr Glück und ihre Zukunft zu retten, war er bereit so zu lügen, dass sich selbst die Türme der Himmelsburg vor Scham zur Seite neigten.
Dann spielte Areos seinen großen Trumpf gegen den Oranuti- Fürsten aus. Er schnappte Mauretan am Arm und schob den völlig überrumpelten Raspina zu.
»Wie wäre es, wenn ihr uns unter Beweis stellt, dass ihr auch beim Elsirentanz euren Mann zu stehen wisst«, schlug er vor und sah Raspina an, »euer Wohlwollen und eure Bereitschaft natürlich vorausgesetzt, Raspina!«
»Sehr gerne, Herr«, freute sich Raspina begeistert und zog den jungen Krieger sofort mit sich aus dem Saal, der gerade noch wie ein ängstliches Kaninchen zu Fürst Jamálin hinüber gesehen hatte.
Der Fürst indes, ebenso überrascht wie Mauretan, hob abwehrend die Hände und öffnete seinen Mund zum Protest. Doch kein Laut kam über seine Lippen. Der Mund blieb offen stehen, seine Hände erhoben, als hätte ihn plötzlich der Schlag getroffen.
Ehe er sich versah, war sein Töchterchen mit jenem Mann auf und davon, den er am allerwenigsten in seiner Familie wünschte. Sebastian, der das Entsetzen in seinem Gesicht las, tat verwundert und seinerseits entrüstet.
»Was habt ihr, Fürst, es ist nur Mauretan, einer unserer besten, aufrichtigsten Krieger! Ich würde diesem Jungen mein Leben anvertrauen, also seid ohne Sorge, eure Tochter ist bei ihm in guten Händen!«
Bental, der vom heimlichen Pakt zwischen Raspina und Areos freilich nichts wusste, ebenso wenig wie von der heimlichen Verbindung Raspinas und Mauretans, versuchte Jamálin zu beschwichtigen.
»Seid ohne Bedenken, Fürst, wenn Areos diesem Mann vertraut, welcher zudem die Ständerolle erhält, so vertraue auch ich ihm, und ihr solltet es ebenfalls tun. Oder gibt euch etwas berechtigten Anlass, dem zu widersprechen?« Bental sah ihn forschend an.
Fürst Jamálin biss sich auf die Unterlippe, dann mahlten seine Zähne, dass es aussah, ein verborgener Mechanismus hätte sich hinter seinen Wangen selbst in Gang gesetzt. Gequält und mit einiger Überwindung gab er zu:
»Nein, es ist alles gut! Wenn meine Tochter Spaß mit ihm hat und es ihr an Leib und Leben nicht schadet, so mag er sie mit meinem Segen zum Tanz führen!«
Sebastian sah den beiden nach, wie sie in der Tür zum Korridor verschwanden. Er wollte sich schon wieder zu König, Fürst und Gesellschaft umdrehen, als er eine Gestalt wahr nahm, die neben einer Gruppe Bürger stand, die sich angeregt unterhielten, gerade mal drei Schritte von ihm entfernt.
Das Mädchen mit dem feizügig geschnittenen Elsirenkleid, dem Schleiertuch vor dem Gesicht und der flachen, zylinderförmigen roten Kappe auf dem Kopf wäre ihm im Gegenlicht zum Feuerschein gar nicht aufgefallen, wenn sie nicht so reglos und unbeteiligt, wie ein Geist, dagestanden hätte.
Sie war es! Das Mädchen, das seine Kleidung beim Tanz aufgefangen, und später unter rätselhafter Absicht Raspina übergeben hatte. Sie stand einfach nur da, sah ihn an, sagte kein Wort, bewegte sich nicht. Sebastian wurde beinahe unheimlich zumute.
Eine außergewöhnliche Schönheit musste sich hinter dem Schleier verbergen, denn die leicht gebräunte, ebenmäßige und glatte Haut, die sie zwischen dem knappen, mit Glitzersteinen reich verzierten Oberteil und dem tief sitzenden, durchscheinenden Rock aus feinem, golden schimmerndem Stoff zur Schau trug, verriet Gesundheit an Körper und Geist.
Sie war schlank, beinahe von so zierlicher Gestalt, wie Antarona. Und sie war eine Oranuti! Ihre Füße steckten in kleinen Schuhen, die selbst schon filigrane Kunstwerke waren, mit Applikationen aus Perlen und bunten Fäden versehen. Ihren Kopf umschmeichelte ein offen getragenes Tuch, dass ihr über die Schultern fiel und im Licht der Fackeln tausendfach glitzerte.
Etwas an ihr, Sebastian vermochte nicht zu sagen was es war, zog ihn magisch an. War es das Geheimnisvolle an ihr, das Unbekannte, das ihn reizte, oder war er eher von ihren irdischen Reizen angetan? Zweifellos war sie eine wandelnde Verführung. Ihre gerade gewachsenen, eleganten Schultern, ihre samt schimmernde Haut, ein kleiner glänzender Stein in ihrem Bauchnabel, die schmale Taille, alles an ihr lockte ihn.
Der Schleier, der ihr Antlitz verbarg sprach jedoch ein deutliches Tabu aus. Näherte er sich einer verschleierten Tochter der Oranuti in eindeutiger Absicht, so mochte das durchaus eine politische Krise mit unabsehbaren Folgen auslösen. Sie konnte die Tochter eines einflussreichen Fürsten sein, der das Volk der Oranuti in Falméra vertrat!
Aber würde sie sich ihm so offensichtlich präsentieren, ihm mit ihrem Verhalten Rätsel aufgeben, wenn er ihr gleichgültig war? Was aber beabsichtigte sie?
Wie angenagelt stand sie da, einer überirdischen Erscheinung gleich, und er spürte förmlich ihre Blicke, die ihn aus der Anonymität des Schleiers heraus trafen. Die anderen Umstehenden schienen sie gar nicht wahrzunehmen. War sie am Ende eine Halluzination, ein Streich seiner Wahrnehmung, eine Posse seines eigenen Geistes, seiner heimlichen Wünsche?
Sebastian ging einen Schritt auf sie zu, sie wich einen Schritt zurück! Der König, Fürst Jamálin, Raspina und Mauretan, alle waren plötzlich vergessen. Dieses Mädchen hatte seine Neugier geweckt, ja mehr noch, sie verstand es, den Jagdtrieb eines Mannes herauszufordern!
Wieder schritt er langsam zwei Beinlängen auf sie zu, und wieder wich sie rückwärts um das gleiche Maß zurück. Inzwischen stand sie knapp vor der Tür zum Korridor. Sie spielte mit ihm! Sie war sich durchaus ihrer Reize bewusst, und lockte ihn damit.
Mittlerweile hielt Sebastian ihr Schleiertuch für pure Dekoration. Er glaubte, sie wollte ihn locken, mit dem Schleier jedoch auf Distanz halten. Gut, sollte sie ihr Spiel haben! Er brannte darauf, herauszufinden, was sich hinter dieser süßen Versuchung verbarg.
Aber auch sein Gewissen regte sich. Mochte es eine Falle sein? Eine im Schutz der Wirren des Festes eingeschleuste Venusfalle, die ihn dorthin locken sollte, wo man ihn ungesehen entführen konnte? In diesem Fall war es ein wahrlich tollkühner, verwegener Plan!
Oder wollte jemand nur seines Schwertes habhaft werden? Tálinos war immerhin nicht nur ein Schwert mit besonderen Kräften, sondern barg Geheimnisse, die kaum jemand Irdisches zu ergründen vermochte! Es verlieh Macht. Und auf welche Weise genau, hatte Sebastian noch nicht einmal herausgefunden.
Wollte sie ihn nach draußen, in die Dunkelheit locken? Das wollte er zu verhindern wissen! Noch einmal machte er zwei Schritte auf sie zu und sie glich den Abstand wieder aus. Nun standen sie auf dem Flur. Sie waren allein. Die Tür zum Burghof stand offen, doch entweder befanden sich die anderen Gäste im Festsaal, oder draußen beim Feuertanz.
»Ihr müsst euch nicht vor mir fürchten«, versuchte Basti ein Gespräch zu beginnen, »würdet ihr mir die Ehre erweisen, den Tanz der Elsiren mit mir zu tanzen?« Doch die Fremde antwortete nicht. Sie stand nur mitten im Korridor und wartete.
Als Sebastian erneut einen Schritt in ihre Richtung machte, vergrößerte auch sie wieder ihren Abstand um diese Länge und in Richtung der Tür nach draußen. Nun war klar, dass sie ihn in die Nacht locken wollte! Aber das sollte ihr nicht gelingen!
Auf sechs bis sieben Schritt schätzte er den Abstand zu ihr. Unmittelbar neben ihr befand sich eine zwei Meter tiefe Nische, in der, wie sich Basti erinnerte, eine massive Truhe stand. Er schätzte seine Möglichkeiten ab, und rief sich in Erinnerung, was Antarona ihm beigebracht hatte. Urplötzlich machte er einen Satz nach vorn.
Wie er es von Antarona gelernt hatte, verriet er seine Absicht nicht durch Anspannung, nicht durch ein Muskelzucken, ja nicht einmal durch den Gedanken an sein Vorhaben. Und es funktionierte! Er flog förmlich aus dem Stand vorwärts, ergriff nicht gerade sanft ihre nackte Taille und schob sie blitzschnell in die Nische, wo er sie unerbittlich neben der Truhe an die Wand drückte.
Das Mädchen war so überrascht, dass es keine zunächst keine Gegenwehr leistete. Sebastian nagelte sie mit seinen kräftigen Armen regelrecht fest, so dass sie kaum noch Luft bekam. Dennoch kam kein Ton über ihre Lippen. Konnte sie nicht sprechen, war sie am Ende so stumm, wie Vesgarina? Basti schoss ein Gedanke durch den Kopf.
War sie vielleicht sogar Vesgarina, die von Antarona geschickt worden war, um ihn zu testen, ob er den Reizen einer anderen Frau erliegen würde?
»So, du spielst nicht mehr mit mir«, versuchte er ihr klar zu machen, »und nun wollen wir doch mal sehen, wer sich hinter dem Schleier versteckt, nicht wahr?«
Bei diesen Worten, mit denen Sebastian sie leicht schüttelte, wurde sie auf einem Mal lebendig. Sie stemmte sich mit aller Gewalt gegen seine Schultern und er hatte Mühe, sie an der Hüfte zu halten. Sie setzte ein Kraft ein, die er einem solch zierlichen Körper nicht zugetraut hatte.
Für einen Augenblick verharrten sie in einem Patt. Sie versuchte ihn mit aller Kraft auf Abstand zu halten, und ihr Dekolltee hob und senkte sich unter ihrem schnellen Atem. Er hingegen war bemüht, seinen Griff um ihre Taille keinen Augenblick zu lockern.
Ihre Haut verströmte einen sinnlichen Duft, der ihm sofort in die Nase stieg. Eine Mischung aus Pfefferminz und Lemonen, vielleicht eine Idee Ingwer, eine Komposition, die er bei noch keiner Frau erlebt hatte. Aber gerade das reizte ihn, herauszufinden, wer die geheimnisvolle Unbekannte war.
Da er befürchten musste, sie könnte auf den Einfall kommen, ihm die Augen auszukratzen, wollte er seine Hände unverhofft von ihrer Taille nehmen und sich ihre Handgelenke greifen. Doch sie schien seine Gedanken erraten zu haben, denn sie war schneller.
Blitzschnell lösten sich ihre kleinen Hände von seiner Schulter und griffen in den Ausschnitt seines Hemdes. Sie bekam den Anhänger mit dem blauen Licht zu fassen, den Sebastian von Antaronas Tante bekommen hatte, und riss das Lederband mit einem kräftigen Ruck von seinem Hals.
Damit hatte Sebastian überhaupt nicht gerechnet, und als er seine Hände überrascht zu seinem Hals führte, nutzte das Mädchen die Gunst der Sekunde, duckte sich unter seinen Armen hindurch und huschte auf den Korridor.
Sofort setzte Basti nach und sah gerade noch, wie sie zurück in den Festsaal lief. Mit wenigen Schritten stand er in der Tür und ließ seinen Blick über die dichtgedrängt stehenden Gäste schweifen, auf die hin und her eilenden Bediensteten und die in Gruppen herumstehenden, die sich unterhielten, lachten, oder auch nur der Musik zuhörten, die von draußen hereindrang. Von dem flinken, unbekannten Mädchen war nichts mehr zu sehen. Sie schien sich in pure Luft aufgelöst zu haben!
Eine Weile noch schlenderte Sebastian im Festsaal umher, stets beide Türen im Auge, sowohl jene, die auf den Korridor führte, und jene, durch die man in den zweiten Festsaal gelang, in dem die Tafel gerichtet war. Er hoffte die Kleine noch irgendwo aufzuscheuchen. Doch von dem geheimnisvollen Mädchen fehlte jede Spur.
Intuitiv griff sich Sebastian an den Hals. Den kleinen Anhänger, welchen Antarona als Kind plötzlich wie durch Zauberei um den Hals trug, als man sie bei einer Schar Krähen wiedergefunden hatte, und nachdem sie eine lange Zeit verschwunden war, hatte er eingebüßt.
Das kam davon, wenn man hinter jedem Rockzipfel her war, der einem über den Weg lief, schalt sich Sebastian in Gedanken selbst. Oder hatte es das Mädchen gezielt auf diesen Anhänger abgesehen? Steckte in diesem kleinen Ding möglicherweise ein größeres Geheimnis, als er vermutete?
Oder war der Anhänger, den er nie abgelegt hatte, Antarona selbst aufgefallen, und sie hatte Vesgarina geschickt, ihm das Stück abzunehmen, ohne selbst in Verdacht zu geraten? Nein! Basti schüttelte den Kopf. So neugierig war Antarona nicht. Sie hätte offen danach gefragt!
Sein Verdacht, das Mädchen könnte Vesgarina gewesen sein, erwuchs sich allein aus der Tatsache, dass sie nicht einen Laut von sich gegeben hatte, selbst dann nicht, als er sie mit dem Griff in die Taille an die Wand drückte, was sicher nicht ganz schmerzfrei war.
Hätte er wenigstens ihre Haare erkennen können! Die hatte sie aber nach alter Tradition der Oranuti unter dem langen Kopftuch und der Kappe verborgen. Obwohl der Verlust des Anhängers sicherlich ärgerlich war, und er gerne noch dessen Vermächtnis herausgefunden hätte, machte ihm mehr zu schaffen, dass er von einer zierlichen Frau, halb so schwer wie er selbst, genarrt worden war, und dass sie ihm entwischen konnte.
Das blaue Licht aber, dieser geheimnisvolle Anhänger, der vermutlich aus Sebastians eigener Welt stammte, brachte ihn auf einen Gedanken. Tálinos! Er wollte herausfinden, ob sich in dem Schwert der Götter, das Bental so sehr hütete, ebenso eine Inschrift verbarg, wie in Antaronas Nantakis.
Da er sich ohnehin schon von Bental und Fürst Jamálin entfernt hatte, nahm er die Gelegenheit wahr, und trat nach draußen auf den Hof. Er blickte zum Himmel und stellte fest, eine leichte Bewölkung, wie eine Herde Schafe darunter hin zog. Sie verdeckte den Mond, doch hin und wieder drang ein Schimmer des Erdtrabanten durch die Nebel und erhellte minimal das Dach der Burg.
Ein kleines Stück weit zog er Tálinos aus der Metall besetzten Scheide. Allein der Schein des Elsirenfeuers verhinderte, dass er etwas erkennen konnte. Er musste einen Platz abseits aller irdischen Lichtquellen finden!
Nach links, rechts, und hinter sich blickend, ob ihm niemand folgte, eilte er zum Torhaus, öffnete die Tür zum Treppenturm einen Spalt breit, spähte hindurch, und als er feststellte, dass sich niemand darin befand, huschte er hinein. Drinnen brannte nur eine einzelne Fackel vor sich hin. Eine weitere Tür führte in den Treppenaufgang.
Doch Sebastian stieg nicht die Treppe empor, sondern zwängte sich an der Gegenseite unter die Treppe. Dort wusste er eine kleine Tür, die kaum benutzt, in den Vorgarten des Palais führte. Durch Zufall hatte er einmal bei der Vermessung diesen Zugang zum Garten gefunden, der von der starken Wehranlage der Burg umgeben war.
Vorsichtig drückte sich Basti an die Mauer der hohen Fassade. Er wollte nicht riskieren, in die Mitte des Gartens zu gehen, wo man ihn von den Fenstern her hätte sehen können. Im Schatten des Gemäuer wartete er, bis einer Wolke einfiel, den Mond frei zu geben.
Dann zog er ehrfürchtig das Schwert aus der Scheide und ein angenehmer, aufregender Schauer huschte ihm über den Rücken! Kaum schien das Mondlicht auf die Klinge, da flammten wie durch eine geheimnisvolle Magie reich verzierte Schriftzeilen in bläulichem Licht auf. Ein wenig erinnerte Basti dieser Effekt an ein St. Elmsfeuer, das eher selten vor starken Gewittern auftrat.
Rasch zog er einen Bleistiftstummel und ein Stück zerknittertes Pergament aus seiner Hosentasche, die er stets bei sich trug, und malte die Zeilen sorgfältig ab, die in der alten Schrift der Îval verfasst waren. Um sie zu übersetzen, musste er etwas mehr Licht haben. Das konnte er später tun!
Er beeilte sich, alles aufzuschreiben, bevor eine neue Wolke die helle Himmelskugel wieder verhüllte. Wer vermochte schon zu sagen, wann er wieder Gelegenheit hatte, Tálinos zu tragen, und ob dann gerade wieder Vollmond war?
Als er alle Inschriften notiert hatte, steckte er Stift und Papier wieder ein und betrachtete noch eine Weile die flammende Schrift. Sie glühte und waberte, als lebten Millionen von winzigen Leuchtalgen in ihr. Erst als der Mond wieder hinter einer Wolke verschwand, erlosch auch das geheimnisvolle Glimmen.
Zufrieden steckte er Tálinos wieder ein. Das Schwert hatte ihm erzählt, was er wissen wollte! Aber plötzlich kam ihm ein weiterer Einfall! War es möglich, dass jenes blaue Licht des Anhängers, den nun das unbekannte Mädchen besaß, ebenfalls diese Inschriften sichtbar machen konnte? War sie nur darauf aus? Besaß noch jemand eines der vier Schwerter der Götter?
Mit einem langsamen Kopfschütteln erhob sich Sebastian und ging zur Turmtür zurück. Zu viele Spekulationen, die zu nichts führten! Außerdem hatte er ja, was er von Tálinos begehrte! Er konnte es kaum erwarten, die Inschrift zu übersetzen, und sie mit jener zu vergleichen, die er von Nantakis Klinge abgeschrieben hatte.
Als Sebastian zum Fest zurückkehrte, hatten sich die Reihen der Gäste bereits gelichtet. Das Elsirenfeuer brannte aber noch immer, und Raspina sah er unermüdlich mit Mauretan zwischen den anderen Tanzpaaren herumwirbeln.
Sein Blick suchte König Bental und Fürst Jamálin. Da er sie nirgends entdecken konnte, warf er einen besorgten Blick auf die Fenstergalerie. Was mochte Antarona gerade tun? Er wollte sie sofort aufsuchen, sobald er sich unbemerkt absetzen konnte.
Da lief ihm unverhofft Frethnal über den Weg. Er war mit einem Tablett voll Trinkbechern und Kelchen beladen.
»Wo ist der König, Frethnal?« wollte Sebastian wissen. Der Diener stellte das Tablett ab, rieb sich vor Schmerz die Arme und antwortete:
»Mit zwei Fürsten und Elwha und noch einigen anderen sowie Hekthur sah ich ihn in den Turm der versinkenden Sonne gehen, Herr.«
»Dann werden sie sich wohl in den Sitzungssaal zur Beratung zurückgezogen haben«, überlegte Basti laut. Er deutete auf Frethnals Tablett und fragte:
»Wie lange werdet ihr das da heute noch machen?« Frethnal verzog sein Gesicht zu einer mitleiderregenden Miene und erklärte:
»Vesgarina und ich sind dazu geheißen, bis der letzte Gast fort ist. Dann müssen wir den anderen noch beim Aufräumen helfen. Hekthur hat das angeordnet.« Basti zog die Augenbrauen hoch und sagte dem erstaunten Diener:
»Wenn das so ist, mein Guter, dann werdet ihr beide im nächsten Sonnenlauf solange Ausschlafen, wie es euch beliebt. Ich brauche euch nicht, und Antarona wird Vesgarinas Dienste ebenfalls nicht benötigen. Das Schlafgemach in meinen Gemächern, welches zur Wehrmauer hin liegt, ist unbenutzt, Frethnal. Ich wünsche, dass ihr es benutzt!«
Frethnal wollte schon protestieren, denn es war der Dienerschaft strikt untersagt, sich in den Räumen der Herrschaft aufzuhalten, wenn es nicht deren Reinigung, oder Pflege diente, erst recht nicht, um sich im herrschaftlichen Bett der Leidenschaft untereinander hinzugeben. Doch Sebastian beseitigte jeden Zweifel an seiner Anordnung.
»Keine Widerrede, Frethnal! Weder ich noch Antarona können etwas mit übermüdeten und unaufmerksamen Bediensteten beschicken. Und wenn ihr euch in eure eigenen Stuben zurückzieht, werdet ihr nicht lange Ruhe haben. Hekthur wird euch zu finden wissen. Also ist es abgemacht. Ihr zieht euch in mein Schlafgemach zurück! Ich werde verlauten lassen, dass ich selbst dort nicht gestört werden will!«
Areos Kammerdiener verbeugte sich übertrieben und bedankte sich überschwänglich und in nicht enden wollenden Gesten.
»Hört mit diesem albernen Auf und Nieder auf, Frethnal«, sagte Sebastian kopfschüttelnd, »tut einfach nur, was ich sage, das genügt! Und lasst um der Götter Willen endlich dieses bescheuerte Ja Herr, sonst vergesse ich mich! Habt ihr verstanden?« Die letzte Frage war Sebastians Fehler. Denn sogleich kam prompt:
»Ja Herr!« Sebastian lächelte in sich hinein. Das würde sich wohl niemals ändern, so sehr er auch versuchen würde, seinem Kammerdiener dieses überflüssige, wie lästige Getue abzugewöhnen.
Sebastian wanderte noch eine Zeit lang zwischen den Gästen hin und her, zeigte Präsenz, schlug hier in eine Hand ein, beantwortete dort eine Frage und stellte sich manchem Gespräch, das er für so unsinnig, wie zeitraubend empfand. Doch er war nun einmal Areos, der Sohn des Königs!
Ein jeder und eine jede buhlte um seine Gesellschaft, auch wenn sie nichts zu sagen hatten. Deutlich merkte er, dass viele gar nicht wussten, worüber sie ein Gespräch mit ihm beginnen sollten. Doch es war allgemeines Bestreben, es war hilfreich wie attraktiv, im Austausch mit dem Thronfolger gesehen zu werden!
So musste er dumme, belanglose Fragen und längst bekannte Erzählungen über sich ergehen lassen. Die am häufigsten gestellte Frage betraf seine Rückkehr aus dem Reich der Toten. Natürlich wollte jeder wissen, wie es denn dort drüben, wo noch die Götter regierten, gewesen war. Auch die Frage, ob er denn im Reich der Götter und der Toten die Hallen von Talris gesehen habe, blieb nicht aus.
Sebastian hatte sie gesehen! Doch er sah sie in einer Welt, die irdischer nicht sein konnte. Und er wusste, wo der Eingang in dieses begehrteste Vermächtnis der Îval- Kultur zu finden war. Doch er hütete sich, auch nur anzudeuten, dass er etwas darüber wusste.
Den allzu Neugierigen erklärte er, dass er nicht bis in die Hallen von Talris gelangt war, da er ja von den Göttern aus dem Reich der Toten zurück in die Welt der Lebenden gesandt wurde. Die meisten glaubten die Hallen von Talris im ewigen Eis bei den Göttern.
Nur wenige spekulierten darüber, ob sie nicht irgendwo zwischen Quaronas, Zarollon und Falméra zu finden waren. Und jene stützten sich auch nur auf die Überlieferungen der Alten, welche noch die alte Schrift der Îval, die Schrift der Götter lesen konnten. Woher sonst vermochten sie die alten Zeichen zu kennen, wenn nicht aus den von Sagen umwobenen Hallen selbst?
Für die neue Generation der Îval waren die Hallen von Talris nicht mehr, als eine in ihrer Glaubensgeschichte vorkommende Mär. Nur ein unerschrockenes Mädchen, eine Kriegerin, eine Mutterweise, hatte den gefährlichen Weg in diese Mär gefunden und wurde zur Hüterin dieses Vermächtnisses. Antarona!
Sebastian, der nun ebenfalls in das Geheimnis eingeweiht war, um dessen Preisgabe Torbuk das Land nahe dem ewigen Eis unterdrückte, tat, als glaubte er selbst nicht so recht an dessen Existenz. Es schien ihm der einzige Schutz davor zu sein, von neugierigen Fragen bedrängt zu werden.
Zwei Stunden noch stellte sich Sebastian als Areos den Fragen, Bedürfnissen und Anliegen von Gästen, angesehenen Bürgern und Edelleuten. Dann erlosch allmählich das Elsirenfeuer, Tänzerinnen und Tänzer verließen die Burg, oder zogen sich in ihre Gastgemächer zurück, Gäste machten sich auf den Weg in ihre Herbergen, und als die Sterne bereits verblassten, begab sich auch Sebastian in seine Gemächer.
Um noch Antarona aufzusuchen, war es bereits zu spät, oder noch zu früh, je nach Betrachtung. Seine Müdigkeit hatte er inzwischen überwunden. Unschlüssig, was er nun tun sollte, warf er sich auf sein Bett und faltete das Pergament auseinander, auf dem er die Inschrift Tálinos notiert hatte.
Er las die Verse, und las sie immer wieder und wieder, verstand aber ihren Sinn nicht. Sie klangen wie eine geheimnisvolle Wegbeschreibung, welche der Verfasser in ein Gedicht gekleidet hatte...

Drehe nach des Berges Wind
Die Tafel tausender Tränen
Wohin all die Zeichen sind
Die Schritte sich nun sehnen

Der Götter alte Pfade
Durch Aue und durch Wald
Unter der Bäche Kaskade
Und über Felsen bald

In wahren Geschichten
Aus uralter Zeit
Am Wege dir berichten
In treuem Geleit

Ersteige die Stufen
Durch Baum und auf Stein
Höre das tiefe Rufen
Verborgener Wasser Pein


Von Falméras Feste an
Über tiefe Wasser hin
Der roten Sonne Bann
Weist des Wegs Beginn

Gegen Wassers steten Lauf
Entlang der Elsiren Wall
Zu klaren Wellen hinauf
Durch des Nebels Niederfall

Wandeln über dem Grund
In der Mauer eine Rinne
Führt durch Berges Schlund
Zu hochhehrer Zinne

Klaren Fluten entgegen
Durch tiefen, kalten Stein
An Sommerfeste gelegen
Tritt in Gors Haupte ein

Sebastian faltete das Pergament wieder zusammen und erhob sich von seiner Schlafstatt. Im Dunkeln schlich er durch seine Gemächer in die Bibliothek. Er nahm ein dickes, ledergebundenes Buch aus dem Regal, in dessen Seiten er bei seinen Recherchen die Mythologie der Götterwesen des Volkes der Îval entdeckt hatte.
Zwischen den letzten Seiten des schweren Buches befand sich ein zusammengefaltetes Blatt. Die Inschrift Nantakis! Vorsichtig schob er seine Notizen dazwischen, klappte den Wälzer wieder zu und verstaute ihn im Regal.
Es brannte ihm unter den Nägeln, sich eingehender mit den Inschriften, auch im Zusammenhang mit der Mythologie zu beschäftigen. In jeder Mythologie steckte bekanntlich ein Stückchen Wahrheit, und möglicherweise gelang es ihm auf diesem Wege herauszufinden, in was für eine seltsame Welt er geraten war, und welche Geheimnisse sie ihm noch vorenthielt...

Als es über den Bergen in der erwachenden Sonne bereits zu dämmern begann, entschloss er sich, in Antaronas Gemächer zu schleichen, um unter ihre warmen Felle zu kriechen. Aber dieses Mal wollte er den kleinen Treppenturm seines Lesezimmers benutzen, um ein Stockwerk höher zu gelangen.
Zum einen wollte er sich in den staubigen, teils verrußten Geheimgängen nicht schmutzig machen, zum anderen fragte er sich, wozu sonst sie sich die Mühe gemacht hatten, die Türen zu dem Türmchen aufzubrechen.
Eilig entledigte er sich seines Waffenrocks und der Stiefel, lediglich sein Bowiemesser steckte r sich noch in den Gürtel. Das Hemd warf er letztlich noch im Vorübergehen über eine Stuhllehne. In Lendenschurz und Beinlingen wand er sich hinter den Vorhang, der die Tür zum Turm verbarg.
Auf leisen Sohlen, schlich er die Steinstufen hinauf, die sich in der frühen Morgenstunde ekelhaft kalt und feucht anfühlten. Umweht von einem unangenehmen Wind, der von unten herauf durch den Turm zog, und von dem Basti sich fragte, woher er kam, erinnerte er sich daran, dass er nur leicht bekleidet war, und beeilte sich etwas.
Oben angekommen, bemühte er sich vergebens, die alte Tür ohne Geräusche zu öffnen. Das Knacken und Knarren schien durch die ganze Burg zu hallen. Sebastian erstarrte für einen Moment und lauschte. Doch es rührte sich nichts, und so balancierte er auf Zehenspitzen durch Antaronas Bibliothek und die angrenzenden Räume bis zu ihrem Bad, vorsichtig weiter ins Kaminzimmer und in den Salon, der an ihr Schlafgemach grenzte.
Vorsichtig öffnete er die Tür zu ihrem Ankleidezimmer einen Spalt breit und lugte hindurch. Das Zimmer war nur von einer Reihe von Säulen und Bögen vom Schlafgemach getrennt, die mit schweren Tüchern behangen waren. Schon einmal war er unbedacht durch die Säulen marschiert und hatte eine Überraschung erlebt.
Diesmal wollte er es sein, der Antarona überraschte! Blind tastete er sich durch das Ankleidezimmer, bis er die dicken Vorhänge zu greifen bekam, und sie behutsam auseinander zog. Das Schlafgemach lag noch im Dunkel und Antaronas Bett konnte er nur erahnen.
In der Finsternis ertastete er einen Tisch, einen Stuhl, dann stieß sein Fuß gegen ein Hindernis, das polternd umfiel. Während Sebastian noch in sich hinein fluchte, flammte hinter ihm ein Licht auf. Erschrocken wirbelte er herum und hielt im gleichen Augenblick sein Messer in der Hand, das er aber gleich wieder sinken ließ.
Antarona stand in der Öffnung des Vorhangs, durch die er gerade getreten war, eine Fackel in der einen Hand, Nantakis in der anderen. Wie machte sie das? Sie musste im Dunkeln der Ankleidekammer gewartet haben, und er war wie ein Blinder an ihr vorübergeschlichen.
»Du wusstest, dass ich noch komme?« fragte Sebastian, obwohl er die Antwort bereits kannte. Antarona nickte und zündete weitere Lichter in ihrem Schlafgemach an, bis ein warmes, gelbes Licht den Raum erfüllte.
»Sonnenherz spürte eure Sehnsucht und wartete auf euch, Ba - shtie.« Sie stand vor ihm wie eine golden schimmernde Statue, wie ein Abbild einer ihrer Göttinnen.
Sie trug den Rock eines Elsirenkleides, ein filigranes, goldenes Gespinst aus Luft und Nebel, das nichts verhüllte und ihr tief auf der Taille saß. Ein kleiner glitzernder Punkt funkelte in ihrem Bauchnabel. Ein Steinchen, das mit seinen Facetten das Licht jeder Fackel, jeder Kerze spiegelte.
Im Geiste ergänzte Sebastian ein glitzerndes Oberteil, das ihre festen Brüste bedeckte, einen Schleier und eine rot Kappe, sowie ein paar kleine, bestickte Schuhe, und eine heimliche Ahnung stieg in ihm hoch.
Antarona trug ihr Haar wie immer offen, mit einigen geflochtenen Strähnchen und den eingebundenen Federn. Ihre Handgelenke, Arme, Knie-, und Fußgelenke zierten wie üblich Federn und Muschelschmuck, die mit Lederbändern befestigt waren. Basti aber erkannte den hauchdünnen Rock und das Steinchen wieder.
Und noch etwas verriet sie. Als er sich ihr näherte, verströmte ihr verführerischer Körper den sinnlichen Duft von Lemonen und Minze, von Ingwer und Zimt. Ihre Brüste glänzten unnatürlich im Schein der Fackeln und der süßlich schwere Geruch von Sandelholz und Patschuli schlug ihm entgegen.
Sie hatte sich die Brüste mit einem duftenden Öl eingerieben, dessen intensiver Geruch wohl von der ursprünglichen Note ablenken sollte! Sebastian musste innerlich schmunzeln. Seinen ausgeprägten Geruchssinn vermochte sie nun einmal nicht zu täuschen.
Aber er tat, als merkte er nichts. Er wollte sehen, wie weit sie mit ihrem Versteckspiel ging, und wann sie die berühmte Katze aus dem Sack ließ. Mit zwei großen Schritten war er bei ihr. Seine kräftigen Hände legten sich um ihre Taille und zogen ihren warmen Körper an ihn. Sofort wurde sie wie flüssiges Wachs in seinen Armen und ihr Leib drängte sich verlangend an ihn.
Sanft strichen Sebastians Hände tiefer, er spürte ihre Haut durch den dünnen Stoff, ertastete ihre Rundungen, hielten sie fest gepackt. Nach einem ersten atemraubenden Kuss ließ er seine Küsse an ihr herunterwandern und sog dabei die verschiedenen Nuancen ihres Duftes durch die Nase.
Eindeutig! Ihre Brüste bedeckte der seidige Glanz eines Öls, das stark anders duftete, als ihr Bauch, der noch den frischen, animierenden Duft trug, der ihm von der schönen Fremden auf dem Fest entgegenschlug! War sie so naiv zu glauben, ihn mit so billigen Tricks hereinlegen zu können? Oder wollte sie ihn mit diesem Spiel einfach nur herausfordern?
»Woher wusstest du, wie sehr ich dich vermisste, mein Engelchen?« fragte er mit gespieltem Erstaunen in der Stimme, als er seine Nase in ihrem Bauchnabel vergrub und zärtlich ihr kleines Schmucksteinchen küsste. Er stellte sich bewusst dumm, um nun seinerseits sie herauszufordern.
»Sonnenherz weiß nun, dass ihr jene, welche sich Raspina nennt, und die Tochter des Fürsten Jamálin ist, nicht liebt!« verkündete sie mit erstaunlicher, für Basti jedoch nicht überraschender Sicherheit.
»Ach ja?« fragte er übertrieben überrascht. »Und woher weißt du das schon wieder?« Ihre Arme drückten ihn ein paar Zentimeter von sich fort und ihr Blick funkelte überlegen.
»Sonneherz weiß noch mehr!« offenbarte sie ihm mit einem Stolz in der Stimme, als hätte sie etwas Großes vollbracht.
»Sie weiß, dass ihr Raspina helft, jenen zu bekommen, mit welchem sie sich verbunden hat. Sie weiß, dass ihr sie schon einmal abgewiesen habt, weil ihr Sonnenherz liebt! Und sie weiß, dass ihr jetzt das Geheimnis der heiligen Schwerter der Götter kennt!«
Sebastian hatte inzwischen bereits vermutet, dass Antarona es war, die ihn und Raspina heimlich am Brunnen belauscht hatte, und dass sie auch die geheimnisvolle Unbekannte gewesen war, die mit ihm das neckische Spiel getrieben hatte. Doch dass sie ihn selbst dabei beobachtet hatte, als er die Inschrift Tálinos entzifferte, hätte er nicht gedacht.
Wie brachte sie das fertig? Konnte sie sich auch noch unsichtbar machen? Hatten ihre Krähen ihn beobachtet, durch deren Augen Antarona offenbar ebenfalls zu blicken vermochte? Sebastian spielte weiterhin den ahnungslosen Naivling.
»Sag mal, Antarona, kannst du durch Mauern hindurch und durch die Finsternis der Nacht sehen?« fragte er unschuldig erstaunt. Anstelle einer Antwort fuhren Antaronas Finger langsam unter den Saum ihres durchscheinenden Kleides und Sebastian dachte schon daran, dass sie ihn mit der völligen Entblößung ihres Körpers ablenken wollte.
Fast feierlich, mit einer bedeutsamen Geste zog sie ein Lederband aus ihrem verschleierten Schoß hervor, an dem ein glänzend goldener Anhänger baumelte, den sie ihm nun direkt und mit triumphalem Blick in den Augen vor die Nase hielt. Das Amulett! Der Anhänger, das blaue Licht, das ihm die schöne Unbekannte auf dem Fest entrissen hatte! Anschließend griff sie noch einmal in den Saum und förderte Raspinas Armreif aus Koralle zu Tage. Demonstrativ ließ sie das Schmuckstück um ihren Finger kreisen.
»Du warst das?« Sebastians zur Schau gestellte Verwunderung erhöhte noch ihren Stolz, ihn getäuscht zu haben, den Mann, den die Götter gesandt hatten!
»Dann hast du mich den ganzen Abend beobachtet? Du warst immer irgendwo in meiner Nähe? Du hast das ganze Fest Talris miterlebt?« Sebastians Schauspiel wirkte echt. Er gab sich alle Mühe, wirklich verblüfft auszusehen.
»Ba - shtie, Sonnenherz zweifelte nicht an eurer Treue zu ihr, doch ihre Krallen hätten Raspina zerrissen, hätte sie es gewagt, euch zu verführen!« gestand sie ihm ohne Scham. Und Sebastian zweifelte keinen Augenblick daran, dass sie Raspina ziemlich deutlich zu verstehen gegeben hätte, zu welcher Frau er gehörte.
Heimlich bewunderte er sie dafür! Sie würde wie eine Tigerin bis aufs Blut für ihn kämpfen! Hatte er schon geglaubt, den wirklichen Wert dieser wunderbaren Frau zu kennen, so gelang es ihr doch immer wieder, ihn mit einer weiteren erstaunlichen Eigenschaft zu überraschen!
»Was ist dies für ein Ding, das ihr da neben der Binerin Zauber um den Hals tragt, Ba - shtie?« wollte sie nun wissen. »Es scheint aus den Tränen der Götter gemacht, doch ist es dafür zu kalt und von zu heller Farbe!« Basti staunte nicht schlecht, dass Antarona in der Lage war, Gold von anderen Metallen zu unterscheiden.
Aber er hatte die Frage schon viel früher befürchtet und antwortete mit der bereits seit längerem zurecht gelegten Lüge, die ihm ohne Zögern von den Lippen ging.
»Ach, das ist nur ein einfacher Schmuck aus einem Metall, das den Tränen der Götter gleicht«, erklärte er wie nebensächlich, um ein weiteres Interesse Antaronas zu vermeiden. Doch er war sich nicht der weiblichen Intuition bewusst, die auch seine Frau besaß, welche Männergeheimnisse kilometerweit gegen den Wind riechen konnte.
»Aber am See und in der Höhle, und auch während des Weges nach Falméra trugt ihr das Ding noch nicht«, stellte Antarona fest, »ist es neu, Ba - shtie, woher habt ihr es?«
Sebastian befand sich in einer Zwickmühle. Leugnete er die wahre Herkunft des Gegenstandes, so würde Antarona spüren, dass er log. Gestand er ihr aber die Wahrheit, so konnte es geschehen, dass sie von ihm die Vernichtung des Lichts verlangte, so, wie sie es bei den Karten des Unbekannten aus der Hütte getan hatte.
Doch er wollte um jeden Preis das Geheimnis dieser leuchtenden Messingpatrone ergründen, die offenbar aus seiner eigenen Welt stammte. Sie war möglicherweise ein Hinweis darauf, wo er sich befand, und wie er notfalls wieder nach Hause kam.
Nach Hause? Sebastian musste lachen. Im Grunde war er doch längst Zuhause! Hatte er nicht längst seine Welt hinter sich gelassen und die neue, abenteuerliche, faszinierende Welt Antaronas als sein neues Zuhause akzeptiert? Bald würde er mit Antarona eine Familie gründen. Längst war er Zuhause angekommen!
»Was erheitert euch daran, Ba - shtie, macht ihr euch lustig über Sonnenherz?« wollte seine Frau wissen und sah ihn vorwurfsvoll an.
»Ich lache über mich selbst«, beichtete er ihr, »weil ich es für nicht wichtig hielt, dir zu erzählen, woher dieses Ding ist. Ich habe es nämlich von deiner Tante bekommen!«
»Ihr habt es von Zinthia?« fragte Antarona erstaunt. Er nickte und hängte sich das Licht wieder um, bevor er antwortete:
»Ich hatte es gesehen und hatte sie darum gebeten. Sie selbst konnte nichts damit anfangen. Ist doch ein schöner Schmuck, findest du nicht auch? Sieht aus wie aus den Tränen der Götter gemacht«, spielte er die ganze Sache herunter.
Aber er hatte zumindest nicht gelogen! Wohl auch nicht alles preisgegeben, aber die Wahrheit gesagt! Hatte er schon so viel von Bental gelernt? War er bereits bestens darauf vorbereitet, die Gratwanderung zwischen Wahrheit und Lüge zum Wohle des Volkes zu unternehmen? Dieses Beispiel zumindest schien genau das zu bestätigen.
Antarona sah ihn skeptisch an, als vermutete sie eine List und drehte den Anhänger hin und her, als könnte er ihr eine Antwort geben. Indes hoffte Basti, dass sie nicht zufällig auf den silbernen Knopf drückte, und das blaue Licht plötzlich aufflammte.
Selbst Antarona war nicht so naiv, dass sie nicht eine Assoziation zum Licht und den blauen Blitzen in den Hallen von Talris herzustellen vermochte. Dann war er ihr mehr als nur eine Erklärung schuldig! Ihr Interesse an dem Amulett ließ jedoch rasch nach. Wie ihre Tante, konnte sie nicht viel damit anfangen.
Anscheinend genügte ihr, herausgefunden zu haben, dass ihr Ba - shtie - laug - nids keine Ambitionen hegte, einer anderen Frau, als ihr selbst, näher zu kommen. Ihr Blick wurde verträumt, fordernd, verlangend. Und anstatt weiter auf das unnütze Ding einzugehen, das er trug, schlang sie plötzlich ihre Arme um seinen Hals, zog sich an ihn und begann ihn zu küssen.
Erst zaghaft, wie schüchtern, als wollte sie seine Lippen, seine Sensibilität ergründen. Basti spürte ihren weichen warmen Mund, wie sie sich zurückhielten, gleichzeitig aber vor Sehnsucht in Flammen standen. Einen Arm legte er um ihre Taille, den anderen um ihren Po, dann ließ er seine Zunge ihre Lippen erforschen. Antarona spürte seine kraftvollen Hände und ließ sich einfach fallen.
Sie verloren sich in einem langen, wilden Kuss, besitzergreifend, atemlos, als wollten sie sich gegenseitig verschlingen, um sich so nah wie möglich zu sein. Sie flüchteten aus der Welt von Falméra und Volossoda und ihre Sinne nahmen nur noch ihre Zweisamkeit wahr...

Irgendwann um die Mittagsstunde weckte sie der Lärm des Burglebens, das auf verträumte Liebespaare keine Rücksicht nahm. Sie blieben noch eine Weile unter ihren Decken liegen, und Sebastian erzählte seinem Krähenmädchen von der Vereinbarung, die er mit Raspina getroffen hatte.
»Fürst Jamálin sendet mit Sicherheit einen Reiter aus, um sich davon zu überzeugen, was Raspina ihm erzählt«, dachte Sebastian laut. Zu Antarona sagte er:
»Hast du Lust mit mir das Tal der roten Felsen zu erobern? Oder wollen wir lieber hier bleiben, und es einem Oranuti- Fürsten überlassen?«
Antarona fuhr wild auf und ihre Augen sprühten Funken. Sebastian wusste, dass ein solcher Gedanke ihren Kampfgeist weckte. Allein schon das Wort Oranuti genügte, um die Kriegerin in ihr zu motivieren. Sie nahm ein kleines, dickes Fell, das ihnen als Kopfkissen diente, schwang es durch die Luft und ließ es auf Basti herabsausen.
»Ihr wisst, das Sonnenherz den Oranuti nicht einen Halm des Grases auf dem Land der Îval überlässt, wenn sie es verhindern kann!«
Noch einmal holte sie mit dem Fell aus, doch Sebastian war schneller. Er packte ihre Handgelenke, warf sie auf den Rücken und sich auf sie. Er küsste sie leidenschaftlich und sagte dann atemlos:
»Dann mach dich fertig, wir holen unsere Plon-ta und reiten in das weite Tal. Raspinas Vater soll sich wundern, wie rasch das einsame Tal dort lebendig wird!«
»Aber wie wollt ihr es anstellen, dass er sein Verlangen nach diesem Land verliert, Ba - shtie?« fragte sie neugierig. Sebastian schmunzelte und verriet ihr:
»Lasst mich mal machen, mein Engelchen, ich habe da so einen Gedanken. Wenn das funktioniert, geht Raspinas Vater höchst selbst zum König und verzichtet auf das Tal. Ich muss nur Bental dazu bewegen nicht lange nachzufragen und womöglich einzulenken.«
Mit einem Satz war er aus dem Bett heraus und warf sich eine gewebte Decke um. Er blickte im Raum umher, suchte seine Hose, fand sie schließlich auf einem Pfosten des Baldachins hängend. Er lächelte glücklich, pflückte das Kleidungsstück herunter, dachte daran, wie wild sie in der sich verabschiedenden Nacht übereinander hergefallen waren und wünschte sich heimlich noch viele solcher Zweisamkeiten.
»Bereite dich darauf vor, länger in den Wäldern und Bergen zu bleiben«, riet er seinem Krähenmädchen, »ich werde inzwischen etwas vorbereiten. Wir treffen uns bei den Ställen, wenn Talris rechts über dem fallenden Wasser steht!«
Antarona sprang aus ihrem Bett heraus. Unbekleidet, wie sie war, fiel sie ihm um den Hals, küsste ihn, und ruderte übermütig mit den Beinen.
»Raus aus der Burg? Danke, habt vielen Dank, Ba - shtie, Sonnenherz wird sich beeilen! Sie freut sich darauf, mit Glanzauge durch die Wälder zu reiten, zu jagen, und die Oranuti aus den Wäldern der Îval zu vertreiben!«
Ohne sich mit etwas zu bedecken, und wie eine aufgezogene Marionette sprang sie anschließend im Zimmer umher, rief nach Vesgarina und wühlte in ihrer Kiste herum, in der sie ihren Lederschurz und ihre Waffen verstaut hatte.
»Mach nicht zu lange, wir können unten am Fluss in unserem Tal baden«, machte Basti den Vorschlag, um Zeit zu sparen. Dann ging er hinaus und über den verschwiegenen Treppenturm hinab in seine eigenen Gemächer. Dabei lächelte er in sich hinein. Er sah das Tal der roten Steine bereits in seinem Besitz. Das Zuhause für Antarona, für ihn und für ihre kleine Tochter!
Die Mühe, sich zu waschen und zu rasieren machte er sich nicht erst. Das mochte warten, bis sie einen geeigneten Lagerplatz in ihrem neu entdeckten Land gefunden hatten. Er kramte Schwert, Bogen und einen Köcher Pfeile hervor, sowie seine beiden Bowiemesser.
Dazu wählte er einen abgetragenen Waffenrock, dessen Lederlamellen und Metallapplikationen schon sichtlich gelitten hatten. Dafür aber waren sie gelenkiger und flexibler, als die der anderen neueren Kleider. Und auf Schönheit brauchte er in der Wildnis, weitab der Burg ohnehin nicht bedacht zu sein.
Rasch schnürte er noch einige Felle und Decken zu einem dicken Schlauch zusammen, der von seinem Pla-ka gut zu tragen war.
Er bestückte sich noch mit einigen Lederriemen und mit seinem Tagebuch, dass er sich selbst aus Pergamentseiten zusammengebunden hatte. Sein eigentliches Tagebuch lag seit geraumer Zeit am Strand vom Festland vergraben. Ob es noch vorhanden und lesbar war, wenn er die Stelle wiederfand, war zweifelhaft.
In Windeseile zog er sich an und ging zielstrebig zu den Wachunterkünften. Genrath, der die ganze Nacht hindurch gewacht hatte, lag nun sicherlich in seinen kühnsten Träumen. Doch er brauchte ihn. Und so sehr es ihm auch widerstrebte, den Wachführer zu wecken, so kompromisslos verfolgte er sein Ziel.
Von einem Wachsoldaten ließ er Genrath herausrufen, der übermüdet und verschlafen ins Sonnenlicht torkelte. Sebastian zog den völlig überrumpelten am Arm zum Waschtrog und bedeutete ihm, sich etwas frisch zu machen. Noch während sich Genrath die Augen auswusch, trug ihm Sebastian auf:
»Ich wünsche, das ihr sogleich zwei berittene Melder entsendet. Einen zum Heerlager, welches in der Senke vor der Stadt liegt, sowie einen zu jenem Lager in den Hügeln gen Angertal. Ich wünsche umgehend die Heerlagerführer zu sprechen. Der Melder soll beiden Lagerführern auftragen, einen Arm voll ihrer Standarten mitzubringen!«
Genrath wischte sich das Wasser aus den Augen und sah seinen Herren Areos erstaunt und verständnislos an. War der nun völlig übergeschnappt? Seit wann brachten Heerlagerführer ihre Standarten zum Hof? Sie dienten der Markierung eines Schlachtfeldes, oder eines Lagerplatzes!
Sebastian sah Genraths Blick und bevor dieser noch reagieren konnte, fragte Sebastian forschend und drängend zugleich:
»Genrath, habt ihr das verstanden, seid ihr wach, hört ihr mich?« Der Gefragte schnappte nach Luft, schüttelte sich und antwortete:
»Ja Herr, ich habe euch verstanden! Heerlagerführer, Standarten, einen Arm voll«, wiederholte er in Kürze. Sebastian nickte und fügte hinzu:
»Die Männer sollen sich sofort nach ihrem Eintreffen bei mir melden! Schickt die Reiter los, und ihr könnt euch für den Rest des Tages auf euer Lager zurückziehen!« versprach Basti ihm.
»Ach, und Genrath, noch eine Sache!« hielt Sebastian den Wachführer auf, der sich schon abwenden wollte. »Ihr besorgt mir noch zwanzig Holzschwerter, mit welchen sich die wachen im Kampf üben, ja?«
»Wie ihr wünscht, Herr«, bestätigte Genrath. Er ging und Sebastian setzte seinen Weg zum Stall fort, in dem sein treuer Pla-ka stand.
Der dicke Stallmeister hatte ihn nicht erwartet. Sebastian konnte nicht eine Haarspitze von ihm entdecken. Aber er vernahm Geräusche, die ganz sicher nicht in einen Pferdestall gehörten. Es war das Grunzen und Quieken von Schweinen!
Verärgert über den dicken, anmaßenden Stallknecht, der wiederholt seine Aufgabe vernachlässigte, griff er sich einen Knüppel, der am Eingang stand und betrat den Stall. Es war nicht zu fassen! Ließ der Kerl die Schweine in den Pferdestall!
Neben Wafans, Hunden und Katzen liefen die Borstenviecher überall zwischen den Wirtschaftsgebäuden herum. Auf der Suche nach Futter waren sie kaum wählerisch und scheuten offenbar auch keinen Stall in dem Pla-kas standen.
Basti nahm sich vor, das Viehzeug ein für allemal auszutreiben. Er wusste, dass Schweine recht aggressiv werden konnten und hob seine derbe Waffe leicht an. Notfalls gab es zum Abend gegrillten Schweinebraten!
Vorsichtig schlich er an den Einstellboxen vorbei. Die Geräusche kamen vom hinteren Ende des Stalls, wo sich das Futter- und Heulager befand. Die Pla-ka schien es nicht sonderlich zu beunruhigen, dass Fressneider in ihren Stall eingedrungen waren. Sie standen ruhig und gelassen in ihren Boxen.
Im stickigen Halbdunkel erreichte Sebastian das Heulager, eine große Box, die mit duftendem Heu und Hafer gefüllt war. Eine Leiter führte auf den Dachboden, der als Heuspeicher verwendet wurde. Von dort kam das Grunzen und Quieken.
Sebastian schüttelte ungläubig den Kopf. Seit wann waren Schweine in der Lage, Leitern zu erklimmen? Leise schob er seinen Körper die Sprossen hinauf, bereit zuzuschlagen, sollte sich oben ein Schweinekopf zeigen. Oben angekommen, spähte er über die Kante und sah zunächst nur getrocknete Grashalme.
Das Quieken verebbte und nur das Grunzen war noch zu hören. Behutsam schob er mit einer Hand das Heu auseinander, um besser sehen zu können. In diesem Moment drang eine schrille Frauenstimme an sein Ohr.
»Hört auf, alter Flegel, merkt ihr nicht, dass etwas in meinem Rücken drückt? Los, runter von mir, hört ihr? Lasst uns weiter nach oben, wo mehr Heu ist!«
Sebastian traute seinen Augen nicht. Der Stallmeister lag mit entblößtem Hinterteil auf einer Magd! Er reagierte gar nicht und fuhr grunzend und knurrend fort, die Frau mit seiner Männlichkeit zu beglücken.
»Alter Grobian, es sticht in meinem Rücken, lasst ab, oder ihr könnt euch mit euren Pla-ka vergnügen, hört ihr mich?« zeterte die Magd.
»Ach, stellt euch nicht so an«, hörte Basti nun den Stallmeister stöhnen, »ihr ziert euch, wie eine alte Jungfer, dabei mögt ihr doch von mir nicht genug bekommen, was euch euer Mann nicht zu geben vermag!«
Basti hatte genug gehört und gesehen, und zog sich heimlich wieder zurück. Seinen Pla-ka musste er nun wohl oder übel selbst aufzäumen! Er schritt durch den Stall zurück und wollte schon nach dem Zaumzeug greifen, als ihm ein possenhafter Einfall durch den Kopf schoss.
Geschwind lief er außen um den Stall herum, bis zu dem Ende, an dem sich das Futterlager befand. Die runde Luke zum Heuboden war halb geöffnet. Sebastian nickte zufrieden.
»Heda! Stallknecht, seid ihr da? Ich begehre euren Dienst, wo steckt ihr? Bei allen gütigen Göttern, seid ihr am Ende noch eingeschlafen?« rief er so laut er konnte.
Dann huschte er zum Eingang zurück, wo er gerade noch die Magd herausstürmen sah, die sich noch im Laufen ihren Rock richtete. Er kannte die Frau. Es war eine von jenen Mägden, die er einmal am Waschplatz im unteren Burghof gesehen hatte.
Wartend sah er in den Stall hinein, wo nach einer Weile der schmierige Knecht auftauchte, noch an seiner Hose zupfend. Sebastian musste sich ein Grinsen verkneifen.
»Verzeiht, Herr, bin schon da, die viele Arbeit mit den Pla-ka, wisst ihr, brauchen ständig frisches Wasser, müssen gestriegelt werden, dann das Ausmisten, bin eben auch nicht mehr der Jüngste!« entschuldigte sich der Mann.
»Wenn ihr trotz eurer schweren Last noch eine Zentare zu erübrigen vermögt, und meinen Pla-ka aufzäumen mögt...« Basti ließ den Satz unausgesprochen. Der Stallmeister ereiferte sich dennoch so sehr, dass er sich zu überschlagen drohte.
»Natürlich Herr, sofort Herr, nur eine winzige Zentare Herr, schon zu euren Diensten, Herr...« Sebastian hörte schon gar nicht mehr hin.
Statt dessen trat er hinaus in die Sonne, in die klare Luft, raus aus dem Mief des Stalls, dessen Belüftung trotz der ausgeklügelten Oberlichter wohl doch nicht so recht funktionierte. Er sog gierig die frische Luft ein, und fragte sich, wie einfältig man sein musste, um sich für ein Schäferstündchen einen so unvorteilhaften Ort auszusuchen.
Während er zum Warten verurteilt war, kramte er das Tagebuch aus seinem Bündel und zog sich damit hinter den Stall zurück, stieg über dreißig Zentimeter schmale Stufen zur Burgmauer hinauf und setzte sich auf die Mauerkrone in die Sonne. Von hier oben blickte er direkt auf die Zugbrücke.
Der schmale, gemauerte Absatz, der brusthoch unter der Mauerzinne verlief, wurde im Wechsel von zwei Wachsoldaten begangen, die jedoch einen gebührenden Abstand zu Areos hielten, als sie ihn erkannten.
Zielstrebig schlug er die Seiten auf, in welche er die überlieferten Inschriften der Hallen von Talris abgeschrieben hatte, die er in einem alten, schweren Buch der Bibliothek gefunden hatte. Allerdings konnte er die Richtigkeit nicht überprüfen, da seine eigenen Notizen aus den geheimnisvollen Hallen am Strand jenseits des großen Wassers vergraben lagen.
Sinngemäß aber mochten die Verse identisch sein. Denn die alten Geschichten der Götter wurden in den langen Wintern im Val Mentiér an jedem Kamin, an jedem Feuer, und in jeder Hütte erzählt. Ein jedes Kind der Îval kannte sie!
Für Basti indes war interessant, inwieweit die alte Mythologie mit den Inschriften der heiligen Schwerter zusammenhing. Die Überlieferungen, die er trotz inzwischen erweiterten Sprachkenntnissen nur mühsam übersetzen konnte, lasen sich wie Auszüge aus der Bibel seiner eigenen Welt.
Unter Zuhilfenahme einer Übersetzungsscheibe, welche er selbst gezeichnet hatte, begann er Satz für Satz zu entschlüsseln und dem hinzuzufügen, was er bereits übersetzt hatte:


1. Buch der Götterwesen
Vom Anbeginn der Zeit.
Da wurden die Götterwesen
so viele und vermehrten sich.
So wurde die Welt zu klein, die
sie ihre Welt nannten und sie
rüsteten sich, um zu suchen
eine neue Welt in der weiten,
unendlichen Ferne des Himmels.
Sie erbauten einen Feuerstrahl
und reisten auf diesem in die
Tiefe der unendlichen Dunkelheit.
Viele Zentaren waren die Wesen
auf ihrer Reise und viele
Sternenstädte besuchten sie.
Keine Welt aber konnte ihnen zum
Leben dienen, denn die Welten
waren zu kalt, oder zu heiß, oder
zu trocken, oder zu nass.
Da wurde das Gemüt der Reisenden
finster und der Geist wurde
trübe und die Sinne wurden
ihnen böse. Sie schalten sich
gegenseitig, die Reise in das
große Ungewisse getan zu haben
und einige der Götterwesen
wollten zurück in ihre alte
Welt, andere aber wieder zog
es weiter in die weite Leere, in
der Hoffnung, eine neue,
gute Welt zu finden.
So reisten sie weiter im Streite
fort und behinderten sich und
belogen sich und betrogen sich.
Da wurden jene abtrünnig,
welche nicht mehr weiter wollten,
und taten und dachten anders
und stritten sich untereinander.

2. Buch der Götterwesen
Vom Streit der Götterwesen.
Welche, die abtrünnig waren,
verfeindeten sich gegen diese,
welche dem Weg weiter folgen
wollten und bekämpften sie und
schadeten dem Feuerstrahl, auf
dessen Rückgrat die lange Reise
sich vollführte. So mussten die
Wesen vor der Zeit eine Welt
zum Leben finden, denn ihr
Feuerstrahl begann zu erlöschen.
Die weite, dunkle Unendlichkeit
war jedoch leer und öde. In
schwindender Kraft, und mit
verzagtem Mut, erreichten sie
eine blaue Welt, welche selbst von
einem hellen Stern behütet ward,
und auf dessen Welt es leidlich
zum Leben ging.
So strandeten sie mit ihrem
sterbenden Feuerstrahl in einer
Welt, die ihnen feindlich ward.
Die Welt war kalt, aber auch warm,
sie war zu trocken und zu nass,
sie war zu hell und zu dunkel, und
es herrschten böse Wesen auf ihr,
denen viele Götterwesen zum Tode
anheim fielen. Allein der Schutz ihres
Feuerstrahls, welcher doch
nicht mehr zu reisen vermochte,
ließ die Götterwesen in seiner Hülle
leben und gedeihen und ließ sie
fruchtbar sein und sich mehren...
Doch welche abtrünnig waren
von den Reisenden, hegten Hass
und stritten und trennten sich
nun endlich von Ihresgleichen.
So geschah es, dass fortan die
einen der Reisenden im Schutze und
im Licht des Feuerstrahls lebten
und die Anderen, welche abtrünnig
wurden, sich in der Erde der neuen
Welt verbargen und dort lebten, und
fruchtbar waren und sich mehrten...
So begannen sie ein neues Leben
und eine neue Zeit in der neuen
Welt und jede lebten für sich und
allein ihr Wissen ward das Leben!
Jenes, was sie in sich trugen,
was ihnen gegeben wurde von
ihrer alten Welt, trug sich fort vom
Vater auf den Sohn, von der Mutter
auf die Tochter, im Geiste, im
Verborgenen ihres Seins,
bis hin in alle Zentaren.

3. Buch der Götterwesen
Vom Überleben der Götter.
Die Götterwesen, welche sich
fortan die Reisenden nannten,
lernten ihre neue Welt kennen,
und lieben und fürchten und
sie lebten auf ihr. Und sie
vermehrten sich und lernten,
ohne die Macht der Wunder
ihrer alten Welt zu überleben.
Ihre Gemeinschaft war nur
noch ein Schein dessen, was
ihr Geist in ihrer einstigen Welt
hervorgebracht hatte.
Über die Ewigkeit von vielen
Zentaren hinweg lebten sie nun
auf dieser neuen Welt. Ihr
großes Wissen verging und
ihre göttlichen Fähigkeiten
verblichen alsbald und
ihr großer Geist verstummte,
so wie auch ihre Sinne, welche
ihnen bisher die Gedanken
untereinander ohne Laute
gewährte. Die Reisenden
gewöhnten sich an die Sprache
stimmlicher Laute, so wie
es jene Wesen taten, die vor
ihnen auf dieser Welt waren.
So waren sie nach vielen, langen
Ewigkeiten nicht mehr ihrer selbst.
Die Götterwesen waren keine
Götterwesen mehr. Sie lebten
als ein neues, schwaches
Geschöpf in ihrer neuen Welt
und taten schwer, sich gegen
die Heimischen zu erwehren,
die sie verfolgten, töteten und
oftmals auffraßen. Sie hatten
sich angeglichen an die
heimischen, primitiven Arten,
welche von dieser Welt waren.

4. Buch der Götterwesen
Vom Abstieg der Götterwesen.
Die reisenden Götterwesen
glichen sich den wesen ihrer
neuen Welt an und vergaßen
auf ihre Sinne und Gaben. Da
verfinsterte sich ihre neue Welt,
und ein leuchtender Stern kam
sehr schnell daher und mit ihm
kamen viele dunkle Sterne und
sie vielen im Feuerregen auf die
neue Welt der Götterwesen und
verbrannten alles und ersoffen
alles und löschten vieles Leben
aus, dass sich auf dem Lande regte.
Viele Götterwesen und heimische
Wesen waren nun nicht mehr.
Doch die Götterwesen, die in
ihrem Feuerstrahl dem Unter-
gange ausharrten, traten nach
drei mal zehn Zentaren ans Licht
und erblickten eine eisige, weiße
Kälte rings um sich herum.
Alles Leben ward erloschen und
soweit ihr Auge reichte, wuchs
kein Flor und kein Faun. Nur
Kälte, Tod und Verderben tat
auf ihrer Welt. Einige Götter-
wesen zogen sich in ihren
Feuerstrahl zurück und fanden
in ihm nach vielen Zentaren den
Tod. Einige von ihnen aber
wagten sich in das ewige Eis
hinaus und suchten nach einem
neuen Platz zum Leben, welcher
ihnen Wärme und Nahrung bot.
Und siehe, so lebten sie weiter!

1. Buch der Menschenwesen
Vom Sterben der Götter und
Erwachen der Menschenwesen.
Die Götterwesen zogen viele
Zentaren über kaltes, unfrucht-
bares Land und aßen nicht
und darben und froren und
viele von ihnen starben.
Doch einige wanderten fort,
lebten in den Löchern der Erde,
welche die Feuersterne hinter-
lassen hatten und sie aßen ihre
Alten und Schwachen, um zu
überleben. Sie wurden primitiv,
wie das Gewürm in der Erde
unter dem ewig düsteren Zenit.
Nach vielen Zentaren kam das
Licht auf die Welt zurück und
die wesen verehrten es wie
einen Gott, denn das Licht gab
ihnen Hoffnung, Nahrung,
Wärme, und es brachte das Leben
zurück. Über die Zentaren
schmolz das Eis und kleine
Gräser begannen zu gedeihen.
Die Wesen aßen sie und stärkten
sich und vermehrten sich. Und
sie sahen, dass Talris, ihr Gott
des Lichts einen Sohn hatte,
der ihnen das Nachts ein kaltes
Licht sandte, damit ihre Augen
im Dunkel nicht blind waren
und sie ihre Feinde gewahrten.
So fraßen sie und vermehrten
sich und waren die niederste
Kreatur in ihrer Welt. Doch Talris,
der Gott des Lichts erweckte
den uralten Drang in ihnen,
zu denken und zu fühlen.

2. Buch der Menschenwesen
Vom Aufstieg der
Menschenwesen.
Talris schenkte ihnen das Licht
und die Wärme. Und er wusste,
dass der alte Geist der Götter-
wesen in ihnen wohnte und
keimte und sich vermehrte. So
gab er ihnen ein Land zwischen
dem ewigen Eis, dem Sitz der
alten Götter und dem großen
Wasser, und ein Land in dem
großen Wasser, damit sie lebten
und sich vermehrten und
sich verbesserten.
Da gab ihnen Talris die Götter
unter sich, um über sie zu
wachen und sie zu schützen.
Über viele Zentronen und Zentaren
lebten die Menschenwesen auf
dem Land und auf dem Wasser,
das Gott Talris ihnen gab und
sie formten und taten sich, lernten
und vermehrten sich, und
breiteten sich aus und nahmen
sich neues Land.
Und ward das Leben eines von
ihnen zu Ende, so gaben sie
ihn den Göttern zurück und
brachten ihn zum Tor in das
Reich der Toten und der Götter,
hoch oben im ewigen Eis.
Das Tor aber, welches die Götter
mit den Sternen schufen, welche
die Welt verwüsteten, und mit
dem Feuerstrahl, sie einst auf
die Welt brachte, war das
Tor in die Welt der Götter, in eine
andere Welt, in welche die Toten
gingen. Doch einige waren nicht
tot, da sie nur schliefen und
noch Leben in ihnen war, und
sie wurden durch das Tor gebracht,
und sie lebten hinter dem Tor,
und vermehrten sich, und schufen
sich eine eigene, neue Welt.
Da erzürnten die Götter und
versagten dieser anderen Welt
das Heil der Götterwesen.
Die Menschenwesen aber,
in jener anderen Welt, hinter
dem Tor zum Reich der Toten,
fanden Wüste, Steppe und Öde,
fanden Flor und Faun und
nahmen diese sich zum Leben.
So nährten sie rasch den Geist
der alten Götter, welcher in ihnen
ward, und sie gediehen und mehrten
sich über die Maßen und zum
Missfallen Talris und der Götter.
Sie nahmen sich ihre Welt und taten
wonach ihnen gelüstete, tagen Gutes
und taten Schlechtes gegen sich
selbst, und taten Schlechtes gegen
die Welt, die sie ihre Mutter
nannten. Je mehr ihrer wurden
und je rascher sie gediehen, so
mehr taten sie ungut an ihres
Gleichen, dass viele von ihnen
sterben mussten.

Wie lange Sebastian auf der Mauerkrone gesessen und gelesen hatte, wusste er nicht. Er verlor das Zeitgefühl, denn die alten Mythen der Îval fesselten seine Gedanken. Die Geschichte als solche war eine einfache. Doch er betrachtete den Inhalt der Zeilen mit zumindest einem wissenschaftlichen Auge. War es möglich, dass reisende Götter, also außerirdische Wesen es waren, die einst den Planeten Erde zu bevölkern und zu kultivieren begannen? War er in der Zeit zurückgereist, in eine Epoche der Entwicklung dieser Wesen? Hatte die Evolution der Erde an einem bestimmten Punkt einen Anstoß von Außen bekommen, ein Samenkorn, eine Spezies, welche Mensch wurde?
Sebastian schüttelte ungläubig den Kopf. Natürlich war es nicht so! Schließlich hatte ihn die Wissenschaft des einundzwanzigsten Jahrhunderts gelehrt, dass die ersten Menschen vom Affen abstammten, welcher sich wiederum in einer langen Evolutionsgeschichte vom Wassertier über die Dinosaurier zum Landgänger und schließlich zum halb aufrecht gehenden Wesen entwickelt hat.
Generationen von rationell denkenden Köpfen hatten daran gewirkt, den Beweis zu führen, dass nicht ein alter Mann im Himmel seine Hand erhoben hatte, um aus dem Nichts einen Menschen zu zaubern. Nichts kam von nichts und nichts verging einfach, ohne etwas zu hinterlassen!
Gerade als Sebastian zum gedanklichen Sprung ansetzte, zu der spektakulären Theorie, dass gestrandete, exterrestrische Gene und Geister womöglich Einfluss auf die Entwicklung der Erde gehabt haben könnten, wurde es laut zu seinen Füßen.
Mehrere Reiter passierten die Zughängebrücke. Wie das Prasseln von Steinen bei einem Bergrutsch trommelten die Hufe auf das Holz, bevor sie auf den Weg zum Burghof einbogen. Bei den unteren Ställen, die Basti noch beobachten konnte, stiegen sie von ihren Pla-ka.
Die Knechte und Vasallen übergaben den Stallburschen die Zügel und folgten ihren Herren zu Fuß den Weg zur Burg hinauf. An den Wachunterkünften blieben sie stehen und sprachen aufgeregt mit den Wachsoldaten.
Sebastian platzte vor Neugier, und am liebsten wäre er losgestürmt, um kein Wort zu verpassen, das gesprochen wurde. Doch er war der Führer aller Heerscharen, und jedes Verhalten, das er nach Außen trug, wirkte sich auf die Truppe aus.
Zeigte er Hektik, oder unüberlegtes, übereiltes Handeln, so übertrug sich dies auf die Heerlagerführer und die Soldaten. So etwas mochte in angespannten Situationen zu einem heillosen Durcheinander führen und alles ins Chaos stürzen.
Ruhig und entspannt schritt Sebastian als Areos den Weg zum Wachhaus hinauf. Die Männer drehten sich erwartungsvoll zu ihm um und scharrten nervös mit den Reitstiefeln im Sand. Basti zwang sich, das zu ignorieren, und tat, als schaute er rein zufällig nur eben mal vorbei.
Die Männer verbeugten sich und stellten sich als die von ihm bestellten Heerlagerführer und Unterführer vor. Ihre Soldaten trugen die Standarten, kleine Fähnchen auf Stangen, in den Armen. Sebastian befahl ihnen, diese zu bündeln und auf ein Pla-ka zu binden. Dann wandte er sich an die Heerlagerführer:
»Männer, auf ein Wort, bitte dort drüben«, begann er und lenkte sie in den Schatten zwischen Wachhaus und Burgmauer, »Wir müssen nicht in der sengenden Sonne reden und jene, die es nichts angeht, müssen es nicht hören!« erklärte er.
»Ehrenwerte Führer und Unterführer meiner Heerlager,«, begann er überschwänglich, »Es wird euch nicht entgangen sein, dass die Hälfte unseres Volkes, jene Îval, welche zwischen dem großen Wasser und dem ewigen Eis leben, ein hartes Dasein fristen. Für manchen mögen diese Îval weit weg sein. Für andere wiederum, welche Brüder und Schwestern auf dem festen Lande haben, mag der Blick dorthin weniger froh sein.«
Sebastian machte eine ausholende Geste über die Burgmauer, als präsentierte er ihnen die Stadt und die Bucht von Falméra. Dann fuhr er fort:
»Männer, niemand vermag zu sagen, wann die Wasserwagen Torbuks in unserer schönen Bucht auftauchen, um auch die Îval von Falméra zu unterwerfen, die Männer zu versklaven und die Frauen und Mädchen zu schänden.«
Er ließ seine Worte eine Weile wirken, verschränkte die Hände auf dem Rücken und lief ein paar mal auf und ab, wie er es sich von Bental abgeguckt hatte. Unvermittelt blieb er abrupt stehen, wirbelte herum, und fuhr die erschrockenen Männer an, dass sie ein paar Schritte zurückfuhren.
»Doch dass er kommt, das ist gewiss!« Etwas ruhiger erklärte er: »Und darauf, Männer, müssen wir vorbereitet sein! Was tut ihr, wenn er plötzlich, eines frühen Morgens aus dem Nebel der Bucht auftaucht, und mit seinen Truppen in die Stadt einfällt? Nun, was tut ihr dann?«
Betreten und unsicher blickten ihn die Soldaten an, traten verlegen von einem Fuß auf den anderen und wussten keine Antwort. Areos nickte gewichtig, bevor er weitersprach.
»Ihr müsst in jeder Zentare wissen, was zu tun ist, ein jeder von euch muss im Schlaf wissen, was seine Aufgabe ist, und wie er zu handeln hat. Und jedem eurer Soldaten muss seine Aufgabe, aber auch der Umgang mit jeder Waffe, sowie jeder Kampf in Fleisch und Blut übergehen. Jeder von uns muss jederzeit das Richtige tun können, ohne lange darüber nachdenken zu müssen! Um das zu erreichen, werden wir, Heerlager für Heerlager Übungen, Truppenmanöver, abhalten!« verkündete Areos.
Die Kohortenführer und Feldkommandanten blickten sich erstaunt an, setzten protestierende Blicke auf, einige wagten sogar laute Zweifel:
»Herr, wir wissen, dass wir kämpfen können, wir haben es in den Kampfschulen, ja sogar in den Schlachten, welche zurückliegen, gelernt!« begehrte einer fast beleidigt auf.
»Ich weiß, dass ihr kämpfen könnt«, bestätigte Areos mit fester Stimme, »ich kenne eure Erfahrung und weiß um euren Mut, und auch dem eurer Männer, der euch als guter Ruf vorauseilt. Doch auch Torbuks Soldaten verstehen zu kämpfen. In vielen Überfällen auf unsere Brüder und Schwestern im Val Mentiér haben sie es bewiesen. Um ihnen überlegen und im Vorteil zu sein, müssen wir uns etwas Neues einfallen lassen!«
Verwundert sahen ihn die Krieger an, die glaubten, die besten Soldaten des Königs zu sein. Wie eine verschworene Gemeinschaft störrischer Kinder standen sie ihm gegenüber. Doch Sebastian ließ sich davon nicht beeindrucken. Er hatte eine Vision, einen Gedanken, eine Idee.
Und an diesem Ziel wollte er seine Männer bereits gedanklich teilhaben lassen. Er wollte, dass sie selbst diese Idee aufgriffen, und für sich selbst stolz auf eine neue Errungenschaft waren.
»Wie bekämpft man einen Feind, welcher zahlenmäßig weit überlegen ist, welcher ebenso gut kämpft, welcher ebenso ausdauernd kämpft, und einem in Nichts nachsteht?« Areos ließ eine Weile verstreichen, bevor er seiner Frage Nachdruck verlieh.
»Nun, vermag mir keiner meiner geschätzten Heerlagerführer und Kohortenführer eine Antwort darauf zu geben?« Basti wartete und sah seine Männer fordernd an. Endlich traute sich einer, vorsichtig aus dem Bann seiner gewohnten Ansichten zu treten.
»In dem man etwas tut, das der Feind nicht erwartet, Herr, mit dem man den Gegner überrascht?« Der Mann, ein Krieger, dem man seine Erfahrungen im Kampf vom Gesicht ablesen konnte, ließ die Antwort als Frage klingen. Also war er unsicher.
Sebastian aber brauchte Krieger, die sich sicher waren, die wussten, was sie wollten, die ihren Mann standen! Er musste sie aufbauen! Selbst die erfahrenen Kämpfer, jene, die bereits an der ersten großen Schlacht gegen Torbuk teilgenommen hatten, brauchten ein neues, verfestigtes Bewusstsein!
»Ihr habt es richtig erkannt!« lobte Areos den Mann, dessen Größe mit seinem Stolz plötzlich um fünf Zentimeter anwuchs.
»Ihr habt den richtigen Gedanken getroffen! Man muss den Gegner verblüffen, ihn mit etwas überraschen, das er nicht erwartet! Und was könnte das wohl sein?« Sebastian ließ die frage im Raum stehen. Er wollte, dass die Männer von selbst drauf kamen. Als niemand antwortete, fragte er in die Runde:
»Ist einer unter euch, welcher sich den Elsirentänzen hingibt, welcher den neuen Tanz kennt?« Unter dem missbilligenden Blick seines Kohortenführers, trat ein junger Krieger vor.
»Ich, Herr, ich kenne den neuen Tanz, welchen man euch und eurer.., also wohl eurer Gefährtin anheim dünkt«, erklärte der Mann verlegen. Offenbar war bereits in aller Munde, dass Areos mit seiner Gefährtin tanzte, sich offiziell aber mit der Tochter eines Oranuti- Fürsten zeigte.
Es schien, als beging Bental mit seiner Verkuppelungstaktik einen schweren Fehler. Das Volk nahm es peinlich berührt auf, seinen Prinzen zwischen zwei Frauen zu sehen. Bentals Versuche, ihn und Antarona auseinander zu bringen, musste aufhören! Sebastian überging das Zögern des Kriegers hinsichtlich Antaronas und nahm bezug auf das Wesentliche.
»Nun stellt euch vor, ihr haltet bei diesem neuen Tanz ein Schwert in euren Händen. Stellt euch vor, es wäre ein Kampf. Wie würdet ihr diesen Kampfstil nennen wollen?« fragte Areos.
Die ihn umstehenden Krieger blickten teils belustigt, teils verblüfft. Den Erfahreneren sah man an, dass sie ihren Feldherrn für völlig übergeschnappt hielten. Der Angesprochene aber druckste herum, als wüsste er nicht, wie er antworten sollte. Hilfesuchend sah er seinen Heerlagerführer an. Der bedachte ihn aber nur mit einem abwertenden Blick.
»Sagt frei heraus, was ihr dazu denkt«, forderte Areos den jungen Mann auf, »Krieger, die mir nicht die Wahrheit sagen, nützen mir nichts. Ich brauche Männer um mich, die ehrlich mit mir sprechen! Also, sagt, was ihr davon haltet!«
»Es wäre ein wilder, schneller Kampf, Herr, ein Kampf, welcher alle Regeln des Kampfes bricht, den ein Krieger je gelernt hat!« Sebastian schlug seine Faust in die hole Hand und die Krieger wichen wieder ein Stück zurück.
»Das ist es, Männer, genau das ist es!« verkündete er laut. »Ein Kampf, welcher die bekannten Regeln bricht! Ein Kampfstil, auf den ein Gegner nicht vorbereitet ist!«
Einer der älteren Krieger, der bislang nur zuhörte, nickte anerkennend. Dann trat er einen Schritt vor und fragte:
»Herr, wenn ich das Wort erheben darf... Es gab stets Veränderungen in der Weise, wie man den Kampf mit dem Schwert führt. Oft waren es die ungewöhnlichen Veränderungen, welche zu Ruhm und Ehre führten. Doch wie wollt ihr mit dem Mannesschutz aus Metall einen solch wilden Kampf führen? Die Rüstungen sind zu schwer, sie bewegen sich nicht in gleicher Weise!«
»Da habt ihr wohl recht«, gab Areos zu, »doch nun nehmt einmal an, ihr seid so schnell in euren Bewegungen, dass ihr dem Schwert des Gegners auszuweichen vermögt, der es ja durch seine Rüstung nur langsam führen kann. Ihr seid schneller, als das Auge eures Feindes. So braucht ihr keine Rüstung mehr! Denn sie schützt ohnehin nicht vollständig!«
Die Männer sahen sich zweifelnd an, einige schüttelten ablehnend die Köpfe. Leise murmelten sie sich etwas zu, stellten die neue aberwitzige Idee in Frage. Wieder war es der ältere Krieger, der den Mut hatte, das Wort zu ergreifen.
»Verzeiht Herr, aber wenn die Kohorten dem Feind in voller Linie entgegen gehen, werden sie völlig ungeschützt...«
»Denkt ihr, ich habe nicht daran gedacht?« unterbrach ihn Areos provozierend. Der Krieger wich verunsichert zurück und wollte sich entschuldigen. Doch Areos hielt ihn zurück.
»Nein, wartet, ihr habt ganz recht! Eure Überlegung zeigt mir, dass ihr darüber nachdenkt, und die Sache nicht einfach als Unsinn abtut!«
Sebastian nahm den Mann am Arm und führte ihn zu einer Stelle, an der Sand den Boden bedeckte. Die anderen blieben unschlüssig stehen, und er musste sie heranwinken.
»Seht her, Männer, ich stelle mir das so vor!« Mit einem Stöckchen glättete er den Sand und malte dann Linien hinein. Die Männer sahen nun interessiert zu.
»Die ersten zwei Kohortenlinien tragen Rüstungen. Weiter, als zwei Linien vermag der Feind nicht zu sehen. Diese beiden Linien werden die stärksten Krieger der Truppe sein, und ich werde sie Brecher nennen, denn sie brechen die feindliche Linie auf.« Areos malte weitere, dünnere Linien dahinter.
»Die folgenden Kohorteneinheiten werden keine Rüstung aus Metall tragen. Sie tragen nur leichten Lederschutz. Aber sie sind schnell, sehr schnell und wendig, sie werden wie Blitze in das Herz der Feindlinien fahren und ein heilloses Durcheinander herbeiführen. Der Gegner wird nur noch ihre Schwerter blitzen sehen, und zu kaum einer Gegenwehr fähig sein, weil er einfach viel zu langsam ist!«
Sebastian stach mit dem Stock in die Mitte seiner Zeichnung hinein und ließ ihn kreisen und den Sand aufwirbeln. Dazu verkündete er mit triumphaler Stimme:
»Die Verwirrung des Feindes wird perfekt sein! Der Gegner ist völlig aufgerieben!« Dazu durchkreuzte er die Zeichnung mit dem Stock und warf diesen dann achtlos auf die Feldskizze.
Die Männer sahen andächtig auf den Flecken Erde, der ihnen soeben eine erfolgreiche Schlacht suggeriert hatte. Sie dachten nach, Sebastian konnte direkt sehen, wie es in ihren Köpfen arbeitete. Um sie vollständig zu überzeugen, präsentierte er ihnen noch eine weitere Variante.
»Und wenn der Gegner an Zahl weit überlegen ist, hilft uns die neue Kampfesweise auch weiter!« Areos nahm wieder den Stock auf, ebnete die Sandfläche ein weiteres mal und begann eine neue Strategie.
»Männer, es kommt darauf an, so Aufstellung zu nehmen, dass die gegnerische Heerschar zwischen zwei Deckungen gerät. Wir greifen in üblicher Weise mit gerüsteten Kohorten direkt an. Mitten in den Angriff hinein aber stoßen von beiden Seiten die Krieger mit leichtem Schutz und der neuen Kampfweise, sie fallen in die Flanke des Feindes ein! Nun, was haltet ihr davon?«
Zustimmendes Gemurmel wurde laut und ringsum sah Sebastian anerkennendes Kopfnicken. Doch ein erfahrener Heerlagerführer dachte auch an die praktische Seite dieser neuen Idee.
»Herr, erlaubt die Frage: Wie sollen wir unseren Männern die neue Kampfkunst lehren? Mit Tanzen?« Die Skepsis in seiner Stimme war kaum zu überhören. Sebastian musste nun ein überzeugender Areos sein, um die aufkommenden Zweifel wiederum im Keim zu ersticken.
»Genau dafür werden wir Truppenmanöver abhalten«, kündigte Areos an, »wir werden immer nur so viele Männer in Übungslagern halten und den neuen Kampf lehren, dass die Heerlager immer in einsatzbereiter Stärke bleiben. Es werden stets Teile von zwei Heerlagern zusammen den Kampf üben.« Sebastian erklärte den Männern, dass er das abgelegene Tal der roten Flühen als Übungsgebiet vorsah.
»Wir müssen die Übungen nach Möglichkeit geheim halten. Torbuk muss nicht erfahren, was seine Krieger erwartet. Das Tal ist von niemandem bewohnt und bestens geeignet, Kampfweisen auszuprobieren. Ein Lager wird oben auf dem Kamm stehen, das andere auf den Felsen. Unten im Tal werden sich die Übungsgruppen treffen und sich im Kampf messen!«
»Wann, Herr, sinnt ihr an, damit zu beginnen?« wollte nun einer der Kohortenführer wissen. Areos machte eine auffordernde Geste und erklärte:
»Sobald ihr eure ersten Männer ausgewählt habt, brecht ihr zum Tal der roten Flühen auf. Wählt nur die Besten Krieger aus, denn sie werden im Tal bleiben und jene unterweisen, welche nach ihnen kommen!« Der ältere Heerlagerführer warf ein:
»Und wer soll den ersten Kriegern jenen gepriesenen Kampf lehren, welchen sie einst beherrschen sollen?« Sebastian tat geheimnisvoll.
»Es wird jemand sein, der ebenso, vielleicht sogar besser mit dem Schwert umzugehen versteht, als unsere besten Krieger!« Die Männer sahen ihn erstaunt an.
»Wer bei den Göttern soll das sein, welchen wir nicht kennen?« wollte nun der Mann wissen, der sich bisher zurückgehalten hatte. Sebastian sah seine Männer der Reihe nach an und antwortete:
»Ihr werdet es sehen, wenn ihr dort seid.« Dann wendete er sich an den Kohortenführer, der von sich behauptet hatte, den neuen Elsirentanz zu kennen.
»Ihr werdet mich sofort in das Tal begleiten, noch heute! Ihr werdet auch der erste sein, welcher die neue Kampfart erlernt, und werdet hernach einer der Lehrmeister sein!« Sein Heerlagerführer wollte protestieren, doch Areos schnitt ihm mit einer Geste das Wort ab und sprach:
»Ihr wisst nun, worum es geht. Ihr werdet zu euren Lagern zurück reiten, und den Aufbruch je zweier Kohorten mit allen Ausrüstungen vorbereiten. Es steht euch frei, selbst mit in das Tal zu kommen, oder einen Vertreter eurer Wahl zu entsenden. Ich erwarte in zwei Sonnen die ersten Krieger, die sich dort einrichten mögen, wo die Standarten stehen, welche ihr mitbrachtet. Die Heerlagerführer richten zudem eine Versorgung der Männer ein, entweder mit Karren, oder mit Pla-kas. Verpflichtet meinetwegen ein paar Bauern, die sich ein paar Quarts verdienen wollen, aber sorgt dafür, dass die Männer im Tal alles bekommen, was sie brauchen!«
Die Führer der Heerlager schienen verunsichert und zwischen ihrer Routine und den neuen Ideen hin und her gerissen. Aber die Anweisung kam vom Sohn des Königs selbst. Gewöhnlich bekamen sie solche Änderungen direkt vom Kriegsrat Tieton, ein Umstand, der Sebastian noch Sorgen bereitete.
Doch er war der oberste Heerführer! Und ihm oblag die Ausbildung seiner Krieger, denn er musste sie in die Schlacht führen, wenn es dazu kam! Mit diesem Argument gedachte er auch König Bental zu besänftigen, sollte dieser, angestachelt von Tieton, unliebsame Fragen stellen.
»Wir sehen uns im Tal der roten Flühen!« schloss Areos die Unterredung. Die Krieger wandten sich noch immer etwas verunsichert zum Gehen und nur der junge Kohortenführer blieb.
»Wie ist euer Name?« fragte ihn Basti. »Ich muss euch ja anreden können, nicht wahr?« Der Junge antwortete selbstsicher:
»Thorbald, Herr, mein Name ist Thorbald, Sohn des Ehrhold von Schwarzstein aus dem Angertal!« Sebastian nickte wohlwollend und sagte:
»Nun, dann werdet ihr ja nicht weit von eurer Kindesstatt sein, Thorbald von Schwarzstein. Ihr geht jetzt zum Zeugmeister und besorgt euch alles, was ihr für ein Lager braucht. Sagt dem Mann, dass ihr von mir gesandt seid. Packt alles auf ein Pla-ka und wartet dann hier. Wir brechen in zwei Zentaren auf!«
Nachdem Thorbald gegangen war, begab sich Sebastian wieder zum Stallmeister, der inzwischen die Pla-ka aufgezäumt und außerhalb des Stalls angebunden hatte. Er klopfte seinem Pla-ka sanft auf den Hals und das Tier begrüßte ihn mit einem freundlichen Schnauben.
»Warum nennt ihr ihn eigentlich nie bei seinem Namen?« erklang eine wohlbekannte Stimme hinter ihm. Antarona war scheinbar aus dem Nichts aufgetaucht.
Sie stand in ihrem abgetragenen, eingerissenen Lederschurz und dem geflickten, kaum etwas bedeckenden Oberteil vor ihm. Beinahe nackt, glich sie eher einer wilden ungezähmten Indianerin, als einer Königstochter, eben so, wie Sebastian sie vor einigen Monden am See kennengelernt hatte. Ein verwildertes Naturkind mit der Anmut einer Prinzessin!
Das Haar trug sie offen, lediglich die goldene Elsirenkrone bändigte ihre Strähnen und dünnen Zöpfe etwas. Die eingeflochtenen Federn mit den bunten Perlenschnüren, die sie in ihre Mähne eingebunden hatte, bewegten sich im Wind. Sebastian sah sie fasziniert an.
»Kennst du denn seinen Namen?« fragte er verwundert. »Ich wusste nämlich gar nicht, dass er überhaupt einen Namen hat«, gab er zu.
»Tariste ist sein Name«, klärte sie ihn triumphierend auf. Er merkte deutlich, wie überlegen sie sich dabei fühlte.
»Ach, und woher willst du das wissen?« fragte er skeptisch. Antarona wies mit einem Nicken die Straße hinunter zu den unteren Ställen und erklärte ihm:
»Tobyn, der Sohn des Stallmeisters hat es Sonnenherz verraten. Er hat ihr außerdem verraten, dass Tariste ein besonderes Gespür für Eishunde besitzt. Er vermag sie über weite Entfernungen zu wittern. Er beginnt mit dem Kopf im Kreis zu drehen, wenn Eishunde in der Nähe sind.«
Die Fäuste in die Hüfte gestemmt, sah Sebastian sein Krähenmädchen missbilligend, beinahe vorwurfsvoll an und fragte mit einer guten Portion Ironie gewürzt:
»Was hat er dir denn noch alles so verraten, der Tobyn? Ihr scheint euch ja ziemlich lange ausgetauscht zu haben! Da wäre ich ja auch nicht abgeneigt gewesen, in deinem Aufzug!« Antarona wusste mit seinen Worten und seinem Tonfall nicht viel anzufangen.
Und je mehr sie ihre Naivität zur Schau trug, die sie sich in den weiten Wäldern Val Mentiérs zueigen gemacht hatte, desto sarkastische wurde Sebastian. Seine Eifersucht nahm ungeahnte Ausmaße an. Er konnte sich noch gut daran erinnern, wie Tobyn sie das letzte Mal angesehen hatte, als er sie in seinen Stall führte.
Unweigerlich musste er an den Vater denken, der noch vor ein paar Zentaren im Heu seines Stalls eines der Waschweiber verführt hatte. Und die war bis zum Hals in Kleider geschnürt! Ein dünnes Lederbändchen war das einzige, das ein Stückchen zerfranstes Leder auf Antaronas süßester Stelle hielt. Er schüttelte heftig seinen Kopf.
Wenn er weiter darüber nachdachte, würde er durchdrehen! Doch der Gedanke, die zehrende Angst, Antarona je wieder verlieren zu können, die Möglichkeit, sie könnte sich einem anderen Mann zuwenden, bohrte sich wie ein glühendes Schwert in seinen Bauch. Ein elendes Gefühl durchfuhr ihn und Schwindel wollte sich seiner bemächtigen.
Jeder Mann konnte ihre Reize erblicken, welche sie sich nicht einmal die Mühe machte, sie zu verbergen. Sebastian ergötzte sich gern an ihrem Anblick, gerade, wenn sie die Alltagskleidung der Mädchen des Val Mentiér trug. Doch er wollte nicht, dass ein anderer sie so sah. Sie trug seine Tochter unter ihrem Herzen, und er wollte weder Mutter, noch Tochter verlieren. Krampfhaft versuchte er sein höchstes Glück festzuhalten.
Wenn er nicht acht gab, dann verrannte er sich in den Wahnsinn, seine Frau vor aller Welt verstecken zu wollen. Aber gerade dadurch würde er sie verlieren! Bental hatte ihm das beste Beispiel geliefert. Die schönste, wunderbarste und fantastischste Frau dieser Welt teilte ihre Felle mit ihm, etwas, um das ihn jeder Mann beneidete, und gerade das wurde ihm zur Qual, zur ständigen Last seines Herzens.
Natürlich wusste er, dass die Îval eher ehrenvoll und konservativ in Bezug auf Treue waren. Allein die Tänze an den Elsirenfeuern zeigten dies. Aber wurde nicht doch einmal eine Frau schwach, wenn sie sich von ihrem Mann vernachlässigt fühlte, ließ sich ein Mann nicht doch einmal auf eine süße, verführerische Tänzerin ein, die ihm schöne Augen machte, wenn er sich von seiner Frau unverstanden fühlte?
Diese Welt war in dieser Hinsicht gewiss besser, als seine eigene. Aber Heilige waren ihre Bewohner deshalb noch lange nicht! Ein Mann sollte immer acht geben, wenn sich seine Frau mit dem Nachbarn nur allzu gut verstand. Dieser Nachbar war Tobyn! Vielleicht auch noch Thorbald?
Insgeheim schalt sich Sebastian für seinen Eifer. Er wollte, dass Antarona die ersten der jungen Soldaten in der neuen Kampftechnik ausbildete. Nun hatte er Angst davor. Was, wenn ihr Herz einem dieser stattlichen Krieger verfiel? Es waren zweifelsohne Männer unter ihnen, die ein Frauenherz zum Schmelzen bringen konnte.
Dass die Krieger, die in den Lagern nur ab und an eine schöne Frau zu Gesicht bekamen, ihren Fokus auf Antarona fixieren würden, war klar. Basti mochte sich plötzlich selbst in den Hintern treten, die ganze Sache so unbedacht eingefädelt zu haben.
Dabei ahnte Antarona ja noch nicht einmal etwas davon. Sie nahm an, sie beide würden allein in das Tal reiten, um ein par schöne Tage dort zu verbringen. Freilich hatte Basti ihr von seinen Plänen erzählt, jedoch nicht, dass sie ein Teil davon war! Plötzlich fühlte er sich schlechter, als nur unwohl. Und desto mehr fragte er sich, wie lange sie mit Tobyn allein war.
»Seit wann bist du denn schon zur Reise fertig?« fragte er bewusst hinterlistig. Antarona zuckte unbekümmert mit den Schultern und gestand ihm:
»Sonnenherz sah euch auf der Mauer in die Seiten eurer gefesselten Pergamente geflüchtet. Sie wollte euch nicht stören!« Sebastian stierte sie fassungslos an. Die ganze Zeit, in der er seine Männer unterwiesen hatte, war seine leicht bekleidete Frau bei diesem Stallknecht gewesen, der ein lauerndes, begehrendes Auge auf sie geworfen hatte?
»Warum bist du dann nicht gleich zurückgekommen?« wollte er nun wissen, doch sein Ton entglitt ihm zu einem hörbaren Vorwurf.
Das hätte er besser gelassen! Antarona mochte eine kindliche Naivität besitzen, doch sie war nicht dumm. Sie spürte genau, wann etwas Negatives in der Luft lag. Ihre Augen bekamen ein Glitzern und Funkeln, als sie ihm knapp und kalt antwortete:
»Ihr wart ja beschäftigt! Und Tobyn weiß viel über die Pla-ka, und er teilte sein Wissen gern mit Sonnenherz!« Das saß!
Sebastian lief erst rot an, wurde dann leichenblass, und ihm war hundeelend zumute. Er kochte innerlich vor Eifersucht!
»Dann habt ihr euch wohl über die Fortpflanzung von Pla-kas unterhalten, was? Oder hat er dir auch noch gezeigt, wie sie das tun?« gab er stichelnd zurück, und in seiner Welt hätte die Frage, an eine Frau gerichtet, eine Katastrophe ausgelöst.
Glücklicherweise war Antarona eine Prinzessin. Sie war kindlich geblieben, doch sie besaß mehr als andere Menschenwesen ein Gespür für andere Seelen. Und sie verstand sich notfalls auch auf Diplomatie. Sie fühlte Sebastians Eifersucht; sie wollte diese nicht noch weiter schüren, wollte aber ihren Mann, der ihr versteckt den Gedanken an Untreue vorwarf, auch nicht ohne einen Denkzettel davonkommen lassen.
Sie wandte sich von ihm ab, zurrte scheinbar angestrengt an den Zügeln ihres Pla-ka herum und gab ihm schnippisch zu verstehen:
»Tobyn vermag so zu erzählen, wie es sich eine jede Frau wünscht. Er vermag die Seele einer Frau zu berühren, sie mit schönen Dingen zu füllen, ob Magd, Dienerin, oder...«
»Oder Kriegerin und Prinzessin, nicht wahr, das wolltest du doch sagen, oder nicht?« unterbrach er sie mit kaum mehr zu bändigender Aufregung. Sebastian schnappte nach Luft und schmerzender Zorn stieg in seinem Herzen hoch.
»Möchtest du dich vielleicht lieber zu seinen Erzählstunden ins Heu legen, anstatt mit mir in unser Tal zu reiten, das ich einem Oranuti- Fürsten mit List und Mühe abzuringen versuche, für uns, für unser Töchterchen, für unser Leben?« Er machte seiner Angst, seiner Enttäuschung, seiner ganzen Anspannung Luft, und beinahe traten ihm Tränen in die Augen.
Antarona stützte die Hände in die Taille und drehte sich mit gespielt verwundertem Blick um. Insgeheim aber triumphierte sie. Wie leicht es doch war, einfältige Männer in Rage zu bringen! Ihr Ba - shtie, ihr Mann mit den Zeichen der Götter, selbst er machte da keine Ausnahme.
»Ba - shtie«, fragte sie ihn mit ermahnendem, aber auch etwas enttäuschtem Ton, »glaubt ihr, Sonnenherz weiß nicht, zu welchem Mann ihr Herz gehört?« Unverständlich über sein Gebaren schüttelte sie langsam den Kopf und lächelte überlegen.
Sebastian hingegen war sich darüber im Klaren, dass er immer noch einen handfesten Streit zwischen ihnen auszulösen vermochte, wenn er sich in diesem winzigen Augenblick falsch verhielt. Krampfhaft überlegte er, wie er Antaronas Stimmung wieder für sich gewinnen konnte.
Blitzschnell sprang er vor. Antarona rechnete nicht damit und er schnappte rasch zu. Seine Hand umklammerte gnadenlos ihr Handgelenk, und er zog das sich nach Kräften sträubende Krähenmädchen durch den Staub hinter den Stall.
Ihre Augen flammten auf und wie eine wild gewordene Katze fuhr sie ihre Krallen aus. Doch zu spät! Sebastian packte ihre Oberschenkel kurz unter ihrem Po und hob sie hoch. Ihre Beine schlangen sich Halt suchend wie automatisch um seine Lenden und mit sanfter Gewalt drückte er seine völlig überrumpelte Frau gegen die Wand des Stalls.
Als er seine Lippen auf ihren zum Protest geöffneten Mund drückte, entglitt ihr die innere Anspannung, sie legte ihre Arme um seinen Hals und ließ sich einfach fallen. Wie leicht störrische Frauen doch zu bändigen waren, wenn man es richtig anfing, dachte Basti. Seine kleine Kratzbürste machte da keine Ausnahme, wie er zufrieden feststellte.
Weich wie Wachs schmiegte sie sich plötzlich an ihn, und erwiderte seine fordernden Küsse, bis sie mit verklärten Augen nach Atemluft rang, und sich ihre Brüste bis zum Bersten hoben und senkten. Basti ließ sie wieder auf die Füße gleiten, nahm ihren kleinen Kopf in seine Hände und sah ihr tief in die Augen.
»Damit du auch wirklich ganz genau weißt, zu welchem Mann dein Herz gehört!« erklärte er ihr mit gespielter Drohung. Antarona lächelte süß und säuselte ihm ins Ohr:
»Ba - shtie! Sonnenherz hat zu keiner Zentare vergessen, mit welchem Herz das ihre verbunden ist! Wie vermöchte sie auch, da ein kleines Herz bereits unter ihrem wohnt?« Sie zog sich noch fester an ihn und verbarg Schutz suchend ihren Kopf an seiner Schulter. Ein leichtes Zittern fuhr durch ihren Leib und Sebastian interpretierte das mit Glückseeligkeit.
Kurz darauf, mit erleichtertem Herzen und befreiter Seele, kehrten sie zu ihren Pla-ka an der Vorderseite des Stalls zurück. Dort wartete bereits Thorbald auf sie. Erwartungsvoll stand er da, groß, stattlich, seine beiden Pla-ka am Zügel haltend.
Als er Antarona sah, sackte sein Kiefer unkontrolliert nach unten, eine verborgene Geste, die Sebastian aber keinesfalls entging. Antarona indes himmelte nur ihren Ba - shtie an, was ein verstohlener Seitenblick rasch klärte. Es brauchte eine Weile, bis das Krähenmädchen begriff, dass der junge Krieger nicht zufällig vor dem Stall stand. Zu sehr war sie noch von Sebastians spontaner Reaktion ergriffen.
Doch dann sah sie den Kohortenführer von oben bis unten an und ihre Augen verfinsterten sich zusehens. Irgendwie ahnte sie, dass der Mann eine Störung ihrer Zweisamkeit bedeutete.
»Was macht der da?« fragte sie Basti und taxierte den unschuldig dreinschauenden Mann mit ihrem durchdringenden Blick, der einem das Fürchten lehren konnte, wenn ihre Stimmung kippte.
»Ach ja«, erklärte Basti kleinlaut, »das vergaß ich dir zu erzählen. Das ist Thorbald, er wird uns in das Tal der roten Flühen begleiten. Allerdings wird er nicht mit uns...« Weiter kam er nicht. Antaronas Augen sprühten Funken und Flammen, und Sebastian wusste, dass es nun besser war, in Deckung zu gehen.
»Wieso begleitet er uns? Sonnenherz dachte, ihr wolltet mit ihr allein in unserem Tal sein!« fuhr sie ihn in einer Mischung aus Zorn und Enttäuschung an. Dabei legte sie eine besondere Betonung auf unser Tal. Sebastian versuchte ihre zur Schau getragene Entrüstung etwas abzuschwächen und entschuldigte sich:
»Aber mein Engelchen, du weißt doch, ich hatte dir davon erzählt, was ich vorhabe. Und ehrlich gesagt, hatte ich gehofft, dass du Thorbald in deiner Kampfkunst unterweist, damit er jene, die nach ihm kommen...«
»Waaas, da kommen noch mehr von seiner Sorte hin?« unterbrach sie ihn abermals. »Ba - shtie - laug - nids, Mann von den Göttern! Wann hattet ihr eigentlich vor, Sonnenherz in eure Pläne einzuweihen?« fragte sie gefährlich lauernd.
»Nun, ich dachte, das hatte ich bereits, mein Engelchen«, verteidigte er sich. Doch Antarona ließ das nicht gelten.
»Ja, das hattet ihr, Herr Areos von Falméra!« gab sie wutschnaubend zu. »Doch Sonnenherz dachte nicht im Traum daran, dass es jetzt sein würde, wo ihr mit ihr zu jenem Tal aufbrechen wollt, das ihr einem Oranuti- Fürsten mit List und Mühe abzuringen versucht, für uns, für unser Töchterchen, für unser Leben! Sonnenherz hatte geglaubt, ihr wolltet mit ihr dort allein sein, mit ihr jagen, mit ihr Träumen, wie es einmal werden soll, mit ihr Liebe machen!« Sie geriet in einen wahren Taumel des Zorns, der den jungen Krieger sichtlich einschüchterte. Vorsichtig fragte der:
»Soll ich vielleicht am Tor warten, Herr? Ich könnte eure Pla-ka bereits mitnehmen und...« Antarona unterbrach auch ihn:
»Ihr haltet euch gefälligst da raus, wer seid ihr überhaupt, dass ihr es wagt, euch in die Dinge des Areos von Falméra einzumischen?« Freilich ließ sie ihn erst gar nicht zu einer Antwort ansetzen, sondern wandte sich augenblicklich wieder an Sebastian.
Wie ein entfesselter Orkan raste sie auf ihn zu. Klammerte sich mit glühenden Augen kurz an ihn, küsste ihn energisch, fordernd, stieß sich dann aber sofort wieder von ihm ab. Mit wild wehenden Haaren fauchte sie ihn an:
»Und ihr, der in unnötiger, alberner Eifersucht vergeht, hört mir genau zu! Sonnenherz weiß sehr wohl, zu welchem Mann ihr Herz gehört! Aber vielleicht sollte sich euer En-gel-sen zur Abwechslung einmal zu Tobyns Erzählstunden ins Heu legen, anstatt mit euch in das Tal zu reiten, das ihr einem Oranuti- Fürsten mit List und Mühe abzuringen versucht, für uns, für unser Töchterchen, für unser Leben, was? Nur damit auch ihr einmal begreift, wohin euer Herz gehört!« Deutlicher ging es nicht!
Damit drehte sie sich auf der Ferse um, nahm Anlauf und sprang ihrem Pla-ka aus dem Lauf heraus so heftig auf den Rücken, dass sich ihr Lederschurz über ihren Bauch schob und ihre Blöße preisgab. Doch sie achtete nicht darauf, sondern hieb ihrem verstörten Reittier die nackten Fersen in die Seite, so dass es mit einem heiseren Wiehern hochfuhr und im nächsten Moment auf und davon stob.
Einer rasenden Furie gleich, ließ Antarona ein langgezogenes, schrilles Yiiheeehaaah erklingen, galoppierte die Straße hinunter, zog eine mächtige Staubfahne hinter sich her und hielt zu Bastis Erleichterung auch vor Tobyns Stall nicht an. Kaum dass ihr Pla-ka die Kurve bekam, ohne zu stürzen. Kopfschüttelnd sahen ihr die Leute nach, die auf dem Weg zur Burg waren. Wie ein wild gewordener Teufel preschte sie ohne Rücksicht zwischen ihnen hindurch.
Als sich der Staub lichtete, zog Thorbald seine Augenbrauen hoch, schüttelte den Kopf, als hätte er einen Geist gesehen und sagte erstaunt und ehrfürchtig zugleich:
»Bei den Göttern, was für ein Weib!« Sebastian ging zu ihm hinüber, sah der Staubfahne nach und bestätigte, mehr für sich selbst:
»Ja, was für ein Weib, was für eine wunderbare Frau!« Dann sah er Thorbald an, legte ihm freundschaftlich seine Hand auf den Arm und sagte:
»Tja, mein junger Freund, gewöhnt euch schon mal daran. Lernt die Liebe kennen, lasst euch auf ein zartes, luftiges Wölkchen ein, und ihr erlebt regelmäßig ein dickes, heftiges Ungewitter!« Thorbalds Blick spiegelte Verständnislosigkeit wieder und Sebastian fügte leicht schwärmerisch hinzu:
»Was für eine Frau, ja, was für eine faszinierende, wunderbar erfrischende Frau...« Deutlicher fuhr er fort:
»Meine Frau, mein junger Krieger, merkt euch das gut: Meine Frau! Ich gebe euch einen guten Rat: Ihr bekommt von mir ein eigenes Heerlager, wenn ihr dafür bereit seid. Aber rührt ihr sie jemals an, oder denkt nur darüber nach, dann lasse ich euch im tiefsten Kerker Falméras verrotten, bis ihr schwarz und verschrumpelt seid!« Damit klopfte er dem Mann nachdrücklich auf die Schulter und forderte:
»Lasst uns aufbrechen, wir haben schon genug Zentaren vertan.« Er stieg auf seinen Pla-ka, nahm die Zügel der Packtiere und spornte sein Reittier an.
»Los, Tariste, wollen doch mal sehen, ob wir die kleine, verrückte Hexe nicht wieder einfangen können, was?« Wie die Karawane eines Feldzuges schritten sie die Straße hinunter, an Tobyns Stall vorbei und aus dem Tor hinaus dem Bergwald jenseits der Burg entgegen.
Zunächst ging es über die Brücke bei der Burg, und den Weg entlang, der irgendwann in den östlichen Teil Falméras hinab führte. Kaum in den Wald gelangt, führte aber ein Weg durch steilen Bergwald hinauf zum Plateau. So ausgesetzt verlief dieser Pfad teilweise über Felsgalerien, dass er ein mutiges Wagnis für Mensch und Tier darstellte.
Allein mit seinem Reittier hatte einer seine Mühe, unbeschadet hinauf zu kommen. Sebastian und Thorbald aber führten noch die Packtiere, die bereits beim kleinsten Hindernis nervös hin und her tänzelten. Ein falscher Tritt und die Reise ging hinab bis in den Flutgraben der Burg!
An der gefährlichsten und steilsten Stelle stiegen die beiden Männer ab, banden die Pla-ka an die Bäume und führten sie einzeln hinauf, wo sie die Tiere wiederum anbinden mussten, bis sie alle oben hatten.
»Jetzt weiß ich auch, warum Pferde in dieser Welt Pla-ka heißen«, murmelte Sebastian fluchend vor sich hin, »ist ja kein Wunder, bei der Plackerei, die man mit diesen Viechern hat!« Doch alles Hadern und Zetern nützte nichts, die Tiere mussten nun einmal hinauf, und ein anderer Weg war Sebastian nicht bekannt.
Er bezweifelte auch, dass es von der anderen Seite her, von der Küste und vom Angertal leichter gegangen wäre. Thorbald, der im Angertal aufgewachsen war, bestätigte:
»Es ist nicht so steil, wie hier, Herr, doch die tiefe Schlucht versperrt den Weg. Es führt nur eine breite Hängebrücke hinüber, die schon für einzelne Reiter eine Herausforderung ist. Tritt ein Pla-ka durch die eingebundenen Planken, so ist dem Tier kaum mehr zu helfen.«
Um so mehr wunderte sich Basti über Thorbalds Aussage, da doch Fürst Jamálin gedachte, den Küstenabschnitt hinter dem Angertal von jenseits der Schlucht aus kontrollieren zu wollen. Hatte der vorgehabt, eine massive Brücke zu bauen, oder führte der noch etwas ganz anderes im Schilde?
Zeit, darüber nachzudenken blieb Basti nicht. Er und sein Kohortenführer mussten sich voll auf den steilen, von Steinen und Baumwurzeln durchsetzten Weg konzentrieren. Nach drei Stunden schweißtreibender Arbeit standen sie beinahe mit allen Pla-ka oben. Ein letzter hang war noch zu bewältigen.
Außer, dass ein Pla-ka einen Teil seiner Last verloren hatte, waren keine Verluste zu beklagen. Ein par Fahnenstangen hatten sich aus dem gelockerten Bündel gelöst, und waren mit wohlklingendem Geklapper über die Klippen in die Tiefe gesprungen.
Von Antarona war auch hier oben keine Spur zu sehen. Als hätte sie die Erde verschluckt, sie war einfach verschwunden. Hatte sie überhaupt noch vor, in das Tal der roten Flühen zu reiten? Möglicherweise war sie nach Falméra geritten, hatte sich in ihrem Haus verborgen und feierte am Abend an den Elsirenfeuern.
Wieder stieg diese Eifersucht in ihm hoch. Der Gedanke, sie würde die ganze Nacht mit fremden Kerlen tanzen und Mestas trinken, machte ihn verrückt. Konnte er wissen, wie Mestas, Enttäuschung und Frustration, sowie vielleicht ein attraktiver Mann auf sein Krähenmädchen wirkte? Gab sie mitunter doch der Verlockung einer aufregenden Nacht nach? Vergaß sie vielleicht doch, zu welchem Mann ihr Herz gehörte? Sebastian war auf einem Mal nicht mehr ganz bei der Sache.
»Herr, Habt ihr das gehört?« fragte Thorbald plötzlich. Sebastian hielt seinen Pla-ka an und lauschte. Außer den typischen Geräuschen des Waldes war nichts zu hören.
»Was meint ihr?« wollte Basti wissen und spitzte weiter die Ohren. Thorbald drehte seinen Kopf in den Wind und horchte ebenfalls. Nichts!
»Es klang, als würden Schwerter aufeinander treffen, Herr. Weit entfernt.« Sebastian bezweifelte, dass sein Begleiter tatsächlich gehört hatte, was er glaubte. Ständig klapperte irgendein Gegenstand, wenn die Lasten auf den Rücken der Pla-ka verrutschten, oder die Tiere heftige Bewegungen machten. Gerade wollte er sein Tier wieder antreiben, als Thorbald ihn aufhielt:
»Da ist es wieder, Herr, hört ihr nicht?« Sebastian drehte den Kopf und nun vernahm er es auch. Es kam von dort, wo er die Felsen nahe des Plateaus vermutete. Ein weit entfernter Klang, als würden Blechnäpfe gegeneinander geschlagen.
Da Blechnäpfe nicht einfach in der Gegend herumtanzten und sich gegenseitig ansprangen, blieb nur eine Interpretation: Dort wurde gekämpft! Sofort fiel ihm Antarona ein. Wenn sie nun voraus geritten war, und in ihrer Wahrnehmung getrübt von ihrem Zorn, in einen Hinterhalt geraten war? Sebastian übergab Thorbald die Zügel seiner Lasttiere und schärfte ihm ein:
»Ihr bleibt bei den Pla-kas, ich werde mir die Sache mal genauer ansehen. Folgt einfach nur weiter dem Pfad, ich werde euch dann schon finden. Und lasst mir die Tiere nicht aus den Augen! Die Götter sollen euch zu sich holen, wenn ihr auch nur einen der Pla-ka verliert!«
Anschließend hieb er Tariste die Fersen in die Seite. Er trieb den Hengst rücksichtslos weiter den Pfad hinauf. Dabei ahnte er nichts Gutes. Der Pla-ka stolperte ein par Mal, doch darauf konnte Sebastian keine Zeit verwenden. Wenn Antarona in Schwierigkeiten war, zählte jede Sekunde!
Je höher er gelangte, desto lauter und deutlicher wurden die Kampfgeräusche. Mittlerweile glaubte er herauszuhören, dass es sich nicht um viele, sondern nur um einige wenige Waffen handelte, die da aufeinander einschlugen.
Tariste schnaufte über Stock und Stein den Berg hinauf, und Basti hatte Mühe, nicht von seinem Rücken zu rutschen. Als er endlich den Waldrand, und die Kante des Plateaus erreicht hatte, schien der Wind den Kampflärm aus nächster Nähe herüberzuwehen.
Vorsichtig lenkte er Tariste durch unwegsames Dickicht und vereinzelt stehende Bäume. Das Gelände kam ihm bekannt vor. An dieser Stelle war er schon einmal! Er befand sich unweit der Felsen, an denen Antarona und er vor einigen Zentaren Medunzia und zwei fremde Männer beobachtet hatten.
Vorsichtshalber stieg er von seinem Pla-ka, zog seinen Bogen auf und legte einen Pfeil an die Sehne. Mit leicht gespannter Waffe schlich er weiter. Das matte Klirren der Schwerter hatte inzwischen aufgehört. Machten die Gegner eine Pause, oder war die ganze Situation weit weniger dramatisch? War er nur von ein par trainierenden Kriegern angelockt worden?
Die nächsten Schritte führten ihn um einen riesigen Granitblock herum. Erschrocken fuhr Sebastian zurück. Unverhofft bot sich ihm ein Bild des Grauens. Ein Krieger in schwarzem Waffenrock stak leblos an einem kräftigen, spitzen Ast, der in Brusthöhe von einem Baum abstand. Weit aufgerissene, leblose Augen starrten ihn an. Ein Pfeil steckte in seiner Schulter und eine Streitaxt lag im Blut befleckten Gras daneben.
Offenbar war der Mann rückwärts gestolpert und hatte sich selbst aufgespießt. Der Ast war ihm in den Rücken eingedrungen und am Brustbein wieder ausgetreten. Der Mann musste einen qualvollen Tod gestorben sein! Sebastian fluchte still vor sich hin, und fragte sich, in was für eine miese Geschichte er gestolpert war.
Durch niedriges Fichtengehölz kämpfte er sich eilig weiter, Zweige schlugen ihm ins Gesicht und einmal wäre er beinahe gestürzt. Er vermutete eine Wurzel, und als er sich kurz umdrehte, sah er einen weiteren Krieger am Blut durchtränkten Boden liegen. In seiner linken Brusthälfte, zwischen Hals und Schulter, sowie in seinem Bauch klafften hässliche Wunden. Außerdem wurden ihm die Kniegelenke mit einem heftigen Hieb durchschnitten.
In was für ein Schlachtfeld war er hier nur geraten? Schockiert wandte er sich um. Doch ein par Schritte weiter, jenseits des Granitblocks fand er einen weiteren Krieger. Auch ihm waren die Kniekehlen durchschlagen worden und sein Kopf lag zerschmettert am Felsen. Ein Stück weiter, vor einem Gebüsch, standen zwei Pla-ka wie im tiefsten Frieden und zupften an den Blättern herum. Plötzlich verlor Sebastian jegliche Farbe und wurde leichenblass!
Einer der Pla-ka gehörte Antarona! Sein Fell war blutverschmiert und Sebastian befürchtete nun das Allerschlimmste. Aber er wagte nicht sie zu rufen, denn er wusste erstens nicht, was geschehen war, und zum anderen konnte er nicht abschätzen, mit wie vielen Gegnern er es noch zu tun haben würde. In diesem Moment hörte er Stimmen!
Es waren Männerstimmen, die hinter ein par eng stehenden Bäumen hervordrangen. Geduckt und in schnellem Schritt pirschte sich Basti heran, schob sich durch das Unterholz und geriet mächtig ins Schwitzen, als sich sein Bogen in den Zweigen der Büsche verfing.
»Wir teilen uns die kleine Mistkröte, und dann machen wir sie alle!« hörte Sebastian eine fiese Stimme sagen. Dann vernahm er den donnernden Bass eines zweiten Mannes:
»Los, nagel’ ihr die Füße am Boden fest, die tritt mir sonst noch ein Auge aus! Mach schon, und dann halt ihre Arme!« Geräuschlos bog Sebastian die Zweige auseinander, die ihm noch die Sicht nahmen. Einen Augenblick später blieb ihm fast das Herz stehen!
Antarona lag am Boden und versuchte sich verzweifelt zu wehren. Doch ein Riese von Mann hielt mit seinen tellergroßen Händen ihre Beine so weit gespreizt, wie es ihm seine Arme erlaubten und drückte ihre Fußgelenke gnadenlos fest auf die Erde. Dabei lachte er heiser und hämisch, während der andere, ein mittelgroßer, schlanker Kerl mit blondem Schopf, versuchte, Antaronas Handgelenke mit einem Seil festzubinden. Ihr Lederschurz war ihr über den Bauch nach oben gerutscht und ihre langen Haare hatten sich hoffnungslos in den Flechten am Boden verfangen.
Doch Antarona bog ihren Körper durch, bäumte sich immer wieder auf und warf wie wild den Kopf hin und her. Sie fauchte ihren Peiniger mit den unnatürlichen Lauten eines kämpfenden Tieres an, und der hatte Mühe, ihre Hände im Griff zu behalten. Fluchend riss er ihr brutal die Arme nach hinten und schnauzte sie an:
»Jetzt reicht’s aber, zier dich nicht so, du hinterlistige, kleine Schlange, es nützt dir doch nichts. Halt endlich still, dann hast du’s bald hinter dich gebracht!«
Antarona sackte stöhnend zusammen. Der Schmerz, als der Mann ihr die Arme nach hinten zog, musste viehisch gewesen sein. Mit roher Gewalt zog er das Seil um ihre Handgelenke zusammen, und schlug es dann mit einem Holzpflock über ihrem Kopf am Boden fest.
»Jetzt kann sie dir nicht mehr gefährlich werden«, verkündete er seinem Kumpanen lachend, »musst nur noch ihre wild gewordenen Füße bändigen, dann kannst du deinen Spaß mit ihr haben!« Sebastian spannte konzentriert den Bogen, wie er es von Antarona gelernt hatte.
»Nun halt’ doch endlich ihre Beine fest, sonst krieg ich die nie in’ Griff! Die zappelt ja wie ein abgestochener Wasel«, schalt der Riese den Blondschopf. Doch in dieser Sekunde erwischte Antaronas Ferse sein Kinn. Es gab ein hässliches, knackendes Geräusch, der Große heulte wütend auf und fasste sich mit beiden Händen vors Gesicht.
Sebastian nahm sein Ziel auf. Abgrundtiefer Hass, Wut und eiskalter Tötungswille ließen ihn ruhig, bedächtig ein und ausatmen.
Antarona nutzte die Chance, als der Hüne kurz ihre Füße los ließ, und versuchte sich zu drehen. Doch schon packte der andere Mann zu, zwang ihre Oberschenkel mit brachialer Gewalt zu Boden und brach ihr dabei fast die Knie.
»Los, jammere hier nicht groß rum, mach sie jetzt endlich fügsam, oder soll ich es ihr besorgen?« spornte er den ersten spöttisch an. Der schloss seine mächtigen Pranken wieder um Antaronas Fußgelenke, beugte sich über sie und jaulte immer noch unter Schmerzen:
»Dich mach’ ich jetzt richtig weich, du Wildkatze! Und dann spieße ich dich hochkant auf einen Baumstamm, wie du es mit meinem Freund...«
Sebastian spürte die richtige Spannung, atmete ruhig aus und ließ den Schaft aus seinen Fingern gleiten. Ein leises Sirren, wie von einer Biene, erfüllte die Luft und plötzlich versteifte sich der Mann, der sich gerade auf sein hilfloses Opfer werfen wollte.
»Was ist los?« lachte der Blonde übermütig, als er seinen Freund ansah, der wie von unsichtbarer Macht gehalten, mitten in der Bewegung verhielt. »Hast du schon genug von der kleinen Kröte, oder bekommst du keinen hoch?«
Ein hohnvoller Spott übergoss den Riesen, der sich krampfhaft, wie unter einem Bandscheibenvorfall aufzurichten versuchte. Er rang stockend und japsend nach Luft.
Sebastian erfasste bereits sein neues Ziel und spannte den Bogen. Noch drei Atemzüge! Die Finger schmerzten. Aber der Pfeil musste genau sitzen!
Entsetzt starrte der hellhaarige seinen Kumpanen an, aus dessen Mund plötzlich Blut floss, dass langsam auf Antaronas nackten Bauch tropfte. Der Pfeil war mit voller Wucht von hinten eingedrungen und hatte dessen Lunge durchschlagen!
Ausatmen! Basti zog eine hässliche Fratze, als er den Schaft los ließ. Wieder das Sirren, das der Blonde viel zu spät wahr nahm. Das schlanke Geschoss erwischte ihn, als er sich gerade aufrichtete und über seinen Komplizen wunderte.
Er spürte einen dumpfen Schlag. Ungläubig sah er an sich herab, starrte den Pfeil an, der tief in seinem Bauch steckte und berührte ihn zaghaft, als glaubte er nicht, was er sah. Er glotzte das Hemd unter seinem Waffenrock an, das sich rot färbte, dann sah er zu seinem Mittäter, der zur Seite gefallen war, mit einem Arm nach hinten tastete, vergeblich versuchte, die Ursache für seinen Schmerz zu fassen zu kriegen.
Antarona unternahm einen weiteren Versuch, sich zu wehren, und sie war schnell. Sie war so unglaublich schnell, dass selbst Basti ihrer Bewegung kaum folgen konnte. Mit dem rechten Bein drehte sie sich zur Seite, holte mit dem linken aus und trat dem großen, angeschlagenen Krieger mit aller Kraft in seine ungeschützte Männlichkeit.
Der krümmte sich zusammen und wollte erneut aufheulen. Doch nur ein Grunzen und Stöhnen, sowie ein neuer Schwall hellroten Blutes kam über seine Lippen. Inzwischen hatte sich der andere Krieger schwankend aufgerichtet. Mit einem wütenden Brüllen brach er den Schaft des Pfeils ab und warf ihn fort.
Im nächsten Augenblick zog er sein Schwert aus der Scheide und erhob es drohend über Antarona, die sich verzweifelt hin und her wand und mit dem Pflock kämpfte, der ihre Handgelenke immer noch an den Boden fesselte.
»Das sollt ihr mir büßen«, krächzte der Mann, umfasste den Griff seiner Waffe mit beiden Händen, um sie Antarona in den Leib zu stoßen. Doch da stürmte bereits Sebastian heran. Unter markerschütterndem Geschrei, das den Krieger ablenken sollte, hielt er direkt auf ihn zu.
Den Bogen hatte er fortgeworfen und noch im Lauf das Kurzschwert gezogen. Der verdutzte Blonde hielt inne, richtete dann sein Schwert gegen den Angreifenden, der wie ein tollwütiger Stier heranbrauste.
Sebastian unterschätzte den verwundeten Mann nicht. Aber er hatte auch nicht die Zeit, ihm mit einer sicheren Taktik zu begegnen, denn rasch konnte der Kerl noch zustoßen und Antarona in das Reich der Toten befördern.
In den nächsten drei Sekunden war Basti heran, parierte das viel zu lange und schwere Schwert des Gegners, und rannte ihn simpel über den Haufen. Dabei setzte er auf die Verletzung des Mannes, die ihn eigentlich behindern musste.
Beide stürzten der Länge nach hin. Sofort rollte sich Basti zur Seite, um dem Feind einen alles beendenden Stoß zu versetzen. Der jedoch war noch nicht so angeschlagen, wie Sebastian vermutet hatte. Er ließ ein böses Knurren hören und erhob sich taumelnd, seine Waffe kampfbereit.
Sebastian reagierte nicht schnell genug, und so gelangte der schwarze Krieger in die Position zwischen Sebastian und Antarona. Für ihn entstand ein auswegloses, nervenaufreibendes Patt.
Wandte er sich Sebastian zu, so war es nur eine Frage der Zeit, bis sich Antarona befreit hatte, und ihm in den Rücken fiel. Tötete er aber Antarona, so wäre Basti heran und würde ihm das Schwert zwischen die Rippen stoßen. Unentschlossen wartete er, wohl in der Hoffnung, dass sich sein Kumpan noch einmal aufraffte, und ihm zu Hilfe kam. Doch der Riese hatte genug. Röchelnd lag er am Boden und das Blut lief ihm aus Mund und Nase.
Verzweifelt blickte er sich um, ob nicht doch von irgendwoher Hilfe nahte. Dann erkannte er offenbar die Ausweglosigkeit seiner Lage, denn allmählich schwanden ihm die Kräfte. Mit einem heiseren Kampfschrei wollte er plötzlich auf Sebastian losstürmen.
Gerade im letzten Augenblick hatte Antarona ihre Hände freibekommen, Sie waren noch gefesselt, doch nicht mehr an den Boden gebunden. Geistesgegenwärtig griff sie zu, als der Blonde auf Basti losging. Sie erwischte sein linkes Fußgelenk und riss ihn mit schwindender Kraft zurück.
Bereits nach dem ersten Schritt begann der Blonde mit den Armen zu rudern, dann fiel er wie ein gefällter Baum und schlug Sebastian direkt vor die Füße. Und Basti, der früher Hemmungen gehabt hatte, einem Menschen auch nur ein Haar zu krümmen, zögerte keine Sekunde.
Er rammte dem gestürzten Krieger sein Schwert tief zwischen die Schulterblätter und drehte es zur Sicherheit noch einmal ruckartig, bevor er es wieder aus dem leblosen Leib zog. Dann wollte er sich dem Riesen zuwenden, doch Antarona beugte sich bereits über den Mann, ihren Dolch in der Hand.
Als sie kurz darauf aufstand und sich vor Schmerz die Handgelenke rieb, wurde das Reich der Toten bereits von zwei weiteren Seelen bevölkert. Schwankend stand das Krähenmädchen da, ihre letzte Kraft war verbraucht. Sebastian sprang über den Toten hinweg zu ihr und nahm sie in den Arm.
»Es ist vorbei, es ist keiner mehr da, du hast sie alle in das Reich der Toten geschickt«, beruhigte er sie, als sie sich skeptisch umsah. Erst jetzt sackte ihre Anspannung weg, ihr Dolch fiel zu Boden und sie ließ sich kraftlos in seine Arme sinken.
Basti hob sie hoch und trug sie an die nicht weit entfernte Stelle, an der sie schon einmal gerastet hatten. Dort bettete er sie sanft in das weiche, warme Gras und setzte sich neben sie. Er drehte sein Schwert spielerisch zwischen seinen angewinkelten Beinen, bis ihm auffiel, dass es voller Blut war.
»Kann ich dich eine Zentare allein lassen, ich bin gleich in der Nähe, mache nur die Pla-ka fest?« fragte er und sah sie besorgt an. Antarona nickte abgekämpft und machte eine Handbewegung, die zum Platz des ersten Kampfes wies.
»Nantakis, am Felsen unter den drei Bäumen«, sagte sie matt. Sebastian verstand und versicherte mit ruhiger Stimme:
»Ich werde es finden und mitbringen, ruhe dich inzwischen ein wenig aus!« Er wischte sein Kurzschwert im Gras ab, rieb die Klinge noch mit Sand sauber und legte die Waffe zur Sicherheit neben Antarona auf den Boden. Dann entfernte er sich rasch.
Vorsichtig näherte er sich den beiden Pla-ka, die noch immer an den Blättern der Büsche herumfraßen. Ohne großes Theater ließen sie sich an den Zügeln fassen und fortführen. Wo die Tiere der anderen Reiter verblieben waren, konnte Basti nur mutmaßen. Wahrscheinlich hatten sie sich auf der Suche nach Wasser davon gemacht.
Zügig sammelte er die Waffen ein, fand auch Nantakis an der bezeichneten Stelle. Es steckte ziemlich unzugänglich unter einem Felsen, der von drei Bäumen umsäumt wurde. Vermutlich hatte Antarona das Schwert darunter gestoßen, als die Übermacht zu groß wurde. Ihre Angst, Nantakis könnte in die falschen Hände gelangen, stellte sie über ihre eigenen Aussichten, den Kampf zu überleben. Was für eine Frau!
Nur wenig später kehrte Basti mit den beiden Pla-ka und seinem eigenen zurück, warf die Waffen unter einem Busch auf einen Haufen und legte Nantakis, Antaronas Dolch und ihre Bogenwaffen neben seiner Krähenfrau ab. Dann setzte er sich neben sie und nahm zärtlich ihre Hand.
Er sah Antarona an und wollte etwas sagen, doch sie legte ihre Hände auf seinen Arm und schüttelte abwehrend den Kopf.
»Sonnenherz mag jetzt nicht darüber sprechen. Die Geister von Menschenwesen sind in das Reich der Toten eingezogen. Es hätte auch Sonnenherz sein können, welche die Götter hätten rufen mögen. Sie hat sich benommen, wie ein Kind, welches seinem Vater trotzt. Sie hat die Reiter nicht kommen hören, und Tekla und Tonka bereits in das Tal der roten Flühen vorausgesandt.«
»Ist schon gut, mein Engelchen, wir leben noch, das ist das Wichtigste«, versuchte er sie zu beruhigen, und nahm sie in den Arm, »über alles andere können wir später sprechen«.
In diesem Augenblick begannen die Pla-ka nervös zu schnauben. Sie tänzelten unruhig auf der Stelle und zerrten an den Zügeln. Sofort war Sebastian auf den Beinen, und auch Antarona erhob sich lauernd. Sie nahmen ihre Waffen auf und spannten ihre Bögen.
Die Hufe von Pla-kas waren zu hören. Langsam näherten sich Reiter. Antarona und Sebastian sahen sich an, verstanden sich auch ohne Worte und gingen hinter kleinen Büschen in Deckung, bereit, die Angreifer mit einem Hagel von Pfeilen einzudecken. Sie warteten, wagten kaum zu atmen.
Da teilten sich die Sträucher auf der gegenüberliegenden Seite der kleinen Lichtung und ein einzelner Reiter führte seinen Pla-ka und drei Packtiere aus dem Unterholz. Thorbald!
»Den Göttern sei Dank, ihr lebt, Herr! Ich sah die Toten und befürchtete bereits das Schlimmste. Seid ihr wohlauf? Mit diesen lahmen und störrischen Mähren vermochte ich nicht schneller heraufzukommen, Herr. Die wollten einfach nicht den steilen Pfad...«
»Thorbald, macht euch keine Sorgen, es ist uns nichts geschehen«, versicherte ihm Basti. Bindet die Pla-ka bei den anderen Tieren an, und dann kommt mit, wir werden die Toten verscharren, sonst locken die uns noch ein Rudel Eishunde auf den Hals. Das Letzte, was ich jetzt noch gebrauchen kann, ist, dass uns die Tiere durchgehen!«
Lustlos wühlte Sebastian in dem Haufen Waffen herum, die ihnen die Gegner hinterlassen hatten. Er suchte sich eine breite Streitaxt heraus, hieb ein paar trockene Zweige von den Büschen ab und brachte sie Antarona.
»Vielleicht kannst du die auf die Pla-ka binden, dann haben wir am Abend im Tal bereits Holz, um ein Feuer zu machen. Ich kümmere mich mit Thorbald um die schwarzen Reiter!« Antarona nickte stumm und begab sich zu den Reittieren.
Sie hatte das Gemetzel noch nicht ganz verarbeitet. Wie eine Tigerin gegen eine Herde von Elefanten hatte sie gekämpft, hatte drei der großen Kerle erledigt, bevor diese sie überwältigen konnten. Mit welcher eiskalten Taktik sie dabei vorgegangen war, zeigten ihm die Toten. Er hatte Antarona einige Male kämpfen gesehen, schnell, gnadenlos, ohne Mitleid.
Trotzdem ging ihr der Tod der Feinde nahe. Für sie waren auch jene Menschenwesen, Geschöpfe der Götter, welche ihr nach dem Leben trachteten. Sebastian hingegen bedachte diese Kerle, die seine Frau auf die grausamste und entwürdigendste Weise gefoltert hätten, nur mit nüchternem, abgrundtiefem Hass. Er empfand bei ihrem Anblick sogar so etwas, wie Genugtuung.
Als erstes erreichten Basti und Thorbald den Mann mit dem zerschmetterten Schädel. Antarona musste wie ein Wirbelwind gekämpft haben, hatte ihm mit einem Streich die Kniekehlen durchschnitten, so dass der Mann einfach wegknickte, zu seinem Unglück mit dem Kopf voran gegen den Felsen. Er musste augenblicklich tot gewesen sein.
Thorbald und Sebastian zogen ihn an den Füßen auf eine kleine Lichtung, wo sie ihn zwischen verkrüppelten Arven einbuddeln konnten. Den zweiten Toten fanden sie halb ins lange Gras eingewickelt. Antaronas Schwert hatte in seinem Bauch eine tiefe und tödliche Wunde hinterlassen. Dennoch musste der Reiter noch eine Weile gelebt haben.
Vor Schmerzen hatte er sich wohl hin und her gewälzt, und sich immer mehr in das spröde Gras hineingewunden, bis ihn schließlich der Tod von seinen Qualen erlöste. Nachdem sie auch ihn auf die Lichtung geschafft hatten, stand den beiden die grässlichste Aufgabe bevor.
Der dritte Krieger hing noch immer an jenem mächtigen Baum, gegen den ihn Nantakis gedrängt hatte. Vermutlich war er Antaronas Fechthieben ausgewichen, die völlig überraschend, wie ein Sturm über ihn hereingebrochen sein mussten. Einer kleinen, halb nackten, zierlichen Frau hatte er solche Gegenwehr sicher nicht zugetraut.
Als er seine Verblüffung überwunden hatte und zu einer Gegenwehr fähig war, musste es bereits zu spät gewesen sein. Er stolperte wohl mit ziemlichem Schwung rückwärts und der unglücklich vom Baum abstehende kahle Ast besorgte den Rest.
Das Holz hatte sich mit solcher Gewalt in seinen Rücken gebohrt, dass es vorn wieder austrat, und ihm schlichtweg das Brustbein nach außen drückte. Sebastian mochte nicht ausschließen, dass Antarona angesichts der großen Übermacht noch kräftig nachgeholfen hatte.
Den Leichnam vom Ast zu ziehen, erwies sich als unmöglich. Das Blut war inzwischen angetrocknet und hatte den Toten schier festgeklebt. Sebastian blieb nichts anderes, als die grobe Axt zu schwingen und den Ast mit einem kräftigen Hieb vom Baum zu trennen.
Wie ein nasser Sack fiel der leblose Körper zu Boden. Dabei fiel ihm ein großer lederner Beutel aus dem Waffenrock, der eher einer Handtasche glich. Thorbald hob das Behältnis auf und gab es Sebastian, bevor er sich daran machte, dem Toten ein Messer und eine grob geschmiedete Halskette abzunehmen.
Mit Abscheu im Blick präsentierte er Basti das Amulett, das an der Kette hing. Sebastian kannte es. Es war das gleiche Schmuckstück, wie jenes, das er auf seinem Weg von Högi Balmers Alm ins Tal einem Skelett abgenommen hatte. Damit war eindeutig klar: Diese Reiter gehörten zu Torbuks Armee! Aber was machten die hier auf Falméra?
Hatte die gefürchtete Invasion schon begonnen? Waren Torbuks Truppen bereits an einem von Falméras Stränden gelandet? Konnten diese fünf Krieger eine Vorhut, eine kleine Vorausabteilung sein, um die Lage auszukundschaften? Oder waren sie nur Spione, die sich in den weiten, dichten Wäldern verborgen hielten?
Der Lederbeutel mochte möglicherweise darüber Aufschluss geben. Sebastian öffnete ihn und fischte sieben große, an eine Lederschnur geknüpfte, schwere Ringe, sowie eine Pergamentrolle heraus. Sonst enthielt die Tasche nichts. Thorbald fielen vor Staunen beinahe die Augen aus dem Kopf.
»Das sind Quarts aus Göttertränen, so viele Quarts, wie ein mächtiges Heer an Kriegern zählt, Herr! Woher hat ein einfacher Kohortenführer so viele Quarts?« Nun war es Sebastian, der ein verblüfftes Gesicht machte.
»Diese paar Quarts sollen so wertvoll sein?« fragte er neugierig. Thorbald nickte eifrig und aufgeregt erklärte er:
»Aber seht ihr denn nicht, Herr, die sind aus den Tränen der Götter gemacht! Es gibt keine wertvolleren, als jene, welche die Götter den Menschenwesen hinterlassen haben. Niemand außer unserem König und Torbuk besitzt etwas, das aus den Tränen der Götter ist!« klärte ihn Thorbald unbewusst auf.
Sebastian wog die dicken schweren Ringe aus purem Gold in seiner Hand. Sie waren im Durchmesser so groß, wie der Armreif eines kleinen Kindes, und jeder mochte bei einer Breite von etwa zwei Zentimetern so seine fünf bis sechs Unzen wiegen. In seiner Welt hätten sie wohl einem Wert von ungefähr siebzehntausend Mark entsprochen. Wie hoch dieser Wert in Antaronas Welt einzuschätzen war, vermochte er nicht zu sagen.
Doch er musste enorm sein, denn Thorbald konnte nicht aufhören, den kleinen Schatz in Sebastians Hand ungläubig anzuglotzen. Das wurde Basti allmählich unheimlich, und er ließ die Quarts wieder im Lederbeutel verschwinden. Bei einem solchen Wert ist schon mancher schwach geworden und hat sich zu einer dummen Tat hinreißen lassen, die nicht wieder gut zu machen war!
»Warum waren die mit einem solchen Zaster unterwegs?« entfuhr es Thorbald, der noch immer nicht glauben wollte, was seine Augen gerade gesehen hatten. Sebastian zuckte mit den Achseln.
»Na ja, ungefähr so viel ist Torbuk der Verrat eines ganzen Volkes wert, denke ich. Doch wer denen die Tränen der Götter gegeben hat, ist mir ein Rätsel. Torbuk selbst ganz sicher nicht! Der wird sein finsteres Loch in Quaronas erst verlassen, wenn er sicher ist, Falméra erobern zu können. Und dazwischen stehen immer noch wir, Thorbald, der König, ich, Antarona und letztlich auch ihr!« Thorbald sah ihn mit fragendem Blick an und Basti erklärte ihm:
»Was ich damit sagen will, ist: Wer auch immer denen so viele Quarts in die Hände gegeben hat, der ist sehr vermögend, beinahe so vermögend, wie König Bental selbst. Und so viele hoch begüterte Männer gibt es auf Falméra wohl nicht, oder? Und diese Tränen der Götter waren sicher nicht für diese Krieger hier gedacht! Sie sollten das Zeug gewiss an jemanden übergeben, von dem eine große, entscheidende Tat erwartet wird!« Sebastian lachte beinahe, als er mehr für sich selbst sagte:
»Nun, die hier haben nichts mehr davon. Sie hätten sich eben nicht mit einem königstreuen Schwert messen sollen!« Thorbald nickte zustimmend und meinte anerkennend:
»Denen habt ihr’s gegeben, habt es ihnen wohl gelehrt, Herr! Doch diese Lehre nehmen sie nun mit in das Reich der Toten! Sie hätten eben nicht Areos, den Sohn Bentals zum Kampf fordern sollen!« Lächelnd sah Basti ihn an.
»Haben sie auch nicht, mein Bester, damit seid ihr auf dem Holzwege! Nicht ich, sondern Antarona haben diese Burschen hier aus dem Hinterhalt angegriffen! Ich kam erst hinzu, als alles bereits vorüber war! Nicht ich, sondern Antarona hat diese Mistkerle ins Reich der Toten geschickt!« gestand Sebastian nicht ohne Stolz auf seine mutige Frau.
Thorbald stierte ihn noch um so entgeisterter an und wies mit dem Finger auf das Lager, wo sie Antarona zurückgelassen hatten.
»Waaas, die? Die hat..? Ooooch!« brach es aus ihm hervor. »Bei den Göttern, was für ein tolles Weib!« begeisterte er sich zum wiederholten Mal.
»Wohl gemerkt: Mein Weib!« betonte Basti erneut. »Und Thorbald, noch auf ein Wort!« forderte er das Gehör seines Kriegers.
»Kein Ton zu irgend jemandem, auch nicht zu Antarona, haben wir uns verstanden?« mahnte Sebastian eindrücklich und klimperte mit den goldenen Ringen. »Hierüber kommt kein Sterbenswort über eure Lippen, wenn ihr eure Zunge behalten wollt!« Sebastian unterstrich seine Warnung, indem er mit seinem Zeigefinger deutlich an seinem Mund vorüberfuhr.
»Wie ihr befehlt, Herr, kein Wort!« bestätigte der junge Kohortenführer. Basti war sich ziemlich sicher, dass er seinem Wort trauen konnte, denn sein konsequentes Durchgreifen in der Truppe hatte sich mittlerweile herumgesprochen. Außerdem wollte Thorbald irgendwann eine eigene Einheit führen. Und an diese Gunst kam er nur durch Areos.
Die Quarts aus den Tränen der Götter wollte Sebastian natürlich nicht wieder aus seinen Händen lassen. Es würde einmal der Tag kommen, wo er, egal für was, überzeugende Argumente brauchte. Etwas so begehrtes, wie die Tränen der Götter mochte dann möglicherweise so ein Argument sein!
Da er keinen Zugang zu des Königs Schatzkammer hatte, musste er sich diese Art von Argumente selbst schaffen! Er sah keinen Verrat darin, sich diese Ringe in die eigene Tasche zu stecken. Als Kriegsbeute, und das waren sie im Grunde, gehörten sie zwar dem König, doch wer sollte Bental davon berichten? Thorbald, der einzige Mitwisser, hätte nichts davon, etwas zu verraten.
So vergruben sie die Leichen, entgegen den Gepflogenheiten der Îval, die ihre Toten an das Tor zum Totenreich am Rande des ewigen Eises brachten. Dann kehrten sie zu Antarona zurück, die sich inzwischen wieder gefangen hatte, Thorbald aber mit eisigem Blick bedachte. Für sie war er immer noch ein Störfaktor.
Sie rasteten noch eine Weile und Sebastian rollte das Pergament auseinander, das der getötete Krieger bei sich trug. Eine Zeichnung, nein, vielmehr eine Skizze war auf das braune, feste Papier gekritzelt. Sebastian drehte die Darstellung so lange, bis sie für ihn einen Sinn ergab, und ihm ein ungeheures Geheimnis enthüllte. Überrascht pfiff er durch die Zähne, was Antarona veranlasste, ihm über die Schulter zu schauen.
Thorbald reckte zwar neugierig seinen Hals, wagte aber nicht, sich einzumischen. Antaronas Hinweis vor dem Stall, bevor sie aufbrachen, und die Tatsache, dass sie mit den Reitern Torbuks fast allein fertig geworden war, flößten dem Mann großen Respekt und Zurückhaltung ein.
Sebastian tippte mit dem Finger auf das, was wie eine Karte aussah, und sagte leise zu Antarona, so dass es Thorbald nicht hören konnte:
»Das ist eine genaue Karte des Tales der roten Flühen! Hier der Fluss, die Hügel, und hier die Felswände. Antarona, weißt du, was das bedeutet?« Das Krähenmädchen hob unwissend die Schultern und fragte beinahe gleichgültig:
»Nein Ba - shtie, was bedeutet es denn?« Sebastian packte sie vor Aufregung am Arm und versuchte ihr zu erklären:
»Nur einer hat im Moment ein solches Interesse an diesem Tal, dass er jemanden mit einer Karte dorthin entsendet und ihn beauftragt, das Land zu erkunden: Fürst Jamálin von Oranutu! Und dass er diese Reiter damit betraut hatte, heißt, dass er mit Torbuk gemeinsame Sache macht!« Antaronas Interesse war urplötzlich geweckt.
»Ihr meint, Raspinas Vater hat die Reiter geschickt, welche in den Kriegsröcken von Quaronas starben?« fragte sie ungläubig. Sebastian nickte bestätigend, und fügte hinzu:
»Wer sonst hätte gerade jetzt ein Interesse daran, was in diesem vergessenen Tal vor sich geht? Raspina erzählte, wie abgemacht, ihrem Vater von der Absicht Bentals, vor und hinter dem Tal Heerlager zu errichten. Und der entsendet sofort Reiter, um festzustellen, ob das stimmt! Fürst Jamálin, Raspinas Vater ist ein Verräter am Volk der Îval und an seinem eigenen Volk! Offenbar ist zumindest er mit Torbuk verbündet, sonst hätten dessen Reiter kaum seinen Auftrag ausgeführt!«
Antaronas Miene verfinsterte sich und verriet Wut und Enttäuschung zugleich. Selbst sie begriff nun, dass es der Oranuti- Fürst Jamálin sein musste, der als Botschafter in Falméra getarnt, die Invasion der Truppen Torbuks zumindest vorzubereiten half. Sebastian hingegen ließ ein säuerliches Lächeln über sein Gesicht huschen.
»Ba - shtie, was ist daran so belustigend?« fragte Antarona entrüstet, beinahe ärgerlich. Sebastian überlegte laut:
»Nun, wenn diese Fünf, die jetzt im Reich der Toten sind, Jamálins Späher waren, so wären sie ganz sicher vor uns im Tal der roten Flühen angekommen, und hätten zunächst nichts vorgefunden. Wie hätte ich auch ahnen können, dass Jamálin so rasch reagiert! Wahrscheinlich hätten sie uns dann eintreffen sehen und der Fürst hätte die List erkannt, mit welcher ich ihn zu täuschen gedachte.«
Basti wiegte den Kopf hin und her, als wollte er abschätzen, wie sich die Sache weiter entwickeln würde.
»Nun wird der Fürst neue Späher aussenden müssen, und die sehen dann, was sie sehen sollen: Die Entstehung zweier neuer Heerlager!« Antarona hörte ihm aufmerksam zu, nickte dann nachdenklich und sagte:
»So war die Fügung gut, welche Sonnenherz die Reiter über den Weg führte?« fragte sie mit leichtem Zweifel in der Stimme.
»Ja und nein«, antwortete Basti, »ja, weil Fürst Jamálin nun auf meine Täuschung hereinfällt, und nein, weil ein Kampf und fünf tote Männer niemals gut sind!« Er sah seine Frau gedankenverloren an und lenkte ein:
»Andererseits war es nicht zu vermeiden, denn diese Kerle hätten dich sowieso angegriffen, ob nun mit oder ohne Jamálins Auftrag. Sie hatten den Tod verdient!«
Antarona sagte nichts dazu und Sebastian beließ es dabei. Was ihm mehr Sorgen bereitete, war die Tatsache, dass Fürst Jamálin ein kleines Vermögen an Quarts eingebüßt hatte. Und ganz nebenbei kam er auf den Gedanken, dass die goldenen Ringe keinesfalls der Lohn für die fünf Reiter gewesen sein konnten. Eher wahrscheinlich war, dass sie die Quarts an jemanden übergeben sollten.
Also war anzunehmen, dass die schwarzen Krieger beabsichtigt hatten jemanden zu treffen. Vielleicht einen Boten Torbuks? Sebastian beschloss während ihres Aufenthalts im Tal die Augen offen zu halten. Vielleicht ging ihnen ja dieser Bote ins Netz, und sie konnten ihn ordentlich ausquetschen und etwas über Torbuks und Jamálins Absichten erfahren.
Allein Raspina tat ihm leid. Konnten sie Fürst Jamálin des Verrats überführen, würde er fortan im Kerker der Burg Falméra sein weiteres Dasein fristen. Raspina würde dann wie eine Geächtete dastehen, mittellos, vielleicht sogar von ihrem Geliebten gemieden. Sebastian war der einzige, der ihr dann noch helfen konnte.
Gewissenhaft faltete Sebastian die Zeichnung des Tals wieder zusammen und steckte sie zurück in den Lederbeutel. Sie war ein großes Indiz für Jamálins Verrat und für das Volk der Îval entsprechend wichtig, wertvoller noch, als die Quarts aus Gold.
Anschließend beluden sie die Packtiere mit den erbeuteten Waffen der schwarzen Reiter und machten sich bereit, ihren Weg fortzusetzen.
Zunächst überquerte ihre Karawane das Plateau in Richtung Osten. Ständig hielten sie nach Bewegungen im Gelände Ausschau. Es waren nicht nur die entsprungenen Pla-ka, die sie hofften wiederzufinden, nach denen sie ausspähten, sondern auch nach Reitern.
Woher die fünf Reiter kamen, die nun in der harten Erde des Plateaus verscharrt lagen, vermochte niemand zu sagen, Doch wo die herkamen, konnten noch viele sein, verborgen, unentdeckt, mit bösen Absichten. Jederzeit konnte wieder ein neuer Trupp von ihnen auftauchen.
Doch so sehr sie auch in die Runde blickten, nichts störte mehr den Frieden dieser stillen und einsamen Gegend. Die Mittagshitze lastete auf der hochgelegenen Ebene und brachte die Luft zum Flimmern. Irgendwelche Insekten ließen ihr aufdringliches, ununterbrochenes Zirpen hören und ab und an wehte der warme Wind den Duft von Tannen, Fichten und Baumharz herüber. Dazwischen mischte sich der starke Geruch der Kräuter, die auf den Weiden des Plateaus wuchsen.
Die hohen Gräser waren von Trockenheit und Sonne fast verbrannt und leuchtete in den verschiedensten Braun-, Gelb-, und Orangetönen und wiegten sich im Wind wie ein von sanften Wellen genährter Ozean.
Sie ließen sich Zeit, das Plateau zu überqueren, genossen die Ruhe und Friedlichkeit, die allerdings trügerisch sein konnte, wie die fünf schwarzen Reiter gezeigt hatten. Eigentlich kam niemand hier herauf, nicht einmal Jäger, oder Kräuterweiber.
Der Anstieg auf die Hochebene war viel zu steil und schweißtreibend. Auf der anderen Seite wurden die Ebene und die große Senke von den roten Flühen und der Schlucht vom Rest der Welt abgeschnitten. Wer hier herauf, oder in das große Tal kam, hatte einen triftigen Grund dazu. Verirren würde sich selten jemand in diese Gegend, der Weg war einfach zu beschwerlich.
Am Abend standen die drei Reiter mit ihren Packtieren am Rande der großen Senke und sahen staunend hinab. Talris beleuchtete mit seiner untergehenden Sonne die lange und hohe Barriere aus glatten Felsen und die roten Flühen machten ihrem Namen alle Ehre.
Wie eine Wand aus Feuer, als verbarg sich hinter dem Gestein ein brodelnder, eingeschlossener Vulkan, so glommen die Fluchten in leuchtendem Rot. Es bot sich ihnen ein Naturschauspiel, das die unzähligen Sonnenuntergänge mit Alpenglühen, die Sebastian in vielen Jahren als Alpinist erleben durfte, weit übertraf.
Ehrfürchtig stieg Antarona von ihrem Pla-ka, kniete im Gras nieder und streckte ihre Arme aus. Thorbald tat es ihr nach und ergriffen von der großen Ehrfurcht, schloss sich auch Basti der Zeremonie an. Sie dankten Talris für diesen Tag, den sie trotz Gefahr überlebt hatten. Sie dankten dem Gott der Sonne und seinen Vasallen für die Gnade, dieses sein göttliches Schauspiel erleben zu dürfen.
Dann stand Antarona auf, verharrte still und blickte wie ein staunendes Kind über das freie Land. Kein Muskel regte sich in ihr. Sie stand einfach nur da und sah hinab. Der Wind spielte mit ihrem Haar, ließ die Federn in ihrer schwarzen Mähne tanzen und bewegte leicht ihren Schurz, der kaum etwas von ihrem kupfern schimmerndem Körper verbarg.
Sie war wieder in ihrem Element. Hier war sie den Götterwesen näher, als am Altar Talris in der Burg. Auf den weiten Ebenen, in den Wäldern, in den Schluchten und auf den Graten der Berge, wo sie sich im Einklang mit den anderen Geschöpfen der Götterwesen bewegte, fühlte sie sich Zuhause.
Dieser Grund allein war für Sebastian der große Aufwand wert, mit dem er dieses Tal in Besitz nehmen wollte, für sie, seine geliebte Frau, und für ihre ungeborene Tochter, für ein friedliches, glückliches Leben! Dass dafür nötig war, zunächst eine ziemliche Unruhe in diese einsame Gegend zu bringen, um Jamálin das Land zu verleiden, nahm er dabei gern in Kauf.
Vielleicht war es gar nicht nötig, die imaginären Heerlager lange in den Schlüsselpositionen diesseits und jenseits der großen Senke zu halten. Wenn er Jamálins Absichten vor Bental und dem Rat glaubhaft machen konnte, und der König den Abgesandten der Oranuti vor den Thron zitierte, dann würde sich das Interesse des Oranuti- Fürsten rasch verrauchen.
In diesem Fall würde Basti die Kohorten wieder abziehen lassen. Sie konnten auch an einem bequemer zugänglichen Ort ihre Kampftechnik verbessern. Sebastian wünschte sich das Tal vor ihnen eher sofort, als in einigen Zentaren frei von anderen Menschen. Wie Antarona fürchtete er, dass die dort unten seit langer Zeit lebenden Geschöpfe durch die Unruhe vertrieben werden könnten.
Antaronas Wunsch aber war, mit allen Wesen, ob mit Eishunden, Robrums, oder Goren in Frieden zu leben. Dieses Tal war ein Lebensraum wie geschaffen für jene, welche mit den Tieren sprach. Und er wünschte sich, dass seine Tochter mit all diesen Wesen im friedlichen Nebeneinander aufwachsen konnte. Nur so würde sie, wie es einer echten Prinzessin zukam, ein jedes Leben zu schätzen wissen, so gering es auch erscheinen mochte.
Bevor die Sonne hinter den Baumwipfeln in ihrem Rücken versank, machten sie sich an den Abstieg ins Tal. Im Schatten des Berghangs wurde es merklich kühler. Ein leichter Wind ließ die von der Sonne erhitzten Körper frösteln.
Antarona warf sich eines ihrer Felle über und zog es um ihren Leib mit einem Lederband zusammen. Erleichterung machte sich in Sebastian breit, denn er beobachtete den ganzen Nachmittag mit erneut aufkeimender Eifersucht, wie Thorbalds Blicke auf Antaronas unbedeckte Haupartien fixiert waren.
Es passte ihm ganz und gar nicht, dass sie in dieser Nacht mit dem jungen Kohortenführer das Lager teilen mussten. Inständig hoffte er, dass am nächsten Tag bereits der erste Trupp der Heerlager eintreffen würde, der Thorbalds ganze Aufmerksamkeit fordern würde.
Sebastian sehnte die Zweisamkeit mit Antarona herbei, und nannte sich selbst einen narren, dass er seiner eigenen Eifersucht Nahrung gegeben hatte. Es würde schwierig werden, Antarona einige der jungen Krieger ausbilden zu lassen, gleichzeitig aber sie vor deren gierigen Blicken zu bewahren. In ihm zog sich alles zusammen, je mehr er darüber nachdachte.
Eine Stunde später überquerten sie den Fluss, entluden die Pla-ka und banden sie mit langen Leinen an ein par dünnen Baumstämmen an, die nahe am Ufer standen. So konnten die Tiere grasen und gleichzeitig an das Wasser heran. Antarona musste die Tiere zunächst zurückhalten.
Sie erklärte Basti, dass es nicht gut für die erhitzten Pla-ka wäre, sie sogleich nach belieben saufen zu lassen. Er sah sich bereits als Pla-ka- Züchter, musste sich aber bei dieser Gelegenheit eingestehen, dass er von diesem Geschäft rein gar nichts verstand, und in jeder Hinsicht von Antaronas Erfahrungen abhängig war.
Während sie noch das Lager aufschlugen, kamen in einiger Entfernung Tekla und Tonka herangesegelt, und ließen sich auf dem Rest eines abgestorbenen Baumes nieder. Thorbald sah irritiert zu, als Antarona mit ihren beiden Krähen zu kommunizieren begann. Freilich kannte auch er die Legenden, die sich um das Krähenmädchen rankten, doch hatte er sie, wie viele andere vor ihm, für eine Mär gehalten.
Sebastian überließen es Antarona, das Lager herzurichten, und ein Feuer zu entfachen. Er selbst wollte sich um frisches Fleisch kümmern. Er hatte im Fluss einige fette Bachforellen springen sehen, und bei dem Gedanken an gegrillten Fisch lief ihm bereits der Speichel im Munde zusammen.
»Thorbald ihr könnt mir zur Hand gehen, und zwei gerade Speere schneiden«, forderte er den jungen Krieger auf, mitzukommen. Im Grunde aber wollte er nur verhindern, dass sich Antarona und Thorbald näher kamen, während er dem Lager den Rücken kehrte.
Eigentlich ging es gar nicht um Thorbald, gestand er sich ein. Basti musste zugeben, in jedem Mann, der sich Antarona mehr als zehn Schritt näherte, als Konkurrenz zu sehen. Doch wie sollte er das in Zukunft verhindern? Er konnte sie ja nicht einsperren! Seine Gedanken kreisten noch um dieses Problem, als Thorbald mit den Speeren herankam.
Skeptisch sah der Krieger zu, wie sein Herr Areos in das kalte Wasser des Flusses stieg, und die lange Waffe mit der Spitze in die bewegten Fluten tauchte. Und Sebastian stellte sehr schnell fest, dass es etwas anderes war, mit dem Speer in einem ruhigen See auf einen Fisch zu warten, als in einem rauschenden Bach.
Das unruhige Wasser ließ ihn die Fische erst gar nicht klar erkennen. Lediglich als schemenhafte, dahinhuschende Schatten waren sie auszumachen. Doch vor seinem Kohortenführer mochte er sich nicht die Blöße geben, wegen seiner eigenen Unfähigkeit auf das Abendessen verzichten zu müssen. Er drückte dem verdutzten Thorbald seinen Speer in die Hand und sagte:
»Geduldet euch eine Weile, gleich wird es gehen!« Thorbald sah verwundert zu, wie Basti einen großen Steinbrocken vom Ufer aufhob, und wieder in das Wasser stieg. Vermutlich dachte er, Areos wollte die Forellen mit einem Felsen erschlagen und sie dann von der Wasseroberfläche fischen.
Verblüfft beobachtete er Basti dabei, wie dieser den schweren Stein sanft in das Wasser legte, und daneben noch einen, und noch einen, bis er einen kreisförmigen Wall aus Steinen errichtet hatte, mit einer Öffnung entgegen der Strömung, in dem sich das Wasser zunächst herumzuwirbeln begann.
Dann erhöhte er den Wall mit kleineren Steinen solange, bis sich das Wasser im Innern der Abgrenzung zu beruhigen begann. Sebastian tauchte seinen Speer schräg bis kurz unter die Wasseroberfläche, erstarrte und wartete. Ohne sich umzublicken, ohne eine Regung zu zeigen, sagte er über die Schulter hinweg:
»Seht ihr, es ist ganz einfach, wir müssen nur warten, bis sich ein Fisch in dieses Becken verirrt!« Aber ganz so einfach, wie Basti es sich dachte, war es nicht. Die meisten Fische spürten offenbar, möglicherweise am veränderten Strömungsverhalten des Wassers, dass dort etwas auf sie lauerte, das nicht natürlichen Ursprungs war.
Beinahe eine halbe Stunde lang stand er im Wasser. Die Beine wurden allmählich taub vor Kälte und Thorbald zweifelte inzwischen am Jagdglück seines Herren. Doch dann schlüpfte ein einzelner Fisch durch die Öffnung. Langsam schwamm er in dem Becken auf und ab. Sebastian geduldete sich, bis die Position der Beute zu der des Speeres passte.
Blitzschnell, ohne vorher mit einem Muskel zu zucken, stieß er zu. Die eingekerbte Spitze der Waffe bohrte sich durch den Fisch und Basti drückte das zappelnde Wesen einen Moment auf den Grund, um sicher zu gehen, dass der Fisch nicht wieder entwischte.
Dann hob er den Speer aus dem Wasser und schwenkte ihn mit langem, schwungvollem Arm zum Ufer hinüber.
»Gebt acht, Thorbald, hier kommt euer Abendessen!« Er lachte triumphierend, kam aus dem Wasser und trat heftig auf der Stelle, um das Blut in seinen Füßen wieder zum zirkulieren zu bringen. Während sich Thorbald um den Fisch kümmerte, griff sich Basti den zweiten Speer und watete wieder in das eisige Nass.
Es dauerte nicht lange, da zuckte ein mächtig großer Brocken von Fisch an der tödlichen Spitze, so dass Sebastian Mühe hatte, den Speer zu halten. Thorbald nahm ihm den Fisch ab und gab ihm den ersten Speer zurück. So ging das eine ganze Zeit lang, und in einer knappen Stunde hatten sie acht armlange Fische gefangen und ausgenommen.
Und als es dunkel geworden war, dünsteten die Forellen in frische Kräuterblätter gewickelt, auf flachen Steinen im Feuer. Ein Duft breitete sich aus, der sie alle ungeduldig ins Feuer starren ließ. Antarona hockte sich in regelmäßigen Abständen vor die Glut und stach mit einem dünnen Geflügelknochen durch die Kräuterschicht, um den Garzustand zu prüfen.
Wie hungrige Wölfe fielen sie über die Fische her, als diese endlich gar waren. Antarona erwies sich als perfekte Köchin. Sebastian konnte sich nicht erinnern, jemals so leckeren Fisch gegessen zu haben.
Nachdem sie die Fische und einige gekochte Wurzeln verspeist hatten, kontrollierte Sebastian noch einmal die Fußfesseln der Pla-ka. Antarona hatte ihnen die Vorderbeine so zusammengebunden, dass sie nur kleine Schritte machen, und sich nicht weit vom Lager entfernen konnten. Basti bezweifelte, dass sie dazu motiviert waren, denn sie waren ebenso erschöpft, wie ihre Reiter.
Antarona hatte das Lager für sich und Basti im Windschatten eines Felsens eingerichtet und ein kleines Feuer entfacht, dessen Glut die Nacht hindurch ein klein wenig Wärme und Schutz bot. Thorbald zog sich zu Bastis Erleichterung auf die andere Seite des Felsblocks zurück.
Alles war friedlich, als er zu seinem Krähenmädchen unter die Felle kroch. Nur die Sterne blinkten hoch über ihnen, und der Wind fuhr ab und zu wispernd durch die Zweige der Baumgruppe. Weit entfernte Tierstimmen und ein monotones Zirpen irgendwelcher Zikaden sangen sie in einen tiefen Schlaf...

Am Morgen verschleierten tiefe Wolken die Felswand, die noch am Abend in rotem Licht erstrahlte. Wie fliehende Geister zogen sie von Westen heran und blieben in der hohen Wand hängen, als könnten sie sich nicht entschließen, das Bollwerk zu überwinden. Nur schwerfällig kroch die Sonne hinter der himmelhohen, baumbesetzten Mauer hoch.
Sebastian schälte sich vorsichtig aus den Fellen heraus und ging zum Bach, um ausgiebig zu baden. In Wildwestfilmen fand er es immer sehr romantisch, in der Natur zu leben, draußen zu übernachten, und sich am Morgen am Bach zu erfrischen. Doch die Realität sah ein klein wenig anders aus.
Es war erbärmlich kalt, und als er in das dahinströmende, klare Wasser stieg, bekam er beinahe keine Luft, so eisig umschloss ihn das frische Nass. Basti biss die Zähne zusammen und zwang sich so lange wie möglich im Bach auszuhalten.
Mit eisernem Willen rieb er sich den körnigen Sand des Bachgrunds in die Haare und ließ ihn von der Strömung wieder herausspülen. Antarona hatte ihm diese Art der Haarwäsche gezeigt. Der Sand rieb den Schmutz los, den das Wasser dann mühelos fortspülte. Mehrere Male wiederholte er die Prozedur, bis er das Gefühl hatte, sauber zu sein.
Mittlerweile war er so durchkühlt, dass er kaum noch seine Gliedmaßen spürte. Völlig steifgefroren stelzte er aus dem Wasser. Die Luft kam ihm plötzlich wie aufgeheizt vor. Er fror nicht mehr, sondern empfand die Frische des Morgens als angenehm.
Voll neuer Energie schürte er das Lagerfeuer an, legte Holz nach und begann eine kräftige, heiße Brühe zu kochen. Er benutzte dazu getrocknetes Fleisch, das Antarona in einem Lederbeutel aufbewahrte und etwas Fett, das wiederum aus der ausgewaschenen Blase einer Antilopenart stammte.
Das Ganze rundete er mit ein paar Gewürzen aus Antaronas Sortiment ab. Da fanden sich getrocknete und zerbröselte Blätter, Stängel, und erstaunlicherweise sogar Baumrinden. Oft genug während ihrer Reise nach Falméra hatte er sein Krähenmädchen dabei beobachtet, wie sie die verschiedenen Kräuter einsetzte. Und ebenso oft hatte er selbst unter ihren kundigen Blicken eine stärkende Suppe, oder einen wärmenden Tee zubereitet.
Bald weckte der Duft auch Antarona. Sie hängte sich, wie es ihre Art war, an Bastis Hals, gab ihm einen heißen Kuss und wandte sich dann ebenfalls dem Bach zu. Völlig unbefangen, in der Tradition der jungen Frauen des Val Mentiér, warf sie ihre wenigen Kleidungsstücke ins Ufergras und stieg, wie die Götter sie geschaffen hatten, in den Bach.
Beinahe gleichzeitig erschien Thorbald auf der Bildfläche, verschlafen torkelnd, und sich den Nacken massierend. Gierig blickte er auf den Kupferkessel mit der Suppe, und auf das Brot, das Sebastian auf einen Stein gelegt hatte.
Dann sah er in die Runde und erblickte Antarona, die sich gerade den Sand in ihre langen Haare rieb. Peinlich berührt sah er zu Boden.
»Ich werde mal nach den Pla-ka sehen, und die Ausreißer wieder einsammeln«, verkündete er hastig und entfernte sich.
Offenbar galt auch auf Falméra das ungeschriebene Gesetz, das Männern die Nähe zu badenden Frauen versagte. Denn die Pla-ka waren gefesselt und konnten nicht weit gekommen sein. Vermutlich fanden sie die Tiere auf irgendeiner Kuppe friedlich äsend.
Erst als Antarona am Feuer saß, traute sich der junge Kohortenführer wieder ins Lager. Sebastian gab ihm eine Schale Suppe und ein Stück Brot. Antarona aber ignorierte ihn. Für sie war er nur ein Störfaktor. Und sie ließ ihn deutlich spüren, dass sie lieber mit Areos allein sein wollte. Sie funkelte ihn böse an, als er nur zu fragen wagte, ob sie nicht gemeinsam auf die Jagd gehen wollten.
»Jemand muss die Pla-ka bewachen, während Sonnenherz und Areos jagen gehen«, stellte sie nüchtern fest. Dann stand sie auf, ließ das Fell, das sie sich umgehängt hatte, provozierend zu Boden fallen und schritt mit aufreizendem Gang zum Baum hinüber, wo ihre Waffen lagen.
Sebastian rätselte, ob sie ihm damit signalisieren wollte, dass sie sich auf ein par einsame Stunden mit ihm freute, oder ob sie Thorbald deutlich machen wollte, was er definitiv von seiner Wunschliste streichen konnte. Wahrscheinlich beides.
Ganz ungezwungen, damit sich Thorbald erstens nicht ausgeschlossen fühlte, andererseits jedoch bestimmt, damit er sich wieder auf seine Aufgabe besann, legte Sebastian fest, indem er auf den nördlichen Teil des Hangs wies, über den sie am Abend zuvor gekommen waren:
»Ihr Thorbald, nehmt euch euren Pla-ka und reitet dort hinauf. Nehmt auch ein Packtier mit Standarten mit, sucht euch einen Platz, an dem ihr die Ebene, über welche wir gestern kamen, gut übersehen, aber auch das Tal einsehen könnt. Dann steckt einen geeigneten Lagerplatz für zwei Kohorten ab. Anschließend wartet ihr dort auf mich. Und behaltet die Ebene im Blick! Sollten sich Feinde nähern, spielt nicht den Helden, denn ich brauche euch noch. Versteckt euch und berichtet mir dann!«
Antarona tat, als hätte sie Bastis Anweisungen an Thorbald nicht gehört. Doch ihre plötzlich übertriebene Betriebsamkeit verriet sie. Auf einem Mal ging alles sehr schnell. Hatte sie vorher unlustig die Felle auf einen Haufen geworfen, so beeilte sie sich jetzt, sie sauber auf einen Pla-ka zu laden.
Sebastian beobachtete sie aus den Augenwinkeln, während er noch Thorbald half seine Pla-ka aufzuzäumen, ihn verabschiedete und ihm einen Moment nachsah. Dann ging er zu seinem Krähenmädchen hinüber.
»Die Mühe kannst du dir sparen«, sagte er mit Blick auf die aufgezurrten Felle, »wir werden sie nicht mitnehmen!« Antarona sah ihn an, als hätte er urplötzlich den Verstand verloren.
»Ihr könnt sie hier nicht angebunden lassen, Ba - shtie«, empörte sie sich, »Eishunde, Felsenbären und Gore werden sie sich holen, wenn sie hier wehrlos...« Sebastian unterbrach sie und fasste sie liebevoll um die Taille.
»Du hast doch gesagt, in dieser Zeit sind die Gore im Süden, im Land der Oranuti!« Sie wollte etwas erwidern, doch er ließ sie nicht zu Wort kommen.
»Binde sie los, dann werden sie nicht wehrlos sein!« schlug er vor. Seine Frau schüttelte leicht den Kopf, als glaubte sie nicht, was sie hörte.
»Aber dann werden sie sich in alle Winde zerstreuen, Ba - shtie! Wir werden zwei Sonnen brauchen, um sie wiederzufinden!« Sebastian lächelte sie überlegen an. Dann eröffnete er ihr fas geheimnisvoll:
»Wer sagt denn, dass wir sie suchen müssen? Lass sie einfach los, wohin wollen sie denn schon laufen? Wohin sie sich in diesem Tal auch wenden, sie werden auf unserem Land sein! Durch den Wald gehen sie nicht, durch die Schlucht auch nicht, und dass Pla-ka über Felswände steigen, habe ich noch nicht gehört. Mag sein, sie ziehen auf die Ebene. Der Durst aber treibt sie immer wieder in unser Tal zurück!« Als Antarona immer noch skeptisch dreinblickte, packte er sie an den Schultern und schüttelte sie leicht.
»Engelchen«, sprach er beinahe feierlich, »wohin sie auch laufen, sie werden auf unserem Land sein, auf dem freien Land, das ich für uns erobern werde, für dich, für mich, für unser Töchterchen! Sollen sie ruhig laufen, sollen sie sich vermehren! Es sind nur vier Tiere, mit Thorbalds Packtier fünf. Aber warte, bis unser Töchterchen den fünften Sommer erblickt!« Basti holte mit seinem Arm weit aus und wies über das Land.
»Es wird unser Land sein, auf dem sie grasen, sie werden unser Wasser saufen, und es werden gute Pla-ka sein, kräftig, schnell und ausdauernd, es werden gute Reittiere werden, für eine gute Reiterkohorte, für Arrak und seine Windreiter, damit sie Torbuk und den Oranuti das Fürchten lehren!« Basti holte tief Luft, blickte in die Runde und träumte wiederholt:
»Gib mir die Zentare von fünf Sommern und fünf Wintern, und du wirst in unserem Tal die besten Pla-ka sehen, die je einen Huf auf Falméras Erde gesetzt haben! Unser Wohnhaus wird dort drüben stehen, unter den mächtigen Bäumen dort, die im Sommer Schatten spenden. Dahinter die Stallungen, Lagerhütten und Pferche. Und daneben ein Kräutergarten für dich!«
Er drehte sich zu ihr um, nahm sie in den Arm und drehte sie synchron mit seiner Zukunftsvision, die er bereits als deutliches Bild vor sich sah.
»Wir fangen heute damit an! Lass sie laufen! Tariste wird sie führen, er wird über sie wachen, er wird sie zusammenhalten! In diesem Sonnenlauf beginnen wir unser Heim zu bauen, mit einer Hand voll Pla-ka! Hier gibt es gutes Gras und viel Wasser. Sie werden sich vermehren, sie werden von gesunder Gestalt sein, und die Reiter, die einst auf ihnen sitzen, werden unser Land beschützen und behüten, so dass unser Töchterchen glücklich und in Frieden aufwachsen kann!« Auf einem Mal sah er seine Frau erstaunt an, zog die Augenbrauen hoch und fragte:
»Sag mal, wie soll sie denn überhaupt heißen, welchen Namen wollen wir ihr geben, wenn sie das Licht Talris erblickt?«
»Ba - shtie!« entrüstete sich Antarona. Es sind noch ein Sommer und viele Monde zu leben, bevor das kleine Herz Talris Licht erblickt!« Dann wurde sie aber nachdenklich und sah verträumt über das Land, über die Blumenwiesen, die im Morgendunst lagen und mit ihren Tautropfen ein millionenfaches Gefunkel entfachten, das die aufgehenden Blüten begleitete.
»Sie wird schön sein, Ba - shtie, die Tochter von Sonnenherz und Glanzauge wird sehr schön sein! Sie wird so wunderschön und leuchtend sein, wie diese Blumen im erwachenden Licht Talris. Wir werden sie Veni-ia-phalis nennen! Es bedeutet Schöne Blume am Morgen.., Morgenblume! So werden wir sie rufen: Blume des Morgens!«
Sebastian lief eine Hühnerhaut über den Rücken, als er seiner Frau zuhörte. Er war ergriffen von ihrer tiefen Überzeugung und von dem Gedanken, dass seine Tochter einen Namen tragen würde, der mit seinem Land in wundervoller Weise verbunden war.
So sollte es sein! Gebar Antarona tatsächlich ein Mädchen, und daran hatte Sebastian seit der Prophezeihung der alten Binerin keinen Zweifel mehr, so würden sie ihr den Namen Veniaphalis geben! Irgendwann aber hatte er diesen Namen schon einmal gehört, doch er entsann sich nicht mehr, wo.
Immer noch wie von einem großen Traum beseelt, ging Antarona zu den Pla-ka hinüber und zog an den Schnüren, welche die Lasten auf ihren Rücken hielten. Die Felle und Stangen rutschten und polterten zu Boden und die Tiere schnaubten erleichtert. Feierlich nahm sie ihnen das Zaumzeug ab. Tariste schüttelte seine Mähne und glotzte ungläubig.
Da trat Sebastian heran und gab dem Hengst einen Klaps auf das Hinterteil, machte eine ausladende Bewegung und rief dem Tier zu:
»Na nun mach schon, verschwinde, du bist frei! Hau ab und nimm deine neue Familie mit! Los, zeig mir, dass du es wert bist, dass ich meine Hoffnung in dich setze!«
Tariste ließ ein munteres Wiehern hören und trabte wie der Wind los, als hätte er seinen Reiter verstanden. Antaronas Pla-ka und die Packtiere brauchten keine extra Einladung. Sie folgten ihrem Herdenführer, bevor er noch außer Sichtweite war.
»Lauf, du verrücktes Biest, lauf nur zu«, sagte Sebastian leise mehr zu sich selbst, »mach aus diesem Tal ein Zuhause! Und gib acht auf deine Herde, pass gut auf sie auf!« Zu Antarona gewandt sage er auffordernd lauter:
»Na ja, für unser Zuhause werden wir nun wohl laufen müssen, was?« Sie grinsten sich beide an, glücklich, zufrieden, voller Hoffnung. Sie nahmen ihre Waffen auf, füllten die Wasserbeutel und machten sich auf den Weg.
Zunächst folgten sie einem kleinen Bach über die sanften Hügel der Weiden. Die Sonne brannte vom Himmel und rasch wurde ihnen warm. Je näher aber sie der Felswand kamen, desto bedrohlicher erhob sich die Barriere über ihnen und bald traten sie in ihren mächtigen Schatten. Dort wehte ein kühler Wind, der das Laufen erträglicher machte.
Drei Stunden waren sie unterwegs, bevor sie den Hang erreichten, der zum Fuß der Felswand hinaufführte. Allmählich bekamen sie eine Vorstellung von der Größe und Weitläufigkeit des Tals, welche sie mit bloßem Auge zu erfassen gar nicht in der Lage waren.
Hier, an der Schattengrenze der Felswand, hoffte Antarona Fährten von Jagdwild aufzuspüren. Sie glaubte, dass sich die Tiere bevorzugt zwischen sengender Sonne und kühlendem Schatten aufhielten. Konzentriert suchte sie den Grasboden ab, der von Felsbändern unterschiedlicher Größe durchzogen war.
Plötzlich blieb sie stehen und deutete auf eine versiegte, aber noch feuchte Pfütze. Die Erde war dunkel und nass. In ihrer Mitte zeigte sich der Abdruck eines kleinen Hufes, kleiner, als der eines Rothirsches, aber größer als die Spur eines Rehs.
»Nu-hu-ruk«, verriet Antarona ihrem Ba - shtie geheimnisvoll. »Es ist nach der schlafenden Sonne, nach dem Wald hin gezogen. Der Abdruck ist nicht tief, es war nicht in Eile, es war auf der Suche nach Kräutern«, stellte sie forensisch fest.
»Nu-hu-ruk«, wiederholte Sebastian skeptisch, als zweifelte er an der Urteilskraft seiner Frau. Als Antarona nicht weiter auf seine Wiederholung einging, fragte er ungeduldig und beinahe verzweifelt:
»Was bei den Göttern ist nun wieder ein Nu-hu-ruk?« Er machte keinen Hehl daraus, dass er mit der Vielfalt der Fauna dieses Landes und dem Lernen ihrer Bestimmung nicht so rasch hinterher kam.
»Es ist Fleisch, Ba - shtie, gutes Fleisch und Sehnen für unsere Bogen!« klärte sie ihn auf. Antarona kniete sich auf den Boden, beugte sich vor und vergrub ihr Gesicht im Gras neben der trocknenden Pfütze. »Sonnenherz riecht zwei junge, weibliche Tiere, welche nicht trächtig sind«, verkündete sie leise und geheimnisvoll.
»Na sieh mal an«, kommentierte Basti ihre Erkenntnisse mit seinem Sarkasmus, »und kannst du auch riechen, ob sie Empfängnisbereit sind?« Er glaubte Antarona damit aus der Reserve zu locken, doch sie antwortete nüchtern, als wäre es das Normalste der Welt:
»Natürlich kann Sonnenherz das! Es ist wichtig, zu wissen, ob ein Bock ro-na-hé, paarungslustig ist, oder ein weibliches Tier trächtig«, erklärte sie ihm mit ernster Miene.
»Ist der Bock ro-na-hé, so schmeckt sein Fleisch streng, und es muss lange abgehangen und gewassert werden. Bei einer Ricke, welche trächtig ist, findet ihr fettes, weißes Fleisch. Das beste Fleisch bekommt ihr, wenn ihr junge Tiere erlegt, die ein, oder zwei Sommer alt sind. Sie haben das beste Fleisch, zart im Wuchs, und Sehnen, die sich gut aufziehen lassen!« Antarona drehte sich zu ihm um und fügte hinzu:
»Doch gebt acht, dass ihr von den jungen Tieren stets nur die Kranken und Schwächsten auswählt! So sorgt ihr für kräftiges, gesundes Fleisch in den nächsten Sommern und Wintern!« sprach die Jägerin aus Antarona.
Dann stand sie auf und strebte dem Wald zu, der an die nördliche Kante der Felswand grenzte und sich wer weiß wie weit in das Land hinein zog. Den Boden ließ sie dabei nicht mehr aus den Augen. Sie las in ihm, wie in einem Buch. Was Sebastian nur mit Mühe allmählich zu lernen versuchte, schien ihr angeboren.
Ein winziges Haarbüschel an der Baumborke, ein zertretenes Insekt auf dem Fels, ein winziger Flecken Gras, an dem kein Tau mehr hing, sie waren ihr die Wegweiser durch die Geschichte des Landes der letzten drei Stunden.
Zwischendurch stieg das Krähenmädchen auf einen hohen Felsblock, der von einer Laune der natur inmitten der Weiden liegengelassen wurde. Sie spähte zum Wald hinüber und rief zu Basti herab:
»Die Tiere sind zwischen den beiden großen Bäumen in den Wald gezogen!« Sebastian zog die Augenbrauen hoch. Wie konnte sie das wissen?
So sehr er sich auch anstrengte, er konnte keinen Anhaltspunkt dafür finden, wo eine kleine Herde Antilopen über die Weiden gezogen sein wollte. Allein die endlose Steppe der Weiden vermochte er zu erkennen, die sich in ihrem monotonen Gelbgrün bis zum Waldrand hinzog.
»Wie vermag Sonnenherz zu wissen, wo die Herde entlanggezogen ist? Das Gras, auf welches die Tiere getreten sind, war weich im Morgentau und hat sich wieder aufgerichtet. Sie haben keine Spuren hinterlassen!« rief er zu ihr hinauf. Antarona aber winkte ihn herauf und wartete, bis er neben ihr stand.
»Ba - shtie, blickt über das Land und seht selbst!« sagte sie und holte mit ihrem Bogen aus, als wollte sie die Unebenheiten und kleine Hügel mit einer unsichtbaren Macht ebnen. Und Sebastian staunte nicht schlecht.
Unzählige Spuren zogen sich entweder als feine Zickzacklinien, oder als breite, gerade Pisten über das weite Grasland, das offenbar viele Tiere als Weidegrund nutzten. Die meisten Fährten endeten am Waldrand. Was Sebastian sah, war ein Effekt, den er bereits als Alpinist kennengelernt hatte.
Stieg er auf einen Berg, so erkannte er aus der Entfernung eine sauber abgegrenzte Gratlinie, durch Schatten und Licht voneinander getrennte Flanken. Auf einem Grat selbst aber verlor sich die Linie meist im Detail. Die Gratkante löste sich auf in einzelne Stufen, Blöcke, Rinnen und Absätze.
An diesem Morgen waren es die winzigen Tautröpfchen, die den Unterschied zwischen dem Detail und der Wahrnehmung aus der Distanz ausmachten. Dort, wo die Herden gezogen waren, hatten sie den Tau von den Grashalmen abgestreift. Dadurch brach sich das Licht auf der Oberfläche der Gräser anders und wies deutliche Spuren.
Es war so einfach, doch Sebastian wäre von allein nie dahinter gekommen. Antaronas Erfahrungen in der Wildnis waren auf ihre Weise so komplex, wie das Wissen um eine Automationsanlage in einer Fabrik. Ohne diese Erfahrungen und Erkenntnisse, mochte ein Menschenwesen verhungern, oder gar einem auf Beute ziehendem Tier zum Opfer fallen.
Sie stiegen vom Felsen herab und bahnten sich den Weg durch das hüfthohe, nasse Gras. Innerhalb weniger Momente war Sebastians Hose durchnässt, und schlackerte schwer um seine Beine. Antarona war klüger. Sie hatte ihre Beinlinge abgelegt und trug sie über der Schulter. Ihr Hüftschurz klebte ihr klatschnass auf der Haut und ließ ihre weiblichen Rundungen mit aufreizender Deutlichkeit erkennen.
In Bastis Kopf schlugen seine Phantasien Purzelbäume. Er sah sie beide im Geiste sich durchs nasse Gras wälzen, sich einfach ihren Gelüsten hingebend. Seine Sinne tanzten durch den Raum und nahmen nicht mehr wahr, was vor ihnen war.
Direkt vor ihren Füßen, als spuckte ihn der Boden aus, sprang ein Antilopenbock hoch, verschwand mit einem Satz wieder im hohen Gras. Bastis Augen verfolgten den flüchtenden Bock, dessen Kopf immer nur für kurze Augenblicke aus dem Grasmeer auftauchte, und seine Position verriet. An seinen Bogen dachte er nicht.
Antarona hingegen ließ einen Pfeil von der Sehne schnellen, als der gehörnte Kopf aus dem wogenden Gras auftauchte. Doch das Geschoss verfehlte sein Ziel. Sebastian wusste, dass er mit seinen Sinnen nicht mehr bei der Jagd gewesen war. Doch was hatte seine Gefährtin abgelenkt? Gewöhnlich spürte sie ein Tier, noch bevor sie es sah, und ihr Pfeil hatte bisher noch nie sein Ziel verfehlt!
»Ba - shtie, wenn euer Herz den Leib von Sonnenherz ruft, so schreckt ihr jedes Wild zur Flucht, und jeder Pfeil wird nur die Luft durchbohren!« schalt ihn Antarona mit hörbarem Vorwurf. Sein Erstaunen wuchs ins Grenzenlose. Vermochte sie sogar seine Blicke auf ihrem Körper zu spüren? Fühlte sie, ohne ihm in die Augen zu sehen, wenn er sie begehrte?
Basti dachte nach und errötete leicht. Möglicherweise spürte sie sein Verlangen und erwiderte es still und heimlich. Er hatte einmal gehört, dass Tiere so etwas über weite Entfernungen wittern konnten. Der Bock war also gewarnt, bevor sie noch in seine Nähe kamen. Und Antarona wusste es, stellte er peinlich berührt fest.
Während Antarona versuchte, ihren Pfeil wiederzufinden, nahm er sich vor, an etwas anderes, weniger aufregendes zu denken. Aber das gelang ihm so lange nicht, bis sie am Waldrand standen. Erst hier, vor der bedrohlich wirkenden Kulisse der mächtigen, undurchdringlichen Wand aus Bäumen, fokussierten sich seine Sinne auf etwas anderes.
Pfeil und Bogen im Anschlag, traten Antarona und Sebastian gebückt in den Schatten der mächtigen Stämme. Vorsicht war ständig geboten. Nicht nur das Wild, das sie erjagen wollten, schlich hier auf leisen Pfoten, oder Hufen unter dem Blätterdach der Bäume umher.
Sie mussten sich allmählich beeilen, wenn sie Beute machen wollten. Noch erreichten die schräg einfallenden Sonnenstrahlen nicht den Grund des Waldes. Der Boden war nass vom Tau. Ihre Füße übertrugen das Körpergewicht auf das feuchte Laub und das nasse Bruchholz. Wie auf weichem Moos bewegten sie sich geräuschlos vorwärts.
Das war vorbei, wenn die Sonne am Zenit stand, ihre Strahlen senkrecht durch die Blätterkronen warf, und den Boden austrocknete. Jede Bewegung ihrer Füße würde dann ein Rascheln, Knacken, oder Stampfen verursachen.
Je tiefer sie in den Wald eindrangen, und je höher sie stiegen, desto dichter wurde die Vegetation. Bald füllten Nadelbäume die Lücken zwischen den licht stehenden Laubbäumen aus, unter dem Blätterdach wurde es dunkler. Der Boden war von weniger Laub bedeckt, dunkel, fast schwarz, und feucht.
Antarona deutete plötzlich mit der Bogenspitze auf eine Fährte. Deutlich zeichnete sich ein kleiner, gepaarter Huf im weichen Humus ab. Wie eine Wölfin folgte Antarona der Spur, und als sie zwei kleine, eng stehende Tannen erreichten, zwischen denen die Spur hindurchführte, beschnupperte sie gründlich die Zweige.
»Ein jüngeres Tier, kein Bock, und nicht in Erwartung eines kleinen Herzens«, verkündete sie flüsternd mit forensischer Sicherheit, »aber es lahmt etwas am Vorderfuß!« Sebastian hielt seine Frau am Arm fest und raunte ihr zweifelnd zu:
»Du kannst riechen, dass es sich einen Fuß gebrochen hat?« Antarona gebot ihm mit einem Finger auf dem Mund, leiser zu sein, antwortete aber im Flüsterton:
»Ba - shtie, seid nicht töricht, das sieht Sonnenherz darin, wie die Abdrücke in der Fährte stehen! Zu wittern vermag sie nur sein Empfinden!«
Nur sein Empfinden, wiederholte Basti im Geiste. Genau das war es ja, was ihm Angst machte, und ihn gleichzeitig an diesem wilden Mädchen faszinierte. Er lächelte still in sich hinein, und war unheimlich stolz, das dieses besondere Krähenmädchen seine Frau war.
Durch eine Verkettung dummer Umstände war er auf unerklärliche Weise in dieses Land geraten, seinem Zuhause entrissen. Doch er vermisste es nicht, sein früheres Leben. Im Gegenteil! Inzwischen hatte er Angst, irgendwann durch ähnliche Umstände in seine Welt zurückzukehren, und Antarona zurücklassen zu müssen.
Diese Frau war sein Zuhause! Dabei war es egal, wo sie lebten, solange sie nur zusammen lebten! Wieder lächelte Sebastian und dachte zurück. Früher vertrat er die unumstößliche Meinung, dass man nur in jenem Land zuhause sein konnte, in welchem man geboren wurde, oder dort, wo man sich von der Landschaft angezogen fühlte. Nun wusste er, dass es ein Irrtum gewesen war!
Nicht die Herkunft, das Land, machte wirklich ein Zuhause aus. Es waren die Menschen, die ihm das Gefühl von Zuhause vermittelten! Jene Menschen zu denen man sich hingezogen fühlte, die einem die Wärme des Herzens gaben, die man liebte. Das entscheidende an einem Zuhause war, nicht allein zu sein, sich in einer Gemeinschaft geborgen zu fühlen!
Mit Antarona an seiner Seite mochte er in einer Wüste leben, oder auf einem Berg, auf einer Insel, oder in den Sümpfen, in den undurchdringlichen Tiefen der Wälder, ja sogar in seiner Welt, solange sie beide glücklich waren! Mit dieser Frau hatte er das Gefühl, vollkommen zu sein! Nun verstand er auch Antaronas Worte zwei Herzen, die wie eines sind.
Damit hatte sie alles ausgedrückt: Tiefe Verbundenheit, Vertrauen, erfüllte Sehnsucht, Geborgenheit. Das Zuhause eines Menschenwesens war die Liebe! Basti schüttelte über sich selbst den Kopf. Wie weit hatte er gehen müssen, wie weit hatte ihn das Schicksal geführt, bis er das begriffen hatte, das doch eigentlich so simpel war! Das Manifest zwischen Liebe und Zuhause zu erkennen! Andererseits musste er zugeben, dass er froh war, vom Schicksal so weit getrieben worden zu sein.
Ohne die Erkenntnisse, dass Gold nur einen vergänglichen Wert besaß, und dass es erstrebenswertere Ziele im Leben gab, dass er Antarona nur hier, weitab seines bisherigen Lebens, in einer Welt voller Gefahren finden konnte, und dass ihre gemeinsamen Abenteuer ihm letztlich die Augen geöffnet hatten, wäre er wohl immer noch auf der Suche nach einem Zuhause!
Doch nun wusste er, dass ihr Zuhause überall auf der Welt sein konnte, solange sie miteinander glücklich waren!
Basti musste sich eingestehen, dass er nicht mehr sehr oft an sein früheres Leben zurückdachte. Selbst die Sprache der Îval und der Oranuti beherrschte er inzwischen so perfekt, dass es nur noch selten vorkam, dass er mit Antarona in seiner Sprache, der Sprache aus dem Totenreich kommunizierte.
Ein Schmerz unterhalb seiner Rippen riss ihn aus seinen Gedanken. Antarona holte gerade zu einem weiteren Stoß mit ihrer kleinen Faust aus. Er packte ihr Handgelenk und wollte laut protestieren, als er die Grimassen in ihrem Gesicht wahrnahm, mit denen sie ihn lautlos auf etwas aufmerksam machen wollte. Sie hockte sich ins Unterholz und zog ihn mit sich auf den Boden.
Stumm wies sie mit dem Bogen nach vorn, durch die Büsche hindurch. Sebastian folgte ihrem Blick, spähte zwischen Baumstämmen hindurch und gewahrte eine Bewegung auf einer noch ziemlich weit entfernten, kleinen Lichtung. Auf diese Entfernung konnte er jedoch kaum erkennen, was genau sich da vor ihnen auf der Waldwiese aufhielt.
Antaronas kleine Hand legte sich auf seinen Mund, um sicher zu gehen, dass er keinen Ton von sich gab. Dann bedeutete sie ihm in bildhafter Zeichensprache, dass sie sich vorsichtig anschleichen mussten.
Sie entledigte sich aller Habseligkeiten, verstaute sie zwischen den mächtigen Wurzeln eines großen Baumes, zog anschließend ihr Oberteil sowie ihre Beinlinge aus und legte alles sorgsam dazu. Dann schob sie sich den Dolch in das dünne Band ihres Lederschurzes.
Zuletzt entspannte sie ihren Bogen wieder, damit er sich nicht im Unterholz verfing. Ungeduldig stupste sie Basti an, es ihr gleich zu tun. Sein Blick empörte sich dagegen, sich völlig zu entkleiden, und auch noch die Stiefel auszuziehen. Doch mit einer energischen Mimik gab sie ihm zu verstehen, dass sie keinen Kompromiss zulassen würde.
Er legte die Waffen ab und zog sich bis auf die Unterhose aus. Sein Bowiemesser nahm er in die Hand. Antarona nickte zufrieden und deutete mit dem Kopf nach vor, ihr zu folgen. Ohne sich noch einmal umzudrehen, kroch sie vorwärts.
Die Zehen und Ballen ihrer Füße grub sie tief in den weichen Boden, stieß sich damit ab, und bewegte sich wie eine Echse vorwärts. Sie scheute sich nicht, mit dem ganzen Körper auf dem Boden zu rutschen, und arbeitete sich Meter für Meter vor.
Sebastian folgte ihr dichtauf. Zunächst wanden sie sich unter dornigen Büschen hindurch, die Antarona wie durch eine geheimnisvolle Fügung ungeschoren ließen, ihm aber den ganzen Rücken zerkratzten. Anschließend wand sich das Krähenmädchen durch eine große Schlammpfütze. Nur noch ihr Kopf sah heraus. Die Waffen hielt sie mit einer Hand in die Höhe, während sie mit der anderen weiterkroch.
Als sie wieder trockenes Gelände erreichte, glänzte sie wie eine mit Butter eingeriebene, schwarzhäutige Tänzerin. Der lehmige, dunkle Schlamm bedeckte ihren ganzen Körper. Sebastian wusste mittlerweile, dass dies zur Tarnung diente, und verhinderte, dass die Beutetiere sie wittern konnten.
Zögernd wartete Sebastian vor dem Schlammloch. In seinen Erinnerungen war noch das Erlebnis in den Elsirensümpfen wach. Antarona drehte sich zu ihm um, warf ihm einen warnenden Blick zu, und zeigte ihm die Zähne. Ein deutliches Zeichen! Er wusste, dass sie ihm die Augen auskratzen würde, sollte er das Unternehmen durch seine Eitelkeit zum Scheitern bringen.
Wohl oder übel kroch er durch das kalte, nach Moder stinkende, nasse Loch und hatte seine Mühe damit, die Waffen sauber zu halten. In der zähen Brühe war nur schwer vorwärts zu kommen und er fragte sich, wie Antarona es geschafft hatte, sich mit der Geschwindigkeit einer Wasserschlange durch diesen Pfuhl zu winden.
Indem sich Basti auf der anderen Seite wieder auf trockenen Boden schob, spürte er, dass sich seine Unterhose so mit Schlamm vollgesogen hatte, dass sie ihm über den Hintern zu rutschen drohte. Still fluchend wälzte er sich im Laub und versuchte sie wieder hochzuziehen. Antarona hörte das Rascheln, drehte sich um und warf ihm einen vernichtenden Blick zu.
Er verkniff sich weitere Rettungsversuche seiner Unterwäsche. Aber die waren auch nicht mehr nötig. Der auf seinem Körper rasch trocknende Schlamm hielt das letzte Kleidungsstück fest auf seinem Leib. Trotzdem zog er das Band im Saum fester, als er sich weiter fortbewegte, immer in der Spur seiner verwilderten Frau.
Bald erreichten sie einen umgestürzten Baum. Der Stamm lag auf den stärkeren Ästen, etwas erhöht und bot eine gute Deckung. Sebastian schob sich neben das Krähenmädchen und erhielt sofort einen Knuff in die Seite. Dazu erntete er einen vorwurfsvollen Blick. Ebenso anklagend wies er mit beiden Händen auf seine Hose, die einmal weiß gewesen war.
Gleichgültig hob Antarona die Schultern. Sah er nicht eben ein verstecktes, schadenfrohes Grinsen über ihr Gesicht huschen? Das wurde erst einmal nebensächlich. Vorsichtig spähten sie beide über den Baumstamm. Die Lichtung war deutlich näher gerückt. Deutlich konnten sie die Herde Antilopen erkennen, die friedlich grasend über die freie Fläche zog.
Mit einer Handbewegung gebot ihm Antarona, sich wieder hinter den Baumstamm zu ducken. Dann erklärte sie ihm in Zeichensprache, wie sie weiter vorgehen wollte. Sie wollte bis zu einem großen, weit ausladenden Laubbaum nahe der Lichtung weiterkriechen, dessen mächtige Wurzeln sich über der Erde weit verzweigten. Dahinter sollten sie ihre Bogen aufspannen, um dann gleichzeitig aufzustehen und zu schießen. Da Sebastian keine andere Möglichkeit sah, an das Wild heranzukommen, ohne es zu verschrecken, stimmte er nickend zu.
Antarona zupfte mit Zeigefinger und Daumen ein par Samen eines Grases ab, die Basti an die federähnlichen Samen des Löwenzahn erinnerten. Einzeln ließ sie die kleinen Fallschirmchen durch die Finger ihrer erhobenen Hand rieseln, und beobachtete, in welche Richtung sie davon trieben. Der Wind stand günstig. Wenn er nicht unverhofft drehte, würden sie sich bis zum Waldrand an die Tiere anschleichen können.
Ohne zu zögern setzte Antarona ihr vorhaben in die Tat um. Wie ein Wurm schlängelte sie sich unter dem gefallenen Baum hindurch und robbte auf den uralten Baum zu. Basti hatte Mühe ihr zu folgen, denn er war nicht so biegsam wie das Krähenmädchen, und musste sich regelrecht durch die Erde wühlen.
Als sie sich schließlich beide hinter die dicken Arme der Wurzeln kauerten, waren die Antilopen schon ein gutes Stück weitergezogen. Für einen sicheren Schuss aus dieser Entfernung mussten sie einen windstillen Moment abpassen und genau synchron handeln.
Antarona bedeutete Basti mit stummen Zeichen, sich gleichzeitig mit ihr zu erheben, den Bogen zu spannen und auf das letzte Tier der Herde zu zielen. Sie selbst würde auf das vorletzte schießen. So hatten sie ihre Möglichkeiten verdoppelt, und mit viel Glück konnten sie einen zweiten Schuss anbringen, bevor sich die Tiere erschreckten, einen Satz machten, und flohen.
Gemeinsam spannten sie ihre Bogen. Warten. Ein leichter Wind, der nicht nur ihre Pfeile ablenken, sondern auch die empfindlichen Nüstern der Tiere warnen konnte, strich kaum merklich über sie hinweg. Doch auf der freien Wiese mochte er stärker wehen, als zwischen den mächtigen Bäumen.
Sie atmeten ein, wieder aus, wieder ein. Antarona beobachtete das hohe Gras auf der Waldwiese, behielt gleichzeitig das Ziel im Auge, konzentrierte sich nur auf diese beiden Dinge. Sebastian fixierte sich auf sein Tier. Sein Blick streifte Antaronas nackte Brüste, die sich im ruhigen Atem hoben und senkten. Er versuchte in ihrem Takt zu bleiben.
Nach einer scheinbaren Endlosigkeit spreizte Antarona einen Finger ihrer Bogenhand, atmete aus und ließ den Pfeil von der Sehne fliegen. Augenblicklich überließ auch Basti sein Geschoss der Zugkraft. Der erste Pfeil durchschlug den Hals der vorletzten Antilope, die mit einem Satz nach vorn schnellte.
Sebastians Tier reagierte sofort, hob ebenfalls zu einem Sprung an, doch zu spät. Sein Pfeil traf die Antilope zwei Zehntelsekunden später direkt ins Blatt, sie knickte in den Vorderläufen ein, und brach zusammen. Der Rest der Herde stob vorwärts und war Sekunden danach im Wald verschwunden.
Strahlend sah Antarona ihren Mann mit den Zeichen der Götter an. Was für eine Jagd! Zwei Beutetiere auf einen Streich und Fleisch genug für viele Tage! Sie legte Pfeile und Bogen auf die Baumwurzel, zog ihren Dolch und betrat die Wiese.
Basti verharrte und sah fasziniert zu, wie sich das mit Schlamm beschmierte, unbekleidete Mädchen vom Grün des Hintergrunds abhob, sich mit einer elfengleichen Grazie und doch einer ungezähmten Wildheit den Weg durch das hohe Gras bahnte.
Als sie sich gerade über das erste Beutetier beugte, teilte sich das Unterholz im gegenüberliegenden Waldrand. Ein riesiges Monster von gut drei Metern Höhe trat, von einem Bein auf das andere wiegend, die Lichtung. Sebastian blieb fast das Herz stehen.
Das Ungetüm sah so aus, wie er sich immer einen Yeti vorgestellt hatte, mehr Affe als Mensch, vollständig mit dichtem, zotteligen und dunkelbraunem Fell behaart. Lediglich das Gesicht war beinahe haarlos, faltig, wie altes Leder. Große, dumm glotzende Augen stachen daraus hervor, spähten über die Wiese und fixierten Antarona.
Schwankend, wie ein betrunken, stand das Biest da, legte seinen Kopf schief, und beobachtete das Krähenmädchen ebenso fasziniert, wie Sebastian es getan hatte. Er wusste, dass dieses Wesen dort drüben ein Robrum war, doch hatte er bislang keine dieser Kreaturen so deutlich bei Tagslicht gesehen.
Der nächtliche Zusammenstoß mit einem Robrum vor vielen Zentaren war ihm unwirklich, wie der Abschnitt eines bösen Traums vorgekommen. Doch jetzt, in der Sonne des frühen Vormittags, wirkte diese Spezies noch bedrohlicher auf ihn.
Sebastian überwand seinen ersten Schreck und reagierte sofort. Mit drei Schritten stand er auf der Wiese, den Bogen gespannt, sein Pfeil zielte auf die mächtige Brust des zotteligen Riesen. Antarona gewahrte Sebastians Geste, sprang auf und wirbelte zu dem Robrum herum.
Das Biest erschrak seinerseits, fühlte sich offensichtlich bedroht und machte ein par Sätze auf Antarona zu. Plötzlich blieb der Robrum stehen, reckte sich zu majestätischer Größe und trommelte sich mit behaarten Fäusten auf die Brust, so wie Sebastian es bei Gorillas gesehen hatte. Dazu stieß das Wesen ein tiefes, röhrendes Brüllen aus, das mit widerhallendem Echo über die Lichtung dröhnte, und Basti empfindlich in die Glieder fuhr. Doch er behielt sein Ziel fest fixiert.
Antarona stand zwischen ihm und dem Robrum, dessen Stimmung sich zusehends verschlechterte. Sie schien unschlüssig, und in ihrer Nacktheit der Gefahr ausgeliefert und verletzlich. Basti wollte ein paar Schritte auf den Robrum zugehen, und ihm den Pfeil ins Fell jagen, als unverhofft vier weitere Riesen aus dem Wald auftauchten.
Das änderte die Situation völlig. Wie viele von diesen Zottelbiestern konnte er wohl mit seinen Pfeilen stoppen, bevor sie Antarona erreichten und sie vor seinen Augen in Stück rissen?
Wie zur Bestätigung seiner Befürchtungen, nahmen die Robrums eine drohende Haltung ein. Ihre Absicht vermochte Basti allerdings nicht eindeutig zu ergründen. Entweder wollten sie Antarona, oder, was Basti insgeheim hoffte, nur ihre erlegte Beute. Fieberhaft überlegte er, wie er seine hilflose Frau aus der Situation retten konnte.
Doch Antarona kam ihm zuvor. Unter seinen entsetzten Blicken steckte sie den Dolch zurück in das Hüftband, hob beide Arme und ging langsam zwei Schritte auf die Robrums zu. Basti hielt den Atem an, bereit, jederzeit seinen Pfeil abzuschießen.
»Legt die Waffen weg, Ba - shtie, und verhaltet euch ruhig«, rief Antarona ihm zu, und streckte gleichzeitig den Robrums ihre leeren Handflächen entgegen. Dann kniete sie nieder und senkte ihr Haupt.
»Macht schon, Waffen weg!« zischte sie ihm warnend zu. Nur zögernd ließ Sebastian Pfeil und Bogen sinken, legte sie so ins Gras, dass er sie schnell wieder greifen konnte, sollte es erforderlich werden. Anschließend nahm er Antaronas demütige Haltung ein.
Die Robrums grunzten sich irgendwelche Laute zu und es hatte den Anschein, als berieten sie sich untereinander. Die Anspannung ließ nach, und die Riesen beruhigten sich etwas. Antarona nutzte die Gelegenheit, stand ganz langsam auf und ging rückwärts zu den erlegten Antilopen.
Ohne jede Hektik hob sie das kleinere Tier an, so dass die Robrums es sehen konnten. Sie wartete, bis die Zottelriesen aufmerksam und neugierig auf sie blickten, dann zog sie das Beutetier an den Hinterläufen hinter sich her und ging den Waldwesen langsam entgegen. Unentschlossen, ob sie angreifen, oder abwarten sollten beobachteten die Riesen Antaronas Gebaren.
Unerschrocken trat das Krähenmädchen den Wesen entgegen, die sie über einen Meter überragten. In einer unterwürfigen Geste legte sie die Antilope ein par Meter vor den Robrums ab, deutete mit den blanken Handflächen auf das Tier, dann auf die Gruppe Zottelwesen, und zog sich mit gesenktem Haupt wieder zurück.
Etwas entfernt hockte sich Antarona ins Gras, legte ihre Hände sichtbar auf ihre Knie und sah die Wesen offen und durchdringend an. Basti ahnte, dass sie mit ihren Sinnen Kontakt zu ihnen aufnahm, ohne, dass er dafür einen sichtbaren, oder hörbaren Beweis hatte. Die Robrums stießen zufriedene Grunzlaute aus, und er glaubte zu erkennen, dass sie Antarona plötzlich mit Respekt begegneten.
Zwei der Zotteltiere ergriffen plötzlich das Jagdwild und zerrten es durch das Unterholz fort. Die anderen drei verharrten in einer friedlich wartenden Position. Sie legten abwechselnd ihre Köpfe auf die Seite, als hörten sie einer geisterhaften Stimme zu. Sebastian wusste: Antarona sprach mit ihnen!
Ohne jede Vorwarnung stand sie plötzlich auf, ging zwei Schritte auf die Waldwesen zu, streckte dann ihren Arm nach Sebastian aus und sagte:
»Kommt, Ba - shtie, wir wollen die Bewohner des Waldes begrüßen!« Zögernd erhob sich Sebastian aus dem Gras, blieb aber voller Skepsis stehen.
»Nun macht schon«, ermahnte sie ihn, »sie werden uns nicht angreifen, sie wissen, dass wir ihre Freunde sind!«
Vorsichtig ging Basti zu seinem Krähenmädchen hinüber und gemeinsam näherten sie sich den riesenhaften, behaarten Affen, die aber wesentlich mehr menschliche Verhaltensmuster zeigten, als ihre Artverwandten in Bastis Welt. In einem jedoch schienen sie die Basti bekannten Halbprimaten noch zu übertrumpfen. Sie stanken fürchterlich!
Den Geruch nach ranzigem Fett, nach Fäkalien und schweren Körperausdünstungen konnten auch ihre dicken, verfilzten Felle nicht mildern. Ein penetranter, schwerer und säuerlich süßer Gestank schnürte Basti schlicht die Kehle zu. Unter Aufbietung allen guten Willens riss er sich zusammen und versuchte eine freundliche Mine auf sein Gesicht zu zaubern.
Das dankten ihm die Wesen mit einer Geste, indem sie ihm freundschaftlich ihre riesigen, groben Hände mit sanfter Bewegung auf den Kopf legten, und dabei in fast weinerlichem Ton vor sich hin grunzten. Sebastian musste die Luft anhalten. Ihr Atem roch widerlich nach verdorbenem Fisch und vergorenen Rübenblättern.
Die Weibchen dieser Wesen besaßen, wie die Menschenwesen, üppige Brüste, die faltig und ledern aus ihrem Fell heraushingen. Sie waren zudem auffällig weniger und heller behaart, als die Männchen. Ihr soziales Verhalten aber schien ebenso stark in ihrem Bewusstsein verankert, wie das der Menschen.
Dennoch war ihre Entwicklung in einer frühen Stufe der Evolution stehen geblieben. Außer Knüppeln aus naturbelassenen Ästen schienen sie keine Waffen zu besitzen. Sebastian vermutete jedoch, dass sie außer Felsenbären und Menschen keine weiteren Feinde zu fürchten brauchten. Ihre Größe und Kraft verliehen ihnen die nötigen Verteidigungsmöglichkeiten. Wie gut sie diese einzusetzen wussten, sollte Basti später noch einmal feststellen.
Die Herrschaft über das Feuer war ihnen offenbar ebenso unbekannt, wie das Rad, oder eisernes Werkzeug. Antarona erklärte ihm später, dass sie in Höhlen, oder im ausgehöhlten Erdreich unter mächtigen Baumwurzeln Schutz vor Nacht und Kälte fanden. Sie waren nicht in der Lage, Knochen, Häute, oder Geweihe ihrer Beutetiere zu nutzen, und genauso wenig verstanden sie es, Wasser zu ihren Unterschlüpfen zu transportieren.
Sie waren eine Spezies, ähnlich der großen Waldaffen aus Bastis Welt, die sich lediglich rein physisch weiterentwickelt hatte. Doch im Gegensatz zu Gorillas und Orang Utans besaß ihr ebenfalls deutlich vorgeschobenes Gebiss mächtige Reißzähne, was unmissverständlich darauf hinwies, dass sie neben Pflanzen regelmäßig rohes Fleisch verkonsumierten.
Wie sanftmütig diese Wesen sein konnten, wenn man ihr Freund war, erfuhr Sebastian nun am eigenen Leib. Die braunen Waldriesen begannen ungefragt damit, Antaronas und Sebastians Haare nach Parasiten zu durchforsten. Dabei gingen sie äußerst vorsichtig, ja beinahe liebevoll vor. Basti deutete dies als Geste der sozialen Verbundenheit, wie er es von den Affen her kannte.
Ganz unverhofft, wie aus heiterem Himmel, beendeten die Robrums ihre Freundschaftspflege, und es schien, als triebe sie eine unsichtbare Kraft an. Ohne eine Geste des Abschieds wandten sie sich plötzlich, beinahe fluchtartig dem Wald zu, brachen in das Unterholz ein, und waren verschwunden. Lediglich das Weibchen blickte sich noch einmal kurz um.
Fassungslos stand Sebastian neben seiner Frau auf der einsamen Waldlichtung und schüttelte langsam, wie ungläubig, den Kopf.
»Na, wenn das keine flüchtige Begegnung war...« Antarona verstand die Doppelsinnigkeit seiner Worte nicht. Solche Interpretationen waren ihr fremd.
»Etwas hat sie erschreckt«, bemerkte sie nachdenklich, »etwas Großes, für diese Wesen übermächtiges. Robrums bewegen sich nicht flüchtend, wenn sie nicht etwas zu fürchten haben.«
»Na, das ist ja beruhigend«, bemerkte Basti sarkastisch, »bei der Größe dieser Geschöpfe wird das, wovor sie Angst haben, ja nicht unbedingt ein Wasel sein, nicht wahr? Wärst du so freundlich, und kannst in deiner unerschöpflichen Weisheit feststellen, was bei den Göttern sie so in die Flucht geschlagen hat?«
Nicht seine komplizierten Worte, sondern eher der Klang seiner Stimme verriet Antarona, was Sebastian sich von ihr erhoffte. Natürlich wollte auch sie erfahren, was die Robrums zu einem so übereilten Aufbruch getrieben hatte.
Sie ging zurück an die Stelle, wo sie die Lichtung betreten hatte, und wo einige aufeinander getürmte Felsblöcke am Waldrand lagen. Dort hockte sie sich hin und verfiel scheinbar in einen Zustand der Trance. Basti wusste jedoch, dass sie hellwach war. Er hatte das schon einige Male erlebt.
Es war nicht viel Zeit verstrichen, da segelten zwei Schatten über die Lichtung heran. Tekla und Tonka landeten auf dem Felsen, vor dem ihre menschliche Freundin wartete. Wie so oft schon wunderte sich Sebastian darüber, wie Antarona mit ihren Krähen kommunizierte.
Die geistige Verbindung, die sie mit Tieren aufbauen konnte, und die wahrscheinlich auch das Zusammentreffen mit den Robrums zu einem glimpflichen Ausgang brachte, machte sie bereits als Jugendliche zur Legende ihres Volkes.
Nach einer Weile kam Antarona zu Sebastian zurück, der bereits damit beschäftigt war, das erlegte Wild auszuweiden.
»Viele Reiter sind über dem Tal«, verkündete sie voller Sorge, »der Friede der großen Ebene ist gestört!« Sebastian sah seine Frau fragend an.
»Was für Reiter? Sind es die schwarzen Reiter Torbuks, oder die Kohorten, die ich bestellt habe, um Fürst Jamálin das Tal zu verleiden?« Antarona zuckte unwissend mit den Achseln.
»Tonka und Tekla vermögen nicht zu unterscheiden, zwischen guten und bösen Reitern, Ba - shtie. Wir müssen es selbst herausfinden!«
Mit geübten, schnellen Händen half sie ihm, das Wild an einen Baum zu hängen, aus dem Balg zu schlagen, und das Fleisch zu zerteilen. Rasch rieben sie es noch mit Salz und Kräutern ein, um zu verhindern, dass Insekten darüber herfielen und es verdarben.
Die Fleischstücke steckten sie auf zwei Stangen, um sie bequem zu transportieren. Dann machten sie sich auf den Weg zurück ins Tal. Sebastian stellte Vermutungen darüber an, was für Reiter in das Tal gezogen waren. Waren seine eigenen Kohorten so schnell, oder war Torbuk schneller gewesen? War er mit seinen schwarzen Kriegern bereits an der Küste gelandet?
Mit einem dumpfen Gefühl im Magen stellte er sich vor, wie die unbekannte Macht das Tal besetzte, und sich taktisch in Position brachte. Konnte das sein? Warum hörte Basti nichts von Arrak? Lag er vielleicht schon in Torbuks Festung in Ketten?
An der Stelle, wo Antarona und Sebastian aus dem Wald traten, blieben sie erst einmal stehen. Beruhigt stellten sie fest, dass ihr Tal so friedlich in der Sommersonne lag, wie sie es verlassen hatten. Nichts schien die Idylle, die sie so lange entbehrt hatten, zu stören.
Doch dann wanderte ihr Blick höher. Mit Erleichterung, teils aber auch mit Unbehagen erblickte Sebastian die weißen Spitzen von Zelten und die roten Fahnen seiner Kohorten oben auf dem Hügelkamm, der das Tal begrenzte. Auf der gegenüberliegenden Seite, über den mächtigen Felswänden konnte er lediglich die blauen Wimpel seiner zweiten Einheit erkennen.
Seine Truppen, sein Werkzeug zur Abschreckung des Fürsten Jamálin, waren eingetroffen. Er hatte nicht so rasch damit gerechnet, war aber froh, mit seinen Plänen voranzukommen. Je eher die Krieger Antaronas Kampfkunst erlernten, desto früher konnte er mit ihr nach Mehi-o-ratea aufbrechen.
Zunächst suchten sie einen geeigneten Lagerplatz für die Nacht. Er sollte in der Erreichbarkeit des Wassers liegen, aber doch so weit von den Truppen abgeschirmt, dass sie vor neugierigen Blicken geschützt waren. Da sie von den Kohorten in der Höhe umlagert waren, gab es kaum eine Möglichkeit, sich deren Aufdringlichkeit zu entziehen.
Schließlich fand Antarona eine erhöhte Baumgruppe unweit des Flusses. Ein par Felsen schirmten sie nach der einen, die Bäume nach der anderen Seite hin ab. Schließlich brannte ihr kleines Lagerfeuer und während Antarona das Fleisch in großen, nach Thymian duftenden Blättern garte, entzündete Sebastian einige Meter von ihrem Lager entfernt ein weiteres kleines Feuer, das weithin sichtbar war.
Er rechnete damit, dass Thorbald irgendwann auftauchte, um ihm das Eintreffen der Truppen zu melden, obgleich Zelte, Fahnen und Standarten kilometerweit in jeder Richtung zu sehen waren. Ein Melder sollte sie aber nicht in ihrem Lager überraschen. Wie sehr sehnte er sich Rona und Reno herbei, die bei jeder Annäherung rechtzeitig anschlugen.
Zwischen dem Signalfeuer und ihrem Lagerplatz spannte er ein dünnes Seil, an das er einen kleinen Kessel hängte. Schmunzelnd legte er ein par kleinere Steine in den Kessel und stellte sich das dumme Gesicht eines Störenfrieds vor, wenn er über das Seil stolperte, das sich im hohen Gras verbarg.
Zufrieden kehrte er zum Lager zurück. Das Fleisch lag in Blätter gewickelt auf einer Konstruktion aus flachen Steinen und köchelte über abgeteilter Glut dampfend vor sich hin. Daneben flackerte ein kleines Feuer, das Wärme spenden sollte. Doch von Antarona war nicht ein Haar zu entdecken. Sie schien wie vom Erdboden verschluckt.
Suchte sie Holz, holte sie Wasser? Gewöhnlich hinterließ sie ein ausgemachtes Zeichen, das ihm verriet, wohin sie sich entfernt hatte. Diese Vorsichtsmaßnahme hatten sie sich während ihrer gefährlichen Wanderung nach Falméra angewöhnt. Es war nicht Antaronas Art, sie ohne Grund außer Acht zu lassen.
Vorsichtig, mit gezogenem Schwert, ging Basti in Richtung Fluss. Das Erlebnis mit den fremden Kriegern, die seine Frau überfallen hatten, steckte ihm noch unangenehm lebendig in den Knochen. Basti spähte durch die zunehmende Dunkelheit, versuchte Einzelheiten im Gelände zu erkennen.
Der am Himmel emporgestiegene Halbmond beleuchtete das Gelände nur mäßig. Sein kaltes Licht erweckte eher Angst, als Zuversicht. Aber es spiegelte sich im bewegten Fluss, der geheimnisvoll glitzerte und funkelte, wie eine schmale Flut tausender dahintreibender Diamanten.
Plötzlich lag etwas vor ihm im Gras. Abgelenkt von dem Lichterspiel zwischen Mond und Wasser, wäre er fast daran vorbeigeschlichen. Verwundert hob er Antaronas Oberteil auf, das dalag, als hätte sie es verloren.
Sein geschulter Blick verriet ihm sofort, dass an dieser Stelle weder ein Kampf stattgefunden hatte, noch mehrere Personen durch das Gras gegangen waren. Durch das Gras führte nur eine schmale Spur, wie es normalerweise nur Wild hinterließ.
Geduckt, mit der freien Hand das hohe Gras behutsam beiseite schiebend, pirschte er weiter, den Blick abwechselnd zwei, drei Meter vor sich, sowie auf das Glitzerband des Flusses gerichtet. Er konnte bereits deutlich das Rauschen des Wassers hören, als wieder etwas im Gras lag. Antaronas lederner Hüftschurz!
Erleichtert atmete Sebastian durch. Den nahm ihr niemand ab, wenn sie es nicht wollte! Und Spuren eines Kampfes fanden sich auch hier nicht. Allmählich ahnte er, was sie im Schilde führte. Sie lockte ihn, forderte ihn heraus, und glaubte dabei genau zu wissen, wie er reagieren würde!
»Na warte, du kleines Luder«, murmelte er vor sich hin, schlich etwas schneller weiter und suchte den Fluss ab. Doch es war schwer, aus dem Dunkel in den tausendfach sich bewegenden und blendenden Lichtpunkten etwas auszumachen.
Er musste näher heran, wollte sich aber auch nicht verraten. Dazu wusste er, dass Antarona ihn möglicherweise spüren konnte, bevor sie ihn sah. Hören konnte sie ihn kaum, denn das rauschen des schnell fließenden Wassers übertönte jedes Geräusch.
Selbst glatte Grashalme spiegelten sich aber matt im Mondlicht, und machte er eine unbedachte Bewegung, so waren Antaronas Augen die ersten, die unnatürliche Lichtreflexe wahrnahm. Sie wollte eine Herausforderung, ein kleines Kriegsspiel? Das konnte sie haben! Er wollte ihr schon zeigen, dass er ihr in Sachen Taktik nicht nachstand!
Sicher vermutete sie seine Annäherung vom Lager her. Aber sie war nicht Sonnenherz, wenn sie sich nicht auch nach der anderen Seite absicherte und das gegenüberliegende Ufer im Auge behielt. Zunächst musste er feststellen, wo sie sich verborgen hielt.
Angestrengt versuchten seine Augen die Dunkelheit zu durchdringen, bis sie tränten. Ärgerlich wischte er sich mit dem Ärmel darüber, als er wie zufällig eine Bewegung im Fluss erhaschte. Eigentlich war es nur eine kurze Unterbrechung des gleichmäßigen Lichtgefunkel. Aber es reichte!
»Diese kleine, freche Kröte hat sich also im Wasser versteckt!« schmunzelte er. »Na warte, dir werde ich eine Überraschung bereiten, das dir Hören und Sehen vergeht! Deinem armen Mann so einen Schrecken zu versetzen, warte nur!«
Tief gebückt huschte er, eine flache Senke ausnutzend, Fluss abwärts, bis zu einer Stelle, wo er ohne große Mühe ins Wasser steigen konnte. Er beschwerte Antaronas dürftige Kleidungsstücke und seine eigenen Sachen mit einem Stein, und glitt wie ein Aal in den eiskalten Strom.
Sofort zog sich alles in ihm zusammen und er fragte sich, wie das Krähenmädchen es schaffte, das Kältegefühl zu unterdrücken. Rasch kam er von selbst drauf. Der Jagdtrieb, die Aufregung, die erhoffte Erwartung ließ die beißende Kälte nebensächlich werden!
Den Körper im Strom des Wassers, arbeitete sich Basti mit Händen und Füßen Fluss aufwärts. Damit rechnete sie garantiert nicht! Mit Sicherheit behielt sie die Ufer im Blick, beobachtete die Bewegungen des Grases. Doch das sprühende Wasser hinter sich würde sie für Sicher halten.
Wie sollte sie auch auf den Gedanken kommen, dass sich ihr wasserscheuer Ba - shtie meterweit gegen eine eisige Strömung vorwärts arbeitete? Und sehr schnell spürte er, warum sie diese Möglichkeit wahrscheinlich ausschloss.
Es bedurfte einer mörderischen Anstrengung, sich gegen die entgegenrauschenden Wassermassen zu stemmen und sich von Stein zu Stein Fluss aufwärts zu ziehen. Sebastian hatte nicht vermutet, dass strömendes Wasser eine solche Gewalt besaß.
Bei jedem zweiten Griff rutschte er von den rund geschliffenen, glitschigen Steinen ab, suchte verzweifelt nach neuem Halt, stemmte sich mit den Füßen in den steinigen Grund. Nur Zentimeterweise kam er voran, und bald wurde ihm so warm, dass er das Wasser als angenehm empfand.
Wie aber musste es Antarona ergehen, die im lähmend kalten Strom fast bewegungslos ausharren musste, um sich nicht zu verraten? Wahrscheinlich war sie zu einem Eisblock gefroren, wenn er sie endlich fand! Ab und zu reckte er seinen Kopf aus dem Wasser und spähte nach vorn. Doch er konnte kaum etwas erkennen.
Jeder aus dem Wasser ragende Stein konnte ebenso gut Antaronas Kopf sein. In der Dunkelheit war der Unterschied kaum zu erkennen. Immer wieder glaubte er sie im Wasser liegen zu sehen und griff schließlich auf kalten Fels. Hatte sie ihn wider Erwarten entdeckt und sich heimlich zum Lager zurückgeschlichen?
Das wäre eine schöne Blamage! Er kroch splitterfasernackt den halben Strom hinauf, und sie machte es sich inzwischen am Lagerfeuer gemütlich! Doch so schnell gab ein Basti nicht auf! Verbissen kämpfte er weiter gegen die macht des Wassers an.
Da! Etwas bewegte sich vor ihm in der Strömung, neben zwei kleinen Felsen! Nur kurz, aber es genügte, um ihm zu zeigen, dass er mit seiner Vermutung richtig lag. Antarona hatte sich im fließenden Wasser versteckt! Ihr Kopf, der aus den Fluten ragte, wirkte im Dunkeln, wie einer der vielen Steine, die der Strom umspülte.
Sie sah sich nicht um. Offenbar beobachtete sie das Ufer. Sebastian nutzte die Chance und arbeitete sich vor, bis er beinahe ihre Füße berühren konnte. Aber warum spürte sie ihn nicht? Versagten ihre sensiblen Sinne im tosenden Strom? Das rauschende Wasser umspülte wild ihre Schultern, spritzte ihr ins Gesicht. Hören konnte sie ihn ganz sicher nicht.
Still verharrte Basti hinter ihr, überlegte, wie er sie überraschen konnte, ohne, dass sie ihm sofort die Augen auskratzte. Für einen Moment hob sie langsam ihren Körper aus dem wilden Strom. Anscheinend wurde das eisige Wasser selbst für sie unerträglich.
Glatt und nass glänzten ihre verführerischen Rundungen im Mondlicht, präsentierten sich verlockend und süß. Sebastian wurde es bei diesem Anblick trotz des kalten Bergwassers ganz heiß. Seine Phantasie schlug Purzelbäume und wären Antaronas Fähigkeit, Wesen zu spüren, im rauschenden Wasser nicht blockiert gewesen, so hätte seine aufkommende Hitze sie gewarnt.
Sebastians Füße suchten festen Halt im Grund, ertasteten massiven Stein, er suchte sich links und rechts ihrer Füße einen Griff, holte tief Luft, dann hechtete er vorwärts. Antarona blieb keine Gegenwehr, als er sich plötzlich von hinten auf ihren glitschigen Körper warf. Seine Hände packten ihre Handgelenke, seine Oberschenkel umklammerten ihren Po und drückten ihn unter Wasser.
Wie eine ertrinkende Katze wehrte sich seine Frau gegen den vermeintlich unbekannten Angreifer, wand sich unter ihm mit der verzweifelten Wildheit eines Tieres, die jeden Fremden überrascht hätte. Doch Basti kannte seine Frau und wusste zu welcher Gewandtheit sie fähig war.
Mit aller Kraft presste er sein Gewicht auf ihren aalglatten Leib, und hatte Mühe, sie unter Kontrolle zu halten. Die wilden Wasser versuchten ihrerseits, die beiden Körper zu trennen, doch Basti klammerte sich an das zierliche Krähenmädchen wie eine Spinne an ihr Opfer.
Das Wasser spülte ihm in die Augen, er sah nichts mehr, spürte nur Antaronas nasse, lange Haare in seinem Gesicht. Er schob sich auf ihrem Körper höher, sein Mund berührte ihren Nacken, seine Lippen ihr Ohr.
»Hast du gedacht, du kannst deinen Mann an der Nase herumführen, wie einen kleinen, dummen Jungen?« rief er ihr vor dem Hintergrund des tosenden Rauschens ins Ohr. Sofort fühlte er, wie sich ihr Körper für einen Augenblick versteifte, kurz darauf aber wieder entspannte.
Vorsichtig lockerte Sebastian seine Umklammerung und seine Frau drehte sich frech grinsend unter ihm um und sah ihn herausfordernd mit großen Augen an. Dann schlang sie ihre Arme um seinen Hals und klammerte sich an ihn, bis sich ihre Lippen berührten, sich gegenseitig mit geheimnisvoller Magie anzogen.
Das dahin jagende Wasser nahm die nächste Stunde als geheimes Vermächtnis mit, trug das Zeugnis ihrer Liebe bis ins Meer...
Antarona rollte sich glücklich zusammen und suchte den Schutz seiner starken Arme. So beruhigten sich ihre aufgeheizten Körper halb im Wasser, halb im Uferschlamm, bis sie zu frösteln begannen. Sebastian wusch den Schlamm von ihrem Leib, hob sie aus dem eisigen Strom und trug sie zum Lagerfeuer hinüber.
Schnell wickelte er sein unterkühltes Krähenmädchen in eine Decke, rubbelte und rieb sie trocken und wärmte sie mit seinem Körper. Anschließend rieb er ihre Haare trocken und sie genoss es, wenn seine Hände in die langen Strähnen fuhren und sie bewegten.
Das Fleisch war mittlerweile gar und ein unwiderstehlicher Duft zog über das Lager. Sie sogen ihn gierig ein, angelten die Köstlichkeiten von der Steinplatte und begannen das Wild mit dem Heißhunger eines Wolfes im Winter hinunterzuschlingen.
Die Waffen neben sich zum Greifen nahe, kuschelten sie sich anschließend in Antaronas Felle ein, und fingen an, von einer schöneren, friedlicheren Zukunft zu träumen. Plötzlich aber wurde Antarona schwermütig, etwas, das Sebastian nicht von ihr kannte.
»Ba - shtie, das Herz, welches unter dem Herz von euer En-gel-sen schlägt, wird einmal Talris erblicken«, begann sie nachdenklich, mit leiser Stimme, als bereitete ihr diese Vorstellung Sorgen. Basti drückte sie schützend an sich.
»Ich wünsche mir, dass es so ist«, entgegnete er, »aber was beunruhigt dich daran so sehr?« Er wunderte sich über ihr besorgtes Antlitz, das sonst bei diesem Thema vor Glück erstrahlte. In ihren Augen stand eine Traurigkeit, die ihn erschreckte.
»Es ist Hedaron, meine Vater, Ba - shtie, er soll dabei sein! Sonnenherz wünscht sich, dass ihr Vater und Tark bei ihr sind, wenn Talris unsere Tochter in sein Reich aufnimmt. Wie aber können sie bei ihr sein, wenn Bental nun ihr Vater ist, und ihr, Ba - shtie, Sonnenherz Bruder seid?«
Sebastian schwieg. So spontan hatte er auf solch einen Gedanken keine Antwort parat. Auf welche Weise sollte er ihr vermitteln, dass nur ihr Herz allein ihren wahren Vater auszuwählen vermochte? Und das hatte es bereits, als sie begann, darüber nachzudenken.
»Ihr wollt nicht zurück ins Val Mentiér, nicht wahr, Ba - shtie?« In ihrer Stimme klang Verbitterung mit.
»Ihr wollt König sein, und eure Träume in diesem Tal aufbauen. Ist es so? Sagt es ruhig, Sonnenherz wird es verstehen und dennoch an eurer Seite sein, wenn auch ihr Herz so schwer sein wird, dass sie sich unter seiner Last krümmen wird.« Wenn sie es auch krampfhaft versuchte, so konnte sie doch nicht verhindern, dass ihr plötzlich die Tränen in die Augen schossen.
»So sehr vermisst du deinen Vater und Tark?« wunderte sich Basti und wischte ihr zärtlich die nassen Zeugnisse ihrer Trauer aus dem Gesicht. Das Krähenmädchen hob mit starrem Blick ins Feuer unwissend die nackten Schultern.
»Wer ist denn Sonnenherz Vater, wer ihre Familie? Wer war ihre wahre Mutter? Oh Ba - shtie, es ist alles so entzweit, so zerrissen in ihrem Herzen, dass es tief schmerzt!« gestand sie ihm zitternd. Sebastian nickte verständnisvoll, zog sie dicht an sich heran, sog den Duft ihrer trocknenden Haare ein und flüsterte ihr ins Ohr:
»Wer war denn deine Mutter, welche dir am See genommen wurde, welche dir in deinen Träumen erschien, und dich in einsamen Zentaren nie verlassen hatte? Wer war dein Vater, der dir ein Zuhause gab, wann immer du es wolltest? Wer ist der Mann, der sich um deiner sorgt? Wo steht das Haus, das dir Schutz bot, wenn du vom See, von den Bergen, aus den Wäldern zurückkehrtest? Wo durftest du Kind sein? Frage dein Herz! Dort, wohin es dir den Weg weist, dort ist deine Familie!« Er küsste sie und fuhr dann fort:
»Und ich bin deine Familie, dein Leben, so, wie auch du mein Leben bist! Und ich werde dafür sorgen, dass wir unsere Tochter dort von Talris empfangen, wo deine Familie ist, dein Zuhause! Ob Bental es mag, oder nicht, ich werde Tark und deinen Vater hierher holen lassen, wenn es soweit ist. Doch wenn du es wünscht, werden wir auch ins Val Mentiér zurückkehren und dort bleiben, damit unser Töchterchen in deiner Welt aufwächst.« Nun war es Sebastian der unschlüssig mit den Schultern zuckte.
»Wer weiß das schon, möglicherweise wird sie einmal die nächste Hüterin der Hallen von Talris.« Geheimnisvoll grinsend fügte er hinzu:
»Wenn sie auch nur eine Faser ihrer Mutter besitzt, so wird sie einmal eine große Kriegerin und weise Führerin ihres Volkes! Dabei wird es gleichgültig sein, ob sie in einer Kate am Imflühsee lebt, oder in einer Burg, oder in einem versteckten Tal. Sie wird unsere Tochter sein, sie wird deine Tochter sein, mit dem Herzen einer Felsenbärin, mit den Sinnen eines Schwarzvogels, und mit der Wendigkeit eines Gors!«
Sebastian sah, dass sich Antaronas Gesicht etwas aufhellte. Er streichelte und küsste ihren nackten Bauch und sprach abschließend:
»Egal, wo sie aufwachsen und leben wird, egal, welche Kleidung sie tragen und was ihr im Leben widerfahren wird, und ganz gleich, wen sie als ihren Großvater ansehen wird. Sie wird eine.., nein, sie wird die wahre Prinzessin der Îval sein!«
»Ba - shtie, versprecht Sonnenherz, dass unsere Tochter ihre Augen zum ersten Mal im Val Mentiér öffnet!« forderte Antarona. Nichts schien ihr wirklich so wichtig zu sein, wie der Geburtsort ihres Kindes.
»Wenn es in meiner Macht liegt, so wird unsere Tochter das Val Mentiér als erstes in ihrem Leben sehen, ja mein Engelchen, das verspreche ich dir!« versicherte er ihr.
Basti war sich im klaren darüber, wegen dieses Versprechens notfalls mit Bental brechen zu müssen, wenn dieser sich gegen diese Entscheidung stellte. Noch aber würden viele Monde vergehen, bis es soweit war, darüber nachzudenken.
Antarona hatte sich durch Sebastians Antwort wieder beruhigt. Sie schmiegte sich an ihn und ihr immer ruhiger werdender Atem verriet ihm, dass sie bald eingeschlafen war. Basti lauschte noch etwas in die Nacht hinaus, bevor auch ihn die Müdigkeit einholte. Wachen brauchten sie in dieser Nacht keine. Zwei Heerlager wachten mit vielen Feuern über ihre Flanken. Kein natürlicher, noch menschlicher Feind begab sich freiwillig zwischen sie.

Ein Scheppern und Poltern zerbrach die friedliche Stille des frühen Morgens und den zaghaften Gesang eines kleinen Vögelchens, das sich zur Begrüßung der Sonne in einem Baum nahe ihrem Lager niedergelassen hatte. Sebastian fuhr hoch, tastete nach dem Griff seines Schwerts. Sekunden später stand Antarona neben ihm, Nantakis in der Hand.
Unbeholfen, seinen schmerzenden Arm massierend, kam Thorbald um die Felsen ihres Lagers herumgehumpelt.
»Euer ergebener Diener wünscht euch einen frohen Sonnenlauf, Herr«, begrüßte er die beiden. »Irgendein Narr hat dort auf der Weide ein Seil liegen lassen. Ich habe mir wohl den Arm verletzt, verzeiht Herr«, entschuldigte er sich für seinen spektakulären Auftritt.
»Der Narr seid nur ihr allein, Thorbald«, entgegnete Sebastian spöttisch, »denn ihr seid doch über das Seil gefallen, oder nicht? Seht ihr denn nicht, wohin ihr geht? Sind die Wasel ebenfalls Narren, wenn ihr in eines ihrer Löcher tretet? Wie könnt ihr es überhaupt wagen, so ziellos in der Gegend herumzulaufen?«
»Mein Kohortenführer lässt euch sagen, dass beide Kohorten Aufstellung genommen haben, Herr«, kam Thorbald ohne weitere Umschweife zur Sache. Sebastian nickte anerkennend und sagte in etwas umgänglicherem Ton:
»Dann lasse ich die Kohortenführer bitten, sich um die Mitte der wachen Sonne jenseits der Felsen vor dem Waldrand einzufinden. Ihr jedoch, Thorbald, werdet dorthin kommen, sobald ihr diese Nachricht überbracht habt!«
Sebastian wies mit dem ausgestreckten Arm zu jenen Felsen hinauf, von wo aus ihm Antarona die Spuren des Wildes im hohen Gras gezeigt hatte. Er fand, dieser Ort war weit genug von ihrem Lager entfernt, um dort das Training der Krieger abzuhalten. Thorbald blickte etwas unsicher das Tal hinauf, wo die Steinkuppe aus der grünen Steppe ragte.
»Dort werde ich euch erwarten, und vergesst eure Waffen nicht! Denn ohne Waffen nützt ihr mir nichts, habt ihr verstanden?« fügte Basti noch hinzu, als er den skeptischen Blick seines Kriegers sah. Der schien aus fernen Gedanken zu erwachen und sprach schnell:
»Ja, Herr, ich werde mich beeilen!« Damit verbeugte er sich respektvoll vor ihm und vor Antarona und ging steif, wie ein Brett, in die Richtung, aus der er gekommen war. Mit leicht geneigtem Kopf sah Basti ihm nach und sagte mehr zu sich selbst, als zu Antarona:
»Na, hoffentlich habe ich für diese Aufgabe den richtigen Mann ausgewählt.« Antarona sah ihn ein wenig vorwurfsvoll an.
»Er wird ein guter Schüler sein, doch wird er ein ebenso guter Lehrer für die anderen Krieger sein? Sonnenherz vermag ihn zu lehren, was sie euch gelehrt hat, Ba - shtie, doch sie vermag nicht aus einem Wasel einen Felsenbären zu machen!«
Das war deutlich! Aber sie hatte recht. Allein die Fertigkeit der Kampftechnik machte noch keinen Krieger. Es war auch das Herz, das einen Kämpfer ausmachte. Motivation, Kampfkunst und Loyalität dem Volk der Îval gegenüber galt es in diesen Männern zu vereinen. Eine große Aufgabe. So groß, dass sie Sebastian Lauknitz noch gar nicht abschätzen und erst recht nicht allein bewältigen konnte.
Kurz nachdem Thorbald verschwunden war, nahmen Antarona und Sebastian ihre Waffen, sowie das von der Burg mitgebrachte Bündel Holzschwerter auf und folgten ihrer Fährte vom Vortag. Mit dem festen Ziel vor Augen, benötigten sie für den Weg zum Felsen nur die Hälfte der Zeit, die sie bei der Jagd aufwenden mussten.
Die höchste Zinne des Steinmonuments diente ihnen eine Stunde später als Rastplatz. Bis weit über die nächste Bodenwelle hinaus reichte ihr Blick von erhöhter Warte. Zum Waldrand hin führten wieder neue Spuren. Die Tiere schienen diesen Wildwechsel jeden Morgen aufs neue zu benutzen. Sie zogen stets zwischen dem Felsen und der gigantischen Steilwand über das Grasland.
Antarona und Sebastian beschlossen daher, den Kampfübungsplatz auf der anderen Seite der Felsenburg einzurichten, um das Wild nicht zu stören. Eine Idee aus Sebastians Welt gab den Anstoß für den Bau einer seltsamen Arena. Sie knüpften mehrere Lederriemen aneinander, bis sie ein langes Lederseil zwischen sich spannen konnten.
Die Kornkreise, von denen Basti in den Zeitungen seiner eigenen Welt gelesen hatte, angeblich von außerirdischen Raumschiffen verursacht, standen Pate für den Platz, auf dem Antarona ihre Kampfkunst vermitteln sollte. Während sie sich in das Gras hockte, und das eine Ende des Seils auf den Boden drückte, wanderte Sebastian gebückt im weiten Radius um sie herum und drückte mit dem anderen Ende das Gras nieder.
Doch schnell stellte sich heraus, dass Getreidehalme etwas anderes waren, als frisches Gras. Grüne Halme in Saft und Kraft richteten sich rasch wieder auf und ihre Arena war nur noch oben vom Felsen aus deutlich zu erkennen.
Sie mussten das Unternehmen Kornkreis mehrmals wiederholen, und mit den Füßen nachhelfen, bis sie einen etwa fünfundsechzig Fuß weiten Kreis zur Verfügung hatten. Während der Arbeit in der gleißenden Sonne brach ihnen der Schweiß in Strömen aus den Poren und gern hätten sie sich im Bach abgekühlt. Doch jeden Augenblick mochten die Kohortenführer erscheinen.
Nachdem Sebastian das Bündel mit den Holzschwertern am Rand des Übungsplatzes abgelegt hatte, und sie sich hinsichtlich der Demonstration Antaronas Kampftechnik besprochen hatten, setzten sie sich auf die Schattenseite des Aussichtsfelsens. Flach atmend freuten sie sich über jeden kleinen Luftzug, der ein wenig Kühlung versprach. Allmählich spürten sie auch den Hunger an ihren Magenwänden nagen.
Doch das restliche Fleisch ihrer Jagd hing frisch geräuchert an dünnen Bändern in den Bäumen ihres Lagers unten am Fluss, unerreichbar von Raubzeug und Nagern, sowie ungenießbar für Insekten. Frühestens am Abend konnten sie davon zehren.
Eine geschlagene Stunde später, das Gras in der Arena hatte sich schon wieder teilweise aufgerichtet, vernahmen sie leise, vom Wind verwehte Stimmen. Mehrere Männer schienen sich ihrem gedachten Übungsplatz zu nähern. Antarona huschte wie ein Wiesel die Felsen hinauf, um Freund oder Feind auszumachen.
»Fünf Männer kommen aus der Richtung des Passes«, berichtete sie eher emotionslos, »einer von ihnen hat die Statur Thorbalds, einer ist an den Händen gebunden.« Sebastian kniff ungläubig die Augen zusammen und fragte:
»Einer gefesselt, bist du sicher?« Im Grunde erübrigte sich die Frage, denn Antarona besaß den Blick eines Falken. Wenn sie sagte, die Gruppe führte einen Gefangenen mit sich, so traf dies auch zu. Basti nahm seine Waffen auf, zog das Schwert blank und trat erwartungsvoll auf die mühevoll angelegte Graslichtung.
Antarona hatte ihren Bogen aufgespannt und wartete, einen Pfeil an der Sehne, auf Knien in das hohe Gras geduckt, außerhalb des Kreises. Es bedurfte keiner verbalen Abstimmung zwischen ihnen. Sie funktionierten inzwischen wie ein einziges, kampfbereites Wesen. Alle Sicherungsmaßnahmen führten sie mittlerweile instinktiv im stillen Einklang aus.
Es dauerte nicht lange, da traten die angekündigten Männer in den Kreis. Zwei Kohortenführer, von denen Sebastian einen bereits vom Abend des Talrisfestes her kannte. Es war Hetarus, der Kohortenführer Mauretans, Raspinas heimlichem Geliebten. Thorbald, sowie ein weiterer Soldat, der den Gefangenen vor sich her stieß, folgten den ranghöheren Kriegern.
»Gütiger Herr, wir bitten euch, unser unpünktliches Erscheinen zu vergeben«, begann Hetarus mit fester Stimme, »aber wir haben diesen hier ertappt, wie er um unser Lager schlich!« Damit stieß er den Gefangenen vor Sebastians Füße und zwang ihn mit einem derben Griff in die Knie.
»Der Bastard steckte seine Nase unter jedes Zelt und war über die Maßen neugierig«, erklärte Hetarus weiter, »auf unsere Fragen, woher er kommt und was ihn so an unserem Lager interessiert, schweigt er jedoch, als hätte er seine Stimme verloren.«
»Die Stimme verloren, ja?« fragte Basti den gebundenen Mann skeptisch, und zu Hetarus gewandt prophezeite er:
»Nun, die wird er schon wiederfinden, denke ich.« Sebastian fiel auf, dass der Mann die gleiche Kleidung trug, wie jene Kerle, die oben auf dem Plateau Antarona überfallen hatten. Wenn seine Vermutung richtig war, so hatten sie nun doch noch einen lebenden Zeugen, den man mit etwas wohlwollendem Zureden, oder auch mit Nachdruck zum Sprechen bringen konnte.
Unverhofft und für den Gefangenen völlig überraschend, trat Basti auf ihn zu, packte ihn am Hemd und riss den Stoff mit einer ruckartigen Bewegung entzwei. Eine schwere Kette mit einem großen Emblem als Anhänger baumelte auf seiner Brust.
Jeder in der Runde erkannte das Zeichen als Sinnbild des Schreckens. Ein Gor, auf dessen Schultern ein Krieger saß, über gekreuzten Schwertern: Torbuks Symbol für seine grausame Macht, die er mit roher Gewalt immer weiter auszudehnen versuchte!
Hetarus wollte einen Schritt auf den Gefangenen zumachen, als ein Schatten blitzschnell über die Wiese flog. Antaronas Schwertspitze berührte sanft das Kinn des Mannes. Niemand hatte sie kommen sehen, urplötzlich stand sie da, wie aus dem Boden gewachsen. Ihre Augen funkelten gefährlich und versprühten das tödliche Feuer des abgrundtiefen Hasses gegen Torbuks weit reichenden Arm der Macht.
Schweigend stand das Krähenmädchen da, ihr nackter, vom Schweiß glänzender Körper schimmerte bronzefarben in der Sonne, und mit ihren zerzausten, schwarzen Haaren hätte sie dem Mann auch ohne Nantakis in der Hand die blanke Angst ins Herz getrieben. Sie musste auf den Verängstigten wie eine vom Wahnsinn besessene Furie wirken.
Ihr stechender Blick zeigte nicht die geringste Spur von Gnade. Bevor jemand reagieren konnte, legte sie die scharfe Klinge quer an den Hals des Gefangenen und schien bereit, sie eiskalt durch seine Kehle zu ziehen. Der Mann begann mit weit aufgerissenen Augen zu zittern, und seine Beinlinge färbten sich dunkel.
Er schien nicht einmal zu bemerken, dass er sich vor Angst eingenässt hatte. Gerade, als Antarona ihre zweite Hand an den Griff des Schwertes legte, um die Klinge ruhig und gerade zu führen, mischte sich Sebastian ein.
»Halt! Nicht so schnell, ich will ihm noch ein par Fragen stellen!« hielt er sie auf. Nur zögernd, und mit zornigem Blick senkte Antarona das Schwert, und sie tat es so, dass Nantakis die Sonne in das Gesicht des Delinquenten reflektierte und ihn blind machte. Sebastian hatte diesen Trick bereits am eigenen Leib erfahren, und wusste, welche Wirkung er auf den Mann haben würde.
»Wozu noch fragen«, gab Antarona fauchend zurück, »welche Antwort erhofft ihr euch, Glanzauge, welche nicht sowieso eine Lüge ist? Lasst es mich beenden, denn er wird uns doch nur belügen!«
»Nein, bitte, ich werde die Wahrheit sagen«, winselte der Mann erschrocken, »bei Talris und den Göttern, was immer ihr wissen wollt, ich will es euch sagen! Nur, lasst mich am Leben, lasst Gnade walten, so will ich euch als Unwürdigster unter euch dienen, ein Leben lang! Tötet mich nicht, habt Erbarmen! Ich will euch alles verraten, was ich...«
»Was vermögt ihr Sonnenherz schon zu verraten, was sie nicht längst selbst weiß?« unterbrach ihn das Krähenmädchen mit angewidertem Ton.
»Ihr seid nicht mehr, als ein gemeiner Meuchelmörder, und nicht wert angehört zu werden! An euch wird Sonnenherz Rache nehmen, für das Volk der Îval und für all jene, die durch Torbuk und Karek ihr Leben lassen mussten. Sonnenherz wird zusehen, wie der warme Strom des Lebens aus eurem Leibe fließt und das Gras rot färbt! Tretet gefälligst mit der Würde eines Kriegers an das Tor zum Reich der Toten und zetert nicht, wie ein aufgespießter Wafan!« Damit führte Antarona Nantakis zwischen die Beine des Mannes und setzte die Klinge ruhig an seine Genitalien.
Ihre Kaltschnäuzigkeit, ob nun gespielt oder echt, entsetzte sogar die beiden Kohortenführer, die bereits einige grausige Schlachten unter Areos geschlagen hatten. Sie wichen respektvoll einen Schritt zurück, denn sie befürchteten, vom in die Runde spritzenden Blut beschmutzt zu werden.
»Einen Augenblick!« unterbrach Sebastian erneut ihre scheinbare Hinrichtung. »Warte noch, ich will ihm die Kette vom Hals nehmen, als Beweis, dafür, dass wir ihn gefangen genommen hatten. Ich mag das Ding nicht auch noch von dem ganzen Blut sauber waschen!«
Widerwillig ließ Antarona das Schwert abermals sinken. Basti trat zu dem Mann, packte die derbe Kette und drehte sie mit aller Gewalt um seinen Hals zusammen.
»Ich bin Areos, der Sohn des Bental«, verkündete er dem Gefangenen, »ihr versprecht mir jetzt die Wahrheit zu sagen, die reine Wahrheit, oder ich bringe Sonnenherz um das Vergnügen euch zu Tode zu quälen, und drehe euch eigenhändig ganz langsam den Hals um, bis euch die Zunge aus dem Munde hängt und euch die Augen aus den Höhlen treten!«
Er wartete, bis das Gesicht des Mannes anfing, blau anzulaufen, dann ließ er die Kette los. Röchelnd kippte der Gefangene zur Seite.
»Ich werde die Wahrheit sprechen, Herr, was immer ihr zu fragen beliebt«, stammelte er mit heiserer, gebrochener Stimme. Sebastian packte noch einmal zu und zischte gefährlich:
»Genau das rate ich euch! Denn wenn ich das Gefühl habe, dass ihr mich belügt, so kann ich auch mit meinen Kriegern für eine Weile fortgehen, und euch mit Sonnenherz allein lassen.« Dann beugte sich Basti noch etwas weiter zu dem Gefangenen hinab und fügte flüsternd hinzu:
»Wisst ihr, Sonnenherz.., die Arme ist dem Irrsinn verfallen, und hat so ihre besondere Art, Missgeburten wie euch in das Reich der Toten zu befördern. Glaubt mir, es ist einfach widerlich, das mitzuerleben, die grässlichen Schreie, der Gestank von verkohltem Fleisch, das viele Blut und die austretenden Eingeweide, die bloßgelegten Knochen...« Sebastian schüttelte sich heftig, als überkam ihn augenblicklich der blanke Ekel.
Das Schauspiel tat seine Wirkung. Leichenblass und mit aufgerissenen Augen bettelte der Mann um sein armseliges, nacktes Leben, schielte verstohlen zu Antarona hinüber, die ihn mit kalten Augen beobachtete und dabei mit dem Daumen die Schärfe ihres drohenden Schwertes prüfte, als wartete sie nur darauf, dass Areos zur Seite trat und ihr den Weg frei gab, um ihren grausamen Phantasien freien Lauf zu lassen.
»Bitte Herr, ich flehe euch an, lasst das nicht zu«, jammerte der Spion, »ich will euch alles sagen, nur lasst mich nicht mit dieser Verrückten dort allein!« Sebastian nickte zufrieden und erhob sich. Achselzuckend wandte er sich an Antarona und zwinkerte ihr zu.
»Tja, so wie es aussieht, musst du mit deinem Spielchen noch warten! Möglicherweise haben wir ja noch einen neuen Verbündeten gefunden.« Antarona funkelte erst Sebastian, dann den Gefangenen angriffslustig an.
Plötzlich wirbelte sie herum, ließ Nantakis am lockeren Griff durch die Luft schwirren, machte einen Satz und die blitzende Klinge fuhr nur wenige Zentimeter vor dem zu Tode erstarrten Anhänger Torbuks in den Boden. Dann stützte sie sich seelenruhig auf die Parierstange, sah den Mann mit irren, weit aufgerissenen Augen an und flüsterte ihm zu:
»Macht nur einmal den Mund auf, wenn ihr nicht gefragt werdet, oder gebt falsch Zeugnis, dann wird es mir das höchste Vergnügen bereiten, euch den Bauch aufzuschlitzen!«
Dann vollführte sie aus dem Stand einen zirkusreifen Salto rückwärts, zog das Schwert nach, schüttelte sich wie ein Tier, das soeben aus dem Wasser gekrochen kam, und entfernte sich ruhigen Schrittes hinter den Felsen. Der Gefangene starrte ihr nach, als wäre er gerade dem schlimmsten aller Dämonen begegnet. Eingeschüchtert kauerte er im plattgetretenen Gras und harrte seinem Schicksal.
Sebastian musste still in sich hineinlächeln. Selbst die hartgesottenen Krieger seiner Heerlager waren von Antaronas Auftritt beeindruckt und schwiegen betreten. Niemand hatte bisher von einer Frau, oder einem Mädchen gehört, dass sich anmaßte, sich im Beisein von Männern derart zu gebärden.
Die Geschichten und Legenden, die sich um das Krähenmädchen rankten, das sich Sonnenherz nannte, nahmen die meisten auf Falméra lediglich als ein Gerücht wahr, das sich als bloße Mär durch die Erzählungen an den Lagerfeuern zog. Niemand glaubte wirklich an eine Frau, die all jene Taten vollbracht haben sollte, von denen in phantasievollen Abenteuern berichtet wurde.
Diese Demonstration aber würde den Legenden neuen Nährstoff geben. Sebastian hörte bereits die Geschichten, die davon berichteten, dass Sonnenherz, das Krähenmädchen, dem Wahnsinn verfallen sei, und sich daran berauschte, ihre Feinde reihenweise dahinzuschlachten.
Es mochte Sebastian nur recht sein. Eine blutgierige Irre war bei Feinden mehr gefürchtet, als eine idealistische Freiheitskämpferin. Außerdem war das Verlangen, einer Verrückten nachzustellen, weniger stark, als bei einer Kriegerin mit dem Ruf des Edelmuts. Dabei war es gleichgültig, ob es daran lag, dass der Gedanke an eine Psychopathin Torbuks Häscher abschreckte.
Thorbald und der zweite Krieger machten sich daran, den Gefangenen auch an den Füßen zu binden. Der Mann war nun so verängstigt, dass er jede Maßnahme widerstandslos über sich ergehen ließ.
Die Arme vor der Brust verschränkt, sah Basti zu, wie die beiden den Spion fesselten. Mehr einer Vermutung folgend, rief er ihnen zu:
»Durchsucht ihn gründlich! Ich will wissen, ob er noch irgendetwas bei sich trägt. Und nehmt ihm diese verfluchte Kette ab, ich kann das Ding nicht mehr sehen! Aber sie kann uns noch mal nützlich sein!«
Hetarus wiederholte den Befehl des Areos und überwachte seine Ausführung. Offenbar fühlten sich die beiden Kohortenführer etwas überflüssig und bemühten sich, ihre Autorität in das Geschehen mit einzubringen. Sebastian wandte sich kurz lächelnd ab. Wahrscheinlich verfluchten sie nun ihre Entscheidung, den Gefangenen mitgebracht zu haben, der sie nun der Wichtigkeit ihrer Person beraubte.
Seine Überlegung wurde von Thorbald unterbrochen, der seinen Kohortenführer einfach überging, und an Sebastian herantrat.
»Dies trug er in seinem Rockbund bei sich«, verkündete er stolz darauf, tatsächlich etwas entdeckt zu haben. Sebastian nahm ein kleines Lederbeutelchen und die Drachenkette an sich, wog den Beutel kurz mit bestätigender Miene in der Hand und sah dann hinein.
Wie er geahnt hatte, befanden sich darin ein par Quarts aus purem Gold. Torbuk hatte seine Spione fürstlich bezahlt! Aber wofür? Niemand bezahlte einem gewöhnlichen Kundschafter so einen hohen Preis! Was steckte dahinter? Welche Aufgabe hatten diese Krieger noch? Sebastian war sicher, dieses Geheimnis mit Antaronas Hilfe zu lüften, sobald sie mit dem Gefangenen allein waren.
Die Quarts steckte er in das bereits erbeutete Ledersäckchen. Dann warf er Thorbald das leere Beutelchen zu.
»Hier, verwahrt es wohl, vielleicht ist es euch einmal von Nutzen!« Die gefüllte Lederbörse mit den goldenen Quarts steckte er sich selbst hinter den Hosenbund. Diese Quarts bereicherten seine Apanagenkasse um ein beträchtliches Vermögen, das aber kaum mehr einen Pfifferling wert sein würde, sollten einmal die Hallen von Talris von falschen, raffgierigen Mächten entdeckt werden.
Schließlich wandte er sich an die beiden Kohortenführer, die schon ungeduldig warteten und ihn verstohlen beobachteten. Was sich in dem Beutelchen befand, war ihnen nicht entgangen. Doch sie hüteten sich davor, auch nur ein Wort darüber zu verlieren. Sebastian wies sie an, indem er mit dem Kopf auf den Aussichtsfelsen deutete:
»Ihr beide seid mir dafür verantwortlich, dass sich Thorbald mit je einem Krieger aus jedem Heerlager an jedem Morgen an dieser Stelle einfindet. Sie mögen hier sein, wenn der Schatten der hohen Bergwand diesen Felsen dort berührt. Außerdem werdet ihr zwischen den Heerlagern einen Übungsplatz, wie diesen hier, einrichten und eure Krieger dort gegeneinander antreten lassen.« Während Basti Luft holte, winkte er Thorbald heran. Dann fuhr er fort:
»Thorbald hier, wird euch und eure Krieger in der neuen Kampfkunst unterweisen, welche er von Sonnenherz erlernen wird. Er ist euch weiterhin unterstellt, Hetarus. Doch er genießt mein Vertrauen und ich wünsche, dass jeder Krieger seinen Anweisungen folgt und die neue Kampfweise einübt, auch, wenn es zunächst lächerlich erscheint!« Sebastian nahm anschließend die beiden Kohortenführer beiseite und erklärte:
»Ich habe vor, drei ganz neue Heerlager aufzustellen, die besonders in der neuen Kampftechnik ausgebildet sind. Sie werden die Speerspitze unserer Armee bilden, und als erste dem Feind entgegentreten, sollte dieser jemals Falméra bedrohen. Dabei ist es gleichgültig, wer dieser Feind letztlich ist, Torbuk, oder die Oranuti.«
Die beiden sahen Sebastian verständnislos an, glaubten sie doch die Oranuti als ihre sicheren Verbündeten. Ihre Überraschung nutzend, gab Basti zu bedenken:
»Die Oranuti sind freilich unsere Waffenbrüder. Doch das kann sich jederzeit ändern, so, wie sich auch das Wetter ändern kann. Männer, es ist nun einmal so, dass jener, welcher heute Freund ist, morgen Feind sein kann. Das ist niemals ausgeschlossen! Und weil das so ist, will ich, dass wir vorbereitet sind, egal, ob es nun geschieht, oder nicht. Habt ihr das verstanden?« Er wartete eine Antwort erst gar nicht ab, sondern sprach weiter:
»Mit euch beginnend, will ich eine Einheit von zunächst drei Teilarmeen bilden, die einem möglichen Feind von drei Seiten schnell und überraschend angreifen kann. Dabei ist die Schnelligkeit und Überraschung von vorrangiger Bedeutung. Sollte Falméra angegriffen werden, so ist es mein Ziel, den Gegner mit einem plötzlichen Gegenangriff, möglichst mit einer schnellen Zangenbewegung zum Halten zu bringen, einem Angriff, den er nicht kommen sieht.«
Sebastian ließ seine Worte wirken und beobachtete die beiden Heerführer, die zustimmend nickten. In ihren Gesichtern arbeitete es, und er konnte förmlich spüren, wie das Räderwerk in ihren Köpfen heiß lief.
»Dafür brauchen wir die neue Kampftechnik! Diese Überraschungsarmee wird nicht, wie bisher gewohnt, mit Lanze und Schild Aufstellung nehmen und dem Gegner eine Front bieten. Sondern sie wird wie ein Rammbock überraschend in seine Flanken fahren, während die anderen Heerlager die Frontlinie des Feindes binden.« Geduldig wartete Sebastian, bis die beiden Männer ihm geistig folgen konnten, bevor er seinen Plan weiter erläuterte.
»Die Männer müssen schnell sein, wie Geisterkrieger mit wirbelnden Schwertern. Sie werden sich nicht mit Rüstungen und Schilden belasten, sondern werden nur mit kurzen Schwertern, Pfeilen und Bogen kämpfen. Das macht sie so schnell, dass der Gegner ihre Paraden und Finten zuerst gar nicht wahrnehmen kann. Sie werden sich so schnell bewegen, dass der feindliche Krieger in seiner schweren Rüstung gar nicht weiß, wie ihm geschieht!«
Um die beiden Männer zu überzeugen, brauchte es allerdings mehr, als nur ein par Worte. Auch darauf hatte sich Sebastian vorbereitet. Er fasste die beiden Männer freundschaftlich an den Schultern und führte sie in die Mitte des kreisrunden Übungsplatzes.
»Ich will euch zeigen, was ich meine«, kündigte er an, »sorgt dafür, dass Thorbald und der andere Krieger ihre Rüstungen anlegen, und sich mit den Übungsschwertern dort bewaffnen!« Basti wies auf das zusammengeschnürte Paket, in dem sich die stumpfen Holzwaffen befanden. Dann verschwand er hinter den schattigen Felsen.
Antarona war dabei, einige ihrer Pfeile für eine Demonstration umzurüsten. Sie hatte die geschmiedeten Metallspitzen entfernt und schickte sich an, diese durch kleine, mit Sand und Steinchen gefüllte Säckchen zu ersetzen, die sie mit Bändern an das Schaftende wickelte und festband.
Mit Sebastians Bogen, der etwas kräftiger gearbeitet war, als ihr eigener, probierte sie einen der Pfeile aus. Der Schaft des Pfeils, sowie der Bogen erfuhren eine ungeheure Belastung, für die beide Gegenstände nicht ausgelegt waren. Der Pfeil bog sich unter der ungeheuren Spannung des Abschusses. Doch Pfeil und Bogen hielten.
Die umgebauten Pfeile schnellten von der Sehne, bogen sich bis zum Bersten und flogen eher wie geworfene Eier, denn wie Pfeile. Mit einem Klatschen trafen sie auf dem Baumstamm auf, den Antarona anvisiert hatte, das Säckchen platzte auf und der Sand verspritze in alle Richtungen. Es war nicht perfekt, doch für eine Demonstration musste es reichen!
»Warte, bis ich dich rufe«, bat Basti seine Frau. »Die sollen noch nicht wissen, welche Überraschung auf sie zukommt.« Sie grinsten sich an und Sebastian ging wieder zum Übungsplatz zurück, wo die beiden Versuchskaninchen bereits ihre Rüstungen angelegt hatten, und die beiden Heerführer erwartungsvoll auf die Demonstration warteten.
Thorbald und sein Kamerad steckten nun schon eine Weile in ihrem schweren Rüstzeug, standen in der glühenden Sonne, warteten und schwitzten. Jeder hatte sich eines der hölzernen Übungsschwerter herausgesucht und ausprobiert, wie es am besten in der Hand lag.
»Sonnenherz hat sich ebenfalls mit solch einem Übungsschwert bewaffnet und wird euch gleich mit ihrer Kampftechnik genauso überraschend angreifen, wie ihr es später selbst tun sollt«, kündigte Sebastian an.
»Sie ist niemals als Kriegerin ausgebildet worden, sondern hat sich diesen Kampfstil bereits als Kind selbst beigebracht. Versucht euch also so gut zu verteidigen, wie ihr es vermögt!«
Nach dieser Ansage schritt er zu den beiden Kohortenführern hinüber und gesellte sich als Zuschauer zu ihnen. Aus sicherer Entfernung gab er das deutliche Zeichen, den Ruf eines Whulen, eines Nachtraubvogels, der ähnlich den Eulen in Bastis Welt, am Tage so gut wie niemals zu hören war. Dann warteten sie.
Ungeduldig traten die beiden Kommandeure von einem Bein auf das andere und beobachteten aufmerksam das Grasland um sie herum. Thorbald und sein Kamerad standen in der schweren Rüstung nur da und drehten sich langsam um die eigene Achse, um nach allen Richtungen sehen zu können. Doch es geschah nichts.
Das Zirpen der Insekten wurde unerträglich laut und Sebastian hatte den Eindruck, dass Antarona sie extra angewiesen hatte, die Wartenden mit ihrem monotonen, eindringlichen Klang zu zermürben. Gleichzeitig lastete die glühende Sonne auf ihnen. Inzwischen befürchtete Sebastian, dass einer der Krieger unter der drückenden Mittagshitze umkippen könnte, bevor die Demonstration überhaupt begann.
Aber es waren nun einmal reale Bedingungen, wie sie überall auf Falméra herrschten. Gerade die Schwerfälligkeit und Unbeweglichkeit der gerüsteten Krieger war es ja, welche Sebastian den Führern seiner Heerlager deutlich machen wollte.
Als sie nach einer gefühlten Ewigkeit immer noch warteten und sich die beiden Kohortenführer verstohlen ansahen, wollte Sebastian gerade hinter den Felsen gehen, um nachzusehen, ob Antarona eingeschlafen war. In diesem Augenblick huschte ein kleiner Schatten durch die Luft, kaum, dass ihn jemand wahrnehmen konnte.
Plonk! Mit hohlem Klang flog ein Stein von der Größe eines Golfballs gegen den Helm Thorbalds und schreckte die Geister auf, die in der Hitze ihre Sinne abstumpfen ließ. Sofort waren alle hellwach. Thorbald, überrascht von dem Schlag, taumelte leicht und sah sich ungelenk in die Richtung um, aus der das Geschoss gekommen zu sein schien. Nichts. Das hohe Gras wogte friedlich im Wind.
Und doch lauerte Antarona irgendwo dort draußen, unsichtbar wie ein Geist, bereit, jederzeit wieder zuzuschlagen. Selbst die beiden Führer blickten sich aufmerksam, aber erfolglos um. Dass dieser Stein eine tödliche Lanzenspitze hätte sein können, musste Sebastian nicht erst erläutern.
Plötzlich zischte, aus einer völlig anderen Richtung, ein Pfeil heran. Er traf Thorbalds Kameraden in der Nierengegend, wo der Brustschutz der Rüstung auf dem Lendenschutz lag und eine nur Millimeter große Angriffsfläche bot. Der Holzschaft bohrte sich in die Fuge, das gefüllte Säckchen platzte auf und verspritzte seinen sandigen Inhalt.
Noch bevor die beiden Krieger sich neu formieren konnten, brach Antarona aus dem hohen Gras gegenüber hervor. Flüchtig wie ein Windzug schnellte sie heran, drehte sich durch die Lücke zwischen beiden Gegnern und versetzte einem einen Streich in seine Kniekehlen.
Freilich spürte dieser nur einen dumpfen Schlag. Doch hätte Antarona Nantakis in den Händen gehalten, so wären dem Mann beide Sehnen seiner Beine durchtrennt worden. In wirbelndem Tanz, wie beim Elsirenfeuer sprang das Krähenmädchen um ihre Kontrahenten herum, ohne dass diese sie mit den Augen verfolgen konnten.
Ihre Rüstungen waren einfach zu schwer und behinderten sie. Außerdem brauchten ihre Arme mit den Schilden und den Metallplatten viel zu lange, um eine Abwehrhaltung einzunehmen. Verwirrt stießen die beiden krachend mit ihren Rücken gegeneinander, versuchten das nackte Gespenst, das sie wild umtanzte, mit ihrem Blick einzufangen.
Wie aus dem Nichts traf ein heftiger Hieb den ungeschützten Hals eines Kriegers, als Antarona mit kräftigem Absprung an seinem Kopf vorbeiflog, und sich jenseits der Reichweite seines Holzschwertes abrollte. Während sie den eigenen Schwung nutzte, um wieder auf die Beine zu kommen, griff sich der Touchierte an den Hals, taumelte, und fiel hin.
Thorbald hatte inzwischen Antaronas Position erfasst und stellte sich ihr kampfbereit entgegen. Das Überraschungsmoment war klarer, nüchterner Taktik gewichen. Lauernd standen sich der Krieger in der schützenden Rüstung und das dürftig gekleidete, verwundbare Mädchen gegenüber. Es bedurfte keines Nachdenkens, dass der Mann dieser kleinen Frau an Kraft und Größe schonungslos überlegen war.
Im gleichen Lidschlag, in dem sich Thorbald mit einer plötzlichen Attacke auf Antarona stürzte, und mit seinem Schwert zustieß, sprang Antarona unverhofft und leichtfüßig zur Seite, federte ihren Sprung mit nackten Füßen ab und flog zurück, als das Schwert ihres Gegners, getrieben durch den eigenen Schwung, dort in den Boden fuhr, wo Antarona eben noch gestanden hatte.
Noch im Abrollen traf Antaronas hölzerne Klinge Thorbalds Armbeugen, bevor das Krähenmädchen mit akrobatischer Sicherheit wieder hochschnellte, wie ein Blitz um ihn herum huschte und in seinen ungeschützten Rücken gelang. Bevor Thorbald die Wucht seines Angriffs abgefangen hatte, spürte er Antaronas Schwertspitze zwischen seinen Schulterblättern.
Die beiden Kämpfer rappelten sich nur mühsam und keuchend hoch. Antarona hingegen schritt wie befreit von einer Last mit erhobenem Haupt und nicht ohne Stolz in den Schatten des Felsens zurück.
Der Kampf war entschieden, schneller noch, als es jemand vermutet hätte. Es waren nur Minuten, wenn nicht gar Sekunden, und eine mit leichten Lederfetzen bekleidete, kleine, dünne Frau hatte zwei stattliche, kampferprobte Krieger bewegungsunfähig geschlagen.
Sebastian mochte es damit vergleichen, als hätte ein Mädchen im Bikini einen kräftigen Mann in Motorradkleidung und Winterpelz beim Strandvolleyball besiegt. Der Effekt war derselbe. Das Ergebnis unter realistischen Gesichtspunkten aber für beide Krieger tödlich. Sebastian rekapitulierte laut für die beiden Kohortenführer:
»Der Pfeil aus unbekannter Richtung hätte einen Krieger bereits schmerzhaft zu Fall gebracht. Doch wenn nicht dieser, so wäre dem Mann Sonnenherz zweiter Streich zum Verhängnis geworden. Er wäre in die Knie gebrochen und nicht wieder hoch gekommen«, dokumentierte er Antaronas ersten Schwerthieb.
»Mit ihrem zweiten Hieb hätte sie Thorbald den Kopf vom Leib getrennt. An dieser Stelle wäre der Kampf bereits entschieden gewesen«, urteilte er hart. Doch Sebastian wollte der Möglichkeit Raum lassen, dass Antaronas Streiche nicht sofort tödlich gewesen wären und fuhr fort:
»Ihr dritter Hieb, nach Thorbalds Attacke, hätte diesem beide Arme genau zwischen den Rüstungsgliedern zertrennt, und er wäre daran verblutet«, erklärte Basti weiter. »Zuletzt gelangte Sonnenherz in Thorbalds Rücken und hätte genug Zeit gehabt, das kurze Schwert durch seine Rüstung in seinen Rücken zu stoßen!«
Eine betretene Stille beherrschte die grüne Kampfarena. Die beiden Kohortenführer nickten anerkennend, indem Thorbald und sein Kamerad versuchten, sich vom lästigen, metallenen Körperschutz zu befreien. Derbe Lederriemen hielten das Rüstzeug fest auf ihren Körpern zusammen. Dennoch hatte es ein schwangeres Mädchen geschafft, die Panzer mühelos zu durchdringen. Fast ein Kinderspiel. Aber eben nur fast!
Sebastian war sehr wohl klar, dass Antaronas ungeschützter Körper auf einem realen Schlachtfeld durch zufällige, unkontrollierte Hiebe im Gefechtsgetümmel eher verwundet worden wäre, als durch die Streiche des direkten Gegners. Sie hätte in einer wirklichen Schlacht, in der tausend Kämpfer dicht gedrängt aufeinander trafen, keine fünf Minuten überlebt! Doch diese forensische Einsicht behielt er für sich.
Schließlich gab es bei jedem Gefecht Verluste zu beklagen. Ausschlaggebend für einen Sieg mochte aber das Überraschungsmoment sein. Zusätzlich baute Sebastian darauf, dass die neue Kampfart, deren Ruf den Schlachten bald vorauseilen würde, eine demoralisierende Wirkung auf den Gegner haben würde.
Die Angst vor plötzlich hereinbrechenden, wirbelnden Schwertern hätte sich bereits in den Köpfen der Feinde manifestiert und mochte ihren Eifer deutlich lähmen. Selbst dieser Umstand konnte schon Schlachtentscheidend sein!
In diesem Augenblick kam Sebastian der Einfall, die neuen, schnellen Kohorten mit einem sich dem Feind einprägenden Äußeren zu schmücken. Allein ihr unverhoffter Anblick musste den Gegner bereits als Schreck in die Glieder fahren!
Thorbalds ernüchternde Stimme ließ Sebastians Gedanken daran verfliegen. Der junge Mann hatte sich seiner Rüstung entledigt und sagte zu seinem Kameraden:
»Sie hat uns diesmal besiegt, Arnhold, doch seid versichert, ein weiteres Mal gelänge ihr das nicht!« Der Angesprochene erwiderte vorsichtig:
»Mag sein, dass ihr recht habt, mein Freund, doch vergesst nicht: Sie war wirklich schnell, wir sahen sie nicht einmal kommen, wir waren nicht mal einen Moment bereit zu irgendeiner Gegenwehr!«
»Nur dieses eine Mal«, versicherte ihm Thorbald ruhig. Sebastian entgingen die Worte nicht, und da er befürchten musste, dass sich auch die beiden Kohortenführer von Thorbalds Aussage beeinflussen lassen könnten, sah er sich gezwungen, in die Diskussion einzugreifen und sich die verbale Dominanz zu sichern.
»Wie meint ihr das, Thorbald, ein weiteres Mal gelänge ihr das nicht?« fragte Sebastian bedächtig, aber mit drohendem Unterton in der Stimme.
»Ganz einfach, Herr«, antwortete dieser offen, »beim nächsten Mal wäre ich auf ihre überraschenden Finten vorbereitet, wenn sie nicht wieder feige aus dem Hinterhalt mit Steinen werfen würde!«
»Ach, sieh mal an«, tat Basti gespielt verwundert, »ihr meint also Sonnenherz bereits nach dieser einen Lektion gewachsen zu sein, ohne ihre Kampfkunst studiert oder geübt zu haben?« In Sebastians Frage schwang etwas Unsicherheit mit. Es war die Angst, Thorbald könnte womöglich gar nicht so unrecht haben.
»Herr, wenn ich Sonnenherz Kampfweise so hätte voraussehen können, wie sie mir nun bekannt ist, so hätte ich mich in eine Position gebracht, in der ich meine Kraft, also meine eigenen Vorteile hätte einsetzen können«, erklärte der Krieger selbstsicher. Sebastian wollte darauf eingehen, doch dazu kam er nicht mehr.
Wie ein rasender, zähnefletschender Eishund kam Antarona herangestürmt. Anscheinend hatte auch sie Thorbalds Worte vernommen. Sie baute sich vor dem großgewachsenen Krieger auf und sah ohne Waffen beinahe lächerlich aus.
Sie bot das Abbild eines verwahrlosten, verwilderten Mädchens, das aus der jahrelangen Gefangenschaft einer dunklen, nassen Höhle entkommen war, und sich nun an ihren Peinigern rächen wollte. Ein Fischlein, das sich gegen die Pranken eines Bären erhob.
Doch ihr flammender, vernichtender Blick, der sich fest in die peinlich berührten Gesichter der beiden Krieger bohrte, mochte jeden ernüchtern, der versucht war, sich über ihr Äußeres zu amüsieren.
Als hätte sie die Macht und Stärke, zwei robusten Krieger mit einer einzigen Armbewegung umzustoßen, stemmte sie ihre kleinen Fäuste in die Hüfte, beförderte ihre widerspenstige, schwarze Mähne mit einer schnippischen Kopfbewegung über die Schulter und fauchte die beiden gefährlich an:
»Wer wirft hier feige aus dem Hinterhalt mit Steinen, was? Wisst ihr beiden Riesentrolle eigentlich, was feige ist? Na?« Sie ließ ein par Sekunden verstreichen, in denen Thorbald und Arnhold sie nur verunsichert anglotzten. Die beiden ahnten noch gar nicht, welches Donnerwetter da über sie hereinbrach.
»Wart ihr zwei großen Krieger jemals im Val Mentiér, dort, wo unsere Brüder und Schwestern jeden Tag sterben? Ja?« begann sie mit bitterem Sarkasmus ihre Standpauke.
»Habt ihr je das Leid unter den Bergen des ewigen Eises besucht? Nein? Dann will Sonnenherz euch sagen, wie es dort ist!« Sie trat unerschrocken einen Schritt vorwärts und deutete auf den Boden.
»Los, setzt euch, ihr einfältigen Paradefiguren, Sonnenherz mag nicht ständig zu euch aufsehen müssen!« befahl sie wie ganz selbstverständlich. Und ebenfalls wie ganz selbstverständlich ließen sich die beiden vor er kleinen, tobenden Frau nieder.
Sie hätten das Krähenmädchen einfach schnappen, und weit von sich ins Gras werfen können. Doch sie taten es nicht. Dieses Mädchen, das die beiden mit seinem engelhaften Gesicht bezauberte, hatte sie im Kampf besiegt. Sie genoss den Respekt beider vor ihrem Mut und ihrem Können, sowie ihre Achtung vor dem Bild der verletzlichen, wunderschönen Frau, derer Natur es war, von ehrenhaften Kriegern beschützt zu werden.
Antarona wusste das ganz gezielt auszunutzen. Sie kannte ihre Wirkung auf Männer und wusste, dass diese beiden jungen Krieger noch so etwas wie Ehre im Leib trugen, eine Unerfahrenheit, die sie in dieser Situation verunsicherte. Sie wagte so mit ihnen umzuspringen, weil sie wusste, dass keiner von beiden ihr ein Haar krümmen würde, auch wenn sie nicht die Frau des Areos von Falméra gewesen wäre.
»Ihr habt keine Ahnung, nicht wahr? Aber ihr glaubt zu wissen, was ein feiger Hinterhalt ist! Sonnenherz wird euch sagen, was feige ist!« schnauzte sie die beiden an, die wie ein par Schuljungen vor diesem kleinen, erbosten Mädchen saßen und sich nicht mehr mucksten.
Sebastian war unschlüssig, wie er sich verhalten sollte. Hetarus und sein ebenfalls erfahrener Kamerad standen indes am Rand des Übungsplatzes, zogen erstaunt die Augenbrauen hoch und grinsten nicht ganz ohne Schadenfreude in sich hinein. So etwas hatten selbst sie noch nicht erlebt.
»An einem schönen Tag zur Zentare der spät wandernden Sonne arbeiteten die Leute meines Dorfes auf den Weiden«, begann sie mit etwas weniger Angriffslust in der Stimme.
»Sie alle waren guter Dinge, die Männer und Jungen verluden das Heu auf die Wagen, das die Frauen und Mädchen zusammenrechten und ihnen anreichten. Plötzlich kamen viele Reiter, mehr als Finger an zwei mal zwei Händen. Sie alle trugen schwarze Kleider und schwarze Rüstungen. Sie ergriffen die Mütter und Töchter, und schleppten sie fort. Die jungen Männer trieben sie vor sich her. Wer sich ihnen entgegenstellte, wurde ohne zu fragen getötet.«
Antarona machte eine Pause und beobachtete ihre beiden Zuhörer. Als sie feststellte, dass ihre Geschichte die beiden nicht sehr beeindruckte, fügte sie hinzu:
»Alte Männer, und jene Frauen und Mädchen, die sie nicht mitnehmen konnten, wurden ebenfalls getötet. Die Frauen bettelten um das Leben ihrer Kinder, die noch zu klein waren für den langen Weg. Sie flehten die Reiter an, diese einfach nur zurück zu lassen... Doch sie haben sie einfach erschlagen. Das ist feige! Über unbewaffnete Frauen und Kinder herzufallen, ist feige!«
Arnhold und Thorbald saßen mit fragenden Gesichtern da und warteten offensichtlich auf ein Finale. Antarona kniff erst die Augen zusammen, dann weiteten sich ihre Lider und in ihrem Blick begann erneut das gefährliche Feuer zu glühen, vor dem sich ein Mann in Acht nehmen sollte. Thorbald zuckte mit den Achseln und warf ein:
»Das mag alles sein, Sonnenherz, und ich glaube euch das alles, doch aus dem Hinterhalt mit Steinen auf uns zu werfen, wo ihr doch wusstet, dass wir uns nur schwer bewegen konnten, war nicht erlaubt und auch nicht ehrenvoll...« Antarona beugte sich über die beiden jungen Krieger und fuhr sie mit allem Zorn, der in ihr verborgen lag, an:
»Nicht ehrenvoll, nicht erlaubt? Welche Tat ist in einem Kampf gegen Kinder denn ehrenvoll, oder erlaubt, wenn es Sonnenherz erlaubt ist, die stolzen Krieger fragen zu dürfen?« keifte sie die beiden an, dass diese vor Schreck auf dem Hosenboden ein par Zentaren zurückwichen. »Wisst ihr überhaupt, wovon Sonnenherz spricht?«
Sie starrte die beiden Ahnungslosen mit einem Blick an, der dem einer völlig Irrsinnigen gleichkam und ihnen Angst machte.
»Nein, nichts, gar nichts wisst ihr, dumm seid ihr, spielt hier nur die Helden mit euren Schwertern, fuchtelt damit durch die Luft und beklagt euch, wenn eure Haut einen Kratzer abbekommt, so ist das! Wisst ihr, wer die wahren Helden sind? Nein? Es sind jene Männer, die den Mut hatten, die Reiter um das Leben ihrer Familien anzuflehen, obwohl sie ahnten, dass sie dafür sterben mussten! Glaubt ihr, Torbuks Reiter fragen erst nach Regeln und Ehre, bevor sie angreifen, bevor sie die Väter und Brüder wahllos hinmetzen und die Frauen und Töchter zu ihrer Kurzweil verschleppen, schänden und töten?«
Ihre Stimme überschlug sich fast vor innerem Schmerz, aber sie gebärdete sich so wild, dass ihre unfreiwilligen Schüler annehmen mussten, im nächsten Moment von ihren Krallen zerrissen zu werden.
Plötzlich wurde Antarona ganz ruhig. Ihr Blick erstarrte, als sah sie in eine weit entfernte Welt, die nur ihr Zugang gestattete. Dann sprach sie leise mit unnatürlich rauer und spröder Stimme, wie mit verrosteten Schwertklingen als Stimmbändern:
»Habt ihr einmal eine Frau gesehen, die zurückkehrte, der das Unglück beschieden war, aus einem von Torbuks Lagern fliehen zu können? Ja, habt ihr das, ihr stolzen, unbefleckten Jungs, denn das ist wahrhaftig ein Unglück für sie! In den Blicken jener Frauen ist das Licht verloschen, ihre Augen sind tot, gestorben, so, wie ihr Herz gestorben ist! Habt ihr je eine solche Frau gesehen, welche dorthin blickt, wo nichts mehr ist? Sie fährt vor Angst zusammen, wenn sie nur die Stimme eines Mannes hört. Wenn sie Glück hatte, so haben ihr die schwarzen Reiter nur den Schoß gebrochen.«
»Doch wenn sie ihr das Gesicht und die Brüste mit rauen Klingen zerschnitten haben, und ihre Wunden zu faulen beginnen, so wäre es eine Gnade für sie, von ihren Peinigern getötet zu werden. Denn ihr Herz ist bereits erloschen, ihre Seele ist tot, ihre Sinne sind nicht mehr und ihr Fleisch ist blutleer. Aus ihrem Schoß tritt der Hauch des Bösen. Manche von ihnen tragen die Brut Torbuks in sich und richten sich selbst, aus Angst, dafür gehasst zu werden!«
»Habt ihr je so eine Frau gesehen? Vermögt ihr euch vorzustellen, das ist eure Mutter, oder eure Schwester, oder die Geliebte? Wollt ihr dann noch mit Ehre kämpfen? Glaubt ihr dann noch an das, was erlaubt ist?« Ihre Augen verengten sich zu kleinen Schlitzen als sie sich zu den völlig verdatterten Kriegern hinab beugte und heiser zischte:
»Dann kämpft ihr nur noch, um zu töten. Und um euch zu zeigen, wie das geht, ist Sonnenherz gekommen!« Damit wandte sie sich ab, nahm wortlos ihre Waffen auf, und verschwand hinter dem Felsen.
Stille. Niemand sagte ein Wort. Sebastian wollte sich ebenfalls abwenden, als Thorbald, kraftlos dasitzend, leise bemerkte:
»Das arme Krähenmädchen, ihr Herz ist wahrscheinlich unheilbar krank vor Schmerz.« Sebastian hörte es, drehte sich um und ging langsam auf den eingeschüchterten Krieger zu, bis er knapp vor seinen Füßen stehen blieb. Leise sagte er:
»Ja, Thorbald, ihr Herz ist sehr traurig, aber es ist nicht krank. Sie trauert um jede Seele ihres Volkes, und sie würde genauso um euch trauern!« Sebastian fielen die Worte schwer, nur zögernd kamen sie über seine Lippen:
»Sie musste als Kind mit ansehen, wie ihre Mutter von schwarzen Reitern geschändet wurde. Anschließend haben sie die Frau vor ihren Augen regelrecht zerhackt! Sie hat ihren Vater um das, was von ihr übrig war, schreien hören, ihn seine Götter verfluchen hören, ihn weinen sehen, Tage lang, Nächte lang.«
»Ich habe selbst gesehen, was Torbuks Reiter mit gefangenen Frauen anstellen. Es war das Schlimmste, das ich je erlebt habe. Keine Schlacht, die ihr euch vorstellen könnt, kann grausiger sein! Wisst ihr, ich weiß nicht genau, was Sonnenherz alles mit ansehen musste, aber eines kann ich euch versichern: Ihr wünscht euch, so etwas niemals sehen zu müssen!« Sebastian entfernte sich ein par Meter, doch dann drehte er sich noch einmal um.
»Und genau deshalb sind wir hier! ...beim nächsten Sonnenlauf an dieser Stelle! Mit dem Gefangenen!« Ohne ein weiteres Wort folgte Basti seiner Frau.
Thorbald und Arnhold rappelten sich hoch, rieben still den Schmerz aus ihren Gliedern und das Gras aus ihrer Kleidung. Hetarus legte seinem Kampfgefährten aus alten Zeiten freundschaftlich die Hand auf die Schulter, fuhr sich mit der anderen nachdenklich durch seinen knisternden Bart und sagte:
»Wenn alle meine Krieger das Herz dieser Frau besäßen, mein Freund, so bräuchten wir einen Feind wie Torbuk nicht mehr zu fürchten!« Dann nahmen sie den gefangenen wieder in ihren Gewahrsam und gingen schweigend ihren Heerlagern entgegen.
Antarona und Sebastian verstauten die Übungsschwerter und andere Gegenstände, die sie noch brauchten, in einer Lücke unter dem mächtigen Felsen, und begaben sich auf den selbst getretenen Pfad zurück zu ihrem Lager. Auf dem Weg dorthin schwenkten sie links und rechts ab, hielten hier und dort, sammelten Beeren, Kräuter und ein paar Wurzeln, die gekocht wie Spargel schmeckten.
Sie schwiegen, gingen still nebeneinander her. Sebastian hatte das Gefühl, seiner Frau mit der Aufgabe, Thorbald zu trainieren, zuviel zugemutet zu haben. Drei wichtige Gründe jedoch zwangen ihn dazu. Erstens erhöhte er dadurch die Schlagkraft Falméras Verteidigungsarmee. Zweitens verhinderte er eine verdeckte Invasion Torbuks Truppen in diesem Tal. Und nicht zuletzt würde Fürst Jamálin sein Interesse an diesem Tal fallen lassen, wenn dies nicht schon geschehen war.
Denn für Sebastian stand außer Frage, dass die Spione von jenem Oranuti- Fürsten geschickt wurden, dessen Tochter er nicht mehr beneidete, dessen Gold- Quarts er nun aber in seiner Tasche trug, und deren Wert er gegen den Fürsten und dessen Pläne einzusetzen gedachte.
Zwei Stunden vor Sonnenuntergang erreichten sie ihren Lagerplatz. Er begrüßte sie mit einem Gefühl der Vertrautheit und Geborgenheit. Er war ihr kleines, bescheidenes Zuhause, in einer Zeit der Rastlosigkeit, in einer Zeit des Umbruchs, der Veränderung.
Dieser Ort zwischen Felsen und hohen Bäumen, umgeben von üppigen Weiden und durchflossen von einem Bach klaren Wassers, bot ihnen mehr das Gefühl von Heimat, als es die Burg mit ihren sicheren Mauern jemals vermochte.
Für Antarona gab es allerdings noch einen ganz anderen Platz, den sie als ihr Zuhause ansah, das wusste er. Das Haus ihres Vaters, am See, unter den unüberwindlichen, schneebedeckten Bergen des Val Mentiér; Nephtir, die Mutter der Bäume, welche aus jedem Menschenwesen die Stimme der Wahrheit erklingen ließ und Antaronas Lieblingsplatz war, in dessen mächtigen Ästen und Zweigen sie ungestört träumen konnte; die Grotte und der Wasserfall am Mentiérsee, die ihr stets Schutz boten, wenn sie einen Rastplatz brauchte.
Und nicht zuletzt waren es die Menschen in den Tälern, ihr Volk, die Sonnenherz liebten und verehrten und ihr das Gefühl gaben, unter jedem Dach willkommen zu sein. All dies war für sie der Inbegriff eines Zuhause, trotz der immerwährenden Gefahr, die den Menschenwesen dort durch Torbuks Stoßtrupps drohte.
Je mehr Basti darüber nachdachte, desto deutlicher empfand er, dass sie im Val Mentiér ihre glücklichste Zeit miteinander verbracht hatten. Der Nachmittag im Blätterdach Nephtirs, die Stunden in Antaronas Höhle, die Zweisamkeit am stillen Strand des Mentiérsees, sowie am See hinter dem Haus ihres Vaters Hedaron, ja selbst den Tag an der Hütte des Unbekannten, der ihnen ein geheimnisvolles Vermächtnis hinterließ.
Freilich hatten sie auch auf Falméra glückliche Zeiten, vielleicht sogar mehr und intensiver, als im Tal Antaronas Herkunft. Doch auf Falméra unterstanden sie stets dem Zwang Bentals und der Himmelsburg. Sie waren niemals wirklich frei!
»Denkt ihr an die Wälder und Weiden von Val Mentiér?« fragte Antarona plötzlich, indem sie die Asche aus der Feuerstelle ihres Lagers entfernte.
»Ja«, gab Sebastian zu, »und ich habe darüber nachgedacht, auch dort zu leben!« Antarona unterbrach ihre Arbeit an der Feuerstätte, erhob sich und sah ihn verwundert an.
»Wie meint ihr das, Ba - shtie, auch dort zu leben?« Nachdenklich ging er auf sie zu, seine Hände umfassten ihre Taille und zogen sie dicht an ihn heran.
»Pla-kas züchten, mein Engelchen, darum geht es, Pla-kas züchten!« An ihrem Blick erkannte er, dass sie noch immer nicht verstand.
»Wir könnten den Sommer über im Val Mentiér leben, auf dem Hof deines Vaters, oder auf einem eigenen Hof in einem der großen, unerschlossenen Seitentäler. Eine robuste, für schwere Arbeiten geeignete Rasse Pla-kas ließe sich dort züchten.« Sebastian machte eine ausholende Geste in die Runde.
»Bevor dann im Val Mentiér der harte Winter einbricht, ziehen wir in dieses Tal und widmen uns der Zucht anderer Pla-kas, die für den Kampf geeignet sind. Und wenn uns einmal der Sinn nach Kurzweil und Tanz steht, wartet dein Haus in Falméra auf uns!« Was hältst du davon? Stand in Bastis Gesicht geschrieben. Antarona sah ihm in die Augen und konnte es lesen.
»Ba - shtie«, sprach sie mit mahnender Stimme, »ihr folgt einmal mehr der Mutter der Nacht am Tage! Euer Traum klingt wundersam und schön, doch ihr vergesst, dass Quaronas noch immer zwischen Val Mentiér und Falméra liegt! Dort herrscht das Böse! Bis es nicht besiegt ist, wird es keinen Frieden geben, und eure Frau und euer Kind werden nicht frei reisen können!«
Einsichtig nickte Sebastian und seufzte ernüchtert. Dann atmete er erleichtert aus, seine Hände wanderten zärtlich über ihre süßen Rundungen abwärts, schoben sich unter ihren Lederschurz, packten sanft zu und pressten sie verlangend an sich.
»Na ja«, lenkte er lächelnd ein, »mein Zuhause wird immer dort sein, wo ich dich in meinen Armen halten und lieben kann! Ob im Val Mentiér, oder in Falméra. Wenn ich dich fühle, deine Wärme und dein Herz spüre, deinen Duft atmen kann, dann bin ich zuhause!« Damit hob er sie an, so dass sie ihre Arme um seinen Hals legen konnte.
Vorsichtig trug er sie unter ihren Schlafbaum, breitete die Felle aus und sie wickelten sich albern kichernd und wild küssend in die weichen Tierhäute, bis nur noch ihre Füße herausragten. Das Blätterdach der Bäume und die Felsen bedeckten das heimliche Geschehen und der nahe Bach verschluckte jedes Geräusch eines sehnsüchtigen Verlangens...

Der Morgen drohte bereits mit Gewitter. Es war drückend heiß und die Luft schien aufgeladen von einer unnatürlichen Spannung. Selbst der Bach plätscherte so müde und lustlos dahin, grau und bleiern, als führte er nur noch Schlamm. Das frische Sprühen seines Wildwassers war wie fortgezaubert.
Sebastian wachte auf und nahm als erstes wahr, dass Antarona nicht mehr da war. Er vermisste ihre Wärme, ihren Duft, ihren Herzschlag. Nur widerwillig schälte er sich aus der angenehmen Hülle der Felle, taumelte zum Feuer hinüber, dem es an diesem Morgen ebenfalls an Energie fehlte, und schnitt sich ein langes Stück geräuchertes Fleisch ab, auf dem er unlustig herumzukauen begann.
Irgendetwas lag in der Luft. Er hatte das Gefühl, alles um ihn herum wäre schwerer als sonst, einschließlich seiner Glieder. Ein Blick zum Himmel ließ die Sonne hinter einheitlichem Grau nur erahnen. Dennoch war es so heiß, wie in einem Glutofen. Vielleicht lag es daran, dass es völlig windstill war. Nicht ein Blatt an den Bäumen regte sich. Die Luft stand wie eine feste Masse, kaum, dass sie sich noch atmen ließ.
Jede noch so geringe Bewegung ließ den Schweiß aus den Poren treten und Sebastian erinnerte sich daran, ein ähnliches Wettermuster auf Högi Balmers Alm erlebt zu haben, kurz bevor ein so heftiger Sturm losbrach, der den ganzen Berg umzuwerfen drohte.
Wenn so ein Gewitter heraufzog, vermochten sie auch die Bäume und der Felsen nicht mehr zu schützen. Doch wohin sollten sie sich verkriechen, wenn die Natur tatsächlich so eine Gewalt über ihren Köpfen entfesselte? Sie hatten kein Dach über dem Kopf, keine Höhle, ja nicht einmal einen schützenden Felsüberhang.
Bastis Blick wanderte zu beiden Talseiten die Hänge hinauf. Die Zeltspitzen der Heerlager leuchteten hell vor dem dunklen Grau des aufziehenden Unwetters. Hoffentlich waren seine Heerlagerführer so klug, die Lager in eine Senke zu verlegen, sonst würde der Sturm die Zelte mit Mann, Maus und Waffen einfach über die Felsklippen in die Tiefe wehen!
Mit triefend nassen Haaren kam Antarona vom Bach herauf. Fasziniert sah er ihr zu, wie sie ihre nasse Mähne immer mit einem groben Kamm durchzog. Sie bewegte sich anmutig, ohne Plumpheit, oder Hast. Ihre Haut glänzte selbst bei diesem Licht und Sebastian wusste nicht zu sagen, ob es vom Wasser war, oder ob sie schon wieder schwitzte.
Er jedenfalls badete in seinem Schweiß, zupfte zaghaft an seinem Hemd, stellte fest, dass es an seinem Körper klebte und ein unangenehmes Gefühl verursachte. Er zog es sich über den Kopf, und stellte fest, dass selbst diese Tätigkeit in der trägen Luft Mühe bereitete.
»Ich gehe zum Bach und lege mich ins Wasser«, verkündete er unentschlossen und müde, »was glaubst du, ist das ein guter Gedanke, oder soll ich lieber auf den Regen warten?« Basti erwartete nicht wirklich eine Antwort, hatte er doch diese Äußerung nur gemacht, um überhaupt etwas zu sagen!
»Es wird keinen Regen geben«, stellte Antarona bestimmt fest, »geht nur zum Bach, Sonneherz wird inzwischen die Felle aufhängen.« Mit hochgezogenen Augenbrauen blieb er stehen.
»Wie, es gibt keinen Regen? Was soll das? Hast du mal zum Himmel gesehen?« Sebastian wartete darauf, dass Antarona es tat, doch die widmete sich gelassen weiterhin ihren Haaren, die eingehender, intensiver Pflege bedurften, wollte sie nicht wieder als Gefangenenschreck auftreten.
»Antarona«, versuchte er sie mit ermahnender Stimme aufzurütteln, »ich habe das schon mal erlebt, auf Väterchen Balmers Alm, da braut sich etwas zusammen! Was da vom Himmel kommt, kann das halbe Tal fluten!« Unbeeindruckt zog das Krähenmädchen weiter den Kamm durch eine Strähne nach der anderen.
»Ba - shtie, ihr seid hier nicht bei Väterchen Balmer, wo die kalte Luft des ewigen Eises der warmen, feuchten Luft des Stromes des großen Wassers begegnet. Hier gibt es keinen Kampf der Wolken! Der Himmel wird in ein par Zentaren wieder leuchten, und es wird kein Wasser von den Göttern kommen!«
Erstaunt sah er seine Frau an. Hatten ihr das wieder einmal Tekla und Tonka gezwitschert, oder vermochte sie nun auch schon mit den Wolken zu sprechen? Kopfschüttelnd ging er lustlos zum Bach hinunter.
Das Wasser, gewöhnlich reißend und sprühend, glitt gemächlich über die Steine, als hätte es an diesem Morgen ebenfalls einen eher trägen Charakter. Wahrscheinlich versiegten unter der sengenden Sonne allmählich die Ressourcen der letzten Niederschläge.
Konnte es sein, dass der Bach vollständig austrocknete? War dieses Tal wider Erwarten nur ein Paradies auf Zeit? Er war zu müde und antriebslos, um in diesem Moment intensiver darüber nachzudenken. Seine Kleidung warf er hin, wo er stand und vorsichtig ließ er sich in das kühlende Wasser gleiten.
Die wohltuende Frische genießend, streckte er seine Glieder aus und ließ seinen Körper vom Strom umfließen. Basti schloss die Augen und versuchte sich darauf einzustellen, was an diesem Tag auf ihn zukommen sollte.
Eigentlich war er ja nur stiller Beobachter. Antarona hatte die ganze Arbeit zu leisten. Sie musste dem unerfahrenen Thorbald eine Kampftechnik vermitteln, die dieser bislang nur als Tanz kannte. Obwohl ihm seine Idee, einige Kohorten auszubilden, und gleichzeitig Fürst Jamálins Begierde auf dieses Tal zu verleiden, wichtig erschien, wurde ihm inzwischen der ganze Aufwand zu lästig.
Für die nächste Zeit saßen sie in diesem Tal fest, mussten sich mit der eintönigen Tätigkeit beschäftigen, Soldaten auszubilden, und fanden nicht einmal genügend Zeit, ihre Zukunft zu planen. Am meisten ärgerte sich Sebastian darüber, dass er sich diese Situation selbst eingebrockt hatte.
Längst hätten sie nach Mehi-o-ratea unterwegs sein können, um die Zeit für sich zu genießen. Er tröstete sich damit, dass er Torbuk und den Oranuti wahrscheinlich die Invasionspläne durchkreuzt hatte. Dieses Argument war auch das einzige, das vor Bental Bestand haben würde, sollte ihm dieser aufgrund einer Beschwerde Jamálins das sinnbildliche Messer an die Kehle setzen.
Seufzend kroch Sebastian wieder aus dem Bach. Alles Hadern half nicht. Er hatte A gesagt und musste nun auch B sagen! Der Verpflichtung, geboren aus der eigenen Idee, konnte er nicht entfliehen. Unschlüssig stand er am Ufer, ließ das Wasser von seinem Körper abtropfen und verharrte einen Moment.
Das Abtrocknen konnte er sich sparen. In dieser lähmenden Hitze würde er allein durch diese Bewegungen erneut schwitzen. Lustlos nahm er seine Kleidung auf und schlich zum Lager zurück.
Mittlerweile hatte Antarona ihre Schlaffelle zum Lüften über die tiefhängenden Äste der Bäume geworfen. Sie war bereits dabei, die Bündel für den Marsch zum Übungsplatz zu packen, als Sebastian seinen müden Körper heranschleppte.
Das Krähenmädchen musterte ihren von den Göttern gesandten Helden und lächelte spöttisch. In einer wie zufällig ausgeführten Bewegung warf sie ihm ein hartes, geräuchertes Stück Fleisch zu und sagte nicht ganz ernst gemeint:
»Nehmt das, müder Krieger! Hat euch Sonnenherz in der schlafenden Sonne so sehr ausgezehrt, dass ihr euch bewegt, wie ein Felsenbär in der Zeit des langen Schnees?«
Dabei bewegte sie sich zielstrebig auf ihn zu, und schlang aufreizend langsam ihre Glieder um seinen Körper. Die treibhausartige Wärme, die Basti lähmte, schien auf Antarona eine eher erregende Wirkung zu haben. In der Hitze fühlte sich ihre Haut kalt und feucht an, und verströmte einen schweren, sinnlichen Duft, der seine Wahrnehmung vollends vernebelte.
Doch es blieb ihnen keine Zeit, sich einander hinzugeben. Die Stunde, in welcher sie sich mit Thorbald treffen wollten, rückte unaufhaltsam näher. So blieben ihnen nur ein paar Minuten eng aneinander geklammert zu verharren, um ihre innige Zweisamkeit zu genießen.
Vermutlich dachten beide über die ketzerische Möglichkeit nach, sich einfach in den dichten Wald abzusetzen und sich auf einer verschwiegenen Lichtung bis zur völligen Entkräftung ihrem gegenseitigen Verlangen nachzugeben. Doch sie beide wussten auch, worum es ging: Um ihre eigene Zukunft!
Eine Weile später brachen sie auf. Die Waffen lasteten schwerer auf ihren Schultern, als am Vortag. Auch der Weg schien weiter geworden zu sein. Und als sie schließlich von weitem den Felsen am Übungsplatz erspähten, trauten sie ihren Augen nicht.
Nicht nur Thorbald und Arnhold waren, wie abgesprochen, erschienen. Auch Hetarus war mit seinem Gefangenen gekommen. Außerdem standen noch drei, oder vier andere Männer dabei. Sebastian verdrehte die Augen, um seinem überstrapazierten Nervenkostüm einen bildhaften Anstrich zu geben.
»Das darf doch wohl nicht wahr sein«, fluchte er vor sich hin, »was wollen die denn alle hier?« Sebastian machte keinen Hehl daraus, dass er diesen übertriebenen Aufmarsch als äußerst lästig empfand. Als sie den Felsen erreicht hatten, verschwand Antarona wortlos auf dessen Schattenseite. Ihre Reaktion zeigte deutlich, dass sie keinerlei Bedürfnis verspürte, sich mit dem halben Heerlager auseinander zu setzen.
»Herr, wenn ihr eurem ergebenen Diener erlaubt, bitte auf ein Wort«, trat Hetarus auf Sebastian zu. Basti konnte den Mann nicht einfach ignorieren und tat sehr interessiert:
»Sprecht, Hetarus, was ist es, das euch so sehr bewegt, dass ihr erneut den langen Marsch in der wandernden Sonne auf euch nehmt?«
Der Kohortenführer trat verlegen von einem Bein auf das andere, scharrte mit dem Fuß im Boden herum und wusste offensichtlich nicht, wie er sich erklären sollte.
»Nun sagt schon, was euch bedrückt, Hetarus«, forderte Basti den Mann ungeduldig auf, »mit einem Heerlagerführer, der mir eine unangenehme Nachricht bringt, ist mir mehr gedient, als mit einem, der mir mit Schweigen fälschlich glauben macht, dass alles in Ordnung ist!« Hetarus sah erstaunt auf.
»Heerlagerführer, Herr? Ich führe nur eine Kohorte, Herr, ich bin...«
»Ihr seid vom Tage eures Eintreffens in diesem Tal Heerlagerführer, Hetarus«, unterbrach ihn Areos ohne Umschweife, »es sei denn, ihr fühlt euch dieser Aufgabe nicht gewachsen, oder gebt mir Anlass, eure Fähigkeiten anzuzweifeln. Eure Bestellungsrolle erhaltet ihr, sobald ihr auf die Himmelsburg zurückkehrt«, versicherte er ihm, und fügte etwas fordernder hinzu:
»Und nun heraus damit, was bedrückt euch, wir haben nicht den ganzen Sonnelauf Zeit, und ich möchte endlich in den Schatten!« Damit wischte sich Sebastian demonstrativ den Schweiß von der Stirn und hielt Hetarus vorwurfsvoll seine nasse Hand hin.
»Herr«, begann nun der alte Krieger, nachdem er sich wieder gefasst hatte, »ich habe den Schaukampf des letzten Sonnenlaufs mit allen Kohortenführern und mit Thorbald und Arnhold besprochen. Wir alle glauben, dass die neue Kampfweise für jeden Gegner viel zu rasch zu erlernen ist, und dass Thorbald und Arnhold ohne Rüstzeug in einem Kampf gegen Sonnenherz siegen würden.«
»Mit anderen Worten, Hetarus«, setzte Sebastian dessen Gedanken fort, »ihr haltet den ganzen Aufwand des Übungslagers für überflüssig?«
»So wollte ich es sagen, Herr«, bestätigte der neu ernannte Heerlagerführer. Er suchte nach weiteren Worten, sah kurz zu seinen Kohortenführern und fügte dann hinzu:
»Gelingt es den beiden nicht, Sonnenherz ohne Rüstung zu besiegen, so mag ich euch nicht widersprechen. Doch beweisen uns die beiden, dass sie sich von Sonnenherz nicht noch einmal überraschen lassen, so bitte ich gnädigst, über meine Zweifel an eurer Entscheidung, der Erhaltung des Übungslagers nachzusinnen, Herr.«
Sebastian zeigte mit einem deutlichen Nicken, dass er verstanden hatte. Wohl aber wunderte er sich über den Mut, mit welchem hier Kritik geübt wurde. Aber gerade das war es, was er an seinen Männern schätzte. Wohin es führte, wenn ihm ein jeder nur nach dem Munde sprach, sah er an deutlichem Beispiel bei Bental und seinen Beratern.
»Nun, das muss Sonnenherz selbst entscheiden«, gab Basti zu bedenken, »schließlich ist sie es, welche euren Kriegern die Kampfweise lehren kann. Sie gilt im Val Mentiér als die erfahrendste und mutigste Kriegerin. Als einer solchen vermag ich ihr nicht zu befehlen, was sie zu tun hat!«
»Sonnenherz ist bereit, wenn die Krieger dies wünschen«, klang es in diesem Moment vom Felsen her. Antarona war langsam aus dem Schatten der mächtigen Steinformation getreten und schritt mit der Würde einer Prinzessin in den Übungskreis.
»Sonnenherz wird den zweifelnden Kriegern zeigen, wie ein Schatten kämpft. Doch seid gewarnt, Herr von Hetarus, diesmal wird sie eure Krieger nicht mit Milde schonen! Ihr zweifelt an Sonnenherz, so will sie euch den Blick öffnen, was ein Geisterkrieger ist!«
Sebastian wollte beschwichtigen, denn er ahnte, dass sich seine Frau, gekränkt in ihrem Stolz, kaum zurückhalten würde. Er wollte nicht, dass sie einen der beiden Krieger verletzte, noch dass, was schlimmer war, sie selbst und ihr ungeborenes Kind Schaden davontrug. Eine Meinungsverschiedenheit und ein wenig verletzter Stolz waren ein solches Opfer nicht wert.
»Ich möchte, dass Sonnenherz den Kriegern zeigt, wie sie Torbuks schwarze Reiter im Val Mentiér besiegt hat. Ich will aber kein Schlachtfeld, noch bevor Falméra angegriffen wird!« bekräftigte Sebastian mit lauter Stimme.
»So sind eure Reden von der unbesiegbaren Kampfkunst nur leere Worte gewesen?« fragte einer der umstehenden Kohortenführer mit mehr Aufsässigkeit, als Mut.
Sebastian wollte kontern, doch Antarona kam ihm zuvor. Ihr Blick sprühte dem Mann blankes Feuer entgegen. Gefährlich ruhig verkündete sie:
»Sorgt dafür, dass ihr und eure Männer bereit sind! Sonnenherz wird da sein, wenn der Thron Talris am höchsten steht!« Damit zog sie zwei der stumpfen Holzschwerter aus dem Bündel Übungswaffen und verschwand wieder hinter dem Felsen.
Sebastian stand mit einem Problem vor seinen Soldaten. Er konnte in Antaronas Namen keinen Rückzieher mehr machen, ohne ihre und seine eigene Autorität in Frage zu stellen. Ebenso wenig konnte er zulassen, dass drei schwergewichtige Männer seiner zierliche Frau durch einen dummen Zufall die Knochen im Leib brachen.
Den Dickkopf Antaronas, den er stets heimlich bewunderte, verfluchte er nun. Warum konnte sie sich nicht wenigstens dieses eine Mal zurücknehmen? Nun musste er versuchen, selbst die Kontrolle über diesen Übungskampf zu gewinnen, um im Notfall rechtzeitig einschreiten zu können.
»Herr, da ist noch etwas...« meldete sich Hetarus zurückhaltend, als ahnte er, dass sich sein Feldherr mit einer großen Sorge herumschlug.
»Wir haben noch einmal den Gefangenen mitgebracht. Während der schlafenden Sonne hatten wir ihn im Zelt des Kohorten.., verzeiht, des Heerlagerführers verhört, jedoch nichts aus seinem Munde erfahren können«, teilte ihm der frisch gebackene Kommandant mit.
»Bindet ihm Hände und Füße und setzt ihn an den Felsen, dort, wo wir ihn sehen können«, befahl Sebastian gereizt. »Sonnenherz wird sich nachher mit ihm befassen und glaubt mir, dann wird es aus seinem Munde sprudeln, wie aus einer ergiebigen Quelle.«
Zwei Kohortenführer fesselten den Spion und zerrten ihn nicht gerade zimperlich zu den Felsen hinüber, während Thorbald, Arnhold und jener Kohortenführer mit der wagemutigen Stimme begannen, sich auf den Schaukampf vorzubereiten.
Sebastian wollte die Zeit nutzen und Antarona aufsuchen. Doch als er auf die Schattenseite der wild übereinander gelagerten Steinblöcke kam, fehlte von ihr jede Spur. Nantakis steckte in der kleinen Grotte, ebenso ihr Bogen und die Pfeile, sowie der große Dolch.
Also hatte sie nur die beiden Holzschwerter mitgenommen. Aber wohin war sie gegangen? Hatte sie sich zum Bach begeben, um sich noch einmal zu erfrischen? Oder wollte sie einfach nur allein sein, um ihre Gefühle zu beruhigen, um sich auf den Kampf zu konzentrieren? Möglicherweise war sie auch nur seinen Vorwürfen ausgewichen?.
Basti musste zugeben, dass er sie mit der Absicht aufsuchen wollte, ihr Vorhaltungen zu machen, weil sie sich wieder einmal in Gefahr brachte. Freilich wusste er, dass Vorwürfe weder zu ihrem Sieg beitragen, noch ihre Stimmung zu heben vermochte. So war es vielleicht besser, sie im Augenblick in Ruhe zu lassen.
Zurück auf dem Übungsplatz stellte er fest, dass Antaronas Kontrahenten bereits Aufstellung genommen hatten. Sie trugen nur ihren leichten Waffenrock ohne Kettenhemd und hatten sich mit den Holzschwertern bewaffnet.
Dennoch war Sebastian nicht ganz wohl zumute. Die Angst vor einer Eskalation des Schaukampfes ließ ihn nicht mehr los. Wieder war er hin und her gerissen von seinem eigenen Zwiespalt, einerseits zu wissen, dass er Antarona nicht in eine Museumsvitrine stellen konnte, andererseits sie ständig beschützen, und von allen Gefahren abschirmen zu wollen.
Wie am Tag zuvor, ließ Antarona die Krieger warten. Die Sonne hatte den Zenit längst überschritten, doch von dem Krähenmädchen zeigte sich nicht eine Haarsträhne. Sebastian und Thorbald nutzten die zeit, um das Gras auf dem Übungsplatz erneut niederzudrücken und die Kreisform zu erneuern. Das dauerte eine gute halbe Stunde.
Als Antarona danach noch immer nicht auftauchte, wurden die drei Krieger ungeduldig. Sebastian aber ahnte schon, was kommen würde. Antarona war bereits da. Sie konnten sie nur nicht sehen. Er war sicher, dass sie sich ganz in der Nähe im Gras verborgen hielt, und eine gute Gelegenheit zum Angriff abwartete. Fast konnte er sie riechen.
Aber selbst er, der ihre Taktik inzwischen gut kannte, vermochte nicht zu sagen, wo genau sie sich verborgen hielt. Ihre Fähigkeit, sich ungesehen und ungehört anzuschleichen, verblüffte ihn immer wieder. Natürlich tat er, als wartete er ebenso gespannt auf das Erscheinen des Krähenmädchens, wie ihre Kampfpartner.
Die drückende Hitze lastete auf allen Gemütern, besonders aber machte sie den Kriegern zu schaffen, die ihre Anspannung kaum noch kontrollieren konnten. Probehalber hieben sie ihre Schwerter einige Male um sich, und Sebastian fragte sich, warum die Luft bei dieser Temperatur nicht sofort in Scheiben ins Gras fiel.
Auf einem Mal kamen aus der Richtung des Felsens zwei Schatten auf den Übungsplatz zugeflogen. Zwei Schwarzvögel, die über die grasebene flogen, waren an sich nichts Besonderes. Doch diese beiden flogen so dicht an den Köpfen der wartenden Krieger vorbei, dass diese sich verwundert umsahen und die Vögel mit ihren Blicken verfolgten.
Sebastian wusste, dass Antarona nur darauf gewartet hatte. Wie ein Blitz kam etwas Grünes aus dem Gras hervorgeschossen. Thorbald, Arnhold und Urtas, der junge, vorlaute Kohortenführer sahen es nicht, denn sie blickten immer noch Tekla und Tonka nach.
Als ihnen gewahr wurde, dass etwas auf sie zu kam, war es bereits zu spät. Antarona fuhr zwischen sie und hieb mit beiden Schwertern gleichzeitig zu, erwischte Thorbalds und Arnholds Kniekehlen, so dass die beiden auf der Stelle wie gefällte Bäume einknickten. Antaronas spezieller Schwertstreich, den sie so vorzüglich beherrschte!
Urtas war indes zu keiner Reaktion fähig. Entgeistert starrte er auf das unbekannte, grüne Wesen, das sich abrollte und augenblicklich, wie von einer Sehne geschnellt, auf ihr zuraste. Auch Sebastian konnte zunächst nur schwer erkennen, was zwischen den kräftigen Männern herumwirbelte.
Es war Antarona, keine Frage, er erkannte sie schließlich an ihrer schwarzen Mähne. Doch ihr ganzer Körper schien unbekleidet und von einem grünen Lack überzogen, so dass sie vor dem Hintergrund des Grases kaum auszumachen war.
Bevor Urtas sie als menschliches Wesen identifiziert hatte, schlug ihr Holzschwert mit voller Wucht gegen seinen Hals. Er röchelte, begann fürchterlich zu husten und sackte auf der Stelle nach Atem ringend zusammen.
Mittlerweile hatten sich Thorbald und Arnhold wieder hochgerappelt und parierten einen neuen Angriff des Krähenmädchens. Mit der Wucht ihres Sprungs schmetterte sie die beiden Schwerter mit ihren eigenen Holzklingen zu Boden und flog wie der Wind über das Hindernis.
Sie war leicht, wendig und schnell, ein Vorteil, den sie schamlos ausnutzte. Doch die beiden Krieger ließen sich nicht mehr an der Nase herumführen. Sie drehten sich ruhig um und erwarteten Antaronas nächste Attacke. Gleichzeitig kam Urtas wieder hoch, taumelte noch etwas, aber stand fest auf dem Boden.
Antarona nahm Anlauf und sprang nach bewährter Methode zwischen Thorbald und Arnhold hindurch, um im Sprung ihre Schwertstreiche anzubringen. Doch die beiden waren nun darauf vorbereitet, parierten ihre Hiebe und ließen sie ins Leere fliegen. Urtas aber, der scheinbar neben dem Geschehen stand, holte zur gleichen Zeit aus und hieb Antarona schonungslos und mit solcher Kraft sein Holzschwert in die Taille, dass sie aus der Bahn flog und mit lautem Stöhnen seitlich hinschlug.
Der Hieb musste ihr den Atem geraubt haben, denn bei dem Versuch, wieder auf die Füße zu kommen, sackte sie seitlich zusammen. Auf diese Gelegenheit hatten die drei Krieger nur gewartet. Mit einem triumphalen Grinsen in den Gesichtern warfen sie ihre Schwerter achtlos zur Seite und gingen auf das scheinbar hilflose Krähenmädchen zu.
Beschämt hielt sich Sebastian die Hand vor Augen. Das wars! Die drei würden sie nun packen und sie ihm wie eine apportierte Beute vor die Füße legen. Damit hatte sich die Idee, Torbuks Armee mit einer ganz neuen, ausgefallenen Kampftechnik zu begegnen, erledigt!
Gerade wollte er sich zwischen Antarona und die Krieger stellen, um den Kampf für entschieden zu erklären. Er konnte es nicht ertragen, Antaronas Niederlage mit ansehen zu müssen. Doch bevor Sebastian einschreiten konnte, waren hatten die Krieger sie umstellt.
Sechs kräftige Arme griffen zu. Die Männer bemühten sich, das besiegte Krähenmädchen so zu behandeln, dass sie Areos keinen Anlass zu Vorwürfen gaben. Und zunächst sah es so aus, als hätten sie mit Antarona ein kraftloses, wehrloses Geschöpf in ihrer Gewalt.
Doch plötzlich entglitt Antaronas Körper ihrer Gewalt. Wie eine nasse Schlange wand sich das scheinbar überwältigte Mädchen ohne Mühe aus ihren Griffen, als besaßen ihre Gegner keine Kraft mehr in ihren Händen. Völlig überrascht versuchten die drei sie wieder zu fassen zu bekommen, doch ihre Hände rutschten einfach an ihrer Haut ab, behielten nur schmieriges Gras zwischen den Fingern.
Antarona jedoch rollte sich ab, sprang wieder auf die Beine, als wäre sie niemals niedergestreckt worden, und griff sich eines der langen Übungsschwerter ihrer Gegner. Mit beiden Händen umfasste sie den Griff und hieb zunächst Urtas die abgerundete, hölzerne Klinge mit voller Wucht gegen den Hals. Der Krieger taumelte zur Seite, brach mit einem grunzenden Laut zusammen und blieb regungslos liegen, wohin er gefallen war.
Sebastian nahm in diesen Sekunden einen Geruch wahr, den er bereits kannte. Es war der Duft des Öls, mit dem sich Antarona schon einmal eingerieben hatte, um ihn zu verführen. Nun fand diese Substanz offenbar eine andere Anwendung. Sie machte die Haut aalglatt und die Kriegerin für grobe Männerhände unangreifbar.
Aus der Bewegung heraus wirbelte das Krähenmädchen herum. Sie ließ Thorbald und Arnhold keine Chance mehr. Die beiden versuchten an eines der fortgeworfenen Schwerter heran zu kommen, aber Antaronas Hiebe hagelten in so rascher Folge auf sie ein, dass ihnen nichts anderes übrig blieb, als nur noch schützend die Arme über ihre Köpfe zu heben.
Antaronas Attacken trafen ihre Arme, ihre Rücken, und zuletzt ihre Kniekehlen. Ohne zu einer weiteren Gegenwehr fähig, knickten die beiden Männer nacheinander ein und lagen schließlich hilflos neben ihrem gefallen Kameraden. Demonstrativ hielt ihnen Antarona die Spitze ihres Schwertes in den Nacken.
Das Blatt hatte sich überraschend gewendet. Drei ausgewachsene, junge Männer waren von einem kräftemäßig unterlegenen Mädchen besiegt worden!
Schwer atmend stand Antarona zwischen den stöhnenden Gegnern, die sich noch vor einer Minute so siegreich wähnten. Das Gras, mit dem sie sich getarnt hatte, und das ihr ein grünes Äußeres verliehen hatte, war teilweise von ihrem Körper abgefallen und gab ihre Körperpartien preis, die wie lackierte Bronze in der Sonne glänzten.
»Nun, ihr habt gesiegt, Sonnenherz«, ergriff Hetarus das Wort, nachdem er sich gedanklich von dem beeindruckenden Schauspiel erholt hatte, »doch verzeiht, aber ohne diese Hinterlist mit dem glitschigen Saft irgendwelcher Früchte wäret ihr verloren gewesen. Zudem hätte euch der Streich in die Seite mit einem echten Schwert kaum erlaubt, euch noch einmal zu erwehren, nicht wahr?« Bevor Antarona selbst antworten konnte, mischte sich Sebastian ein:
»Verzeiht ihr, Hetarus, aber die Verwundung wäre nicht unbedingt tödlich gewesen«, verteidigte er Antarona.
»Und was jene Hinterlist angeht, mit welcher Sonnenherz nicht mehr zu greifen war, so muss ich euch folgendes sagen. Wenn ihr mir versichern könnt, Hetarus, dass Torbuks Soldaten ohne jede Hinterlist kämpfen werden, so will ich mich geschlagen geben, und diesen Kampf zugunsten eurer Krieger entscheiden. Vermögt ihr das nicht, so solltet ihr zugeben, dass eure Krieger unterlegen waren.«
Sebastian beobachtete Hetarus genau und erkannte die Unsicherheit, die in sein Gesicht geschrieben stand. Freilich vermochte er nicht zu garantieren, dass der Erzfeind Falméras fair kämpfen würde, sollte es zu einer Schlacht kommen.
Mit einer inneren Ruhe und Sicherheit, die den neuen Heerlagerführer in Erstaunen versetzte, schritt Antarona plötzlich auf ihn zu und warf das Schwert achtlos beiseite. Dicht vor ihm blieb sie stehen, nahm Öl und Gras von ihrem Körper und wischte es dem verdutzten Mann auf den Kriegsrock.
»Siegreich werden all jene sein, welche nicht nur mit ihren Armen und Beinen zu kämpfen vermögen, sondern jene, welche auch ihren Geist benutzen!« sprach sie mit fester, herausfordernder Stimme.
Dann wandte sie sich seelenruhig um, ohne eine Antwort abzuwarten, ging zurück in das hohe Gras jenseits des Übungskreises, woher sie gekommen war und entzog sich ihren Blicken von einer Sekunde zur anderen. Wie durch Zauberei, aller Augenmerk lag nur für den Moment eines Lidschlags auf Hetarus Gesicht, war Antarona wie vom Erdboden verschwunden, als hätte es sie nie gegeben.
Das hohe Gras wogte leicht im Wind, monoton, geheimnisvoll. Die üppige Steppe hatte das Krähenmädchen scheinbar verschluckt. Sebastian triumphierte in Gedanken und im Herzen. Seine Frau hatte eine spektakuläre, visuell eindrückliche Demonstration geliefert, die Hetarus und seinen Männern in Erinnerung bleiben, und die Legende von Sonnenherz noch verstärken würde.
»Seid ihr nun überzeugt, Hetarus, oder muss ich dem König berichten, dass seine Heerlager nicht fähig sind, etwas Neues zu lernen?« fragte Sebastian scheinheilig. Er wählte bewusst diesen provokativen Wortlaut, der den Heerlageführer einschüchtern sollte. Seine List schien aufzugehen. Hetarus sah erst beschämt zu Boden, richtete dann aber seinen Blick fest in Bastis Gesicht und sagte:
»Areos, Herr, was immer ihr als Führer aller Heerlager für nötig erachtet, um Falméra und das Volk der Îval zu schützen, Hetarus und seine Kohorten werden euch treu folgen!«
Sebastian nickte zufrieden. Er sah eine Weile zu, wie sich die von Antarona in die Schranken gewiesenen Krieger wieder bemühten aufzustehen, und befahl:
»Nun, dann könnt ihr in eure Heerlager zurückkehren. Ich denke ihr habt noch damit zu tun, einen geeigneten Übungsplatz, größer, als dieser hier, zu bauen, nicht wahr?« Er wartete eine Bestätigung Hetarus erst gar nicht ab, sondern wandte sich an die drei Krieger, die sich gegenseitig das lose Gras aus den Kleidern klopften.
»Thorbald und Arnhold, ihr beide bleibt noch. Urtas, ihr hingegen dürft mit den anderen zum Heerlager zurückkehren. Thorbald wird euch, sobald es an der Zeit ist, lehren, was ihr wissen und können müsst!« Er wartete, bis Urtas sich entfernt und mit den anderen den Rückweg angetreten hatte. Dann wandte er sich Antaronas neuen Schülern zu.
»Ihr könnt zum Bach gehen, und euch säubern. Seid in ein par Zentaren wieder hier am Felsen zu eurer ersten Lektion!« Die beiden nickten dankbar, und trotteten durch das hohe Gras davon.
Der Gefangene hatte bis dahin scheinbar unbeteiligt am Felsen gesessen. Basti wusste aber, dass er das geschehen sehr aufmerksam verfolgt hatte. Seinen Plan, ihn mit einer eindeutigen, warnenden Botschaft zu Torbuk zurück zu schicken, war damit hinfällig.
Jeder Kontakt des Mannes nach Quaronas musste unter allen Umständen verhindert werden. Natürlich war Sebastian klar, dass der neue Kampfstil kaum auf ewig ein Geheimnis bleiben würde, doch war es auch nicht nötig, Torbuk davon aus erster Hand zu unterrichten.
Er musste ihn verhören, versuchen, so viele Informationen, als möglich aus ihm herauszubringen, und ihn dann durch Hetarus in die Himmelsburg überstellen lassen. König Bental und der hohe Rat würden sicherlich erstaunt sein, über den Wandel der Entwicklungen der letzten Tage. Möglicherweise war damit der Beweis für Sebastians Befürchtungen hinsichtlich Oranutu und Quaronas bereits erbracht.
Das Schwert drohend vor sich, ging Basti zu dem Gefangenen hinüber. Sah er ein kurzes Grinsen über dessen Gesicht huschen? Der Spion tat inzwischen wieder völlig unbeeindruckt. Vermutlich meinte er, ruhig auf seine Befreiung warten zu können, da auf Antaronas Drohungen am Vortag ohnehin keine Tat folgte.
»Wie ist euer Name?« fragte Sebastian, indem er sich auf sein Schwert stützte und sich vor ihm hinhockte. Der Mann sagte keinen Ton, grinste Sebastian nur frech an. Basti wiederholte seine Frage mit etwas mehr Ungeduld in der Stimme. Er bekam auch diesmal keine Antwort, nur eine hämische Grimasse.
»Lasst das dämliche Grinsen«, warnte er ihn, »oder es wird euch noch leid tun! Also noch mal: Wer seid ihr, und was habt ihr in dieser Gegend verloren? Was wolltet ihr bei dem Heerlager?« Sebastian wartete einen Moment, bevor er fortfuhr:
»Guter Mann, ihr könnt euch selbst einen großen Gefallen tun, und eine Menge Wohlwollen sammeln, indem ihr euch erklärt. Bleibt ihr weiterhin so starrköpfig, so kann ich euch einen wunderbaren, feuchten und dunklen Platz im tiefsten Kerker der Himmelsburg versprechen, wo ihr meinetwegen verrotten könnt. Also überlegt euch, ob ihr nicht lieber den Mund aufmacht, bevor ich schlechte Laune bekomme!«
»Macht euch nicht die Mühe, Ba - shtie, freiwillig wird er keinen Ton von sich geben!« Antarona war hinter dem Felsen aufgetaucht.
Sie hatte sich ihrer Grasmaskerade entledigt. Ihr Lederschurz klebte nass an ihrer Haut und tropfte. Vermutlich hatte sie am Bach ein Bad genommen. Ihr Erscheinen schien bei dem Gefangenen, der am Vortag noch vor ihr gezittert hatte, keine Furcht mehr auszulösen.
»Überlasst ihn Sonnenherz, und er wird singen, wie ein Vogel in der Stunde der erwachenden Sonne!« schlug sie mit eiskalter Miene vor. Sebastian sah kurz zu dem Gefesselten, stellte fest, dass er völlig gleichgültig tat, und nickte nachdenklich.
»Ja, ich glaube, das sollte ich tun«, stellte er zögernd fest. »Aber ich will dabei sein. Vielleicht sagt er ja doch noch etwas, bevor du ihn in das Reich der Toten schickst!«
Während er sprach beobachtete er den Mann aus den Augenwinkeln. Falls die Angst wieder in ihm aufkeimte, so zeigte er es nicht. War sich dieser Kerl so sicher, von seinen Leuten wieder befreit zu werden? Waren immer noch welche von seinem Kommando am Leben und in der Nähe?
Kopfschüttelnd machte er zu Antarona eine einladende Geste. Er hatte die Nase gestrichen voll davon, sich bei dieser schwülen Hitze auch noch über einen halsstarrigen Gefangenen aufzuregen.
»Mach mit ihm, was du willst, aber lass uns noch einen Augenblick warten. Thorbald und Arnhold sind am Bach, sie werden gleich zurückkommen. Die können gleich etwas lernen!«
Sebastian war sich nicht ganz im Klaren darüber, was er nun erwartete. Fest stand, dass er den Mann zum Reden bringen musste, um Bental zu überzeugen, dass eine Invasion Torbuks bevor stand, und dass zumindest einige Oranuti- Fürsten als Wegbereiter dienten, vielleicht sogar die Initiatoren waren.
Das Überleben der Îval als Volk hing davon ab, ob sie den Spion zum Sprechen bringen würden, oder nicht. Dabei fragte sich Basti, wie weit sie dabei gehen durften. Rechtfertigte das Wohl eines Volkes, die Folter eines Einzelnen, um an Informationen zu gelangen?
Vor einem Jahr hätte die Antwort für den Norddeutschen Handwerker Sebastian Lauknitz festgestanden. Nun verkörperte er Areos, den Thronfolger eines bedrohten Landes, eines vor der Vernichtung stehenden Volkes. Er war derselbe Mensch, derselbe Körper, derselbe Geist. Doch die Säulen seiner Prinzipien wankten.
Wieder stand er vor der Frage, inwieweit eine Regierung das Recht hatte, für das Wohl ihrer Gemeinschaft, für die Sicherheit des Volkes, ein Verbrechen an der Menschlichkeit zu begehen. Antarona kannte gewiss Methoden, dem Mann die Zunge zu lockern.
Sebastian dachte dabei an die Elsirenjäger, denen sie auf dem Weg vom Val Mentiér nach Falméra begegnet waren. Er wusste, dass Antaronas Hass groß genug war, keine Gnade walten zu lassen. Durfte er das in der Rolle als des Königs Sohn zulassen? Konnte er es andererseits verantworten, auf die für die Îval lebenswichtige Information zu verzichten?
Er allein hatte es in der Hand. Eine einsame Entscheidung. Basti erinnerte sich an Bentals Worte, als er ihm erklärte, dass oft unpopuläre Entscheidungen zum Wohl des Volkes nötig waren. Stand er nun selbst vor einer solchen Entscheidung?
Antarona nahm sie ihm ab, als Thorbald und Arnhold vom Bach zurückkamen. Sie zog ihren Dolch und ging zielstrebig auf den Gefangenen zu. Diesem wich augenblicklich das überlegene Grinsen aus seinem Gesicht. Mit Entsetzen sah er den Dolch auf sich zukommen und riss seinen Mund zu einem stummen Schrei auf.
Kaltschnäuzig setzte Antarona ihren Fuß auf seine Schulter und stieß ihn mit der ganzen Kraft ihres Körpers ins Gras. Blitzschnell beugte sie sich über ihn und durchschnitt seine Fesseln. Verdutzt blickte der Mann zu ihr hoch. Er hatte seinen Tod erwartet. Statt dessen hatte ihn die Frau befreit, die noch am Vortag wie eine Irre auf ihn losgegangen war.
Doch bevor er sich die frage stellen konnte, was das Krähenmädchen vorhatte, war sie über ihm und hielt ihm den Dolch an die Kehle.
»Hört zu, Nuk-trin von Quaronas. Ihr werdet jetzt aufstehen, und langsam vor Sonnenherz und Areos her gehen, dort hinüber zum Wald!« ordnete sie mit gefährlich leiser Stimme an.
»Lasst euch einfallen zu fliehen, so werdet ihr Sonnenherz Pfeile in eurem Rücken spüren, welche euch in das Reich der Toten befördern!«
Damit schwang sie ihren Bogen von der Schulter und nahm demonstrativ drei Pfeile in die Hand. Für den gefangenen gab es keine Alternative. Er hatte von seinem Platz am Felsen mit angesehen, wie Antarona drei kräftige Krieger in ihre Grenzen gewiesen hatte. Anschließend wandte sie sich an Arnhold und Thorbald.
»Ihr geht zu beiden Seiten voran, aber haltet Abstand! Sonnenherz wird auf ihn schießen, auch wenn ihr dazwischen steht!« kündigte sie kompromisslos an. Die beiden sahen zu Sebastian, als brauchten sie von ihm eine Bestätigung für Antaronas Anweisung.
Basti nickte nur zustimmend und machte mit der Hand eine auffordernde Geste. Er ließ Antarona freie Hand. Insgeheim hoffte er sogar, dass sich ihr konsequentes Handeln, ihr wildes, unkonventionelles Handeln herumsprach. Er glaubte, je furchteinflößender ihr Ruf war, desto weniger würde versucht werden, sie anzugreifen.
Die schwirrende Hitze lastete über dem Grasland, als sich die kleine Gruppe in Bewegung setzte. In der stehenden Luft fiel selbst das Atmen schwer. Der Gefangene, mit auf den Rücken gefesselten Händen, ging voran, in gebührendem Abstand flankiert von Thorbald und Arnhold. Antarona und Sebastian folgten.
Bei jeder Gelegenheit, wenn der Gefesselte langsamer wurde, oder fast unmerklich versuchte, die Richtung zu ändern, traf ihn unsanft Antaronas nackter Fuß. Sie sagte nichts und ermahnte ihn nicht. Aber blitzschnell hieb sie ihm ihre Ferse in die Nierengegend, so dass er wie von einer Spannfeder getrieben, vorwärts fiel und zusammenklappte. Mühsam musste er sich jedes Mal wieder hochrappeln.
Irgendwann gab er seine Versuche auf, das Krähenmädchen zu provozieren. Vielleicht gelangte er auch zu der Einsicht, dass Antarona ihn bereits zum Krüppel getreten haben würde, wenn sich ihm endlich die Möglichkeit zur Flucht bot.
Alle atmeten erleichtert auf, als sie schließlich in den schattigen Wald eintraten. Das Blätterdach der Bäume schützte sie vor der sengenden Sonne. Dafür vielen die Mücken in Schwärmen über sie her.
Sogleich suchte Antarona nach einer bestimmten Pflanze, die, zwischen den Fingern zerrieben, einen penetranten Geruch nach Zitronengras verbreitete. Damit eingerieben, ließen sich die kleinen, Blut saugenden Plagegeister halbwegs auf Abstand halten. Der Gefangene bekam freilich keinen Mückenschutz.
Einen einzelnen Pfeil in der Hand, mit dessen scharfer Spitze sie ihn traktierte, dirigierte Antarona den Spion durch das teilweise unwegsame Unterholz. Gleichzeitig suchte sie den Boden ab. Offenbar hielt sie nach etwas ganz Bestimmten Ausschau. Unverhofft hielt sie an einer Stelle an, wo der Wald nicht anders aussah, als bisher.
Das Krähenmädchen trat hinter den Gefangenen und löste ihm die Handfesseln. Verwundert wollte er sich zu ihr umdrehen, da schlug sie ihm völlig unvorbereitet in einer plötzlichen Bewegung ihren Bogen in die Kniekehlen. Mit einem Stöhnen sank der Mann zu Boden.
»Fesselt ihn an den Baum«, befahl sie Thorbald und Arnhold knapp. Die beiden griffen dem Überrumpelten unter die Arme, setzten ihn an den Stamm des bezeichneten Baumes und banden ihn mit den Armen nach hinten fest. Antarona sah zu und wies die beiden an, die Lederriemen noch kräftiger anzuziehen, so dass der Gebundene vor Schmerz das Gesicht verzerrte.
Doch dabei ließ sie es nicht bewenden. Sie spreizte ihm die Beine und pflockte seine Füße am Waldboden fest. Sebastian schüttelte zweifelnd den Kopf und fragte sich, wozu dieser Aufwand nötig war. Wenn der Mann nicht antworten wollte, so tat er es eben nicht. Ihn auf diese weise zu fixieren, änderte wohl kaum etwas daran. Aber er irrte sich.
»Fragt ihn noch einmal, was ihr wissen wollt, Ba - shtie«, sagte Antarona mit gleichmütiger Ruhe, »er wird euch nun antworten.« Skeptisch sah Basti seine Frau an. Sie bemerkte seinen zweifelnden Blick und fügte hinzu:
»Er wird euch anflehen, sprechen zu dürfen, wenn ihn der Tod von Mutter Erde ereilt«, verkündete sie geheimnisvoll. »Versucht es nur, ihr werdet es sehen!«
Sebastian zuckte widerstandslos mit den Schultern. Er sah keinen Sinn mehr darin, sich mit dem verstockten Kerl abzugeben, aus dem offensichtlich kein vernünftiges Wort herauszubringen war. Lustlos fragte er den Mann noch einmal nach seinem Namen und nach dem Grund seines Herumschnüffelns in den Heerlagern.
Der Gefangene hatte seine Fassung zurückgewonnen und wähnte sich im kühlen Schatten an den Baum gefesselt sicherer, als am Felsen in der glühenden Sonne. Er grinste Sebastian frech an und sagte:
»Ihr mögt mich töten, aber ihr werdet keines der Worte aus meinem Munde hören, welches ihr euch erhofft!« Antarona ging vor ihm in die Hocke und sah ihm tief und durchdringend in die Augen.
»So, meint ihr?« fragte sie hinterhältig. Dann erhob sie sich in aller Seelenruhe, und holte eine kleine Kürbisflasche aus ihrem Bündel. Wortlos zog sie den Stöpsel heraus und ließ eine transparente, dickflüssige Substanz auf seinen Kopf tropfen. Ein süßlicher Duft verbreitete sich in der warmen Luft.
Ihre Hand mit der Flasche wanderte langsam an seinem Körper herab, zwischen seine Beine, wo sie eine Zeit lang verhielt, bis sich dort eine größere Menge des klebrigen Zeug verteilt hatte. Zuletzt ging sie langsam in das Dickicht hinein, und ließ auf dem Weg Tropfen für Tropfen auf den Boden fallen. Die Zweige teilten sich, schlossen sich wieder, und es schien, als hätten sie das Krähenmädchen verschluckt.
Einen Moment später tauchte sie wieder auf. Sie steckte den ausgehöhlten Kürbis zurück in ihr Bündel zurück, nahm Pfeil und Bogen zur Hand und zielte damit scheinbar wahllos in die Büsche. Mit einem zischenden Laut fuhr der Pfeil durch das Blätterwerk der Büsche und war verschwunden.
Ohne sich weiter darum zu kümmern, hängte Antarona den Bogen an einen Ast, holte aus ihrem Bündel ein Stück Trockenfleisch hervor, und begann wie gelangweilt darauf herum zu kauen. Sebastian holte tief Luft und hob seine Handflächen, zum Zeichen, dass er mit ihrem Verhalten rein gar nichts anfangen konnte.
Thorbald und Arnhold hatten sich etwas abseits auf einen umgestürzten Baumstamm gesetzt, und tuschelten miteinander. Fast hatte Basti das Gefühl, als Zuschauer einer geheimnisvollen Verschwörung beizuwohnen. Eben wollte er Antarona fragen, was diese Spielchen bei diesem schweißtreibenden Wetter sollten, als sie ihn eher gelangweilt fragte:
»Was glaubt ihr, Ba - shtie, wer wird zuerst kommen, die Gal-ná-ròs, oder die Tre-mor-fas?« Sebastian zog, plötzlich aufmerksam geworden, fragend die Augenbrauen hoch. Dem Gefangenen jedoch wich sämtliche Farbe aus dem Gesicht.
Tre-mor-fas waren eine Ameisenart, die sich von allem ernährte. Sie fraßen Früchte und Blätter ebenso wie Fleisch. Sebastian hatte einmal in Falméra gehört, dass einem Bauern ein gesundes Kalb von Tri-mor-fas in einer nacht bis auf das Skelett abgenagt wurde. Diese Tiere griffen kein Lebewesen an, das größer als ein Hund war. Doch wenn sich ihr Lebendfutter nicht wehren konnte...
Die Gal-ná-ròs, eine Art aggressiver Wespen, brauchten keinen besonderen Grund, außer jenem, gestört zu werden, um ein Wesen, das um ein vieles größer war, als sie selbst, anzugreifen und zu töten. Wohin Antaronas Pfeil geflogen war, wusste Sebastian nicht. Doch was immer der auch gereizt haben mag, es würde nicht allzu lange auf sich warten lassen, und der verführerischen Spur folgen, die das Krähenmädchen mit der dickflüssigen Substanz gelegt hatte.
Das war inzwischen wohl auch ihrem Spion klar geworden. Er schien sich mit einem Mal extrem unwohl in seiner Haut zu fühlen, wand sich, soweit es die Fesseln zuließen, hin und her, und sah sich mit vor Angst weit aufgerissenen Augen hektisch um.
Basti erkannte die Möglichkeit, die seine panische Angst ihnen bot, doch noch etwas über seinen Auftrag zu erfahren. Und er hatte keine Skrupel, die Situation auszunutzen. Er hockte sich vor den Mann hin, wie zuvor Antarona, und sah ihm bedeutungsvoll in die Augen.
»Nun hört mal gut zu«, begann er heuchlerisch, fast freundschaftlich anmutend, »ich weiß nicht, welches Viehzeug Antaronas Pfeil geärgert hat. Aber eines weiß ich. Dass es wohl nicht lange dauern wird, bis sich die kleinen Krabbler einstellen, um nachzusehen, wer sie gestört hat, und woher der süße Sirup kommt.«
Genüsslich nahm Sebastian etwas von der klebrigen Flüssigkeit mit dem Finger auf, und kostete, bevor er verschwörerisch fortfuhr:
»Was meint ihr, regt das Zeug ihren Appetit auf frisches Fleisch an, oder nicht? Eine interessante Frage, nicht wahr? Aber noch interessanter ist vielleicht, ob sie darüber verärgert sind, dass sich so ein großes Wesen, wie ihr es seid, erdreistet, ihnen das süße Zeug streitig zu machen. Was glaubt ihr, was passieren wird, na?«
Fragend sah er den Gefangenen mit einem viel zu freundlichen Lächeln an. Dann zuckte er gleichgültig mit den Achseln, als ginge es ihn das alles gar nichts an.
»Ihr könnt natürlich auch kundtun, dass ihr uns etwas erzählen wollt, das unsere Neugier befriedigt. In diesem Fall könnten wir euch natürlich die Fesseln abnehmen, damit die Tre-mor-fas nicht unsere Unterhaltung stören. Und ehrlich gesagt, solch riesige Viecher, wie hier, habe ich noch nie zuvor gesehen...«
Noch bevor er den Satz ganz zuende gesprochen hatte, spie der Gebundene hasserfüllt und angewidert vor Sebastians Füße.
»Nichts erfahrt ihr von mir, gar nichts!« herrschte er ihn an. »Kann man nicht mal in Ruhe im Wald nach Pilzen suchen, ohne von den räudigen Hunden eines unrechtmäßigen Königs entführt zu werden! Sitten sind das... Mit speichelleckenden Kriechern eines unfähigen, greisen Möchtegernkönigs rede ich erst gar nicht!«
»Nun, das steht euch frei«, antwortete Sebastian scheinbar gelassen. »Wenn ihr in Ruhe gelassen werden wollt, so kann ich euch diesen Wunsch gern erfüllen!« Zu Antarona gewand sagte er:
»Ich denke, von dem können wir nichts mehr erwarten. Lassen wir ihn hier, der belastet uns nur. Mir steht jetzt eher der Sinn nach frischem, kalten Wasser. Lass uns zum Bach gehen, und dort die Hitze der wandernden Sonne abwarten!«
Damit sammelte er seine Waffen auf, und auch Thorbald und Arnhold nahmen ihre Ausrüstung auf und machten sich bereit zu gehen. Antarona trat noch einmal vor den Gefangenen, der wohl annahm, sie würde ihn zum Abschied von den fesselnden Riemen befreien. Doch sie sah ihn nur mitleidig an und sprach:
»Ihr seid so töricht, Mann von Quaronas! Der König, welchen ihr so verachtet, hätte euch gut leben lassen, wenn ihr euch ihm zugetan hättet. Nun wird sich das Gewürm von Mutter Erde um euch kümmern. Sonnenherz hört sie bereits kommen, die kleinen Geister des Waldes, welche das vertilgen, was das Land beschmutzt!«
Ohne ihn weiter zu beachten, wandte sie sich ab, folgte Sebastian und den Kriegern, verschwand im Gewirr der dicht stehenden Bäume. Zurück blieb ein starrsinniger Gefolgsmann Torbuks, dem noch nicht ganz klar geworden war, dass er offenbar sein eigenes Todesurteil besiegelt hatte.
Antarona, Sebastian und die beiden Krieger entfernten sich gerade mal außer Sichtweite des Zurückgelassenen. Hinter dichtem Buschwerk ließen sie ihre Bündel fallen und warteten lauschend.
Nach ein par Minuten schob sich Antarona kriechend von der Seite her durch das Dickicht, bis sie den Gefangenen sehen konnte. Sebastian folgte ihr, legte sich neben sie und beide beobachteten sie seinen Versuch, sich aus den Fesseln herauszuwinden, was ihm nicht gelang.
Er versuchte die Füße zu drehen, um zumindest die Fußfesseln zu lockern, doch Antarona hatte sie so festgezogen, dass sie ihm nur ins Fleisch schneiden mussten. Ein par Atemzüge später gab er es auf. Offenbar lauschte er und hoffte, dass sich nicht vielleicht doch noch einer seiner Mordgesellen in der Nähe herumtrieb.
Plötzlich aber erstarrte er. Sogar auf diese Entfernung war zu erkennen, wie die Farbe aus seinem Gesicht wich. Kurz darauf begann er wie wild an seinen Fesseln herumzureißen, wand und drehte sich wie ein Irrer im Fieberwahn, soweit es seine eingeschränkte Bewegungsfreiheit zuließ.
Der Grund dafür trieb sogar Basti einen Schauer des Schreckens über den Rücken. Ein schwarzes Insekt, etwa so groß wie eine Kinderfaust, und mit dem Aussehen einer Ameise, krabbelte über den Waldboden, huschte auf jener Spur entlang, die Antarona mit dem unbekannten Sirup gelegt hatte.
»Tre-mor-fas, sie kommen!« flüsterte das Krähenmädchen leise in Bastis Ohr, und er musste überrascht zugeben, mit seiner Drohung vor dem Gefangenen, was die Größe dieser Biester anging, nicht übertrieben zu haben.
Es war nur ein einzelnes Tier, doch es jagte dem Gefesselten eine panische Angst ein. Er versuchte an den Lederriemen zu reißen und sie zu lockern, doch das Material gab nicht nach. Inzwischen kam das Insekt immer näher und der Gefangene erstarrte.
Womöglich glaubte er, dass es nicht auf ihn aufmerksam werden würde, wenn er sich still verhielt. Doch Antarona hatte mit ihrem wohlduftenden Saft dafür gesorgt, ihn für Tre-mor-fas interessant zu machen. Als das Tier den Mann erreicht hatte, tauchten am Rande des Gebüschs ein zweites und ein drittes auf.
Wie Espenlaub begann der Gefangene zu zittern, bemühte sich aber krampfhaft, keine Bewegung zu machen. Fast sah es so aus, als versuchte er sogar den Atem anzuhalten. Währenddessen hatte sich eine kleine Gruppe von Tre-mor-fas gebildet, die zwischen dem Gebüsch und der Sirupspur geschäftig hin und her eilten. Welch große Beute da wehrlos in einiger Entfernung auf sie wartete, hatten sie offensichtlich noch nicht erkannt.
Indes ließ das einzelne Insekt von Torbuks Mann ab und widmete sein Interesse scheinbar wieder dem Waldboden. Man konnte es bis zu Antaronas und Bastis Versteck hören, wie der Gepeinigte hörbar erleichtert ausatmete.
Das blanke Entsetzen packte ihn aber erneut, als er sah, dass nun eine ganze Reihe der gefräßigen Tiere auf ihn zu krabbelten. Ohne zu zögern, oder sich orientieren zu müssen, folgten sie zielstrebig der süßen Spur und erreichten nur Sekunden später ihr vermeintliches Opfer.
Emsig sammelten sie den von Antarona vergossenen Sirup vom Schoß des Gefesselten, und trugen ihn zurück ins Gebüsch. Jedoch erschienen immer mehr dieser unangenehmen Krabbeltiere, um sich der dargebotenen Süßigkeit zu bedienen.
Je mehr Tre-mor-fas aber auf dem Waldboden auftauchten, desto wilder und panischer zerrte der Gefangene an seinen Fesseln. Je heftiger er sich aber bewegte, desto mehr dieser großen Ameisen kamen aus dem Unterholz hervor. Nach kurzer Zeit wimmelte der Waldboden von den Tieren, die mittlerweile wie auf einer Straße zur Quelle ihrer Nahrung unterwegs waren.
Als die ersten Tiere in des Gefangenen Hosenbeinen verschwanden, verlor dieser völlig die Beherrschung. Er strampelte und versuchte sich zu drehen, konnte sich aber dennoch kaum einen Zentimeter bewegen.
Die Tre-mor-fas aber fühlten sich nun bedroht, und begannen zu zwicken, zu beißen, und ein Sekret auszuscheiden, das wie glühende Kohle auf der Haut brannte. Der Mann brüllte und schrie wie am Spieß, man möge ihm doch zu Hilfe eilen.
Schon wollte Sebastian hinübergehen, und ihn aus seiner misslichen Lage befreien, doch Antarona hielt ihn zurück.
»Lasst ihn noch ein wenig Schmerzen kosten, Ba - shtie, er muss begreifen, dass er ohne das Wohlwollen von Glanzauge und Sonnenherz verloren ist!« Sie lag still in der Deckung der Sträucher, auf dem Bauch, die Füße entspannt verschränkt, das Kinn auf ihre übereinander gefalteten Hände gelegt, und beobachtete ungeniert.
Inzwischen tummelten sich die Insekten auf dem ganzen Körper des feindlichen Reiters. Sie krochen unter sein Hemd, verschwanden in seiner Hose, und versuchten in seine Mundhöhle zu gelangen. In nackter Angst presste er die Lippen aufeinander, was aber zur Folge hatte, dass er nicht mehr lauthals um Hilfe rufen konnte. Einige Tre-mor-fas versuchten seine Augen anzugreifen, indem sie ihm mit den kräftigen Zangen in die Lider zwickten und ihre brennende Flüssigkeit verspritzten.
Die Biester fingen nun an, ihn bei lebendigem Leib aufzufressen, bissen kleine Stücken Fleisch aus seinen ungeschützten Waden und Armen. Aber erst, als sie begannen, auch sein Gesicht zu malträtieren, und er nur noch ein hilfloses Wimmern von sich gab, meinte Antarona ungerührt:
»Wenn ihr wollt, könnt ihr ihn ja jetzt los machen!« Sie selbst blieb mit einer Kaltschnäuzigkeit im Gebüsch liegen, die ihren ganzen inbrünstigen Hass auf Torbuk und Quaronas beschrieb.
Sebastian wollte aufspringen und dem Gefangenen zu Hilfe eilen, doch das Krähenmädchen hielt ihm ein Büschel Kräuter hin.
»Hier, Ba - shtie, reibt damit eure Beine und Arme ein, sonst fallen die Geister der Erde auch über euch her!« Schnell tat Basti, wie ihm geheißen, und rieb mit dem nach Zitronengras riechenden Kraut seine Haut ein. Er zog sein Messer, schritt auf den Gefesselten zu und schnitt ihm die Lederbänder durch.
Sofort sprang er in die Höhe, nahm das Kraut, das Basti ihm entgegen hielt, und wischte sich in Panik die Quälgeister vom Körper, die sich an ihm festgebissen hatten. Dabei vollführte er einen wilden Tanz, der an den Elsiren- Feuern sicher für eine neue Revolution gesorgt hätte.
Die Tre-mor-fas, ihres Leckerbissens beraubt, krabbelten in einem heillosen Durcheinander herum, als suchten sie ihr Opfer, da sie sonst verhungern müssten. Torbuks Spion hatte sich kaum beruhigt, da war auch schon Antarona zur Stelle, und band ihm mit flinken Händen wieder die Arme zusammen. Dann stieß sie ihn mit ihrer ganzen Verachtung zu Boden.
»Dies lasst euch sagen! Ihr verdankt es Areos von Falméra, dass ihr noch lebt. Hätte Sonnenherz zu entscheiden gehabt, so wären eure Gebeine von den Tre-mor-fas abgenagt worden und die Reste in der Sonne ausgebleicht liegen geblieben. Wagt es, Areos nur eine falsche Antwort zu geben, so wird euch dieses Schicksal dennoch ereilen, dies verspricht euch Sonnenherz!«
Antarona wartete, bis Sebastian bereit war, den Gefangenen zu verhören. Dann zog sie sich in den Hintergrund zurück, wartend, mit prüfendem Blick, jederzeit bereit, dem Delinquenten einen Pfeil in den Leib zu jagen, sollte dieser sich ungebührlich benehmen. Dem Gefangenen indes entging nicht die lauernde Haltung, mit dem ihn das Krähenmädchen beobachtete.
»Ich stelle euch die Fragen nur einmal«, begann Sebastian freundlich, während er zusah, wie der Mann seinen von kleinen Wunden übersäten Körper betrachtete.
»Überlegt euch also sehr gut, wie ihr antwortet. Noch einmal werde ich Sonnenherz nicht davon abhalten, euch langsam von den Tre-mor-fas auffressen zu lassen, merkt euch das!« Basti nickte, um seine Worte zu unterstreichen, und fuhr dann fort:
»Also antwortet auf meine Fragen, und ich kann euch versichern, dass ihr euren Kopf behalten werdet. Zuerst möchte ich euren Namen wissen, und was ihr dort oben bei den Heerlagern zu suchen hattet. Und erzählt mir nicht, dass ihr nur Pilze gesucht habt, das glaubt euch niemand mehr!«
Der Gefangene zögerte, als befürchtete er, von einer unsichtbaren Macht niedergestreckt zu werden, wenn er Areos seine Identität Preis gab. Schließlich sah er wohl ein, dass es zwecklos war, zu schweigen, wenn er an Leib und Leben unversehrt bleiben wollte.
»Wenn ihr mir garantiert, dass ich ein trockenes, gut belüftetes Verlies bekomme, genug zu Essen und zu Trinken und dass ich einmal am Tag ins Freie darf, so will ich euch sagen, was ihr zu wissen wünscht« antwortete der Mann, gemessen an seiner Situation mit einiger Kühnheit.
Sebastian sah ihn etwas verwundert an, blickte kurz zu Antarona hinüber, die ein eindeutiges Zeichen machte, wie man mit Verrätern verfahren sollte, und sagte nicht ganz ohne Belustigung:
»Nun, ich glaube nicht, dass ihr euch in der Lage befindet, Forderungen zu stellen. Ich bin nicht der König und kann euch folglich nichts versprechen. Doch sollt ihr sehen, dass Areos von Falméra kein Mann ist, der sein Wort bricht, wie jener, den ihr als König von Quaronas anseht. Wenn ihr die Wahrheit sprecht, und diese auch vor dem Rat von Falméra bezeugen wollt, so werde ich mich für euch verwenden und es soll euer Schaden nicht sein!«
Der Gefangene sah mit zusammengekniffenen Lippen zu Boden, als überlegte er, welch frevelhaften Verrat er gegenüber seinem Herrn beging. Dann sah er sich kurz um, fixierte jene Stelle, an der er eben noch angebunden war, und stellte fest, dass die Tre-mor-fas noch immer ziellos umher liefen, und ihr geraubtes Opfer suchten. Die Aussicht, noch einmal mit ihnen Bekanntschaft zu machen, ließ ihn endlich gesprächig werden.
»Wir waren zwölf, und sind mit einem Wasserwagen der Oranutis nach Falméra gekommen«, gestand der Mann. Sebastian gebot ihm, sich zu setzten und winkte Antarona heran. Die beiden Krieger wies er an, die Umgebung zu sichern, denn er konnte sich ausrechnen, dass sich noch zwei, oder drei dieser Spione auf Falméra herumtrieben.
»Wie ist euer Name, und was tut ihr, wenn ihr nicht um fremde Heerlager herumschleicht, oder Frauen überfallt?« wollte Sebastian wissen. Der Spion riss die Augen auf und sagte schnell:
»Damit habe ich nichts zu tun, Herr. Das waren andere, die ich nicht kenne. So etwas würde ich niemals...
»Natürlich nicht«, unterbrach ihn Sebastians Sarkasmus verächtlich, »aber ihr wusstet davon, nicht wahr? Dann erzählt mir doch mal, welche Aufgabe euch zugedacht war.«
»Ich sollte herausfinden, welcher Art die Heerlager sind, und wie stark die Einheiten sind. Aber mit der Entführung von Sonnenherz, der Kriegerin aus dem Val Mentiér, habe ich nichts zu tun!« wiederholte er ängstlich. Sebastian nickte nur nachdenklich.
»Entführung, ja? Das hatte ich mir fast gedacht. Nun, wie ihr seht, waren eure Gesellen ebenso erfolglos, wie ihr. Wer seid ihr, dass ihr glaubt, mit fünf Mann jene Kriegerin entführen zu können, welche im Kampf getrost zehn von euch aufwiegt? Wie ist euer Name?« bohrte Basti nach. Der Mann hob kurz die Schultern, als hätte er in diesem Augenblick mit Torbuk abgeschlossen und sagte:
»Ich bin Harlund von Gorenstein, Herr, aus der zehnten Kohorte der Reiterei von Karek, dem Sohn des Torbuk von Quaronas. Ich wurde für diese Aufgabe auserwählt, weil ich mich unbemerkt anschleichen kann.«
Sebastian setzte ein teils belustigtes, teils mitleidiges Lächeln auf. Er blickte kurz zu Antarona hinüber, die scheinbar teilnahmslos da saß und wandte sich wieder Harlund zu.
»Nun, wie ihr seht, hat eure Gabe für das Heerlager des Areos, Sohne des Bental von Falméra nicht ganz gereicht. Meine Leute haben euch dennoch aufgespürt!«
»Aber nur, weil sich einer an jenem Strauch erleichtern wollte, in welchem ich mich verbarg!« entgegnete der Spion fast beleidigt.
»Wie auch immer«, fuhr Sebastian fort, »Sonnenherz sollte also entführt werden, ja? Dann verratet mir doch mal, welches Interesse hat ein so großer Heerführer wie Torbuk an einer kleinen, schmächtigen Kriegerin, die nicht einmal eine Armee hinter sich weiß. Warum ist Sonnenherz so wichtig für ihn, könnt ihr mir das sagen?«
Sebastian wollte herausbekommen, wie viel Torbuk möglicherweise von Antaronas wahrer Herkunft wusste, oder ahnte. Doch er glaubte nicht, dass ihm Harlund in dieser Sache die Wahrheit sagen würde. Doch der, von den Tre-mor-fas offenbar mehr eingeschüchtert, als angenommen, überraschte mit seiner klaren Antwort:
»Herr, Karek und Torbuk glauben, dass das Volk des Val Mentiér schneller zu unterwerfen ist, wenn jene nicht mehr unter ihm ist, welche zum Widerstand aufruft, und welcher die Menschen des Val Mentiér folgen. Torbuk wollte Sonnenherz lebend auf dem Marktplatz von Quaronas an den Pranger stellen. Das hätte den Widerstandswillen des Tals endgültig gebrochen, und selbst die noch hadernden gefügig gemacht. Torbuk hätte dadurch viele Zentaren eingespart.«
Antarona hatte sich bei der Beichte Harlunds immer mehr gestreckt und Basti befürchtete schon, sie könnte dem Gefangenen an die Kehle springen, und ihm das Lebenslicht auspusten, bevor er ihm alle Antworten auf seine Fragen entlockt hatte. Aber das Krähenmädchen besann sich, blieb ruhig, und vertraute auf die Verhörkunst ihres Mannes.
»Nun, ich denke ich weiß, weshalb Torbuk die Zentaren davon galoppieren, doch sagt ihr es mir, aber lügt mich nicht an!« ermahnte Basti den Mann.
»Überlegt euch gut, was ihr mir erzählen wollt! Bedenket wohl, dass ich bereits einen zuverlässigen Mann ausgesandt habe, der Torbuks Absichten auskundschaften soll. Kommt er mit einer anderen Nachricht zu mir, als ihr mir glauben machen wollt, so werden die Tre-mor-fas doch noch zu ihrem Mahl kommen, dessen seid gewiss!«
Unmerklich schielte Harlund aus den Augenwinkeln zu den Insekten hinüber, die sich allmählich wieder beruhigten, aber immer noch zu Tausenden den Waldboden absuchten.
»Niemand von uns weiß etwas genaues, aber in den Spelunken und Kaschemmen, in denen Krieger und Reiter verkehren, wird in heimlichen Winkeln erzählt, dass Torbuk mit den Oranuti einen Angriff auf Falméra plant. Er kann es nicht riskieren, dass ihm unbekannte Kräfte aus dem Val Mentiér dabei in den Rücken fallen. Deshalb braucht er für das Val Mentiér eine schnelle, klare Entscheidung.«
Zustimmend nickte Sebastian. Er glaubte, was Harlund offenbarte, denn es deckte sich mit seinen eigenen Überlegungen hinsichtlich einer Invasion Torbuks Truppen mit der Hilfe von Oranuti- Schiffen.
Anscheinend bewertete Torbuk die Gefahr, welche von den Dörfern des Val Mentiér ausging, unverhältnismäßig zu hoch. Das mochte nicht zuletzt Antaronas und Arraks Verdienst sein, die mit ihren Attacken kontinuierlich Stoßtrupps und Aufklärungstrupps Torbuks dezimiert hatten.
Doch gerade dieses Fehlurteil Torbuks konnte für Falméra die entscheidende Frist bedeuten, die Bental benötigte, um sich auf eine Invasion genügend vorzubereiten. Dabei mochte jedes Detail, das Sebastian von Harlund als Information bekommen konnte, von entscheidender Wichtigkeit sein.
Eines jedoch stand bereits fest. Antarona nahm in der Planung Torbuks eine nicht unerhebliche Schlüsselrolle ein. Ihr Tod, oder ihre Gefangennahme waren für ihn so wichtig, wie die vollständige Unterwerfung des Val Mentiér.
Torbuk schien zu glauben, dass er den Widerstand der Täler nicht brechen konnte, bevor er das Krähenmädchen, und somit die einzige Hoffnung der Dörfer im Val Mentiér, beseitigt hatte. Dabei wusste er offenbar nicht, wer Sonnenherz, Antarona Holzer wirklich war. Hätte er es gewusst, so hätte die Ergreifung des Krähenmädchens für ihn eine noch höhere Priorität gehabt.
Insgeheim spekulierte Basti, wie Torbuks sich verhalten würde, wüsste er, dass Antarona das Geheimnis der legendären Hallen von Talris kannte, und deren selbst ernannte Hüterin war. Die hassträchtige Energie, mit der er dann ihre lebende Ergreifung betrieben hätte, wäre wohl noch um ein Vielfaches größer gewesen.
»Eure Kriegsgefährten sollten also Sonnenherz entführen«, rekapitulierte Sebastian kurz, und sah den Gefangenen durchdringend an.
»Entführen und nach Quaronas bringen, oder sie töten und Torbuk ihren Kopf bringen«, bestätigte Harlund kopfnickend. Dabei wagte er nicht, Antarona anzusehen. Er rechnete wahrscheinlich damit, dass sie aufsprang und ihm einfach und kompromisslos die Kehle durchschnitt.
»In Quaronas geht das Gerücht um, Torbuk hat auf Sonnenherz Kopf ist eine hohe Belohnung versprochen«, fügte Harlund kleinlaut hinzu. »Dann wurde bekannt, dass sich Sonnenherz in Falméra aufhält, und viele glaubten, sie ohne den Schutz ihrer Wälder, in denen sie sich bisher gut verstecken konnte, leicht töten zu können, um dann in der Gunst Torbuks zu stehen.«
Diese Informationen erstaunten Sebastian wenig. Im Gegenteil, erklärten sie doch die heimtückischen Attentate auf seine Frau. Noch bevor Torbuk sein Kommando losgeschickt hatte, fanden sich offenbar selbst in des Königs Umgebung genug Verräter, die sich ein vielversprechendes Kopfgeld verdienen wollten.
Antarona war also fast überall auf Falméra in Gefahr. Lediglich in den Wäldern, wie Harlund richtig erwähnte, war sie halbwegs sicher. Das Argument, so schnell wie möglich eine Reise nach Mehi-o-ratea zu starten gewann immer mehr an Dringlichkeit.
Unter den vielen jungen Leuten dort, die sich alle mehr oder weniger großer Freizügigkeit erfreuten, mochte sie nicht so schnell als Sonnenherz erkannt werden. Jedwede Gedanken drehten sich dort allein um Liebe und die Elsirentänze. Tagsüber wurde geschlafen, oder im Schatten der Sümpfe geruht, während das Leben erst in den Nächten an den Tanzfeuern erwachte.
Sebastian erkannte, wie lebenswichtig es war, Antarona aus den Zwängen der Burg herauszubringen, wo ihr besonderer Status für jeden augenfällig wurde. Sonnenherz musste in den Wäldern Falméras untertauchen, und erst am Strand von Mehi-o-ratea wieder als gewöhnliches Bauernmädchen in Erscheinung treten!
»Was wisst ihr über die Wasserwagen, die Torbuk jenseits Zarollon, weit im Land der schlafenden Sonne mithilfe der Oranuti bauen lässt?« konfrontierte Basti den gefangenen Spion ohne Vorwarnung mit dem, was nur seiner eigenen Ahnung entsprach. Harlund zuckte mit den Schultern und antwortete ergeben:
»Nicht viel, Herr. Nur so viel, als dass man sich in Quaronas hinter vorgehaltener Hand erzählt, dass Torbuk seinen großen Angriff auf Falméra beginnen wird, wenn er eine so große Anzahl Wasserwagen von den Oranuti erhalten hat, dass er mit einer ganzen Armee auf einen Schlag übersetzen kann.«
»Ja, das ist mir auch klar«, dachte Basti laut, »doch wann wird er diese Wasserwagen von den Oranuti bekommen, und warum lässt er sie so weit in der schlafenden Sonne herrichten?« fragte Sebastian bohrend.
Harlund wusste dazu keine Einzelheiten zu sagen, doch Sebastian genügte sein weniges Wissen, das die eigene Theorie bestätigte:
»Bereits seit zwei Wintern bringen die Wasserwagen der Oranuti leichtes und schnell wachsendes Bauholz weit hinauf in die Wälder der schlafenden Sonne, Herr. Es ist ein Holz, das sich nicht zum Stützen der Löcher eignet, welche Torbuk in die Berge schlagen lässt, um die Tränen der Götter zu ernten. Es ist leicht, und schwimmt gut«, berichtete der Gefangene.
»Und wann wird Torbuk Falméra angreifen?« wollte Basti wissen. »Wann wird er so viele Wasserwagen fertig haben, dass er eine Invasion wagen kann? Wie will er vor allem die vielen, vor Quaronas zusammengezogenen Heerlager an die Küste bringen und verladen? Das Gelände ist zum großen Teil sumpfig«, überlegte er so laut, dass Harlund seinen Gedanken folgen konnte.
Torbuks Spion zog verwundert die Augenbrauen hoch. Vermutlich war er überrascht, dass Areos von den Heerlagern vor Quaronas wusste. Wohl auch deshalb gab er bereitwillig Antwort:
»Diese Heerlager werden Falméra nicht angreifen, Herr«, verkündete er mit ziemlicher Sicherheit. »Torbuk hält sie bereit, um das Val Mentiér, und zwei weitere Täler unter dem ewigen Eis zu besetzen. Er will die Täler in seinem Rücken in seiner Hand wissen. Er kann von dort keine verdeckten Angriffe gebrauchen, wenn er sich auf Falméra konzentrieren muss«, gestand Harlund.
Sebastian zeigte sein Erstaunen nicht. Er hatte nicht damit gerechnet, dass Torbuk Antaronas Heimattäler mit einer so großen Streitmacht angreifen wollte. Offenbar wollte er mit den Guerillakämpfern des Val Mentiér ein für allemal aufräumen. Danach konnte er die Truppen abziehen und in den Angriff auf Falméra eingliedern.
»Wie viele Heerlager hat Torbuk noch zur Verfügung, und wo stehen diese Truppen?« fragte Basti nun ganz gezielt. »Und Harlund, befleißigt euch, die Wahrheit zu sagen, denn ich lasse eure Aussagen durch meine Spione überprüfen!« Der Gefangene sah ihn skeptisch an. Doch er war nicht so mutig, zu testen, ob Areos seine Drohung, ihn in einem dunklen Loch verrotten zu lassen, wahr machen würde.
»Die meisten Truppen, drei mal so viele, wie vor Quaronas, stehen in den Tälern jener Berge, aus denen Torbuk die Tränen der Götter herausholen lässt«, verriet Harlund, »sie können in einem Tagesmarsch die Küste bei Zarollon erreichen und in den felsigen Buchten verladen werden. So können die fertigen Wasserwagen die Strömung ausnutzen, und müssen nicht gegen den großen Strom fahren.« Sebastian nickte nachdenklich.
Torbuk hatte also mehr als doppelt so viele Truppen zur Verfügung, wie er geglaubt hatte. Dabei waren Einheiten, die möglicherweise von den kriegswilligen Oranuti- Fürsten gestellt werden würden, noch gar nicht berücksichtigt.
Die vordringlichste Frage aber hatte Harlund noch nicht beantwortet. Sebastian wusste nicht, wie viel Zeit ihm und Antarona blieb, den Achterrat des Val Mentiér, sowie König Bental auf einen Angriff vorzubereiten.
»Harlund«, begann Basti noch einmal drängend, »wann wird Torbuk angreifen, und wo wird er angreifen? Wenn ihr mir das sicher sagen könnt, verbürge ich mich höchstselbst dafür, dass ihr als Gefangener eine angenehme Behandlung erfahrt, und, wenn Torbuk besiegt ist, in Falméra frei leben könnt!«
Der Angesprochene lächelte bittersüß und etwas gequält. Offenbar glaubte er nicht daran, dass Torbuks Armeen jemals noch aufzuhalten waren. Dann hob er unschlüssig die Schultern und sagte:
»Ich weiß es nicht, Herr. Niemand weiß es wirklich. Es gibt nur Gerüchte in den Heerlagern vor Quaronas und in der Stadt selbst. Danach will Torbuk noch in diesem langen Schnee einen Vorstoß in die Täler beginnen, und sämtliche Speicher plündern lassen. Die Menschen in den Tälern sollen über den langen Schnee hungern müssen, so glaubt er die Täler zur erwachenden Blüte ohne großen Widerstand besetzen zu können.«
»Torbuk will also mitten im Winter angreifen, um den Menschen die Grundlage zum Überleben zu nehmen, ja?« versuchte Sebastian die Taktik zu begreifen.
»Das heißt, er wird in den nächsten Tagen, oder Wochen in die Täler einmarschieren, und, wenn ihn niemand aufhält, im Frühjahr alle Täler besetzen. Die Menschen, halb verhungert und geschwächt, werden ihm dann nichts entgegenzusetzen haben«, prophezeite er mehr für sich selbst. Und an Antarona gerichtet:
»Unter diesen Umständen müssen wir Bental und den Rat ganz schnell von dem überzeugen, was wir eben gehört haben, bevor es zu spät ist! Denn fällt das Val Mentiér, dann fällt möglicherweise auch Falméra und viele Îval werden in die Sklaverei gehen!«
»Aber was wollt ihr tun, Ba - shtie?« fragte das Krähenmädchen, innerlich hin und her gerissen zwischen ihrem zornigen Hass gegen Torbuk, Karek und den Gefangenen, und der nackten Angst um die Zukunft ihres Volkes. Sebastian wiegte den Kopf hin und her, als müsste er zwischen mehreren Optionen entscheiden.
»Wir müssen Bental und den Rat davon überzeugen, dem Achterrat von Val Mentiér eine sofortige Handlungsvollmacht auszustellen, mit der wir im Namen des Königs den Widerstand organisieren«, legte er seine Gedanken offen. Aber er wusste, dass es damit allein nicht getan war. Antarona sprach die Widrigkeiten aus:
»Ba - shtie, dort in den Tälern des ewigen Eises ist jetzt erst der lange Schnee angebrochen. Niemand außer dem Schnee selbst vermag Torbuk aufzuhalten, wenn er mit diesen vielen Truppen in die Täler marschiert! Die Îval dort sind müde von der Ernte, sie sitzen an den Feuern und lauschen den Geschichten der Alten. Sie sind nicht auf einen Kampf vorbereitet, ja, sie sehen die Truppen Torbuks nicht einmal, wenn sie kommen!«
Sie wirkte auf einem Mal sehr müde, stocherte nachdenklich mit einem Zweig im Boden herum, und meinte dann niedergeschlagen:
»Nicht einmal Arraks Windreiter vermögen ihnen Verluste beizubringen, wenn der Schnee alle Wege, die Wiesen und den Waldboden unter sich begraben hat. Niemand kann in der Zeit des langen Schnees einen großen Tross aufhalten, wenn er der Deckung des Landes und des Hinterhalts bedarf!«
Gewiss hatte Antarona recht mit ihren Einwänden, dennoch musste das Volk in den Tälern vor der drohenden Gefahr gewarnt werden. Das allein forderte von jedem Boten, der damit beauftragt wurde, das Äußerste. Schnee, Kälte, Sturm, die Spähtrupps Torbuks, Eishunde und Lawinen, sowie der Mangel an Nahrung waren seine Feinde auf dem ganzen Weg von der Küste bis in die Täler.
Und es war nahezu unmöglich, im tiefsten Winter, in bis an die Hüttendächer zugeschneiten Täler eine provisorische Verteidigungsarmee aufzustellen, selbst, wenn diese auf der Grundlage von Guerillakriegern kämpfen sollte. Wenn es nur irgendwie gelang, Torbuks Vormarsch auf die Täler bis in den Frühling zu verzögern... Dann hatten sie eine winzige Chance!
Damit Harlund sie nicht hören konnte, nahm Basti Antarona zur Seite, deutete erst auf den Hügelkamm im Westen, dann auf den First der Steilwand im Osten und dachte laut über eine Möglichkeit nach, die ihm spontan einfiel:
»Wenn wir rasch diese beiden Heerlager ausbilden, eines hier lassen, welches weitere Heerlager in der neuen Kampftechnik unterweist, und selbst mit dem anderen über die Berge ins Val Mentiér ziehen, als kleine Kampftruppe und als Boten des Königs...« Antarona wog seinen Vorschlag ab, setzte aber eine zweifelnden Miene auf.
»Viele werden leichter entdeckt, als wenige, Ba - shtie, und viele benötigen viel Nahrung, viel Holz für die Feuer in den Nächten, und viele Feuer machen viel Rauch, welchen man in der Zeit des langen Schnees weithin sehen kann«, gab sie zu bedenken.
»Viele können sich aber auch dabei abwechseln, im hohen Schnee eine Spur für die Nachfolgenden zu treten«, hielt Sebastian dagegen, »und viele vermögen schon mal ein Dorf zu verteidigen, sollte Torbuk seiner Armee Spähtrupps vorausschicken!« Basti holte tief Luft, raufte sich die Haare und hieb sich leicht gegen den Hinterkopf.
»Wenn wir doch nur deinen Stein der Wahrheit mitgenommen hätten«, spekulierte er, »so wären wir wenigstens rechtzeitig gewarnt.«
In seinen Worten klang ein wenig Resignation mit. Doch in seinem Kopf entstand bereits ein fantasievolles Gespinst. Ein Plan, der bereits in der Geschichte seiner eigenen Welt geboren, und teilweise erfolgreich umgesetzt wurde. Antarona selbst hatte ihn darauf gebracht, als sie sagte niemand außer dem Schnee selbst vermag Torbuk aufzuhalten.
Sebastian erinnerte sich an die Geschichten alpiner Freiheitskämpfer, die sich feindliche Armeen untereinander mit Höhenfeuern ankündigten, und die Schneelast der Berge für Lawinen ausnutzten, und damit ganze Truppenaufmärsche zum Stehen brachten.
Mit einem Heerlager zum Festland überzusetzen, war mit etwas Phantasie ebenfalls kein Hexenwerk. Nutzte man die Strömung und eine Schlechtwetterperiode aus, so war es durchaus möglich, eine größere Truppe, beispielsweise während eines Schneesturms, ungesehen anzulanden. War die Einheit dann erst einmal vom Strand in die Sümpfe und in die Wälder vorgedrungen, so war ihre Entdeckung eher unwahrscheinlich.
Überzeugt vom Gelingen seines heimlichen Plans, atmete Sebastian hörbar tief ein und aus, schlug sich mit der flachen Hand auf den Oberschenkel und sagte zu Antarona mit hoffnungsvollem Gesichtsausdruck:
»Zunächst einmal müssen wir den Gefangenen auf die Burg schaffen lassen, damit er seine Aussage vor dem Rat des Königs wiederholt. Dann lehren wir Thorbald und Arnhold deine Kampfweise, bis sie selbst dazu befähigt sind, die Kohorten ausbilden zu können. Und anschließend gehen wir nach Mehi-o-ratea, wo du sicherer bist, als in der Burg, und warten auf die Entscheidung des Rates. Mit ihr, ob hilfreich, oder nicht, gehe ich schließlich zurück ins Val Mentiér, nach Möglichkeit mit einer kleinen Truppe von Kriegern...«
»Wieso geht ihr, Ba - shtie«, fiel ihm Antarona ins Wort, »was ist mit Sonnenherz, sie wird euch natürlich begleiten!« Antarona war nicht so naiv, den kleinen Unterschied zwischen wir und ich aus Sebastians Plänen herauszuhören und fühlte sich übergangen.
»Nein«, antwortete Basti bestimmt, »du wirst mich natürlich nicht begleiten! Ich will, dass du bei deiner Base Zinthia und ihrem Mann Corneus in Val Argón bleibst, bis ich dich in der neu erwachenden Sonne holen lasse. Ich will weder dich, noch unser Töchterchen an den Berghängen um Quaronas erfrieren sehen, weil wir dort kein Feuer machen können. Du bleibst hier, und Schluss!«
»Das werden wir ja sehen, Herr von den Göttern, ob sich Sonnenherz so einfach abschieben lässt!« konterte sie aufgebracht.
»Unsere Tochter wird im Val Mentiér geboren, das habt ihr Sonnenherz versprochen! Warum soll sie dann nicht gleich mit euch kommen?« Sie suchte verzweifelt nach Argumenten, in jedem Fall an Sebastians Seite bleiben zu können.
Er hingegen, wollte sie in Sicherheit wissen. Zu groß war das Risiko, dass sie bei einer solch strapaziösen Reise verletzt werden, krank werden, oder ihr noch Schlimmeres widerfahren könnte.
»Als ich dir versprach, unsere Tochter werde im Val Mentiér geboren, waren die Verhältnisse aber andere«, rief Basti ihr in Erinnerung, »jetzt steht ein Krieg vor den Tälern des Val Mentiér. Das ist sicher kein geeigneter Ort für unsere Tochter, Talris zu erblicken!«
»Ba - shtie, wenn ihr es noch nicht begriffen habt«, fauchte sie ihn zornig an, »im Val Mentiér herrschte bereits Krieg, als Sonnenherz Vater ein Jüngling war! Das hat die Frauen der Îval seither aber niemals davon abgehalten, Kinder zu gebären! Sonnenherz wird mit euch gehen, wenn ihr in die Täler des ewigen Eises zieht, und Schluss!«
Gerade wollte Sebastian erneut ansetzen, ihr die Sache mit seinen Argumenten auszureden, da begann Harlund ein Geschrei, als wollten ihn alle Teufel der Hölle ins Fegefeuer ziehen. Sie wirbelten beide herum, vermochten aber nicht die Ursache zu erkennen, die ihren Gefangenen derart in Panik versetzte.
»Sis-tà-wàn.., Sis-tà-wàn!« kreischte Harlund mit sich überschlagender Stimme. Augenblicklich zog Antarona ihr Schwert und blickte sich gehetzt um.
»Was bei den Göttern ist Sis-tà-wàn?« entfuhr es Basti, der dieses Wort bei den Îval noch nie gehört hatte.
»Still, Ba - shtie, Sis-tà-wàns sind die Kreaturen des Bösen! Sonnenherz hat bisher noch nie vermocht, eine von ihnen zu besänftigen.«
Unbeweglich stand das Krähenmädchen da, Nantakis halb über ihrer Schulter schwebend, bereit, zu einem vernichtenden Schlag auszuholen. Ganz langsam, als vollführte sie einen Tanz unter Wasser, drehte sie sich, versuchte mehr mit den Sinnen zu sehen, als mit ihren Augen.
Sebastian, völlig verunsichert vor der unbekannten Gefahr, trieb es die Schweißperlen auf die Stirn. Er kniff die Augen zusammen, und versuchte irgendetwas in den umliegenden Büschen zu erkennen. Doch alles war ruhig. Zu ruhig!
Der Gefangene zerrte unterdessen in Todesangst an seinen Fesseln, warf wie irr seinen Kopf hin und her, und brüllte wie jemand, dem man die Haut bei lebendigem Leib in Streifen abzog. Antarona war es nicht mehr möglich, ihre Sinne auf die Geräusche der Umgebung konzentrieren.
»Ruhe! Seid still, ihr unverbesserlicher Narr, wenn euch euer Leben lieb ist!« schrie sie ihn an, ohne ihre lauernde Stellung zu verändern. Harlunds Geschrei verstummte, und er verfiel in ein jämmerliches Zittern und Wimmern. Ein ausgewachsener Krieger, kampferprobt, schien aus nackter Angst sterben zu wollen.
Plötzlich raste etwas mit unglaublicher Geschwindigkeit aus dem Unterholz direkt auf Harlund zu. Es war unglaublich schnell. So schnell, dass Sebastians Auge nur etwas langes, braunes erfassen konnte, wie einen mächtigen Ast, der von unnatürlicher Kraft gelenkt, wie ein Blitz auf den Gefangenen zuschoss.
Antarona reagierte sofort. Sie wirbelte einmal um die eigene Achse, um mit Nantakis Schwung zu holen, machte einen Ausfallschritt und ließ das Schwert sirrend durch die Luft fahren. Ein Gegenstand plumpste zu Boden, und ein langer, schlanker, sich windender Leib hauchte sein Leben aus.
Basti erwachte aus einem Moment der fassungslosen Starre, ging langsam zu dem Ding hinüber, das auf die Erde gefallen war. Ungläubig riss er die Augen auf. Es war der Kopf eines Tieres, eigentlich der eines kleinen Gors. Doch an diesem Kopf hing ein Stück Hals, das genauso dick war, wie das Haupt selbst. Aus dem aufgerissenen Maul des Monsters ragten zwei mächtige, spitz zulaufende, lange Reißzähne, sowie eine Reihe kleinerer Zähne, die aber immer noch so lang waren, wie eine Hand.
Etwas Besonderes aber fiel ihm an diesem Kopf sofort auf. Das Biest besaß im Gegensatz zu einem Gor keine Augen. Wo sich bei einer Schlange, oder bei einem Gor gewöhnlich das Sehorgan befand, hatte diese Kreatur nur eine Einbuchtung, so groß wie ein Fünffrankenstück.
Sebastian nahm das Ende eines kleinen Zweiges und drückte vorsichtig darauf. Er fühlte eine dünne, elastische Haut, fast so etwas, wie eine Membran. Wahrscheinlich ein hoch sensibles Organ, das feinste Schwingungen und Vibrationen aus der Luft und vom Boden wahrnehmen konnte.
Dann lenkte sich sein Augenmerk auf den immer noch leicht zuckenden Körper. Was dort auf dem Waldboden vor ihm lag, war so etwas, wie eine riesige Anakonda. Selbst im Fernsehen hatte Sebastian nie eine größere Schlange gesehen. Das Vieh war mindestens zwanzig Meter lang und ihr Hinterleib lag noch im Gebüsch verborgen.
Die graubräunliche Färbung des langen Körpers hob sich kaum vom Waldboden ab. Eine perfekte Tarnung, die das kriechende Raubtier beinahe unsichtbar machte. Aber kriechend? Wie eine Kanonenkugel war das Schrecken einflößende Geschöpf auf Harlund zugeschnellt...
Nun erst fiel Sebastian auf, dass der Gefangene keinen Muckser mehr von sich gab. Hatte ihn die pure Angst etwa in die Ohnmacht getrieben? Antarona hatte sich vor den Körper des Gefangenen gekniet und ihr Ohr auf dessen Brust gelegt, als er hinzu trat.
»Ist er tot?« fragte Sebastian unsicher. Das Krähenmädchen verharrte noch eine kurze Weile, dann hob sie resigniert den Kopf und sagte kalt:
»Na wenn er das nicht ist...« Offenbar war ihr Hass gegen den Spion Torbuks selbst jetzt noch nicht verraucht, da er in das Reich der Toten eingegangen war.
Aufmerksam untersuchte Sebastian den reglosen Mann, der das Wissen einer ungeheuerlichen Wahrheit in sich getragen hatte, und der dieses Wissen dem Rat und dem König von Falméra vortragen sollte. Daraus wurde nun nichts mehr. Er hatte die Wahrheit ins Reich der Toten mitgenommen.
»Na, der ist ja wohl tot, wenn die Bemerkung erlaubt ist, Herr«, vernahm Basti nun die geringschätzige Stimme Thorbalds. Das Geschrei des Gefangenen hatte die beiden Krieger wohl von ihrem Posten zurückgerufen.
»Sie ist nicht erlaubt!« blaffte Sebastian den jungen Krieger an, der erschrocken zurückfuhr. »Wer hat euch beiden Nichtsnutzen eigentlich erlaubt, euch von eurem Posten zu entfernen, na? Nicht einmal ordentlich Wache halten könnt ihr!« Basti schämte sich sogleich seiner Überreaktion und fügte erklärend hinzu:
»Was ihr freilich nicht wissen könnt, Thorbald, dieser unglückselige Wurm von einem Verräter hier, sollte dem König und dem Rat berichten, was er über Torbuks Pläne weiß. Nun wissen wir wohl davon, doch um den Rat und Bental davon zu überzeugen, werden unsere Worte kaum ausreichen. Thorbald nickte verständnisvoll und sagte:
»Verzeiht Herr, so weit hatte ich nicht gedacht. Ich sah nur den Tod eines verräterischen Abschaums des Volkes, der seine gerechte Strafe erhalten hat«, gab er schuldbewusst zu. Sebastian setzte ein vergebendes Lächeln auf und beruhigte ihn:
»Thorbald, darum seid ihr ja auch der Krieger, dessen Aufgabe es ist, Befehle auszuführen und zu kämpfen, und ich bin Areos, der Sohn des Königs, dessen Aufgabe das Denken und Entscheiden ist. Ich mache euch keinen Vorwurf daraus, denn im Herzen empfinde ich das gleiche, wie ihr. Nur mein Stand und mein Wissen gebieten mir eine andere Sichtweise, versteht ihr das?«
Natürlich verstand Thorbald nicht genau, was Sebastian meinte. Doch er nickte mit einem unsicheren ja Herr, wie Basti es von seinem Diener Frethnal kannte, und wandte sich ab. Im Hintergrund hörte er Arnholds Verwunderung über das außergewöhnlich große Exemplar eines Sis-tà-wàns.
»Gütige Götter Talris, was für ein Mordsding! Wenn uns das Vieh im Schlaf überrascht hätte, befänden wir uns nun an der Seite der Götter!«
Darüber musste er unbedingt noch mit Antarona sprechen, dachte Basti, als er den Ausruf hörte. Wie viele von diesen abnormen Geschöpfen gab es, die einen locker im Schlaf verschlingen konnten? Dabei sah er sich den Leichnam Harlunds noch etwas genauer an. Seine Lippen und Augenlider waren blau, fast schwarz angelaufen.
Irgendwo hatte Sebastian einmal gelesen, dass dies ein untrügliches Zeichen von Gift war. Aber er konnte an dem Toten keine Bisswunde feststellen. Hatte das Ungetüm auch noch die Fähigkeit, Gift auf große Entfernung auf sein Opfer zu speien, wie es etwa eine Kobra fertig brachte? Wozu dann aber die mächtigen Hauer in seinem Maul?
Kurz entschlossen riss Basti dem Toten das Hemd auf und staunte nicht schlecht. Zwei Wunden, wie Einschusslöcher eines großen Gewehrkalibers, prangten auf seiner Brust. Das Biest hatte ihm mit blitzartiger Schnelligkeit seine Giftzähne durch die Kleidung hindurch in den Körper getrieben.
Das Gift musste ihn auf der Stelle getötet haben, denn das Entsetzen stand ihm noch im Gesicht geschrieben. Hätte Antarona gewusst aus welcher Richtung die Gefahr drohte, so hätte sie Schlimmeres verhindern können. Der Gefangene hatte die Schlange rechtzeitig, wohl eher zufällig entdeckt. Doch da ihm die Hände gebunden waren, konnte er nicht deuten, aus welcher Richtung die Bedrohung kam.
Missmutig zog Basti dem Toten das Hemd unter dem Körper hervor und bedeckte ihn damit. Dann sah er sich das gefährliche Reptil noch einmal genauer an. Das Tier hatte den ebenmäßigen, langen Körper einer Kobra, eben nur so dick, wie der trainierte Oberschenkel eines gestandenen, kräftigen Kriegers. Die Länge schließlich schritt er mit mehr als fünfundzwanzig Metern ab.
Das Haupt des Reptils, das mit geöffnetem Maul etwas entfernt daneben lag, glich eher dem Kopf eines Drachen, als dem einer Schlange. Aufgestellte Schuppen und kleine Hörner gaben ihm ein bizarres Aussehen. Die Giftzähne, welche Sebastian für Reißzähne hielt, mochten sogar einen ausgewachsenen Felsenbären zu Fall bringen.
Allerdings bezweifelte er, dass diese Schlange, selbst bei ihrer außergewöhnlichen Größe, einen Felsenbären, oder einen Robrum hätte verschlingen können. Neugierig untersuchte er ihre Kiefer. Dabei stellte er mit Staunen fest, dass sie ihren Unterkiefer im Gegensatz zu gewöhnlichen Schlangen nicht aushaken konnte.
Basti schüttelte unverständlich den Kopf. Sie hätte trotz ihrer enormen Größe nicht einmal einen Halbwüchsigen in ihren Rachen bekommen!
»Was versteht ihr nicht, Ba - shtie?« hörte er Antarona sagen, die neben ihn getreten war, und seine Verwunderung erkannte. Sebastian zuckte mit den Achseln.
»Ich verstehe nicht, warum dieses Vieh ihn angegriffen hatte. Er ist viel zu groß, als dass der Sis-tà-wàn ihn hätte ganz verschlingen können!« Antarona sah ihn nun ihrerseits erstaunt an.
»Ba - shtie, wie kommt ihr nur darauf, dass er seine Beute im ganzen Stück hinunterschlingen wollte? Sis-tà-wàns zerreißen ihre Opfer mit schnellen, heftigen Bewegungen ihres Körpers! Seht ihr nicht die vielen scharfen Zahnreihen, und die kleineren Zahnreihen dahinter?« Sie ließ Sebastian einen Augenblick Zeit, sich das Maul des Ungetüms noch einmal ganz genau anzugucken, bevor sie fortfuhr:
»Er vermag seine giftigen Fangzähne aus seinem Maul heraus zu strecken, wenn er angreift und tötet. Sobald seine Beute durch das Gift benommen ist, zieht er seine Giftzähne wieder ein, wie die Zugbrücke einer Burg. Dann zerreißt er sein Opfer mit den Reißzähnen!« Antarona deutete auf die beiden hintereinander liegenden Reihen von Zähnen und erklärte:
»Sie wachsen nach, Ba - shtie, seht ihr? Verliert er einen Zahn, was oft vorkommt, wenn er auf einen Knochen beißt, so wächst ihm in kurzen Zentaren ein neuer nach!« Sebastian verstand eines aber immer noch nicht.
»Aber wieso ihn? Warum hat das Vieh Harlund angegriffen, und nicht uns? Das ergibt keinen Sinn, denn das Biest war dir doch näher, als ihm!« Antarona hockte sich vor den abgeschlagenen Kopf, wiegte ihren Körper auf den Zehen hin und her und schien die Antwort aus weiter Ferne herzuholen.
»Die Alten erzählen sich an den Feuern eine Geschichte darüber, Ba - shtie«, begann sie, und versuchte die alte Mär aus ihrem Gedächtnis zu rekapitulieren. Das Krähenmädchen gab wieder, was sie als Kind gehört hatte und Sebastian lauschte fasziniert einem fantastischen Märchen.
Es war zu jenen Zentaren, als die alten Götter, welche die Menschenwesen werden sollten, sich zerstritten. Einer suchte den anderen zu Übertrumpfen und es war ihnen der Sinn, ihre Nebenbuhler mit aller List zu bekämpfen und zu besiegen.
Der niederträchtigste von ihnen, der böse Hu-ròn, reich an Tücke, Schläue, und Hinterlist ersann einen verräterischen Plan. Er nahm eines jener grausamen Wesen, welche auf dem Lande lebte, auf welchem sie mit ihrem Feuerschweif gestrandet waren.
Bald erschlich Hu-ròn sich das Vertrauen des Geschöpfes, welches nur wenig Geist, aber viele todbringende Waffen besaß, nahm das blaue Licht aus seinem eigenen Lande, das noch im Feuerschweif lebte, und schuf damit aus dem Wesen ein noch grausameres Geschöpf, das nur dem einen Sinne folgte, zu töten. Er machte es ohne Augen, denn es sollte nicht das Frevelhafte sehen können, was es tat. Dafür schenkte er ihm eine Höhle der Sinne in seinem Kopf, welche er unter Haut und Schuppen verbarg.
Sis-tà-wàn ward geboren! Es war das reine Böse. In ihm lebten Hinterlist, Raffgier, Zorn und Missgunst. Seine Mordlust war selbst von Hu-ròn gefürchtet. Darum band er Sis-tà-wàn eine Windflöte um den Hals. Selbst der kleinste Hauch, welcher kaum die Blätter der Bäume zu bewegen vermochte, entlockte jener Flöte eine liebliche, beruhigende Melodie.
Solange Sis-tà-wàn den Klang der Flöte vernahm, war er ruhig, friedlich und gehorsam. Doch nahm ihm der böse Hu-ròn das Windspiel vom Halse, so wurde er zu jener blutrünstigen Bestie, die jeden tötete, der ihr über den Weg kam. So ließ Hu-ròn einen seiner Götterbrüder nach dem anderen von Sis-tà-wàn töten, bis nur noch sechs von ihnen übrig waren.
Diese sechs letzten Götter, des alten Geschlechts gingen im Angesicht ihres Todes zu den Elsiren und baten diese um ihre Hilfe. Die Elsiren aber verlangten als Lohn für ihren Beistand das blaue Licht aus dem Urlande der Götter, welches sie gedachten, zum Schutze ihrer selbst stets an sich zu tragen. Die Götter, wie von Sinnen vor Angst, versprachen es.
Da flogen die Elsiren zu Hu-ròn und Sis-tà-wàn, als diese des Nachts schliefen. Sie stimmten ein Lied an, so lieblich und schön, so voller Verzückung, so sanft und melodisch, dass Sis-tà-wàn in einen tiefen Schlaf verfiel. So nahmen sie ihm die Windflöte vom Hals, welche sie fortan bis zu dieser Zentare in ihren Sümpfen verbargen.
Als Hu-ròn am Morgen erwachte und sah, dass die Windflöte am Halse seiner schrecklichen Kreatur fehlte, hob er ein Geschrei an, welches Sis-tà-wàn aus dem Schlaf riss. Das Ungeheuer vermochte nicht zu sehen, wer da brüllte und tobte, und meinte, ein weiteres Opfer vor sich zu haben.
Noch ehe Hu-ròn sich recht besann, wurde er von seiner eigens erschaffenen, bösen Kreatur in Stücke gerissen, und ward seit dem nicht mehr.
Die Elsiren forderten ihren Lohn ein, und fortan durften sie sich mit dem geheimnisvollen Feuer schützen, das jene verbrennt, welche ihnen in Absicht der Niedertracht zu nahe kamen. So ist es geblieben bis in die jüngste Zentaren.
Sis-tà-wàn aber, entfloh in die Lande unter der Götter Sitz, und in die Täler, und in die Wälder, und er nährte sich von jenen Wesen und Geschöpfen, welche das Land mit ihrem Lärm entweihten. Seither stürzte er sich auf alles und jedes, welches mit seinem lauten Getue und Geschrei die Ruhe und den Frieden des Waldes stört.
»Bis zu dieser Zentare«, kommentierte Sebastian nicht ganz ohne Sarkasmus ihr Märchen, als sie geendet hatte, und wies wie zum Beweis auf den am Waldboden liegenden, Angst einjagenden Körper.
»Und nun, ihr Götter, schaut hernieder auf das Land der Menschenwesen, in welchem die Kriegerin Sonnenherz das vermocht hat, was euch nicht gelang!« rief er nicht ernst gemeint und im Überschwang des weichenden Schreckens wie eine Verkündung aus.
»Seid nicht albern, Ba - shtie«, entgegnete Antarona vorwurfsvoll, »es ist nur eine alte Mär! Es gibt nicht nur einen Sis-tà-wàn!« Dann aber wurde sie auf einem Mal sehr nachdenklich, ja fast ehrfürchtig.
»Dieser Sis-tà-wàn wurde durch die Tre-mor-fas angelockt. Sie sind sein bevorzugtes Futter, denn er braucht sie nur vom Boden auflesen. Doch das Gezeter Harlunds muss ihn zornig und angriffslustig gemacht haben, wie in jener alten Mär«, überlegte sie laut und eher für sich selbst.
»Du meinst, wenn die Geschichte nicht nur eine alte Mär ist, so bewahren die Elsiren etwas, das einen Sis-tà-wàn besänftigen kann?« folgte Basti ihren Ausschweifungen. Antarona nickte bedächtig und murmelte vor sich hin:
»In jenem, was die Alten erzählen, ist stets ein wenig Wahrheit verborgen, ein jeglicher mag sie nur zu finden wissen.« Sebastian stand auf, stupste leicht mit dem Fuß gegen den Kopf des toten Sis-tà-wàn und sagte:
»Na ja, wir haben wohl kaum die Zentaren, um bei den Elsiren nach einer Windflöte zu suchen, die seit dem Krieg der alten Göttern niemand mehr zu Gesicht bekommen hat, oder?«
»Darum geht es nicht, Ba - shtie«, entgegnete sie ungeduldig, »aber möglicherweise vermag jemand ein Windklangspiel zu schnitzen, welches zum Nachtlager in einen Baum gehängt, vor den Angriffen eines Sis-tà-wàn schützt!«
»Ja«, gab Basti zu, »das wäre dann tatsächlich mal eine sinnvolle Erfindung!« Aber die ließ ihn von dem, was ihn gerade vordringlich beschäftigte, nicht abbringen. Er wandte sich wieder dem Toten zu.
»Und was machen wir mit dem? Begraben und aus? Schwamm drüber? Denn reden kann er ja wohl nicht mehr!« Unbeantwortet ließ er die Worte zwischen den Bäumen verklingen.
Er machte kein Geheimnis daraus, dass er nun selbst nicht wusste, wie man König Bental und dem Rat die Gefahr durch Quaronas mit einem Zeugen glaubhaft machen sollte, der nicht mehr sprechen konnte. Bental würde die ganze Geschichte wahrscheinlich für ein Hirngespinst halten, für einen phantasievollen Versuch, ihm die bevorstehende Invasion Falméras erneut vorzutragen.
Die beiden jungen Krieger sahen ihn nur dumm an. Sie waren gewohnt Befehle zu empfangen, und dass ihr Vorgesetzter stets die richtige Entscheidung traf. Sie würden Areos Urteil auch kaum in Frage stellen. Antarona aber blickte genauso ratlos auf den Toten, wie Sebastian.
Dabei ging es nicht einmal um den Toten selbst, sondern um das Wissen, das dieser Mann mit in das Reich der Toten nahm. Für Sebastian war jedoch auch der Leichnam eine ungeklärte Frage.
»Kann mir mal jemand helfen«, fragte er in die Runde. »Also, im Val Mentiér bringt man jene, welche zu den Göttern gehen, an das Tor zum Totenreich im ewigen Eis. Aber wie macht ihr das hier, auf Falméra? Wo befindet sich hier das Tor zum Reich der Ewigkeit?«
Sebastian hatte inzwischen auch auf Falméra mehr mit dem Tod Bekanntschaft gemacht, als ihm lieb war, und er wusste, dass die Leichen, wollte man sie vor Tierfraß schützen, erst einmal mit Steinen bedeckt wurden. Doch was kam danach? Dem Glauben der Îval zufolge musste jeder Tote an das Tor zum Reich der Toten geleitet werden.
»Die Toten werden zur Küste der erwachenden Sonne gebracht, Ba - shtie«, klärte ihn das Krähenmädchen auf, »dort bettet man sie auf einen aus Reisig zusammengesteckten Wasserwagen. Brennend wird der Wasserwagen in die Strömung gestoßen, welche ihn sicher durch das Tor ins Reich der Toten treibt. Es mag ein anderes Tor ins Totenreich sein, Ba - shtie, denn von dort haben die Götter niemals jemanden zurück geschickt, wie sie es im Val Mentiér getan haben.« Da er nun diese Frage geklärt wusste, nickte Sebastian zustimmend und sagte müde:
»Na ja, darum mögen sich Hetarus Krieger kümmern.« Dabei sah er Thorbald und Arnhold an. In ihrem Blick erkannte er, dass diese beiden niemals von allein darauf kommen würden, Hetarus die Unwesentlichkeit zu melden. Sie waren Krieger und töteten. Den Abfall mochte jemand anderes beseitigen, es war nicht ihre Aufgabe und sie dachten nicht darüber nach.
»Thorbald, ihr berichtet Hetarus, dass er ein par Leute schicken soll, die den da zur Küste bringen«, bestimmte Basti. » Und nun deckt ihn mit Steinen zu, sonst kommen die Tre-mor-fas doch noch zu ihrem Festmahl!«
Danach zog sich Basti das Hemd aus, wischte sich damit den Schweiß von der Stirn und hängte sich das Kleidungsstück wie ein Handtuch um den Hals. Nachdenklich beobachtete er Arnhold und Thorbald bei der Aufschichtung des Steingrabs.
Sie fügten die Steine aneinander, wie es ein Maurer nicht besser gekonnt hätte. Die beiden machten das gewiss nicht zum ersten Mal! Antarona nahm unterdessen Nantakis und schnitt mit dem Schwert den Körper der Schlange in mehrere Stücke, die sich tragen ließen.
Zunächst hatte Sebastian befürchtet, sie könnte die auf den Einfall kommen, ein Stück davon zum Abendessen über dem Feuer zu garen. Er hatte es nie probiert, aber Schlange sollte in seiner Welt als Delikatesse gelten und wie zartes Hühnchen schmecken.
Jedenfalls atmete er befreit auf, als seine Frau die Stücke dort hinüber trug, wo die Tre-mor-fas immer noch umherwuselten und nach Nahrung suchten. Nur Augenblicke später wimmelten die Insekten über die Fleischstücke ihres natürlichen Feindes. Man konnte direkt zusehen, wie das Aas vom Waldboden verschwand und nur feinen Knochenglieder liegen blieben.
Thorbald und Arnhold schickte Sebastian wieder in ihre Heerlager zurück, und bestellte sie für den nächsten Morgen wieder zum Stein auf der Weide, wo die ins Gras gedrückte Arena wartete. Antarona und er traten den Rückweg zu ihrem Lagerplatz an. Gemischte Gefühle begleiteten sie.
Zum einen waren sie über das, was sie erfahren hatten, schockiert und bedrückt, zum anderen aber in der inneren Aufruhr, etwas entscheidendes unternehmen zu müssen. Sie ahnten, das die Zeit drängte, waren aber gefangen zwischen den Mühlrädern der Burg, des Rates und des Königs. Doch das Val Mentiér brauchte sie. Die Îval dort brauchten sie jetzt!
Die Ereignisse des Tages, das schwülwarme Wetter, das sich noch immer nicht zu einem abkühlenden Regenguss entscheiden konnte, und die verfahrene Situation hatten sie mehr ermüdet, als ein Tag voller hartem Kampftraining.
Schweigend kauten sie auf ein par Streifen Trockenfleisch herum, und krochen dann, noch im Dämmerlicht der hinter dem Hügelkamm verschwindenden Sonne unter ihre Felle. Seufzend suchten ihre Körper die Nähe des anderen, kuschelten sich eng hintereinander und schliefen bald ein.

Ein dumpfer Knall riss beide aus dem Schlaf. Noch war stockfinstere Nacht, nach Sebastians Empfinden dunkler, als jemals zuvor. Leise wechselten sich das Rauschen des Baches und das des Windes in den Bäumen einander ab.
Da flammte über dem Hügelkamm, wo die Zelte des einen Heerlagers standen, ein grelles, flackerndes Licht auf und erhellte beinahe das ganze Tal. Es schien, als würden mehrere Batterien Artillerie gleichzeitig ihre Mündungsfeuer aufblitzen lassen.
Dem hellen Licht, das blendete und sofort wieder verlosch, folgte ein dumpfes Krachen, das Antarona und Sebastian den Schrecken in die Glieder fahren ließ. Mehrfach wurde der ohrenbetäubende Lärm von den roten Felsen auf der anderen Talseite zurückgeworfen. Das Echo inszenierte einen hallenden Donnerschlag, der mehrere synchronisierte Salven aus Hunderten von Feldhaubitzen glaubhaft machte.
Sebastian bewegte sich nicht, meinte im ersten Moment, Torbuk würde plötzlich mit einer großen Anzahl schwerer Artilleriegeschütze angreifen. Bis ihm sein Verstand sagte, dass dies nicht sein konnte, tauchte der nächste Mündungsfeuerschein das ganze Tal in taghelles Licht.
Um nicht vom folgenden Krachen überrascht zu werden, hielt Sebastian sich die Ohren zu. Antarona kroch wie ein verängstigtes Kätzchen wieder unter die Felle und klammerte sich zitternd an seinen Körper. Krawummm! Es donnerte aus allen Rohren. Aber die Einschläge blieben aus! Dafür erhob sich plötzlich aus dem Nichts eine kräftige, kurze Windböe, die sämtliche Bäume und Sträucher durchschüttelte und sie sich zum Boden neigen ließ.
Dann herrschte eine trügerische Ruhe. Die Luft schien zu stehen. Jedes Insekt, jeder Laut war erstorben. Selbst das ständige Rauschen des Baches schien leiser zu werden. Basti streichelte beruhigend Antaronas bebenden Körper und wartete gespannt.
Erneut brach das Mündungsfeuer die Dunkelheit und Stille. Kurz konnte Sebastian tief hängende, massive Wolken erkennen, die knapp über den Höhen standen. Bloß ein Gewitter, dachte er und zuckte im selben Augenblick zusammen. Ein scharfer Knall zerriss nur Sekunden später die Luft. Er ging durch Mark und Bein, brachte sogar die Berge zum zittern. Der Donnerschlag wanderte von den Höhen herab, prallte gegen die mächtige Felswand und rollte das Tal hinunter. Er pflügte wie die zornige Faust der Götter durch die Nacht und ließ Antarona sich unter den Fellen noch mehr zusammenkauern.
Dann, nach einem Augenblick lauernder Stille, schlug etwas hart auf dem Haufen Felle auf, unter dem Sebastians Gesicht hervorlugte. Ein weißer Stein purzelte seitlich ins niedergetretene Gras und blieb dort liegen. Basti schob seinen Arm unter den Häuten hervor, um danach zu greifen. Doch irgendetwas schlug ihm so hart auf den Handrücken, dass er den Arm schnell wieder zurückzog.
Ein weiteres weißes Geschoss, kaum kleiner, als ein Apfel, kullerte neben ihrem Lager ins Gras. Dann noch eines, und noch eines, und schließlich öffnete der Himmel seine Schleusen und bombardierte die Erde mit Millionen dieser Eisgranaten.
Pochend trafen die harten Himmelsprojektile den Fellhaufen, unter dem sich zwei demütige Seelen verkrochen hatten. Antarona, durch das Geräusch in ihrer Neugier geweckt, wollte sehen, was vor sich ging, doch Basti drückte ihren Kopf wieder unter die Felle und schützte sie mit seinem Leib.
»Besser du bleibst unten, sonst erschlägt es dich«, warnte er sie, und verkroch sich selbst noch tiefer unter die Häute.
Ein wahres Krescendo prasselnder Eisbälle ging auf sie nieder, begleitet von immer neuen Lichtblitzen und Donnerkaskaden. Das ging beinahe eine Viertelstunde so, dann ließ die Intensität des Bombardements allmählich nach.
Vorsichtig wagte Sebastian einen Blick nach draußen und staunte nicht schlecht. Die Welt hatte sich verändert. In einem neuen Mündungsfeuer des Gewitters glaubte er zu träumen, was er sah. Das Land war mit Bällen aus Eis bedeckt und hatte ein futuristisches Aussehen bekommen.
Aus der kugeligen Schicht ragten Zweige, Blätter, ja sogar armdicke Äste hervor. Die Bäume waren von den Eisgeschossen regelrecht zusammengehauen worden, und standen als schwarze, nackte Silhouetten da. Ein lautes Knistern war zu hören, als würde die gesamte, auf Falméra befindliche Population von Tre-mor-fas über trockenes Laub krabbeln.
Freilich hatte das knisternde Geräusch eine andere Ursache. Die Eisbälle, in Sekunden aus eisiger Höhe auf das warme, von der Sonne des Tages aufgeheizte Land gefallen, büßten ihre feste Struktur ein, bekamen Risse, platzten auseinander und tauten langsam ab.
Aber schon sahen sich Antarona und Sebastian einer neuen Bedrohung ausgesetzt. Mit der folgenden Blitzserie und Donnerreihe kam erneut heftiger Wind auf, der mächtige Regentropfen mit sich trug. Sie klatschten Sebastian ins Gesicht, eiskalt!
Er ahnte, dass es ein so sintflutartiger Guss werden könnte, wie er ihn auf Högi Balmers Alm und im Haus Hedarons erlebt hatte, und zog sein Krähenmädchen an den Schultern aus den Fellen hervor.
»Komm, es ist vorbei. Aber gleich gibt es eine Regenflut, die uns ersäuft, wenn wir nicht irgendwo Schutz suchen!« prophezeite er nüchtern. Antarona fröstelte, schnupperte in alle Himmelsrichtungen und nickte gewichtig.
»Es riecht nach Wasser, das von den Göttern kommt«, stimmte sie zu. Wackelig stand sie mit nackten Füßen auf der labilen Schicht tauender Eiskugeln. Sie sah so verletzlich und armselig aus, dass Basti ihr zunächst ein dickes Fell um die Schultern hängte.
Dann sah er sich um. Schutz und Deckung gab es nicht mehr. Die Bäume waren von dem heftigen Hagelschauer schlichtweg entlaubt worden. Doch er wusste, dass hinter den Felsen, wo das Gelände etwas anstieg, die freierodierten Felsplatten einen mächtigen Überhang bildeten, fast so etwas wie eine offene Grotte.
Freilich sagte ihm seine alpinistische Erfahrung, dass so ein Platz bei heftigem Gewitter gefährlich sein konnte, doch eine Alternative hatten sie nicht. Noch so ein Hagelschauer, wie jener vor ein par Minuten, und Torbuk konnte sich die Mühe sparen, ihnen Mordbrenner hinterher zu schicken. Sie würden einfach vom Wetter erschlagen werden!
Alles, was ihnen wichtig und teuer war, musste auf die andere Seite der Felsen in Sicherheit geschafft werden. Es waren nur wenige Meter bis zum Überhang, doch es war ein Abenteuer für sich, die Lasten auf dem rutschigen, rollenden Untergrund der Hagelkörner den Hang hinauf zu schleppen.
Als Sebastian sein Schwert greifen wollte, fuhr er erschrocken zurück. Blaue Flämmchen umgaben die Waffe, die neben Antaronas Nantakis im Baum hing. St. Elmsfeuer! Doch Antaronas Schwert blieb von der statischen Aufladung durch das Gewitter unberührt.
Seltsame, geheimnisvolle Eigenschaften waren es, die das Metall von Nantakis hatte. Damals, in den Hallen von Talris, da hatte diese Waffe die blauen, tödlichen Blitze wie ein Blitzableiter auf sich gezogen, und sie gerettet. Bei einem normalen Gewitter aber, schien das Metall keine Reaktion zu zeigen.
Mit vorsichtigen Griffen nahm Basti die Waffen vom Ast und reichte Antarona ihr Schwert, Pfeile und Bogen. Unschlüssig stand das Krähenmädchen auf der Eisschicht, die rasch taute und unförmige Eisklumpen zurückließ, die teilweise immer kleiner, scharfkantiger und spitzer wurden.
Basti beobachtete seine kleine Frau aus den Augenwinkeln, wie sie behutsam von einem Fuß auf den anderen trat. Dann fasste er sich ein Herz, packte sie und trug sie zum neuen Lagerplatz den Hang hinauf.
»Wo hast du eigentlich deine Beinlinge?« wollte er wissen, denn er hatte sie seit ihrer Ankunft im Tal der roten Flühen nur mit bloßen Füßen herumlaufen sehen.
Antarona lächelte süß, sagte nichts, deutete aber zum Baum hinauf, an dem ihre Waffen gehangen hatten. Sebastian sah sie fragend an.
»Noch höher hinauf ging es nicht, oder? Was hast du eigentlich dagegen, die Dinger so aufzuhängen, dass man sie auch erreichen kann?« fragte er mit einem etwas gereizten Unterton.
»Wenn Sonnenherz sie leicht erreicht, dann tun es auch andere«, war ihre knappe Antwort. Manchmal bestach ihre einfache, unkomplizierte Sichtweise Sebastians Logik. Er schüttelte dann zwar jedes Mal verständnislos den Kopf, bewunderte sie aber für ihre naive, kindliche Art.
Zwischen zwei Blitzphasen kletterte er in den Baum und angelte Antaronas Beinlinge von einem ausladenden Ast. Beinahe rutschte er mit den Füßen von der nassen Borke ab.
Fluchend stand Sebastian kurze Zeit später wieder auf festem Boden. Was war das für eine Nummer? Da stand er die gefährlichsten Abenteuer durch, und dann lief er Gefahr, sich beim Versuch, ihre Schuhe aus dem Baum zu pflücken, fast noch das Genick zu brechen!
Nachdem ihre Füße in den Beinlingen Schutz gefunden hatten, half Antarona beim Umzug des Lagers. Dabei entledigte sie sich des Fells, dass Basti ihr umgehängt hatte. Doch beim nächsten Gang bereute sie es schon. Gerade sammelten sie ihre Fleischstreifen ein, die noch über einem Gestell trockneten, als die Götter endgültig ihre Wasserreservoirs öffneten.
Von einer Sekunde zur nächsten prasselte ein heftiger Regen nieder, dass sie nicht einmal die Hand vor Augen sehen konnten. Binnen einer Minute klebten Sebastian Hemd und Hose wie eine zweite Haut am Körper. Es wurde sofort empfindlich kühl, und der aufkommende Wind tat das seine dazu, dass er zu frieren begann.
Noch ärger wurde es für Antarona, die nur mit dem Unterteil ihres Lederschurzes bekleidet, unter dem rauschenden Regenguss hin und her sprang, um ihre Habseligkeiten von Felsnasen, Ästen und Zweigen zu zerren, um sie in Sicherheit zu bringen.
Ihre langen Haare klebten ihr klatschnass auf dem Leib, der Lederschurz hatte sich mit Wasser vollgesogen und haftete wie angenagelt an ihren Schenkeln, und ihr zierlicher Körper dampfte wie eine rauchende Fackel. Sie kümmerte sich jedoch nicht darum, machte unbeirrt weiter. Ihre nasse Haut glänzte bei jedem Blitz unnatürlich blau und violett, und sie sah aus, wie ein Chamäleon, das gerade vom Baden kam.
Bald lagen nur noch wenige, unempfindliche Dinge im Gras herum, die aber im Wasser unterzugehen drohten. Es regnete so gewaltig, dass der Boden nach kurzer Zeit keinen Tropfen Wasser mehr aufnehmen konnte. Es bildeten sich riesige Pfützen, die sich vergrößerten, sich fanden, zusammenschlossen, und schließlich eine durchgehende Seenlandschaft bildeten.
Dazwischen sprang ein nacktes Mädchen wie eine tanzende Mücke herum, und klaubte die letzten Dinge, wie Werkzeuge, geflochtene Stricke und anderen Kleinkram auf. Sebastian hielt es für ein Risiko, so zwischen den Blitzkaskaden herumzuhüpfen und schnappte sein Krähenmädchen zum zweiten Mal.
Strampelnd protestierte sie und versprach ihm dafür die Augen aus den Höhlen zu kratzen, wenn er sie nicht augenblicklich wieder herunter ließ. Sebastian aber nahm lieber Vorlieb mit einem kratzenden Frauenzimmer, als mit einer vom Blitz gebratenen Frau.
Kompromisslos trug er sie zum Felsüberhang hinauf, setzte sie nicht gerade sanft auf den trockenen Boden, warf ihr erneut ein Fell um und sagte streng:
»Diesmal lässt du deinen kleinen Hintern gefälligst im Trockenen, sonst werde ich ihn dir verhauen, bis er glüht!« Ihre Augen blitzten auf, und wütend fuhr sie ihn an:
»Versucht es nur, Ba - shtie - laug - nids, versucht es nur, dann werdet ihr eine böse Überraschung erleben!« Sie wollte ihm noch etwas hinzufügen, doch Basti packte sie und presst ihr seine Lippen auf den Mund. Er küsste sie so lange, bis er spürte, dass sie sich entspannte und ihr allmählich die Luft ausging.
Nach Luft ringend saß sie da, ihre Lungen hoben und senkten die verführerischen Brüste wie ein Schiffsdiesel seine mächtigen Hubkolben. Unter nassen Haarsträhnen funkelten ihre angriffslustigen Augen hervor.
»So, und nun hörst du zur Abwechslung mal auf das, was ich sage, sonst binde ich dich an den Felsen!« drohte er ihr ohne jede wirkliche Ernsthaftigkeit.
»Wenn ihr es schafft..,« gab sie nur warnend zurück, zog das Fell aber bereitwillig um ihre Schultern zusammen.
Offenbar hatte sie eingesehen, dass ihr Mann recht hatte. Sie fügte sich seinem Urteil, und war schließlich froh, nicht noch einmal in den eiskalten, himmlischen Wasserfall hinaus zu müssen. Sebastian hingegen huschte noch einmal in den wild prasselnden Regen, um ein par Steine für eine Feuerstelle zu holen.
Anschließend suchten beide nach ihrer Zunderbüchse. Doch alles, was sie besaßen, war nass, oder zumindest feucht geworden. Notdürftig begann er mit seinem Bowiemesser hauchdünne Späne von einem Stück hartem Feuerholz zu schnitzen.
Diese Arbeit gestaltete sich in der feuchtwarmen Luft so schweißtreibend, dass Hemd und Hose gar nicht trocknen wollten, und er sie kurzerhand auszog, und über eine Felskante hängte. Während er den Feuerstein heftig gegen das Bowiemesser schlug, um Funken zu erzeugen, wollte Antarona seine Kleider richten. Dabei fiel ein Beutelchen aus seiner Hosentasche direkt in ihren Schoß. Sie warf einen verstohlenen Seitenblick auf ihren Mann, und stellte zufrieden fest, dass er voll auf die Beschäftigung konzentriert war, ein Feuer zu entfachen.
Sogleich wollte sie es wieder zurückstecken, fühlte aber die harten Quarts darin, die ihr ungewöhnlich groß und schwer vorkamen. Sie war nicht nur Sonnenherz, die Kriegerin, sondern auch Antarona, die Frau, mit eben den typischen Eigenschaften dieser Spezies ausgestattet, der Neugier.
Vorsichtig ließ sie die Quarts in ihre kleine Hand purzeln, und war überrascht. Gleichzeitig verriet sie der melodische Klang der Metallringe, und ließ Sebastian aufschauen. Antarona fühlte sich ertappt. Sie machte sich nicht mehr die Mühe, unschuldig und staunend zu tun.
»Ba - shtie, wollt ihr Sonnenherz verraten, woher ihr diese Quarts habt? Bental wird sie euch kaum gegeben haben, der er selbst hat jeden Besitz der Tränen der Götter verboten. Wie kommt ihr dazu, und was habt ihr damit vor?« fragte sie fordernd.
Fieberhaft suchte Sebastian nach einer Antwort, doch eine plausible Erklärung wollte ihm nicht einfallen. Er fühlte sich ebenfalls ertappt, weil er es bewusst unterlassen hatte, Antarona von dem wertvollen Fund in den Habseligkeiten der schwarzen Krieger und Harlunds zu erzählen.
»Ach, die hatten Torbuks Mordgesellen bei sich«, versuchte er die Existenz der Quarts herunterzuspielen, »ich habe sie aufbewahrt, als Beweis für die Allianz zwischen Fürst Jamálin und Torbuk, und dafür, dass sie bereits Spione und Meuchelmörder anheuern.«
Ein wenig hatte Sebastian das Gefühl, seine Frau belogen zu haben, doch er redete sich ein, mit diesem Argument durchaus den Tatsachen zu entsprechen. Doch würde er Bental von den Quarts bereichten, so würde dieser das Ringgeld aus den Tränen der Götter von ihm einfordern. Sebastian wollte die Quarts aber nicht wieder hergeben.
Für ihn waren die wertvollen goldenen Ringe ein begehrtes Objekt, mit dem man manchen Verstockten zum Reden bringen konnte, mit dem sich mancher Gegner bestechen ließ, und mit dem man auch sonst allerlei Möglichkeiten hatte, die einem ohne diesen Anreiz nicht eröffnet wurden.
»Es sind die Tränen der Götter, Ba - shtie, das Metall, das die Menschenwesen böse und hinterhältig werden lässt«, stellte Antarona vorwurfsvoll fest.
»Wir werden das böse Metall in den Bach werfen«, bestimmte sie, »das Unwetter wird es fortspülen und es wird den Menschenwesen kein Leid mehr zufügen!«
»Nein, das werden wir nicht tun«, entgegnete Basti mit gebieterischer Stimme, »ich werde diese Tränen der Götter behalten! Sie werden uns noch sehr nützlich sein.« Er sah Antarona eindringlich an und fuhr fort:
»Vielleicht können sie einmal bewirken, dass einer von Torbuks Leuten die Seiten wechselt, und uns zunutze wird. Diesen Trumpf werde ich nicht einfach in einen Bach werfen.« Dann zuckte er gespielt gleichgültig mit den Achseln und sagte emotionslos:
»Aber wenn du mir nicht traust, so kannst du die Quarts ruhig an dich nehmen, sie werden allmählich ganz schön schwer, und ich bin froh, wenn ich sie nicht ständig tragen muss.« Antarona biss sich auf die Unterlippe und stopfte die goldenen Ringe wieder in das Beutelchen, das sie ihm schnell hinüber reichte, als hätte sie sich die Finger daran verbrannt..
»Nehmt ihr sie nur, Ba - shtie«, lenkte sie rasch ein, »Sonnenherz bedarf nicht der Tränen, welche die Menschenwesen falsch machen. Wenn ihr sie zum Wohl der Îval verwendet, so will euch Sonneherz dies nicht abtun!«
Sebastian nahm eine geflochtene Lederschnur, band sich diese um die Hüfte, und knüpfte das Ledersäckchen seitlich daran fest. Antarona vermochte mit den goldenen Quarts nichts anzufangen, und so existierten sie ab diesem Moment für sie nicht mehr.
Währenddessen regnete es unablässig und ungewöhnlich stark. Kleine Rinnsale entstanden, ergossen sich über den Felsen und über den Überhang. Kleine Wasserfälle platschten vor ihren Füßen auf den Boden und spritzten nach allen Seiten. Ein Feuer wurde immer sinnloser.
Statt dessen schichtete Basti eine Vielzahl von Steinen unter der Kante des Überhangs auf, um das Spritzwasser abzuhalten. Pitschnass und mit dampfendem Körper kroch er anschließend zu Antarona unter die Felle. Sie hatte inzwischen ein gemütliches, trockenes Lager hergerichtet, und empfing ihn mit dem verführerischen Duft ihrer Wärme.
Ihre frierenden Körper drängten sich aneinander, und rieben sich mit verlangenden, fordernden Bewegungen trocken. Eine Weile zählten sie noch die Blitze, die durch den dichten Schleier des strömenden Regens zuckten, lauschten dem Krachen und Donnern, das für Sekunden das permanente Rauschen unterbrach, bevor sie ineinander verschlungen einschliefen...

Der Morgen weckte sie mit einer Sonne, die Mühe hatte, ihre Strahlen durch dichten Dunst zu schicken. Das Land dampfte und es so aus, als kochte die Erde. Dampfschwaden stiegen auf, erhoben sich bis zu einer bestimmten Höhe, und schienen dann still zu stehen.
Es roch nach frischer Erde, nach Gras und Wald. Den schweren Duft nach Blüten hatte der Regen aus der Luft gewaschen. Das Gras der Weiden lag niedergestreckt unter der Last Millionen funkelnder, glitzernder Wassertropfen, und die Wiesen sahen aus, als hätte einer der Götter in der Nacht überall Diamanten verstreut.
Sehr viel hatte es sich nicht abgekühlt, dafür stand die Luft vor Feuchtigkeit. Antarona und Sebastian lugten unter den Fellen hervor, und sogen die Luft ein, die den würzigen Duft des Waldes herübertrug, aber schon wieder Wärme speicherte.
Basti kroch aus dem Fellhaufen, stieg über den Spritzwasserschutz, und reckte sich genüsslich vor dem Überhang. Ungeachtet ihrer Blöße tat es Antarona ihm nach. Ungeniert reckte sie ihre Arme gen Himmel und ordnete grob ihre wirr herabhängenden, Haarsträhnen.
Müde hockte sie sich ins Gras, zog die letzten Regentropfen von den Halmen, und wusch sich damit das Gesicht. Die Erfrischung weckte ihre Lebensgeister. Übermütig streifte sie eine Hand voll Wasser von den Gräsern und schleuderte sie Basti ins Gesicht.
»Wascht euch gefälligst erst einmal, bevor ihr Talris und einem neuen Tag huldigt«, rief sie ihm spitzbübisch zu. Basti zuckte unter der kalten Dusche zusammen und holte tief Luft.
»Na warte, du kleine Hexe, dir werde ich helfen!« Er schnappte sie sich, warf sie zu Boden uns wälzte sie durch das nasse Gras. Schneller als er sprang sie wieder auf die Beine und stieß ihn in eine Vertiefung im Boden, in der sich reichlich Regenwasser gesammelt hatte.
Prustend kroch er wieder daraus hervor, und sann nach Rache. Er mochte ihren unbeschwerten Übermut, doch so viel Frechheit musste abgekühlt werden. Erneut packte er sie um die Taille und warf sich ihren leichten, strampelnden Körper über die Schulter.
Antarona ließ es quiekend vor Freude geschehen. Basti wusste aber, dass er, wenn sie es nicht gewollt hätte, nicht die geringste Chance gehabt hätte. Sie war viel zu gelenkig, wendig und schnell. Während sie ihm mit trommelnden Fäusten auf seinem Rücken Widerstand vorspielte, hielt er ihre Hüfte mit einem Arm fest umklammert und sorgte mit der anderen auf ihrem Po für das Gleichgewicht seiner ausgelassenen Fracht.
Als sie bemerkte, dass er die Richtung zum Bach hin einschlug, wurde sie noch wilder, wirbelte mit den Beinen herum, ihre Krallen fuhren über seinen Rücken und sie fauchte, wie eine gereizte Raubkatze.
»Das tut ihr nicht, Ba - shtie, das wollt ihr nicht tun, Sonnenherz wird euch die Haut vom Leib kratzen, wenn ihr das wagt!« Sebastian ließ sie ruhig weitertoben, klatschte ihr leicht auf den Hintern und sagte fröhlich:
»Und ob ich das tun werde, wirst schon sehen, und Sonnenherz wird gar nichts dagegen machen können! Sie wird ein schönes, erfrischendes Bad nehmen, bis ihr Temperament wieder etwas abgekühlt ist, und sie ihrem Mann wieder den nötigen Respekt erweist!«
»Das könnt ihr vergessen, Mann mit den Zeichen der Götter«, kreischte sie ohne wirklichen Zorn, »lasst Sonnenherz sofort runter, oder ihr werdet es bereuen!« Sebastian lachte laut und wurde nun selbst übermütig.
»Das kannst du vergessen!« äffte er sie übertrieben nach. »Du wolltest, dass ich mich erst einmal wasche? Das kannst du haben, mein Engelchen, aber nur mit dir zusammen!« Inzwischen hatten sie eine seichte, sandige Furt am Bach erreicht. Die Strömung war hier geringer, als im steinigen Bett des Gewässers, dafür aber durch das vom Regen verursachte Hochwasser, tiefer als sonst.
In hohem Bogen warf Basti sein Krähenmädchen in die kühlen Fluten und hechtete selbst hinterher. Die Abkühlung bei den schwülen Wetter tat unheimlich gut. Er breitete die Glieder aus, atmete befreit durch und ließ seinen Körper vom frischen Strom umspülen.
Wie ein Fisch tauchte Antarona wieder aus dem dahinsprühenden Wasser auf. Sie hob eine Hand und rief ihm zu:
»Passt auf, Ba - shtie - laug - nids, dies sind Pfeile der schwarzen Reiter!« Damit öffnete sie ihre kleine Faust und ließ kleine Steinchen, die sie vom Grund aufgelesen hatte in seine Richtung fliegen. Sebastian reagierte zu spät. Schmerzhaft trafen die kleinen Geschosse seinen Körper und es fühlte sich tatsächlich so an, als trafen ihn ein Schwarm Pfeile.
»Na warte, das wirst du mir büßen«, drohte er spaßig hinüber und tauchte ab, um ebenfalls ein par Steine vom Grund zu holen. Schnaufend kam er wieder hoch, und wurde sogleich erneut von einem Steinchenhagel eingedeckt.
»Pah, da müsst ihr schon früher aufstehen«, triumphierte Antarona keck. Doch nun hatte Sebastian eine Hand voll Steinchen und warf sie in ihre Richtung hoch in die Luft. Noch während die kleinen Pfeilattrappen in hohem Bogen auf das Krähenmädchen zuflogen, verschwand sie unter der Wasseroberfläche. Die Steinchen platschten unverrichteter Dinge ins Wasser.
Nun aber war Basti auf der Hut. Sofort tauchte er wieder ab und sammelte neue Munition vom Grund des Baches. Dann steckte er kurz den Kopf aus dem Wasser, um zu sehen, wo sich seine gespielte Gegnerin befand, ließ sich aber sofort wieder unter die Wasserfläche sinken. Keine Sekunde zu früh. Er sah noch, wie ihre gedachten Pfeile auf dem Wasser aufschlugen, ohne ihn aber zu treffen.
So ging das eine ganze Weile, und allmählich fanden sie beide Spaß an dem neuen Spiel, das Kampftraining und Abkühlung gleichermaßen war. Mal trickste Antarona, und er bekam die volle Ladung ab, mal war er im Vorteil und traf noch ihre Beine, während sie schon wieder abtauchte.
Im Schlagabtausch ihrer Angriffe mit simulierten Pfeilen verging die Zeit wie im Flug und selten hatten sie so viel Spaß miteinander, wie an diesem Morgen. Antarona war es aber bald leid, nur mit Steinchen zu werfen. Sie dachte sich ein neues Spiel aus.
Als wollte sie eine neue Hand Steinchen heraufholen, tauchte sie unter, gerade, als Sebastians Geschosse auf dem Wasser aufschlugen. Sie krallte ihre Finger in den Sand des Bachgrunds und zog sich unter wasser vorwärts, in die Richtung, wo sie Basti zuletzt gesehen hatte.
Er aber hatte sich beeilt, neue Steinchen in beide Hände zu bekommen, und wartete regungslos auf das Auftauchen seiner Spielgefährtin. Doch die ließ sich diesmal reichlich Zeit.
Antarona indes kämpfte getaucht gegen die Kraft des fließenden Wassers. Wurde sie abgetrieben, so hatte sie kaum mehr die Chance, Sebastian ungesehen aufzuspüren. Hinter einem größeren, rund gewaschenen Felsen kam sie vorsichtig hoch, wischte sich das Wasser aus den Augen und spähte hinter dem nass glänzenden Stein hervor.
Nur wenige Schritte entfernt von ihr stand ihr gespielter Feind bis zur Hüfte im Wasser. Er starrte auf die Stelle, wo sie vorhin verschwunden war. Schnell ließ sie sich wieder auf den Grund sinken. Brauchte sie zu lange, dann glaubte er am Ende noch, sie wäre ertrunken.
Gegen den kräftigen Strom zog sie sich von ihm fort, zum Ufer hin. Die Abdrift durch die Strömung musste sie genau vor seine Beine führen. Sie musste nicht lange suchen. Im aufgewühlten, von Millionen winziger Luftbläschen durchzogenen Wasser tauchte er plötzlich vor ihr auf.
Na der sollte sich wundern! Sie streckte die Arme aus, bereit, mit ihren Krallen zuzupacken. Um ihn mit kräftigem Schwung zu attackieren, grub sie ihre Zehen in den Grund und stemmte sich ab. Doch genau in diesem Augenblick spürte sie, wie zwei Hände wie Klammern ihre Taille umfassten und sie aus dem Wasser rissen.
Angestrengt hatte Sebastian die Stelle im Auge behalten, an der seine Frau untergetaucht war. Er wartete, jederzeit in der Lage, seine gedachten Pfeile auf Antarona niedersausen zu lassen. Doch sie tauchte nicht wieder auf. Erst glaubte er an einen Trick, dann machte er sich ernsthaft Sorgen.
Hatte sie den Halt verloren? War sie in der Strömung abgetrieben, flussabwärts, wo das Bachbett wieder tiefer und enger wurde, und die Strömung gefährlich schnell? Er blickte Strom abwärts, sah aber nur das weiß spritzende Wasser wild und ungezügelt gegen Felsen und Steine anbranden. Wenn sie dort hineingeraten war...
Er wollte eben aus dem Wasser steigen, und nach ihr suchen, als etwas Dunkles unter der Wasseroberfläche auf ihn zu glitt. Es sah aus wie eine schwarze Qualle, oder ein vielarmiger, dunkler Krake. Dann fiel es ihm wie Schuppen aus den Augen:
Antaronas lange, schwarze Haare! Die kleine raffinierte Kröte hatte ihn tatsächlich ausgetrickst! Sebastian reagierte sofort. Er griff ins Wasser, bekam ihre schmale Taille zu packen, und hob sie hoch.
»Was für einen seltsamen Fisch wir da gefangen haben..!« rief er mit gespieltem Erstaunen aus. Antarona, die sich ihrer Sache sicher war, zappelte tatsächlich wie ein Fisch auf dem Trockenen.
Sie versuchte erst, ihren glitschigen, nassen Körper seinen Händen zu entwinden, gab es aber schließlich auf. Statt dessen begann ihr Herz noch heftiger zu pochen, als in der Spannung des Angriffs, sie spürte seine kräftigen Arme und wollte nichts anderes, als von ihnen verführt zu werden...
Eine Stunde später, erfüllt von innerer Glückseligkeit trug Basti ihren ermatteten, fröstelnden Leib in das Lager zurück. Nach ihrem verschwiegenen Abenteuer im eiskalten Bach, kam ihnen die drückende, feuchte Wärme plötzlich ganz angenehm vor.
Ohne, dass sie es gemerkt hatten, war die Zeit verstrichen. Sie hatten einen ganzen Morgen vertrödelt. Nun mussten sie sich beeilen, zum Felsen und zur selbst angelegten Kampfarena zu kommen. Rasch legten sie noch ein par Dinge zum Trocknen aus, nahmen sich jeder zwei Stück Trockenfleisch in die Hand und hängten sich ihre Waffen um.
Kauend durchzogen sie das nasse Gras. Immer wieder traten sie in verborgene Tümpel und Pfützen, da der Boden das viele Regenwasser noch nicht vollständig aufnehmen konnte. Sebastian ging, wie Antarona, mit bloßen Füßen. Seine Stiefel hatte er sich mit den Lederbändern um den Hals gehängt.
Schon bevor sie den Trainingsplatz erreichten, sahen sie Thorbalds Silhouette von Weitem auf und ab wandern. Er hatte bereits längere Zeit gewartet, und sich die Zeit damit vertrieben, das Gras der Arena erneut niederzudrücken.
Zunächst wunderte sich Sebastian, dass Arnhold nicht mitgekommen war. Doch Thorbald berichtete, dass Hetarus nach dem Unwetter jede Hand brauchte, um das Lager wieder herzurichten. Auch die Heerlager waren von den heftigen Hagelschauern, von Sturm und Regen nicht verschont geblieben.
Die meisten Zelte von Hetarus Heerlager waren beschädigt worden. Einige hatte der Sturm regelrecht zerrissen. Im anderen Heerlager über den roten Flühen wurden einige Zelte vom Wind über die Felskante gefegt. Wie durch ein Wunder war kein Krieger verletzt worden.
Doch nun standen die Kampfübungen im Vordergrund. Sebastian überließ Antarona die Bühne. Sie hatte aus ihm einen Krieger gemacht, der all ihre Finessen beherrschte, und würde auch Thorbald sehr schnell ihre Kunst vermitteln.
Sie verlor dabei nicht unnötig viele Worte, sondern kam gleich zur Sache. Kaum hatte Thorbald sein Übungsschwert in der Hand, schon hatte sie ihn blitzschnell wieder entwaffnet. Anschließend zeigte sie ihm in langsam ausgeführten Bewegungen, wie sie es gemacht hatte, welche Drehung sie ausgeführt, und welche Finte sie gleichzeitig angewandt hatte.
Thorbald sah sich alles ganz genau an und probte selbst die gezeigten Übungen, zunächst langsam, bedächtig, später immer schneller, bis die Bewegungen fließend in Fleisch und Blut übergingen.
Der junge Krieger kämpfte im leichten Kettenhemd, Antarona in ihrem Lederschurz. Sebastian hatte darauf bestanden, dass sie ihr Oberteil anzog. In den Kampfpausen wusste Thorbald ohnehin schon nicht mehr, wohin er schauen sollte.
Antarona war nur Lehrerin, dennoch war sie eine Frau, die jedem Mann sofort die Sinne rauben konnte. Basti wusste das, und ließ die beiden nicht eine Minute aus den Augen. Er hielt sich im Hintergrund, beobachtete aber mit Argusaugen das Geschehen.
Sie trainierten bis in den Nachmittag hinein. Zwischendurch löste Sebastian sein Krähenmädchen ab, um Thorbald Gelegenheit zu geben, das Gelernte anzuwenden. Für Basti war es ebenfalls eine willkommene Übung.
Der junge Krieger erwies sich als gelehriger Schüler. Bald beherrschte er die ersten Drehungen im Zusammenhang mit Hieben und Streichen. Es wurde klar, dass er im Vorteil war, weil er den neuen Tanz an den Elsirenfeuern einstudiert hatte. Die Grundbewegungen waren auch die Voraussetzung für den Kampfstil Antaronas.
Abends genossen Antarona und Sebastian ihre Zweisamkeit. Oft spielten sie im Bach das Spiel der vielen Pfeile. Dabei entwickelten sie immer neue Tricks und Varianten, um den Gegner zu täuschen und in die Irre zu führen.
Nebenbei gingen sie auf die Jagd, räucherten und trockneten Fleisch, und Antarona fand sogar Zeit, ihre und Bastis Kleidung zu flicken. Sebastian verfasste alsbald eine Botschaft an König Bental. Er schilderte darin die Vorfälle, wie den Angriff auf Antarona und die Aussagen des Gefangenen, sowie seine Befürchtungen dazu, die Bental bereits kannte.
So zogen sich vier Wochen in diesem immer gleichen Rhythmus hin, ohne dass weitere Vorkommnisse stattfanden, die der besonderen Erwähnung bedurften. Zwischenzeitlich kam auch Arnhold zu den Übungsstunden. Es ergab sich einfach, und Sebastian hatte die Hoffnung, dass sie durch zwei Schüler schlussendlich eher fertig werden würden.
Anfangs machte Sebastian seine Eifersucht enorm zu schaffen. Doch bald erkannte er mit Gewissheit, dass Antarona nur Blicke für ihren Mann mit den Zeichen der Götter hatte. Mit den jungen, in der Liebe und dem Leben unerfahrenen Burschen fand sie keinerlei Gemeinsamkeiten.
Nachdem Sebastian weder vom König, noch vom Rat von Falméra eine Antwort auf seine Depesche bezüglich der Vorfälle mit Torbuks Reitern erhalten hatte, brannte ihm die Zeit unter den Füßen. Er zeigte es nicht, doch unbewusst drängte er darauf, die Ausbildung Thorbalds und Arnholds abzuschließen, damit sie zur Burg zurückkehren konnten.
Sebastian wollte selbst mit Bental unter vier Augen sprechen. Möglicherweise war seine Botschaft nicht aussagekräftig genug gewesen, um Bental und den Rat zum Handeln zu bewegen. Außerdem hegte er die Hoffnung, Arrak könnte inzwischen mit zuverlässigen Informationen zurückgekommen sein. Längst war der Anführer der Windreiter überfällig. Alles in allem fühlte sich Sebastian zur Tatenlosigkeit verurteilt, während er seine Zeit als Zuschauer der Kampfübungen vertat, oder als gelegentlicher Sparringpartner Thorbalds.
Andererseits mochte er Antarona und ihre Schüler nicht allein lassen. Zu groß war noch die verborgene Eifersucht, zu quälend der Gedanke, sein Krähenmädchen könnte doch für einen Augenblick schwach werden, und sich einem der jungen Krieger zuwenden.
So fügte sich Sebastian in die Situation, die er selbst initiiert hatte. Nichts desto Trotz genoss er die Nachmittage, an denen er mit seiner Frau auf die Jagd ging, oder mit ihr das weite Tal, bis hinunter zur Schlucht erkundete.
Er freute sich täglich auf die stillen Abende im goldenen Schein der untergehenden Sonne, die sie in verschwiegener Zweisamkeit verbrachten, und war ebenso begeistert von ihren Pfeilspielen im Bach, bei denen sie wiederum eine ganz neue Kampftechnik im Wasser entwickelten, die ihnen vielleicht noch einmal zugute kommen mochte.
Bis zum neuen Mond musste sich Basti gedulden. Dann, nachdem sie ein par Mal von Thorbald besiegt worden war, befand Antarona, dass sie ihm nichts Wesentliches mehr beibringen konnte. Arnhold war zwar noch nicht ganz so weit, doch er konnte fortan von seinem Kameraden lernen.
Thorbald war beinahe so perfekt geworden, wie Antarona selbst, und Sebastian hatte es inzwischen aufgegeben, gegen ihn im Kampf bestehen zu wollen. Ihre Mission war damit so gut wie beendet. Nebenbei hatte der junge Krieger bereits begonnen, selbst einige seiner Kameraden aus den Heerlagern zu unterrichten.
Auf einer Waldlichtung zwischen den beiden Heerlagern hatte er zwei neue Kampfarenen eingerichtet, und ließ abwechselnd immer wieder andere Krieger gegeneinander antreten. Sebastian, der die Anforderungslisten für Proviant und Ausrüstung gegenzeichnen musste, staunte nicht schlecht über den sprunghaft ansteigenden Verbrauch von Übungsschwertern aus Holz.
Irgendwann blieb nichts weiter zu tun, als Thorbald bei der Unterweisung der Krieger zuzuschauen. Deshalb beschlossen Sebastian und Antarona zur Burg zurückzukehren. Sie verbrachten noch einen Tag im Tal mit Müßiggang, kramten ihre Habseligkeiten zusammen, die sich während ihres Aufenthalts in ihrem Lager wie von selbst verteilt hatten, und beseitigten die Spuren ihrer Anwesenheit.
Vor der letzten Nacht im Lager suchten sie nach ihren Pla-kas, die sich seit ihrer Ankunft einer neuen Freiheit erfreuten. Sie fanden die Tiere in einem ausgetrockneten Bachbett, das von der Felswand zur Schlucht verlief. Das freie Leben schien ihnen gut zu tun, denn sie strotzten vor Kraft und Gesundheit.
Nach einer ruhigen Nacht schnürten Antarona und Sebastian beim ersten Sonnenlicht ihre Bündel, nahmen ihre Waffen auf und begannen zum Hügelkamm aufzusteigen, der das Tal vom großen Plateau trennte.
Trotzdem die Sonne noch nicht hinter den roten Flühen hervorgekrochen war, brach ihnen der Schweiß schon nach den ersten Metern aus den Poren. Sehnsuchtsvoll blickten sie auf den Bach hinab, der sich als silbernes Band durch das gelbgrüne Grasland schlängelte.
Sie dachten an die vielen Sonnenaufgänge, in denen sie sich im kalten Wasser tummelten und sich bei ihrem Pfeilspiel abkühlten. Sie vermissten schon jetzt das freizügige, wilde Leben, das in der Burg dem Zwang Bentals Protokoll weichen musste.
Um so mehr drängte sich wieder ihre Reise nach Mehi-o-ratea ins Bewusstsein. Der heimliche Ruf der Wildnis und nach Freiheit versetzte ihren Geist und ihre Herzen mehr denn je in Aufruhr. Und beide hatten das Bestreben, die Burg nach der Audienz beim König umgehend wieder zu verlassen.
Oben am Hang angekommen, drehten sie sich noch einmal um. Traurig sahen sie hinab, auf die Weiden, die Wälder und den kleinen Fluss, die Lebensader des Tals - ihres Tals!
»Wir werden wiederkommen«, versprach Sebastian, der Antaronas Gedanken erraten hatte, weil es ihn gleichermaßen bewegte. Antarona sah ihn nachdenklich an.
»Wenn Ba - shtie und Sonnenherz zurückkehren, werden sie nicht mehr allein sein«, prophezeite sie geheimnisvoll. Doch Sebastian wusste, was sie meinte.
Wenn sie eines Tages wieder auf diesem Kamm stehen, und zu Tal blicken würden, sollte, so ihnen die Götter gewogen waren, auf einem Pla-ka ein kleines Bündel aufgeschnallt sein. Ein kleines Bündel, das ein kleines, neues Leben in sich barg. Ihre Tochter würde hier ein Zuhause finden!
Basti ließ noch einmal prüfend sein Augenmerk über die weißen Spitzen der Zelte gleiten. In den beiden Heerlagern regte sich erste Betriebsamkeit. Das Training der Krieger würde nun ohne jene beiden weitergehen, welche bereits die Art des Kampfes einer unterlegenen Kriegspartei revolutioniert hatten.
Doch nun nahmen sie erst einmal Abschied von diesem Ort, der ihnen ein Stück Freiheit und Zweisamkeit beschert hatte. Mit Zufriedenheit, aber auch mit Wehmut wandte sich Sebastian dem großen Plateau zu, dass sie nun ohne Pla-kas bewältigen mussten.
Drei Tage, rechnete Basti, würden sie über staubige Steppe laufen. Drei Tage in der glühenden Sonne des Falmérischen Sommers. Ihre Wasserschläuche waren wohl gefüllt, dennoch würden sie das kostbare Nass streng rationieren müssen.
Auf dem gesamten Plateau gab es keine Wasserstelle und in den Wäldern links und rechts der Hochebene danach zu suchen, hatten sie nicht die Zentaren. Antarona schlüpfte in ein paar leichte, weiche Moccasin, die gerade ihre Füße bedeckten, aber eine kräftige Sohle besaßen.
Das von der Sonne zu Stroh getrocknete Gras, sowie die kleinen und großen Steinchen stachen in die Fußsohlen. Ohne Schutz an den Füßen hätten sie sich diese bald blutig gelaufen. Sebastian erkannte, wie unentbehrlich Pla-kas in diesem Gelände waren.
Die Steine und harten Grasbüschel machten ihre Wanderung zu einem Eiertanz. Dabei war Antarona mit ihrer Leichtfüßigkeit, und ihrer Fähigkeit, jeden ihrer Schritte wie im Schlaf gezielt zu setzen, deutlich im Vorteil. Sebastian hingegen stolperte mit seinen derben Kampfstiefeln wie ein ungelenker Troll hinter ihr her.
Solange sie die aufgehende Sonne im Rücken hatten, kamen sie gut voran. Doch mit jeder Zentare, die der glühende Himmelsball dem Zenit entgegenwanderte, wurde auch die Hitze größer. Das Land heizte sich auf. Wie in einem Kessel staute sich die Wärme zwischen den Wäldern links und rechts. Das Plateau wurde zum Glutofen.
Die Sonne hatte ihren Höhepunkt noch nicht erreicht, als sie schwer atmend und nach Luft ringend, eine erste längere Pause einlegen mussten.
»Wenn das so weiter geht, brauchen wir fünf Sonnen, bis wir die Wälder der Burg erreichen. Bis dahin liegen unsere Gebeine ausgedörrt in der Steppe«, bemerkte Sebastian bitter, »vielleicht hätten wir unsere Pla-ka doch nicht im Tal der roten Flühen lassen sollen.
Antarona entledigte sich ihres Oberteils und reckte sich ausgiebig und Sebastian sah ihr mit wachsendem Verlangen zu. Auch ihr Bündel schien mit ansteigender Hitze schwerer zu werden. Sebastian betrachtete sie forschend. Anscheinend wollte sie nur mit ihrem knappen Lederschurz und den Moccasin an den Füßen weitergehen.
Und er selbst war ebenso versucht, sich die Kleider auf das Bündel zu schnallen. Doch die Angst vor der intensiv brennenden Sonne hielt ihn davon ab. Auf Balmers Alm hatte er sich einmal einen kleinen Sonnenbrand eingefangen. Wie mochte seine Haut erst in diesem glühenden, schutzlosen Bratofen reagieren?
»Willst du so etwa den ganzen Weg zurücklegen?« fragte er das Krähenmädchen zweifelnd. Skeptisch sah er sie an.
»Die Sonne wird dir die Haut verbrennen, bis sie in Streifen an dir herabhängen wird!« Er befürchtete tatsächlich, dass die intensive Strahlung seine zierliche Frau innerhalb eines Tages zu einem runzligen Weib verdörren ließ.
Doch Antarona hob nur gleichmütig die Schultern, nahm wieder ihr Bündel und die Waffen auf und meinte ziemlich unbekümmert:
»Das Licht Talris schadet Sonnenherz nicht. Habt ihr vergessen, dass sie bereits als Kind unter ihm lebte? Nie hatte das Licht des Lebens Sonnenherz Haut ein Leid zugefügt!«
Sebastian betrachtete seine Frau nachdenklich. Es war ihm nie wirklich aufgefallen, doch nun schien es ihm um so deutlicher ins Bewusstsein zu treten. Antarona war während der ganzen Zeit, die sie im Tal der roten Flühen verbracht hatten, unbekleidet herumgelaufen.
Die Tage waren nicht minder heiß, und sie war ständig den Strahlen der Sonne ausgesetzt gewesen. Es hatte ihr nichts ausgemacht. Er hatte auch nie beobachtet, dass sie sich etwa mit einem Sonnenschutz eingerieben hätte.
Statt dessen, und das fiel ihm erst jetzt bewusst auf, hatte ihre Haut einen deutlich dunkleren Teint bekommen. Sie war beinahe so dunkelbraun geworden, wie ein Stück sonnenverbranntes Arvenholz. Zum Vergleich sah er an sich selbst herunter und stellte fest, dass er ebenfalls eine augenfällig braune Hautfarbe bekommen hatte.
Im Tal war er genauso freizügig herumgelaufen, wie Antarona. Da er die Intensität der Sonne dort nicht so gespürt hatte, wie auf diesem Plateau, und sich auch keine schmerzhaften Folgen eingestellt hatten, war ihm auch nicht in den Sinn gekommen, etwas dagegen zu unternehmen.
In seiner Welt wäre das nicht ohne lebensbedrohliche Folgen geblieben. Auf Falméra jedoch war die intensive Sonne anscheinend nicht schädlich. War hier die Atmosphäre dichter, oder mit einem stärkeren Filter ausgestattet? Lag es an der abklingenden Eiszeit, die das Festland noch zum Teil beherrschte?
An dieser Stelle seiner Gedanken musste sich zwangsläufig wieder die Frage aufwerfen, in welchem Teil der Welt er sich befand, oder ob es überhaupt ein Teil seiner bekannten Welt war. Aber Sebastian Lauknitz hatte aufgegeben, darüber nachzusinnen.
Allmählich fragte er sich auch, ob das Leben, dass er meinte, vorher geführt zu haben, überhaupt real war. Seine moderne Wohnung in der Norddeutschen Stadt, der ständig lärmende Autoverkehr unter seinem Fenster, die Rohbauten, die er tagtäglich mit Verputz versah, das alles kam ihm inzwischen nur noch wie ein klarer, deutlicher Traum vor, wie etwas, das er sich eingebildet hatte, und das immer mehr verblasste.
Doch das nackte, wunderschöne gebräunte Mädchen neben ihm, die glühende Sonne, die auf eine ausgedörrte Ebene brannte, sie waren ebenso real, wie der Durst, der ihn plagte. Auch die Erlebnisse der letzten Tage waren Wirklichkeit!
Sebastian schlug sich mit geballter Faust auf den Oberschenkel und verzog schmerzhaft das Gesicht, als er eine empfindliche Stelle seines Muskels traf. Aber er wollte sicher gehen, dass er nicht gerade dieses träumte. Er brauchte Gewissheit, dass er sich in der Wirklichkeit befand.
Antarona beobachtete ihn und sah ihn fragend an, als zweifelte sie mittlerweile an seinem Verstand. Vermutlich dachte sie gerade darüber nach, ob ihm das Licht Talris nicht doch das Gehirn verbrannt hatte.
»Ba - shtie, sind es Talris und seine Götter, welche euch dazu bringen, euch zu geißeln«, fragte sie verwundert.
»Muss Sonnenherz anfangen, sich Sorgen zu machen? Sorgen um euch, Ba - shtie?« Er machte eine fahrige Handbewegung, die wohl bedeuten sollte, dass sie vergessen sollte, was sie eben gesehen hatte. Statt dessen schlug er vor:
»Vielleicht sollten wir zum Wald der wandernden Sonne hinübergehen, und unseren Weg im Schatten der Bäume fortsetzen?«
»Ba - shtie, wir würden die Hälfte der Zentaren einer Sonnenreise verlieren«, gab Antarona zu denken, »zudem geht es sich zwischen den Bäumen langsamer, als auf den verbrannten Weiden!«
»Aber möglicherweise finden wir dort eine Quelle und müssen nicht erleben, wie uns die Zungen am Gaumen festkleben«, warf er konternd ein. »Und wir haben Schatten, was bedeutet, dass wir nicht so rasch müde werden, außerdem bieten die Bäume Deckung vor...«
»Was Sonnenherz und euch verbirgt, versteckt auch Feinde!« entgegnete sie. »Auf der Ebene sind Feinde jedoch zu sehen, lange bevor sie zu einer Bedrohung werden!« Sebastian wurde bald klar, dass Antarona nicht viel davon hielt, einen Umweg durch die Wälder zu machen. Doch plötzlich lenkte sie ein:
»Beobachtet einer aber die Ebene aus der Deckung der Bäume heraus, so ist er im Vorteil, auch wenn die Feinde vielzählige ist«, erklärte sie. Basti begrüßte diese sinneswandlerische Einsicht und änderte abrupt seine Marschrichtung.
Der Wald schien bereits zum Greifen nahe. Trotzdem brauchten sie nicht weniger, als schätzungsweise vier Stunden, bis sie zwischen die locker stehenden, mächtigen Laubbäume traten, die angenehm vor der brüllenden Sonne schützten.
Sogleich verstaute Antarona ihre Moccasin wieder in ihrem Bündel, denn der Boden im Schutz der Bäume war kühl, und das Laub weich und feucht. Die Sonne hatte es nach dem Unwetter noch nicht geschafft, die alte, auf der Erde liegende Blätterschicht zu trocknen.
Geräuschlos und schnell federten Antaronas nackte Füße über den Waldboden, der selbst unter ihrem wenigen Gewicht nachgab. Ihre Augen huschten ihren Schritten voraus, registrierten Spuren, Heilkräuter und verborgene Stolperfallen, wie von Blättern verdeckte Äste.
Auf diese Weise schlichen sie dicht am Waldrand entlang, bis die Sonne schräg durch das Blätterdach einfiel und mit goldenem Licht die dicken Stämme bestrich. beide spürten sie, dass es Zeit war, sich nach einem Lagerplatz für die Nacht umzusehen.
Direkt am Waldrand zu lagern, war zu riskant, wenn sie ein Feuer machen wollten. Den Schein würde man von der Ebene aus kilometerweit sehen. Andererseits konnte sich jedes Geschöpf vom Wald her anschleichen, ohne dass sie seiner gewahr wurden.
Also drangen sie tiefer in den Forst ein. Irgendwann, es begann schon zu dämmern, gelangten sie zu einer weiten Lichtung, die von einer Felsformation beherrscht wurde. Die ringförmige Anordnung der Steinblöcke glich mit etwas Phantasie einer Burg, hinter deren Mauer man sich leicht verbarrikadieren konnte.
Welche Laune der Natur diese Felsen wie eine riesige Feuerstelle auf die Lichtung gestreut hatte, blieb Sebastian verborgen. Aber sie eignete sich hervorragend als Nachtquartier, und erinnerte ihn an eine ähnliche Formation, die er auf seinem Weg von Högi Balmers Alm ins Tal von Val Mentiér gefunden hatte.
Solche Felsburgen mochten alles mögliche sein. Landmarkierungen, von den alten Göttern angelegt, über Jahrmillionen auserodierte Lavaschlote, oder auch nur zufällige Phänomene der Natur. Sebastian nahm sie dankbar an.
Seine Frau hingegen wurde stets von gesunder Skepsis getrieben. Sie suchte die Umgebung nach Spuren ab, um festzustellen, welche Wesen des Waldes sich regelmäßig in der Nähe dieser Felsenburg herumtrieben.
Nachdem sie befand, dass keine Gefahr zu erkennen war, zwängte sie sich durch die eng aneinander liegenden Felsen und warf ihr Bündel, sowie einen Arm voll Feuerholz in die Mitte des Steinforts, dessen innere Grasfläche im Durchmesser etwa sechs bis sieben Meter maß.
Schneller als erwartet, ging die Sonne unter und es wurde schlagartig dunkel. Auf einem mal hielt der Wald den Atem an. Verstummt war jedes Geräusch. Kein Vogel sang mehr, keine Zikade zirpte, selbst der Wind schien plötzlich still zu stehen. Es war beinahe unheimlich und Sebastian sah sich verwundert um.
Antarona hielt ebenfalls für ein par Atemzüge in ihrer Geschäftigkeit inne, und ließ diesen Moment auf ihre Sinne wirken. Am Ende eines jeden Tages, gerade um die Zentare, da die Sonne hinter dem Horizont verschwand, entstand in dieser Welt ein Moment der Stille, der das Licht an die Dunkelheit übergab.
War der Wechsel, der nur ein par Minuten andauerte, erst einmal vollzogen, begannen die Stimmen der Natur wieder ihr vielfältig klingendes Konzert, und wie Basti empfand, lauter als zuvor. Es war die Zentare, so verriet ihm das Krähenmädchen, in der die Menschenwesen und die Tiere den Göttern dankten, dass sie den Sonnenlauf erleben durften.
Mit zunehmender Dunkelheit wurde es trotz eines kleinen Feuers empfindlich kühl in ihrem Steinkreis. Müde und abgeschlagen von der Wanderung in des Tages Hitze krochen sie alsbald unter ihren Fellhaufen.

Die Sonne warf wie ein Lanzenritter ihre ersten Strahlen durch das Blättergespinst der Bäume. Ein leichter Dunst, der im Wald hing, ließ die Lichtbahnen wie eine Lasershow wirken, an die sich Sebastian aus seiner Welt erinnerte.
Dort wo Talris Licht den Boden berührte, begann das nasse Laub zu dampfen. Kleine Nebelschwaden zogen zwischen den Stämmen dahin, brachen das Licht, zerstreuten es, oder ließen die Strahlen geheimnisvoll leuchten.
Dennoch fror Sebastian in der kalten, frischen Luft des Morgens, als er sich dehnend und streckend aus dem Fellhaufen quälte. Schwankend lehnte er sich an einen Baumstamm. Er spürte die feuchte Rinde in seinem Rücken, seine Füße fühlten den kühlen Blätterteppich auf dem Waldboden.
Er nahm einen großen Zug aus dem Wasserschlauch, sah wie nebenbei über den Rand des Steinkreises und vergaß das Wasser in seinem Mund hinunter zu schlucken. Im dichten Dunst der nassen Wiese zogen riesige, sich gemächlich bewegende Schatten an ihrem Felsfort vorbei.
Ab und zu drang ein Grunzen, wie von einem zufriedenen Schwein durch den Nebel zu ihm herüber. Als ein leichter Windzug über die Lichtung fuhr, und den Dunstschleier für einen Augenblick hob, sah er sie! Eine Herde mächtiger Wildrinder, ähnlich einem Wisent, oder Auerochsen, nur viel größer, trottete friedlich äsend über die Waldoase.
Sebastian hielt den Atem an. Wohl stand er für die Tiere unerreichbar hinter der Felsbarriere und musste keine Angst haben, dass ihn ein wütender Bulle in den Waldboden trampelte, er wollte die Tiere aber auch nicht verschrecken. Viel zu faszinierend war der Anblick, der sich ihm bot.
Mächtige, dunkelbraune und zottige Leiber mit einem Stockmaß von wenigstens drei Metern schoben sich scheinbar schwerfällig durch das hohe Gras. Dazwischen sprangen ein par Jungtiere umher, die jedoch so groß waren, wie ein ausgewachsenes Rind in Bastis Welt.
»Pò-ná-ka«, flüsterte ihm Antarona zu, die plötzlich neben ihm aufgetaucht war. Nur mit ihrem Lederschurz bekleidet stand sie da, die Arme vor ihren bloßen Brüsten verschränkt. Ein Windhauch bewegte leicht die Federn in ihrem Haar.
Sebastian dachte daran, wie es gewesen wäre, einen Fotoapparat zu haben. Ein Bild von Antarona, einer weißen Indianerin, so rein und natürlich, wie die Götter sie geschaffen hatten, vor einer Herde Wildrinder, die eine Bisonherde lächerlich aussehen lassen würde.
Für ein solches Bild hätte er glatt einen Ehrenpreis der National Geographic bekommen. Eine Traumfantasie, ein unentdecktes Land, festgehalten in einem realistischen Foto! Mit einer Reportage über die vergessene Welt mochte er berühmt und reich werden!
Ernüchtert schüttelte er den Kopf. Damit würde er diese phantastische Welt, deren Teil er selbst inzwischen geworden war, der kommerziellen Zivilisation ausliefern und zwangsläufig zerstören. Nein, sein Reichtum lag darin, in dieser Welt, mit der schönsten und wunderbarsten Frau leben zu dürfen!
Noch eine Weile lang beobachteten sie die massige Herde, die sich schließlich am gegenüberliegenden Ende der Lichtung in den Wald schob.
»Wie hast du sie genannt, Ponacka?« fragte Basti seine Frau ehrfurchtsvoll flüsternd. Antarona schmiegte sich Wärme suchend, von hinten an ihn. Ihre warmen Brüste pressten sich an seinen Rücken und er spürte ihren Atem auf seiner Haut. Erregt lauschte er ihrer flüsternden Stimme:
»Pò-ná-ka, Ba - shtie, Pò-ná-ka! Sie verlassen den schützenden Wald und ziehen auf die Ebenen.«
»Den schützenden Wald verlassen sie?« fragte Sebastian hintergründig. Dann meinte er trocken, nicht ganz ohne Sarkasmus:
»Vor welchen Feinden muss der Wald denn diese Ungetüme schützen? Gibt es noch etwas größeres, als diese Kolosse?« Antarona wollte etwas erwidern, doch er unterbrach sie:
»Nein, sag' es nicht, ich tappe gern im Dunkeln, was das angeht, ich lasse mich gern immer wieder von neuen Ungeheuern überraschen, die mich beißen, fressen, oder zertrampeln wollen!« Vorwurfsvoll sah ihn seine Frau an.
»Ba - shtie, Pò-ná-kas sind die friedlichsten Wesen , sie fressen euch nicht, sie mögen nur das lange Gras!«
Nachdem dies geklärt war, schnürten sie ihre Bündel und setzten ihren Weg fort. Dabei hielten sie sich stets im Schutz der hohen Bäume, wobei die Sonnenstrahlung wohl das einzige war, das ihnen im Moment gefährlich werden konnte.
Am Nachmittag fanden sie eine Quelle und beschlossen, die Nacht in der Nähe zu verbringen. Ein Haufen aufeinander geworfener Granitfelsen, vom Wetter rund geformt, luden sie ein, auf ihren höchsten Zinnen ihr Nachtlager aufzuschlagen. So waren sie zumindest vor wilden Tieren geschützt.
Ein kleines Feuer wärmte sie in den Abendstunden am Fuße der Felsenburg. Als Sebastian Wasser holen ging, bewegte er sich vorsichtig durch den Wald. Es war die einzige Quelle in der Umgebung, und er wollte nicht unbedingt austesten, wie viele Tiere, große und kleine, das Wasser ebenfalls für sich beanspruchten.
Sie verzehrten ihr letztes Dörrfleisch, dazu wilde Beeren, Pilze, und gegarte Wurzeln, die Antarona während der Wanderung ausgegraben hatte, und die wie eine süßliche Kartoffel schmeckte. Sebastian hatte so etwas wie einen Bimsstein gefunden, und machte sich daran, den Flugrost von seinem Schwert zu schleifen.
Antarona hatte solche Sorgen nicht. Nantakis mochte sie durch Schlamm ziehen, im Regen herumführen, oder ins Wasser werfen, es oxydierte nicht. Das bläuliche Metall schien keine Schwäche zu besitzen. Selbst Baumharz ließ sich, nachdem es angetrocknet war, leicht von seiner Klinge abziehen, als wäre diese vorher eingeölt worden.
Ziemlich früh richteten sie sich ihr Lager auf dem Felsen ein. Nackt legten sie sich auf die Felle, ließen den leichten, warmen Wind über ihre Körper streichen, und blickten zu den Sternen hinauf. Millionenfach funkelten sie herab, und Basti hatte den Eindruck, dass sie deutlicher zu sehen waren, als auf den ihm bekannten Fotos, die mit irgendwelchen Superteleskopen gemacht wurden.
Zeitweise neigte Sebastian den Kopf und beobachtete heimlich ein anderes Sternchen. Antaronas Schönheit, die Vollkommenheit ihres Körpers, glänzte seidig und verführerisch im Licht der Gestirne. Sie räkelte sich auf den Fellen und genoss es, vom Wind gestreichelt zu werden.
Immer wieder schielte Sebastian auf ihren Bauch. Manchmal bildete er sich ein, eine kleine Wölbung wäre entstanden. Doch dann sah er wieder nur den perfekten Leib einer trainierten Athletin. Warum die Schwangerschaft einer Îval mehr als doppelt so lange dauerte, wie bei einer Frau seiner Welt, würde er wohl nie ergründen können.
Möglicherweise hing es mit der allgemein langsameren Entwicklung nach der Eiszeit dieser Welt zusammen. Aber es mochte auch die Zusammensetzung der Atmosphäre Grund dafür sein. Wenn Högi Balmers Aussage über sein eigenes Alter halbwegs stimmte, so alterten die Menschen dieser Welt lange nicht so schnell, wie es Sebastian gewohnt war.
»Zum Ende des nächsten Sonnenlaufs werden wir zurück auf der Burg sein«, sagte Antarona plötzlich wie beiläufig. Dabei sah sie Basti mit einer Mischung aus Wehmut und Herausforderung an, als wollte sie diese Stunden nie enden lassen, aus Angst, es konnte ihre letzte, gemeinsame Liebesnacht sein.
Sebastian war ohnehin der Meinung, dass sie Falméra bereits an diesem Abend erreicht hätten, wenn sie sich darum bemüht hätten. Er gestand sich ein, dass sie beide versuchten, die Rückkehr zur Burg so lange, als möglich hinauszuzögern.
Viel zu sehr liebten sie es, die Unbeschwertheit der Freiheit zu genießen, die ihnen auf der Burg nicht gewährt wurde. Beide wünschten sie sich, dass diese warme, von Tausenden Naturklängen und lieblichen Düften angefüllte Nacht nie endete. Die Luft war beherrscht von einem unerklärlichen Zauber, von einer Magie, die selten in die Herzen und Sinne der Menschenwesen drang.
Das leuchten der Himmelslichter, der schwere, süßliche Geruch von betörenden Blüten, der warme Wind, welcher der Atem der Götter selbst zu sein schien, und die Melodien der Nachttiere, die ihrerseits das Besondere dieser Nacht spüren mochten. All diese Eindrücke vereinten sich in einer Komposition der Empfindungen, die das Gefühl von tiefem Glück ausdrückte.
Ganz unverhofft tauchte ein kleines Lichtlein zwischen den Bäumen auf. Mit einem Mal war es da. Sebastian entdeckte es nur zufällig, als er seinen Blick Antarona zuwendete. Wie ein kleiner Funken tanzte es zwischen den Silhouetten der Stämme hin und her, flog mal hoch, mal runter, kam allmählich näher.
Plötzlich gesellte sich ein zweites hinzu. Sie umspielten einander, neckten sich, vereinten und trennten sich wieder. Sebastians überraschter Blick veranlasste auch Antarona in die Richtung zu sehen. Ehrfürchtig flüsterte sie:
»Elsiren, Ba - shtie, dies ist eine ganz besondere Nacht! Haltet still, bewegt euch nicht, so mag das Glück in diesem Mondlauf die Seelen der Menschenwesen finden!«
Er dachte gar nicht daran, sich zu rühren. Viel zu beeindruckend war das Schauspiel, das ihnen die Elsiren boten. Es dauerte nicht ganz eine Minute, da wurden aus zwei Lichtpunkten drei, dann vier, zehn, zwanzig, und einige Atemzüge später schien der Wald von den kleinen Wesen hell zu erglühen.
Die ersten kleinen Glückselfen schwirrten heran und begannen über ihren Köpfen zu tanzen. Der Wald war inzwischen wie durch einen Zauber von einem süßlichen, betörenden Duft erfüllt. Sebastian erblickte Antaronas verführerische Gestalt im glimmenden Licht der kleinen Leuchtwesen, und augenblicklich stieg ein unstillbares, bohrendes Verlangen nach ihr in ihm hoch.
Das glühende Licht, die helle Wolke, die sie umhüllte, flammte mal stärker, mal schwächer, schien zu pulsieren, und es sah aus, als lebte sie. Antarona setzte sich auf und nahm Sebastians Hand. Diese Berührung durchströmte beide, wie ein Fluss reinen Glücks.
Immer mehr Elsiren umschwirrten die beiden Verliebten, die sich verzückt ansahen, sich zärtlich streichelten, und sich dem wunderbaren Gefühl hingaben, das die kleinen, leuchtenden Wesen verströmten. Die Götter hatten sie in dieser Nacht mit dem höchsten Glück bedacht, welches sie den Menschenwesen durch ihre kleinen Engel bescheren vermochten.
Die ersten Elsiren ließen sich auf ihren Köpfen und Schultern nieder, hängten sich in Antaronas lange Haare, setzten sich keck auf Bastis Arme und ließen ihre winzigen Beinchen baumeln. Doch sie verbrannte die beiden Glücklichen nicht.
Vielmehr hatte Basti das Gefühl, dass sie sein Blut in Wallung brachten, ihn innerlich aufheizten, seine Sehnsüchte, sein Verlangen schürten, und seine Begierde nach der seidigen, warmen haut seines Krähenmädchens.
Antarona hingegen wusste, dass es ein Zeichen war, eine untrügliche Botschaft ihrer Götter. Sie glaubte, dass etwas Heiliges, Sakrales geschah. Sie betrachtete ihre bevorstehende Liebesnacht als göttliches Geschenk, als ein besonderes, gnadenreiches Ritual ihres Glaubens.
Je mehr Elsiren sich um sie scharten, desto verlangender und fordernder wurden ihre gegenseitigen Berührungen. Erst zaghaft, als könnte der wunderschöne Zauber mit einem Mal zerbrechen, fanden sich ihre Lippen zu einem leidenschaftlichen Kuss.
Schließlich ließen sie sich von einer Welle der Begierde hinreißen, küssten sich immer fordernder und wilder, als befürchteten sie, im nächsten Moment wieder auseinandergerissen zu werden. Atemlos verzehrten sie sich, spürten eine unkontrollierte Lust in sich aufsteigen und konnten nicht genug voneinander bekommen.
Je mehr Elsiren sich auf ihnen niederließen, desto hemmungsloser gaben sie sich einander hin, bis sie oben auf ihrem Felsen in einen nicht enden wollenden Rausch der Gefühle verfielen. Nur die Tiere des Waldes blickten hinauf, und sahen die Silhouetten der beiden Menschenwesen, die im umhüllenden Licht der Elsiren ineinander verschmolzen...
Erschöpft und nach Luft ringend lagen ihre dampfenden Leiber auf den Fellen. Nur ihre Hände berührten sich zärtlich, während sie in die Krone eines nahe stehenden Baumes sahen, durch dessen Blätterdach einzelne Sterne funkelten.
Zwei Lichtlein aber tanzten noch dazwischen herum. Alle anderen Elsiren hatten sich bald verflüchtigt, wie kleine Gespenster, deren Geisterstunde beendet war. Diese zwei aber blieben, wie geheimnisvolle Schutzpatrone ihres Glücks.
Antarona und Sebastian beobachteten sie, wie sie sich umtanzten, ihr Leuchten sich vereinte, stärker wurde, und wieder schwächer. Es sah aus, wie das Balzverhalten zweier Vögelchen in der Luft. Ein par Mal schienen sich die Lichtpunkte zu vereinen, sie glühten gleißend auf, leuchteten flimmernd, bis Strahlen wieder allmählich abnahm.
»Meinst du, dass sie sich lieben, so wie wir?« fragte Basti leise. Antarona drehte sich herum, legte ihren Kopf auf seine Brust und antwortete verträumt:
»Ja, genauso wie Sonnenherz und Glanzauge, Ba - shtie. Sie tragen die heißeste Liebe und das reinste Glück in sich. Sie sind die Liebe und das Glück der Götter. Und sie geben sie weiter an uns, die Menschenwesen, damit wir nicht vergessen einander zu lieben.«
»Das war das zweite Mal, dass uns die Elsiren das Glück brachten«, bemerkte Sebastian beinahe flüsternd.
»Das erste Mal am See bei deinem Vater, und nun hier auf dem Felsen. Manchmal glaube ich, dass sie in uns beiden etwas Besonderes sehen«, verriet er ihr seine Gedanken.
»Das tun sie auch«, bestätigte Antarona geheimnisvoll, »ihr, Areos, der Mann, der von den Göttern und den Toten zurückgekehrt ist, und Sonnenherz, die Hüterin der Hallen von Talris...«
Sie ließ diesem Gedanken Raum und machte eine längere Pause. Dabei strich sie sich mit der Hand liebevoll und schützend über ihren Bauch, den Sebastian zum ersten Mal nicht mehr ganz so flach empfand. Doch das mochte freilich auch am diffusen, kalten Licht der Gestirne liegen.
»Areos und Sonnenherz sind etwas Besonderes, Ba - shtie. Die Menschenwesen im Val Mentiér und die Elsiren gleichermaßen, sehen in ihnen die Hoffnung, die Wiederkehr eines glücklichen Lebens«, erklärte sie ihm. Sebastian küsste zärtlich ihren Bauch und meinte dann:
»Glaubst du, dass sie uns beschützen, über uns wachen, dass sie über unsere Liebe wachen?« Sebastian kam diese Frage beinahe lächerlich vor, und hätte er sie einem anderen Menschen als Antaronas gestellt, so hätte er sich vor Scham im das tiefsten Erdloch verkrochen. Seine Frau jedoch antwortete ohne Verwunderung und mit leichter Ernsthaftigkeit:
»Sonnenherz glaubt, dass es so ist. Die Elsiren sind von allen Geschöpfen den Göttern am nächsten. Sie wünschen und sehnen sich ein gedeihendes Volk der Menschenwesen in Frieden und Glück. Talris und seine Götter haben ihnen einst in der alten Zeit aufgetragen, darüber zu wachen, so erzählen es die Alten. Es ist die Mär vom gestohlenen Feuer der Götter, vom Leuchten der Elsiren.«
»Auch darüber gibt es eine Geschichte?« fragte Basti und ahnte, dass er wieder eine Episode aus der Mythologie der Îval erfahren sollte.
Antaronas Finger spielten mit seinen Brusthaaren. Sie schob plötzlich ihr Kinn vor, als wollte sie einen inneren Trotz zum Ausdruck bringen, legte sich warm und weich auf ihn und begann zu erzählen:
Einst lebte das Stammvolk der Elsiren unter der Herrschaft der Götterwesen. Doch sie waren klein und schwach, mäßig an Zahl, und vermochten sich gegen Feinde jeglicher Art nicht verteidigen. Sie lebten im Dunkel, und unter der Last ihrer Kleinheit. So erduldeten sie ihren Fron und sehnten sich nach Schutz und Beistand, denn sie konnten ein ums andere Jahr ihre Ernte vor Dieben und Räubern nicht bewahren.
Da boten ihnen die Robrums den Schutz ihrer Haine und ihres Lebens an. Sie verlangten aber als Lohn ein Drittel ihrer Ernten und Vorräte. In ihrer Not willigten die Elsiren ein, und fortan wehrten die Robrums jeden ab, der sich den kleinen Wesen und ihrem Blütensaft in eigennütziger Absicht näherte.
Die Robrums aber waren so tölpelhaft und grob, dass sie viele von ihren Schützlingen zertraten, sie verletzten, oder sie um ihren Anteil der Ernte betrogen. So ersehnten sie weiter einen Schutz um Leib, Leben, und Nahrung.
Da boten ihnen die Menschenwesen den Schutz ihrer Haine und ihres Lebens an. Sie vertrieben die Robrums in die Tiefe der Wälder und fortan wehrten die Menschenwesen alles ab, was sich den Elsiren in Absicht des Eigennnutz näherte.
Die Menschenwesen aber waren so von Schläue und Hinterlist, dass sie sich selbst an der Elsiren Ernte bereicherten, sie betrogen und sie hintergingen. Den Elsiren blieb kaum etwas zum Leben und so ersehnten sie weiter einen Schutz um Leib, Leben, und Nahrung.
Da ward einer Elsirin ein kleines Mädchen geboren. Sie war schöner und lieblicher als alle anderen Kinder und als sie heranwuchs, zeigte sich, dass sie eine große Klugheit in ihrem Köpfchen und eine heldenhafte Kühnheit sowie viel Sonnenschein in ihrem Herzen trug.
Ein ums andere Mal befragten die Elsiren die Tochter ihres Volkes, wenn es galt, eine große Not abzuwenden. Das Mädchen wusste stets einen einfachen, guten Rat zu geben, und alsbald galt sie unter ihrem Volk als jene, welche die Hoffnung und Rettung vieler Unbilden war.
So fragte das Volk sie, als wieder einmal die Not am größten war, nach Schutz um Leib, Leben, und Nahrung. Das Mädchen wies zur Sonne und sagte ihnen:
»Sehet hinauf zu Talris und den Götterwesen, sehet, wie sie Ihresgleichen zu schützen wissen. Ziehet aus, und holt euch vom Licht der Götterwesen. So vermag ein jeglicher des Volkes selbst in der Nacht zu sehen. Auch wird ein jeglicher Feind, welcher uns Böses dünkt, sich verbrennen, und von unserer Ernte ablassen, ohne dass der Elsiren Volk Hand und Geist erhebt, gegen die anderen Wesen unter der Götter Hort.«
Also sandten die Elsiren ihre besten und kräftigsten Sammlerinnen und Sammler aus, das Licht der Götter zu holen. Sie flogen bis weit hinauf in die hehre Himmelswelt, in der die Götterwesen thronten, und suchten den heiligen Strahl, auf dem die Götterwesen einst auf diese Welt gelangten. Heimlich nahmen sie von dem Feuer des Strahls und brachten es zum Volk der Elsiren.
Als die Götterwesen dies bemerkten, erzürnten sie fürchterlich, und schalten die Elsiren, und bezeugten sie des Diebstahls, und nahmen ihnen das Licht wieder fort. Da setzte ein großes Wehklagen unter dem Volk der Elsiren ein, und sie fürchteten erneut um Leib, Leben und ihre Ernte.
Das Elsirenmädchen aber, welches dem Volk geraten hatte, das Licht der Götter zu holen, plagte tiefe Reue ob seinem folgenschweren Rat. Sie kehrte in sich und überlegte, wie sie dem Volk zu helfen vermochte.
Mit ihrer Verzweiflung und ihrem Mut ging sie zu den Götterwesen und bot ihr eigen Leben im Tausch für das Feuer der Götter, welches das Elsirenvolk schützen sollte. Da erstaunten die Götterwesen, und erbarmten sich ob der Kühnheit, des Mutes und der Selbstlosigkeit jenes Elsirenkindes und sie zollten ihm Ehre und Respekt.
So gaben sie mit gutem Willen den Elsiren das Feuer von ihrem Strahl, auf dass es das Volk der kleinen Wesen beschützen sollte. Dem Mädchen aber erließen sie seine Schuld und es kehrte wohlbehalten zu seiner Familie zurück.
Die Götterwesen aber verbanden mit dem Licht einen hohen Dienst als Vergeltung an das Elsirenvolk. Die Elsiren sollten fortan über das Glück der Menschenwesen wachen, die Liebe und das Gute lohnen, und das Böse und die Hinterlist strafen. Dies mochten die Elsiren von Herzen gerne zusagen.
Seither schützen Feuer und Licht der Götter alle Elsiren, und lassen sie leuchten und glühen, und verbrennen jene, welche sich in bösem Ansinnen ihnen nahe tun. Jene aber, welche Gutes tun, die Liebe und das Glück ehren, und den Elsiren in wohl gesinnt sind, vermögen die kleinen Wesen zu schützen und Liebe und Glück zu schenken.
So sind die Elsiren die Hüter des Glücks und der Liebe aller Menschenwesen, welche ihnen huldigen mit dem Tanz des Feuers und ihrer Verbundenheit zwischen Mann und Frau, durch die wahre Liebe, seit jener alten Zeit, und heute, und immerdar!
»Es ist eine schöne Geschichte«, bemerkte Sebastian anerkennend, als Antarona geendet hatte. Sie sah ihm in die Augen und erklärte:
»Diese Mär findet ihr an der Sonnenwand in den Hallen von Talris, Ba - shtie. Aber auch die Alten vermögen sie zu berichten, denn sie ist wahr! Sie ist die Geschichte von den Götterwesen und den Menschenwesen, sie ist die Geschichte der Îval, es ist jenes, was war, vor Sonnenherz Vater, und dessen Vater und wiederum vor dessen Vater bis in die alte Zeit.«
Sebastian fing an, Antaronas Geschichten zu mögen. Er ahnte aber auch, dass mehr Wahrheit in ihnen steckte, als er sich vorstellen konnte. Im Grunde war die ganze Märchenwelt der Îval nichts anderes, als ihre Entwicklungsgeschichte.
In allen Märchen und Berichten, die er gehört hatte, kam ein seltsames Licht mit besonderen Eigenschaften vor. Selbst in den Aufzeichnungen, die er in der Burgbibliothek gefunden hatte, wurde von dem blauen Licht berichtet.
Die Elsiren leuchteten zwar nicht bläulich, doch aber irgendwie fluoreszierend. Und dass es ein Licht mit besonderen Kräften gab, konnte er nicht mehr leugnen. Antaronas Schwert war der Beweis. Außerdem war das Erlebnis in den Hallen von Talris kein Traum gewesen!
Etwas aber wurde für Sebastian immer deutlicher: Die Märchen der Îval waren ein Geschichtsbuch! Die Kinder dieses Volkes lernten ihre Geschichte aus den Erzählungen der Alten, aus reinen Überlieferungen.
Es gab keine Bücher, die ihnen Herkunft und Vergangenheit vermittelten, außer jenen wenigen Exemplaren, die sich meist plano gerollt, in den Regalen der Burg befanden. Aber die Aufzeichnungen und Erzählungen der Alten schienen sich mit den Inschriften in der Goldwand der Hallen von Talris zu decken.
Offenbar gelang es den Märchenerzählern über Generationen hinweg die Geschichten zu bewahren, ohne sie zu verändern oder abzuwandeln. So wurde die ganze Geschichte eines Volkes vom Großvater an die Enkel weitergegeben, die sie dann irgendwann wiederum ihren Nachfahren als mündliches Vermächtnis anvertrauten.
Sebastian wollte Antarona fragen, wer ihr die Geschichten erzählt hatte, denn sie erwähnte bisher nie ihre Großeltern. Ein Blick genügte, um festzustellen, dass sie bereits in das Land der Träume eingezogen war.
Mit einem seligen Lächeln auf dem Gesicht lag sie neben ihm. Sie hatte die Beine angezogen, ihr Kopf ruhte auf seinem Leib, und ihre Brüste hoben und senkten sich im ruhigen, friedlichen Takt. Wie Bronze glänzte ihre glatte Haut im Licht der Gestirne.
Sebastian zog vorsichtig die Felle über ihre beiden Körper. Trotzdem wachte Antarona kurz auf, befand sich aber immer noch im Halbschlaf, zog sich an ihm hoch, vergrub ihr Gesicht an seinem Hals, winkelte ein Bein an und presste ihren Unterleib an seine Lenden. Ihre Hände tasteten seinen Oberkörper entlang. Sie klammerte sich an ihn, schmiegte sich Schutz und Wärme suchend an seinen Körper, wie ein kleines Äffchen.
Eine Weile streichelte Basti sie noch zurück in ihre Träume. Er lauschte ihrem ruhigen Atem, genoss das Gefühl, das ihre lebendige Wärme auf seiner Haut inszenierte, und spielte mit ihren langen Haaren. Schließlich übertrug sich ihre kaum wahrnehmbare Atembewegung auf ihn und er folgte seiner Krähenfrau in einen tiefen und festen Schlaf...

Der Morgen weckte sie mit warmem Regen, der beruhigend leise auf die Felle trommelte, unter denen sie sich aneinandergekuschelt gegenseitig Wärme spendeten. Die Luft hatte sich etwas abgekühlt, doch der Regen war nicht kalt, sondern so warm, als tropfte er aus einer Heizanlage.
Es regnete ruhig und leicht vor sich hin, ohne Wind, ohne prasselnde Schauer, so, als schliefe der Himmel noch, und überließ die Wolken ihren eigenen Träumen. Antarona und Sebastian blieben noch eine Weile liegen, lauschten dem gleichmäßigen, leisen Rauschen und dem leisen Geräusch, das die Tropfen auf ihren Tierhäuten verursachten.
Am liebsten hätten sie den ganzen Tag so verbracht. Irgendwann aber wurde der Drang stärker, sich aus den Fellen zu wälzen, sich zu strecken, und weiter ihrem Ziel zu folgen. Dabei war der Aufenthalt in der Burg nur eine lästige Etappe. Was sie eigentlich antrieb, war die Aussicht, bald eine neue Freiheit in Mehi-o-ratea zu genießen.
Trotz des Regens verzichteten sie darauf, sich Kleider anzuziehen. Antarona trug nur ihren inzwischen ziemlich verschlissenen Lederschurz, und Sebastian zog sich lediglich die dünne, Leinenunterhose und seinen Kriegsrock an.
Sie würden ohnehin bald durchnässt sein. Also ließen sie alles, bis auf die Fußbekleidung im Bündel verschwinden, dann brachen sie auf. Es zeigte sich, dass ihre Entscheidung richtig war. Zweige, Blätter und Gräser, die beim durchdringen des Unterholzes ihre Körper berührten, überließen ihnen dankbar ihre Regenlast.
Bald klebte Antarona ihr Lederschurz wie ein lästiges Stück abgelöste Haut an den Oberschenkeln. Ihre Haare hingen ihr nass und tropfend über die Schultern. Sebastian ging es nicht besser. Der nasse Stoff seiner Hose spannte um seine Beine und hinderte ihn am Gehen.
Kurz entschlossen trennte er die Hosenbeine knapp über den Knien ab, so, dass sie seine Haut gerade noch vor dem rauen, Metall besetzten Leder seines Kriegsrocks schützten. Die Füße quatschten in den derben Lederstiefeln und machten Geräusche, die sterbenden Kleintieren nicht unähnlich waren.
Antarona war mit ihren Moccasin besser bedient. Sie band die Schäfte los, und trug nur noch die Fußteile, die sich selbst mit Wasser vollgesogen noch angenehm zubinden ließen. Überhaupt bestach ihre knappe, freizügige Art sich zu kleiden, in dieser Umgebung durch ihren praktischen Wert.
So wanderten sie bis in den Mittag hinein und ihre nassen Körper spürten den Regen bald nicht mehr. Mal hellte es etwas auf und der Niederschlag wurde geringer, mal regnete es stärker. Aber es blieb warm und allmählich füllte sich die Luft mit einem feuchtwarmen Dunst, der Sebastian an tropisches Regenwaldklima der erinnerte.
Der gegenüberliegende Wald rückte näher, und ehe die Mittagszeit vorüber war, sahen sie die Stelle, an der Antarona von den Schergen Torbuks überfallen worden war. Eine säuerliche Erinnerung stieg in ihnen hoch.
Sie blieben im Schutz des Waldes und folgten der Richtung, bis sie zu der Stelle gelangten, wo der Weg zu den mächtigen Felsabstürzen führte, an denen sie am Tag des Talrisfestes gestanden hatten. Bald würden sie die Dächer der Burg durch das Blätterwerk des Waldes erkennen können.
Sebastian warf sich ein Hemd über und sah seine Frau auffordernd an. Antarona kannte diesen Blick inzwischen. Bald würden sie die ersten Menschen treffen, und Basti liebte es nicht besonders, wenn fremde Männer auf ihre bloßen Brüste starrten, und ihren Körper mit den Augen verschlangen.
Mit einem schiefen Lächeln zog sie ihr Oberteil aus dem Bündel und knotete es sich um die Schultern. Manchmal vergaß sie einfach, dass sie sich auf Falméra und nicht im Val Mentiér bewegten, wo junge Frauen durchaus unbedarfter herumliefen. Sebastian nickte zufrieden.
»Du bist die süßeste Versuchung, die Falméra zu bieten hat, mein Engelchen«, schwärmte er unverhohlen, »aber das müssen die da unten nicht gleich sehen, denkst du nicht auch?« Antarona hob stolz ihr Kinn, setzte eine trotzige Miene auf und fragte schnippisch:
»Ihr seid immer noch eifersüchtig auf den Stallknecht? Wie ward er noch geheißen? Toban, Torin, To...« Basti sah sie missbilligend an und unterbrach sie ärgerlich:
»Gerade Tobyn muss dich nicht so sehen, hat sowieso schon genug Gespinste im Hirn, ohne dass du mit deinen Reizen seinen Verstand auf den Kopf stellst!« Antarona lachte schelmisch und neckte weiter:
»Vielleicht ist Sonnenherz ja nicht mehr empfänglich für Tobyns Werben, wenn sie gerade von einem Mann beglückt wurde, was meint ihr, Ba - shtie?« Dabei wackelte sie verführerisch mit den Hüften und warf sich keck die nassen Haarsträhnen nach hinten.
»Du kommst wirklich immer ohne Hadern zur Sache, was?« bemerkte Basti gespielt vorwurfsvoll. Sie warf plötzlich ihr Bündel zu Boden, wo sie gerade stand und drehte sich zu ihm um.
»Wenn ihr nicht von selbst darauf kommt«, antwortete sie mit anklagendem Unterton in der Stimme und fügte hinzu:
»Wer mag wissen, was in der Himmelsburg geschieht, wann Ba - shtie sein En-gel-sen wieder lieben kann? Wisst ihr, wie lange Sonnenherz und Glanzauge in den dicken Mauern ohne Luft und Wind ausharren müssen, bis sie nach Mehi-o-ratea aufbrechen können?«
Sebastian ließ ebenfalls sein Bündel fallen und kickte beide mit einem gezielten Fußtritt unter die Büsche am Rande des Pfades. Antaronas Augen blitzten ihn über die Schulter hinweg neckisch und verführerisch an, während sie sich durch das Dickicht wand.
»Warte, wo willst du denn hin?« rief er ihr nach. Fluchend schob er sich ihr hinterher durch das dornige Unterholz. Dabei ging seine dünne, durchnässte Hose endgültig in Fetzen.
»So fangt es doch ein, euer En-gel-sen«, flötete sie süß aus dem Dickicht, »bemüht euch gefälligst! Glaubt ihr etwa, Sonnenherz springt euch auch noch an?«
»Na warte, du kleine Hexe, wenn ich dich kriege..!« drohte er zum Spaß. Egal, wie vorsichtig er sich durch das Dickicht zwängte, die Dornen einiger Büsche rissen ihm die Haut an Armen und Beinen auf. Doch Basti ignorierte es. Viel zu sehr hielten Verlangen und Begierde nach Antaronas nackter Haut seinen Verstand gefangen.
Ihre nackten Füße hinterließen auf dem mit nassem Laub bedeckten Waldboden keine Spuren. Und so irrte er hinter ihr her, orientierte sich nur an den Geräuschen, die sie absichtlich machte, um ihn zu locken. Während er sich fragte, wie lange sie dieses Spiel noch treiben wollte, gelangte er in einen lichten Hochwald.
Das Unterholz hörte plötzlich auf, als hätte eine Armee von Waldarbeitern jeden Strauch gerodet. Dafür wiegten sich hohe Bäume mit mächtigen Stämmen knarrend im leichten Wind. Ihr dichtes Blätterdach hielt den meisten Regen ab. Unregelmäßig gaben sie das Wasser in dicken, schweren Tropfen ab, die klatschend Bastis Kopf und Körper trafen.
Suchend sah er sich um. Wohin war Antarona verschwunden? Lauernd schlich er um die dicken Baumriesen herum. Da! An einem tief hängenden Ast hing Nantakis, ihr Bogen und ihr Fellköcher mit den Pfeilen.
Sebastian zog seine Stiefel aus und tastete sich auf Zehenspitzen zu dem Baum vor, hängte seine Waffen ebenfalls an den Ast, und spähte vorsichtig um den dicken Stamm herum. Antarona machte sich gar nicht die Mühe, sich zu verstecken. Sie wollte, dass er sie fand!
Ein kleines, beindickes und schräg wachsendes Bäumchen hatte sie sich ausgesucht, um auf ihn zu warten. Ihr winziger, nass auf ihrer Haut klebender Lederschurz ließ sie im diffusen Licht nackt erscheinen. Aufreizend hielt sie sich an dem schmalen Baum fest, und lockte ihn mit ihrem auffordernden Blick...
Einige Zeit später fanden sie sich auf dem Waldboden liegend wieder. Der Regen fiel sanft schmeichelnd auf ihre erhitzten Körper, und sie empfanden es als angenehm. Antarona wälzte sich auf ihren ermattet daliegenden Mann, setzte sich auf seine Oberschenkel und ihre Füße auf seine Brust.
»War euch diese Versuchung süß genug, Mann mit den Zeichen der Götter?« fragte sie mit listigem Blick. Basti betrachtete ihren Körper bis hin zu ihren Füßen, die unterbewusst begonnen hatten, seine Brust zu massieren.
Ihre ganze Statur, aber besonders ihre Füße erschienen ihm sehr zierlich für eine Frau, die perfekt ein Schwert zu führen wusste. Ihre Füße waren bemerkenswert gepflegt und sauber, obwohl sie eigentlich immer barfuss unterwegs war.
Antarona hasste Schuhe, ganz gleich, wie bequem und weich sie gearbeitet waren. Sie meinte den Boden nicht mehr fühlen zu können, wenn sie ihre Füße bedeckte. Sie wollte spüren, wohin sie trat. Und nicht umsonst war sie in der Lage, sich lautlos anzuschleichen, ohne den Blick auf den Boden zu senken.
Basti blieb ihr die Antwort ein par Minuten schuldig und sah sie verzückt an, wie man eine Rose anblickte, die ihre zarten, feinen Blütenblätter in der Morgensonne entfaltete. Verträumt sogen seine Augen ihren ebenmäßigen Wuchs und ihre sanften Rundungen auf. Er war glücklich, diese Frau lieben zu dürfen, und dankte ihren Göttern dafür.
»Du warst so wunderbar, dass ich nie genug von dir bekommen werde«,gestand er ihr und lächelte viel versprechend.
»Wenn wir so weitermachen«, gab er zu bedenken, »dann kommen wir vor Dunkelheit nicht mehr zur Burg.« Antarona glitt auf seinem Körper nach oben und sie flüsterte ihm ins Ohr:
»Na wenn schon, Ba - shtie, dann bleibt Sonnenherz mit euch im Wald und wird euch lieben, bis Talris wieder am Himmel erscheint!« Er lächelte sie dankbar an und antwortete zögernd:
»Ja, aber dann kommen wir nie nach Mehi-o-ratea. Ich will dich für eine lange Zeit, und nicht nur für ein par Zentaren, verborgen im Wald!«
»Hat Sonnenherz euch Fleisch und Sinne nicht gut genug berauscht?« fragte sie naiv und fast schon beleidigt. Behütend legte er seine Arme um ihre Taille und seine Lippen suchten ebenfalls ihr Ohr:
»Doch, mein Engelchen, das hast du! Deine Liebe ist die schönste Liebe, die ein Mann nur bekommen kann, und ich bin dankbar für jede Zentare, in der ich dich fühlen kann. Aber ich will frei sein, und nicht bedrängt von den Zentaren, welche bestimmen, was zu tun ist! Verstehst du das?«
»Auch Sonnenherz will mit euch frei leben«, gab sie sehnsuchtsvoll zu, »ja, sie versteht euch, und sie ist glücklich, dass ihr so denkt!« Sie sah ihn eine Weile mit schräg geneigtem Kopf neckisch an und fügte dann hinzu:
»Doch sie wird nicht von euch ablassen, wenn ihr nach euch verlangt! Versteht ihr das?« Basti lächelte dankbar, und sagte:
»Ja, und ich will, dass es so ist, und dass du niemals damit aufhörst!« Glücklich und zufrieden sahen sie sich an.
Der Regen wurde etwas heftiger und kühler. Sie standen auf und stellten sich an eine Stelle, an der das Blätterdach der Bäume sie nicht von oben abschirmten, und begannen sich gegenseitig von Erde und Blättern zu befreien und sauber zu waschen.
Anschließend suchten sie ihre Bündel zusammen, zogen sich dem Protokoll der Burg gemäß an und folgten dem Pfad nach Falméra.

     
  Wichtiger Hinweis: Die Texte des Autors Frank Adlung, insbesondere die des Romans "Das Geheimnis von Val Mentiér", sind durch notarielle Hinterlegung urheberrechtlich geschützt. Ein Herunterladen und Ausdrucken ist nur für den privaten Zweck des Lesens gestattet. Kommerzielle Nutzung, öffentlicher Vortrag, oder Vervielfältigung und Verfälschung des Inhalts, sowie öffentliche Verbreitung ohne Genehmigung des Autors sind untersagt und werden zur Anzeige gebracht.
 
 
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