ebastian stand im Saal, der Talris zu Ehren
eingerichtet war und wartete vor der großen Flügeltür
zum Thronsaal. Er zog das Schwert Tálinos aus der
Scheide, die an seinem Waffenrockgürtel hing und hielt
es ins Licht. Neugierig besah er es sich von allen
Seiten. Zum zweiten Mal hielt er die berühmteste und
wichtigste Waffe der Îval in den Händen, doch zum
ersten Mal hatte er Gelegenheit, sie eingehender zu
betrachten.
Knauf, Griff und Parierstange waren aus polierter, golden
schimmernder Bronze gefertigt, und mit Mustern und
Symbolen verziert, die Sebastian an die keltische Kultur
erinnerten. Anfänglich hatte er geglaubt, reines Gold
war das Material des Griffes. Doch die Vertiefungen, in
denen sich Patina abgelagert hatte, verrieten das wahre
Material.
Grüne Edelsteine waren in die Parierstange eingefasst
und glänzten matt. Die Klinge hingegen besaß den
gleichen bläulichen Schimmer, wie Nantakis und Basti
fragte sich, ob auch Tálinos bei Mondschein eine
Inschrift preis gab.
Insgesamt sah das Schwert des großen Sonnenkönigs aus,
als sei es nur zur Zierde gedacht. Doch nachdem Sebastian
ein par Hiebe und Paraden ausprobiert hatte, stellte er
fest, dass es die selben Eigenschaften aufwies, die auch
Nantakis zu etwas Besonderem machten, und durchaus den
Belastungen in einem Gefecht gewachsen war.
Heimlich brannte Sebastian darauf, noch mehr über diese
gehüteten Schwerter herauszufinden, doch das musste
warten. Nur widerwillig schob er die geheimnisvolle
Klinge in die Scheide zurück. Bentals Kammerdiener
musste nicht unbedingt sehen, wie interessiert er an
dieser Waffe war, die ihm als Areos wohl offiziell
gehörte, die ihm aber als Fremden, welcher er
tatsächlich war, nur zu besonderen Anlässen zu tragen
gewährt wurde.
Gelangweilt trat Basti an die großen Fenster neben dem
Erker, in dem eine Art Altar für Gott Talris errichtet
worden war. Er blickte genau zum Wasserfall, der
scheinbar stumm in die Tiefe rauschte. Noch ein gutes
Stück weit darüber hatte er mit Antarona am Vormittag
gestanden.
Sein nächster Blick fiel auf den geschmückten Altar
Talris. Die mächtige Sonnenkachina, ein Mosaik aus Gold,
Silber und Edelsteinen, ein wahres Kunstwerk, thronte als
schweres Standbild darüber. Blumen, Früchte aus der
Ernte sowie Kräuter und Waffen waren als Opfergaben auf
den Tisch drapiert worden.
Sebastian war versucht, von den Früchten zu kosten, doch
er beherrschte sich. In dieser Burg konnten selbst die
Wände Augen und Ohren besitzen. Eine solche Verfehlung
mochte sogar den König selbst in den Kerker bringen!
Von der Warterei genervt, stellte sich Basti wieder vor
die schwere Tür, wippte auf den Zehenspitzen ungeduldig
auf und ab und spielte mit dem Griff Tálinos. Warum
dauerte das so lange? Was machte Hekthur so lange dort
drinnen beim König? Er war hineingegangen, als Basti, in
seinen besten Waffenrock gekleidet, seine Aufwartung
machte und hatte ihm vorher eindringlich eingeschärft,
den Saal Talris nicht zu verlassen, bis er selbst ihn
holen würde.
Seit dem übte sich Sebastian, in der Rolle des Areos in
Geduld, lauschte dem lauter werdenden Stimmengewirr, das
vom Korridor hereindrang, zählte das Klappen und Knallen
der Türen, das durch die ganze Burg zu hallen schien,
und beobachtete die Sonne am milchigen Himmel, der sich
mehr und mehr zuzog, als wollte er das Fest mit einem
Unwetter überschatten.
Plötzlich öffnete sich ein Flügel der riesigen Tür,
aber nicht Hekthur trat herein. Es war Bental der Erste,
der König selbst, welcher den Raum betrat. Wie von
Zauberhand schloss sich die Tür hinter ihm wieder mit
einem hallenden Krachen.
Bental schritt zunächst, ohne auf Sebastian zu achten,
an den Altar heran und begutachtete den Aufbau. Als er
ihn wohl zufriedenstellend fand, drehte er sich um und
unterzog Sebastian einer ebenso genauen Prüfung. Seine
Augen musterten ihn von oben bis unten und bevor
Sebastian einen Gruß aussprechen konnte, stellte Bental
gereizt fest:
»Ihr tragt keinen Umhang. Wollt ihr die Güte haben, mir
zu erklären, wo euer Prachtumhang ist?« Sebastian, der
die überrumpelnde Art Bentals bereits kannte, ließ sich
nicht einschüchtern.
»Ich weiß von keinem Prachtumhang, Hoheit, außerdem
ist es sehr warm, um nicht zu sagen drückend und heiß,
da muss ich nicht noch einen...«
»Ihr wisst, dass ich Wert auf das Protokoll lege«,
unterbrach ihn Bental, »euer Kammerdiener mag euch mehr
ein Freund sein, als Bediensteter, doch er hat eine
Aufgabe. Erfüllt er sie nicht, so lasse ich ihn durch
einen geeigneteren ersetzen!«
»Frethnal trifft keine Schuld, Herr«, verteidigte
Sebastian seinen Freund, »es war meine Entscheidung, den
Umhang nicht zu tragen, weil es sehr warm ist!«
Bental sah ihn durchdringend an und Basti wusste, dass er
ihm nicht glaubte. Der König öffnete die Tür zum
Thronsaal und rief nach Hekthur, der wie ein Geist
augenblicklich erschien.
»Sucht Areos Prachtumhang und bringt ihn hierher!
Sofort!« trug er ihm barsch auf. Dann warf er die Tür
knallend ins Schloss und wandte sich wieder Sebastian zu.
»Ihr werdet neben mir, auf der linken Seite des Throns
sitzen und mit mir die Gäste empfangen. Einige werden
bereits in den Reihen sitzen, wenn wir eintreten. Andere,
ausgesuchte Gäste, dazu gehört der Fürst Jamálin und
seine Familie, werden uns durch den Protokollmeister
angekündigt und vorgestellt. Danach nehmen sie ihre
Plätze in den ersten Reihen ein. Sie sind unsere
besonderen Gäste. Habt ihr das verstanden?«
»Es war mehr als deutlich«, bestätigte Sebastian. Doch
irgendwie hatte er das Gefühl, dass dies noch nicht
alles war. Er behielt recht. Bental räusperte sich laut
und fuhr fort:
»Zu meiner Rechten wird die Tochter Fürst Jamálins
sitzen. Und nun hört gut zu! Wie ihr es anstellt sei
euch überlassen, doch ich erwarte, dass ihr euch von
vorteilhaftestem und ehrfürchtigstem Benehmen ihr
gegenüber leiten lasst, denn ihr werdet es sein, welcher
Jamálins Tochter dazu auffordern wird, sich auf der
rechten Seite des Throns niederzulassen!«
Sebastian glaubte nicht recht zu hören, denn soweit er
von Elwha wusste, saß rechts neben dem König stets
jene, welche sich mit seinem Sohn verbinden würde.
Dieser Platz gehörte in jedem Fall Antarona! Es wäre
der schlimmste Verrat an ihr, sollte er eine andere Frau
auffordern, diesen Platz einzunehmen!
»Verzeiht, eure gütige Hoheit, aber das kann ich nicht
tun! Ihr wisst, dass jener Platz so oder so Antaronas
Platz ist, nach Geburtsrecht, und auch...«
»Ja, das weiß ich«, gab Bental gereizt zu, »und
erzählt ihr mir nichts von Geburtsrecht! So, wie es
aussieht, wäre es möglicherweise Antaronas Platz. Sie
ist meine Tochter, sie ist, wie ihr behauptet, durch die
Elsiren mit euch verbunden. Aber das Volk, Torbuks
heimliche Beobachter, meine Berater und wer weiß, wer
sonst noch, sie alle wissen dies nicht, und sie dürfen
es unter gar keinen Umständen erfahren! Wüssten sie
davon, so wäre das Königreich für die Îval
verloren!«
Bental verschränkte wie üblich in solch verzwickter
Lage seine Hände auf dem Rücken, trat ans Fenster, und
tat, als beobachtete er den Wasserfall. Dann drehte er
sich um und sagte mit etwas versöhnlicherem Ton:
»Wir müssen alle Beobachter glauben machen, dass mein
Sohn Areos, der ja durch euch aus dem Reich der Toten
zurückgekehrt ist, ansinnt, sich traditionsgemäß und
nach den Geboten der Götter, mit einer Prinzessin der
Oranuti zu verbinden.«
»Aber was soll aus Antarona werden, Hoheit, mal ganz
abgesehen davon, dass ich die Verbindung mit ihr trotz
allem gespielten Schein niemals aufgeben werde!« fragte
Basti besorgt und vorwurfsvoll. Bental breitete fast
hilflos seine Arme aus und antwortete verzweifelt:
»Ja, glaubt ihr vielleicht, ich verleugne meine eigene
Tochter zum Vergnügen? Meint ihr, ich mache das Volk
gerne glauben, dass sie nur eure Sklavin ist, eine
Ve-ni-tries zu eurer Zerstreuung?« Sebastian machte
einen Schritt auf Bental zu und drohte:
»Ihr seid der König, fürwahr, doch nennt Antarona
niemals wieder eine Ve-ni-tries, sonst werdet ihr es
bereuen!« Bental blickte ihn halb mitleidig, halb
belustigt an als er sagte:
»Lasst das, ihr macht euch lächerlich! Vergesst nicht,
dass ihr zu einem nicht unerheblichen Teil mit schuldig
an dieser misslichen Lage seid! Hättet ihr nicht
unüberlegt das Volk begeistert, sondern euch bei eurem
Erscheinen auf der Burg in Besonnenheit geübt, so
hätten wir gemeinsam nach einer anderen Möglichkeit
suchen können!«
»Oder ihr hättet zumindest mich sofort in den Kerker
werfen lassen, nicht wahr?« konterte Sebastian wütend.
Bental sah ihn eiskalt an und sagte:
»Was ich immer noch tun könnte, das solltet ihr niemals
vergessen!« Sebastian erhob in erregter Geste seine Arme
gen Himmel und antwortete:
»Oh, wie könnte ich das jemals vergessen? Ihr ruft es
mir ja bei jeder Gelegenheit in Erinnerung!« beschwerte
sich Basti beleidigt.
»Offenbar ist es auch nötig«, verteidigte sich der
König, »denn ihr scheint nicht begreifen zu wollen,
dass wir diese Zentaren nur miteinander überstehen
können. Wollen wir die nötige Stärke und Festigkeit im
Volk erhalten, die wir im Kampf gegen Torbuk brauchen, so
wird uns nichts anderes übrig bleiben, als uns
gegenseitig zu helfen!« stellte Bental fest.
»Jedoch nicht auf Kosten Antaronas, und schon gar nicht
um den Preis unserer Liebe!« hielt Sebastian dagegen.
Seine Hoheit nickte gewichtig, sah verloren aus dem
Fenster und gab seufzend zu:
»Das ist mir inzwischen auch klar geworden! Aber
unzählige Augen sind auf uns, sind stets auf den Thron
gerichtet! Daher müssen wir allen Beobachtern glauben
machen, dass ihr zumindest beabsichtigt, euch der
Tradition und den Geboten der Götter zu fügen.
Wenigstens zum Schein, begreift ihr das endlich?«
Allmählich wurde Bental ungeduldig. Erklärend fuhr er
fort:
»Es darf niemand Zweifel an eurer Absicht hegen! Je
überzeugender ihr also eure Rolle als Areos wahrnehmt,
desto weniger bin ich gezwungen, euch und meine Tochter
zu überwachen und in eurer Freiheit einzuengen!«
»Und was stellt ihr euch vor, wie wir das Spiel des
Scheins spielen sollen?« fragte Sebastian skeptisch.
Denn er wollte sich nicht in Verpflichtungen verstricken,
die ihm Antarona aus den Armen riss, und aus denen er
irgendwann nicht mehr heraus kam.
»Zuerst einmal«, legte Bental fest, »werdet ihr
während des Festes Jamálins Tochter Hoffnungen machen.
Ich muss den Fürsten für eine Weile bei guter Laune
halten, jedenfalls so lange die Verhandlungen über die
Wirtschaftswege andauern. Solange er glaubt, Areos von
Falméra interessiert sich für seine Tochter, kann ich
ihm Eingeständnisse abringen und mögliche Forderungen
ausschlagen.«
»Und ich soll dabei den Lockvogel spielen, und dafür
womöglich noch meine Verbindung mit Antarona aufs Spiel
setzen?« beschwerte sich Basti. Der König hob
unschuldig die Schultern.
»Ihr habt euch das selbst auferlegt, als ihr dem Volk
glauben machtet, Areos ist aus dem Reich der Toten
zurückgekehrt! Nun beklagt euch also nicht!«
Mittlerweile entstand Unruhe hinter der geschlossenen
Tür zum Thronsaal. Sebastian hörte gedämpft viele
Stimmen und Geräusche, als würde der ganze Saal
umgeräumt. Plötzlich öffnete sich die Tür einen Spalt
breit und Hekthur schob sich herein.
Über dem Arm trug er einen roten, mit Gold abgesetzten
Umhang, den Sebastian noch nie zuvor gesehen hatte, und
überreichte ihn Bental. Der gab ihn an Basti weiter.
»Werft euch den Umhang um, ich möchte einen Sohn an
meiner Seite haben, keinen Wegelagerer!« Dann warteten
sie. Bental sah aus dem Fenster dem fallenden Wasser zu,
Sebastian starrte die Tür an, durch die sie in Kürze
als König und Prinz von Falméra und Volossoda schreiten
würden und legte sich den Prachtumhang an.
Dann war es soweit. Irgendetwas schlug dreimal gegen die
gigantische Tür, für Bental offenbar das ausgemachte
Zeichen. Er stellte sich neben Basti vor die Tür, schob
seinen imaginären Sohn in die richtige Position und
schlug mit dem Knauf seines Schwertes einmal gegen das
polierte Holz.
Augenblicklich schwangen die mächtigen Flügel
auseinander. Der riesige Saal war vom Rauch der vielen
Fackeln leicht eingenebelt und das Licht fiel in
sichtbaren Strahlen durch die Fenster herein. Prächtig
gekleidete Schildwachen mit schweren Umhängen und
geschmückten Lanzen säumten den Mittelgang und
schirmten den Weg zum Thron vor den Gästen ab.
Auf ein Zeichen des Protokollmeisters hoben die Wachen
die Lanzen und ließen sie gleichzeitig mit einem
markerschütternden Hall wieder auf den Boden knallen.
»Seine gütige Hoheit Bental der Erste, König von
Falméra und Volossoda, und Prinz Areos von Falméra!«
kündigte die laute Stimme des Protokolliers an. Das Echo
der Stimme war noch nicht verhallt, als mehrere Fanfaren
eine schnelle Abfolge von nicht enden wollenden Tönen
durch den Saal schmetterten.
Während dieser Klänge schritten Bental und Sebastian
den Gang entlang, Bental voran, Sebastian leicht versetzt
dahinter. Wo sie entlang gingen entrollten sich von oben,
von den Emporen herab, die Fahnen der Stände von
Falméra.
Als sie sich dem Thron näherten, erhoben sich Elwha und
Tieton in der ersten Bankreihe von ihren Sitzen und mit
ihnen die wichtigsten Berater und Heerlagerführer. Sie
stellten sich im Spalier links und rechts des Gangs auf
und warteten, bis König und Prinz an ihnen vorüber
geschritten waren.
Bental und Sebastian drehten sich vor den drei Stufen zum
Thron dem Saal zu, verbeugten sich leicht als
Respektbezeugung vor den Vertretern des Volkes, stiegen
dann die weißen Stufen hinauf und setzten sich auf die
beiden mittleren von vier Thronsesseln, die mehr
unbequemen Stühle entsprachen.
Es waren weit ausladende Stühle, überladen mit feinsten
Schnitzereien. Die Rückenlehnen ragten zweieinhalb Meter
in die Höhe. Bentals Thronsitz war mit ultramarinem
Stoff bespannt. Seine Lehne überragte die anderen drei
um Kopfeshöhe und gipfelte in einer vergoldeten Krone.
Der Sitz neben ihm, mit einer kleineren, einfacheren
Krone verziert, leuchtete in rotem Stoff. Dieser Sitz,
der Königin des Landes vorbehalten, war leer.
Sebastians Sitz bespannte ein tannengrüner Stoff und der
noch freie Platz neben ihm war purpurfarben
ausgeschlagen. Die Armlehnen der Thronsitze waren
ebenfalls mit überladenem Schnitzwerk bedacht, so dass
sie ihren eigentlichen Zweck nicht mehr erfüllen
konnten.
Vergeblich versuchte Sebastian seine Arme aufzulegen und
eine bequeme Sitzposition zu erlangen. Schließlich legte
er die Hände nur angewinkelt auf die Löwenköpfe, die
am Ende der Armlehnen in den Saal blickten.
Der Thronsaal wirkte um einiges geräumiger, als Basti
ihn in Erinnerung hatte. Die vielen Menschen, die dicht
gedrängt in den Reihen saßen, ließen den ganzen Raum
monumentaler erscheinen. Nur die vorderen Reihen waren
nicht voll besetzt. Sie waren den besonderen Gästen
vorbehalten.
Während der Protokollmeister die Tür zum Saal Talris
schloss, ließ Basti seinen Blick über die Reihen mit
den Volksvertretern und geladenen Gästen schweifen.
Tausende von Augenpaaren blickten erwartungsvoll zu ihm
auf. Nur vereinzelt hörte man ein Wispern, sonst war es
totenstill.
Die Emporen waren ebenfalls mit Leuten besetzt, die
hinter dem üppigen Blumenschmuck hinweg auf den Thron
herab sahen. Bunte Fahnen hingen unter den dazu
gehörigen Schilden, die fest an der Brüstung angebracht
waren und für die Stände, Städte sowie die Heerlager
des Reiches standen.
Der Protokollmeister schritt nun feierlich den Quergang
entlang und öffnete die Seitentür zum Ostflügel, wo
die Gästezimmer lagen. Wie durch unsichtbare Fäden
gesteuert, hoben die Schildwachen ihre Lanzen und ließen
sie auf ein Zeichen hin wieder auf den Boden knallen.
»Der Rat der Fürsten von Oranutu!« verkündete die
laute Stimme und einen Augenblick später schritten fünf
prunkvoll gekleidete, alte Männer mit gepflegten Bärten
den Gang entlang. Vor dem Thron blieben sie stehen und
verbeugten sich tief.
»Der Rat von Oranutu entbietet ihrer gütigen Hoheiten
die Grüße des Friedens, im Namen des Volkes von
Oranutu!« sprach ihr Anführer in feierlichem Ton.
»Die Vertreter des Volkes der Oranuti sind uns zum Fest
Talris willkommen«, antwortete Bental ebenso
überschwänglich.
Nun trat der zweite Vertreter Oranutus vor, hielt eine
große Pergamentrolle in den Händen, die mit bunten
Bändern zusammengebunden war. Der Protokollmeister nahm
sie ihm ab und reichte sie dem König hinauf.
»Das Volk von Oranutu bittet hiermit um Erweiterung und
Ausbau der Handelsbeziehungen zwischen unseren Völkern
sowie eine bessere Nutzung der Handelswege.« erklärte
der Abgeordnete.
Sebastian wusste, dass dies längst ein Thema im Rat
gewesen war. Unfreiwillig war er vor kurzem Zeuge der
Debatte zwischen den Vertretern der Oranuti und Bental
geworden. Ob eine Entscheidung gefallen war, wusste er
nicht. Doch diese Schriftrolle schien die offizielle
Forderung zu enthalten, die weniger als Bitte zu
verstehen war.
»Der Rat der Îval wird darüber beraten. Wir werden
später beim Fest Gelegenheit haben, darüber zu
sprechen«, versprach der König und gab die Abgeordneten
mit einer Geste seiner Hand frei, so dass sie sich in die
Bänke setzen durften.
Erneut hieben die Lanzen mit einem ohrenbetäubenden
Knall auf den Boden. Als das Echo im Saal kaum verhallt
war, kündigte die Stimme an:
»Fürst Osárul, Herr über die Provinzen der wandernden
Sonne von Oranutu mit Familie und Gefolge!« Sogleich
schritt ein dicker Mann den Gang herauf, den Sebastian
schon von weitem an seiner prächtigen Kleidung erkannte.
Es war jener Oranuti, der es gewagt hatte, Antarona
herauszufordern, und an dessen Kehle noch vor ein par
Zentaren Sebastians Schwertspitze schwebte. Seine Söhne,
die versucht hatten, Antarona in den Rücken zu fallen,
gingen etwas versetzt hinter ihm. Ihnen folgten die
Frauen, welche die drei bereits bei dem Zwischenfall
begleitet hatten.
Zögernd kam der Mann durch den Spalier der Schildwachen,
und Sebastian sah ihm an, wie unangenehm es ihm war,
jenem unterwürfig gegenüber zu treten, der ihn noch vor
kurzer Zeit nur allzu deutlich in seine Schranken
gewiesen hatte.
Er blickte beschämt zu Boden, als er an den Stufen zum
Thron stehen blieb, und Bental zog seine Augenbrauen
hoch, verwundert über solches Verhalten, das eines
Oranutis völlig unüblich war. Der König konnte
freilich nicht wissen, was unterhalb der Burgmauern
vorgefallen war.
Beschämt wich der Mann Sebastians Blicken aus und über
gab dem Protokollmeister eine Rolle. Das Schriftstück
wurde Bental übergeben, der den Oranuti fragend ansah.
»Es geht um den Abbau von Holz in euren Wäldern,
gütige Hoheit«, stammelte der eingeschüchterte Mann,
»zum Bau weiterer Wasserwagen für den Handel zwischen
unseren Völkern, Herr!« erklärte er demütig. Der
König wies ihm mit einer Handbewegung seine Plätze in
den Sitzreihen zu und antwortete:
»Es wird sich eine Zentare finden, in der wir noch
darüber sprechen werden!« Der Oranuti schlich sich mit
seiner Familie auf die zugewiesenen Plätze. Abermals
erklangen die Lanzen und des Protokollmeisters Ruf
ertönte:
»Fürst Jamálin, abgeordneter der Oranuti von Falméra,
mit Frau Zecilia und Tochter Raspina!« Gemächlich kam
ein kräftiger, hochgewachsener Mann herein, der von zwei
Frauen begleitet wurde. Sebastian stockte der Atem.
Das Mädchen, die seine Tochter sein musste, und ein
teures, aufwendig besticktes Elsirenkleid trug, war keine
andere, als jene Tänzerin, die ihn damals, als er von
Antarona getrennt war, verführen wollte. Die kleine, von
Mestas angeheiterte Raspina vom Elsirenfeuer, deren
Reizen er beinahe verfallen war! Fürst Jamálin reichte
dem Protokollier ebenfalls eine Rolle und sprach, indem
er jedoch nicht Bental, sondern Sebastian anblickte:
»Eure gütige Hoheit, dies ist meine Tochter Raspina,
welche sich hochglücklich schätzen würde, euch kennen
lernen zu dürfen«, stellte er das Mädchen vor. Dann
sah er zu Bental und fügte hinzu:
»Die Schrift indes ist jene Bitte der Überlassung des
einsamen Tals jenseits der Hochebene zum Zwecke der
Besiedelung, wie bereits mit euch beraten sowie ein
Vorschlag zur Erweiterung der Handelswege nach
Falméra.« Bental antwortete ähnlich, wie bei den
anderen Bittstellern, sah dabei aber Sebastian mit
aufforderndem Blick an.
Noch ganz benommen von der Überraschung, Raspina
plötzlich als Tochter Fürst Jamálins vor sich zu
sehen, brauchte er einen Augenblick, um sich zu fangen.
Natürlich hatte er die Weisung Bentals nicht vergessen,
sich um die Tochter des Fürsten zu kümmern. Doch nun
bekam die Situation noch eine ganz andere Wendung.
Trotzdem musste er tun, was der König von ihm verlangt
hatte.
Etwas unsicher stand auf, als jener, den das Volk und
alle Anwesenden für den Areos von Falméra hielten, und
stieg die drei Stufen des Throns hinab.
»Fürst Jamálin«, wandte sich Sebastian an den großen
Gast, »es ist eine Ehre für mich, euch und eure Tochter
in der Burg Falméras zu begrüßen. Ich würde mich
ebenfalls glücklich schätzen, wenn eure Tochter für
die Dauer der Feier den Platz an meiner Seite einnimmt,
und wenn ich sie, euer Wohlwollen vorausgesetzt, zum Tanz
führen darf«.
Dabei blickte er Raspina in die Augen, vermisste aber das
hoffnungsvolle Strahlen, mit dem sie ihn bei ihrem ersten
Treffen so bezaubert hatte. Als sie sich das zweite Mal
eher zufällig beim Elsirentanz trafen, schien Raspina
einem Mann zugetan, und begegnete ihm offen,
freundschaftlich, ohne Ablehnung, aber auch ohne
Zuneigung. An diesem Abend aber, war sich Sebastian
keinesfalls mehr sicher, wie das Mädchen zu ihm stand.
Sie blickte bescheiden zu Boden.
Die Oranuti hatten ganz eigene Verhaltensregeln, die
teilweise in ihrem Glauben begründet lagen. So ziemte es
sich für eine unverbundene Frau nicht, einem Mann ohne
die Erlaubnis ihres Vaters, oder eines anderen
männlichen Familienmitglieds, direkt und offen ins
Gesicht zu sehen.
Allerdings schickte es sich auch für einen männlichen
Bewerber nicht, sie direkt anzublicken. Der Oranuti-
Fürst schien Areos dieses Fehlverhalten nur deshalb
nachzusehen, weil der Werber ein Îval war, und er seine
eigenen Pläne mit seiner Tochter verfolgte.
»Ich gebe meine Tochter im Vertrauen auf den Verbund
unserer Völker und euch zu Ehren in eure Hände. Führt
sie nach der Sitte der Îval zum Tanz. Sie wird euch
folgen und euch nicht enttäuschen!« sagte der Fürst
feierlich und für alle im Saal hörbar.
Sebastian aber kam es eher so vor, als wollte Fürst
Jamálin sein einziges Kind für seinen politischen
Erfolg verschachern. Anscheinend glaubte er, König
Bental und seinem Sohn Areos mit der Anmut seiner Tochter
Sand in die Augen zu streuen, und sie für seine Zwecke
gefügig machen zu können.
Hätte Basti seine Option in Bezug auf Antarona vor
Bental nicht mit allem Mut deutlich gemacht und
verteidigt, so wäre es dem Fürsten womöglich gelungen,
den König einzuwickeln. So aber war beiden klar, dass
sie Fürst Jamálin nur ein Interesse Areos an seiner
Tochter vorspielen würden.
Allein Raspinas wegen machte sich Sebastian Sorgen. Wenn
ihr Herz wieder ungebunden war, und sie wider Erwarten
eine Zuneigung zu Areos entwickelte, wurde die Sache
schwierig. Sebastian brachte es kein zweites Mal fertig,
ihre Gefühle zu wecken, um sie dann wiederum abzuweisen.
Doch die Politik verlangte, dass er ihr zumindest nach
Außen, die Hoffnung auf den Thron in Aussicht stellte.
Und zur Überraschung aller Anwesenden im Saal sprach
Sebastian:
»Ich werde euer Vertrauen nicht enttäuschen.« Damit
nahm er Raspinas Hand und führte sie auf den Platz an
seiner Seite. Ein Versprechen zum Tanz war eine Sache.
Doch nun führte Areos eine Prinzessin der Oranuti auf
den Thron Falméras.
Zunächst herrschte ein angespanntes, erwartungsvolles
Schweigen. Der ganze Saal schien den Atem anzuhalten und
beobachtete, wie Areos das schöne Mädchen vorsichtig
die Stufen hinaufführte. Raspina war verführerisch
schön, eine wahre Prinzessin ihres Volkes, obwohl sie,
wie Antarona, ein Mischblut war.
Aber gerade mit ihrem dunklen Hautteint, vereint mit
ihrer für die Îval- Frauen so typisch schlanken
Gestalt, zog sie die Menschen im Saal in ihren Bann. Das
Schauspiel war perfekt. Areos holte sich die schönste
aller Oranuti- Mädchen, dazu noch eine Prinzessin auf
den Thron!
Irgendeiner, ein Begeisterter, oder nur einer, der dem
König huldigen wollte, um sich in Erinnerung zu rufen,
brach den Bann der Stille. Das laute Hurraa, hoch dem
Areos hallte durch den Saal, brach sich kaum an den
Säulen und kam als Echo zurück. Sofort fielen andere
mit ein und es entstand ein Jubel, der nicht enden
wollte. All dies kam bereits der hochoffiziellen
Verbindung zwischen der Oranuti- Prinzessin und dem
künftigen Herrscher über Falméra und Volossoda gleich.
Sebastian aber dachte an Antarona. Der ganze Jubel, die
überschwängliche Begeisterung, alles drang wie durch
ein Schleier in seine Sinne, wie durch unsichtbare Nebel,
die Antarona heraufzubeschwören schien. Sebastians Herz
zog sich zusammen. Antarona saß in ihren Gemächern
eingesperrt. Zweifellos hörte sie den Jubel.
Sie war nicht so einfältig, als dass sie nicht ahnen
würde, wem diese Begeisterung galt. Sie würde aber auch
wissen, dass nicht Sebastians Auftritt allein solche
Ovationen auslösen konnte. Sebastian stellte sie sich
vor. Zusammengekauert im Dunkel, tieftraurig und
verzweifelt unter einem der großen Fenster des
Korridors, weinend, zitternd, allein.
Warum musste er ihr das antun? Warum flohen sie nicht in
die Wälder? Die riesigen, waldbedeckten Weiten, über
die sie am Mittag geblickt hatten, sie würden sie
verschlucken, umhüllen, beschützen. Sie vermochten sie
zu verbergen, ihnen die Freiheit zu geben, ihre Liebe zu
leben!
Doch Sebastian ahnte, dass Antarona selbst nicht dazu
bereit war. Ihr ging es um die Freiheit der Îval! Lieber
litt sie selbst unendliche Herzensqualen, wie Tausende
von Messerstichen, die sie innerlich zerrissen, als dass
sie um ihretwillen mit Ba - shtie in eine Zweisamkeit
floh, und ihr Volk einem unheilvollen Schicksal
überließ!
Sie war die wahre Prinzessin der Îval! Keine andere
Frau, und war sie noch so schön, vermochte an das heran
zu reichen, was Antarona für ihn verkörperte. Sie war
für Sebastian mehr, als nur ein braves Mädchen, das er
umsorgen, behüten und lieben konnte.
Antarona war ihm sanftmütige Liebe, wilde, unbändige
Leidenschaft, gnadenlose Kampfgefährtin, kritische,
kluge Beraterin, sensible Schönheit, und nicht zuletzt
Mutter seiner Tochter, auch wenn es noch viele Zentaren
ihr süßes Geheimnis bleiben würde.
So schlecht, wie in diesem Augenblick, hatte sich
Sebastian lange nicht gefühlt. Was er hier tun musste,
kam ihm wie ein Verrat an Antarona vor. Und während ihn
das Volk, die Gäste, und die hohen Persönlichkeiten
Falméras umjubelten, hob er nur rein mechanisch Raspina
auf den hohen Sessel des Throns, was wieder neuen Beifall
auslöste.
Fürst Jamálin und seine Frau hatten inzwischen auf der
ersten Bank Platz genommen und sahen verzückt zu ihnen
herauf. Offenbar hatte der Fürst zwar gehofft, doch
nicht erwartet, dass seine Tochter noch an diesem Abend
auf dem Thron von Falméra sitzen würde, was einem
Versprechen zu einer Verbindung so gut wie gleich kam.
Bental schien diese Entwicklung ebenfalls zu gefallen. Er
nickte Raspina wohlwollend, fast väterlich zu, und
hätte er nicht vorher Sebastian in seine Pläne
eingeweiht, so hätte Basti nun annehmen müssen, um eine
Zwangsheirat mit Raspina nicht mehr herum zu kommen.
Raspina selbst aber schien, wie Sebastian, mit den
Gedanken weit fort zu sein. Aus der Entfernung und für
die tausend Augen im Saal waren sie das perfekte
Traumpaar. Doch Sebastian sah die Augen des Mädchens,
das nun an seiner Seite auf dem Thron Falméras saß und
den Blick scheu zu Boden richtete. Er verlor sich aber im
Nirgendwo. Es waren nicht die Augen eines verliebten, vor
Aufregung und fiebernder Hoffnung strahlenden Mädchens,
das sein Herz in die Hände seines Traumprinzen legte.
Aus Raspinas Blicken sprach unerfüllte Sehnsucht,
verborgene Trauer, Hoffnungslosigkeit, das Abbild eines
unglücklichen Herzens. Aber nur Sebastian konnte es
erkennen. Alle anderen sahen eine wunderschöne
Prinzessin, die einer wunderbaren Mär gleich, alsbald
eine Königin werden würde.
Wieder wanderten Sebastians Gedanken zu Antarona. Er
wünschte sich, der wahre Areos würde wie durch ein
Wunder tatsächlich aus dem Reich der Toten auferstehen.
Er würde Raspina zur Frau nehmen, und alle wären
zufrieden.
Antarona und Sebastian würden ihm helfen, für ihn
kämpfen, bis das Volk Val Mentiérs von der Tyrannei des
Torbuk befreit war. Danach, im Frieden, wäre ihnen das
Leben vergönnt, das sie sich so sehr wünschten. Ein
Leben, in dem sie ihrem Töchterchen ein Zuhause schenken
konnten, in dem sie sich vor aller Welt ihre Liebe
gestehen, und als Paar leben durften!
Aber so einfach war es nicht. Alles schien so ausweglos
kompliziert. Er, Sebastian musste Areos sein, damit
Torbuk keinen rechtsmäßigen Anspruch auf den Thron
erheben konnte und Antarona sollte seine Schwester sein,
was jedoch niemand erfahren durfte. Sie würden erst
wirklich frei sein, wenn Torbuk besiegt war. Solange
würde ihre Liebe ein Geheimnis zwischen ihren Herzen
bleiben...
Die Lanzen der Schildwachen ließen erneut die Säulen
des Saals erzittern. Der nächste Gast erschien mit
seiner Bittrolle. Wie viele der besonderen Gäste noch
vor den Thron traten, wurde Sebastian nicht mehr bewusst.
Er war gedanklich damit beschäftigt, wie es wohl
Antarona ging, und versuchte gleichzeitig zu ergründen,
wie Raspina zu ihm stand. Verliebte sich das Mädchen
erneut in den Thronfolger von Falméra und Volossoda, so
befand er sich in einer moralischen Zwickmühle, die
seinem schlimmsten Alptraum noch in den Schatten stellen
würde!
Irgendwann ließen die Fanfaren die Wände erzittern. Der
Protokollmeister öffnete die schwere Flügeltür zum
Saal Talris. Der Altar zu ehren des Sonnegottes war von
brennenden Fackeln erleuchtet. Ehrfürchtig standen die
Menschen im Thronsaal auf und drehten sich um, so dass
sie den Altar anblickten.
Auch Bental stand auf und Sebastian tat es ihm nach. Er
reichte Raspina die Hand und sie glitt, auf seinen Arm
gestützt, elegant von ihrem Sessel.
In diesem Moment erschien Elwha im Seitengang und schritt
würdevoll den Gang entlang, durch das Portal und
verbeugte sich zuerst vor dem geschmückten Altar, dann
vor dem Thron. Er hielt eine große Schriftrolle in der
Hand.
Sebastian hatte das Protokoll des Fest Talris in der
Bibliothek nachgelesen, und wusste, was nun kommen
sollte. Elwha brachte den Göttern seinerseits ein
obligatorisches Opfer in Form eines Kräuterbüschels
dar, drehte sich dann den Menschen im Saal zu und
entrollte die Schrift.
Dann verlas er feierlich die Entstehungsgeschichte des
Landes, des Volkes der Îval, des Throns der Götter
sowie die für alle Zentaren weisende Mär, dass Gott
Talris dem Thronerben der Îval eine Prinzessin der
Oranuti durch das Feuer des Himmels sandte, um das Volk
mit frischem Blut rein zu halten.
Elwha predigte das Gebot der Götter, an das der
Thronerbe von Falméra gebunden war, seine Prinzessin von
Oranutu symbolisch durch das Feuer der Elsiren, durch das
reine Feuer der Götterwesen zu empfangen. Nur eine so
gereinigte Frau war würdig, den Thron der Îval zu
besteigen.
Zwischendurch pries Elwha alle Götter, die Stützen des
Himmels, welche Talris trugen. Er berichtete aus den
alten Rollen von den Hallen von Talris und ihren
Inschriften, den Geboten aller Götter, die sie den Îval
aufgetragen hatten, um in Frieden und Einklang mit ihres
Gleichen zu leben.
Dann nahmen einige Fackelträger im Gang Aufstellung.
Anschließend kamen fast unbekleidete Tänzerinnen wie
luftige Schmetterlinge hereingeflattert. Es waren junge,
ausgesuchte Îval- Mädchen. Sie trugen nichts weiter,
als einen dünnen Hüftschurz, der Sebastian an den
knappen Lederschurz Antaronas erinnerte.
Er war das kaum verhüllende Kleidungsstück aller jungen
Îval- Mädchen, das Symbol der unschuldigen,
unberührten Oranuti- Braut, welche sich dem Thronfolger
der Îval als Geschenk der Götter hingab. Die Mädchen
wirbelten durch den Spalier der Fackelträger, sprangen
auf und nieder und gebärdeten sich, als fielen sie aus
großer Höhe auf die Erde.
Endlich warfen sie sich vor Elwha und dem Altar auf den
Boden, zeigten ungeniert ihre Schönheit und Reinheit
symbolisch mit ihrer makellosen, nackten Haut, und
schienen keine Scheu zu haben, sich so zu präsentieren.
Kurz darauf traten die alten Könige der Îval,
symbolisch von jungen Männern dargestellt, in den Saal.
Sie schritten in Richtung Altar, blieben jedoch vor den
Fackelträger stehen und warteten ungeduldig.
Nun sprach Elwha symbolisch den Segen der Elsiren.
Sogleich erhoben sich die Mädchen, sprangen elegant auf
die Füße und begannen erneut zu tanzen. Allerdings nahm
der tanz mehr und mehr erotische Züge an. Die Mädchen
spielten im Tanz mit ihren Reizen und boten sich
regelrecht sehnsuchtsvollen Blicken an.
Dann, auf ein Zeichen Elwhas, sprangen sie über ein
unsichtbares Hindernis, das zwischen den Fackelträgern
zu bestehen schien. Die jungen Männer, die auf der
imaginären anderen Seite warteten, fingen sie mit
sicherem Griff auf und wirbelten sie im Tanz herum, bis
Elwha seinen Stab mit lautem Knall auf den Boden hieb.
Unter dem lautem Beifall des Saals warfen nun die
Jünglinge ihre Mädchen sanft zu Boden. In ekstatischen
Bewegungen wanden sich die gespielten Oranuti- Bräute
unter den jungen Männern, die sich über ihren
unverhüllten Körpern abstützten und mit eindeutigen
Bewegungen den Geschlechtsakt simulierten.
Der Saal tobte vor Begeisterung. Die Verbindung der
Herzen zwischen dem Thronfolger der Îval und seiner
Oranuti- Prinzessin war, zumindest symbolisch betrachtet,
vollzogen!
Sebastian sandte ein inbrünstiges Stoßgebet zu jenen
Göttern, sie mochten gnädigst verhindern, dass von ihm
und Raspina das gleiche Schauspiel erwartet wurde. Das
würde sich wohl draußen auf dem Burghof am großen
Elsirenfeuer vor aller Augen vollziehen.
Auch Antarona würde vom Fenster aus zusehen. Ein solcher
Anblick musste ihr einen Stich ins Herz versetzen, der
vielleicht tiefer ging, als sie verkraften konnte.
Sebastian spürte, was sie empfinden würde. Sie fühlten
wie ein Herz!
Als die Zeremonie vorüber war, die Tänzerinnen und
Tänzer wieder in der Seitentür des Saals verschwunden
waren, hob Elwha noch einmal seine Stimme an. Er sprach
nun vom Geschenk der Götterwesen an die vier alten
Könige der Menschenwesen Arkadon Nantakis, Trámon
Tálinos, Issny Vaventis und Reothor Semparos, die alle
vier von Gott Talris ein Geschenk erhielten, um die
Menschenwesen zu beschützen.
Die vier magischen Schwerter, von denen Antarona eines
besaß, und eines genau in diesem Augenblick an
Sebastians Waffenrock hing: Tálinos! Es war das einzige,
dem Volk als noch existierend bekannte Schwert. Die drei
anderen galten als verschollen. Der Sage nach hatten sie
die Götter wieder zu sich genommen, nachdem sich die
alten Könige verfeindet hatten.
Niemand, nicht einmal der König, ahnte, was Sebastian
wusste. Es existierte noch ein zweites, der alten
magischen Schwerter der Götter. Nantakis, Antaronas
Schwert! Und es war besser, wenn niemand davon erfuhr.
Nun war es an Areos, in Szene zu treten. Er kannte den
Ablauf des Protokolls, und wusste, dass nun seinem
Schwert, Tálinos, der alljährliche Segen gegeben wurde.
Damit wurde symbolisch die Macht dieser göttlichen Waffe
erneuert.
Sebastian wusste, dass dies unnötig war. Die Schwerter
mit dem bläulichen Schimmer verloren ihre
unterstützende Kraft nicht einfach, Nantakis hatte es
bewiesen! Doch er hütete sich, seine Erkenntnis
verlauten zu lassen. Manches Wissen war als Geheimnis gut
aufgehoben!
Auf das Zeichen Elwhas hin nahm Basti Raspinas Hand,
schritt mit ihr in feierlicher Würde den Thron hinab,
den Gang entlang und trat vor den Altar Talris. Dort zog
er das blanke Schwert aus der verzierten Scheide und
legte es auf den Altartisch zu den reichhaltigen Gaben.
Anschließend schritt er mit Raspina zum Thron zurück.
Elwha sprach irgendwelche Gebete und Beschwörungen für
die vier Elemente Feuer, Erde, Luft und Wasser. Dabei
blies er Rauch auf die Schwertschneide, als Symbol für
die Luft, er goss Wasser darüber, und bestreute sie mit
Erde. Zuletzt hielt er das Schwert kurz in die Flamme,
die in einer Schale loderte.
Schließlich trug er es zum Thron und zu Sebastian
zurück, als symbolisches Geschenk der Götter an die
Menschenwesen. Unter dem Beifall und den Hochrufen der
Menschen im Saal, schob Basti die Waffe unter den
argwöhnischen Augen Bentals wieder in die Scheide
zurück.
Endlich erhob sich der König von seinem Thronsessel, gab
Sebastian ein Zeichen, ihm zu folgen, und ging mit
festlicher Würde dem Ausgang des Saals zu. Die Fanfaren
schmetterten eine widerhallende Abfolge von Tönen, die
Sebastian nur als Lärm empfinden konnte.
Basti nahm Raspinas Hand und führte das ihm anvertraute
Mädchen in gebührendem Abstand hinter Bental her.
Hinter Ihnen reihten sich die anderen Gäste ein, sobald
sie an ihnen vorüber geschritten waren. Das Ganze
erinnerte Sebastian an eine Hochzeit, bei der er selbst
die Hauptrolle spielte. Ein leichtes Frösteln lief ihm
bei diesem Gedanken über den Rücken.
Der andächtige Teil des Festes war mit der Zeremonie
abgeschlossen. Nun folgte der eigentlich vergnüglichere
Teil. Aber gerade diesem blickte Basti mit gemischten
Gefühlen, um nicht zu sagen mit Unbehagen entgegen.
Welche Erwartungen Fürst Jamálin an ihn stellte, war
ziemlich klar. Doch was würde Bental letztlich von ihm
fordern? Verlangte er schließlich doch noch, dass sich
Areos mit Raspina vor den Göttern verband? Wog
plötzlich das Interesse des Volkes, der Politik mehr,
als sein eigenes?
Ohne Eile gingen sie den Korridor zu den Festsälen im
Ostflügel entlang. Sebastian führte Raspinas am Arm,
wagte aber nicht, sie offen anzusehen. Sie war letztlich,
ebenso, wie er selbst, der Spielball in dieser
politischen Intrige. Wie weit sie wiederum den Zielen
ihres Vaters zu folgen bereit war, und was ihre eigenen
Wünsche waren, musste Basti freilich erst noch
herausfinden. Verstohlene Blicke warf er ihr zu, als sie
durch den Flur gingen, der in das Dämmerlicht der
Fackeln getaucht war.
Sebastian wusste, was Festgesellschaft und Tradition noch
von ihnen erwarteten. Raspina war kein dummes Kind und
kannte ebenfalls das Protokoll. Bevor sie beide den
Elsirentanz eröffnen würden, musste er Raspina
unbedingt unter vier Augen sprechen! Nur so war zwischen
ihnen zu klären, was Jamálins Tochter selbst von diesem
Abend erwartete.
Auch Raspina riskierte einen seitlichen Blick, scheu,
unsicher. Es entsprach ganz und gar nicht ihrer Art.
Sebastian hatte sie anders kennengelernt. Dass sie sich
unter den Blicken ihrer Eltern nicht so freizügig
gebärdete, wie an den nächtlichen Elsirenfeuern, war
verständlich. Doch irgendwie spürte Sebastian eine
verborgene Angst, die das Mädchen im Griff hielt.
Festlich gekleidete Bedienstete öffneten die mächtigen
und hohen Flügeltüren zum Festsaal. Fackeln, Kerzen,
Öllampen, Lichter über Lichter verwandelten die beiden
Festsäle in eine leuchtende, glanzvolle Kulisse.
Sebastian träumte davon, Antarona, als die Prinzessin
von Falméra, durch diese Tür in den prunkvoll
geschmückten Saal zu führen. Raspina war zweifellos
eine strahlende Schönheit an seiner Seite. Und schon ihr
Anblick vermochte Männern den Kopf verdrehen, denn genau
wie Antarona, wusste auch sie ihre Reize vorteilhaft
einzusetzen. Basti war ihnen beinahe einmal erlegen! Aber
er mochte sie nicht so, wie er Antarona liebte, verehrte
und begehrte. Raspina war nicht die Frau, die seine
Phantasien mit ihm teilte, mit der er sein Leben
verbringen wollte!
Mit einem aufgesetzten, erzwungenen Lächeln führte
Basti das Mädchen zum Kopfende der riesigen Tafel, die
den Festsaal beherrschte. Die aneinander gereihten Tische
waren mit so vielen Köstlichkeiten bedeckt, dass sich
Sebastian fragte, ob dafür die Nahrungsmittel der ganzen
Insel beschlagnahmt worden waren.
Er wusste nur zu gut, wie bescheiden die Îval lebten.
Sie hungerten nicht, doch eine solche, hier dargebotene
Vielfalt fand selten in die vier Wände eines der
bescheidenen Heime des Volkes. Raspina setzte sich an die
Tafel und nahm die üppigen Speisen und Getränke mit
einer gelassenen Selbstverständlichkeit hin.
Antarona hingegen hätte Türen und Tore geöffnet, und
die Gaben der Götter an das Volk verteilt. Das war der
Unterschied! Mochte sich Raspina auch an den
Elsirenfeuern in der gleichen Ekstase verlieren, wie alle
jungen Frauen, so blieb sie doch die Tochter eines
Oranuti- Fürsten.
Antarona hingegen war eine Tochter des Volkes, wohl mit
dem Geist und der Würde der Könige beseelt, doch mit
einem Herzen für jene, welche das Land auf ihren
Schultern trugen! Und sie besaß das nötige Temperament,
das Sebastian Lauknitz in seinen Bann schlug. O ja, sie
vermochte ihn wie eine gigantische Welle aus Leidenschaft
und purer Lust zu überrollen. Gleichzeitig gelang es ihr
immer wieder, ihn zu überraschen.
Genauso stürmisch, wie sie ihn von den Füßen reißen
konnte, war ihr als zweite Seite eine Sanftmütigkeit und
tiefer Liebe anheim, die sein Herz warm, ja fast
mütterlich zu umklammern vermochte. Es waren die spontan
auftretenden, krassen Gegensätze in ihr, die Sebastian
faszinierten.
Raspina dagegen kam ihm wie ein zwar süßes und
verführerisches, aber eher naives, unschuldiges Mädchen
vor, das einen Mann allein durch seine jugendlichen Reize
anzog. Sie erweckte in einem das väterliche Bedürfnis,
sie zu behüten, zu beschützen und gleichzeitig das
Verlangen nach ihrem makellosen, glatten Körper. Das war
es auch schon!
Sie würde niemals die Frau sein können, die den Mann an
ihrer Seite geistig und kreativ inspirierte, ihm mit Rat
und Tat zur Seite stand, ihm notfalls in wichtiger
Entscheidung die Stirn bot. Schon gar nicht war sie eine
Frau, die bereit war, mit ihm auf ein Schlachtfeld zu
ziehen! Ebenso wenig würde sie jemals ein Volk führen
können. Ihr fehlte das geheimnisvolle letzte Zehntel
ihres Wesens, das eine Frau in sich tragen und erwecken
konnte, um Menschen, Männer, wie Frauen gleichermaßen
zu begeistern, sie überzeugend mitzureißen. Sebastian
hatte genau das in Antarona gefunden!
Bei diesen Gedanken rief sich wieder Janine in
Erinnerung. Das genau war diese rätselhafte Verbindung,
die er zwischen Janine und Antarona gefunden hatte!
Antarona begegnete ihm mit der gleichen spontanen,
temperamentvollen, und freimütigen Art, die Janine
verkörpert hatte. Sie besaß das gleiche Wesen! Dass sie
sich auch äußerlich ähnelten, mochte dem Zufall
gutgeschrieben sein.
»Das Mahl zu Ehren Talris, und zur Freude unserer Gäste
mag beginnen!« Bentals laute und deutliche Stimme riss
Sebastian aus seinen Gedanken. Er brauchte eine Weile, um
zu begreifen, dass ein Diener geduldig neben ihm wartete.
Nun kam Basti nicht mehr umhin, Raspina direkt anzusehen.
Er blickte in eine Vertrautheit, gewiss, aber es war kein
Verlangen, kein Begehren zwischen ihnen, das die Luft auf
geheimnisvolle Weise elektrisiert hätte. Erleichtert
lächelnd fragte er:
»Welche dieser Köstlichkeiten darf ich euch bringen
lassen?« Dabei ließ er seine Hand einladend über den
Tisch fahren.
»Ich möchte gern Wafan, und von jedem Gebäck dort, von
jedem, hört ihr?« Mit großen, leuchtenden Augen sah
sie den Diener an, der sich augenblicklich befleißigte,
ihren Wünschen nachzukommen.
Ein Kind, dachte Sebastian, ein großes, reizvolles,
begehrenswertes, aber naives Kind! Er verstand es nicht.
Was hatte ihn an jenem Abend, als er das erste mal die
Elsirenfeuer besuchte, dazu bewogen, trotz seiner tiefen
Liebe zu Antarona, den süßen Verlockungen dieses
arglosen Mädchens nachzugeben?
War es die unschuldige Reinheit, die sie ausstrahlte,
dieses Unangetastete, das jeden Mann verlockend dazu
einlud, es zu berühren, zu entdecken und zu erforschen,
und es schließlich in Besitz zu nehmen? Oder war es ganz
einfach seine Einsamkeit gewesen, die Sehnsucht nach
Liebe und Wärme, die er durch die Trennung von Antarona
ertragen musste?
Ein wenig hatte Sebastian Angst, allzu tief
nachzuforschen. Womöglich entdeckte er in den Tiefen
seines eigenen Wesens etwas, das ihm nicht gefiel? Musste
er vielleicht erkennen, dass er, süßen Verlockungen
ausgesetzt, nicht treu sein konnte?
Unmerklich schüttelte er den Kopf, wie um sich selbst
aus einem Irrgarten der Sinne zu befreien. Worüber
dachte er eigentlich nach? Zweifelte er an sich selbst?
Raspina holte ihn aus seiner Geisteswelt zurück, als
vermochte sie in seinen Gedanken zu lesen.
»Sie ist nicht an eurer Seite, jene, welcher ihr euer
Herz geschenkt habt?« fragte sie traurig, und Sebastian
war sich seines Urteils hinsichtlich ihrer Naivität
nicht mehr ganz so sicher. Als er nicht sofort
antwortete, gestand sie ihm leise:
»Auch jener, der mein Herz umklammert hält, darf nicht
meine Hand halten. Mein Vater wünscht, dass ich euer
Herz berühre. Doch ich vermag es nicht, denn mein Herz
ist mit einem anderen verbunden. Als ihr mich das erste
mal beim Tanz berührtet, glaubte ich, unsere Herzen
wären füreinander bestimmt, doch dann...«
»Ja, ich weiß«, gab sich Sebastian schuldbewusst,
»ich hätte das erst gar nicht geschehen lassen dürfen.
Wir waren in dieser Nacht zwei verlorene Seelen, wie zwei
einsame Wasserwagen im Sturm, die verzweifelt nach einem
schützenden Hafen suchten. Ich wusste auch nicht, dass
ihr die Tochter des...« Sebastian hielt mitten im Satz
inne.
Bental und Fürst Jamálin beobachteten sie aufmerksam,
als wollten sie ergründen, wie weit sich die beiden
näher kamen. Basti behagte das gar nicht und er
beschloss, das Gespräch später fortzusetzen. Er war
sicher, dass man an ihren Augen ablesen konnte, dass sie
eher ernsthafte Worte wechselten.
Zumindest dem Fürsten Jamálin aber war sehr daran
gelegen, dass sich seine Tochter mit Areos amüsierte.
Nachdenkliche, oder gar traurige Mienen mussten ihn
zwangsläufig irgendwann misstrauisch machen.
»Lasst uns später darüber weiterreden, Raspina, euer
Vater beobachtet uns und der König scheint auch ein
großes Interesse daran zu haben, was wir uns zu sagen
haben.« Das Mädchen nickte und blickte beschämt auf
seinen Teller. Doch genau das wollte Sebastian vermeiden!
»Versucht ein wenig fröhlich auszusehen, ja?« riet ihr
Sebastian. »Wir beide werden schon einen Weg finden,
welcher nach unserem Herzen ist, und denen dort recht
erscheint!« beruhigte er sie und nickte zu Bental und
ihrem Vater hin. Erklärend fuhr er fort:
»Lasst uns sie wenigstens glauben machen, dass wir
einander gut verstehen, damit brechen wir unseren
Herzensschwur nicht, und sie sind zufrieden! Wenn ihr
wollt, können wir uns gegenseitig helfen, was haltet ihr
davon?« Raspinas Züge hellten sich wieder etwas auf,
sie neigte ihren Kopf zu ihm herüber und flüsterte:
»Ja, ich vertraue euch, das will ich gern annehmen. Ich
bin froh, in euch einen guten Freund zu finden, lasst uns
Verbündete sein, wie zwei, die ein Geheimnis bewahren!«
Sebastian nickte und Raspina rang sich sogar ein leichtes
Lachen ab.
Ihr Vater, der sie nach wie vor beobachtete, sog das, was
er sah auf, wie ein trockener Schwamm das Wasser. Es
gefiel ihm, sein Töchterchen in guter, unbeschwerter
Unterhaltung mit dem Thronerben von Falméra zu sehen.
Wahrscheinlich wähnte er sich bereits an seinem
politischen Ziel.
Bental hingegen ahnte, dass zumindest sein imaginärer
Sohn nur schauspielerte. Doch er ließ sich nichts
anmerken, stieß den Fürsten freundschaftlich an,
zwinkerte ihm mit den Augen zu und nickte in die Richtung
der beiden offensichtlich flirtenden Kinder.
Das Mahl zog sich noch eine ganze Weile hin, und
Sebastian kamen die Minuten wie Stunden vor. Immer noch
einmal wurden die Speisen ergänzt und die Getränke
nachgefüllt, bis auch der Letzte, bezeichnenderweise
jener dicke Oranuti, mit welchem Antarona und Sebastian
aneinander geraten waren, mit einem deutlichen Rülpser
bekundete, endlich satt zu sein.
Kurz darauf ließ der Protokollmeister seinen Stab zu
Boden fahren. Der trockene Knall unterbrach die
Tischgespräche und im Festsaal kehrte erwartungsvolle
Stille ein.
»Das Feuer Talris wird nun entfacht«, verkündete er.
Sogleich erhoben sich alle von den Plätzen, doch niemand
wagte, den Saal vor dem König zu verlassen. Wieder gab
Bental seinem Sohn Areos ein Zeichen, dann schritt er
über den Korridor in das Gesellschaftszimmer, dessen
Fenster weit geöffnet waren, und weiter über die kleine
Treppe auf den Burghof.
In der Mitte des Hofes, nicht weit vom Brunnen begann
unter den geschäftigen Händen einigen Gesindes ein
stattliches Elsirenfeuer in den nächtlichen Himmel zu
lodern. Es war nicht so groß, wie die Feuer unten in der
Stadt, oder am Strand, doch es genügte, um eine
Tänzerin hindurch zu werfen.
Neben dem inneren Ostturm begannen die Spielleute ihre
Instrumente zu stimmen. Man hörte einzelne Trommel- oder
Paukenschläge, das krächzende Schnarren eines
Seiteninstruments, ab und zu auch den klagenden
Jammerlaut einer Sackpfeife.
Die Gäste und alle Anwesenden versammelten sich in einem
weiten Kreis um das Feuer. Sie hielten respektablen
Abstand, denn den meisten Platz benötigten die
Tänzerinnen und Tänzer. Niemand wollte riskieren, dass
eine der Tänzerinnen unverhofft aus den Flammen
auftauchte, und ihm gegen den Kopf flog.
Der Protokollmeister gab das Zeichen an die Spielleute.
Mit einem langgezogenen kreischenden Ton und einzelnen,
intervallartigen Schlägen auf die Trommel kündigten die
Musiker ihre Darbietung an.
»Euer hochwohlgeboren, gütige Hoheit Bental, König von
Falméra und Volossoda, und Prinz Areos mit Prinzessin
Raspina von Oranutu«, erhob sich die heisere Stimme des
Spielmannführers, »Hochverehrte Gäste, Fürsten und
Edelleute, verehrtes Volk von Falméra, liebes
Fahrensvolk!«
Er gab den Umstehenden mit einer kleinen Pause
Gelegenheit, ihre Gespräche zu beenden, bevor er
fortfuhr, das eintönige Jaulen der Sackpfeife im
Hintergrund zu übertrumpfen:
»Nun ist an der Zentare, Gott Talris selbst zu huldigen,
für Schutz und Gnade, welche er seinen Menschenkindern
stets einen Sommer und einen Winter bescheret. Es war in
guter alter Zentare, als die Götterwesen den Königen
der Menschenwesen eine wunderschöne Prinzessin zum
Geschenk machten. Durch das Feuer des Himmels ward sie
gesandt, und bestimmt, den Platz neben dem Thron
einzunehmen!« Die Musik steigerte sich unmerklich und
der Sprecher hob seine Stimme an:
»Dies bekunde nun die Tänzerinnen und Tänzer mit ihrer
Darbietung zur Freude unser aller Augen und Sinne! Lasset
die Götter euch die Weiber schenken, und lasset euch,
holde Mädchen, von euren Erwählten euch empfangen! So
denn zusammenführet, was sich liebt und ehrt, seine
Herzen verbunden, ein Leben lang!«
Die Musik wurde ohrenbetäubend laut und eine gemäßigte
Melodie setzte ein. Sebastian wusste, dass man von ihm
erwartete, den Tanz zu eröffnen. Mit fahrigen Bewegungen
löste er Tálinos von seinem Gürtel und übergab das
Schwert für die Dauer des Tanzes an Bental. Etwas
unsicher führte er anschließend Raspina in den Kreis
neugieriger, sensationslüsterner Menschen, deren
Gesichter vom Feuerschein glühten, wie die Fratzen von
Teufeln.
Das frisch aufflammende Feuer zwang zur Bewegung, wollte
man sich nicht Haut und Haare versengen. Sebastian zog
sein besticktes Hemd aus und warf es traditionsgemäß in
die Zuschauer.
Eine junge Oranuti, in einem gewagt freizügigen, von
glitzernden Steinen besetzten Elsirenkleid, aber dennoch
mit dem traditionellen Gesichtsschleier der streng
gläubigen Oranuti- Mädchen fing es auf. Sie trug auch
diese typische bunte Kopfbedeckung junger, unverbundener
Oranutis, die ihr Haar, den Stolz eines jeden Mädchens,
verbarg. Sebastian entging nicht ihre schlanke, für eine
Oranuti unübliche Figur.
Mehr bekam er von der unbekannten Schönen nicht zu
sehen, die nun sein Hemd für ihn aufbewahrte. Und er
bezweifelte, dass er das Kleidungsstück jemals
wiedersehen würde. Oft genug fanden sich an den
Elsirenfeuern junge Mädchen ein, ohne Tanzpartner, die
nicht am Elsirentanz teilnahmen, aber von heimlicher
Sehnsucht getrieben, die Hemden ihres Favoriten fingen,
und damit verschwanden. Meist hüteten sie dann ihre
Trophäen über viele Jahre hinweg, wie einen heimlichen
Schatz. Das bestickte Hemd mit dem Wappen des
Thronfolgers war sicher eine begehrte Beute.
Tanz und Pflicht forderten nun seine Aufmerksamkeit. Er
musste sich den Rhythmus der Spielleute verinnerlichen,
den richtigen Zeitpunkt abwarten, um einzusteigen.
Dann nahm er Raspina an der Hüfte und begann den Tanz.
Es gelang ihm nicht, die Tanzweise Antaronas gänzlich
abzulegen, er hatte sich zu sehr daran gewöhnt. Also
hatte Raspina einige Mühe, seiner Choreografie zu
folgen.
Die umstehende Menge fing an begeistert zu klatschen und
zu johlen, und feuerten das Paar an, dem offiziell
vorbehalten war, den Tanz zu eröffnen. Basti versuchte
die alte Tanzweise, die er am Anfang kennengelernt hatte,
ließ aber immer wieder Figuren Antaronas moderner
Version mit einfließen.
Er war Areos, der heimliche Held der nächtlichen
Elsirenfeuer! Die Zuschauer erwarteten etwas Besonderes!
Dass die Bewunderung und die daraus erfolgende
Erwartungshaltung eigentlich Antaronas gebührte,
interessierte niemanden.
Niemand blickte verwundert, dass Raspina, und nicht die
schlanke, grazile Kriegerin mit den langen schwarzen
Haaren an seiner Seite tanzte. War es tatsächlich so,
wie Bental sagte, dass Antarona bei allen nur als seine
Sklavin zum persönlichen Vergnügen galt?
Sein Herz zog sich zusammen, je mehr er darüber
nachdachte. Antarona allein stand es zu, diesen Tanz mit
ihm zu eröffnen! Nach allem, was er ihr zu verdanken
hatte, und vor allem vor ihrer tiefen Liebe kam er sich
plötzlich wie ein schäbiger Verräter vor. Dass der
Zwang Bentals hinter dieser Entscheidung steckte zählte
nicht. Sebastian hätte sich ja weigern können, oder
eine Ausrede erfinden, er wäre krank, oder hätte sich
den Fuß verdreht, oder so etwas.
Statt dessen gab er dem politischen Willen nach, und
beging dieses größte aller Feste mit einem fremden
Mädchen, noch dazu mit einer Tochter aus einem Oranuti-
Geschlecht!
Verstohlen sah er zu den hohen Fenstern hinauf. Ob
Antarona ihn beobachtete? Natürlich tat sie das! Alle
Lichter waren aus, um diese Zeit! Sie hatte die Lichter
gelöscht, um besser sehen zu können! Sicher stand sie
hinter einem der großen Fenster im Korridor und sah
unter Tränen dem fröhlichen Treiben im Burghof zu.
Oder sie lag weinend auf ihrem Bett, enttäuscht,
verlassen und verraten. Und er, ihr Ba - shtie,
vergnügte sich mit einer anderen! Er verfluchte sich
selbst, nicht den Mumm gehabt zu haben, gegen Bentals
Entscheidung aufzubegehren, sich gegen sie durchzusetzen!
In seinen Gedanken hatte er gar nicht bemerkt, dass sie
bereits eine Runde um das Feuer getanzt waren. Jeder
erwartete nun von ihm die Geste, welche auch die anderen
Tanzpaare dazu aufforderte, sich in den Reigen
einzureihen.
»Areos«, rief Raspina gegen den Lärm der wilden Musik
an, »wollt ihr die ganze Nacht nur mit mir allein um das
Feuer tanzen?« Plötzlich wurde er sich seiner Pflichten
bewusst. Er war unkonzentriert! So etwas konnte beim
Elsirentanz böse Folgen haben, wenn er zuließ, dass
seine Partnerin falsch absprang, oder er sie nicht sicher
auffing!
Rasch gab Areos das ersehnte Zeichen und sofort reihten
sich die anderen Tänzerinnen und Tänzer ein. Er hatte
das Gefühl, die Musik würde plötzlich lauter spielen.
Tatsächlich aber legten die Spielleute nur etwas an
Tempo zu und kürzten den Takt. Die Musik bekam dadurch
einen noch wilderen, ungezügelteren Charakter.
Entsprechend ausgelassen wurde auch der Tanzstil, was dem
König und seinem Protokollmeister sicher missfiel.
Sebastian stellte mit Erstaunen fest, dass einige
Tanzpaare, allesamt Kinder von Edelleuten und
einflussreichen Eltern, bereits die neue, von Antarona
ins Leben gerufene Choreografie tanzten.
Antarona hatte ein großes Stück Kultur der Îval
revolutioniert und neu geprägt! Alle schienen inzwischen
am neuen Tanz ihr Können unter Beweis zu stellen, ohne
zu ahnen, dass es sich dabei um eine Schwertkampftechnik
handelte. Aber ausgerechnet sie, die Mutter dieser
Technik, durfte bei diesem Fest nicht dabei sein. Sie,
die es mehr als jeder andere verdient hatte, diesen Tanz
in das höchste Fest der Îval zu tragen!
Immer wieder suchte Areos Blick zwischendurch die hohen
Fenster der Fassade ab. Sah er nicht doch Antarona an
einem der Fenster stehen? Achtete sie aus der Entfernung
darauf, wie er tanzte, wie nahe er dabei seiner
zwangsweisen Tanzpartnerin kam?
Plötzlich bekam er einen derben Stoß in die Rippen. Er
riss Raspina im letzten Augenblick herum, denn fast
wären sie mit dem vor ihnen tanzenden Paar böse
zusammengestoßen. Raspina war es, die ihm den Stoß
versetzt hatte. Dankbar nickte er ihr zu, und erntete
ihren vorwurfsvollen Blick.
Er war einfach nicht bei der Sache! Seine Gedanken
drehten sich nur um Antarona. Den Tanz, die Führung des
jungen Mädchens in seinen Armen, alles ließ er nur rein
mechanisch geschehen. Er musste sich zusammenreißen!
Wenn Antarona ihn beobachtete, so musste sie ja daran
zweifeln, dass er je etwas von ihr gelernt hatte!
Seine Sinne wieder bewusster auf den Tanz gerichtet,
wirbelte er Raspina in der neuen Choreografie um sich
herum, ließ sie sich durch die Fliehkraft von sich
entfernen, zog sie aber wieder schwungvoll zu sich heran.
Dann ließ er sie los, tat, als wollte er sie
attackieren, umtanzte sie wie ein angriffsbereiter
Panther sein Opfer. Raspina stieg sofort auf diesen
Tanzstil ein und zeigte Areos, dass sie inzwischen
ebenfalls den neuen Elsirentanz des Areos und seiner
geheimnisvollen Kriegerin aus dem Val Mentiér
beherrschte.
Sie war lange nicht so gut, so wendig und schnell wie
Antarona, doch es gelang ihr, Areos voll zu fordern, und
ihm die Gelegenheit zu nehmen, zu den Fenstern im vierten
Stock hinaufzuspähen. Gedanklich aber vermochte sie ihn
nicht auf sich zu fixieren.
Eine tiefe Liebe war stärker als jede Versuchung, das
glaubte Sebastian nun zu wissen. Etwas befreiter, etwas
konzentrierter widmete er sich nun dem Tanz und seiner,
für das Schicksal Falméras wichtigen Partnerin. Der
Tanz, die Musik, der Takt wurden wilder, zügelloser,
forderten die volle Aufmerksamkeit jeder Tänzerin und
jeden Tänzers.
Nicht lange, und die Zentare zum ersten Absprung näherte
sich. Die Trommeln hämmerten in einem kaum noch mit den
Füßen zu folgenden Takt, die Melodie verlor sich in
einem Dauerton höllischen Lärms. Nackte Füße
stampften nur noch unkontrolliert auf den staubigen
Boden, die Schellen an den Fußgelenken der Tänzerinnen
übernahmen den Takt, klingelnd, scheppernd.
Schließlich endete der stoische Trommelschlag abrupt.
Nur der Jammernde Ton der Sackpfeifen und das singende
Schnarren der Leier blieb. Das Zeichen für den nahenden
Absprung! Der erste Tänzer im Reigen, Areos, musste
beginnen. Er griff Raspina sanft und fest in die Taille
und hob sie leicht an. Ihre Beine und Füße mussten sich
auf seinen Rhythmus einstellen, wollte sie mit dem
nötigen Schwung den Flug durch die Flammen antreten.
Die Schellen an ihren nackten Fesseln gaben nun den
akustischen Takt für das gegenüber dem Feuer tanzenden
Paar. Das Klingen der vielen Glöckchen stimmte sich ab,
das Hochheben und wieder auf die Füße setzen der
Mädchen synchronisierte sich.
Areos hob Raspina an, und sie stieß sich mit einem laut
die Musik übertönenden Schellenschlag vom Boden ab,
ließ sich von ihm wieder auffangen und federte, wieder
mit dem Schlag der Glöckchen ab. Immer wieder, immer
höher, die Trommeln setzten in diesem takt wieder leise
ein, steigerten sich schnell zum Donner.
Höher und höher flogen die Tänzerinnen, angefeuert vom
infernalischen Ton der kreischenden und hämmernden
Instrumente. Dann war es soweit. Die trommeln brachen im
Takt ab, eine Pause in der Auffangphase, ein mächtiger
Paukenschlag beim Abstoßen, Sebastian griff Raspina in
die Pobacken und hob sie mit aller Kraft an. Sie ruderte
mit den Armen, lenkte sich rechts in die Flammen und war
für Areos Augen verschwunden.
Eine Sekunde später flog links aus der Feuersbrunst ein
Schatten auf ihn zu. Eine flatternde Gestalt, ein
wehendes Kleid, wehende Haare, eine nackte Taille...
Zupacken! Halten! Abfedern! Eine blonde, hochgewachsene
Îval lag nun in seinen Armen, ihr Kleid hatte Feuer
gefangen und die Glut schon die Hälfte des Stoffes
gefressen.
Im Tanz ging Areos in die Knie und schlug die kleinen
Flämmchen aus, die sich hartnäckig wehrten, auf seine
Hose unter dem Waffenrock übergriffen, aber irgendwann
erstarben. Areos neue Tanzpartnerin war schlank, drahtig,
scheinbar etwas älter, als Antarona. Ihre hellblonden
Haare umrahmten ein feines Gesicht von herber, kühler
Schönheit, wie sie Sebastian von Norwegerinnen kannte.
Und tatsächlich mochte die junge Frau aus den Gebieten
der schlafenden Sonne stammen, aus Zarollon, oder noch
weiter aus dem Norden.
Sie war leicht, wie eine Feder, beinahe so leicht wie
Antarona, und genoss es scheinbar, sich vom Thronerben
herumwirbeln zu lassen. Die Musik setzte wieder voll ein,
alle Tänzerinnen und Tänzer hatten offenbar erfolgreich
ihre Partner getauscht. Außer verbrannten
Elsirenkleidern war kein nennenswerter Verlust zu
beklagen.
Das Mädchen, das Areos nun führte, hatte seine Haare
teilweise in kleine Zöpfchen geflochten, die wie dünne
Seile in der Luft herumflogen. Sie besaß etwas
unnahbares, aber auch lockendes, etwas, das Männer
anmachte, etwas, das sie reizte, eine solche Frau zu
erobern. Sie lächelte vielversprechend, geheimnisvoll,
als wollte sie ihn herausfordern.
Da verfing sich der Rest ihres Kleides in den Beschlägen
seines Waffenrocks. Ein großes Stück des
durchscheinenden Stoffes blieb an dem metallenen
Zierstück hängen und gab den Blick auf ihre langen,
schlanken Beine frei. Aber es machte ihr nichts aus. Im
Gegenteil! Es schien ihr zu gefallen, den Sohn des
Königs mit ihren Reize zu locken.
Areos, der eine weitere Entkleidung seiner Tänzerin
vermeiden wollte, entledigte sich, in die Choreografie
eingebunden, seines Waffenrocks, was beim Publikum eine
genau gegenteilige Stimmung auslöste. Die Zuschauer
meinten, er wäre ihrer Schönheit verfallen und
signalisierte ihr seinerseits seine Bereitschaft, ihr
Herz zu erobern. Die Menge grölte und johlte anfeuernd,
sie wollten mehr sehen.
Plötzlich gab es keinen Unterschied mehr zu den
Elsirenfeuern unten am Strand. Die Zuschauer, mit
Ausnahme des Königs, und vielleicht Raspinas Eltern,
wollten die Vereinigung zwischen den Tänzern und
Tänzerinnen sehen! Angeheizt durch die zügellose Musik,
verdrängten sie das letzte Tabu, das Protokoll der
Himmelsburg!
Doch die Tanzpaare verhielten sich zur Erleichterung
Areos diszipliniert. Ihnen war offenbar bewusst, dass
dies der Elsirentanz des Hofes, und nicht einer der
freien Feuertänze des Volkes, oder gar Mehi-o-rateas
war. Was die Zuschauer sehen wollten, blieb unerfüllt.
Areos warf den abgenommenen Waffenrock, wie zuvor sein
Hemd, in die umstehende Menschenmenge, und wieder war es
die geheimnisvolle Oranuti, die seine Kleidung auffing.
Wie der Geist einer Göttin stand sie da, in ihrer
Schönheit herausragend, einsam, verlassen in der Menge,
als wartete sie sehnsüchtig auf einen Tanzpartner, der
sie aus ihrer Starre erlöste.
Sebastian war versucht, sie sich als Tanzpartnerin zu
holen. Doch damit hätte er den Fürsten Jamálin vor den
Kopf gestoßen, und die politischen Folgen wären
unabsehbar gewesen. Er musste seine Neugier, die
Versuchung verdrängen. Bental erwartete, dass er sich
ans Programm hielt. Sein König würde mehr als nur
ungehalten reagieren, wenn er das Protokoll brach.
Im nächsten Augenblick war das Oranuti- Mädchen in der
Anonymität der Schaulustigen verschwunden. Zudem
forderte die blonde Îval seinen ganzen Einsatz. Sie war
eine gute, fast perfekte Tänzerin, und mit etwas Übung
vermochte sie sogar Antarona Konkurrenz zu machen.
Raspina kam ihm im Gegensatz zu ihr geradezu
schwerfällig vor.
Mit spielerischer Leichtigkeit ging sie auf Sebastians
Tanzstil ein, ließ sich führen, wie ein Schmetterling
in einer Abendbrise, und ließ sich ohne große
Anstrengung in die Höhe katapultieren. Aber sie zeigte
ihm auch, dass sie sehr wohl in der Lage war, auch ihren
Willen durchzusetzen. Zwischendurch zwang sie Areos immer
wieder ihre eigene, eher elfenhafte, ruhige Choreografie
auf, und er war machtlos gegen ihre unergründliche
Dominanz. Er spürte, dass diese Frau pure
Herausforderung war, der er sich gern im Spiel gestellt
hätte.
Die Musik nahm wieder an Schnelligkeit und Intensität
zu. Der nächste Absprung kündigte sich an. Mit reiner
Begeisterung für den Tanz stieß sich das Mädchen ab,
als der donnernde Paukenschlag ertönte, und flog weit
über die Flammen dahin. Fast gleichzeitig tauchte
Raspina aus dem Feuer auf, etwas unbeholfen, so dass
Areos all seine Kräfte mobilisieren musste, um sie
sicher aufzufangen und auf den Boden zu setzen.
Auch ihr Kleid hatte Feuer gefangen, reichlich Stoff
eingebüßt, und gab Teile ihrer Rundungen preis, die
jedoch noch viel von ihrer Kindlichkeit verrieten.
Raspina besaß noch nicht die feminine Eleganz, wie sie
Antarona, oder jene Unbekannte, welche Areos Kleidung
gefangen hatte, ausstrahlten.
In dem Hintergrund dieser Entdeckung, die er scheinbar
erst jetzt bewusst gemacht zu haben glaubte, schrie Areos
seiner Tanzpartnerin gegen den Lärm der Musik ins Ohr:
»Lasst uns ein par Zentaren verhalten, und miteinander
reden, ja?« Raspina nickte, und so kindlich, wie sie ihm
in diesem Augenblick auch erschien, zeigte ihr Gesicht
doch eine ernsthafte Reife und Vernunft, die er in ihr
nicht vermutete.
Unter dem Beifall der Zuschauer traten sie aus dem Kreis
der Tanzenden und bahnten sich mit Mühe einen Weg durch
die dicht gedrängt stehenden Menschen. Sebastian zog das
Mädchen in den hinteren, dunkleren Teil des Hofes, und
führte sie zwischen den zweiten Brunnen und der mauer
des westlichen Treppenturms.
Hier waren sie ziemlich ungestört. Kommende und gehende
Gäste und Bedienstete wanderten in einiger Entfernung
als Silhouetten vorüber, warfen große, zuckende
Schatten, die ihren abgeschiedenen Standort immer wieder
in Dunkel hüllten.
»Raspina«, begann Sebastian vorsichtig, »wie mir
scheint, ist dein Vater sehr darauf bedacht, dass wir uns
näher kommen, näher noch, als sich nur ein Tanzpaar
kommt.« Er ließ es mehr wie eine Feststellung klingen,
obwohl es eher eine Frage sein sollte. Raspina blickte
traurig zu Boden.
»Mein Vater ist ein guter Mann, er ist nicht wie andere,
er sorgt sich um sein Volk, und besonders um jene
Oranuti, welche in Falméra sind. Aber er verlangt von
mir, dass ich euch gefalle, und dass ich euch, wenn ihr
es wünscht, zum Mann nehme, für alle Zeiten. Lehnt ihr
mich ab, so wird er denken, ich hätte mir nicht genug
Mühe gegeben, euch zu gefallen. Er wird dann sehr zornig
sein!« Sebastian nickte gewichtig und führte sie zum
Rand des Brunnens.
»Setz dich, Raspina, und erzähl mir alles«, forderte
er sie freundschaftlich auf. Das Mädchen wischte sich
die Tränen aus den Augen, die plötzlich hervortraten,
als die Last des Schweigens von ihr genommen war.
»Nachdem wir uns vor einigen Zentaren beim Feuertanz
trafen.., also als wir am Strand.., oh, es tut mir so
leid, ich hatte damals zu viel Mestas getrunken und
wusste nicht mehr, was ich tat!« Sebastian legte ihr
beruhigend den Arm auf die Schulter.
»Ist schon gut, mach dir keine Gedanken, ich hätte es
sowieso nicht ausgenutzt, oder zugelassen. Deshalb waren
wir dann ja so ohne Worte auseinander gegangen.« Raspina
nickte leicht und erklärte schluchzend:
»Ich weiß, Areos, ich war ja dabei. Ich ging einfach
den Strand hinab, achtete gar nicht mehr darauf, wohin
ich ging. Beinahe wäre ich unter der Hafenmauer ins
tiefe Wasser gefallen. Aber da war auf einem Mal
dieser... Mauretan heißt er. Er hat mich davor bewahrt,
einen dummen Tat zu begehen. Und wir haben uns verliebt,
so richtig, dass unsere Herzen fest verbunden sind!«
»Aber das ist doch sehr schön!« warf Sebastian ein,
und versuchte sie zu trösten. Doch Raspina weinte wie
ein kleines Kind und schniefte:
»Mein Vater.., er will nichts von Mauretan wissen, er
sagt, er ist ja nicht einmal Heerführer und wird es auch
niemals sein. Er will ihn nicht! Er will, dass ich mein
Herz mit eurem verbinde, und hat mit dem König ein
Abkommen unter Vätern getroffen!« Sebastian verstand
sie und allmählich wurde ihm deutlich, wie alles
zusammenhing.
»Mein Vater will das große Tal in der erwachenden
Sonne«, verriet sie ihm nun unter Tränen, »er will es
für das Volk der Oranuti, welche auf Falméra sind.
Dafür sollt ihr mich bekommen!« Vertrauensvoll nahm
Sebastian ihre Hände in seine und gestand ihr:
»Das alles kommt mir so bekannt vor. Weißt du, auch der
König würde es gerne sehen, wenn wir beide unsere
Herzen verbinden. Aber ich kann nicht. Mein Herz ist
bereits mit dem jener verbunden, die das Volk unter dem
Namen Sonnenherz kennt. Die Elsiren haben den Bund
besiegelt, und wir lieben uns sehr!«
»Dann wollt ihr mich gar nicht?« hellte sich ihre Miene
hoffnungsvoll etwas auf. »Ihr werdet es meinem Vater
sagen, dass sich euer Herz nicht mit meinem verbinden
kann?« fragte sie ängstlich.
»Na ja, das wird nicht ganz einfach werden, denke ich«,
gab er kleinlaut zu, »wir müssen überlegen, wie das am
besten zu machen ist, ohne dass es ernsthafte Folgen
hat.« Raspina sah ihn verständnislos an und Sebastian
sagte geheimnisvoll:
»Was ich dir jetzt erzähle, musst du in unser beider
Wohlwollen für dich behalten, du darfst mit niemandem
darüber sprechen. Auch dein Vater darf nicht wissen,
dass wir darüber gesprochen haben!«
»Wenn es unsere Herzen rettet, so soll es mir recht
sein«, antwortete sie skeptisch, »doch was mag so viel
Gewicht haben, dass ihr, der Sohn des Königs, nicht mit
meinem Vater darüber sprechen könnt?«
»Macht, Raspina, die Macht Land zu erobern, zu besitzen,
die Macht zu herrschen, einem ganzen Volk seinen Willen
aufzuzwingen! Dein Vater will Land, will den Einfluss der
Oranuti auf Falméra verstärken, obwohl es dem Volk der
Îval nicht gut tut. Und mein Vater möchte seinem Wunsch
nachkommen, da er sonst einen Rückgang des Handels
fürchtet. Wir beide, Raspina, wir sind das Spielzeug der
Macht unserer Väter, oder sollen es zumindest sein, wenn
wir es zulassen.«
Sebastian wusste, dass er die Lage nicht ganz
wahrheitsgetreu wiedergegeben hatte, wollte aber Raspina
nicht überfordern. Das Mädchen sah ihn aus geröteten
Augen an und fragte mit leichter Hoffnung in der Stimme:
»Wie meint ihr das, wenn wir es zulassen? Haben wir denn
eine Wahl?« Mit einem überlegenen Lächeln versuchte er
Raspinas letzte Skepsis fortzuwischen.
»Wenn wir in dieser Sache zusammenhalten, haben wir
gewiss eine Wahl!« versicherte er ihr. Dann neigte er
seinen Körper dicht zu ihr hin und sprach leise, beinahe
flüsternd:
»Wir müssen nur deinen Vater dazu bringen, kein
Interesse mehr an dem Land zu haben, und wir müssen ihn
davon überzeugen, dass nur Mauretan der richtige Mann
für dich ist. Und ich werde dem König unter dem Siegel
der Verschwiegenheit kundtun müssen, dass ich dich als
zukünftige Königin für ungeeignet halte.«
»Aber wie wollt ihr das alles anstellen?« fragte
Raspina mit neu aufkeimendem Misstrauen. Schon war sie
wieder den Tränen nahe.
»Das geht natürlich nur, wenn wir beide uns vertrauen,
und uns miteinander abstimmen. Lasst mich überlegen«,
versuchte Basti Zeit zu gewinnen, »was würde deinen
Vater davon abbringen, dieses Land zu wollen, und was
würde ihn deinen Mauretan wohl heißen?« überlegte er
laut. Raspina blickte niedergeschlagen auf ihre nackten
Füße und bemerkte mehr für sich selbst:
»Mauretan ist in den Augen meines Vaters ein Nichts, er
ist Krieger in einem Heerlager. Er entstammt einer
Fischerfamilie und hat wenig Aussicht, etwas anderes zu
sein, als ein einfacher Krieger. Aber er ist sehr gut zu
mir, wir fühlen mit dem gleichen Herzen, und wenn es
nicht anders geht, wollen wir nach Mehi-o-ratea gehen,
und für immer dort leben!«
Sebastian musterte sie eindringlich und befand, dass sie
es durchaus ernst meinte. Aber war es nur ihr Wille?
Stand Mauretan wirklich hinter ihr, liebte er sie
wirklich, wollte er mit ihr sein Leben teilen? Wenn sie
beide nach Mehi-o-ratea gingen, wäre Mauretan in den
Heerlagern für immer geächtet und galt fortan bei allen
Kriegern als Vogelfrei.
Er verlor damit jedes Recht als Krieger und Bürger von
Falméra. Jeder Krieger mochte ihn erschlagen, wenn ihm
danach war, und würde von keinem Gericht des Königs
dafür belangt werden. Das aber verschwieg er Raspina.
Sie würde sonst jegliche Hoffnung verlieren, vielleicht
sogar das Vertrauen in ihn, Areos, den Sohn ihres
Königs.
Er musste Mauretan in ihren geheimen Pakt mit
einbeziehen, wollten sie die Willkür Jamálins und
Bentals erfolgreich abwenden. Eine andere Lösung fiel
ihm nicht ein.
»Raspina, wisst ihr, in welchem Heerlager Mauretan
dient?« fragte Sebastian das Mädchen. Raspina
schüttelte traurig den Kopf und hob ahnungslos die
Schultern. Er ließ aber nicht locker.
»Versucht euch zu erinnern, hat er einmal erzählt, wo
sein Lager liegt, ist es weit entfernt, oder nahe an der
Stadt? Trug er einmal seinen Waffenrock, habt ihr das
Wappen darauf erkannt?« Basti zog alle Register seiner
Fähigkeiten.
»Ja«, besann sich das Mädchen, »er trug ein Wappen,
in der Farbe der Sonne war es, und der Kopf eines Pla-ka
und ein Schwert waren darauf zu sehen! Doch wie vermag
uns das zu helfen?« Freilich waren Sebastians Gedanken
zu komplex, um sie Raspina in der Kürze zu erklären.
Daher sagte er nur:
»Vertraut mir, ja? Ich glaube, ich habe einen Weg
gefunden, wie uns beiden geholfen werden kann. Ihr,
Raspina, bleibt jetzt schön hier sitzen, und lauft mir
nicht fort! Ich bin sogleich zurück, dann sehen wir
weiter.«
Damit ließ er das Mädchen in der Dunkelheit zurück. Es
ging nicht anders, doch er rechnete damit, dass sie sich
in Aussicht auf eine Lösung wieder etwas beruhigte.
Sebastian mied das Elsirenfeuer und die Menschenmenge, in
der sich zweifellos noch Bental und Jamálin aufhalten
mussten. Nicht auszudenken, wenn er einem über beiden
über den Weg lief, ohne Raspina! Aufmerksam nach allen
Seiten spähend, huschte er zum inneren Tor und öffnete
die Tür zum Wachraum.
Als hätte er in ein Wespennest gestochen, stoben die
Wachsoldaten erschrocken auseinander, die eben noch die
Köpfe zusammengesteckt hatten. Einer ließ noch rasch
einen Krug verschwinden, in dem sich gewiss keine
Ziegenmilch befand. Genrath, der Wachhauptmann stellte
sich schützend vor seine Männer.
»Areos, Herr, das Tor hat eine eingeteilte Wache, Herr,
die Männer hier haben nur für eine Zentare...«
Sebastian unterbrach ihn, winkte lapidar ab und sagte:
»Das will ich gar nicht wissen, Genrath, die Männer
sollen ruhig auch ein bisschen feiern, solange sie ihren
Wachauftrag nicht vernachlässigen. Mit euch allein habe
ich zu reden, draußen bitte!«
Mit einem erleichterten ja Herr folgte ihm Genrath zuerst
hinaus, dann in den gegenüberliegenden Treppenturm,
dessen Eingangsraum nur spärlich beleuchtet war.
»Genrath, ich habe wieder einmal einen Auftrag für
euch, der absolute Verschwiegenheit erfordert«,
kündigte Areos mit leiser Stimme geheimnisvoll an.
»Ihr sucht einen eurer zuverlässigsten Männer aus, und
schickt ihn auf der Stelle und eilig in das dritte
Heerlager der berittenen Kohorten. Es liegt nur ein par
Zentaren vor der Stadt in der erwachenden Sonne. Sorgt
dafür, dass er sich dem Heerlagerführer als mein
persönlicher Melder zu erkennen gibt! Er soll den
Krieger Mauretan, Sohn des Fischers, und seinen
Kohortenführer schnell und ohne jede Verzögerung zu mir
bringen. Hier, nehmt das, es wird euren Mann als mein
Melder ausweisen!«
Damit legte Areos seinen ledernen Gelenkschutz ab, der
des Königs Wappen trug, und gab ihn Genrath. Dann fügte
er noch hinzu:
»Ich erwarte euch dann am kleinen Brunnen im inneren
Hof!« Sebastian wollte sich schon zum Gehen abwenden,
drehte sich aber noch einmal um und ermahnte den
Wachführer:
»Ach und Genrath, diese Beredung hat niemals
stattgefunden, haben wir uns verstanden? Egal, wer danach
fragt, ihr werdet euch nicht mehr erinnern können,
ebenso, wie eure Männer. Sollte es nötig sein, dann
macht den Kerlen dort drinnen klar, dass ich sehr wohl
weiß, welchen Inhalt ihre Krüge verbergen!« Damit
nickte er zum Wachraum hin.
»Seid meiner Verschwiegenheit gewiss, Herr«,
versicherte der Hauptmann. Sie verließen den
Treppenturm, sahen nach allen Seiten, ob niemand ihre
Zusammenkunft beobachtet hatte, und trennten sich.
Sebastian schlich sich wieder zu Raspina zurück, die
immer noch auf dem Brunnenrand saß.
Doch als er sie erreichte, lagen seine Sachen in ihrem
Schoß. Beschützend hielt sie ihre Hände auf seinen
Waffenrock, das bestickte Hemd und den Umhang. Lächelnd
präsentierte sie ihm die Kleider, die das fremde
Oranuti- Mädchen aufgefangen hatte.
»Woher habt ihr meine Kleidung, Raspina«, fragte er
verwundert und ein wenig enttäuscht, denn er hätte gern
die Bekanntschaft der schönen, geheimnisvollen
Unbekannten gemacht.
»Sie hat es mir gebracht, als ihr fort wart, Areos,
jene, die am Rand des Elsirenfeuers stand und uns
beobachtet hatte. Sie war plötzlich da, hinter mir, als
wäre sie aus der Mauer getreten, und hat mir eure
Kleider zum Tausch da gelassen«, antwortete seine kleine
Verbündete. Sebastian sah sie fragend an.
»Was heißt das, sie hat sie zum Tausch da gelassen?«
wollte er wissen. Irgendwie ahnte er, dass es mit der
bloßen Rückgabe seiner Sachen noch nicht belassen war.
»Sie hatte sich meinen Armreif dafür erbeten«,
berichtete Raspina, »er war nichts besonderes, ich hatte
ihn von einem Freund meines Vaters, der mit Dingen
handelt, welche aus den Bäumen gemacht sind, welche tief
unten im großen Wasser leben.«
Er versuchte sich den Armreif Raspinas in Erinnerung zu
rufen. Ja, entsann er sich, sie trug einen tiefroten
Reif, der von weißen Adern durchzogen war. Nun wurde ihm
klar, dass es ein Korallenreif gewesen war. Koralle, in
seiner Welt beinahe schon am aussterben und daher
begehrt, schien bei den Oranuti keinen großen Wert zu
besitzen.
»Hat die Oranuti sonst noch etwas gesagt, etwa, dass sie
mir etwas mitzuteilen hätte?« hakte Sebastian neugierig
nach. Aber Raspina schüttelte nur den Kopf.
Er fand es reichlich merkwürdig. Eine einsame Oranuti,
von Gestalt wahrscheinliche eine Schönheit, errang die
Kleidung des begehrtesten Tänzers, und anstatt sie, wie
üblich, als Trophäe zu behalten, tauschte sie ihre
Beute gegen einen unbedeutenden Armreif bei dessen
Tanzpartnerin ein. War sie am Ende eine Spionin, eine,
die im Zahlbuch Torbuks stand?
Skeptisch untersuchte Sebastian seine Kleider, konnte
aber nichts Verdächtiges feststellen. Wohl aber bemerkte
er, dass Raspina vor Kälte zitterte. Hier, abseits des
Feuers, griff die Kühle der Nacht nach der nur dünn
bekleideten Tänzerin. Ohne zu zögern hängte Sebastian
ihr seinen Umhang um, rieb den Stoff auf ihren Schultern
und legte den Arm um sie.
»Das wird euch warm halten, denke ich«, sprach er
väterlich, »und nun will ich euch meinen Plan
erklären.« Er wartete, bis Raspina sich etwas wohler
fühlte, bevor er ihr seine Absichten mitteilte, die sie
beide zu einer kleinen Verschwörung vereinen sollten.
»Also, Raspina, ihr wollt Mauretan, ich will Sonnenherz!
Und wir müssen beide unsere Väter glauben machen, dass
dies auch in ihrem Sinne ist«, stellte Sebastian noch
einmal fest, um Missverständnisse auszuschließen. Ernst
sah er Raspina tief in die Augen und fragte beinahe
beschwörend:
»Wie weit seid ihr bereit zu gehen, dass ihr euer Herz
mit dem Mauretans verbinden könnt? Was ist es euch wert,
welches Opfer würdet ihr dafür bringen? Wolltet ihr
euren eigenen Vater darum mit einer Unwahrheit beladen,
welche ihm aber nicht schaden soll, vermögt ihr das zu
tun?«
Basti fragte es so eindringlich, und Raspina war
anzusehen, dass sie mit ernsthaften Zweifeln darüber
nachsann. Sie betrachtete die angesengten Stellen ihres
Kleides und schien zu überlegen, mit sich noch im
Unreinen. Doch dann blickte sie Areos offen ins Gesicht
und verkündete mit einer wie neu geborenen
Selbstsicherheit:
»Alles, Areos, ich will alles dafür tun, und wenn es
meinem Vater nicht an Leib und Seele schadet, so mag ich
ihn auch mit einer Lüge hintergehen!« Areos nickte
feierlich und bekräftigte ihren Mut mit einem
freundschaftlichen Händedruck.
In diesem Moment kam eine einzelne Person langsam aus dem
Lichtkreis der Feiernden auf sie zu. Sebastian gebot
Raspina zu schweigen und sie warteten. Möglicherweise
war es jemand, der sich etwas abseits vom Trubel erholen
wollte. Doch als sich die Augen des Störenfrieds an das
Dunkel gewöhnt hatten, kam er rasch zielstrebig auf die
beiden zu.
»Frethnal«, rief Sebastian seinem Diener entgegen,
»Was bei den Göttern schleicht ihr hier herum, wie eine
Schlange auf Beute?«
»Verzeiht Herr, euer ergebener Diener wollte euch nicht
stören«, entschuldigte sich Frethnal unterwürfig,
»doch der König selbst beauftragte mich, nach euch zu
sehen. Er macht sich Sorgen um euch, Herr, und um die
Tochter des...«
»Ja, ja, ja«, unterbrach ihn Basti genervt, »nun habt
ihr uns ja gefunden, nicht wahr? Der König wünscht
sich, dass wir einander näher kommen. Nun, ich arbeite
daran, wie ihr seht! So geht denn hin und erzählt ihm
und seinem neuen Verbündeten, was ihr gesehen habt!«
»Sehr wohl, Herr«, verbeugte sich Frethnal und wollte
wieder in der Nacht verschwinden. Basti aber reif ihm
noch nach:
»Frethnal! Ein Wort noch! Wenn ihr seiner gütigen
Hoheit berichtet habt, dann kommt ihr hierher zurück,
stellt euch dort drüben bei den Fackeln auf, und sorgt
dafür, dass wir nicht mehr gestört werden, ja?«
»Sehr wohl, Herr, nicht mehr gestört!« wiederholte der
Diener laut, aber eher mehr für sein eigenes
Gedächtnis.
»Und Frethnal«, hielt ihn Sebastian noch einmal auf,
»lasst endlich einmal dieses alberne sehr wohl Herr!«
Damit verschwand der gutmütige Diener im Gegenlicht des
großen Feuers und Sebastian, alias Areos wandte sich
wieder Raspina zu. Inzwischen war ihm klar geworden, wie
sie beiden Vätern kräftig in die Suppe spucken konnten,
ohne ihnen ernsthaft zu schaden.
»Nun hört gut zu, Raspina«, begann er. »Wenn Mauretan
damit einverstanden ist, so wirst du deinem Vater alsbald
in Ehrfurcht gestehen, dass ein kleines Herz aus
Mauretans Saat unter deinem Herzen wohnt!«
Das Mädchen wurde trotz des roten Scheins des Feuers
urplötzlich leichenblass. Sie starrte Areos an, als
hätte von ihr verlangt, sich von der höchsten Zinne der
Burg zu stürzen, und im Grunde genommen kam es für sie
auf dasselbe heraus.
»Nein! Bei den Göttern, das kann ich nicht tun, was
verlangt ihr da nur von mir?« begehrte sie halb
erschüttert, halb trotzig auf. Sebastian aber
argumentierte schonungslos weiter, denn die Zeit rann
ihnen allmählich davon.
»Was ist schon dabei?« fragte er und beschwichtigte,
»ihr tut doch nichts, was ihr nicht sowieso eines Tages
tun werdet, denn ihr liebt doch Mauretan von ganzem
Herzen und ihr wollt mit ihm euer Leben teilen, oder etwa
nicht?«
»Das schon«, bestätigte Raspina kleinlaut, fügte aber
verzweifelt hinzu: »Doch mein Vater wird mich bis zum
Tode prügeln, wenn ich ihm das gestehe, und er wird von
mir verlangen zu einer Heilerin zu gehen, um das kleine
Herz in meinem Leib töten zu lassen!« Sebastian wiegte
den Kopf nachdenklich, dann entgegnete er:
»Nun, dann wird die Heilerin eben feststellen, dass der
Tod des kleinen Herzens nicht möglich ist, ohne euer
eigen Leben zu gefährden!« Dabei dachte Sebastian an
die alte Binerin, welche sich möglicherweise auf einen
solchen Handel einlassen würde, sollte es nötig werden.
Dann fiel Sebastian noch eine List ein:
»Außerdem wird euer Vater nicht wagen Hand an euch zu
legen, wenn ihr erst einmal in den Stand der Burgfrauen
von Falméra erhoben worden seid!« verkündete er
siegessicher.
Burgfrauen, das wusste Sebastian aus den Schriften, waren
seit jeher immer wieder berufen worden und standen unter
dem persönlichen Schutz des Königs. Wer sie anging,
hatte sein Leben verwirkt, und mochte mit der irdischen
Welt abschließen, oder in weite Ferne entfliehen. Auch
eine Erwählte des Thronerben, wurde automatisch in
diesen Stand erhoben, der ihr Schutz und Unterkunft in
den Mauern der Himmelsburg gewährte.
Als Raspina noch immer zögerte, entsetzt und skeptisch
drein blickte, versuchte sie Basti noch auf eine
einfachere Weise zu beruhigen:
»Raspina! Du bist das einzige Kind Fürst Jamálins!
Denk doch mal nach! Welcher Vater wird seinem einzigen
Kinde etwas antun, nur weil es seine Forderung
ausschlägt, einen Mann seiner Wahl zu nehmen?«
»Jeder Vater, welcher ein Oranuti ist«, schluchzte das
Mädchen, »wenn seine Tochter etwas tut, das seine Ehre,
oder sein Ansehen unter den Oranuti beschmutzt. Er hat
nach den Geboten unserer Götter das recht dazu!«
klärte sie ihn auf und fügte hinzu:
»Er wird nicht zulassen, dass ein einfacher Krieger ohne
Stand seine Tochter bekommt. Es verletzt seinen Stolz!«
Basti legte ihr beruhigend seine Hand auf den Arm.
»Nun, ich denke, da wird sich etwas machen lassen«,
stellte er ihr in Aussicht, »schließlich bin ich der
Führer aller Heerlager!« Er rückte noch ein Stück
näher an Raspina heran und sie steckten die Köpfe
zusammen, wie wahre Verschwörer es tun. Sebastian wollte
nun wissen:
»Wenn ich euch nun helfe, und euch den Weg bereite, mit
Mauretan eine Verbindung einzugehen, werdet ihr mir dann
ebenfalls helfen, eurem Vater das Land, welches er so
begehrt, auszureden?«
Raspina versprach es und Sebastian versuchte ihr zu
erklären, wie sie ihren Vater beeinflussen und zu einer
Änderung seiner Absichten bewegen konnte.
»Also hört genau zu! Ihr werdet eurem Vater erzählen,
ihr habt auf dem Fest gehört, dass auf den hohen Weiden
zwischen der Burg und dem Tal der roten Steine, sowie auf
dem Land hinter dem Tal, über den Felsen neue Heerlager
aufgestellt werden sollen. Sagt ihm einfach, ihr habt es
von einem Berater des Königs gehört, der in eurer Nähe
stand! Wollt ihr das für mich tun?« Das Mädchen sah in
verwundert an und fragte skeptisch:
»Das ist alles, was ihr von mir verlangt? Mein Vater
wird das aber nicht einfach so glauben«, warf sie
bedenklich ein. Sebastian lenkte zuversichtlich ein.
»O, ich werde schon dafür sorgen, dass er es glaubt. Er
wird sich gewiss davon überzeugen wollen, und ich werde
das nötige dazu tun, damit er das zu sehen bekommt, was
er sehen soll!«
Gerade, als er darüber nachdachte, ob er sie in
Einzelheiten einweihen sollte, näherte sich Frethnal
vorsichtig von weitem. Gleichzeitig huschte plötzlich im
Schatten der Burgfassade eine Gestalt an ihnen vorbei.
Sebastian sah dem Geist verwundert nach, seine Augen
vermochten gerade noch einen wehenden golden Stoff
wahrzunehmen, der im Restlicht schwach funkelte. Ein
Hauch von Zitronenduft stieg ihm kurz in die Nase.
Staunend sah er Raspina an, die ebenso ratlos drein
schaute. Anscheinend hatte sich eine Frau, oder ein
Mädchen in der Mauernische verborgen, um ihrem
heimlichen Gespräch zu lauschen. Neugierige Weiber,
dachte Basti. Da war auch schon Frethnal heran.
»Genrath ist mit zwei Kriegern da, Herr. Er sagt, ihr
hättet nach ihnen geschickt.« Sebastian winkte ihn
heran.
»Holt die beiden her, sagt Genrath meinen Dank und gebt
ihm das hier!« damit griff er in seine Hosentasche und
gab Frethnal einige Quarts Ringgeld. Der Diener
verschwand in Richtung inneres Tor und Sebastian sagte zu
Raspina:
»Ich habe eine freudige Überraschung für euch, wartet
hier eine Zentare, und lauft mir ja nicht davon!« Dann
ging er Frethnal entgegen. Zwei kräftige Männer folgten
ihm. Einer im Waffenrock des Kohortenführers, mit
entsprechenden Beschlägen auf seinem Ledergürtel, der
andere im schlichten Rock des Kriegers.
»Mauretan?« sprach Areos den einfacher gekleideten an.
Dieser verneigte sich vor seinem ranghöchsten
Heerführer und antwortete etwas unsicher:
»Ja, Herr, Mauretan, dritte Kohorte, dritte berittene
Garde der Heerlager, Herr! Ihr habt nach mir schicken
lassen, Herr?«
»So ist es!« bestätigte Sebastian. »Ihr seid mit
Raspina, Tochter des Jamálin gut bekannt?« fragte
Sebastian direkt und schonungslos. Der junge Mann trat
nervös von einem Fuß auf den anderen und bejahte die
Frage.
»Dann könnt ihr jetzt zu dem Brunnen dort hinüber
gehen. Ihr werdet dort auf mich warten!« ordnete Basti
an und sah hinter dem Jüngling her, der skeptisch und
vorsichtig in die Dunkelheit schritt.
Sebastian musste bei der Vorstellung schmunzeln, wie er
plötzlich überraschend seine Liebste vorfinden würde.
Rasch aber wurde er wieder ernst und wandte sich dem
Kohortenführer zu, einem kräftigen, mittelgroßen Mann,
dem man seine Erfahrung im Kampf ansah.
Sein Gesicht war gezeichnet von einer Vielzahl von
Narben, die er sich kaum im Schlaf zugezogen hatte. Seine
harten, unerbittlichen Augen verrieten einen ernst zu
nehmenden Gegner, der seinem Feind keine Chance lassen
würde. Dieser Mann hatte bereits Schlachten geschlagen.
»Ihr seid der Kohortenführer jenes Jungen dort?«
fragte Areos mehr der Form halber. Der Mann nickte knapp
und stellte sich vor:
»Hetarus, Herr, dritte Kohorte, dritte Reitergarde,
Herr.« Sebastian schickte den gerade zurückkehrenden
Frethnal wieder auf seinen Sicherungsposten, um nicht
noch von einem angetrunkenen Gast gestört zu werden,
dann sagte er zu Hetarus:
»Ich möchte gern etwas über Mauretan wissen, euren
Krieger, welcher mit euch gekommen ist. Was vermögt ihr
mir über ihn zu sagen?« Der Kohortenführer wurde zwar
nicht nervös, doch er wollte nicht mit der Sprache
heraus. Vermutlich befürchtete er Repressalien, wenn er
die falsche Antwort gab.
»Sprecht nur frei heraus«, forderte Areos den Mann auf,
»es wird euch niemand nachtragen, wenn ihr etwas sagt,
das nicht für die Gunst des Mauretan spricht. Ich will
eine ehrliche Antwort von euch und ich halte euch für
erfahren genug, sie mir kund zu tun. Ich nehme an, ihr
habt bereits in Schlachten gekämpft.«
Areos sagte das ganz bewusst als Feststellung, nicht als
Frage, um den Mann aus der Reserve zu locken. Der ließ
sich aber nur schwer beeindrucken. Dennoch antwortete er
pflichtgemäß:
»Ich diente in eurer alten Reitergarde, Herr«,
bestätigte Hetarus stolz, »in der fünften Kohorte,
welche in der großen Schlacht eure rechte Flanke deckte
und auch hielt, Herr!«
Sebastian wusste, warum Hetarus das besonders hervorhob.
In den Schriften konnte er nachlesen, dass die Schlacht
auch darum verloren ging, weil die linke Flanke
eingebrochen war, durch Verrat zwar. Böse Zungen
behaupteten jedoch, sie wäre bei besserer Führung
dennoch zu halten gewesen.
»Nun, ich dachte mir, dass ihr ein erfahrener Krieger
seid«, schmeichelte ihm Areos, »darum glaube ich von
euch ein ehrliches Urteil über jenen jungen Mann dort zu
hören. Sagt mir also, führt er sich gut, ist er
lehrbar, ist er mutig, oder übt er sich eher in
Rückhaltung?« Hetarus hob unsicher die Schultern,
teilte Areos dann aber selbstsicher mit:
»Er hat bis zu dieser Zentare noch keinen Kampf in einer
Schlacht bestritten, Herr, wie könnte ich da über ihn
urteilen? Doch zeigt er Mut und Besonnenheit in den
Feldübungen. Er vermag seine Waffenbrüder anzuspornen
und ist ein guter Reiter wie Schwertkämpfer, der seinen
Pla-ka achtet und gut behandelt. Ich darf euch bei meiner
Ehre als Krieger Kunde tun, dass er in der ganzen Kohorte
geachtet und als guter Freund befunden wird!«
Areos wiegte gewichtig seinen Kopf hin und her, als fiel
ihm die Entscheidung nicht leicht, bevor er dem
verdutzten Mann mitteilte:
»Nun, Hetarus, ich habe eine schlechte Nachricht für
euch. Ihr werdet euch einen neuen Reiter suchen müssen!
Mauretan wird ab dem nächsten Sonnenlauf nicht mehr in
eurer Kohorte dienen!«
Der Kohortenführer war auf eine solche Entwicklung nicht
gefasst, und ihm fiel vor Schreck der Unterkiefer
herunter, für einen Moment nur, dann hatte sich der hart
gesottene Mann wieder in der Disziplin.
»Ohne euren Unmut zu schüren, Herr, aber darf euer
ergebener Diener, wissen, warum das?« fragte Hetarus
vorsichtig. Sebastian lachte ihn freundschaftlich an und
sprach:
»Natürlich dürft ihr das, Hetarus, und meinen Unmut
hättet ihr erregt, hättet ihr nicht gefragt! So kann
ich euch mitteilen, dass ich Mauretan eine andere Aufgabe
zugedacht habe. Möglicherweise als Kohortenführer in
einem neuen Heerlager.«
»Verzeiht, Herr«, entgegnete Hetarus, »aber Mauretan
ist nur von geringstem, einfachstem Stand, der Sohn eines
Fischers, bedenkt das wohl, Herr!« Sebastian legte dem
Kohortenführer seinen Arm auf die Schulter und sagte mit
mildem Ton:
»Seht Hetarus, das ist euer Vorteil! Ihr seid nicht der
Sohn des Königs, ihr seid nicht der Führer der
Heerlager, und müsst euch nicht mit solchen
Entscheidungen herumärgern! Ihr müsst euch nur um eure
Krieger, eure Waffen und eure Pla-ka kümmern.« Er
machte eine gedankliche Pause und sprach weiter:
»Ich hingegen, Areos von Falméra, muss in jedem
Sonnenlauf, zu jeder Zentare Dinge zum Wohle des Volkes
tun, welche niemand sonst verstehen mag. Ich muss mich
außerdem dem König selbst erklären, wohingegen ihr
euch eurem Heerlagerführer erklären müsst. Und diesem
werde ich mitteilen, dass er einen Krieger ersetzen
muss!«
Sebastian dämpfte nun seinen Ton und gab dem
Kohortenführer das Gefühl, als würde er ihn in ein
großes Geheimnisses einweihen.
»Hetarus, wenn es jetzt auch nicht so aussehen mag, doch
die Zentare einer alles entscheidenden Schlacht wird
nicht mehr allzu fern sein, ob nun vor den Toren
Falméras, oder jenen von Quaronas. Ich brauche Führer
wie euch, welche aus den jungen Männern starke und kluge
Krieger machen, die den Feind nicht zu fürchten
brauchen!« Areos schritt neben ihm dem Tor zu, von
gleich zu gleich, gab ihm so das Gefühl, so wichtig, wie
ein Heerlagerführer zu sein.
»Ihr habt schon einmal unter meinem Wappen gekämpft,
Hetarus, und wir wurden geschlagen. Aber ich habe daraus
gelernt, wir alle haben daraus gelernt! Und das nächste
Mal werden wir siegen! Wollt ihr mir das glauben?«
»Ja, Herr«, bestätigte Hetarus. Areos nickte zufrieden
und fuhr fort:
»Gut. Dann sorgt dafür, dass eure jungen Krieger dies
ebenfalls glauben. Und kümmert euch nicht darum, wenn
ich, oder der König, einmal einen Krieger zu unseren
persönlichen Diensten berufen. Dies dient ebenso unserem
Ziel, wie eure Aufgabe, die Krieger für einen Kampf
vorzubereiten, wollt ihr mir das ebenfalls glauben?«
»Ja Herr«, versicherte der Mann abermals. Areos bot ihm
zum Abschied seinen Arm, in den Hetarus zögerlich in der
Weise einschlug, wie es die Krieger untereinander taten,
und gab ihm noch ein Wort mit auf den Weg.
»Ich vertraue auf euch und eure Erfahrung als
Kohortenführer, Hetarus. Kehrt nun zu eurem Lager
zurück! Ich will eure Mühe nicht vergessen und eurem
Heerlagerführer wohlwollend berichten, wie zuverlässig
und treu ihr meinem Ruf gefolgt seid!«
Der Kohortenführer verneigte sich leicht, wandte sich um
und ging erhobenen Hauptes dem Tor zu. Sebastian aber
kehrte zum Brunnen zurück, und fand Raspina und Mauretan
in enger Umarmung. Er räusperte sich laut, denn die
beiden hatten ihn wegen der lauten Musik der Spielleute
nicht kommen hören. Mauretan verbeugte sich tief vor
Areos und fragte offen:
»Ihr habt mich rufen lassen, Areos, Herr?« Sebastian
packte ihn an der Schulter und zog ihn ein Stück weit
von Raspina fort.
»Ja, das habe ich, Mauretan«, bekundete er mit strenger
Stimme. »Zunächst einmal, meine Krieger verbeugen sich
nicht, sondern verneigen sich nur, wenn sie eine Waffe
tragen! So manch einer hat sich dabei schon eine Wunde
zugefügt, welche nicht mehr heilen wollte. Nun aber auf
ein anderes Wort!« Sebastians Tonfall wurde etwas
vertrauter.
»Wie ich vernehmen konnte, seid ihr ein guter Krieger,
oder doch wohl auf dem besten Wege, einer zu werden! Habt
ihr vor, für immer Krieger in meiner Reiterkohorte zu
bleiben, oder habt ihr euch noch ein anderes, höheres
Ziel gesetzt?« fragte Sebastian offen heraus. Ebenso
offen antwortete der junge Mann:
»Herr, ich bin nicht von hohem Stand, daher vermag ich
keine andere Bitte zu stellen, als in eurer dritten
Kohorte bleiben zu dürfen!« Sebastian seufzte, denn er
befürchtete, dass dies noch eine längere Unterredung
werden würde.
»Na schön, junger Mann«, begann er, »nun vergesst mal
euren Stand und antwortet mir frei heraus: Könnt ihr
euch vorstellen, Kohortenführer in einem Heerlager zu
werden, das ich neu aufstellen werde? Traut ihr euch eine
solche Aufgabe zu?«
»Ja, Herr, das täte ich wohl. Doch welcher Art soll das
Heerlager sein? Verzeiht die Frage, Herr!« gab Mauretan
zurück.
»Nun, eure Frage zeigt mir, dass ihr nachdenkt! Und ich
will euch nicht verschweigen«, gestand Sebastian, »dass
es ein Heerlager zur Überwachung der Küste Falméras
sein wird. Sollte Falméra angegriffen werden, so seid
ihr im Kampf an der vordersten Linie! Eure Kohorte wäre
die erste, welche dem Feind entgegen zu treten hätte!
Doch muss es erst gar nicht dazu kommen, wenn ihr wache
und aufmerksame Augen besitzt, und diese auch zu benutzen
wisst!«
Areos erklärte ihm in Kürze, was er mit der Aufstellung
eines Heerlagers zur Sicherung der Küste bezweckte und
wie dies geschehen sollte.
»Ihr wäret zunächst mit dem Bau und der Bedienung der
Meldeanlagen betraut. Ebenfalls wäre es eure Aufgabe,
Wachtposten einzuteilen, diese zu überwachen und
auszubilden. Über eure neuen Aufgaben hättet ihr aber
unbedingt Schweigen zu bewahren! Selbst mit eurer Familie
und Raspina dürftet ihr nicht darüber sprechen!«
ermahnte ihn Areos. Er sah Mauretans Unsicherheit und
fragte:
»Habt ihr damit Hader, so sagt es gleich heraus. Es gibt
sicherlich eine große Zahl junger Männer, die einer
solchen Aufgabe zugetan wären, wenn sie dafür Aussicht
hätten, eine Ständerolle zu erhalten«, gab er wie
beiläufig zu verstehen.
»Heißt das etwa...« Mauretan wagte seine Vermutung und
heimliche Hoffnung nicht auszusprechen. Areos nickte
zustimmend und vollendete seinen Gedanken.
»Ja, das heißt, ihr würdet in den Stand der Edelleute
erhoben werden, mit Rolle und Wappen! Mit der Aussicht,
dann einmal Heerlagerführer zu werden, eure
Tüchtigkeit, eure Klugheit und euren Mut vorausgenommen.
So würde euch sicher auch Fürst Jamálin wohl heißen
und einer Verbindung seiner Tochter Raspina mit euch
zustimmen.«
»Aber Herr, da weiß ich gar nicht, was ich nun sagen
soll«, entfuhr es dem Jungen vor Überraschung und er
ließ seinen Mund offen stehen, als hätte ihn die
überwältigende Nachricht gelähmt. Areos lachte ihn
aufmunternd an und riet ihm:
»Nun, zuerst würde ich an eurer Stelle den Mund
schließen, sonst verirren sich darin noch ein paar
Ná-chins. Ansonsten sagt einfach nur Ja! Allerdings,
zwei Bedingungen muss ich von euch fordern!«
»Alles Herr, alles, was ihr wollt, fordert von mir, was
euch beliebt, ich werde es euch erfüllen!« warf sich
Mauretan ins Zeug, als er seinen ersten Schreck
überwunden hatte. Die Ereignisse schienen ihn schlicht
zu überrollen.
»Nun mal langsam, so schlimm wird es nicht werden«,
beruhigte ihn Areos. Er zog den Jungen etwas dichter an
sich heran, um nicht so laut gegen das Hämmern der Musik
anschreien zu müssen.
»Als erstes geht es um Raspina, ihr liebt sie doch?«
Die Frage schien ziemlich überflüssig, doch Sebastian
wollte Mauretan das Gewicht seiner Entscheidung vor Augen
führen.
»Ja Herr, ich liebe sie sehr und ich tue alles was
nötig ist, um mit ihr verbunden zu bleiben!« sagte er
so feierlich, als sprach er ein Gelübde.
»Ihr würdet euer Leben für sie geben, wenn dies
gefordert würde?« forschte Areos weiter nach und sah
ihn eindringlich an.
»Ja Herr, das würde ich ohne zu zögern!« kam es
selbstsicher aus seinem Munde. Sebastian nickte beruhigt
und fuhr fort:
»Dann hört mir mal gut zu, Mauretan! Egal, was jemals
geschehen mag, ihr werdet Raspina niemals allein lassen,
oder einer unnötigen Gefahr aussetzen! Ihr werdet sie
als die mit euch verbundene Frau ehren und wert
schätzen, niemals schlagen, oder sonst wie verletzen,
wollt ihr mir das bei eurem Leben versprechen?«
»Ja Herr, das will ich!« verkündete er strahlend. Das
genügte Sebastian. Er schob Mauretan zurück zum
Brunnen, wo Raspina immer noch wartete und sagte:
»Ihr werdet zu Beginn des Sonnenlaufs zu eurem Heerlager
zurückkehren und alles holen, was euer ist. Dann geht
ihr zu Genrath, dem Hauptmann der Torwache! Ich werde
alsbald die Küste bereisen und nach einem guten Platz
für das neue Heerlager suchen. Ihr werdet mich
begleiten, bis wir einen geeigneten Ort gefunden haben!
Nun die zweite Bedingung: Ihr werdet über all das und
jedem gegenüber Stillschweigen bewahren, wie ein
Toter!« Sebastian machte eine ausholende Armbewegung
über den Burghof und fuhr fort:
»Für diese Nacht seid ihr als mein persönlicher Gast
auf dem Fest Talris willkommen. Ich werde mit Raspina zur
Gesellschaft zurückgehen. Ihr folgt ein par Zentaren
später. Ich werde tun, als stellte ich euch Fürst
Jamálin vor. Habt ihr das verstanden?« Mauretan nickte
und bestätigte mit dem üblichen Ja Herr, das Sebastian
beinahe schon zu den Ohren heraus hing.
Raspinas Hand auf seinem Arm, sittsam ins Gespräch
vertieft, so gesellten die beiden sich wieder in die
Runde des Königs und Fürst Jamálins, um die sich
bereits einige Oranuti und ein par Sebastian unbekannte
Edelfrauen geschart hatten.
Das Wummern und Jaulen der Musik zwang sie zu schreien,
wenn sie sich verständigen wollten. Das veranlasste
Bental, seine engere Gesellschaft in den Festsaal zu
bitten, wo Früchte und Getränke gereicht wurden. Dort
reichte ihm der König Tálinos. Er hatte das Schwert
während des Tanzes an sich genommen und Sebastian legte
es sich wieder um. Die Lautstärke der Musik war
einigermaßen erträglich, und Fürst Jamálin fragte
seine Tochter:
»Nun, hat dir der Tanz Freude bereitet, mein Kind?«
Raspina blickte ihm völlig unbedarft in die Augen und
antwortete:
»Areos ist ein vorzüglicher Tänzer, Vater. Wir haben
uns gut unterhalten.« Der Fürst neigte den Kopf etwas
und bemerkte vorsichtig:
»Ihr wart ja auch eine Weile fort, nicht wahr?« Für
diese Zweideutigkeit wäre Sebastian dem Vater Raspinas
am liebsten an die Kehle gefahren. Doch er beherrschte
sich und konterte:
»Ich war so frei, eurer Tochter die Küche zu zeigen«,
log er frech. Und gerade wollte er noch etwas
hinzusetzen, als sich Mauretan zögerlich der Rinde der
großen Männer näherte. Sebastian sah ihm an, dass er
sich so unbehaglich wie nie zuvor in seinem Leben
fühlte. Als Fürst Jamálin den Mann erkannte, der sich
trotz Verbot heimlich mit seiner Tochter traf, quollen
ihm fast die Augen über. Er schnappte wie ein
Erstickender nach Luft und lief rot an.
»Was macht dieser hier?« entfuhr es ihm mit der ganzen
Entrüstung eines betrogenen Vaters. Sebastian reagierte
sofort, fasste Mauretan am Ärmel und zog ihn in den
Kreis. Er bot all seine Schauspielkunst auf und
verkündete laut:
»Eure gütige Hoheit, Fürst Jamálin, Raspina, werte
Anwesende, ich möchte einen persönlichen Gast, einen
guten Freund, und einen Krieger vorstellen, der sich im
Dienste seiner gütigen Hoheit mit besonderem Mut und
Einsatz über die Maßen hervorgetan hat!«
Sebastian beobachtete das Antlitz des Fürsten, in
welchem sich pure Entrüstung in unkontrollierten
Zuckungen und in zusammengekniffenen Lippen zeigte.
Sebastian aber geriet nun erst recht in Fahrt, angesichts
des offensichtlichen Erfolgs seiner Aktion.
»Mauretan hat sich mit besonderem Geschick, großem Mut
und unermüdlichem Einsatz meine persönliche Hochachtung
verdient, und ich werde ihn als Kohortenführer und
später wohl als Heerlagerführer einer neuen Einheit
einsetzen, sofern eure gütige Hoheit eine Ständerolle
bejaht.« Damit sah er Bental direkt an, der mit fahriger
Handbewegung die Ankündigung absegnete.
Fürst Jamálin platzte fast. Und Bental sah sich in
einer Zwickmühle. Nie hätte er einer Ständeerhebung am
Rande eines Festes zugestimmt. Doch ebenso wenig konnte
er die Autorität seines imaginären Sohnes untergraben.
Also war die Erhebung Mauretans in den Stand der
Edelleute eine so gut wie beschlossene Sache!
»Verehrte hohe Herren, hier haben wir einen Krieger,
einen Mann, der etwas wert ist, der einmal Großes
erreichen wird! Männer wie ihn braucht das Land, durch
Männer wie ihn gelangte die Himmelsburg seit jeher zu
Ruhm und Ehre!« pries Sebastian den Liebsten Raspinas.
Und Basti ging noch weiter.
»Er wird künftig als mein persönlicher Berater, und
auf meiner nächsten Reise als mein persönlicher Schutz
dienen!« Damit war Mauretan für jeden unangreifbar,
welcher sich nicht auch mit dem König überwerfen
wollte.
Sebastian wusste, dass er den Bogen weit überspannt, und
sich weit über seine Fähigkeiten hinaus gewagt hatte.
Doch letztlich ging es um ihn und Antarona! Um ihr
gemeinsames Leben, ihr Glück und ihre Zukunft zu retten,
war er bereit so zu lügen, dass sich selbst die Türme
der Himmelsburg vor Scham zur Seite neigten.
Dann spielte Areos seinen großen Trumpf gegen den
Oranuti- Fürsten aus. Er schnappte Mauretan am Arm und
schob den völlig überrumpelten Raspina zu.
»Wie wäre es, wenn ihr uns unter Beweis stellt, dass
ihr auch beim Elsirentanz euren Mann zu stehen wisst«,
schlug er vor und sah Raspina an, »euer Wohlwollen und
eure Bereitschaft natürlich vorausgesetzt, Raspina!«
»Sehr gerne, Herr«, freute sich Raspina begeistert und
zog den jungen Krieger sofort mit sich aus dem Saal, der
gerade noch wie ein ängstliches Kaninchen zu Fürst
Jamálin hinüber gesehen hatte.
Der Fürst indes, ebenso überrascht wie Mauretan, hob
abwehrend die Hände und öffnete seinen Mund zum
Protest. Doch kein Laut kam über seine Lippen. Der Mund
blieb offen stehen, seine Hände erhoben, als hätte ihn
plötzlich der Schlag getroffen.
Ehe er sich versah, war sein Töchterchen mit jenem Mann
auf und davon, den er am allerwenigsten in seiner Familie
wünschte. Sebastian, der das Entsetzen in seinem Gesicht
las, tat verwundert und seinerseits entrüstet.
»Was habt ihr, Fürst, es ist nur Mauretan, einer
unserer besten, aufrichtigsten Krieger! Ich würde diesem
Jungen mein Leben anvertrauen, also seid ohne Sorge, eure
Tochter ist bei ihm in guten Händen!«
Bental, der vom heimlichen Pakt zwischen Raspina und
Areos freilich nichts wusste, ebenso wenig wie von der
heimlichen Verbindung Raspinas und Mauretans, versuchte
Jamálin zu beschwichtigen.
»Seid ohne Bedenken, Fürst, wenn Areos diesem Mann
vertraut, welcher zudem die Ständerolle erhält, so
vertraue auch ich ihm, und ihr solltet es ebenfalls tun.
Oder gibt euch etwas berechtigten Anlass, dem zu
widersprechen?« Bental sah ihn forschend an.
Fürst Jamálin biss sich auf die Unterlippe, dann
mahlten seine Zähne, dass es aussah, ein verborgener
Mechanismus hätte sich hinter seinen Wangen selbst in
Gang gesetzt. Gequält und mit einiger Überwindung gab
er zu:
»Nein, es ist alles gut! Wenn meine Tochter Spaß mit
ihm hat und es ihr an Leib und Leben nicht schadet, so
mag er sie mit meinem Segen zum Tanz führen!«
Sebastian sah den beiden nach, wie sie in der Tür zum
Korridor verschwanden. Er wollte sich schon wieder zu
König, Fürst und Gesellschaft umdrehen, als er eine
Gestalt wahr nahm, die neben einer Gruppe Bürger stand,
die sich angeregt unterhielten, gerade mal drei Schritte
von ihm entfernt.
Das Mädchen mit dem feizügig geschnittenen
Elsirenkleid, dem Schleiertuch vor dem Gesicht und der
flachen, zylinderförmigen roten Kappe auf dem Kopf wäre
ihm im Gegenlicht zum Feuerschein gar nicht aufgefallen,
wenn sie nicht so reglos und unbeteiligt, wie ein Geist,
dagestanden hätte.
Sie war es! Das Mädchen, das seine Kleidung beim Tanz
aufgefangen, und später unter rätselhafter Absicht
Raspina übergeben hatte. Sie stand einfach nur da, sah
ihn an, sagte kein Wort, bewegte sich nicht. Sebastian
wurde beinahe unheimlich zumute.
Eine außergewöhnliche Schönheit musste sich hinter dem
Schleier verbergen, denn die leicht gebräunte,
ebenmäßige und glatte Haut, die sie zwischen dem
knappen, mit Glitzersteinen reich verzierten Oberteil und
dem tief sitzenden, durchscheinenden Rock aus feinem,
golden schimmerndem Stoff zur Schau trug, verriet
Gesundheit an Körper und Geist.
Sie war schlank, beinahe von so zierlicher Gestalt, wie
Antarona. Und sie war eine Oranuti! Ihre Füße steckten
in kleinen Schuhen, die selbst schon filigrane Kunstwerke
waren, mit Applikationen aus Perlen und bunten Fäden
versehen. Ihren Kopf umschmeichelte ein offen getragenes
Tuch, dass ihr über die Schultern fiel und im Licht der
Fackeln tausendfach glitzerte.
Etwas an ihr, Sebastian vermochte nicht zu sagen was es
war, zog ihn magisch an. War es das Geheimnisvolle an
ihr, das Unbekannte, das ihn reizte, oder war er eher von
ihren irdischen Reizen angetan? Zweifellos war sie eine
wandelnde Verführung. Ihre gerade gewachsenen, eleganten
Schultern, ihre samt schimmernde Haut, ein kleiner
glänzender Stein in ihrem Bauchnabel, die schmale
Taille, alles an ihr lockte ihn.
Der Schleier, der ihr Antlitz verbarg sprach jedoch ein
deutliches Tabu aus. Näherte er sich einer
verschleierten Tochter der Oranuti in eindeutiger
Absicht, so mochte das durchaus eine politische Krise mit
unabsehbaren Folgen auslösen. Sie konnte die Tochter
eines einflussreichen Fürsten sein, der das Volk der
Oranuti in Falméra vertrat!
Aber würde sie sich ihm so offensichtlich präsentieren,
ihm mit ihrem Verhalten Rätsel aufgeben, wenn er ihr
gleichgültig war? Was aber beabsichtigte sie?
Wie angenagelt stand sie da, einer überirdischen
Erscheinung gleich, und er spürte förmlich ihre Blicke,
die ihn aus der Anonymität des Schleiers heraus trafen.
Die anderen Umstehenden schienen sie gar nicht
wahrzunehmen. War sie am Ende eine Halluzination, ein
Streich seiner Wahrnehmung, eine Posse seines eigenen
Geistes, seiner heimlichen Wünsche?
Sebastian ging einen Schritt auf sie zu, sie wich einen
Schritt zurück! Der König, Fürst Jamálin, Raspina und
Mauretan, alle waren plötzlich vergessen. Dieses
Mädchen hatte seine Neugier geweckt, ja mehr noch, sie
verstand es, den Jagdtrieb eines Mannes herauszufordern!
Wieder schritt er langsam zwei Beinlängen auf sie zu,
und wieder wich sie rückwärts um das gleiche Maß
zurück. Inzwischen stand sie knapp vor der Tür zum
Korridor. Sie spielte mit ihm! Sie war sich durchaus
ihrer Reize bewusst, und lockte ihn damit.
Mittlerweile hielt Sebastian ihr Schleiertuch für pure
Dekoration. Er glaubte, sie wollte ihn locken, mit dem
Schleier jedoch auf Distanz halten. Gut, sollte sie ihr
Spiel haben! Er brannte darauf, herauszufinden, was sich
hinter dieser süßen Versuchung verbarg.
Aber auch sein Gewissen regte sich. Mochte es eine Falle
sein? Eine im Schutz der Wirren des Festes eingeschleuste
Venusfalle, die ihn dorthin locken sollte, wo man ihn
ungesehen entführen konnte? In diesem Fall war es ein
wahrlich tollkühner, verwegener Plan!
Oder wollte jemand nur seines Schwertes habhaft werden?
Tálinos war immerhin nicht nur ein Schwert mit
besonderen Kräften, sondern barg Geheimnisse, die kaum
jemand Irdisches zu ergründen vermochte! Es verlieh
Macht. Und auf welche Weise genau, hatte Sebastian noch
nicht einmal herausgefunden.
Wollte sie ihn nach draußen, in die Dunkelheit locken?
Das wollte er zu verhindern wissen! Noch einmal machte er
zwei Schritte auf sie zu und sie glich den Abstand wieder
aus. Nun standen sie auf dem Flur. Sie waren allein. Die
Tür zum Burghof stand offen, doch entweder befanden sich
die anderen Gäste im Festsaal, oder draußen beim
Feuertanz.
»Ihr müsst euch nicht vor mir fürchten«, versuchte
Basti ein Gespräch zu beginnen, »würdet ihr mir die
Ehre erweisen, den Tanz der Elsiren mit mir zu tanzen?«
Doch die Fremde antwortete nicht. Sie stand nur mitten im
Korridor und wartete.
Als Sebastian erneut einen Schritt in ihre Richtung
machte, vergrößerte auch sie wieder ihren Abstand um
diese Länge und in Richtung der Tür nach draußen. Nun
war klar, dass sie ihn in die Nacht locken wollte! Aber
das sollte ihr nicht gelingen!
Auf sechs bis sieben Schritt schätzte er den Abstand zu
ihr. Unmittelbar neben ihr befand sich eine zwei Meter
tiefe Nische, in der, wie sich Basti erinnerte, eine
massive Truhe stand. Er schätzte seine Möglichkeiten
ab, und rief sich in Erinnerung, was Antarona ihm
beigebracht hatte. Urplötzlich machte er einen Satz nach
vorn.
Wie er es von Antarona gelernt hatte, verriet er seine
Absicht nicht durch Anspannung, nicht durch ein
Muskelzucken, ja nicht einmal durch den Gedanken an sein
Vorhaben. Und es funktionierte! Er flog förmlich aus dem
Stand vorwärts, ergriff nicht gerade sanft ihre nackte
Taille und schob sie blitzschnell in die Nische, wo er
sie unerbittlich neben der Truhe an die Wand drückte.
Das Mädchen war so überrascht, dass es keine zunächst
keine Gegenwehr leistete. Sebastian nagelte sie mit
seinen kräftigen Armen regelrecht fest, so dass sie kaum
noch Luft bekam. Dennoch kam kein Ton über ihre Lippen.
Konnte sie nicht sprechen, war sie am Ende so stumm, wie
Vesgarina? Basti schoss ein Gedanke durch den Kopf.
War sie vielleicht sogar Vesgarina, die von Antarona
geschickt worden war, um ihn zu testen, ob er den Reizen
einer anderen Frau erliegen würde?
»So, du spielst nicht mehr mit mir«, versuchte er ihr
klar zu machen, »und nun wollen wir doch mal sehen, wer
sich hinter dem Schleier versteckt, nicht wahr?«
Bei diesen Worten, mit denen Sebastian sie leicht
schüttelte, wurde sie auf einem Mal lebendig. Sie
stemmte sich mit aller Gewalt gegen seine Schultern und
er hatte Mühe, sie an der Hüfte zu halten. Sie setzte
ein Kraft ein, die er einem solch zierlichen Körper
nicht zugetraut hatte.
Für einen Augenblick verharrten sie in einem Patt. Sie
versuchte ihn mit aller Kraft auf Abstand zu halten, und
ihr Dekolltee hob und senkte sich unter ihrem schnellen
Atem. Er hingegen war bemüht, seinen Griff um ihre
Taille keinen Augenblick zu lockern.
Ihre Haut verströmte einen sinnlichen Duft, der ihm
sofort in die Nase stieg. Eine Mischung aus Pfefferminz
und Lemonen, vielleicht eine Idee Ingwer, eine
Komposition, die er bei noch keiner Frau erlebt hatte.
Aber gerade das reizte ihn, herauszufinden, wer die
geheimnisvolle Unbekannte war.
Da er befürchten musste, sie könnte auf den Einfall
kommen, ihm die Augen auszukratzen, wollte er seine
Hände unverhofft von ihrer Taille nehmen und sich ihre
Handgelenke greifen. Doch sie schien seine Gedanken
erraten zu haben, denn sie war schneller.
Blitzschnell lösten sich ihre kleinen Hände von seiner
Schulter und griffen in den Ausschnitt seines Hemdes. Sie
bekam den Anhänger mit dem blauen Licht zu fassen, den
Sebastian von Antaronas Tante bekommen hatte, und riss
das Lederband mit einem kräftigen Ruck von seinem Hals.
Damit hatte Sebastian überhaupt nicht gerechnet, und als
er seine Hände überrascht zu seinem Hals führte,
nutzte das Mädchen die Gunst der Sekunde, duckte sich
unter seinen Armen hindurch und huschte auf den Korridor.
Sofort setzte Basti nach und sah gerade noch, wie sie
zurück in den Festsaal lief. Mit wenigen Schritten stand
er in der Tür und ließ seinen Blick über die
dichtgedrängt stehenden Gäste schweifen, auf die hin
und her eilenden Bediensteten und die in Gruppen
herumstehenden, die sich unterhielten, lachten, oder auch
nur der Musik zuhörten, die von draußen hereindrang.
Von dem flinken, unbekannten Mädchen war nichts mehr zu
sehen. Sie schien sich in pure Luft aufgelöst zu haben!
Eine Weile noch schlenderte Sebastian im Festsaal umher,
stets beide Türen im Auge, sowohl jene, die auf den
Korridor führte, und jene, durch die man in den zweiten
Festsaal gelang, in dem die Tafel gerichtet war. Er
hoffte die Kleine noch irgendwo aufzuscheuchen. Doch von
dem geheimnisvollen Mädchen fehlte jede Spur.
Intuitiv griff sich Sebastian an den Hals. Den kleinen
Anhänger, welchen Antarona als Kind plötzlich wie durch
Zauberei um den Hals trug, als man sie bei einer Schar
Krähen wiedergefunden hatte, und nachdem sie eine lange
Zeit verschwunden war, hatte er eingebüßt.
Das kam davon, wenn man hinter jedem Rockzipfel her war,
der einem über den Weg lief, schalt sich Sebastian in
Gedanken selbst. Oder hatte es das Mädchen gezielt auf
diesen Anhänger abgesehen? Steckte in diesem kleinen
Ding möglicherweise ein größeres Geheimnis, als er
vermutete?
Oder war der Anhänger, den er nie abgelegt hatte,
Antarona selbst aufgefallen, und sie hatte Vesgarina
geschickt, ihm das Stück abzunehmen, ohne selbst in
Verdacht zu geraten? Nein! Basti schüttelte den Kopf. So
neugierig war Antarona nicht. Sie hätte offen danach
gefragt!
Sein Verdacht, das Mädchen könnte Vesgarina gewesen
sein, erwuchs sich allein aus der Tatsache, dass sie
nicht einen Laut von sich gegeben hatte, selbst dann
nicht, als er sie mit dem Griff in die Taille an die Wand
drückte, was sicher nicht ganz schmerzfrei war.
Hätte er wenigstens ihre Haare erkennen können! Die
hatte sie aber nach alter Tradition der Oranuti unter dem
langen Kopftuch und der Kappe verborgen. Obwohl der
Verlust des Anhängers sicherlich ärgerlich war, und er
gerne noch dessen Vermächtnis herausgefunden hätte,
machte ihm mehr zu schaffen, dass er von einer zierlichen
Frau, halb so schwer wie er selbst, genarrt worden war,
und dass sie ihm entwischen konnte.
Das blaue Licht aber, dieser geheimnisvolle Anhänger,
der vermutlich aus Sebastians eigener Welt stammte,
brachte ihn auf einen Gedanken. Tálinos! Er wollte
herausfinden, ob sich in dem Schwert der Götter, das
Bental so sehr hütete, ebenso eine Inschrift verbarg,
wie in Antaronas Nantakis.
Da er sich ohnehin schon von Bental und Fürst Jamálin
entfernt hatte, nahm er die Gelegenheit wahr, und trat
nach draußen auf den Hof. Er blickte zum Himmel und
stellte fest, eine leichte Bewölkung, wie eine Herde
Schafe darunter hin zog. Sie verdeckte den Mond, doch hin
und wieder drang ein Schimmer des Erdtrabanten durch die
Nebel und erhellte minimal das Dach der Burg.
Ein kleines Stück weit zog er Tálinos aus der Metall
besetzten Scheide. Allein der Schein des Elsirenfeuers
verhinderte, dass er etwas erkennen konnte. Er musste
einen Platz abseits aller irdischen Lichtquellen finden!
Nach links, rechts, und hinter sich blickend, ob ihm
niemand folgte, eilte er zum Torhaus, öffnete die Tür
zum Treppenturm einen Spalt breit, spähte hindurch, und
als er feststellte, dass sich niemand darin befand,
huschte er hinein. Drinnen brannte nur eine einzelne
Fackel vor sich hin. Eine weitere Tür führte in den
Treppenaufgang.
Doch Sebastian stieg nicht die Treppe empor, sondern
zwängte sich an der Gegenseite unter die Treppe. Dort
wusste er eine kleine Tür, die kaum benutzt, in den
Vorgarten des Palais führte. Durch Zufall hatte er
einmal bei der Vermessung diesen Zugang zum Garten
gefunden, der von der starken Wehranlage der Burg umgeben
war.
Vorsichtig drückte sich Basti an die Mauer der hohen
Fassade. Er wollte nicht riskieren, in die Mitte des
Gartens zu gehen, wo man ihn von den Fenstern her hätte
sehen können. Im Schatten des Gemäuer wartete er, bis
einer Wolke einfiel, den Mond frei zu geben.
Dann zog er ehrfürchtig das Schwert aus der Scheide und
ein angenehmer, aufregender Schauer huschte ihm über den
Rücken! Kaum schien das Mondlicht auf die Klinge, da
flammten wie durch eine geheimnisvolle Magie reich
verzierte Schriftzeilen in bläulichem Licht auf. Ein
wenig erinnerte Basti dieser Effekt an ein St. Elmsfeuer,
das eher selten vor starken Gewittern auftrat.
Rasch zog er einen Bleistiftstummel und ein Stück
zerknittertes Pergament aus seiner Hosentasche, die er
stets bei sich trug, und malte die Zeilen sorgfältig ab,
die in der alten Schrift der Îval verfasst waren. Um sie
zu übersetzen, musste er etwas mehr Licht haben. Das
konnte er später tun!
Er beeilte sich, alles aufzuschreiben, bevor eine neue
Wolke die helle Himmelskugel wieder verhüllte. Wer
vermochte schon zu sagen, wann er wieder Gelegenheit
hatte, Tálinos zu tragen, und ob dann gerade wieder
Vollmond war?
Als er alle Inschriften notiert hatte, steckte er Stift
und Papier wieder ein und betrachtete noch eine Weile die
flammende Schrift. Sie glühte und waberte, als lebten
Millionen von winzigen Leuchtalgen in ihr. Erst als der
Mond wieder hinter einer Wolke verschwand, erlosch auch
das geheimnisvolle Glimmen.
Zufrieden steckte er Tálinos wieder ein. Das Schwert
hatte ihm erzählt, was er wissen wollte! Aber plötzlich
kam ihm ein weiterer Einfall! War es möglich, dass jenes
blaue Licht des Anhängers, den nun das unbekannte
Mädchen besaß, ebenfalls diese Inschriften sichtbar
machen konnte? War sie nur darauf aus? Besaß noch jemand
eines der vier Schwerter der Götter?
Mit einem langsamen Kopfschütteln erhob sich Sebastian
und ging zur Turmtür zurück. Zu viele Spekulationen,
die zu nichts führten! Außerdem hatte er ja, was er von
Tálinos begehrte! Er konnte es kaum erwarten, die
Inschrift zu übersetzen, und sie mit jener zu
vergleichen, die er von Nantakis Klinge abgeschrieben
hatte.
Als Sebastian zum Fest zurückkehrte, hatten sich die
Reihen der Gäste bereits gelichtet. Das Elsirenfeuer
brannte aber noch immer, und Raspina sah er unermüdlich
mit Mauretan zwischen den anderen Tanzpaaren
herumwirbeln.
Sein Blick suchte König Bental und Fürst Jamálin. Da
er sie nirgends entdecken konnte, warf er einen besorgten
Blick auf die Fenstergalerie. Was mochte Antarona gerade
tun? Er wollte sie sofort aufsuchen, sobald er sich
unbemerkt absetzen konnte.
Da lief ihm unverhofft Frethnal über den Weg. Er war mit
einem Tablett voll Trinkbechern und Kelchen beladen.
»Wo ist der König, Frethnal?« wollte Sebastian wissen.
Der Diener stellte das Tablett ab, rieb sich vor Schmerz
die Arme und antwortete:
»Mit zwei Fürsten und Elwha und noch einigen anderen
sowie Hekthur sah ich ihn in den Turm der versinkenden
Sonne gehen, Herr.«
»Dann werden sie sich wohl in den Sitzungssaal zur
Beratung zurückgezogen haben«, überlegte Basti laut.
Er deutete auf Frethnals Tablett und fragte:
»Wie lange werdet ihr das da heute noch machen?«
Frethnal verzog sein Gesicht zu einer mitleiderregenden
Miene und erklärte:
»Vesgarina und ich sind dazu geheißen, bis der letzte
Gast fort ist. Dann müssen wir den anderen noch beim
Aufräumen helfen. Hekthur hat das angeordnet.« Basti
zog die Augenbrauen hoch und sagte dem erstaunten Diener:
»Wenn das so ist, mein Guter, dann werdet ihr beide im
nächsten Sonnenlauf solange Ausschlafen, wie es euch
beliebt. Ich brauche euch nicht, und Antarona wird
Vesgarinas Dienste ebenfalls nicht benötigen. Das
Schlafgemach in meinen Gemächern, welches zur Wehrmauer
hin liegt, ist unbenutzt, Frethnal. Ich wünsche, dass
ihr es benutzt!«
Frethnal wollte schon protestieren, denn es war der
Dienerschaft strikt untersagt, sich in den Räumen der
Herrschaft aufzuhalten, wenn es nicht deren Reinigung,
oder Pflege diente, erst recht nicht, um sich im
herrschaftlichen Bett der Leidenschaft untereinander
hinzugeben. Doch Sebastian beseitigte jeden Zweifel an
seiner Anordnung.
»Keine Widerrede, Frethnal! Weder ich noch Antarona
können etwas mit übermüdeten und unaufmerksamen
Bediensteten beschicken. Und wenn ihr euch in eure
eigenen Stuben zurückzieht, werdet ihr nicht lange Ruhe
haben. Hekthur wird euch zu finden wissen. Also ist es
abgemacht. Ihr zieht euch in mein Schlafgemach zurück!
Ich werde verlauten lassen, dass ich selbst dort nicht
gestört werden will!«
Areos Kammerdiener verbeugte sich übertrieben und
bedankte sich überschwänglich und in nicht enden
wollenden Gesten.
»Hört mit diesem albernen Auf und Nieder auf,
Frethnal«, sagte Sebastian kopfschüttelnd, »tut
einfach nur, was ich sage, das genügt! Und lasst um der
Götter Willen endlich dieses bescheuerte Ja Herr, sonst
vergesse ich mich! Habt ihr verstanden?« Die letzte
Frage war Sebastians Fehler. Denn sogleich kam prompt:
»Ja Herr!« Sebastian lächelte in sich hinein. Das
würde sich wohl niemals ändern, so sehr er auch
versuchen würde, seinem Kammerdiener dieses
überflüssige, wie lästige Getue abzugewöhnen.
Sebastian wanderte noch eine Zeit lang zwischen den
Gästen hin und her, zeigte Präsenz, schlug hier in eine
Hand ein, beantwortete dort eine Frage und stellte sich
manchem Gespräch, das er für so unsinnig, wie
zeitraubend empfand. Doch er war nun einmal Areos, der
Sohn des Königs!
Ein jeder und eine jede buhlte um seine Gesellschaft,
auch wenn sie nichts zu sagen hatten. Deutlich merkte er,
dass viele gar nicht wussten, worüber sie ein Gespräch
mit ihm beginnen sollten. Doch es war allgemeines
Bestreben, es war hilfreich wie attraktiv, im Austausch
mit dem Thronfolger gesehen zu werden!
So musste er dumme, belanglose Fragen und längst
bekannte Erzählungen über sich ergehen lassen. Die am
häufigsten gestellte Frage betraf seine Rückkehr aus
dem Reich der Toten. Natürlich wollte jeder wissen, wie
es denn dort drüben, wo noch die Götter regierten,
gewesen war. Auch die Frage, ob er denn im Reich der
Götter und der Toten die Hallen von Talris gesehen habe,
blieb nicht aus.
Sebastian hatte sie gesehen! Doch er sah sie in einer
Welt, die irdischer nicht sein konnte. Und er wusste, wo
der Eingang in dieses begehrteste Vermächtnis der Îval-
Kultur zu finden war. Doch er hütete sich, auch nur
anzudeuten, dass er etwas darüber wusste.
Den allzu Neugierigen erklärte er, dass er nicht bis in
die Hallen von Talris gelangt war, da er ja von den
Göttern aus dem Reich der Toten zurück in die Welt der
Lebenden gesandt wurde. Die meisten glaubten die Hallen
von Talris im ewigen Eis bei den Göttern.
Nur wenige spekulierten darüber, ob sie nicht irgendwo
zwischen Quaronas, Zarollon und Falméra zu finden waren.
Und jene stützten sich auch nur auf die Überlieferungen
der Alten, welche noch die alte Schrift der Îval, die
Schrift der Götter lesen konnten. Woher sonst vermochten
sie die alten Zeichen zu kennen, wenn nicht aus den von
Sagen umwobenen Hallen selbst?
Für die neue Generation der Îval waren die Hallen von
Talris nicht mehr, als eine in ihrer Glaubensgeschichte
vorkommende Mär. Nur ein unerschrockenes Mädchen, eine
Kriegerin, eine Mutterweise, hatte den gefährlichen Weg
in diese Mär gefunden und wurde zur Hüterin dieses
Vermächtnisses. Antarona!
Sebastian, der nun ebenfalls in das Geheimnis eingeweiht
war, um dessen Preisgabe Torbuk das Land nahe dem ewigen
Eis unterdrückte, tat, als glaubte er selbst nicht so
recht an dessen Existenz. Es schien ihm der einzige
Schutz davor zu sein, von neugierigen Fragen bedrängt zu
werden.
Zwei Stunden noch stellte sich Sebastian als Areos den
Fragen, Bedürfnissen und Anliegen von Gästen,
angesehenen Bürgern und Edelleuten. Dann erlosch
allmählich das Elsirenfeuer, Tänzerinnen und Tänzer
verließen die Burg, oder zogen sich in ihre
Gastgemächer zurück, Gäste machten sich auf den Weg in
ihre Herbergen, und als die Sterne bereits verblassten,
begab sich auch Sebastian in seine Gemächer.
Um noch Antarona aufzusuchen, war es bereits zu spät,
oder noch zu früh, je nach Betrachtung. Seine Müdigkeit
hatte er inzwischen überwunden. Unschlüssig, was er nun
tun sollte, warf er sich auf sein Bett und faltete das
Pergament auseinander, auf dem er die Inschrift Tálinos
notiert hatte.
Er las die Verse, und las sie immer wieder und wieder,
verstand aber ihren Sinn nicht. Sie klangen wie eine
geheimnisvolle Wegbeschreibung, welche der Verfasser in
ein Gedicht gekleidet hatte...Drehe
nach des Berges Wind
Die Tafel tausender Tränen
Wohin all die Zeichen sind
Die Schritte sich nun sehnen
Der Götter alte Pfade
Durch Aue und durch Wald
Unter der Bäche Kaskade
Und über Felsen bald
In wahren Geschichten
Aus uralter Zeit
Am Wege dir berichten
In treuem Geleit
Ersteige die Stufen
Durch Baum und auf Stein
Höre das tiefe Rufen
Verborgener Wasser Pein
Von Falméras Feste an
Über tiefe Wasser hin
Der roten Sonne Bann
Weist des Wegs Beginn
Gegen Wassers steten Lauf
Entlang der Elsiren Wall
Zu klaren Wellen hinauf
Durch des Nebels Niederfall
Wandeln über dem Grund
In der Mauer eine Rinne
Führt durch Berges Schlund
Zu hochhehrer Zinne
Klaren Fluten entgegen
Durch tiefen, kalten Stein
An Sommerfeste gelegen
Tritt in Gors Haupte ein
Sebastian faltete das Pergament wieder zusammen und erhob
sich von seiner Schlafstatt. Im Dunkeln schlich er durch
seine Gemächer in die Bibliothek. Er nahm ein dickes,
ledergebundenes Buch aus dem Regal, in dessen Seiten er
bei seinen Recherchen die Mythologie der Götterwesen des
Volkes der Îval entdeckt hatte.
Zwischen den letzten Seiten des schweren Buches befand
sich ein zusammengefaltetes Blatt. Die Inschrift
Nantakis! Vorsichtig schob er seine Notizen dazwischen,
klappte den Wälzer wieder zu und verstaute ihn im Regal.
Es brannte ihm unter den Nägeln, sich eingehender mit
den Inschriften, auch im Zusammenhang mit der Mythologie
zu beschäftigen. In jeder Mythologie steckte bekanntlich
ein Stückchen Wahrheit, und möglicherweise gelang es
ihm auf diesem Wege herauszufinden, in was für eine
seltsame Welt er geraten war, und welche Geheimnisse sie
ihm noch vorenthielt...
Als es über den Bergen in der erwachenden Sonne bereits
zu dämmern begann, entschloss er sich, in Antaronas
Gemächer zu schleichen, um unter ihre warmen Felle zu
kriechen. Aber dieses Mal wollte er den kleinen
Treppenturm seines Lesezimmers benutzen, um ein Stockwerk
höher zu gelangen.
Zum einen wollte er sich in den staubigen, teils
verrußten Geheimgängen nicht schmutzig machen, zum
anderen fragte er sich, wozu sonst sie sich die Mühe
gemacht hatten, die Türen zu dem Türmchen aufzubrechen.
Eilig entledigte er sich seines Waffenrocks und der
Stiefel, lediglich sein Bowiemesser steckte r sich noch
in den Gürtel. Das Hemd warf er letztlich noch im
Vorübergehen über eine Stuhllehne. In Lendenschurz und
Beinlingen wand er sich hinter den Vorhang, der die Tür
zum Turm verbarg.
Auf leisen Sohlen, schlich er die Steinstufen hinauf, die
sich in der frühen Morgenstunde ekelhaft kalt und feucht
anfühlten. Umweht von einem unangenehmen Wind, der von
unten herauf durch den Turm zog, und von dem Basti sich
fragte, woher er kam, erinnerte er sich daran, dass er
nur leicht bekleidet war, und beeilte sich etwas.
Oben angekommen, bemühte er sich vergebens, die alte
Tür ohne Geräusche zu öffnen. Das Knacken und Knarren
schien durch die ganze Burg zu hallen. Sebastian
erstarrte für einen Moment und lauschte. Doch es rührte
sich nichts, und so balancierte er auf Zehenspitzen durch
Antaronas Bibliothek und die angrenzenden Räume bis zu
ihrem Bad, vorsichtig weiter ins Kaminzimmer und in den
Salon, der an ihr Schlafgemach grenzte.
Vorsichtig öffnete er die Tür zu ihrem Ankleidezimmer
einen Spalt breit und lugte hindurch. Das Zimmer war nur
von einer Reihe von Säulen und Bögen vom Schlafgemach
getrennt, die mit schweren Tüchern behangen waren. Schon
einmal war er unbedacht durch die Säulen marschiert und
hatte eine Überraschung erlebt.
Diesmal wollte er es sein, der Antarona überraschte!
Blind tastete er sich durch das Ankleidezimmer, bis er
die dicken Vorhänge zu greifen bekam, und sie behutsam
auseinander zog. Das Schlafgemach lag noch im Dunkel und
Antaronas Bett konnte er nur erahnen.
In der Finsternis ertastete er einen Tisch, einen Stuhl,
dann stieß sein Fuß gegen ein Hindernis, das polternd
umfiel. Während Sebastian noch in sich hinein fluchte,
flammte hinter ihm ein Licht auf. Erschrocken wirbelte er
herum und hielt im gleichen Augenblick sein Messer in der
Hand, das er aber gleich wieder sinken ließ.
Antarona stand in der Öffnung des Vorhangs, durch die er
gerade getreten war, eine Fackel in der einen Hand,
Nantakis in der anderen. Wie machte sie das? Sie musste
im Dunkeln der Ankleidekammer gewartet haben, und er war
wie ein Blinder an ihr vorübergeschlichen.
»Du wusstest, dass ich noch komme?« fragte Sebastian,
obwohl er die Antwort bereits kannte. Antarona nickte und
zündete weitere Lichter in ihrem Schlafgemach an, bis
ein warmes, gelbes Licht den Raum erfüllte.
»Sonnenherz spürte eure Sehnsucht und wartete auf euch,
Ba - shtie.« Sie stand vor ihm wie eine golden
schimmernde Statue, wie ein Abbild einer ihrer
Göttinnen.
Sie trug den Rock eines Elsirenkleides, ein filigranes,
goldenes Gespinst aus Luft und Nebel, das nichts
verhüllte und ihr tief auf der Taille saß. Ein kleiner
glitzernder Punkt funkelte in ihrem Bauchnabel. Ein
Steinchen, das mit seinen Facetten das Licht jeder
Fackel, jeder Kerze spiegelte.
Im Geiste ergänzte Sebastian ein glitzerndes Oberteil,
das ihre festen Brüste bedeckte, einen Schleier und eine
rot Kappe, sowie ein paar kleine, bestickte Schuhe, und
eine heimliche Ahnung stieg in ihm hoch.
Antarona trug ihr Haar wie immer offen, mit einigen
geflochtenen Strähnchen und den eingebundenen Federn.
Ihre Handgelenke, Arme, Knie-, und Fußgelenke zierten
wie üblich Federn und Muschelschmuck, die mit
Lederbändern befestigt waren. Basti aber erkannte den
hauchdünnen Rock und das Steinchen wieder.
Und noch etwas verriet sie. Als er sich ihr näherte,
verströmte ihr verführerischer Körper den sinnlichen
Duft von Lemonen und Minze, von Ingwer und Zimt. Ihre
Brüste glänzten unnatürlich im Schein der Fackeln und
der süßlich schwere Geruch von Sandelholz und Patschuli
schlug ihm entgegen.
Sie hatte sich die Brüste mit einem duftenden Öl
eingerieben, dessen intensiver Geruch wohl von der
ursprünglichen Note ablenken sollte! Sebastian musste
innerlich schmunzeln. Seinen ausgeprägten Geruchssinn
vermochte sie nun einmal nicht zu täuschen.
Aber er tat, als merkte er nichts. Er wollte sehen, wie
weit sie mit ihrem Versteckspiel ging, und wann sie die
berühmte Katze aus dem Sack ließ. Mit zwei großen
Schritten war er bei ihr. Seine kräftigen Hände legten
sich um ihre Taille und zogen ihren warmen Körper an
ihn. Sofort wurde sie wie flüssiges Wachs in seinen
Armen und ihr Leib drängte sich verlangend an ihn.
Sanft strichen Sebastians Hände tiefer, er spürte ihre
Haut durch den dünnen Stoff, ertastete ihre Rundungen,
hielten sie fest gepackt. Nach einem ersten atemraubenden
Kuss ließ er seine Küsse an ihr herunterwandern und sog
dabei die verschiedenen Nuancen ihres Duftes durch die
Nase.
Eindeutig! Ihre Brüste bedeckte der seidige Glanz eines
Öls, das stark anders duftete, als ihr Bauch, der noch
den frischen, animierenden Duft trug, der ihm von der
schönen Fremden auf dem Fest entgegenschlug! War sie so
naiv zu glauben, ihn mit so billigen Tricks hereinlegen
zu können? Oder wollte sie ihn mit diesem Spiel einfach
nur herausfordern?
»Woher wusstest du, wie sehr ich dich vermisste, mein
Engelchen?« fragte er mit gespieltem Erstaunen in der
Stimme, als er seine Nase in ihrem Bauchnabel vergrub und
zärtlich ihr kleines Schmucksteinchen küsste. Er
stellte sich bewusst dumm, um nun seinerseits sie
herauszufordern.
»Sonnenherz weiß nun, dass ihr jene, welche sich
Raspina nennt, und die Tochter des Fürsten Jamálin ist,
nicht liebt!« verkündete sie mit erstaunlicher, für
Basti jedoch nicht überraschender Sicherheit.
»Ach ja?« fragte er übertrieben überrascht. »Und
woher weißt du das schon wieder?« Ihre Arme drückten
ihn ein paar Zentimeter von sich fort und ihr Blick
funkelte überlegen.
»Sonneherz weiß noch mehr!« offenbarte sie ihm mit
einem Stolz in der Stimme, als hätte sie etwas Großes
vollbracht.
»Sie weiß, dass ihr Raspina helft, jenen zu bekommen,
mit welchem sie sich verbunden hat. Sie weiß, dass ihr
sie schon einmal abgewiesen habt, weil ihr Sonnenherz
liebt! Und sie weiß, dass ihr jetzt das Geheimnis der
heiligen Schwerter der Götter kennt!«
Sebastian hatte inzwischen bereits vermutet, dass
Antarona es war, die ihn und Raspina heimlich am Brunnen
belauscht hatte, und dass sie auch die geheimnisvolle
Unbekannte gewesen war, die mit ihm das neckische Spiel
getrieben hatte. Doch dass sie ihn selbst dabei
beobachtet hatte, als er die Inschrift Tálinos
entzifferte, hätte er nicht gedacht.
Wie brachte sie das fertig? Konnte sie sich auch noch
unsichtbar machen? Hatten ihre Krähen ihn beobachtet,
durch deren Augen Antarona offenbar ebenfalls zu blicken
vermochte? Sebastian spielte weiterhin den ahnungslosen
Naivling.
»Sag mal, Antarona, kannst du durch Mauern hindurch und
durch die Finsternis der Nacht sehen?« fragte er
unschuldig erstaunt. Anstelle einer Antwort fuhren
Antaronas Finger langsam unter den Saum ihres
durchscheinenden Kleides und Sebastian dachte schon
daran, dass sie ihn mit der völligen Entblößung ihres
Körpers ablenken wollte.
Fast feierlich, mit einer bedeutsamen Geste zog sie ein
Lederband aus ihrem verschleierten Schoß hervor, an dem
ein glänzend goldener Anhänger baumelte, den sie ihm
nun direkt und mit triumphalem Blick in den Augen vor die
Nase hielt. Das Amulett! Der Anhänger, das blaue Licht,
das ihm die schöne Unbekannte auf dem Fest entrissen
hatte! Anschließend griff sie noch einmal in den Saum
und förderte Raspinas Armreif aus Koralle zu Tage.
Demonstrativ ließ sie das Schmuckstück um ihren Finger
kreisen.
»Du warst das?« Sebastians zur Schau gestellte
Verwunderung erhöhte noch ihren Stolz, ihn getäuscht zu
haben, den Mann, den die Götter gesandt hatten!
»Dann hast du mich den ganzen Abend beobachtet? Du warst
immer irgendwo in meiner Nähe? Du hast das ganze Fest
Talris miterlebt?« Sebastians Schauspiel wirkte echt. Er
gab sich alle Mühe, wirklich verblüfft auszusehen.
»Ba - shtie, Sonnenherz zweifelte nicht an eurer Treue
zu ihr, doch ihre Krallen hätten Raspina zerrissen,
hätte sie es gewagt, euch zu verführen!« gestand sie
ihm ohne Scham. Und Sebastian zweifelte keinen Augenblick
daran, dass sie Raspina ziemlich deutlich zu verstehen
gegeben hätte, zu welcher Frau er gehörte.
Heimlich bewunderte er sie dafür! Sie würde wie eine
Tigerin bis aufs Blut für ihn kämpfen! Hatte er schon
geglaubt, den wirklichen Wert dieser wunderbaren Frau zu
kennen, so gelang es ihr doch immer wieder, ihn mit einer
weiteren erstaunlichen Eigenschaft zu überraschen!
»Was ist dies für ein Ding, das ihr da neben der
Binerin Zauber um den Hals tragt, Ba - shtie?« wollte
sie nun wissen. »Es scheint aus den Tränen der Götter
gemacht, doch ist es dafür zu kalt und von zu heller
Farbe!« Basti staunte nicht schlecht, dass Antarona in
der Lage war, Gold von anderen Metallen zu unterscheiden.
Aber er hatte die Frage schon viel früher befürchtet
und antwortete mit der bereits seit längerem zurecht
gelegten Lüge, die ihm ohne Zögern von den Lippen ging.
»Ach, das ist nur ein einfacher Schmuck aus einem
Metall, das den Tränen der Götter gleicht«, erklärte
er wie nebensächlich, um ein weiteres Interesse
Antaronas zu vermeiden. Doch er war sich nicht der
weiblichen Intuition bewusst, die auch seine Frau besaß,
welche Männergeheimnisse kilometerweit gegen den Wind
riechen konnte.
»Aber am See und in der Höhle, und auch während des
Weges nach Falméra trugt ihr das Ding noch nicht«,
stellte Antarona fest, »ist es neu, Ba - shtie, woher
habt ihr es?«
Sebastian befand sich in einer Zwickmühle. Leugnete er
die wahre Herkunft des Gegenstandes, so würde Antarona
spüren, dass er log. Gestand er ihr aber die Wahrheit,
so konnte es geschehen, dass sie von ihm die Vernichtung
des Lichts verlangte, so, wie sie es bei den Karten des
Unbekannten aus der Hütte getan hatte.
Doch er wollte um jeden Preis das Geheimnis dieser
leuchtenden Messingpatrone ergründen, die offenbar aus
seiner eigenen Welt stammte. Sie war möglicherweise ein
Hinweis darauf, wo er sich befand, und wie er notfalls
wieder nach Hause kam.
Nach Hause? Sebastian musste lachen. Im Grunde war er
doch längst Zuhause! Hatte er nicht längst seine Welt
hinter sich gelassen und die neue, abenteuerliche,
faszinierende Welt Antaronas als sein neues Zuhause
akzeptiert? Bald würde er mit Antarona eine Familie
gründen. Längst war er Zuhause angekommen!
»Was erheitert euch daran, Ba - shtie, macht ihr euch
lustig über Sonnenherz?« wollte seine Frau wissen und
sah ihn vorwurfsvoll an.
»Ich lache über mich selbst«, beichtete er ihr, »weil
ich es für nicht wichtig hielt, dir zu erzählen, woher
dieses Ding ist. Ich habe es nämlich von deiner Tante
bekommen!«
»Ihr habt es von Zinthia?« fragte Antarona erstaunt. Er
nickte und hängte sich das Licht wieder um, bevor er
antwortete:
»Ich hatte es gesehen und hatte sie darum gebeten. Sie
selbst konnte nichts damit anfangen. Ist doch ein
schöner Schmuck, findest du nicht auch? Sieht aus wie
aus den Tränen der Götter gemacht«, spielte er die
ganze Sache herunter.
Aber er hatte zumindest nicht gelogen! Wohl auch nicht
alles preisgegeben, aber die Wahrheit gesagt! Hatte er
schon so viel von Bental gelernt? War er bereits bestens
darauf vorbereitet, die Gratwanderung zwischen Wahrheit
und Lüge zum Wohle des Volkes zu unternehmen? Dieses
Beispiel zumindest schien genau das zu bestätigen.
Antarona sah ihn skeptisch an, als vermutete sie eine
List und drehte den Anhänger hin und her, als könnte er
ihr eine Antwort geben. Indes hoffte Basti, dass sie
nicht zufällig auf den silbernen Knopf drückte, und das
blaue Licht plötzlich aufflammte.
Selbst Antarona war nicht so naiv, dass sie nicht eine
Assoziation zum Licht und den blauen Blitzen in den
Hallen von Talris herzustellen vermochte. Dann war er ihr
mehr als nur eine Erklärung schuldig! Ihr Interesse an
dem Amulett ließ jedoch rasch nach. Wie ihre Tante,
konnte sie nicht viel damit anfangen.
Anscheinend genügte ihr, herausgefunden zu haben, dass
ihr Ba - shtie - laug - nids keine Ambitionen hegte,
einer anderen Frau, als ihr selbst, näher zu kommen. Ihr
Blick wurde verträumt, fordernd, verlangend. Und anstatt
weiter auf das unnütze Ding einzugehen, das er trug,
schlang sie plötzlich ihre Arme um seinen Hals, zog sich
an ihn und begann ihn zu küssen.
Erst zaghaft, wie schüchtern, als wollte sie seine
Lippen, seine Sensibilität ergründen. Basti spürte
ihren weichen warmen Mund, wie sie sich zurückhielten,
gleichzeitig aber vor Sehnsucht in Flammen standen. Einen
Arm legte er um ihre Taille, den anderen um ihren Po,
dann ließ er seine Zunge ihre Lippen erforschen.
Antarona spürte seine kraftvollen Hände und ließ sich
einfach fallen.
Sie verloren sich in einem langen, wilden Kuss,
besitzergreifend, atemlos, als wollten sie sich
gegenseitig verschlingen, um sich so nah wie möglich zu
sein. Sie flüchteten aus der Welt von Falméra und
Volossoda und ihre Sinne nahmen nur noch ihre Zweisamkeit
wahr...
Irgendwann um die Mittagsstunde weckte sie der Lärm des
Burglebens, das auf verträumte Liebespaare keine
Rücksicht nahm. Sie blieben noch eine Weile unter ihren
Decken liegen, und Sebastian erzählte seinem
Krähenmädchen von der Vereinbarung, die er mit Raspina
getroffen hatte.
»Fürst Jamálin sendet mit Sicherheit einen Reiter aus,
um sich davon zu überzeugen, was Raspina ihm erzählt«,
dachte Sebastian laut. Zu Antarona sagte er:
»Hast du Lust mit mir das Tal der roten Felsen zu
erobern? Oder wollen wir lieber hier bleiben, und es
einem Oranuti- Fürsten überlassen?«
Antarona fuhr wild auf und ihre Augen sprühten Funken.
Sebastian wusste, dass ein solcher Gedanke ihren
Kampfgeist weckte. Allein schon das Wort Oranuti
genügte, um die Kriegerin in ihr zu motivieren. Sie nahm
ein kleines, dickes Fell, das ihnen als Kopfkissen
diente, schwang es durch die Luft und ließ es auf Basti
herabsausen.
»Ihr wisst, das Sonnenherz den Oranuti nicht einen Halm
des Grases auf dem Land der Îval überlässt, wenn sie
es verhindern kann!«
Noch einmal holte sie mit dem Fell aus, doch Sebastian
war schneller. Er packte ihre Handgelenke, warf sie auf
den Rücken und sich auf sie. Er küsste sie
leidenschaftlich und sagte dann atemlos:
»Dann mach dich fertig, wir holen unsere Plon-ta und
reiten in das weite Tal. Raspinas Vater soll sich
wundern, wie rasch das einsame Tal dort lebendig wird!«
»Aber wie wollt ihr es anstellen, dass er sein Verlangen
nach diesem Land verliert, Ba - shtie?« fragte sie
neugierig. Sebastian schmunzelte und verriet ihr:
»Lasst mich mal machen, mein Engelchen, ich habe da so
einen Gedanken. Wenn das funktioniert, geht Raspinas
Vater höchst selbst zum König und verzichtet auf das
Tal. Ich muss nur Bental dazu bewegen nicht lange
nachzufragen und womöglich einzulenken.«
Mit einem Satz war er aus dem Bett heraus und warf sich
eine gewebte Decke um. Er blickte im Raum umher, suchte
seine Hose, fand sie schließlich auf einem Pfosten des
Baldachins hängend. Er lächelte glücklich, pflückte
das Kleidungsstück herunter, dachte daran, wie wild sie
in der sich verabschiedenden Nacht übereinander
hergefallen waren und wünschte sich heimlich noch viele
solcher Zweisamkeiten.
»Bereite dich darauf vor, länger in den Wäldern und
Bergen zu bleiben«, riet er seinem Krähenmädchen,
»ich werde inzwischen etwas vorbereiten. Wir treffen uns
bei den Ställen, wenn Talris rechts über dem fallenden
Wasser steht!«
Antarona sprang aus ihrem Bett heraus. Unbekleidet, wie
sie war, fiel sie ihm um den Hals, küsste ihn, und
ruderte übermütig mit den Beinen.
»Raus aus der Burg? Danke, habt vielen Dank, Ba - shtie,
Sonnenherz wird sich beeilen! Sie freut sich darauf, mit
Glanzauge durch die Wälder zu reiten, zu jagen, und die
Oranuti aus den Wäldern der Îval zu vertreiben!«
Ohne sich mit etwas zu bedecken, und wie eine aufgezogene
Marionette sprang sie anschließend im Zimmer umher, rief
nach Vesgarina und wühlte in ihrer Kiste herum, in der
sie ihren Lederschurz und ihre Waffen verstaut hatte.
»Mach nicht zu lange, wir können unten am Fluss in
unserem Tal baden«, machte Basti den Vorschlag, um Zeit
zu sparen. Dann ging er hinaus und über den
verschwiegenen Treppenturm hinab in seine eigenen
Gemächer. Dabei lächelte er in sich hinein. Er sah das
Tal der roten Steine bereits in seinem Besitz. Das
Zuhause für Antarona, für ihn und für ihre kleine
Tochter!
Die Mühe, sich zu waschen und zu rasieren machte er sich
nicht erst. Das mochte warten, bis sie einen geeigneten
Lagerplatz in ihrem neu entdeckten Land gefunden hatten.
Er kramte Schwert, Bogen und einen Köcher Pfeile hervor,
sowie seine beiden Bowiemesser.
Dazu wählte er einen abgetragenen Waffenrock, dessen
Lederlamellen und Metallapplikationen schon sichtlich
gelitten hatten. Dafür aber waren sie gelenkiger und
flexibler, als die der anderen neueren Kleider. Und auf
Schönheit brauchte er in der Wildnis, weitab der Burg
ohnehin nicht bedacht zu sein.
Rasch schnürte er noch einige Felle und Decken zu einem
dicken Schlauch zusammen, der von seinem Pla-ka gut zu
tragen war.
Er bestückte sich noch mit einigen Lederriemen und mit
seinem Tagebuch, dass er sich selbst aus Pergamentseiten
zusammengebunden hatte. Sein eigentliches Tagebuch lag
seit geraumer Zeit am Strand vom Festland vergraben. Ob
es noch vorhanden und lesbar war, wenn er die Stelle
wiederfand, war zweifelhaft.
In Windeseile zog er sich an und ging zielstrebig zu den
Wachunterkünften. Genrath, der die ganze Nacht hindurch
gewacht hatte, lag nun sicherlich in seinen kühnsten
Träumen. Doch er brauchte ihn. Und so sehr es ihm auch
widerstrebte, den Wachführer zu wecken, so kompromisslos
verfolgte er sein Ziel.
Von einem Wachsoldaten ließ er Genrath herausrufen, der
übermüdet und verschlafen ins Sonnenlicht torkelte.
Sebastian zog den völlig überrumpelten am Arm zum
Waschtrog und bedeutete ihm, sich etwas frisch zu machen.
Noch während sich Genrath die Augen auswusch, trug ihm
Sebastian auf:
»Ich wünsche, das ihr sogleich zwei berittene Melder
entsendet. Einen zum Heerlager, welches in der Senke vor
der Stadt liegt, sowie einen zu jenem Lager in den
Hügeln gen Angertal. Ich wünsche umgehend die
Heerlagerführer zu sprechen. Der Melder soll beiden
Lagerführern auftragen, einen Arm voll ihrer Standarten
mitzubringen!«
Genrath wischte sich das Wasser aus den Augen und sah
seinen Herren Areos erstaunt und verständnislos an. War
der nun völlig übergeschnappt? Seit wann brachten
Heerlagerführer ihre Standarten zum Hof? Sie dienten der
Markierung eines Schlachtfeldes, oder eines Lagerplatzes!
Sebastian sah Genraths Blick und bevor dieser noch
reagieren konnte, fragte Sebastian forschend und
drängend zugleich:
»Genrath, habt ihr das verstanden, seid ihr wach, hört
ihr mich?« Der Gefragte schnappte nach Luft, schüttelte
sich und antwortete:
»Ja Herr, ich habe euch verstanden! Heerlagerführer,
Standarten, einen Arm voll«, wiederholte er in Kürze.
Sebastian nickte und fügte hinzu:
»Die Männer sollen sich sofort nach ihrem Eintreffen
bei mir melden! Schickt die Reiter los, und ihr könnt
euch für den Rest des Tages auf euer Lager
zurückziehen!« versprach Basti ihm.
»Ach, und Genrath, noch eine Sache!« hielt Sebastian
den Wachführer auf, der sich schon abwenden wollte.
»Ihr besorgt mir noch zwanzig Holzschwerter, mit welchen
sich die wachen im Kampf üben, ja?«
»Wie ihr wünscht, Herr«, bestätigte Genrath. Er ging
und Sebastian setzte seinen Weg zum Stall fort, in dem
sein treuer Pla-ka stand.
Der dicke Stallmeister hatte ihn nicht erwartet.
Sebastian konnte nicht eine Haarspitze von ihm entdecken.
Aber er vernahm Geräusche, die ganz sicher nicht in
einen Pferdestall gehörten. Es war das Grunzen und
Quieken von Schweinen!
Verärgert über den dicken, anmaßenden Stallknecht, der
wiederholt seine Aufgabe vernachlässigte, griff er sich
einen Knüppel, der am Eingang stand und betrat den
Stall. Es war nicht zu fassen! Ließ der Kerl die
Schweine in den Pferdestall!
Neben Wafans, Hunden und Katzen liefen die Borstenviecher
überall zwischen den Wirtschaftsgebäuden herum. Auf der
Suche nach Futter waren sie kaum wählerisch und scheuten
offenbar auch keinen Stall in dem Pla-kas standen.
Basti nahm sich vor, das Viehzeug ein für allemal
auszutreiben. Er wusste, dass Schweine recht aggressiv
werden konnten und hob seine derbe Waffe leicht an.
Notfalls gab es zum Abend gegrillten Schweinebraten!
Vorsichtig schlich er an den Einstellboxen vorbei. Die
Geräusche kamen vom hinteren Ende des Stalls, wo sich
das Futter- und Heulager befand. Die Pla-ka schien es
nicht sonderlich zu beunruhigen, dass Fressneider in
ihren Stall eingedrungen waren. Sie standen ruhig und
gelassen in ihren Boxen.
Im stickigen Halbdunkel erreichte Sebastian das Heulager,
eine große Box, die mit duftendem Heu und Hafer gefüllt
war. Eine Leiter führte auf den Dachboden, der als
Heuspeicher verwendet wurde. Von dort kam das Grunzen und
Quieken.
Sebastian schüttelte ungläubig den Kopf. Seit wann
waren Schweine in der Lage, Leitern zu erklimmen? Leise
schob er seinen Körper die Sprossen hinauf, bereit
zuzuschlagen, sollte sich oben ein Schweinekopf zeigen.
Oben angekommen, spähte er über die Kante und sah
zunächst nur getrocknete Grashalme.
Das Quieken verebbte und nur das Grunzen war noch zu
hören. Behutsam schob er mit einer Hand das Heu
auseinander, um besser sehen zu können. In diesem Moment
drang eine schrille Frauenstimme an sein Ohr.
»Hört auf, alter Flegel, merkt ihr nicht, dass etwas in
meinem Rücken drückt? Los, runter von mir, hört ihr?
Lasst uns weiter nach oben, wo mehr Heu ist!«
Sebastian traute seinen Augen nicht. Der Stallmeister lag
mit entblößtem Hinterteil auf einer Magd! Er reagierte
gar nicht und fuhr grunzend und knurrend fort, die Frau
mit seiner Männlichkeit zu beglücken.
»Alter Grobian, es sticht in meinem Rücken, lasst ab,
oder ihr könnt euch mit euren Pla-ka vergnügen, hört
ihr mich?« zeterte die Magd.
»Ach, stellt euch nicht so an«, hörte Basti nun den
Stallmeister stöhnen, »ihr ziert euch, wie eine alte
Jungfer, dabei mögt ihr doch von mir nicht genug
bekommen, was euch euer Mann nicht zu geben vermag!«
Basti hatte genug gehört und gesehen, und zog sich
heimlich wieder zurück. Seinen Pla-ka musste er nun wohl
oder übel selbst aufzäumen! Er schritt durch den Stall
zurück und wollte schon nach dem Zaumzeug greifen, als
ihm ein possenhafter Einfall durch den Kopf schoss.
Geschwind lief er außen um den Stall herum, bis zu dem
Ende, an dem sich das Futterlager befand. Die runde Luke
zum Heuboden war halb geöffnet. Sebastian nickte
zufrieden.
»Heda! Stallknecht, seid ihr da? Ich begehre euren
Dienst, wo steckt ihr? Bei allen gütigen Göttern, seid
ihr am Ende noch eingeschlafen?« rief er so laut er
konnte.
Dann huschte er zum Eingang zurück, wo er gerade noch
die Magd herausstürmen sah, die sich noch im Laufen
ihren Rock richtete. Er kannte die Frau. Es war eine von
jenen Mägden, die er einmal am Waschplatz im unteren
Burghof gesehen hatte.
Wartend sah er in den Stall hinein, wo nach einer Weile
der schmierige Knecht auftauchte, noch an seiner Hose
zupfend. Sebastian musste sich ein Grinsen verkneifen.
»Verzeiht, Herr, bin schon da, die viele Arbeit mit den
Pla-ka, wisst ihr, brauchen ständig frisches Wasser,
müssen gestriegelt werden, dann das Ausmisten, bin eben
auch nicht mehr der Jüngste!« entschuldigte sich der
Mann.
»Wenn ihr trotz eurer schweren Last noch eine Zentare zu
erübrigen vermögt, und meinen Pla-ka aufzäumen
mögt...« Basti ließ den Satz unausgesprochen. Der
Stallmeister ereiferte sich dennoch so sehr, dass er sich
zu überschlagen drohte.
»Natürlich Herr, sofort Herr, nur eine winzige Zentare
Herr, schon zu euren Diensten, Herr...« Sebastian hörte
schon gar nicht mehr hin.
Statt dessen trat er hinaus in die Sonne, in die klare
Luft, raus aus dem Mief des Stalls, dessen Belüftung
trotz der ausgeklügelten Oberlichter wohl doch nicht so
recht funktionierte. Er sog gierig die frische Luft ein,
und fragte sich, wie einfältig man sein musste, um sich
für ein Schäferstündchen einen so unvorteilhaften Ort
auszusuchen.
Während er zum Warten verurteilt war, kramte er das
Tagebuch aus seinem Bündel und zog sich damit hinter den
Stall zurück, stieg über dreißig Zentimeter schmale
Stufen zur Burgmauer hinauf und setzte sich auf die
Mauerkrone in die Sonne. Von hier oben blickte er direkt
auf die Zugbrücke.
Der schmale, gemauerte Absatz, der brusthoch unter der
Mauerzinne verlief, wurde im Wechsel von zwei
Wachsoldaten begangen, die jedoch einen gebührenden
Abstand zu Areos hielten, als sie ihn erkannten.
Zielstrebig schlug er die Seiten auf, in welche er die
überlieferten Inschriften der Hallen von Talris
abgeschrieben hatte, die er in einem alten, schweren Buch
der Bibliothek gefunden hatte. Allerdings konnte er die
Richtigkeit nicht überprüfen, da seine eigenen Notizen
aus den geheimnisvollen Hallen am Strand jenseits des
großen Wassers vergraben lagen.
Sinngemäß aber mochten die Verse identisch sein. Denn
die alten Geschichten der Götter wurden in den langen
Wintern im Val Mentiér an jedem Kamin, an jedem Feuer,
und in jeder Hütte erzählt. Ein jedes Kind der Îval
kannte sie!
Für Basti indes war interessant, inwieweit die alte
Mythologie mit den Inschriften der heiligen Schwerter
zusammenhing. Die Überlieferungen, die er trotz
inzwischen erweiterten Sprachkenntnissen nur mühsam
übersetzen konnte, lasen sich wie Auszüge aus der Bibel
seiner eigenen Welt.
Unter Zuhilfenahme einer Übersetzungsscheibe, welche er
selbst gezeichnet hatte, begann er Satz für Satz zu
entschlüsseln und dem hinzuzufügen, was er bereits
übersetzt hatte:
1. Buch der Götterwesen
Vom Anbeginn der Zeit.
Da wurden die Götterwesen
so viele und vermehrten sich.
So wurde die Welt zu klein, die
sie ihre Welt nannten und sie
rüsteten sich, um zu suchen
eine neue Welt in der weiten,
unendlichen Ferne des Himmels.
Sie erbauten einen Feuerstrahl
und reisten auf diesem in die
Tiefe der unendlichen Dunkelheit.
Viele Zentaren waren die Wesen
auf ihrer Reise und viele
Sternenstädte besuchten sie.
Keine Welt aber konnte ihnen zum
Leben dienen, denn die Welten
waren zu kalt, oder zu heiß, oder
zu trocken, oder zu nass.
Da wurde das Gemüt der Reisenden
finster und der Geist wurde
trübe und die Sinne wurden
ihnen böse. Sie schalten sich
gegenseitig, die Reise in das
große Ungewisse getan zu haben
und einige der Götterwesen
wollten zurück in ihre alte
Welt, andere aber wieder zog
es weiter in die weite Leere, in
der Hoffnung, eine neue,
gute Welt zu finden.
So reisten sie weiter im Streite
fort und behinderten sich und
belogen sich und betrogen sich.
Da wurden jene abtrünnig,
welche nicht mehr weiter wollten,
und taten und dachten anders
und stritten sich untereinander.
2. Buch der Götterwesen
Vom Streit der Götterwesen.
Welche, die abtrünnig waren,
verfeindeten sich gegen diese,
welche dem Weg weiter folgen
wollten und bekämpften sie und
schadeten dem Feuerstrahl, auf
dessen Rückgrat die lange Reise
sich vollführte. So mussten die
Wesen vor der Zeit eine Welt
zum Leben finden, denn ihr
Feuerstrahl begann zu erlöschen.
Die weite, dunkle Unendlichkeit
war jedoch leer und öde. In
schwindender Kraft, und mit
verzagtem Mut, erreichten sie
eine blaue Welt, welche selbst von
einem hellen Stern behütet ward,
und auf dessen Welt es leidlich
zum Leben ging.
So strandeten sie mit ihrem
sterbenden Feuerstrahl in einer
Welt, die ihnen feindlich ward.
Die Welt war kalt, aber auch warm,
sie war zu trocken und zu nass,
sie war zu hell und zu dunkel, und
es herrschten böse Wesen auf ihr,
denen viele Götterwesen zum Tode
anheim fielen. Allein der Schutz ihres
Feuerstrahls, welcher doch
nicht mehr zu reisen vermochte,
ließ die Götterwesen in seiner Hülle
leben und gedeihen und ließ sie
fruchtbar sein und sich mehren...
Doch welche abtrünnig waren
von den Reisenden, hegten Hass
und stritten und trennten sich
nun endlich von Ihresgleichen.
So geschah es, dass fortan die
einen der Reisenden im Schutze und
im Licht des Feuerstrahls lebten
und die Anderen, welche abtrünnig
wurden, sich in der Erde der neuen
Welt verbargen und dort lebten, und
fruchtbar waren und sich mehrten...
So begannen sie ein neues Leben
und eine neue Zeit in der neuen
Welt und jede lebten für sich und
allein ihr Wissen ward das Leben!
Jenes, was sie in sich trugen,
was ihnen gegeben wurde von
ihrer alten Welt, trug sich fort vom
Vater auf den Sohn, von der Mutter
auf die Tochter, im Geiste, im
Verborgenen ihres Seins,
bis hin in alle Zentaren.
3. Buch der Götterwesen
Vom Überleben der Götter.
Die Götterwesen, welche sich
fortan die Reisenden nannten,
lernten ihre neue Welt kennen,
und lieben und fürchten und
sie lebten auf ihr. Und sie
vermehrten sich und lernten,
ohne die Macht der Wunder
ihrer alten Welt zu überleben.
Ihre Gemeinschaft war nur
noch ein Schein dessen, was
ihr Geist in ihrer einstigen Welt
hervorgebracht hatte.
Über die Ewigkeit von vielen
Zentaren hinweg lebten sie nun
auf dieser neuen Welt. Ihr
großes Wissen verging und
ihre göttlichen Fähigkeiten
verblichen alsbald und
ihr großer Geist verstummte,
so wie auch ihre Sinne, welche
ihnen bisher die Gedanken
untereinander ohne Laute
gewährte. Die Reisenden
gewöhnten sich an die Sprache
stimmlicher Laute, so wie
es jene Wesen taten, die vor
ihnen auf dieser Welt waren.
So waren sie nach vielen, langen
Ewigkeiten nicht mehr ihrer selbst.
Die Götterwesen waren keine
Götterwesen mehr. Sie lebten
als ein neues, schwaches
Geschöpf in ihrer neuen Welt
und taten schwer, sich gegen
die Heimischen zu erwehren,
die sie verfolgten, töteten und
oftmals auffraßen. Sie hatten
sich angeglichen an die
heimischen, primitiven Arten,
welche von dieser Welt waren.
4. Buch der Götterwesen
Vom Abstieg der Götterwesen.
Die reisenden Götterwesen
glichen sich den wesen ihrer
neuen Welt an und vergaßen
auf ihre Sinne und Gaben. Da
verfinsterte sich ihre neue Welt,
und ein leuchtender Stern kam
sehr schnell daher und mit ihm
kamen viele dunkle Sterne und
sie vielen im Feuerregen auf die
neue Welt der Götterwesen und
verbrannten alles und ersoffen
alles und löschten vieles Leben
aus, dass sich auf dem Lande regte.
Viele Götterwesen und heimische
Wesen waren nun nicht mehr.
Doch die Götterwesen, die in
ihrem Feuerstrahl dem Unter-
gange ausharrten, traten nach
drei mal zehn Zentaren ans Licht
und erblickten eine eisige, weiße
Kälte rings um sich herum.
Alles Leben ward erloschen und
soweit ihr Auge reichte, wuchs
kein Flor und kein Faun. Nur
Kälte, Tod und Verderben tat
auf ihrer Welt. Einige Götter-
wesen zogen sich in ihren
Feuerstrahl zurück und fanden
in ihm nach vielen Zentaren den
Tod. Einige von ihnen aber
wagten sich in das ewige Eis
hinaus und suchten nach einem
neuen Platz zum Leben, welcher
ihnen Wärme und Nahrung bot.
Und siehe, so lebten sie weiter!
1. Buch der Menschenwesen
Vom Sterben der Götter und
Erwachen der Menschenwesen.
Die Götterwesen zogen viele
Zentaren über kaltes, unfrucht-
bares Land und aßen nicht
und darben und froren und
viele von ihnen starben.
Doch einige wanderten fort,
lebten in den Löchern der Erde,
welche die Feuersterne hinter-
lassen hatten und sie aßen ihre
Alten und Schwachen, um zu
überleben. Sie wurden primitiv,
wie das Gewürm in der Erde
unter dem ewig düsteren Zenit.
Nach vielen Zentaren kam das
Licht auf die Welt zurück und
die wesen verehrten es wie
einen Gott, denn das Licht gab
ihnen Hoffnung, Nahrung,
Wärme, und es brachte das Leben
zurück. Über die Zentaren
schmolz das Eis und kleine
Gräser begannen zu gedeihen.
Die Wesen aßen sie und stärkten
sich und vermehrten sich. Und
sie sahen, dass Talris, ihr Gott
des Lichts einen Sohn hatte,
der ihnen das Nachts ein kaltes
Licht sandte, damit ihre Augen
im Dunkel nicht blind waren
und sie ihre Feinde gewahrten.
So fraßen sie und vermehrten
sich und waren die niederste
Kreatur in ihrer Welt. Doch Talris,
der Gott des Lichts erweckte
den uralten Drang in ihnen,
zu denken und zu fühlen.
2. Buch der Menschenwesen
Vom Aufstieg der
Menschenwesen.
Talris schenkte ihnen das Licht
und die Wärme. Und er wusste,
dass der alte Geist der Götter-
wesen in ihnen wohnte und
keimte und sich vermehrte. So
gab er ihnen ein Land zwischen
dem ewigen Eis, dem Sitz der
alten Götter und dem großen
Wasser, und ein Land in dem
großen Wasser, damit sie lebten
und sich vermehrten und
sich verbesserten.
Da gab ihnen Talris die Götter
unter sich, um über sie zu
wachen und sie zu schützen.
Über viele Zentronen und Zentaren
lebten die Menschenwesen auf
dem Land und auf dem Wasser,
das Gott Talris ihnen gab und
sie formten und taten sich, lernten
und vermehrten sich, und
breiteten sich aus und nahmen
sich neues Land.
Und ward das Leben eines von
ihnen zu Ende, so gaben sie
ihn den Göttern zurück und
brachten ihn zum Tor in das
Reich der Toten und der Götter,
hoch oben im ewigen Eis.
Das Tor aber, welches die Götter
mit den Sternen schufen, welche
die Welt verwüsteten, und mit
dem Feuerstrahl, sie einst auf
die Welt brachte, war das
Tor in die Welt der Götter, in eine
andere Welt, in welche die Toten
gingen. Doch einige waren nicht
tot, da sie nur schliefen und
noch Leben in ihnen war, und
sie wurden durch das Tor gebracht,
und sie lebten hinter dem Tor,
und vermehrten sich, und schufen
sich eine eigene, neue Welt.
Da erzürnten die Götter und
versagten dieser anderen Welt
das Heil der Götterwesen.
Die Menschenwesen aber,
in jener anderen Welt, hinter
dem Tor zum Reich der Toten,
fanden Wüste, Steppe und Öde,
fanden Flor und Faun und
nahmen diese sich zum Leben.
So nährten sie rasch den Geist
der alten Götter, welcher in ihnen
ward, und sie gediehen und mehrten
sich über die Maßen und zum
Missfallen Talris und der Götter.
Sie nahmen sich ihre Welt und taten
wonach ihnen gelüstete, tagen Gutes
und taten Schlechtes gegen sich
selbst, und taten Schlechtes gegen
die Welt, die sie ihre Mutter
nannten. Je mehr ihrer wurden
und je rascher sie gediehen, so
mehr taten sie ungut an ihres
Gleichen, dass viele von ihnen
sterben mussten.
Wie lange Sebastian auf der Mauerkrone gesessen und
gelesen hatte, wusste er nicht. Er verlor das
Zeitgefühl, denn die alten Mythen der Îval fesselten
seine Gedanken. Die Geschichte als solche war eine
einfache. Doch er betrachtete den Inhalt der Zeilen mit
zumindest einem wissenschaftlichen Auge. War es möglich,
dass reisende Götter, also außerirdische Wesen es
waren, die einst den Planeten Erde zu bevölkern und zu
kultivieren begannen? War er in der Zeit zurückgereist,
in eine Epoche der Entwicklung dieser Wesen? Hatte die
Evolution der Erde an einem bestimmten Punkt einen
Anstoß von Außen bekommen, ein Samenkorn, eine Spezies,
welche Mensch wurde?
Sebastian schüttelte ungläubig den Kopf. Natürlich war
es nicht so! Schließlich hatte ihn die Wissenschaft des
einundzwanzigsten Jahrhunderts gelehrt, dass die ersten
Menschen vom Affen abstammten, welcher sich wiederum in
einer langen Evolutionsgeschichte vom Wassertier über
die Dinosaurier zum Landgänger und schließlich zum halb
aufrecht gehenden Wesen entwickelt hat.
Generationen von rationell denkenden Köpfen hatten daran
gewirkt, den Beweis zu führen, dass nicht ein alter Mann
im Himmel seine Hand erhoben hatte, um aus dem Nichts
einen Menschen zu zaubern. Nichts kam von nichts und
nichts verging einfach, ohne etwas zu hinterlassen!
Gerade als Sebastian zum gedanklichen Sprung ansetzte, zu
der spektakulären Theorie, dass gestrandete,
exterrestrische Gene und Geister womöglich Einfluss auf
die Entwicklung der Erde gehabt haben könnten, wurde es
laut zu seinen Füßen.
Mehrere Reiter passierten die Zughängebrücke. Wie das
Prasseln von Steinen bei einem Bergrutsch trommelten die
Hufe auf das Holz, bevor sie auf den Weg zum Burghof
einbogen. Bei den unteren Ställen, die Basti noch
beobachten konnte, stiegen sie von ihren Pla-ka.
Die Knechte und Vasallen übergaben den Stallburschen die
Zügel und folgten ihren Herren zu Fuß den Weg zur Burg
hinauf. An den Wachunterkünften blieben sie stehen und
sprachen aufgeregt mit den Wachsoldaten.
Sebastian platzte vor Neugier, und am liebsten wäre er
losgestürmt, um kein Wort zu verpassen, das gesprochen
wurde. Doch er war der Führer aller Heerscharen, und
jedes Verhalten, das er nach Außen trug, wirkte sich auf
die Truppe aus.
Zeigte er Hektik, oder unüberlegtes, übereiltes
Handeln, so übertrug sich dies auf die Heerlagerführer
und die Soldaten. So etwas mochte in angespannten
Situationen zu einem heillosen Durcheinander führen und
alles ins Chaos stürzen.
Ruhig und entspannt schritt Sebastian als Areos den Weg
zum Wachhaus hinauf. Die Männer drehten sich
erwartungsvoll zu ihm um und scharrten nervös mit den
Reitstiefeln im Sand. Basti zwang sich, das zu
ignorieren, und tat, als schaute er rein zufällig nur
eben mal vorbei.
Die Männer verbeugten sich und stellten sich als die von
ihm bestellten Heerlagerführer und Unterführer vor.
Ihre Soldaten trugen die Standarten, kleine Fähnchen auf
Stangen, in den Armen. Sebastian befahl ihnen, diese zu
bündeln und auf ein Pla-ka zu binden. Dann wandte er
sich an die Heerlagerführer:
»Männer, auf ein Wort, bitte dort drüben«, begann er
und lenkte sie in den Schatten zwischen Wachhaus und
Burgmauer, »Wir müssen nicht in der sengenden Sonne
reden und jene, die es nichts angeht, müssen es nicht
hören!« erklärte er.
»Ehrenwerte Führer und Unterführer meiner
Heerlager,«, begann er überschwänglich, »Es wird euch
nicht entgangen sein, dass die Hälfte unseres Volkes,
jene Îval, welche zwischen dem großen Wasser und dem
ewigen Eis leben, ein hartes Dasein fristen. Für manchen
mögen diese Îval weit weg sein. Für andere wiederum,
welche Brüder und Schwestern auf dem festen Lande haben,
mag der Blick dorthin weniger froh sein.«
Sebastian machte eine ausholende Geste über die
Burgmauer, als präsentierte er ihnen die Stadt und die
Bucht von Falméra. Dann fuhr er fort:
»Männer, niemand vermag zu sagen, wann die Wasserwagen
Torbuks in unserer schönen Bucht auftauchen, um auch die
Îval von Falméra zu unterwerfen, die Männer zu
versklaven und die Frauen und Mädchen zu schänden.«
Er ließ seine Worte eine Weile wirken, verschränkte die
Hände auf dem Rücken und lief ein paar mal auf und ab,
wie er es sich von Bental abgeguckt hatte. Unvermittelt
blieb er abrupt stehen, wirbelte herum, und fuhr die
erschrockenen Männer an, dass sie ein paar Schritte
zurückfuhren.
»Doch dass er kommt, das ist gewiss!« Etwas ruhiger
erklärte er: »Und darauf, Männer, müssen wir
vorbereitet sein! Was tut ihr, wenn er plötzlich, eines
frühen Morgens aus dem Nebel der Bucht auftaucht, und
mit seinen Truppen in die Stadt einfällt? Nun, was tut
ihr dann?«
Betreten und unsicher blickten ihn die Soldaten an,
traten verlegen von einem Fuß auf den anderen und
wussten keine Antwort. Areos nickte gewichtig, bevor er
weitersprach.
»Ihr müsst in jeder Zentare wissen, was zu tun ist, ein
jeder von euch muss im Schlaf wissen, was seine Aufgabe
ist, und wie er zu handeln hat. Und jedem eurer Soldaten
muss seine Aufgabe, aber auch der Umgang mit jeder Waffe,
sowie jeder Kampf in Fleisch und Blut übergehen. Jeder
von uns muss jederzeit das Richtige tun können, ohne
lange darüber nachdenken zu müssen! Um das zu
erreichen, werden wir, Heerlager für Heerlager Übungen,
Truppenmanöver, abhalten!« verkündete Areos.
Die Kohortenführer und Feldkommandanten blickten sich
erstaunt an, setzten protestierende Blicke auf, einige
wagten sogar laute Zweifel:
»Herr, wir wissen, dass wir kämpfen können, wir haben
es in den Kampfschulen, ja sogar in den Schlachten,
welche zurückliegen, gelernt!« begehrte einer fast
beleidigt auf.
»Ich weiß, dass ihr kämpfen könnt«, bestätigte
Areos mit fester Stimme, »ich kenne eure Erfahrung und
weiß um euren Mut, und auch dem eurer Männer, der euch
als guter Ruf vorauseilt. Doch auch Torbuks Soldaten
verstehen zu kämpfen. In vielen Überfällen auf unsere
Brüder und Schwestern im Val Mentiér haben sie es
bewiesen. Um ihnen überlegen und im Vorteil zu sein,
müssen wir uns etwas Neues einfallen lassen!«
Verwundert sahen ihn die Krieger an, die glaubten, die
besten Soldaten des Königs zu sein. Wie eine
verschworene Gemeinschaft störrischer Kinder standen sie
ihm gegenüber. Doch Sebastian ließ sich davon nicht
beeindrucken. Er hatte eine Vision, einen Gedanken, eine
Idee.
Und an diesem Ziel wollte er seine Männer bereits
gedanklich teilhaben lassen. Er wollte, dass sie selbst
diese Idee aufgriffen, und für sich selbst stolz auf
eine neue Errungenschaft waren.
»Wie bekämpft man einen Feind, welcher zahlenmäßig
weit überlegen ist, welcher ebenso gut kämpft, welcher
ebenso ausdauernd kämpft, und einem in Nichts
nachsteht?« Areos ließ eine Weile verstreichen, bevor
er seiner Frage Nachdruck verlieh.
»Nun, vermag mir keiner meiner geschätzten
Heerlagerführer und Kohortenführer eine Antwort darauf
zu geben?« Basti wartete und sah seine Männer fordernd
an. Endlich traute sich einer, vorsichtig aus dem Bann
seiner gewohnten Ansichten zu treten.
»In dem man etwas tut, das der Feind nicht erwartet,
Herr, mit dem man den Gegner überrascht?« Der Mann, ein
Krieger, dem man seine Erfahrungen im Kampf vom Gesicht
ablesen konnte, ließ die Antwort als Frage klingen. Also
war er unsicher.
Sebastian aber brauchte Krieger, die sich sicher waren,
die wussten, was sie wollten, die ihren Mann standen! Er
musste sie aufbauen! Selbst die erfahrenen Kämpfer,
jene, die bereits an der ersten großen Schlacht gegen
Torbuk teilgenommen hatten, brauchten ein neues,
verfestigtes Bewusstsein!
»Ihr habt es richtig erkannt!« lobte Areos den Mann,
dessen Größe mit seinem Stolz plötzlich um fünf
Zentimeter anwuchs.
»Ihr habt den richtigen Gedanken getroffen! Man muss den
Gegner verblüffen, ihn mit etwas überraschen, das er
nicht erwartet! Und was könnte das wohl sein?«
Sebastian ließ die frage im Raum stehen. Er wollte, dass
die Männer von selbst drauf kamen. Als niemand
antwortete, fragte er in die Runde:
»Ist einer unter euch, welcher sich den Elsirentänzen
hingibt, welcher den neuen Tanz kennt?« Unter dem
missbilligenden Blick seines Kohortenführers, trat ein
junger Krieger vor.
»Ich, Herr, ich kenne den neuen Tanz, welchen man euch
und eurer.., also wohl eurer Gefährtin anheim dünkt«,
erklärte der Mann verlegen. Offenbar war bereits in
aller Munde, dass Areos mit seiner Gefährtin tanzte,
sich offiziell aber mit der Tochter eines Oranuti-
Fürsten zeigte.
Es schien, als beging Bental mit seiner
Verkuppelungstaktik einen schweren Fehler. Das Volk nahm
es peinlich berührt auf, seinen Prinzen zwischen zwei
Frauen zu sehen. Bentals Versuche, ihn und Antarona
auseinander zu bringen, musste aufhören! Sebastian
überging das Zögern des Kriegers hinsichtlich Antaronas
und nahm bezug auf das Wesentliche.
»Nun stellt euch vor, ihr haltet bei diesem neuen Tanz
ein Schwert in euren Händen. Stellt euch vor, es wäre
ein Kampf. Wie würdet ihr diesen Kampfstil nennen
wollen?« fragte Areos.
Die ihn umstehenden Krieger blickten teils belustigt,
teils verblüfft. Den Erfahreneren sah man an, dass sie
ihren Feldherrn für völlig übergeschnappt hielten. Der
Angesprochene aber druckste herum, als wüsste er nicht,
wie er antworten sollte. Hilfesuchend sah er seinen
Heerlagerführer an. Der bedachte ihn aber nur mit einem
abwertenden Blick.
»Sagt frei heraus, was ihr dazu denkt«, forderte Areos
den jungen Mann auf, »Krieger, die mir nicht die
Wahrheit sagen, nützen mir nichts. Ich brauche Männer
um mich, die ehrlich mit mir sprechen! Also, sagt, was
ihr davon haltet!«
»Es wäre ein wilder, schneller Kampf, Herr, ein Kampf,
welcher alle Regeln des Kampfes bricht, den ein Krieger
je gelernt hat!« Sebastian schlug seine Faust in die
hole Hand und die Krieger wichen wieder ein Stück
zurück.
»Das ist es, Männer, genau das ist es!« verkündete er
laut. »Ein Kampf, welcher die bekannten Regeln bricht!
Ein Kampfstil, auf den ein Gegner nicht vorbereitet
ist!«
Einer der älteren Krieger, der bislang nur zuhörte,
nickte anerkennend. Dann trat er einen Schritt vor und
fragte:
»Herr, wenn ich das Wort erheben darf... Es gab stets
Veränderungen in der Weise, wie man den Kampf mit dem
Schwert führt. Oft waren es die ungewöhnlichen
Veränderungen, welche zu Ruhm und Ehre führten. Doch
wie wollt ihr mit dem Mannesschutz aus Metall einen solch
wilden Kampf führen? Die Rüstungen sind zu schwer, sie
bewegen sich nicht in gleicher Weise!«
»Da habt ihr wohl recht«, gab Areos zu, »doch nun
nehmt einmal an, ihr seid so schnell in euren Bewegungen,
dass ihr dem Schwert des Gegners auszuweichen vermögt,
der es ja durch seine Rüstung nur langsam führen kann.
Ihr seid schneller, als das Auge eures Feindes. So
braucht ihr keine Rüstung mehr! Denn sie schützt
ohnehin nicht vollständig!«
Die Männer sahen sich zweifelnd an, einige schüttelten
ablehnend die Köpfe. Leise murmelten sie sich etwas zu,
stellten die neue aberwitzige Idee in Frage. Wieder war
es der ältere Krieger, der den Mut hatte, das Wort zu
ergreifen.
»Verzeiht Herr, aber wenn die Kohorten dem Feind in
voller Linie entgegen gehen, werden sie völlig
ungeschützt...«
»Denkt ihr, ich habe nicht daran gedacht?« unterbrach
ihn Areos provozierend. Der Krieger wich verunsichert
zurück und wollte sich entschuldigen. Doch Areos hielt
ihn zurück.
»Nein, wartet, ihr habt ganz recht! Eure Überlegung
zeigt mir, dass ihr darüber nachdenkt, und die Sache
nicht einfach als Unsinn abtut!«
Sebastian nahm den Mann am Arm und führte ihn zu einer
Stelle, an der Sand den Boden bedeckte. Die anderen
blieben unschlüssig stehen, und er musste sie
heranwinken.
»Seht her, Männer, ich stelle mir das so vor!« Mit
einem Stöckchen glättete er den Sand und malte dann
Linien hinein. Die Männer sahen nun interessiert zu.
»Die ersten zwei Kohortenlinien tragen Rüstungen.
Weiter, als zwei Linien vermag der Feind nicht zu sehen.
Diese beiden Linien werden die stärksten Krieger der
Truppe sein, und ich werde sie Brecher nennen, denn sie
brechen die feindliche Linie auf.« Areos malte weitere,
dünnere Linien dahinter.
»Die folgenden Kohorteneinheiten werden keine Rüstung
aus Metall tragen. Sie tragen nur leichten Lederschutz.
Aber sie sind schnell, sehr schnell und wendig, sie
werden wie Blitze in das Herz der Feindlinien fahren und
ein heilloses Durcheinander herbeiführen. Der Gegner
wird nur noch ihre Schwerter blitzen sehen, und zu kaum
einer Gegenwehr fähig sein, weil er einfach viel zu
langsam ist!«
Sebastian stach mit dem Stock in die Mitte seiner
Zeichnung hinein und ließ ihn kreisen und den Sand
aufwirbeln. Dazu verkündete er mit triumphaler Stimme:
»Die Verwirrung des Feindes wird perfekt sein! Der
Gegner ist völlig aufgerieben!« Dazu durchkreuzte er
die Zeichnung mit dem Stock und warf diesen dann achtlos
auf die Feldskizze.
Die Männer sahen andächtig auf den Flecken Erde, der
ihnen soeben eine erfolgreiche Schlacht suggeriert hatte.
Sie dachten nach, Sebastian konnte direkt sehen, wie es
in ihren Köpfen arbeitete. Um sie vollständig zu
überzeugen, präsentierte er ihnen noch eine weitere
Variante.
»Und wenn der Gegner an Zahl weit überlegen ist, hilft
uns die neue Kampfesweise auch weiter!« Areos nahm
wieder den Stock auf, ebnete die Sandfläche ein weiteres
mal und begann eine neue Strategie.
»Männer, es kommt darauf an, so Aufstellung zu nehmen,
dass die gegnerische Heerschar zwischen zwei Deckungen
gerät. Wir greifen in üblicher Weise mit gerüsteten
Kohorten direkt an. Mitten in den Angriff hinein aber
stoßen von beiden Seiten die Krieger mit leichtem Schutz
und der neuen Kampfweise, sie fallen in die Flanke des
Feindes ein! Nun, was haltet ihr davon?«
Zustimmendes Gemurmel wurde laut und ringsum sah
Sebastian anerkennendes Kopfnicken. Doch ein erfahrener
Heerlagerführer dachte auch an die praktische Seite
dieser neuen Idee.
»Herr, erlaubt die Frage: Wie sollen wir unseren
Männern die neue Kampfkunst lehren? Mit Tanzen?« Die
Skepsis in seiner Stimme war kaum zu überhören.
Sebastian musste nun ein überzeugender Areos sein, um
die aufkommenden Zweifel wiederum im Keim zu ersticken.
»Genau dafür werden wir Truppenmanöver abhalten«,
kündigte Areos an, »wir werden immer nur so viele
Männer in Übungslagern halten und den neuen Kampf
lehren, dass die Heerlager immer in einsatzbereiter
Stärke bleiben. Es werden stets Teile von zwei
Heerlagern zusammen den Kampf üben.« Sebastian
erklärte den Männern, dass er das abgelegene Tal der
roten Flühen als Übungsgebiet vorsah.
»Wir müssen die Übungen nach Möglichkeit geheim
halten. Torbuk muss nicht erfahren, was seine Krieger
erwartet. Das Tal ist von niemandem bewohnt und bestens
geeignet, Kampfweisen auszuprobieren. Ein Lager wird oben
auf dem Kamm stehen, das andere auf den Felsen. Unten im
Tal werden sich die Übungsgruppen treffen und sich im
Kampf messen!«
»Wann, Herr, sinnt ihr an, damit zu beginnen?« wollte
nun einer der Kohortenführer wissen. Areos machte eine
auffordernde Geste und erklärte:
»Sobald ihr eure ersten Männer ausgewählt habt, brecht
ihr zum Tal der roten Flühen auf. Wählt nur die Besten
Krieger aus, denn sie werden im Tal bleiben und jene
unterweisen, welche nach ihnen kommen!« Der ältere
Heerlagerführer warf ein:
»Und wer soll den ersten Kriegern jenen gepriesenen
Kampf lehren, welchen sie einst beherrschen sollen?«
Sebastian tat geheimnisvoll.
»Es wird jemand sein, der ebenso, vielleicht sogar
besser mit dem Schwert umzugehen versteht, als unsere
besten Krieger!« Die Männer sahen ihn erstaunt an.
»Wer bei den Göttern soll das sein, welchen wir nicht
kennen?« wollte nun der Mann wissen, der sich bisher
zurückgehalten hatte. Sebastian sah seine Männer der
Reihe nach an und antwortete:
»Ihr werdet es sehen, wenn ihr dort seid.« Dann wendete
er sich an den Kohortenführer, der von sich behauptet
hatte, den neuen Elsirentanz zu kennen.
»Ihr werdet mich sofort in das Tal begleiten, noch
heute! Ihr werdet auch der erste sein, welcher die neue
Kampfart erlernt, und werdet hernach einer der
Lehrmeister sein!« Sein Heerlagerführer wollte
protestieren, doch Areos schnitt ihm mit einer Geste das
Wort ab und sprach:
»Ihr wisst nun, worum es geht. Ihr werdet zu euren
Lagern zurück reiten, und den Aufbruch je zweier
Kohorten mit allen Ausrüstungen vorbereiten. Es steht
euch frei, selbst mit in das Tal zu kommen, oder einen
Vertreter eurer Wahl zu entsenden. Ich erwarte in zwei
Sonnen die ersten Krieger, die sich dort einrichten
mögen, wo die Standarten stehen, welche ihr mitbrachtet.
Die Heerlagerführer richten zudem eine Versorgung der
Männer ein, entweder mit Karren, oder mit Pla-kas.
Verpflichtet meinetwegen ein paar Bauern, die sich ein
paar Quarts verdienen wollen, aber sorgt dafür, dass die
Männer im Tal alles bekommen, was sie brauchen!«
Die Führer der Heerlager schienen verunsichert und
zwischen ihrer Routine und den neuen Ideen hin und her
gerissen. Aber die Anweisung kam vom Sohn des Königs
selbst. Gewöhnlich bekamen sie solche Änderungen direkt
vom Kriegsrat Tieton, ein Umstand, der Sebastian noch
Sorgen bereitete.
Doch er war der oberste Heerführer! Und ihm oblag die
Ausbildung seiner Krieger, denn er musste sie in die
Schlacht führen, wenn es dazu kam! Mit diesem Argument
gedachte er auch König Bental zu besänftigen, sollte
dieser, angestachelt von Tieton, unliebsame Fragen
stellen.
»Wir sehen uns im Tal der roten Flühen!« schloss Areos
die Unterredung. Die Krieger wandten sich noch immer
etwas verunsichert zum Gehen und nur der junge
Kohortenführer blieb.
»Wie ist euer Name?« fragte ihn Basti. »Ich muss euch
ja anreden können, nicht wahr?« Der Junge antwortete
selbstsicher:
»Thorbald, Herr, mein Name ist Thorbald, Sohn des
Ehrhold von Schwarzstein aus dem Angertal!« Sebastian
nickte wohlwollend und sagte:
»Nun, dann werdet ihr ja nicht weit von eurer
Kindesstatt sein, Thorbald von Schwarzstein. Ihr geht
jetzt zum Zeugmeister und besorgt euch alles, was ihr
für ein Lager braucht. Sagt dem Mann, dass ihr von mir
gesandt seid. Packt alles auf ein Pla-ka und wartet dann
hier. Wir brechen in zwei Zentaren auf!«
Nachdem Thorbald gegangen war, begab sich Sebastian
wieder zum Stallmeister, der inzwischen die Pla-ka
aufgezäumt und außerhalb des Stalls angebunden hatte.
Er klopfte seinem Pla-ka sanft auf den Hals und das Tier
begrüßte ihn mit einem freundlichen Schnauben.
»Warum nennt ihr ihn eigentlich nie bei seinem Namen?«
erklang eine wohlbekannte Stimme hinter ihm. Antarona war
scheinbar aus dem Nichts aufgetaucht.
Sie stand in ihrem abgetragenen, eingerissenen
Lederschurz und dem geflickten, kaum etwas bedeckenden
Oberteil vor ihm. Beinahe nackt, glich sie eher einer
wilden ungezähmten Indianerin, als einer Königstochter,
eben so, wie Sebastian sie vor einigen Monden am See
kennengelernt hatte. Ein verwildertes Naturkind mit der
Anmut einer Prinzessin!
Das Haar trug sie offen, lediglich die goldene
Elsirenkrone bändigte ihre Strähnen und dünnen Zöpfe
etwas. Die eingeflochtenen Federn mit den bunten
Perlenschnüren, die sie in ihre Mähne eingebunden
hatte, bewegten sich im Wind. Sebastian sah sie
fasziniert an.
»Kennst du denn seinen Namen?« fragte er verwundert.
»Ich wusste nämlich gar nicht, dass er überhaupt einen
Namen hat«, gab er zu.
»Tariste ist sein Name«, klärte sie ihn triumphierend
auf. Er merkte deutlich, wie überlegen sie sich dabei
fühlte.
»Ach, und woher willst du das wissen?« fragte er
skeptisch. Antarona wies mit einem Nicken die Straße
hinunter zu den unteren Ställen und erklärte ihm:
»Tobyn, der Sohn des Stallmeisters hat es Sonnenherz
verraten. Er hat ihr außerdem verraten, dass Tariste ein
besonderes Gespür für Eishunde besitzt. Er vermag sie
über weite Entfernungen zu wittern. Er beginnt mit dem
Kopf im Kreis zu drehen, wenn Eishunde in der Nähe
sind.«
Die Fäuste in die Hüfte gestemmt, sah Sebastian sein
Krähenmädchen missbilligend, beinahe vorwurfsvoll an
und fragte mit einer guten Portion Ironie gewürzt:
»Was hat er dir denn noch alles so verraten, der Tobyn?
Ihr scheint euch ja ziemlich lange ausgetauscht zu haben!
Da wäre ich ja auch nicht abgeneigt gewesen, in deinem
Aufzug!« Antarona wusste mit seinen Worten und seinem
Tonfall nicht viel anzufangen.
Und je mehr sie ihre Naivität zur Schau trug, die sie
sich in den weiten Wäldern Val Mentiérs zueigen gemacht
hatte, desto sarkastische wurde Sebastian. Seine
Eifersucht nahm ungeahnte Ausmaße an. Er konnte sich
noch gut daran erinnern, wie Tobyn sie das letzte Mal
angesehen hatte, als er sie in seinen Stall führte.
Unweigerlich musste er an den Vater denken, der noch vor
ein paar Zentaren im Heu seines Stalls eines der
Waschweiber verführt hatte. Und die war bis zum Hals in
Kleider geschnürt! Ein dünnes Lederbändchen war das
einzige, das ein Stückchen zerfranstes Leder auf
Antaronas süßester Stelle hielt. Er schüttelte heftig
seinen Kopf.
Wenn er weiter darüber nachdachte, würde er
durchdrehen! Doch der Gedanke, die zehrende Angst,
Antarona je wieder verlieren zu können, die
Möglichkeit, sie könnte sich einem anderen Mann
zuwenden, bohrte sich wie ein glühendes Schwert in
seinen Bauch. Ein elendes Gefühl durchfuhr ihn und
Schwindel wollte sich seiner bemächtigen.
Jeder Mann konnte ihre Reize erblicken, welche sie sich
nicht einmal die Mühe machte, sie zu verbergen.
Sebastian ergötzte sich gern an ihrem Anblick, gerade,
wenn sie die Alltagskleidung der Mädchen des Val
Mentiér trug. Doch er wollte nicht, dass ein anderer sie
so sah. Sie trug seine Tochter unter ihrem Herzen, und er
wollte weder Mutter, noch Tochter verlieren. Krampfhaft
versuchte er sein höchstes Glück festzuhalten.
Wenn er nicht acht gab, dann verrannte er sich in den
Wahnsinn, seine Frau vor aller Welt verstecken zu wollen.
Aber gerade dadurch würde er sie verlieren! Bental hatte
ihm das beste Beispiel geliefert. Die schönste,
wunderbarste und fantastischste Frau dieser Welt teilte
ihre Felle mit ihm, etwas, um das ihn jeder Mann
beneidete, und gerade das wurde ihm zur Qual, zur
ständigen Last seines Herzens.
Natürlich wusste er, dass die Îval eher ehrenvoll und
konservativ in Bezug auf Treue waren. Allein die Tänze
an den Elsirenfeuern zeigten dies. Aber wurde nicht doch
einmal eine Frau schwach, wenn sie sich von ihrem Mann
vernachlässigt fühlte, ließ sich ein Mann nicht doch
einmal auf eine süße, verführerische Tänzerin ein,
die ihm schöne Augen machte, wenn er sich von seiner
Frau unverstanden fühlte?
Diese Welt war in dieser Hinsicht gewiss besser, als
seine eigene. Aber Heilige waren ihre Bewohner deshalb
noch lange nicht! Ein Mann sollte immer acht geben, wenn
sich seine Frau mit dem Nachbarn nur allzu gut verstand.
Dieser Nachbar war Tobyn! Vielleicht auch noch Thorbald?
Insgeheim schalt sich Sebastian für seinen Eifer. Er
wollte, dass Antarona die ersten der jungen Soldaten in
der neuen Kampftechnik ausbildete. Nun hatte er Angst
davor. Was, wenn ihr Herz einem dieser stattlichen
Krieger verfiel? Es waren zweifelsohne Männer unter
ihnen, die ein Frauenherz zum Schmelzen bringen konnte.
Dass die Krieger, die in den Lagern nur ab und an eine
schöne Frau zu Gesicht bekamen, ihren Fokus auf Antarona
fixieren würden, war klar. Basti mochte sich plötzlich
selbst in den Hintern treten, die ganze Sache so
unbedacht eingefädelt zu haben.
Dabei ahnte Antarona ja noch nicht einmal etwas davon.
Sie nahm an, sie beide würden allein in das Tal reiten,
um ein par schöne Tage dort zu verbringen. Freilich
hatte Basti ihr von seinen Plänen erzählt, jedoch
nicht, dass sie ein Teil davon war! Plötzlich fühlte er
sich schlechter, als nur unwohl. Und desto mehr fragte er
sich, wie lange sie mit Tobyn allein war.
»Seit wann bist du denn schon zur Reise fertig?« fragte
er bewusst hinterlistig. Antarona zuckte unbekümmert mit
den Schultern und gestand ihm:
»Sonnenherz sah euch auf der Mauer in die Seiten eurer
gefesselten Pergamente geflüchtet. Sie wollte euch nicht
stören!« Sebastian stierte sie fassungslos an. Die
ganze Zeit, in der er seine Männer unterwiesen hatte,
war seine leicht bekleidete Frau bei diesem Stallknecht
gewesen, der ein lauerndes, begehrendes Auge auf sie
geworfen hatte?
»Warum bist du dann nicht gleich zurückgekommen?«
wollte er nun wissen, doch sein Ton entglitt ihm zu einem
hörbaren Vorwurf.
Das hätte er besser gelassen! Antarona mochte eine
kindliche Naivität besitzen, doch sie war nicht dumm.
Sie spürte genau, wann etwas Negatives in der Luft lag.
Ihre Augen bekamen ein Glitzern und Funkeln, als sie ihm
knapp und kalt antwortete:
»Ihr wart ja beschäftigt! Und Tobyn weiß viel über
die Pla-ka, und er teilte sein Wissen gern mit
Sonnenherz!« Das saß!
Sebastian lief erst rot an, wurde dann leichenblass, und
ihm war hundeelend zumute. Er kochte innerlich vor
Eifersucht!
»Dann habt ihr euch wohl über die Fortpflanzung von
Pla-kas unterhalten, was? Oder hat er dir auch noch
gezeigt, wie sie das tun?« gab er stichelnd zurück, und
in seiner Welt hätte die Frage, an eine Frau gerichtet,
eine Katastrophe ausgelöst.
Glücklicherweise war Antarona eine Prinzessin. Sie war
kindlich geblieben, doch sie besaß mehr als andere
Menschenwesen ein Gespür für andere Seelen. Und sie
verstand sich notfalls auch auf Diplomatie. Sie fühlte
Sebastians Eifersucht; sie wollte diese nicht noch weiter
schüren, wollte aber ihren Mann, der ihr versteckt den
Gedanken an Untreue vorwarf, auch nicht ohne einen
Denkzettel davonkommen lassen.
Sie wandte sich von ihm ab, zurrte scheinbar angestrengt
an den Zügeln ihres Pla-ka herum und gab ihm schnippisch
zu verstehen:
»Tobyn vermag so zu erzählen, wie es sich eine jede
Frau wünscht. Er vermag die Seele einer Frau zu
berühren, sie mit schönen Dingen zu füllen, ob Magd,
Dienerin, oder...«
»Oder Kriegerin und Prinzessin, nicht wahr, das wolltest
du doch sagen, oder nicht?« unterbrach er sie mit kaum
mehr zu bändigender Aufregung. Sebastian schnappte nach
Luft und schmerzender Zorn stieg in seinem Herzen hoch.
»Möchtest du dich vielleicht lieber zu seinen
Erzählstunden ins Heu legen, anstatt mit mir in unser
Tal zu reiten, das ich einem Oranuti- Fürsten mit List
und Mühe abzuringen versuche, für uns, für unser
Töchterchen, für unser Leben?« Er machte seiner Angst,
seiner Enttäuschung, seiner ganzen Anspannung Luft, und
beinahe traten ihm Tränen in die Augen.
Antarona stützte die Hände in die Taille und drehte
sich mit gespielt verwundertem Blick um. Insgeheim aber
triumphierte sie. Wie leicht es doch war, einfältige
Männer in Rage zu bringen! Ihr Ba - shtie, ihr Mann mit
den Zeichen der Götter, selbst er machte da keine
Ausnahme.
»Ba - shtie«, fragte sie ihn mit ermahnendem, aber auch
etwas enttäuschtem Ton, »glaubt ihr, Sonnenherz weiß
nicht, zu welchem Mann ihr Herz gehört?«
Unverständlich über sein Gebaren schüttelte sie
langsam den Kopf und lächelte überlegen.
Sebastian hingegen war sich darüber im Klaren, dass er
immer noch einen handfesten Streit zwischen ihnen
auszulösen vermochte, wenn er sich in diesem winzigen
Augenblick falsch verhielt. Krampfhaft überlegte er, wie
er Antaronas Stimmung wieder für sich gewinnen konnte.
Blitzschnell sprang er vor. Antarona rechnete nicht damit
und er schnappte rasch zu. Seine Hand umklammerte
gnadenlos ihr Handgelenk, und er zog das sich nach
Kräften sträubende Krähenmädchen durch den Staub
hinter den Stall.
Ihre Augen flammten auf und wie eine wild gewordene Katze
fuhr sie ihre Krallen aus. Doch zu spät! Sebastian
packte ihre Oberschenkel kurz unter ihrem Po und hob sie
hoch. Ihre Beine schlangen sich Halt suchend wie
automatisch um seine Lenden und mit sanfter Gewalt
drückte er seine völlig überrumpelte Frau gegen die
Wand des Stalls.
Als er seine Lippen auf ihren zum Protest geöffneten
Mund drückte, entglitt ihr die innere Anspannung, sie
legte ihre Arme um seinen Hals und ließ sich einfach
fallen. Wie leicht störrische Frauen doch zu bändigen
waren, wenn man es richtig anfing, dachte Basti. Seine
kleine Kratzbürste machte da keine Ausnahme, wie er
zufrieden feststellte.
Weich wie Wachs schmiegte sie sich plötzlich an ihn, und
erwiderte seine fordernden Küsse, bis sie mit
verklärten Augen nach Atemluft rang, und sich ihre
Brüste bis zum Bersten hoben und senkten. Basti ließ
sie wieder auf die Füße gleiten, nahm ihren kleinen
Kopf in seine Hände und sah ihr tief in die Augen.
»Damit du auch wirklich ganz genau weißt, zu welchem
Mann dein Herz gehört!« erklärte er ihr mit gespielter
Drohung. Antarona lächelte süß und säuselte ihm ins
Ohr:
»Ba - shtie! Sonnenherz hat zu keiner Zentare vergessen,
mit welchem Herz das ihre verbunden ist! Wie vermöchte
sie auch, da ein kleines Herz bereits unter ihrem
wohnt?« Sie zog sich noch fester an ihn und verbarg
Schutz suchend ihren Kopf an seiner Schulter. Ein
leichtes Zittern fuhr durch ihren Leib und Sebastian
interpretierte das mit Glückseeligkeit.
Kurz darauf, mit erleichtertem Herzen und befreiter
Seele, kehrten sie zu ihren Pla-ka an der Vorderseite des
Stalls zurück. Dort wartete bereits Thorbald auf sie.
Erwartungsvoll stand er da, groß, stattlich, seine
beiden Pla-ka am Zügel haltend.
Als er Antarona sah, sackte sein Kiefer unkontrolliert
nach unten, eine verborgene Geste, die Sebastian aber
keinesfalls entging. Antarona indes himmelte nur ihren Ba
- shtie an, was ein verstohlener Seitenblick rasch
klärte. Es brauchte eine Weile, bis das Krähenmädchen
begriff, dass der junge Krieger nicht zufällig vor dem
Stall stand. Zu sehr war sie noch von Sebastians
spontaner Reaktion ergriffen.
Doch dann sah sie den Kohortenführer von oben bis unten
an und ihre Augen verfinsterten sich zusehens. Irgendwie
ahnte sie, dass der Mann eine Störung ihrer Zweisamkeit
bedeutete.
»Was macht der da?« fragte sie Basti und taxierte den
unschuldig dreinschauenden Mann mit ihrem durchdringenden
Blick, der einem das Fürchten lehren konnte, wenn ihre
Stimmung kippte.
»Ach ja«, erklärte Basti kleinlaut, »das vergaß ich
dir zu erzählen. Das ist Thorbald, er wird uns in das
Tal der roten Flühen begleiten. Allerdings wird er nicht
mit uns...« Weiter kam er nicht. Antaronas Augen
sprühten Funken und Flammen, und Sebastian wusste, dass
es nun besser war, in Deckung zu gehen.
»Wieso begleitet er uns? Sonnenherz dachte, ihr wolltet
mit ihr allein in unserem Tal sein!« fuhr sie ihn in
einer Mischung aus Zorn und Enttäuschung an. Dabei legte
sie eine besondere Betonung auf unser Tal. Sebastian
versuchte ihre zur Schau getragene Entrüstung etwas
abzuschwächen und entschuldigte sich:
»Aber mein Engelchen, du weißt doch, ich hatte dir
davon erzählt, was ich vorhabe. Und ehrlich gesagt,
hatte ich gehofft, dass du Thorbald in deiner Kampfkunst
unterweist, damit er jene, die nach ihm kommen...«
»Waaas, da kommen noch mehr von seiner Sorte hin?«
unterbrach sie ihn abermals. »Ba - shtie - laug - nids,
Mann von den Göttern! Wann hattet ihr eigentlich vor,
Sonnenherz in eure Pläne einzuweihen?« fragte sie
gefährlich lauernd.
»Nun, ich dachte, das hatte ich bereits, mein
Engelchen«, verteidigte er sich. Doch Antarona ließ das
nicht gelten.
»Ja, das hattet ihr, Herr Areos von Falméra!« gab sie
wutschnaubend zu. »Doch Sonnenherz dachte nicht im Traum
daran, dass es jetzt sein würde, wo ihr mit ihr zu jenem
Tal aufbrechen wollt, das ihr einem Oranuti- Fürsten mit
List und Mühe abzuringen versucht, für uns, für unser
Töchterchen, für unser Leben! Sonnenherz hatte
geglaubt, ihr wolltet mit ihr dort allein sein, mit ihr
jagen, mit ihr Träumen, wie es einmal werden soll, mit
ihr Liebe machen!« Sie geriet in einen wahren Taumel des
Zorns, der den jungen Krieger sichtlich einschüchterte.
Vorsichtig fragte der:
»Soll ich vielleicht am Tor warten, Herr? Ich könnte
eure Pla-ka bereits mitnehmen und...« Antarona
unterbrach auch ihn:
»Ihr haltet euch gefälligst da raus, wer seid ihr
überhaupt, dass ihr es wagt, euch in die Dinge des Areos
von Falméra einzumischen?« Freilich ließ sie ihn erst
gar nicht zu einer Antwort ansetzen, sondern wandte sich
augenblicklich wieder an Sebastian.
Wie ein entfesselter Orkan raste sie auf ihn zu.
Klammerte sich mit glühenden Augen kurz an ihn, küsste
ihn energisch, fordernd, stieß sich dann aber sofort
wieder von ihm ab. Mit wild wehenden Haaren fauchte sie
ihn an:
»Und ihr, der in unnötiger, alberner Eifersucht
vergeht, hört mir genau zu! Sonnenherz weiß sehr wohl,
zu welchem Mann ihr Herz gehört! Aber vielleicht sollte
sich euer En-gel-sen zur Abwechslung einmal zu Tobyns
Erzählstunden ins Heu legen, anstatt mit euch in das Tal
zu reiten, das ihr einem Oranuti- Fürsten mit List und
Mühe abzuringen versucht, für uns, für unser
Töchterchen, für unser Leben, was? Nur damit auch ihr
einmal begreift, wohin euer Herz gehört!« Deutlicher
ging es nicht!
Damit drehte sie sich auf der Ferse um, nahm Anlauf und
sprang ihrem Pla-ka aus dem Lauf heraus so heftig auf den
Rücken, dass sich ihr Lederschurz über ihren Bauch
schob und ihre Blöße preisgab. Doch sie achtete nicht
darauf, sondern hieb ihrem verstörten Reittier die
nackten Fersen in die Seite, so dass es mit einem
heiseren Wiehern hochfuhr und im nächsten Moment auf und
davon stob.
Einer rasenden Furie gleich, ließ Antarona ein
langgezogenes, schrilles Yiiheeehaaah erklingen,
galoppierte die Straße hinunter, zog eine mächtige
Staubfahne hinter sich her und hielt zu Bastis
Erleichterung auch vor Tobyns Stall nicht an. Kaum dass
ihr Pla-ka die Kurve bekam, ohne zu stürzen.
Kopfschüttelnd sahen ihr die Leute nach, die auf dem Weg
zur Burg waren. Wie ein wild gewordener Teufel preschte
sie ohne Rücksicht zwischen ihnen hindurch.
Als sich der Staub lichtete, zog Thorbald seine
Augenbrauen hoch, schüttelte den Kopf, als hätte er
einen Geist gesehen und sagte erstaunt und ehrfürchtig
zugleich:
»Bei den Göttern, was für ein Weib!« Sebastian ging
zu ihm hinüber, sah der Staubfahne nach und bestätigte,
mehr für sich selbst:
»Ja, was für ein Weib, was für eine wunderbare Frau!«
Dann sah er Thorbald an, legte ihm freundschaftlich seine
Hand auf den Arm und sagte:
»Tja, mein junger Freund, gewöhnt euch schon mal daran.
Lernt die Liebe kennen, lasst euch auf ein zartes,
luftiges Wölkchen ein, und ihr erlebt regelmäßig ein
dickes, heftiges Ungewitter!« Thorbalds Blick spiegelte
Verständnislosigkeit wieder und Sebastian fügte leicht
schwärmerisch hinzu:
»Was für eine Frau, ja, was für eine faszinierende,
wunderbar erfrischende Frau...« Deutlicher fuhr er fort:
»Meine Frau, mein junger Krieger, merkt euch das gut:
Meine Frau! Ich gebe euch einen guten Rat: Ihr bekommt
von mir ein eigenes Heerlager, wenn ihr dafür bereit
seid. Aber rührt ihr sie jemals an, oder denkt nur
darüber nach, dann lasse ich euch im tiefsten Kerker
Falméras verrotten, bis ihr schwarz und verschrumpelt
seid!« Damit klopfte er dem Mann nachdrücklich auf die
Schulter und forderte:
»Lasst uns aufbrechen, wir haben schon genug Zentaren
vertan.« Er stieg auf seinen Pla-ka, nahm die Zügel der
Packtiere und spornte sein Reittier an.
»Los, Tariste, wollen doch mal sehen, ob wir die kleine,
verrückte Hexe nicht wieder einfangen können, was?«
Wie die Karawane eines Feldzuges schritten sie die
Straße hinunter, an Tobyns Stall vorbei und aus dem Tor
hinaus dem Bergwald jenseits der Burg entgegen.
Zunächst ging es über die Brücke bei der Burg, und den
Weg entlang, der irgendwann in den östlichen Teil
Falméras hinab führte. Kaum in den Wald gelangt,
führte aber ein Weg durch steilen Bergwald hinauf zum
Plateau. So ausgesetzt verlief dieser Pfad teilweise
über Felsgalerien, dass er ein mutiges Wagnis für
Mensch und Tier darstellte.
Allein mit seinem Reittier hatte einer seine Mühe,
unbeschadet hinauf zu kommen. Sebastian und Thorbald aber
führten noch die Packtiere, die bereits beim kleinsten
Hindernis nervös hin und her tänzelten. Ein falscher
Tritt und die Reise ging hinab bis in den Flutgraben der
Burg!
An der gefährlichsten und steilsten Stelle stiegen die
beiden Männer ab, banden die Pla-ka an die Bäume und
führten sie einzeln hinauf, wo sie die Tiere wiederum
anbinden mussten, bis sie alle oben hatten.
»Jetzt weiß ich auch, warum Pferde in dieser Welt
Pla-ka heißen«, murmelte Sebastian fluchend vor sich
hin, »ist ja kein Wunder, bei der Plackerei, die man mit
diesen Viechern hat!« Doch alles Hadern und Zetern
nützte nichts, die Tiere mussten nun einmal hinauf, und
ein anderer Weg war Sebastian nicht bekannt.
Er bezweifelte auch, dass es von der anderen Seite her,
von der Küste und vom Angertal leichter gegangen wäre.
Thorbald, der im Angertal aufgewachsen war, bestätigte:
»Es ist nicht so steil, wie hier, Herr, doch die tiefe
Schlucht versperrt den Weg. Es führt nur eine breite
Hängebrücke hinüber, die schon für einzelne Reiter
eine Herausforderung ist. Tritt ein Pla-ka durch die
eingebundenen Planken, so ist dem Tier kaum mehr zu
helfen.«
Um so mehr wunderte sich Basti über Thorbalds Aussage,
da doch Fürst Jamálin gedachte, den Küstenabschnitt
hinter dem Angertal von jenseits der Schlucht aus
kontrollieren zu wollen. Hatte der vorgehabt, eine
massive Brücke zu bauen, oder führte der noch etwas
ganz anderes im Schilde?
Zeit, darüber nachzudenken blieb Basti nicht. Er und
sein Kohortenführer mussten sich voll auf den steilen,
von Steinen und Baumwurzeln durchsetzten Weg
konzentrieren. Nach drei Stunden schweißtreibender
Arbeit standen sie beinahe mit allen Pla-ka oben. Ein
letzter hang war noch zu bewältigen.
Außer, dass ein Pla-ka einen Teil seiner Last verloren
hatte, waren keine Verluste zu beklagen. Ein par
Fahnenstangen hatten sich aus dem gelockerten Bündel
gelöst, und waren mit wohlklingendem Geklapper über die
Klippen in die Tiefe gesprungen.
Von Antarona war auch hier oben keine Spur zu sehen. Als
hätte sie die Erde verschluckt, sie war einfach
verschwunden. Hatte sie überhaupt noch vor, in das Tal
der roten Flühen zu reiten? Möglicherweise war sie nach
Falméra geritten, hatte sich in ihrem Haus verborgen und
feierte am Abend an den Elsirenfeuern.
Wieder stieg diese Eifersucht in ihm hoch. Der Gedanke,
sie würde die ganze Nacht mit fremden Kerlen tanzen und
Mestas trinken, machte ihn verrückt. Konnte er wissen,
wie Mestas, Enttäuschung und Frustration, sowie
vielleicht ein attraktiver Mann auf sein Krähenmädchen
wirkte? Gab sie mitunter doch der Verlockung einer
aufregenden Nacht nach? Vergaß sie vielleicht doch, zu
welchem Mann ihr Herz gehörte? Sebastian war auf einem
Mal nicht mehr ganz bei der Sache.
»Herr, Habt ihr das gehört?« fragte Thorbald
plötzlich. Sebastian hielt seinen Pla-ka an und
lauschte. Außer den typischen Geräuschen des Waldes war
nichts zu hören.
»Was meint ihr?« wollte Basti wissen und spitzte weiter
die Ohren. Thorbald drehte seinen Kopf in den Wind und
horchte ebenfalls. Nichts!
»Es klang, als würden Schwerter aufeinander treffen,
Herr. Weit entfernt.« Sebastian bezweifelte, dass sein
Begleiter tatsächlich gehört hatte, was er glaubte.
Ständig klapperte irgendein Gegenstand, wenn die Lasten
auf den Rücken der Pla-ka verrutschten, oder die Tiere
heftige Bewegungen machten. Gerade wollte er sein Tier
wieder antreiben, als Thorbald ihn aufhielt:
»Da ist es wieder, Herr, hört ihr nicht?« Sebastian
drehte den Kopf und nun vernahm er es auch. Es kam von
dort, wo er die Felsen nahe des Plateaus vermutete. Ein
weit entfernter Klang, als würden Blechnäpfe
gegeneinander geschlagen.
Da Blechnäpfe nicht einfach in der Gegend herumtanzten
und sich gegenseitig ansprangen, blieb nur eine
Interpretation: Dort wurde gekämpft! Sofort fiel ihm
Antarona ein. Wenn sie nun voraus geritten war, und in
ihrer Wahrnehmung getrübt von ihrem Zorn, in einen
Hinterhalt geraten war? Sebastian übergab Thorbald die
Zügel seiner Lasttiere und schärfte ihm ein:
»Ihr bleibt bei den Pla-kas, ich werde mir die Sache mal
genauer ansehen. Folgt einfach nur weiter dem Pfad, ich
werde euch dann schon finden. Und lasst mir die Tiere
nicht aus den Augen! Die Götter sollen euch zu sich
holen, wenn ihr auch nur einen der Pla-ka verliert!«
Anschließend hieb er Tariste die Fersen in die Seite. Er
trieb den Hengst rücksichtslos weiter den Pfad hinauf.
Dabei ahnte er nichts Gutes. Der Pla-ka stolperte ein par
Mal, doch darauf konnte Sebastian keine Zeit verwenden.
Wenn Antarona in Schwierigkeiten war, zählte jede
Sekunde!
Je höher er gelangte, desto lauter und deutlicher wurden
die Kampfgeräusche. Mittlerweile glaubte er
herauszuhören, dass es sich nicht um viele, sondern nur
um einige wenige Waffen handelte, die da aufeinander
einschlugen.
Tariste schnaufte über Stock und Stein den Berg hinauf,
und Basti hatte Mühe, nicht von seinem Rücken zu
rutschen. Als er endlich den Waldrand, und die Kante des
Plateaus erreicht hatte, schien der Wind den Kampflärm
aus nächster Nähe herüberzuwehen.
Vorsichtig lenkte er Tariste durch unwegsames Dickicht
und vereinzelt stehende Bäume. Das Gelände kam ihm
bekannt vor. An dieser Stelle war er schon einmal! Er
befand sich unweit der Felsen, an denen Antarona und er
vor einigen Zentaren Medunzia und zwei fremde Männer
beobachtet hatten.
Vorsichtshalber stieg er von seinem Pla-ka, zog seinen
Bogen auf und legte einen Pfeil an die Sehne. Mit leicht
gespannter Waffe schlich er weiter. Das matte Klirren der
Schwerter hatte inzwischen aufgehört. Machten die Gegner
eine Pause, oder war die ganze Situation weit weniger
dramatisch? War er nur von ein par trainierenden Kriegern
angelockt worden?
Die nächsten Schritte führten ihn um einen riesigen
Granitblock herum. Erschrocken fuhr Sebastian zurück.
Unverhofft bot sich ihm ein Bild des Grauens. Ein Krieger
in schwarzem Waffenrock stak leblos an einem kräftigen,
spitzen Ast, der in Brusthöhe von einem Baum abstand.
Weit aufgerissene, leblose Augen starrten ihn an. Ein
Pfeil steckte in seiner Schulter und eine Streitaxt lag
im Blut befleckten Gras daneben.
Offenbar war der Mann rückwärts gestolpert und hatte
sich selbst aufgespießt. Der Ast war ihm in den Rücken
eingedrungen und am Brustbein wieder ausgetreten. Der
Mann musste einen qualvollen Tod gestorben sein!
Sebastian fluchte still vor sich hin, und fragte sich, in
was für eine miese Geschichte er gestolpert war.
Durch niedriges Fichtengehölz kämpfte er sich eilig
weiter, Zweige schlugen ihm ins Gesicht und einmal wäre
er beinahe gestürzt. Er vermutete eine Wurzel, und als
er sich kurz umdrehte, sah er einen weiteren Krieger am
Blut durchtränkten Boden liegen. In seiner linken
Brusthälfte, zwischen Hals und Schulter, sowie in seinem
Bauch klafften hässliche Wunden. Außerdem wurden ihm
die Kniegelenke mit einem heftigen Hieb durchschnitten.
In was für ein Schlachtfeld war er hier nur geraten?
Schockiert wandte er sich um. Doch ein par Schritte
weiter, jenseits des Granitblocks fand er einen weiteren
Krieger. Auch ihm waren die Kniekehlen durchschlagen
worden und sein Kopf lag zerschmettert am Felsen. Ein
Stück weiter, vor einem Gebüsch, standen zwei Pla-ka
wie im tiefsten Frieden und zupften an den Blättern
herum. Plötzlich verlor Sebastian jegliche Farbe und
wurde leichenblass!
Einer der Pla-ka gehörte Antarona! Sein Fell war
blutverschmiert und Sebastian befürchtete nun das
Allerschlimmste. Aber er wagte nicht sie zu rufen, denn
er wusste erstens nicht, was geschehen war, und zum
anderen konnte er nicht abschätzen, mit wie vielen
Gegnern er es noch zu tun haben würde. In diesem Moment
hörte er Stimmen!
Es waren Männerstimmen, die hinter ein par eng stehenden
Bäumen hervordrangen. Geduckt und in schnellem Schritt
pirschte sich Basti heran, schob sich durch das Unterholz
und geriet mächtig ins Schwitzen, als sich sein Bogen in
den Zweigen der Büsche verfing.
»Wir teilen uns die kleine Mistkröte, und dann machen
wir sie alle!« hörte Sebastian eine fiese Stimme sagen.
Dann vernahm er den donnernden Bass eines zweiten Mannes:
»Los, nagel ihr die Füße am Boden fest, die
tritt mir sonst noch ein Auge aus! Mach schon, und dann
halt ihre Arme!« Geräuschlos bog Sebastian die Zweige
auseinander, die ihm noch die Sicht nahmen. Einen
Augenblick später blieb ihm fast das Herz stehen!
Antarona lag am Boden und versuchte sich verzweifelt zu
wehren. Doch ein Riese von Mann hielt mit seinen
tellergroßen Händen ihre Beine so weit gespreizt, wie
es ihm seine Arme erlaubten und drückte ihre Fußgelenke
gnadenlos fest auf die Erde. Dabei lachte er heiser und
hämisch, während der andere, ein mittelgroßer,
schlanker Kerl mit blondem Schopf, versuchte, Antaronas
Handgelenke mit einem Seil festzubinden. Ihr Lederschurz
war ihr über den Bauch nach oben gerutscht und ihre
langen Haare hatten sich hoffnungslos in den Flechten am
Boden verfangen.
Doch Antarona bog ihren Körper durch, bäumte sich immer
wieder auf und warf wie wild den Kopf hin und her. Sie
fauchte ihren Peiniger mit den unnatürlichen Lauten
eines kämpfenden Tieres an, und der hatte Mühe, ihre
Hände im Griff zu behalten. Fluchend riss er ihr brutal
die Arme nach hinten und schnauzte sie an:
»Jetzt reichts aber, zier dich nicht so, du
hinterlistige, kleine Schlange, es nützt dir doch
nichts. Halt endlich still, dann hast dus bald
hinter dich gebracht!«
Antarona sackte stöhnend zusammen. Der Schmerz, als der
Mann ihr die Arme nach hinten zog, musste viehisch
gewesen sein. Mit roher Gewalt zog er das Seil um ihre
Handgelenke zusammen, und schlug es dann mit einem
Holzpflock über ihrem Kopf am Boden fest.
»Jetzt kann sie dir nicht mehr gefährlich werden«,
verkündete er seinem Kumpanen lachend, »musst nur noch
ihre wild gewordenen Füße bändigen, dann kannst du
deinen Spaß mit ihr haben!« Sebastian spannte
konzentriert den Bogen, wie er es von Antarona gelernt
hatte.
»Nun halt doch endlich ihre Beine fest, sonst
krieg ich die nie in Griff! Die zappelt ja wie ein
abgestochener Wasel«, schalt der Riese den Blondschopf.
Doch in dieser Sekunde erwischte Antaronas Ferse sein
Kinn. Es gab ein hässliches, knackendes Geräusch, der
Große heulte wütend auf und fasste sich mit beiden
Händen vors Gesicht.
Sebastian nahm sein Ziel auf. Abgrundtiefer Hass, Wut und
eiskalter Tötungswille ließen ihn ruhig, bedächtig ein
und ausatmen.
Antarona nutzte die Chance, als der Hüne kurz ihre
Füße los ließ, und versuchte sich zu drehen. Doch
schon packte der andere Mann zu, zwang ihre Oberschenkel
mit brachialer Gewalt zu Boden und brach ihr dabei fast
die Knie.
»Los, jammere hier nicht groß rum, mach sie jetzt
endlich fügsam, oder soll ich es ihr besorgen?« spornte
er den ersten spöttisch an. Der schloss seine mächtigen
Pranken wieder um Antaronas Fußgelenke, beugte sich
über sie und jaulte immer noch unter Schmerzen:
»Dich mach ich jetzt richtig weich, du Wildkatze!
Und dann spieße ich dich hochkant auf einen Baumstamm,
wie du es mit meinem Freund...«
Sebastian spürte die richtige Spannung, atmete ruhig aus
und ließ den Schaft aus seinen Fingern gleiten. Ein
leises Sirren, wie von einer Biene, erfüllte die Luft
und plötzlich versteifte sich der Mann, der sich gerade
auf sein hilfloses Opfer werfen wollte.
»Was ist los?« lachte der Blonde übermütig, als er
seinen Freund ansah, der wie von unsichtbarer Macht
gehalten, mitten in der Bewegung verhielt. »Hast du
schon genug von der kleinen Kröte, oder bekommst du
keinen hoch?«
Ein hohnvoller Spott übergoss den Riesen, der sich
krampfhaft, wie unter einem Bandscheibenvorfall
aufzurichten versuchte. Er rang stockend und japsend nach
Luft.
Sebastian erfasste bereits sein neues Ziel und spannte
den Bogen. Noch drei Atemzüge! Die Finger schmerzten.
Aber der Pfeil musste genau sitzen!
Entsetzt starrte der hellhaarige seinen Kumpanen an, aus
dessen Mund plötzlich Blut floss, dass langsam auf
Antaronas nackten Bauch tropfte. Der Pfeil war mit voller
Wucht von hinten eingedrungen und hatte dessen Lunge
durchschlagen!
Ausatmen! Basti zog eine hässliche Fratze, als er den
Schaft los ließ. Wieder das Sirren, das der Blonde viel
zu spät wahr nahm. Das schlanke Geschoss erwischte ihn,
als er sich gerade aufrichtete und über seinen Komplizen
wunderte.
Er spürte einen dumpfen Schlag. Ungläubig sah er an
sich herab, starrte den Pfeil an, der tief in seinem
Bauch steckte und berührte ihn zaghaft, als glaubte er
nicht, was er sah. Er glotzte das Hemd unter seinem
Waffenrock an, das sich rot färbte, dann sah er zu
seinem Mittäter, der zur Seite gefallen war, mit einem
Arm nach hinten tastete, vergeblich versuchte, die
Ursache für seinen Schmerz zu fassen zu kriegen.
Antarona unternahm einen weiteren Versuch, sich zu
wehren, und sie war schnell. Sie war so unglaublich
schnell, dass selbst Basti ihrer Bewegung kaum folgen
konnte. Mit dem rechten Bein drehte sie sich zur Seite,
holte mit dem linken aus und trat dem großen,
angeschlagenen Krieger mit aller Kraft in seine
ungeschützte Männlichkeit.
Der krümmte sich zusammen und wollte erneut aufheulen.
Doch nur ein Grunzen und Stöhnen, sowie ein neuer
Schwall hellroten Blutes kam über seine Lippen.
Inzwischen hatte sich der andere Krieger schwankend
aufgerichtet. Mit einem wütenden Brüllen brach er den
Schaft des Pfeils ab und warf ihn fort.
Im nächsten Augenblick zog er sein Schwert aus der
Scheide und erhob es drohend über Antarona, die sich
verzweifelt hin und her wand und mit dem Pflock kämpfte,
der ihre Handgelenke immer noch an den Boden fesselte.
»Das sollt ihr mir büßen«, krächzte der Mann,
umfasste den Griff seiner Waffe mit beiden Händen, um
sie Antarona in den Leib zu stoßen. Doch da stürmte
bereits Sebastian heran. Unter markerschütterndem
Geschrei, das den Krieger ablenken sollte, hielt er
direkt auf ihn zu.
Den Bogen hatte er fortgeworfen und noch im Lauf das
Kurzschwert gezogen. Der verdutzte Blonde hielt inne,
richtete dann sein Schwert gegen den Angreifenden, der
wie ein tollwütiger Stier heranbrauste.
Sebastian unterschätzte den verwundeten Mann nicht. Aber
er hatte auch nicht die Zeit, ihm mit einer sicheren
Taktik zu begegnen, denn rasch konnte der Kerl noch
zustoßen und Antarona in das Reich der Toten befördern.
In den nächsten drei Sekunden war Basti heran, parierte
das viel zu lange und schwere Schwert des Gegners, und
rannte ihn simpel über den Haufen. Dabei setzte er auf
die Verletzung des Mannes, die ihn eigentlich behindern
musste.
Beide stürzten der Länge nach hin. Sofort rollte sich
Basti zur Seite, um dem Feind einen alles beendenden
Stoß zu versetzen. Der jedoch war noch nicht so
angeschlagen, wie Sebastian vermutet hatte. Er ließ ein
böses Knurren hören und erhob sich taumelnd, seine
Waffe kampfbereit.
Sebastian reagierte nicht schnell genug, und so gelangte
der schwarze Krieger in die Position zwischen Sebastian
und Antarona. Für ihn entstand ein auswegloses,
nervenaufreibendes Patt.
Wandte er sich Sebastian zu, so war es nur eine Frage der
Zeit, bis sich Antarona befreit hatte, und ihm in den
Rücken fiel. Tötete er aber Antarona, so wäre Basti
heran und würde ihm das Schwert zwischen die Rippen
stoßen. Unentschlossen wartete er, wohl in der Hoffnung,
dass sich sein Kumpan noch einmal aufraffte, und ihm zu
Hilfe kam. Doch der Riese hatte genug. Röchelnd lag er
am Boden und das Blut lief ihm aus Mund und Nase.
Verzweifelt blickte er sich um, ob nicht doch von
irgendwoher Hilfe nahte. Dann erkannte er offenbar die
Ausweglosigkeit seiner Lage, denn allmählich schwanden
ihm die Kräfte. Mit einem heiseren Kampfschrei wollte er
plötzlich auf Sebastian losstürmen.
Gerade im letzten Augenblick hatte Antarona ihre Hände
freibekommen, Sie waren noch gefesselt, doch nicht mehr
an den Boden gebunden. Geistesgegenwärtig griff sie zu,
als der Blonde auf Basti losging. Sie erwischte sein
linkes Fußgelenk und riss ihn mit schwindender Kraft
zurück.
Bereits nach dem ersten Schritt begann der Blonde mit den
Armen zu rudern, dann fiel er wie ein gefällter Baum und
schlug Sebastian direkt vor die Füße. Und Basti, der
früher Hemmungen gehabt hatte, einem Menschen auch nur
ein Haar zu krümmen, zögerte keine Sekunde.
Er rammte dem gestürzten Krieger sein Schwert tief
zwischen die Schulterblätter und drehte es zur
Sicherheit noch einmal ruckartig, bevor er es wieder aus
dem leblosen Leib zog. Dann wollte er sich dem Riesen
zuwenden, doch Antarona beugte sich bereits über den
Mann, ihren Dolch in der Hand.
Als sie kurz darauf aufstand und sich vor Schmerz die
Handgelenke rieb, wurde das Reich der Toten bereits von
zwei weiteren Seelen bevölkert. Schwankend stand das
Krähenmädchen da, ihre letzte Kraft war verbraucht.
Sebastian sprang über den Toten hinweg zu ihr und nahm
sie in den Arm.
»Es ist vorbei, es ist keiner mehr da, du hast sie alle
in das Reich der Toten geschickt«, beruhigte er sie, als
sie sich skeptisch umsah. Erst jetzt sackte ihre
Anspannung weg, ihr Dolch fiel zu Boden und sie ließ
sich kraftlos in seine Arme sinken.
Basti hob sie hoch und trug sie an die nicht weit
entfernte Stelle, an der sie schon einmal gerastet
hatten. Dort bettete er sie sanft in das weiche, warme
Gras und setzte sich neben sie. Er drehte sein Schwert
spielerisch zwischen seinen angewinkelten Beinen, bis ihm
auffiel, dass es voller Blut war.
»Kann ich dich eine Zentare allein lassen, ich bin
gleich in der Nähe, mache nur die Pla-ka fest?« fragte
er und sah sie besorgt an. Antarona nickte abgekämpft
und machte eine Handbewegung, die zum Platz des ersten
Kampfes wies.
»Nantakis, am Felsen unter den drei Bäumen«, sagte sie
matt. Sebastian verstand und versicherte mit ruhiger
Stimme:
»Ich werde es finden und mitbringen, ruhe dich
inzwischen ein wenig aus!« Er wischte sein Kurzschwert
im Gras ab, rieb die Klinge noch mit Sand sauber und
legte die Waffe zur Sicherheit neben Antarona auf den
Boden. Dann entfernte er sich rasch.
Vorsichtig näherte er sich den beiden Pla-ka, die noch
immer an den Blättern der Büsche herumfraßen. Ohne
großes Theater ließen sie sich an den Zügeln fassen
und fortführen. Wo die Tiere der anderen Reiter
verblieben waren, konnte Basti nur mutmaßen.
Wahrscheinlich hatten sie sich auf der Suche nach Wasser
davon gemacht.
Zügig sammelte er die Waffen ein, fand auch Nantakis an
der bezeichneten Stelle. Es steckte ziemlich
unzugänglich unter einem Felsen, der von drei Bäumen
umsäumt wurde. Vermutlich hatte Antarona das Schwert
darunter gestoßen, als die Übermacht zu groß wurde.
Ihre Angst, Nantakis könnte in die falschen Hände
gelangen, stellte sie über ihre eigenen Aussichten, den
Kampf zu überleben. Was für eine Frau!
Nur wenig später kehrte Basti mit den beiden Pla-ka und
seinem eigenen zurück, warf die Waffen unter einem Busch
auf einen Haufen und legte Nantakis, Antaronas Dolch und
ihre Bogenwaffen neben seiner Krähenfrau ab. Dann setzte
er sich neben sie und nahm zärtlich ihre Hand.
Er sah Antarona an und wollte etwas sagen, doch sie legte
ihre Hände auf seinen Arm und schüttelte abwehrend den
Kopf.
»Sonnenherz mag jetzt nicht darüber sprechen. Die
Geister von Menschenwesen sind in das Reich der Toten
eingezogen. Es hätte auch Sonnenherz sein können,
welche die Götter hätten rufen mögen. Sie hat sich
benommen, wie ein Kind, welches seinem Vater trotzt. Sie
hat die Reiter nicht kommen hören, und Tekla und Tonka
bereits in das Tal der roten Flühen vorausgesandt.«
»Ist schon gut, mein Engelchen, wir leben noch, das ist
das Wichtigste«, versuchte er sie zu beruhigen, und nahm
sie in den Arm, »über alles andere können wir später
sprechen«.
In diesem Augenblick begannen die Pla-ka nervös zu
schnauben. Sie tänzelten unruhig auf der Stelle und
zerrten an den Zügeln. Sofort war Sebastian auf den
Beinen, und auch Antarona erhob sich lauernd. Sie nahmen
ihre Waffen auf und spannten ihre Bögen.
Die Hufe von Pla-kas waren zu hören. Langsam näherten
sich Reiter. Antarona und Sebastian sahen sich an,
verstanden sich auch ohne Worte und gingen hinter kleinen
Büschen in Deckung, bereit, die Angreifer mit einem
Hagel von Pfeilen einzudecken. Sie warteten, wagten kaum
zu atmen.
Da teilten sich die Sträucher auf der
gegenüberliegenden Seite der kleinen Lichtung und ein
einzelner Reiter führte seinen Pla-ka und drei Packtiere
aus dem Unterholz. Thorbald!
»Den Göttern sei Dank, ihr lebt, Herr! Ich sah die
Toten und befürchtete bereits das Schlimmste. Seid ihr
wohlauf? Mit diesen lahmen und störrischen Mähren
vermochte ich nicht schneller heraufzukommen, Herr. Die
wollten einfach nicht den steilen Pfad...«
»Thorbald, macht euch keine Sorgen, es ist uns nichts
geschehen«, versicherte ihm Basti. Bindet die Pla-ka bei
den anderen Tieren an, und dann kommt mit, wir werden die
Toten verscharren, sonst locken die uns noch ein Rudel
Eishunde auf den Hals. Das Letzte, was ich jetzt noch
gebrauchen kann, ist, dass uns die Tiere durchgehen!«
Lustlos wühlte Sebastian in dem Haufen Waffen herum, die
ihnen die Gegner hinterlassen hatten. Er suchte sich eine
breite Streitaxt heraus, hieb ein paar trockene Zweige
von den Büschen ab und brachte sie Antarona.
»Vielleicht kannst du die auf die Pla-ka binden, dann
haben wir am Abend im Tal bereits Holz, um ein Feuer zu
machen. Ich kümmere mich mit Thorbald um die schwarzen
Reiter!« Antarona nickte stumm und begab sich zu den
Reittieren.
Sie hatte das Gemetzel noch nicht ganz verarbeitet. Wie
eine Tigerin gegen eine Herde von Elefanten hatte sie
gekämpft, hatte drei der großen Kerle erledigt, bevor
diese sie überwältigen konnten. Mit welcher eiskalten
Taktik sie dabei vorgegangen war, zeigten ihm die Toten.
Er hatte Antarona einige Male kämpfen gesehen, schnell,
gnadenlos, ohne Mitleid.
Trotzdem ging ihr der Tod der Feinde nahe. Für sie waren
auch jene Menschenwesen, Geschöpfe der Götter, welche
ihr nach dem Leben trachteten. Sebastian hingegen
bedachte diese Kerle, die seine Frau auf die grausamste
und entwürdigendste Weise gefoltert hätten, nur mit
nüchternem, abgrundtiefem Hass. Er empfand bei ihrem
Anblick sogar so etwas, wie Genugtuung.
Als erstes erreichten Basti und Thorbald den Mann mit dem
zerschmetterten Schädel. Antarona musste wie ein
Wirbelwind gekämpft haben, hatte ihm mit einem Streich
die Kniekehlen durchschnitten, so dass der Mann einfach
wegknickte, zu seinem Unglück mit dem Kopf voran gegen
den Felsen. Er musste augenblicklich tot gewesen sein.
Thorbald und Sebastian zogen ihn an den Füßen auf eine
kleine Lichtung, wo sie ihn zwischen verkrüppelten Arven
einbuddeln konnten. Den zweiten Toten fanden sie halb ins
lange Gras eingewickelt. Antaronas Schwert hatte in
seinem Bauch eine tiefe und tödliche Wunde hinterlassen.
Dennoch musste der Reiter noch eine Weile gelebt haben.
Vor Schmerzen hatte er sich wohl hin und her gewälzt,
und sich immer mehr in das spröde Gras hineingewunden,
bis ihn schließlich der Tod von seinen Qualen erlöste.
Nachdem sie auch ihn auf die Lichtung geschafft hatten,
stand den beiden die grässlichste Aufgabe bevor.
Der dritte Krieger hing noch immer an jenem mächtigen
Baum, gegen den ihn Nantakis gedrängt hatte. Vermutlich
war er Antaronas Fechthieben ausgewichen, die völlig
überraschend, wie ein Sturm über ihn hereingebrochen
sein mussten. Einer kleinen, halb nackten, zierlichen
Frau hatte er solche Gegenwehr sicher nicht zugetraut.
Als er seine Verblüffung überwunden hatte und zu einer
Gegenwehr fähig war, musste es bereits zu spät gewesen
sein. Er stolperte wohl mit ziemlichem Schwung
rückwärts und der unglücklich vom Baum abstehende
kahle Ast besorgte den Rest.
Das Holz hatte sich mit solcher Gewalt in seinen Rücken
gebohrt, dass es vorn wieder austrat, und ihm schlichtweg
das Brustbein nach außen drückte. Sebastian mochte
nicht ausschließen, dass Antarona angesichts der großen
Übermacht noch kräftig nachgeholfen hatte.
Den Leichnam vom Ast zu ziehen, erwies sich als
unmöglich. Das Blut war inzwischen angetrocknet und
hatte den Toten schier festgeklebt. Sebastian blieb
nichts anderes, als die grobe Axt zu schwingen und den
Ast mit einem kräftigen Hieb vom Baum zu trennen.
Wie ein nasser Sack fiel der leblose Körper zu Boden.
Dabei fiel ihm ein großer lederner Beutel aus dem
Waffenrock, der eher einer Handtasche glich. Thorbald hob
das Behältnis auf und gab es Sebastian, bevor er sich
daran machte, dem Toten ein Messer und eine grob
geschmiedete Halskette abzunehmen.
Mit Abscheu im Blick präsentierte er Basti das Amulett,
das an der Kette hing. Sebastian kannte es. Es war das
gleiche Schmuckstück, wie jenes, das er auf seinem Weg
von Högi Balmers Alm ins Tal einem Skelett abgenommen
hatte. Damit war eindeutig klar: Diese Reiter gehörten
zu Torbuks Armee! Aber was machten die hier auf Falméra?
Hatte die gefürchtete Invasion schon begonnen? Waren
Torbuks Truppen bereits an einem von Falméras Stränden
gelandet? Konnten diese fünf Krieger eine Vorhut, eine
kleine Vorausabteilung sein, um die Lage
auszukundschaften? Oder waren sie nur Spione, die sich in
den weiten, dichten Wäldern verborgen hielten?
Der Lederbeutel mochte möglicherweise darüber
Aufschluss geben. Sebastian öffnete ihn und fischte
sieben große, an eine Lederschnur geknüpfte, schwere
Ringe, sowie eine Pergamentrolle heraus. Sonst enthielt
die Tasche nichts. Thorbald fielen vor Staunen beinahe
die Augen aus dem Kopf.
»Das sind Quarts aus Göttertränen, so viele Quarts,
wie ein mächtiges Heer an Kriegern zählt, Herr! Woher
hat ein einfacher Kohortenführer so viele Quarts?« Nun
war es Sebastian, der ein verblüfftes Gesicht machte.
»Diese paar Quarts sollen so wertvoll sein?« fragte er
neugierig. Thorbald nickte eifrig und aufgeregt erklärte
er:
»Aber seht ihr denn nicht, Herr, die sind aus den
Tränen der Götter gemacht! Es gibt keine wertvolleren,
als jene, welche die Götter den Menschenwesen
hinterlassen haben. Niemand außer unserem König und
Torbuk besitzt etwas, das aus den Tränen der Götter
ist!« klärte ihn Thorbald unbewusst auf.
Sebastian wog die dicken schweren Ringe aus purem Gold in
seiner Hand. Sie waren im Durchmesser so groß, wie der
Armreif eines kleinen Kindes, und jeder mochte bei einer
Breite von etwa zwei Zentimetern so seine fünf bis sechs
Unzen wiegen. In seiner Welt hätten sie wohl einem Wert
von ungefähr siebzehntausend Mark entsprochen. Wie hoch
dieser Wert in Antaronas Welt einzuschätzen war,
vermochte er nicht zu sagen.
Doch er musste enorm sein, denn Thorbald konnte nicht
aufhören, den kleinen Schatz in Sebastians Hand
ungläubig anzuglotzen. Das wurde Basti allmählich
unheimlich, und er ließ die Quarts wieder im Lederbeutel
verschwinden. Bei einem solchen Wert ist schon mancher
schwach geworden und hat sich zu einer dummen Tat
hinreißen lassen, die nicht wieder gut zu machen war!
»Warum waren die mit einem solchen Zaster unterwegs?«
entfuhr es Thorbald, der noch immer nicht glauben wollte,
was seine Augen gerade gesehen hatten. Sebastian zuckte
mit den Achseln.
»Na ja, ungefähr so viel ist Torbuk der Verrat eines
ganzen Volkes wert, denke ich. Doch wer denen die Tränen
der Götter gegeben hat, ist mir ein Rätsel. Torbuk
selbst ganz sicher nicht! Der wird sein finsteres Loch in
Quaronas erst verlassen, wenn er sicher ist, Falméra
erobern zu können. Und dazwischen stehen immer noch wir,
Thorbald, der König, ich, Antarona und letztlich auch
ihr!« Thorbald sah ihn mit fragendem Blick an und Basti
erklärte ihm:
»Was ich damit sagen will, ist: Wer auch immer denen so
viele Quarts in die Hände gegeben hat, der ist sehr
vermögend, beinahe so vermögend, wie König Bental
selbst. Und so viele hoch begüterte Männer gibt es auf
Falméra wohl nicht, oder? Und diese Tränen der Götter
waren sicher nicht für diese Krieger hier gedacht! Sie
sollten das Zeug gewiss an jemanden übergeben, von dem
eine große, entscheidende Tat erwartet wird!« Sebastian
lachte beinahe, als er mehr für sich selbst sagte:
»Nun, die hier haben nichts mehr davon. Sie hätten sich
eben nicht mit einem königstreuen Schwert messen
sollen!« Thorbald nickte zustimmend und meinte
anerkennend:
»Denen habt ihrs gegeben, habt es ihnen wohl
gelehrt, Herr! Doch diese Lehre nehmen sie nun mit in das
Reich der Toten! Sie hätten eben nicht Areos, den Sohn
Bentals zum Kampf fordern sollen!« Lächelnd sah Basti
ihn an.
»Haben sie auch nicht, mein Bester, damit seid ihr auf
dem Holzwege! Nicht ich, sondern Antarona haben diese
Burschen hier aus dem Hinterhalt angegriffen! Ich kam
erst hinzu, als alles bereits vorüber war! Nicht ich,
sondern Antarona hat diese Mistkerle ins Reich der Toten
geschickt!« gestand Sebastian nicht ohne Stolz auf seine
mutige Frau.
Thorbald stierte ihn noch um so entgeisterter an und wies
mit dem Finger auf das Lager, wo sie Antarona
zurückgelassen hatten.
»Waaas, die? Die hat..? Ooooch!« brach es aus ihm
hervor. »Bei den Göttern, was für ein tolles Weib!«
begeisterte er sich zum wiederholten Mal.
»Wohl gemerkt: Mein Weib!« betonte Basti erneut. »Und
Thorbald, noch auf ein Wort!« forderte er das Gehör
seines Kriegers.
»Kein Ton zu irgend jemandem, auch nicht zu Antarona,
haben wir uns verstanden?« mahnte Sebastian
eindrücklich und klimperte mit den goldenen Ringen.
»Hierüber kommt kein Sterbenswort über eure Lippen,
wenn ihr eure Zunge behalten wollt!« Sebastian
unterstrich seine Warnung, indem er mit seinem
Zeigefinger deutlich an seinem Mund vorüberfuhr.
»Wie ihr befehlt, Herr, kein Wort!« bestätigte der
junge Kohortenführer. Basti war sich ziemlich sicher,
dass er seinem Wort trauen konnte, denn sein konsequentes
Durchgreifen in der Truppe hatte sich mittlerweile
herumgesprochen. Außerdem wollte Thorbald irgendwann
eine eigene Einheit führen. Und an diese Gunst kam er
nur durch Areos.
Die Quarts aus den Tränen der Götter wollte Sebastian
natürlich nicht wieder aus seinen Händen lassen. Es
würde einmal der Tag kommen, wo er, egal für was,
überzeugende Argumente brauchte. Etwas so begehrtes, wie
die Tränen der Götter mochte dann möglicherweise so
ein Argument sein!
Da er keinen Zugang zu des Königs Schatzkammer hatte,
musste er sich diese Art von Argumente selbst schaffen!
Er sah keinen Verrat darin, sich diese Ringe in die
eigene Tasche zu stecken. Als Kriegsbeute, und das waren
sie im Grunde, gehörten sie zwar dem König, doch wer
sollte Bental davon berichten? Thorbald, der einzige
Mitwisser, hätte nichts davon, etwas zu verraten.
So vergruben sie die Leichen, entgegen den
Gepflogenheiten der Îval, die ihre Toten an das Tor zum
Totenreich am Rande des ewigen Eises brachten. Dann
kehrten sie zu Antarona zurück, die sich inzwischen
wieder gefangen hatte, Thorbald aber mit eisigem Blick
bedachte. Für sie war er immer noch ein Störfaktor.
Sie rasteten noch eine Weile und Sebastian rollte das
Pergament auseinander, das der getötete Krieger bei sich
trug. Eine Zeichnung, nein, vielmehr eine Skizze war auf
das braune, feste Papier gekritzelt. Sebastian drehte die
Darstellung so lange, bis sie für ihn einen Sinn ergab,
und ihm ein ungeheures Geheimnis enthüllte. Überrascht
pfiff er durch die Zähne, was Antarona veranlasste, ihm
über die Schulter zu schauen.
Thorbald reckte zwar neugierig seinen Hals, wagte aber
nicht, sich einzumischen. Antaronas Hinweis vor dem
Stall, bevor sie aufbrachen, und die Tatsache, dass sie
mit den Reitern Torbuks fast allein fertig geworden war,
flößten dem Mann großen Respekt und Zurückhaltung
ein.
Sebastian tippte mit dem Finger auf das, was wie eine
Karte aussah, und sagte leise zu Antarona, so dass es
Thorbald nicht hören konnte:
»Das ist eine genaue Karte des Tales der roten Flühen!
Hier der Fluss, die Hügel, und hier die Felswände.
Antarona, weißt du, was das bedeutet?« Das
Krähenmädchen hob unwissend die Schultern und fragte
beinahe gleichgültig:
»Nein Ba - shtie, was bedeutet es denn?« Sebastian
packte sie vor Aufregung am Arm und versuchte ihr zu
erklären:
»Nur einer hat im Moment ein solches Interesse an diesem
Tal, dass er jemanden mit einer Karte dorthin entsendet
und ihn beauftragt, das Land zu erkunden: Fürst Jamálin
von Oranutu! Und dass er diese Reiter damit betraut
hatte, heißt, dass er mit Torbuk gemeinsame Sache
macht!« Antaronas Interesse war urplötzlich geweckt.
»Ihr meint, Raspinas Vater hat die Reiter geschickt,
welche in den Kriegsröcken von Quaronas starben?«
fragte sie ungläubig. Sebastian nickte bestätigend, und
fügte hinzu:
»Wer sonst hätte gerade jetzt ein Interesse daran, was
in diesem vergessenen Tal vor sich geht? Raspina
erzählte, wie abgemacht, ihrem Vater von der Absicht
Bentals, vor und hinter dem Tal Heerlager zu errichten.
Und der entsendet sofort Reiter, um festzustellen, ob das
stimmt! Fürst Jamálin, Raspinas Vater ist ein Verräter
am Volk der Îval und an seinem eigenen Volk! Offenbar
ist zumindest er mit Torbuk verbündet, sonst hätten
dessen Reiter kaum seinen Auftrag ausgeführt!«
Antaronas Miene verfinsterte sich und verriet Wut und
Enttäuschung zugleich. Selbst sie begriff nun, dass es
der Oranuti- Fürst Jamálin sein musste, der als
Botschafter in Falméra getarnt, die Invasion der Truppen
Torbuks zumindest vorzubereiten half. Sebastian hingegen
ließ ein säuerliches Lächeln über sein Gesicht
huschen.
»Ba - shtie, was ist daran so belustigend?« fragte
Antarona entrüstet, beinahe ärgerlich. Sebastian
überlegte laut:
»Nun, wenn diese Fünf, die jetzt im Reich der Toten
sind, Jamálins Späher waren, so wären sie ganz sicher
vor uns im Tal der roten Flühen angekommen, und hätten
zunächst nichts vorgefunden. Wie hätte ich auch ahnen
können, dass Jamálin so rasch reagiert! Wahrscheinlich
hätten sie uns dann eintreffen sehen und der Fürst
hätte die List erkannt, mit welcher ich ihn zu täuschen
gedachte.«
Basti wiegte den Kopf hin und her, als wollte er
abschätzen, wie sich die Sache weiter entwickeln würde.
»Nun wird der Fürst neue Späher aussenden müssen, und
die sehen dann, was sie sehen sollen: Die Entstehung
zweier neuer Heerlager!« Antarona hörte ihm aufmerksam
zu, nickte dann nachdenklich und sagte:
»So war die Fügung gut, welche Sonnenherz die Reiter
über den Weg führte?« fragte sie mit leichtem Zweifel
in der Stimme.
»Ja und nein«, antwortete Basti, »ja, weil Fürst
Jamálin nun auf meine Täuschung hereinfällt, und nein,
weil ein Kampf und fünf tote Männer niemals gut sind!«
Er sah seine Frau gedankenverloren an und lenkte ein:
»Andererseits war es nicht zu vermeiden, denn diese
Kerle hätten dich sowieso angegriffen, ob nun mit oder
ohne Jamálins Auftrag. Sie hatten den Tod verdient!«
Antarona sagte nichts dazu und Sebastian beließ es
dabei. Was ihm mehr Sorgen bereitete, war die Tatsache,
dass Fürst Jamálin ein kleines Vermögen an Quarts
eingebüßt hatte. Und ganz nebenbei kam er auf den
Gedanken, dass die goldenen Ringe keinesfalls der Lohn
für die fünf Reiter gewesen sein konnten. Eher
wahrscheinlich war, dass sie die Quarts an jemanden
übergeben sollten.
Also war anzunehmen, dass die schwarzen Krieger
beabsichtigt hatten jemanden zu treffen. Vielleicht einen
Boten Torbuks? Sebastian beschloss während ihres
Aufenthalts im Tal die Augen offen zu halten. Vielleicht
ging ihnen ja dieser Bote ins Netz, und sie konnten ihn
ordentlich ausquetschen und etwas über Torbuks und
Jamálins Absichten erfahren.
Allein Raspina tat ihm leid. Konnten sie Fürst Jamálin
des Verrats überführen, würde er fortan im Kerker der
Burg Falméra sein weiteres Dasein fristen. Raspina
würde dann wie eine Geächtete dastehen, mittellos,
vielleicht sogar von ihrem Geliebten gemieden. Sebastian
war der einzige, der ihr dann noch helfen konnte.
Gewissenhaft faltete Sebastian die Zeichnung des Tals
wieder zusammen und steckte sie zurück in den
Lederbeutel. Sie war ein großes Indiz für Jamálins
Verrat und für das Volk der Îval entsprechend wichtig,
wertvoller noch, als die Quarts aus Gold.
Anschließend beluden sie die Packtiere mit den
erbeuteten Waffen der schwarzen Reiter und machten sich
bereit, ihren Weg fortzusetzen.
Zunächst überquerte ihre Karawane das Plateau in
Richtung Osten. Ständig hielten sie nach Bewegungen im
Gelände Ausschau. Es waren nicht nur die entsprungenen
Pla-ka, die sie hofften wiederzufinden, nach denen sie
ausspähten, sondern auch nach Reitern.
Woher die fünf Reiter kamen, die nun in der harten Erde
des Plateaus verscharrt lagen, vermochte niemand zu
sagen, Doch wo die herkamen, konnten noch viele sein,
verborgen, unentdeckt, mit bösen Absichten. Jederzeit
konnte wieder ein neuer Trupp von ihnen auftauchen.
Doch so sehr sie auch in die Runde blickten, nichts
störte mehr den Frieden dieser stillen und einsamen
Gegend. Die Mittagshitze lastete auf der hochgelegenen
Ebene und brachte die Luft zum Flimmern. Irgendwelche
Insekten ließen ihr aufdringliches, ununterbrochenes
Zirpen hören und ab und an wehte der warme Wind den Duft
von Tannen, Fichten und Baumharz herüber. Dazwischen
mischte sich der starke Geruch der Kräuter, die auf den
Weiden des Plateaus wuchsen.
Die hohen Gräser waren von Trockenheit und Sonne fast
verbrannt und leuchtete in den verschiedensten Braun-,
Gelb-, und Orangetönen und wiegten sich im Wind wie ein
von sanften Wellen genährter Ozean.
Sie ließen sich Zeit, das Plateau zu überqueren,
genossen die Ruhe und Friedlichkeit, die allerdings
trügerisch sein konnte, wie die fünf schwarzen Reiter
gezeigt hatten. Eigentlich kam niemand hier herauf, nicht
einmal Jäger, oder Kräuterweiber.
Der Anstieg auf die Hochebene war viel zu steil und
schweißtreibend. Auf der anderen Seite wurden die Ebene
und die große Senke von den roten Flühen und der
Schlucht vom Rest der Welt abgeschnitten. Wer hier
herauf, oder in das große Tal kam, hatte einen triftigen
Grund dazu. Verirren würde sich selten jemand in diese
Gegend, der Weg war einfach zu beschwerlich.
Am Abend standen die drei Reiter mit ihren Packtieren am
Rande der großen Senke und sahen staunend hinab. Talris
beleuchtete mit seiner untergehenden Sonne die lange und
hohe Barriere aus glatten Felsen und die roten Flühen
machten ihrem Namen alle Ehre.
Wie eine Wand aus Feuer, als verbarg sich hinter dem
Gestein ein brodelnder, eingeschlossener Vulkan, so
glommen die Fluchten in leuchtendem Rot. Es bot sich
ihnen ein Naturschauspiel, das die unzähligen
Sonnenuntergänge mit Alpenglühen, die Sebastian in
vielen Jahren als Alpinist erleben durfte, weit
übertraf.
Ehrfürchtig stieg Antarona von ihrem Pla-ka, kniete im
Gras nieder und streckte ihre Arme aus. Thorbald tat es
ihr nach und ergriffen von der großen Ehrfurcht, schloss
sich auch Basti der Zeremonie an. Sie dankten Talris für
diesen Tag, den sie trotz Gefahr überlebt hatten. Sie
dankten dem Gott der Sonne und seinen Vasallen für die
Gnade, dieses sein göttliches Schauspiel erleben zu
dürfen.
Dann stand Antarona auf, verharrte still und blickte wie
ein staunendes Kind über das freie Land. Kein Muskel
regte sich in ihr. Sie stand einfach nur da und sah
hinab. Der Wind spielte mit ihrem Haar, ließ die Federn
in ihrer schwarzen Mähne tanzen und bewegte leicht ihren
Schurz, der kaum etwas von ihrem kupfern schimmerndem
Körper verbarg.
Sie war wieder in ihrem Element. Hier war sie den
Götterwesen näher, als am Altar Talris in der Burg. Auf
den weiten Ebenen, in den Wäldern, in den Schluchten und
auf den Graten der Berge, wo sie sich im Einklang mit den
anderen Geschöpfen der Götterwesen bewegte, fühlte sie
sich Zuhause.
Dieser Grund allein war für Sebastian der große Aufwand
wert, mit dem er dieses Tal in Besitz nehmen wollte, für
sie, seine geliebte Frau, und für ihre ungeborene
Tochter, für ein friedliches, glückliches Leben! Dass
dafür nötig war, zunächst eine ziemliche Unruhe in
diese einsame Gegend zu bringen, um Jamálin das Land zu
verleiden, nahm er dabei gern in Kauf.
Vielleicht war es gar nicht nötig, die imaginären
Heerlager lange in den Schlüsselpositionen diesseits und
jenseits der großen Senke zu halten. Wenn er Jamálins
Absichten vor Bental und dem Rat glaubhaft machen konnte,
und der König den Abgesandten der Oranuti vor den Thron
zitierte, dann würde sich das Interesse des Oranuti-
Fürsten rasch verrauchen.
In diesem Fall würde Basti die Kohorten wieder abziehen
lassen. Sie konnten auch an einem bequemer zugänglichen
Ort ihre Kampftechnik verbessern. Sebastian wünschte
sich das Tal vor ihnen eher sofort, als in einigen
Zentaren frei von anderen Menschen. Wie Antarona
fürchtete er, dass die dort unten seit langer Zeit
lebenden Geschöpfe durch die Unruhe vertrieben werden
könnten.
Antaronas Wunsch aber war, mit allen Wesen, ob mit
Eishunden, Robrums, oder Goren in Frieden zu leben.
Dieses Tal war ein Lebensraum wie geschaffen für jene,
welche mit den Tieren sprach. Und er wünschte sich, dass
seine Tochter mit all diesen Wesen im friedlichen
Nebeneinander aufwachsen konnte. Nur so würde sie, wie
es einer echten Prinzessin zukam, ein jedes Leben zu
schätzen wissen, so gering es auch erscheinen mochte.
Bevor die Sonne hinter den Baumwipfeln in ihrem Rücken
versank, machten sie sich an den Abstieg ins Tal. Im
Schatten des Berghangs wurde es merklich kühler. Ein
leichter Wind ließ die von der Sonne erhitzten Körper
frösteln.
Antarona warf sich eines ihrer Felle über und zog es um
ihren Leib mit einem Lederband zusammen. Erleichterung
machte sich in Sebastian breit, denn er beobachtete den
ganzen Nachmittag mit erneut aufkeimender Eifersucht, wie
Thorbalds Blicke auf Antaronas unbedeckte Haupartien
fixiert waren.
Es passte ihm ganz und gar nicht, dass sie in dieser
Nacht mit dem jungen Kohortenführer das Lager teilen
mussten. Inständig hoffte er, dass am nächsten Tag
bereits der erste Trupp der Heerlager eintreffen würde,
der Thorbalds ganze Aufmerksamkeit fordern würde.
Sebastian sehnte die Zweisamkeit mit Antarona herbei, und
nannte sich selbst einen narren, dass er seiner eigenen
Eifersucht Nahrung gegeben hatte. Es würde schwierig
werden, Antarona einige der jungen Krieger ausbilden zu
lassen, gleichzeitig aber sie vor deren gierigen Blicken
zu bewahren. In ihm zog sich alles zusammen, je mehr er
darüber nachdachte.
Eine Stunde später überquerten sie den Fluss, entluden
die Pla-ka und banden sie mit langen Leinen an ein par
dünnen Baumstämmen an, die nahe am Ufer standen. So
konnten die Tiere grasen und gleichzeitig an das Wasser
heran. Antarona musste die Tiere zunächst zurückhalten.
Sie erklärte Basti, dass es nicht gut für die erhitzten
Pla-ka wäre, sie sogleich nach belieben saufen zu
lassen. Er sah sich bereits als Pla-ka- Züchter, musste
sich aber bei dieser Gelegenheit eingestehen, dass er von
diesem Geschäft rein gar nichts verstand, und in jeder
Hinsicht von Antaronas Erfahrungen abhängig war.
Während sie noch das Lager aufschlugen, kamen in einiger
Entfernung Tekla und Tonka herangesegelt, und ließen
sich auf dem Rest eines abgestorbenen Baumes nieder.
Thorbald sah irritiert zu, als Antarona mit ihren beiden
Krähen zu kommunizieren begann. Freilich kannte auch er
die Legenden, die sich um das Krähenmädchen rankten,
doch hatte er sie, wie viele andere vor ihm, für eine
Mär gehalten.
Sebastian überließen es Antarona, das Lager
herzurichten, und ein Feuer zu entfachen. Er selbst
wollte sich um frisches Fleisch kümmern. Er hatte im
Fluss einige fette Bachforellen springen sehen, und bei
dem Gedanken an gegrillten Fisch lief ihm bereits der
Speichel im Munde zusammen.
»Thorbald ihr könnt mir zur Hand gehen, und zwei gerade
Speere schneiden«, forderte er den jungen Krieger auf,
mitzukommen. Im Grunde aber wollte er nur verhindern,
dass sich Antarona und Thorbald näher kamen, während er
dem Lager den Rücken kehrte.
Eigentlich ging es gar nicht um Thorbald, gestand er sich
ein. Basti musste zugeben, in jedem Mann, der sich
Antarona mehr als zehn Schritt näherte, als Konkurrenz
zu sehen. Doch wie sollte er das in Zukunft verhindern?
Er konnte sie ja nicht einsperren! Seine Gedanken
kreisten noch um dieses Problem, als Thorbald mit den
Speeren herankam.
Skeptisch sah der Krieger zu, wie sein Herr Areos in das
kalte Wasser des Flusses stieg, und die lange Waffe mit
der Spitze in die bewegten Fluten tauchte. Und Sebastian
stellte sehr schnell fest, dass es etwas anderes war, mit
dem Speer in einem ruhigen See auf einen Fisch zu warten,
als in einem rauschenden Bach.
Das unruhige Wasser ließ ihn die Fische erst gar nicht
klar erkennen. Lediglich als schemenhafte, dahinhuschende
Schatten waren sie auszumachen. Doch vor seinem
Kohortenführer mochte er sich nicht die Blöße geben,
wegen seiner eigenen Unfähigkeit auf das Abendessen
verzichten zu müssen. Er drückte dem verdutzten
Thorbald seinen Speer in die Hand und sagte:
»Geduldet euch eine Weile, gleich wird es gehen!«
Thorbald sah verwundert zu, wie Basti einen großen
Steinbrocken vom Ufer aufhob, und wieder in das Wasser
stieg. Vermutlich dachte er, Areos wollte die Forellen
mit einem Felsen erschlagen und sie dann von der
Wasseroberfläche fischen.
Verblüfft beobachtete er Basti dabei, wie dieser den
schweren Stein sanft in das Wasser legte, und daneben
noch einen, und noch einen, bis er einen kreisförmigen
Wall aus Steinen errichtet hatte, mit einer Öffnung
entgegen der Strömung, in dem sich das Wasser zunächst
herumzuwirbeln begann.
Dann erhöhte er den Wall mit kleineren Steinen solange,
bis sich das Wasser im Innern der Abgrenzung zu beruhigen
begann. Sebastian tauchte seinen Speer schräg bis kurz
unter die Wasseroberfläche, erstarrte und wartete. Ohne
sich umzublicken, ohne eine Regung zu zeigen, sagte er
über die Schulter hinweg:
»Seht ihr, es ist ganz einfach, wir müssen nur warten,
bis sich ein Fisch in dieses Becken verirrt!« Aber ganz
so einfach, wie Basti es sich dachte, war es nicht. Die
meisten Fische spürten offenbar, möglicherweise am
veränderten Strömungsverhalten des Wassers, dass dort
etwas auf sie lauerte, das nicht natürlichen Ursprungs
war.
Beinahe eine halbe Stunde lang stand er im Wasser. Die
Beine wurden allmählich taub vor Kälte und Thorbald
zweifelte inzwischen am Jagdglück seines Herren. Doch
dann schlüpfte ein einzelner Fisch durch die Öffnung.
Langsam schwamm er in dem Becken auf und ab. Sebastian
geduldete sich, bis die Position der Beute zu der des
Speeres passte.
Blitzschnell, ohne vorher mit einem Muskel zu zucken,
stieß er zu. Die eingekerbte Spitze der Waffe bohrte
sich durch den Fisch und Basti drückte das zappelnde
Wesen einen Moment auf den Grund, um sicher zu gehen,
dass der Fisch nicht wieder entwischte.
Dann hob er den Speer aus dem Wasser und schwenkte ihn
mit langem, schwungvollem Arm zum Ufer hinüber.
»Gebt acht, Thorbald, hier kommt euer Abendessen!« Er
lachte triumphierend, kam aus dem Wasser und trat heftig
auf der Stelle, um das Blut in seinen Füßen wieder zum
zirkulieren zu bringen. Während sich Thorbald um den
Fisch kümmerte, griff sich Basti den zweiten Speer und
watete wieder in das eisige Nass.
Es dauerte nicht lange, da zuckte ein mächtig großer
Brocken von Fisch an der tödlichen Spitze, so dass
Sebastian Mühe hatte, den Speer zu halten. Thorbald nahm
ihm den Fisch ab und gab ihm den ersten Speer zurück. So
ging das eine ganze Zeit lang, und in einer knappen
Stunde hatten sie acht armlange Fische gefangen und
ausgenommen.
Und als es dunkel geworden war, dünsteten die Forellen
in frische Kräuterblätter gewickelt, auf flachen
Steinen im Feuer. Ein Duft breitete sich aus, der sie
alle ungeduldig ins Feuer starren ließ. Antarona hockte
sich in regelmäßigen Abständen vor die Glut und stach
mit einem dünnen Geflügelknochen durch die
Kräuterschicht, um den Garzustand zu prüfen.
Wie hungrige Wölfe fielen sie über die Fische her, als
diese endlich gar waren. Antarona erwies sich als
perfekte Köchin. Sebastian konnte sich nicht erinnern,
jemals so leckeren Fisch gegessen zu haben.
Nachdem sie die Fische und einige gekochte Wurzeln
verspeist hatten, kontrollierte Sebastian noch einmal die
Fußfesseln der Pla-ka. Antarona hatte ihnen die
Vorderbeine so zusammengebunden, dass sie nur kleine
Schritte machen, und sich nicht weit vom Lager entfernen
konnten. Basti bezweifelte, dass sie dazu motiviert
waren, denn sie waren ebenso erschöpft, wie ihre Reiter.
Antarona hatte das Lager für sich und Basti im
Windschatten eines Felsens eingerichtet und ein kleines
Feuer entfacht, dessen Glut die Nacht hindurch ein klein
wenig Wärme und Schutz bot. Thorbald zog sich zu Bastis
Erleichterung auf die andere Seite des Felsblocks
zurück.
Alles war friedlich, als er zu seinem Krähenmädchen
unter die Felle kroch. Nur die Sterne blinkten hoch über
ihnen, und der Wind fuhr ab und zu wispernd durch die
Zweige der Baumgruppe. Weit entfernte Tierstimmen und ein
monotones Zirpen irgendwelcher Zikaden sangen sie in
einen tiefen Schlaf...
Am Morgen verschleierten tiefe Wolken die Felswand, die
noch am Abend in rotem Licht erstrahlte. Wie fliehende
Geister zogen sie von Westen heran und blieben in der
hohen Wand hängen, als könnten sie sich nicht
entschließen, das Bollwerk zu überwinden. Nur
schwerfällig kroch die Sonne hinter der himmelhohen,
baumbesetzten Mauer hoch.
Sebastian schälte sich vorsichtig aus den Fellen heraus
und ging zum Bach, um ausgiebig zu baden. In
Wildwestfilmen fand er es immer sehr romantisch, in der
Natur zu leben, draußen zu übernachten, und sich am
Morgen am Bach zu erfrischen. Doch die Realität sah ein
klein wenig anders aus.
Es war erbärmlich kalt, und als er in das
dahinströmende, klare Wasser stieg, bekam er beinahe
keine Luft, so eisig umschloss ihn das frische Nass.
Basti biss die Zähne zusammen und zwang sich so lange
wie möglich im Bach auszuhalten.
Mit eisernem Willen rieb er sich den körnigen Sand des
Bachgrunds in die Haare und ließ ihn von der Strömung
wieder herausspülen. Antarona hatte ihm diese Art der
Haarwäsche gezeigt. Der Sand rieb den Schmutz los, den
das Wasser dann mühelos fortspülte. Mehrere Male
wiederholte er die Prozedur, bis er das Gefühl hatte,
sauber zu sein.
Mittlerweile war er so durchkühlt, dass er kaum noch
seine Gliedmaßen spürte. Völlig steifgefroren stelzte
er aus dem Wasser. Die Luft kam ihm plötzlich wie
aufgeheizt vor. Er fror nicht mehr, sondern empfand die
Frische des Morgens als angenehm.
Voll neuer Energie schürte er das Lagerfeuer an, legte
Holz nach und begann eine kräftige, heiße Brühe zu
kochen. Er benutzte dazu getrocknetes Fleisch, das
Antarona in einem Lederbeutel aufbewahrte und etwas Fett,
das wiederum aus der ausgewaschenen Blase einer
Antilopenart stammte.
Das Ganze rundete er mit ein paar Gewürzen aus Antaronas
Sortiment ab. Da fanden sich getrocknete und zerbröselte
Blätter, Stängel, und erstaunlicherweise sogar
Baumrinden. Oft genug während ihrer Reise nach Falméra
hatte er sein Krähenmädchen dabei beobachtet, wie sie
die verschiedenen Kräuter einsetzte. Und ebenso oft
hatte er selbst unter ihren kundigen Blicken eine
stärkende Suppe, oder einen wärmenden Tee zubereitet.
Bald weckte der Duft auch Antarona. Sie hängte sich, wie
es ihre Art war, an Bastis Hals, gab ihm einen heißen
Kuss und wandte sich dann ebenfalls dem Bach zu. Völlig
unbefangen, in der Tradition der jungen Frauen des Val
Mentiér, warf sie ihre wenigen Kleidungsstücke ins
Ufergras und stieg, wie die Götter sie geschaffen
hatten, in den Bach.
Beinahe gleichzeitig erschien Thorbald auf der
Bildfläche, verschlafen torkelnd, und sich den Nacken
massierend. Gierig blickte er auf den Kupferkessel mit
der Suppe, und auf das Brot, das Sebastian auf einen
Stein gelegt hatte.
Dann sah er in die Runde und erblickte Antarona, die sich
gerade den Sand in ihre langen Haare rieb. Peinlich
berührt sah er zu Boden.
»Ich werde mal nach den Pla-ka sehen, und die Ausreißer
wieder einsammeln«, verkündete er hastig und entfernte
sich.
Offenbar galt auch auf Falméra das ungeschriebene
Gesetz, das Männern die Nähe zu badenden Frauen
versagte. Denn die Pla-ka waren gefesselt und konnten
nicht weit gekommen sein. Vermutlich fanden sie die Tiere
auf irgendeiner Kuppe friedlich äsend.
Erst als Antarona am Feuer saß, traute sich der junge
Kohortenführer wieder ins Lager. Sebastian gab ihm eine
Schale Suppe und ein Stück Brot. Antarona aber
ignorierte ihn. Für sie war er nur ein Störfaktor. Und
sie ließ ihn deutlich spüren, dass sie lieber mit Areos
allein sein wollte. Sie funkelte ihn böse an, als er nur
zu fragen wagte, ob sie nicht gemeinsam auf die Jagd
gehen wollten.
»Jemand muss die Pla-ka bewachen, während Sonnenherz
und Areos jagen gehen«, stellte sie nüchtern fest. Dann
stand sie auf, ließ das Fell, das sie sich umgehängt
hatte, provozierend zu Boden fallen und schritt mit
aufreizendem Gang zum Baum hinüber, wo ihre Waffen
lagen.
Sebastian rätselte, ob sie ihm damit signalisieren
wollte, dass sie sich auf ein par einsame Stunden mit ihm
freute, oder ob sie Thorbald deutlich machen wollte, was
er definitiv von seiner Wunschliste streichen konnte.
Wahrscheinlich beides.
Ganz ungezwungen, damit sich Thorbald erstens nicht
ausgeschlossen fühlte, andererseits jedoch bestimmt,
damit er sich wieder auf seine Aufgabe besann, legte
Sebastian fest, indem er auf den nördlichen Teil des
Hangs wies, über den sie am Abend zuvor gekommen waren:
»Ihr Thorbald, nehmt euch euren Pla-ka und reitet dort
hinauf. Nehmt auch ein Packtier mit Standarten mit, sucht
euch einen Platz, an dem ihr die Ebene, über welche wir
gestern kamen, gut übersehen, aber auch das Tal einsehen
könnt. Dann steckt einen geeigneten Lagerplatz für zwei
Kohorten ab. Anschließend wartet ihr dort auf mich. Und
behaltet die Ebene im Blick! Sollten sich Feinde nähern,
spielt nicht den Helden, denn ich brauche euch noch.
Versteckt euch und berichtet mir dann!«
Antarona tat, als hätte sie Bastis Anweisungen an
Thorbald nicht gehört. Doch ihre plötzlich
übertriebene Betriebsamkeit verriet sie. Auf einem Mal
ging alles sehr schnell. Hatte sie vorher unlustig die
Felle auf einen Haufen geworfen, so beeilte sie sich
jetzt, sie sauber auf einen Pla-ka zu laden.
Sebastian beobachtete sie aus den Augenwinkeln, während
er noch Thorbald half seine Pla-ka aufzuzäumen, ihn
verabschiedete und ihm einen Moment nachsah. Dann ging er
zu seinem Krähenmädchen hinüber.
»Die Mühe kannst du dir sparen«, sagte er mit Blick
auf die aufgezurrten Felle, »wir werden sie nicht
mitnehmen!« Antarona sah ihn an, als hätte er
urplötzlich den Verstand verloren.
»Ihr könnt sie hier nicht angebunden lassen, Ba -
shtie«, empörte sie sich, »Eishunde, Felsenbären und
Gore werden sie sich holen, wenn sie hier wehrlos...«
Sebastian unterbrach sie und fasste sie liebevoll um die
Taille.
»Du hast doch gesagt, in dieser Zeit sind die Gore im
Süden, im Land der Oranuti!« Sie wollte etwas erwidern,
doch er ließ sie nicht zu Wort kommen.
»Binde sie los, dann werden sie nicht wehrlos sein!«
schlug er vor. Seine Frau schüttelte leicht den Kopf,
als glaubte sie nicht, was sie hörte.
»Aber dann werden sie sich in alle Winde zerstreuen, Ba
- shtie! Wir werden zwei Sonnen brauchen, um sie
wiederzufinden!« Sebastian lächelte sie überlegen an.
Dann eröffnete er ihr fas geheimnisvoll:
»Wer sagt denn, dass wir sie suchen müssen? Lass sie
einfach los, wohin wollen sie denn schon laufen? Wohin
sie sich in diesem Tal auch wenden, sie werden auf
unserem Land sein! Durch den Wald gehen sie nicht, durch
die Schlucht auch nicht, und dass Pla-ka über Felswände
steigen, habe ich noch nicht gehört. Mag sein, sie
ziehen auf die Ebene. Der Durst aber treibt sie immer
wieder in unser Tal zurück!« Als Antarona immer noch
skeptisch dreinblickte, packte er sie an den Schultern
und schüttelte sie leicht.
»Engelchen«, sprach er beinahe feierlich, »wohin sie
auch laufen, sie werden auf unserem Land sein, auf dem
freien Land, das ich für uns erobern werde, für dich,
für mich, für unser Töchterchen! Sollen sie ruhig
laufen, sollen sie sich vermehren! Es sind nur vier
Tiere, mit Thorbalds Packtier fünf. Aber warte, bis
unser Töchterchen den fünften Sommer erblickt!« Basti
holte mit seinem Arm weit aus und wies über das Land.
»Es wird unser Land sein, auf dem sie grasen, sie werden
unser Wasser saufen, und es werden gute Pla-ka sein,
kräftig, schnell und ausdauernd, es werden gute
Reittiere werden, für eine gute Reiterkohorte, für
Arrak und seine Windreiter, damit sie Torbuk und den
Oranuti das Fürchten lehren!« Basti holte tief Luft,
blickte in die Runde und träumte wiederholt:
»Gib mir die Zentare von fünf Sommern und fünf
Wintern, und du wirst in unserem Tal die besten Pla-ka
sehen, die je einen Huf auf Falméras Erde gesetzt haben!
Unser Wohnhaus wird dort drüben stehen, unter den
mächtigen Bäumen dort, die im Sommer Schatten spenden.
Dahinter die Stallungen, Lagerhütten und Pferche. Und
daneben ein Kräutergarten für dich!«
Er drehte sich zu ihr um, nahm sie in den Arm und drehte
sie synchron mit seiner Zukunftsvision, die er bereits
als deutliches Bild vor sich sah.
»Wir fangen heute damit an! Lass sie laufen! Tariste
wird sie führen, er wird über sie wachen, er wird sie
zusammenhalten! In diesem Sonnenlauf beginnen wir unser
Heim zu bauen, mit einer Hand voll Pla-ka! Hier gibt es
gutes Gras und viel Wasser. Sie werden sich vermehren,
sie werden von gesunder Gestalt sein, und die Reiter, die
einst auf ihnen sitzen, werden unser Land beschützen und
behüten, so dass unser Töchterchen glücklich und in
Frieden aufwachsen kann!« Auf einem Mal sah er seine
Frau erstaunt an, zog die Augenbrauen hoch und fragte:
»Sag mal, wie soll sie denn überhaupt heißen, welchen
Namen wollen wir ihr geben, wenn sie das Licht Talris
erblickt?«
»Ba - shtie!« entrüstete sich Antarona. Es sind noch
ein Sommer und viele Monde zu leben, bevor das kleine
Herz Talris Licht erblickt!« Dann wurde sie aber
nachdenklich und sah verträumt über das Land, über die
Blumenwiesen, die im Morgendunst lagen und mit ihren
Tautropfen ein millionenfaches Gefunkel entfachten, das
die aufgehenden Blüten begleitete.
»Sie wird schön sein, Ba - shtie, die Tochter von
Sonnenherz und Glanzauge wird sehr schön sein! Sie wird
so wunderschön und leuchtend sein, wie diese Blumen im
erwachenden Licht Talris. Wir werden sie Veni-ia-phalis
nennen! Es bedeutet Schöne Blume am Morgen..,
Morgenblume! So werden wir sie rufen: Blume des
Morgens!«
Sebastian lief eine Hühnerhaut über den Rücken, als er
seiner Frau zuhörte. Er war ergriffen von ihrer tiefen
Überzeugung und von dem Gedanken, dass seine Tochter
einen Namen tragen würde, der mit seinem Land in
wundervoller Weise verbunden war.
So sollte es sein! Gebar Antarona tatsächlich ein
Mädchen, und daran hatte Sebastian seit der
Prophezeihung der alten Binerin keinen Zweifel mehr, so
würden sie ihr den Namen Veniaphalis geben! Irgendwann
aber hatte er diesen Namen schon einmal gehört, doch er
entsann sich nicht mehr, wo.
Immer noch wie von einem großen Traum beseelt, ging
Antarona zu den Pla-ka hinüber und zog an den Schnüren,
welche die Lasten auf ihren Rücken hielten. Die Felle
und Stangen rutschten und polterten zu Boden und die
Tiere schnaubten erleichtert. Feierlich nahm sie ihnen
das Zaumzeug ab. Tariste schüttelte seine Mähne und
glotzte ungläubig.
Da trat Sebastian heran und gab dem Hengst einen Klaps
auf das Hinterteil, machte eine ausladende Bewegung und
rief dem Tier zu:
»Na nun mach schon, verschwinde, du bist frei! Hau ab
und nimm deine neue Familie mit! Los, zeig mir, dass du
es wert bist, dass ich meine Hoffnung in dich setze!«
Tariste ließ ein munteres Wiehern hören und trabte wie
der Wind los, als hätte er seinen Reiter verstanden.
Antaronas Pla-ka und die Packtiere brauchten keine extra
Einladung. Sie folgten ihrem Herdenführer, bevor er noch
außer Sichtweite war.
»Lauf, du verrücktes Biest, lauf nur zu«, sagte
Sebastian leise mehr zu sich selbst, »mach aus diesem
Tal ein Zuhause! Und gib acht auf deine Herde, pass gut
auf sie auf!« Zu Antarona gewandt sage er auffordernd
lauter:
»Na ja, für unser Zuhause werden wir nun wohl laufen
müssen, was?« Sie grinsten sich beide an, glücklich,
zufrieden, voller Hoffnung. Sie nahmen ihre Waffen auf,
füllten die Wasserbeutel und machten sich auf den Weg.
Zunächst folgten sie einem kleinen Bach über die
sanften Hügel der Weiden. Die Sonne brannte vom Himmel
und rasch wurde ihnen warm. Je näher aber sie der
Felswand kamen, desto bedrohlicher erhob sich die
Barriere über ihnen und bald traten sie in ihren
mächtigen Schatten. Dort wehte ein kühler Wind, der das
Laufen erträglicher machte.
Drei Stunden waren sie unterwegs, bevor sie den Hang
erreichten, der zum Fuß der Felswand hinaufführte.
Allmählich bekamen sie eine Vorstellung von der Größe
und Weitläufigkeit des Tals, welche sie mit bloßem Auge
zu erfassen gar nicht in der Lage waren.
Hier, an der Schattengrenze der Felswand, hoffte Antarona
Fährten von Jagdwild aufzuspüren. Sie glaubte, dass
sich die Tiere bevorzugt zwischen sengender Sonne und
kühlendem Schatten aufhielten. Konzentriert suchte sie
den Grasboden ab, der von Felsbändern unterschiedlicher
Größe durchzogen war.
Plötzlich blieb sie stehen und deutete auf eine
versiegte, aber noch feuchte Pfütze. Die Erde war dunkel
und nass. In ihrer Mitte zeigte sich der Abdruck eines
kleinen Hufes, kleiner, als der eines Rothirsches, aber
größer als die Spur eines Rehs.
»Nu-hu-ruk«, verriet Antarona ihrem Ba - shtie
geheimnisvoll. »Es ist nach der schlafenden Sonne, nach
dem Wald hin gezogen. Der Abdruck ist nicht tief, es war
nicht in Eile, es war auf der Suche nach Kräutern«,
stellte sie forensisch fest.
»Nu-hu-ruk«, wiederholte Sebastian skeptisch, als
zweifelte er an der Urteilskraft seiner Frau. Als
Antarona nicht weiter auf seine Wiederholung einging,
fragte er ungeduldig und beinahe verzweifelt:
»Was bei den Göttern ist nun wieder ein Nu-hu-ruk?« Er
machte keinen Hehl daraus, dass er mit der Vielfalt der
Fauna dieses Landes und dem Lernen ihrer Bestimmung nicht
so rasch hinterher kam.
»Es ist Fleisch, Ba - shtie, gutes Fleisch und Sehnen
für unsere Bogen!« klärte sie ihn auf. Antarona kniete
sich auf den Boden, beugte sich vor und vergrub ihr
Gesicht im Gras neben der trocknenden Pfütze.
»Sonnenherz riecht zwei junge, weibliche Tiere, welche
nicht trächtig sind«, verkündete sie leise und
geheimnisvoll.
»Na sieh mal an«, kommentierte Basti ihre Erkenntnisse
mit seinem Sarkasmus, »und kannst du auch riechen, ob
sie Empfängnisbereit sind?« Er glaubte Antarona damit
aus der Reserve zu locken, doch sie antwortete nüchtern,
als wäre es das Normalste der Welt:
»Natürlich kann Sonnenherz das! Es ist wichtig, zu
wissen, ob ein Bock ro-na-hé, paarungslustig ist, oder
ein weibliches Tier trächtig«, erklärte sie ihm mit
ernster Miene.
»Ist der Bock ro-na-hé, so schmeckt sein Fleisch
streng, und es muss lange abgehangen und gewassert
werden. Bei einer Ricke, welche trächtig ist, findet ihr
fettes, weißes Fleisch. Das beste Fleisch bekommt ihr,
wenn ihr junge Tiere erlegt, die ein, oder zwei Sommer
alt sind. Sie haben das beste Fleisch, zart im Wuchs, und
Sehnen, die sich gut aufziehen lassen!« Antarona drehte
sich zu ihm um und fügte hinzu:
»Doch gebt acht, dass ihr von den jungen Tieren stets
nur die Kranken und Schwächsten auswählt! So sorgt ihr
für kräftiges, gesundes Fleisch in den nächsten
Sommern und Wintern!« sprach die Jägerin aus Antarona.
Dann stand sie auf und strebte dem Wald zu, der an die
nördliche Kante der Felswand grenzte und sich wer weiß
wie weit in das Land hinein zog. Den Boden ließ sie
dabei nicht mehr aus den Augen. Sie las in ihm, wie in
einem Buch. Was Sebastian nur mit Mühe allmählich zu
lernen versuchte, schien ihr angeboren.
Ein winziges Haarbüschel an der Baumborke, ein
zertretenes Insekt auf dem Fels, ein winziger Flecken
Gras, an dem kein Tau mehr hing, sie waren ihr die
Wegweiser durch die Geschichte des Landes der letzten
drei Stunden.
Zwischendurch stieg das Krähenmädchen auf einen hohen
Felsblock, der von einer Laune der natur inmitten der
Weiden liegengelassen wurde. Sie spähte zum Wald
hinüber und rief zu Basti herab:
»Die Tiere sind zwischen den beiden großen Bäumen in
den Wald gezogen!« Sebastian zog die Augenbrauen hoch.
Wie konnte sie das wissen?
So sehr er sich auch anstrengte, er konnte keinen
Anhaltspunkt dafür finden, wo eine kleine Herde
Antilopen über die Weiden gezogen sein wollte. Allein
die endlose Steppe der Weiden vermochte er zu erkennen,
die sich in ihrem monotonen Gelbgrün bis zum Waldrand
hinzog.
»Wie vermag Sonnenherz zu wissen, wo die Herde
entlanggezogen ist? Das Gras, auf welches die Tiere
getreten sind, war weich im Morgentau und hat sich wieder
aufgerichtet. Sie haben keine Spuren hinterlassen!« rief
er zu ihr hinauf. Antarona aber winkte ihn herauf und
wartete, bis er neben ihr stand.
»Ba - shtie, blickt über das Land und seht selbst!«
sagte sie und holte mit ihrem Bogen aus, als wollte sie
die Unebenheiten und kleine Hügel mit einer unsichtbaren
Macht ebnen. Und Sebastian staunte nicht schlecht.
Unzählige Spuren zogen sich entweder als feine
Zickzacklinien, oder als breite, gerade Pisten über das
weite Grasland, das offenbar viele Tiere als Weidegrund
nutzten. Die meisten Fährten endeten am Waldrand. Was
Sebastian sah, war ein Effekt, den er bereits als
Alpinist kennengelernt hatte.
Stieg er auf einen Berg, so erkannte er aus der
Entfernung eine sauber abgegrenzte Gratlinie, durch
Schatten und Licht voneinander getrennte Flanken. Auf
einem Grat selbst aber verlor sich die Linie meist im
Detail. Die Gratkante löste sich auf in einzelne Stufen,
Blöcke, Rinnen und Absätze.
An diesem Morgen waren es die winzigen Tautröpfchen, die
den Unterschied zwischen dem Detail und der Wahrnehmung
aus der Distanz ausmachten. Dort, wo die Herden gezogen
waren, hatten sie den Tau von den Grashalmen abgestreift.
Dadurch brach sich das Licht auf der Oberfläche der
Gräser anders und wies deutliche Spuren.
Es war so einfach, doch Sebastian wäre von allein nie
dahinter gekommen. Antaronas Erfahrungen in der Wildnis
waren auf ihre Weise so komplex, wie das Wissen um eine
Automationsanlage in einer Fabrik. Ohne diese Erfahrungen
und Erkenntnisse, mochte ein Menschenwesen verhungern,
oder gar einem auf Beute ziehendem Tier zum Opfer fallen.
Sie stiegen vom Felsen herab und bahnten sich den Weg
durch das hüfthohe, nasse Gras. Innerhalb weniger
Momente war Sebastians Hose durchnässt, und schlackerte
schwer um seine Beine. Antarona war klüger. Sie hatte
ihre Beinlinge abgelegt und trug sie über der Schulter.
Ihr Hüftschurz klebte ihr klatschnass auf der Haut und
ließ ihre weiblichen Rundungen mit aufreizender
Deutlichkeit erkennen.
In Bastis Kopf schlugen seine Phantasien Purzelbäume. Er
sah sie beide im Geiste sich durchs nasse Gras wälzen,
sich einfach ihren Gelüsten hingebend. Seine Sinne
tanzten durch den Raum und nahmen nicht mehr wahr, was
vor ihnen war.
Direkt vor ihren Füßen, als spuckte ihn der Boden aus,
sprang ein Antilopenbock hoch, verschwand mit einem Satz
wieder im hohen Gras. Bastis Augen verfolgten den
flüchtenden Bock, dessen Kopf immer nur für kurze
Augenblicke aus dem Grasmeer auftauchte, und seine
Position verriet. An seinen Bogen dachte er nicht.
Antarona hingegen ließ einen Pfeil von der Sehne
schnellen, als der gehörnte Kopf aus dem wogenden Gras
auftauchte. Doch das Geschoss verfehlte sein Ziel.
Sebastian wusste, dass er mit seinen Sinnen nicht mehr
bei der Jagd gewesen war. Doch was hatte seine Gefährtin
abgelenkt? Gewöhnlich spürte sie ein Tier, noch bevor
sie es sah, und ihr Pfeil hatte bisher noch nie sein Ziel
verfehlt!
»Ba - shtie, wenn euer Herz den Leib von Sonnenherz
ruft, so schreckt ihr jedes Wild zur Flucht, und jeder
Pfeil wird nur die Luft durchbohren!« schalt ihn
Antarona mit hörbarem Vorwurf. Sein Erstaunen wuchs ins
Grenzenlose. Vermochte sie sogar seine Blicke auf ihrem
Körper zu spüren? Fühlte sie, ohne ihm in die Augen zu
sehen, wenn er sie begehrte?
Basti dachte nach und errötete leicht. Möglicherweise
spürte sie sein Verlangen und erwiderte es still und
heimlich. Er hatte einmal gehört, dass Tiere so etwas
über weite Entfernungen wittern konnten. Der Bock war
also gewarnt, bevor sie noch in seine Nähe kamen. Und
Antarona wusste es, stellte er peinlich berührt fest.
Während Antarona versuchte, ihren Pfeil wiederzufinden,
nahm er sich vor, an etwas anderes, weniger aufregendes
zu denken. Aber das gelang ihm so lange nicht, bis sie am
Waldrand standen. Erst hier, vor der bedrohlich wirkenden
Kulisse der mächtigen, undurchdringlichen Wand aus
Bäumen, fokussierten sich seine Sinne auf etwas anderes.
Pfeil und Bogen im Anschlag, traten Antarona und
Sebastian gebückt in den Schatten der mächtigen
Stämme. Vorsicht war ständig geboten. Nicht nur das
Wild, das sie erjagen wollten, schlich hier auf leisen
Pfoten, oder Hufen unter dem Blätterdach der Bäume
umher.
Sie mussten sich allmählich beeilen, wenn sie Beute
machen wollten. Noch erreichten die schräg einfallenden
Sonnenstrahlen nicht den Grund des Waldes. Der Boden war
nass vom Tau. Ihre Füße übertrugen das Körpergewicht
auf das feuchte Laub und das nasse Bruchholz. Wie auf
weichem Moos bewegten sie sich geräuschlos vorwärts.
Das war vorbei, wenn die Sonne am Zenit stand, ihre
Strahlen senkrecht durch die Blätterkronen warf, und den
Boden austrocknete. Jede Bewegung ihrer Füße würde
dann ein Rascheln, Knacken, oder Stampfen verursachen.
Je tiefer sie in den Wald eindrangen, und je höher sie
stiegen, desto dichter wurde die Vegetation. Bald
füllten Nadelbäume die Lücken zwischen den licht
stehenden Laubbäumen aus, unter dem Blätterdach wurde
es dunkler. Der Boden war von weniger Laub bedeckt,
dunkel, fast schwarz, und feucht.
Antarona deutete plötzlich mit der Bogenspitze auf eine
Fährte. Deutlich zeichnete sich ein kleiner, gepaarter
Huf im weichen Humus ab. Wie eine Wölfin folgte Antarona
der Spur, und als sie zwei kleine, eng stehende Tannen
erreichten, zwischen denen die Spur hindurchführte,
beschnupperte sie gründlich die Zweige.
»Ein jüngeres Tier, kein Bock, und nicht in Erwartung
eines kleinen Herzens«, verkündete sie flüsternd mit
forensischer Sicherheit, »aber es lahmt etwas am
Vorderfuß!« Sebastian hielt seine Frau am Arm fest und
raunte ihr zweifelnd zu:
»Du kannst riechen, dass es sich einen Fuß gebrochen
hat?« Antarona gebot ihm mit einem Finger auf dem Mund,
leiser zu sein, antwortete aber im Flüsterton:
»Ba - shtie, seid nicht töricht, das sieht Sonnenherz
darin, wie die Abdrücke in der Fährte stehen! Zu
wittern vermag sie nur sein Empfinden!«
Nur sein Empfinden, wiederholte Basti im Geiste. Genau
das war es ja, was ihm Angst machte, und ihn gleichzeitig
an diesem wilden Mädchen faszinierte. Er lächelte still
in sich hinein, und war unheimlich stolz, das dieses
besondere Krähenmädchen seine Frau war.
Durch eine Verkettung dummer Umstände war er auf
unerklärliche Weise in dieses Land geraten, seinem
Zuhause entrissen. Doch er vermisste es nicht, sein
früheres Leben. Im Gegenteil! Inzwischen hatte er Angst,
irgendwann durch ähnliche Umstände in seine Welt
zurückzukehren, und Antarona zurücklassen zu müssen.
Diese Frau war sein Zuhause! Dabei war es egal, wo sie
lebten, solange sie nur zusammen lebten! Wieder lächelte
Sebastian und dachte zurück. Früher vertrat er die
unumstößliche Meinung, dass man nur in jenem Land
zuhause sein konnte, in welchem man geboren wurde, oder
dort, wo man sich von der Landschaft angezogen fühlte.
Nun wusste er, dass es ein Irrtum gewesen war!
Nicht die Herkunft, das Land, machte wirklich ein Zuhause
aus. Es waren die Menschen, die ihm das Gefühl von
Zuhause vermittelten! Jene Menschen zu denen man sich
hingezogen fühlte, die einem die Wärme des Herzens
gaben, die man liebte. Das entscheidende an einem Zuhause
war, nicht allein zu sein, sich in einer Gemeinschaft
geborgen zu fühlen!
Mit Antarona an seiner Seite mochte er in einer Wüste
leben, oder auf einem Berg, auf einer Insel, oder in den
Sümpfen, in den undurchdringlichen Tiefen der Wälder,
ja sogar in seiner Welt, solange sie beide glücklich
waren! Mit dieser Frau hatte er das Gefühl, vollkommen
zu sein! Nun verstand er auch Antaronas Worte zwei
Herzen, die wie eines sind.
Damit hatte sie alles ausgedrückt: Tiefe Verbundenheit,
Vertrauen, erfüllte Sehnsucht, Geborgenheit. Das Zuhause
eines Menschenwesens war die Liebe! Basti schüttelte
über sich selbst den Kopf. Wie weit hatte er gehen
müssen, wie weit hatte ihn das Schicksal geführt, bis
er das begriffen hatte, das doch eigentlich so simpel
war! Das Manifest zwischen Liebe und Zuhause zu erkennen!
Andererseits musste er zugeben, dass er froh war, vom
Schicksal so weit getrieben worden zu sein.
Ohne die Erkenntnisse, dass Gold nur einen vergänglichen
Wert besaß, und dass es erstrebenswertere Ziele im Leben
gab, dass er Antarona nur hier, weitab seines bisherigen
Lebens, in einer Welt voller Gefahren finden konnte, und
dass ihre gemeinsamen Abenteuer ihm letztlich die Augen
geöffnet hatten, wäre er wohl immer noch auf der Suche
nach einem Zuhause!
Doch nun wusste er, dass ihr Zuhause überall auf der
Welt sein konnte, solange sie miteinander glücklich
waren!
Basti musste sich eingestehen, dass er nicht mehr sehr
oft an sein früheres Leben zurückdachte. Selbst die
Sprache der Îval und der Oranuti beherrschte er
inzwischen so perfekt, dass es nur noch selten vorkam,
dass er mit Antarona in seiner Sprache, der Sprache aus
dem Totenreich kommunizierte.
Ein Schmerz unterhalb seiner Rippen riss ihn aus seinen
Gedanken. Antarona holte gerade zu einem weiteren Stoß
mit ihrer kleinen Faust aus. Er packte ihr Handgelenk und
wollte laut protestieren, als er die Grimassen in ihrem
Gesicht wahrnahm, mit denen sie ihn lautlos auf etwas
aufmerksam machen wollte. Sie hockte sich ins Unterholz
und zog ihn mit sich auf den Boden.
Stumm wies sie mit dem Bogen nach vorn, durch die Büsche
hindurch. Sebastian folgte ihrem Blick, spähte zwischen
Baumstämmen hindurch und gewahrte eine Bewegung auf
einer noch ziemlich weit entfernten, kleinen Lichtung.
Auf diese Entfernung konnte er jedoch kaum erkennen, was
genau sich da vor ihnen auf der Waldwiese aufhielt.
Antaronas kleine Hand legte sich auf seinen Mund, um
sicher zu gehen, dass er keinen Ton von sich gab. Dann
bedeutete sie ihm in bildhafter Zeichensprache, dass sie
sich vorsichtig anschleichen mussten.
Sie entledigte sich aller Habseligkeiten, verstaute sie
zwischen den mächtigen Wurzeln eines großen Baumes, zog
anschließend ihr Oberteil sowie ihre Beinlinge aus und
legte alles sorgsam dazu. Dann schob sie sich den Dolch
in das dünne Band ihres Lederschurzes.
Zuletzt entspannte sie ihren Bogen wieder, damit er sich
nicht im Unterholz verfing. Ungeduldig stupste sie Basti
an, es ihr gleich zu tun. Sein Blick empörte sich
dagegen, sich völlig zu entkleiden, und auch noch die
Stiefel auszuziehen. Doch mit einer energischen Mimik gab
sie ihm zu verstehen, dass sie keinen Kompromiss zulassen
würde.
Er legte die Waffen ab und zog sich bis auf die Unterhose
aus. Sein Bowiemesser nahm er in die Hand. Antarona
nickte zufrieden und deutete mit dem Kopf nach vor, ihr
zu folgen. Ohne sich noch einmal umzudrehen, kroch sie
vorwärts.
Die Zehen und Ballen ihrer Füße grub sie tief in den
weichen Boden, stieß sich damit ab, und bewegte sich wie
eine Echse vorwärts. Sie scheute sich nicht, mit dem
ganzen Körper auf dem Boden zu rutschen, und arbeitete
sich Meter für Meter vor.
Sebastian folgte ihr dichtauf. Zunächst wanden sie sich
unter dornigen Büschen hindurch, die Antarona wie durch
eine geheimnisvolle Fügung ungeschoren ließen, ihm aber
den ganzen Rücken zerkratzten. Anschließend wand sich
das Krähenmädchen durch eine große Schlammpfütze. Nur
noch ihr Kopf sah heraus. Die Waffen hielt sie mit einer
Hand in die Höhe, während sie mit der anderen
weiterkroch.
Als sie wieder trockenes Gelände erreichte, glänzte sie
wie eine mit Butter eingeriebene, schwarzhäutige
Tänzerin. Der lehmige, dunkle Schlamm bedeckte ihren
ganzen Körper. Sebastian wusste mittlerweile, dass dies
zur Tarnung diente, und verhinderte, dass die Beutetiere
sie wittern konnten.
Zögernd wartete Sebastian vor dem Schlammloch. In seinen
Erinnerungen war noch das Erlebnis in den Elsirensümpfen
wach. Antarona drehte sich zu ihm um, warf ihm einen
warnenden Blick zu, und zeigte ihm die Zähne. Ein
deutliches Zeichen! Er wusste, dass sie ihm die Augen
auskratzen würde, sollte er das Unternehmen durch seine
Eitelkeit zum Scheitern bringen.
Wohl oder übel kroch er durch das kalte, nach Moder
stinkende, nasse Loch und hatte seine Mühe damit, die
Waffen sauber zu halten. In der zähen Brühe war nur
schwer vorwärts zu kommen und er fragte sich, wie
Antarona es geschafft hatte, sich mit der Geschwindigkeit
einer Wasserschlange durch diesen Pfuhl zu winden.
Indem sich Basti auf der anderen Seite wieder auf
trockenen Boden schob, spürte er, dass sich seine
Unterhose so mit Schlamm vollgesogen hatte, dass sie ihm
über den Hintern zu rutschen drohte. Still fluchend
wälzte er sich im Laub und versuchte sie wieder
hochzuziehen. Antarona hörte das Rascheln, drehte sich
um und warf ihm einen vernichtenden Blick zu.
Er verkniff sich weitere Rettungsversuche seiner
Unterwäsche. Aber die waren auch nicht mehr nötig. Der
auf seinem Körper rasch trocknende Schlamm hielt das
letzte Kleidungsstück fest auf seinem Leib. Trotzdem zog
er das Band im Saum fester, als er sich weiter
fortbewegte, immer in der Spur seiner verwilderten Frau.
Bald erreichten sie einen umgestürzten Baum. Der Stamm
lag auf den stärkeren Ästen, etwas erhöht und bot eine
gute Deckung. Sebastian schob sich neben das
Krähenmädchen und erhielt sofort einen Knuff in die
Seite. Dazu erntete er einen vorwurfsvollen Blick. Ebenso
anklagend wies er mit beiden Händen auf seine Hose, die
einmal weiß gewesen war.
Gleichgültig hob Antarona die Schultern. Sah er nicht
eben ein verstecktes, schadenfrohes Grinsen über ihr
Gesicht huschen? Das wurde erst einmal nebensächlich.
Vorsichtig spähten sie beide über den Baumstamm. Die
Lichtung war deutlich näher gerückt. Deutlich konnten
sie die Herde Antilopen erkennen, die friedlich grasend
über die freie Fläche zog.
Mit einer Handbewegung gebot ihm Antarona, sich wieder
hinter den Baumstamm zu ducken. Dann erklärte sie ihm in
Zeichensprache, wie sie weiter vorgehen wollte. Sie
wollte bis zu einem großen, weit ausladenden Laubbaum
nahe der Lichtung weiterkriechen, dessen mächtige
Wurzeln sich über der Erde weit verzweigten. Dahinter
sollten sie ihre Bogen aufspannen, um dann gleichzeitig
aufzustehen und zu schießen. Da Sebastian keine andere
Möglichkeit sah, an das Wild heranzukommen, ohne es zu
verschrecken, stimmte er nickend zu.
Antarona zupfte mit Zeigefinger und Daumen ein par Samen
eines Grases ab, die Basti an die federähnlichen Samen
des Löwenzahn erinnerten. Einzeln ließ sie die kleinen
Fallschirmchen durch die Finger ihrer erhobenen Hand
rieseln, und beobachtete, in welche Richtung sie davon
trieben. Der Wind stand günstig. Wenn er nicht
unverhofft drehte, würden sie sich bis zum Waldrand an
die Tiere anschleichen können.
Ohne zu zögern setzte Antarona ihr vorhaben in die Tat
um. Wie ein Wurm schlängelte sie sich unter dem
gefallenen Baum hindurch und robbte auf den uralten Baum
zu. Basti hatte Mühe ihr zu folgen, denn er war nicht so
biegsam wie das Krähenmädchen, und musste sich
regelrecht durch die Erde wühlen.
Als sie sich schließlich beide hinter die dicken Arme
der Wurzeln kauerten, waren die Antilopen schon ein gutes
Stück weitergezogen. Für einen sicheren Schuss aus
dieser Entfernung mussten sie einen windstillen Moment
abpassen und genau synchron handeln.
Antarona bedeutete Basti mit stummen Zeichen, sich
gleichzeitig mit ihr zu erheben, den Bogen zu spannen und
auf das letzte Tier der Herde zu zielen. Sie selbst
würde auf das vorletzte schießen. So hatten sie ihre
Möglichkeiten verdoppelt, und mit viel Glück konnten
sie einen zweiten Schuss anbringen, bevor sich die Tiere
erschreckten, einen Satz machten, und flohen.
Gemeinsam spannten sie ihre Bogen. Warten. Ein leichter
Wind, der nicht nur ihre Pfeile ablenken, sondern auch
die empfindlichen Nüstern der Tiere warnen konnte,
strich kaum merklich über sie hinweg. Doch auf der
freien Wiese mochte er stärker wehen, als zwischen den
mächtigen Bäumen.
Sie atmeten ein, wieder aus, wieder ein. Antarona
beobachtete das hohe Gras auf der Waldwiese, behielt
gleichzeitig das Ziel im Auge, konzentrierte sich nur auf
diese beiden Dinge. Sebastian fixierte sich auf sein
Tier. Sein Blick streifte Antaronas nackte Brüste, die
sich im ruhigen Atem hoben und senkten. Er versuchte in
ihrem Takt zu bleiben.
Nach einer scheinbaren Endlosigkeit spreizte Antarona
einen Finger ihrer Bogenhand, atmete aus und ließ den
Pfeil von der Sehne fliegen. Augenblicklich überließ
auch Basti sein Geschoss der Zugkraft. Der erste Pfeil
durchschlug den Hals der vorletzten Antilope, die mit
einem Satz nach vorn schnellte.
Sebastians Tier reagierte sofort, hob ebenfalls zu einem
Sprung an, doch zu spät. Sein Pfeil traf die Antilope
zwei Zehntelsekunden später direkt ins Blatt, sie
knickte in den Vorderläufen ein, und brach zusammen. Der
Rest der Herde stob vorwärts und war Sekunden danach im
Wald verschwunden.
Strahlend sah Antarona ihren Mann mit den Zeichen der
Götter an. Was für eine Jagd! Zwei Beutetiere auf einen
Streich und Fleisch genug für viele Tage! Sie legte
Pfeile und Bogen auf die Baumwurzel, zog ihren Dolch und
betrat die Wiese.
Basti verharrte und sah fasziniert zu, wie sich das mit
Schlamm beschmierte, unbekleidete Mädchen vom Grün des
Hintergrunds abhob, sich mit einer elfengleichen Grazie
und doch einer ungezähmten Wildheit den Weg durch das
hohe Gras bahnte.
Als sie sich gerade über das erste Beutetier beugte,
teilte sich das Unterholz im gegenüberliegenden
Waldrand. Ein riesiges Monster von gut drei Metern Höhe
trat, von einem Bein auf das andere wiegend, die
Lichtung. Sebastian blieb fast das Herz stehen.
Das Ungetüm sah so aus, wie er sich immer einen Yeti
vorgestellt hatte, mehr Affe als Mensch, vollständig mit
dichtem, zotteligen und dunkelbraunem Fell behaart.
Lediglich das Gesicht war beinahe haarlos, faltig, wie
altes Leder. Große, dumm glotzende Augen stachen daraus
hervor, spähten über die Wiese und fixierten Antarona.
Schwankend, wie ein betrunken, stand das Biest da, legte
seinen Kopf schief, und beobachtete das Krähenmädchen
ebenso fasziniert, wie Sebastian es getan hatte. Er
wusste, dass dieses Wesen dort drüben ein Robrum war,
doch hatte er bislang keine dieser Kreaturen so deutlich
bei Tagslicht gesehen.
Der nächtliche Zusammenstoß mit einem Robrum vor vielen
Zentaren war ihm unwirklich, wie der Abschnitt eines
bösen Traums vorgekommen. Doch jetzt, in der Sonne des
frühen Vormittags, wirkte diese Spezies noch
bedrohlicher auf ihn.
Sebastian überwand seinen ersten Schreck und reagierte
sofort. Mit drei Schritten stand er auf der Wiese, den
Bogen gespannt, sein Pfeil zielte auf die mächtige Brust
des zotteligen Riesen. Antarona gewahrte Sebastians
Geste, sprang auf und wirbelte zu dem Robrum herum.
Das Biest erschrak seinerseits, fühlte sich
offensichtlich bedroht und machte ein par Sätze auf
Antarona zu. Plötzlich blieb der Robrum stehen, reckte
sich zu majestätischer Größe und trommelte sich mit
behaarten Fäusten auf die Brust, so wie Sebastian es bei
Gorillas gesehen hatte. Dazu stieß das Wesen ein tiefes,
röhrendes Brüllen aus, das mit widerhallendem Echo
über die Lichtung dröhnte, und Basti empfindlich in die
Glieder fuhr. Doch er behielt sein Ziel fest fixiert.
Antarona stand zwischen ihm und dem Robrum, dessen
Stimmung sich zusehends verschlechterte. Sie schien
unschlüssig, und in ihrer Nacktheit der Gefahr
ausgeliefert und verletzlich. Basti wollte ein paar
Schritte auf den Robrum zugehen, und ihm den Pfeil ins
Fell jagen, als unverhofft vier weitere Riesen aus dem
Wald auftauchten.
Das änderte die Situation völlig. Wie viele von diesen
Zottelbiestern konnte er wohl mit seinen Pfeilen stoppen,
bevor sie Antarona erreichten und sie vor seinen Augen in
Stück rissen?
Wie zur Bestätigung seiner Befürchtungen, nahmen die
Robrums eine drohende Haltung ein. Ihre Absicht vermochte
Basti allerdings nicht eindeutig zu ergründen. Entweder
wollten sie Antarona, oder, was Basti insgeheim hoffte,
nur ihre erlegte Beute. Fieberhaft überlegte er, wie er
seine hilflose Frau aus der Situation retten konnte.
Doch Antarona kam ihm zuvor. Unter seinen entsetzten
Blicken steckte sie den Dolch zurück in das Hüftband,
hob beide Arme und ging langsam zwei Schritte auf die
Robrums zu. Basti hielt den Atem an, bereit, jederzeit
seinen Pfeil abzuschießen.
»Legt die Waffen weg, Ba - shtie, und verhaltet euch
ruhig«, rief Antarona ihm zu, und streckte gleichzeitig
den Robrums ihre leeren Handflächen entgegen. Dann
kniete sie nieder und senkte ihr Haupt.
»Macht schon, Waffen weg!« zischte sie ihm warnend zu.
Nur zögernd ließ Sebastian Pfeil und Bogen sinken,
legte sie so ins Gras, dass er sie schnell wieder greifen
konnte, sollte es erforderlich werden. Anschließend nahm
er Antaronas demütige Haltung ein.
Die Robrums grunzten sich irgendwelche Laute zu und es
hatte den Anschein, als berieten sie sich untereinander.
Die Anspannung ließ nach, und die Riesen beruhigten sich
etwas. Antarona nutzte die Gelegenheit, stand ganz
langsam auf und ging rückwärts zu den erlegten
Antilopen.
Ohne jede Hektik hob sie das kleinere Tier an, so dass
die Robrums es sehen konnten. Sie wartete, bis die
Zottelriesen aufmerksam und neugierig auf sie blickten,
dann zog sie das Beutetier an den Hinterläufen hinter
sich her und ging den Waldwesen langsam entgegen.
Unentschlossen, ob sie angreifen, oder abwarten sollten
beobachteten die Riesen Antaronas Gebaren.
Unerschrocken trat das Krähenmädchen den Wesen
entgegen, die sie über einen Meter überragten. In einer
unterwürfigen Geste legte sie die Antilope ein par Meter
vor den Robrums ab, deutete mit den blanken Handflächen
auf das Tier, dann auf die Gruppe Zottelwesen, und zog
sich mit gesenktem Haupt wieder zurück.
Etwas entfernt hockte sich Antarona ins Gras, legte ihre
Hände sichtbar auf ihre Knie und sah die Wesen offen und
durchdringend an. Basti ahnte, dass sie mit ihren Sinnen
Kontakt zu ihnen aufnahm, ohne, dass er dafür einen
sichtbaren, oder hörbaren Beweis hatte. Die Robrums
stießen zufriedene Grunzlaute aus, und er glaubte zu
erkennen, dass sie Antarona plötzlich mit Respekt
begegneten.
Zwei der Zotteltiere ergriffen plötzlich das Jagdwild
und zerrten es durch das Unterholz fort. Die anderen drei
verharrten in einer friedlich wartenden Position. Sie
legten abwechselnd ihre Köpfe auf die Seite, als hörten
sie einer geisterhaften Stimme zu. Sebastian wusste:
Antarona sprach mit ihnen!
Ohne jede Vorwarnung stand sie plötzlich auf, ging zwei
Schritte auf die Waldwesen zu, streckte dann ihren Arm
nach Sebastian aus und sagte:
»Kommt, Ba - shtie, wir wollen die Bewohner des Waldes
begrüßen!« Zögernd erhob sich Sebastian aus dem Gras,
blieb aber voller Skepsis stehen.
»Nun macht schon«, ermahnte sie ihn, »sie werden uns
nicht angreifen, sie wissen, dass wir ihre Freunde
sind!«
Vorsichtig ging Basti zu seinem Krähenmädchen hinüber
und gemeinsam näherten sie sich den riesenhaften,
behaarten Affen, die aber wesentlich mehr menschliche
Verhaltensmuster zeigten, als ihre Artverwandten in
Bastis Welt. In einem jedoch schienen sie die Basti
bekannten Halbprimaten noch zu übertrumpfen. Sie stanken
fürchterlich!
Den Geruch nach ranzigem Fett, nach Fäkalien und
schweren Körperausdünstungen konnten auch ihre dicken,
verfilzten Felle nicht mildern. Ein penetranter, schwerer
und säuerlich süßer Gestank schnürte Basti schlicht
die Kehle zu. Unter Aufbietung allen guten Willens riss
er sich zusammen und versuchte eine freundliche Mine auf
sein Gesicht zu zaubern.
Das dankten ihm die Wesen mit einer Geste, indem sie ihm
freundschaftlich ihre riesigen, groben Hände mit sanfter
Bewegung auf den Kopf legten, und dabei in fast
weinerlichem Ton vor sich hin grunzten. Sebastian musste
die Luft anhalten. Ihr Atem roch widerlich nach
verdorbenem Fisch und vergorenen Rübenblättern.
Die Weibchen dieser Wesen besaßen, wie die
Menschenwesen, üppige Brüste, die faltig und ledern aus
ihrem Fell heraushingen. Sie waren zudem auffällig
weniger und heller behaart, als die Männchen. Ihr
soziales Verhalten aber schien ebenso stark in ihrem
Bewusstsein verankert, wie das der Menschen.
Dennoch war ihre Entwicklung in einer frühen Stufe der
Evolution stehen geblieben. Außer Knüppeln aus
naturbelassenen Ästen schienen sie keine Waffen zu
besitzen. Sebastian vermutete jedoch, dass sie außer
Felsenbären und Menschen keine weiteren Feinde zu
fürchten brauchten. Ihre Größe und Kraft verliehen
ihnen die nötigen Verteidigungsmöglichkeiten. Wie gut
sie diese einzusetzen wussten, sollte Basti später noch
einmal feststellen.
Die Herrschaft über das Feuer war ihnen offenbar ebenso
unbekannt, wie das Rad, oder eisernes Werkzeug. Antarona
erklärte ihm später, dass sie in Höhlen, oder im
ausgehöhlten Erdreich unter mächtigen Baumwurzeln
Schutz vor Nacht und Kälte fanden. Sie waren nicht in
der Lage, Knochen, Häute, oder Geweihe ihrer Beutetiere
zu nutzen, und genauso wenig verstanden sie es, Wasser zu
ihren Unterschlüpfen zu transportieren.
Sie waren eine Spezies, ähnlich der großen Waldaffen
aus Bastis Welt, die sich lediglich rein physisch
weiterentwickelt hatte. Doch im Gegensatz zu Gorillas und
Orang Utans besaß ihr ebenfalls deutlich vorgeschobenes
Gebiss mächtige Reißzähne, was unmissverständlich
darauf hinwies, dass sie neben Pflanzen regelmäßig
rohes Fleisch verkonsumierten.
Wie sanftmütig diese Wesen sein konnten, wenn man ihr
Freund war, erfuhr Sebastian nun am eigenen Leib. Die
braunen Waldriesen begannen ungefragt damit, Antaronas
und Sebastians Haare nach Parasiten zu durchforsten.
Dabei gingen sie äußerst vorsichtig, ja beinahe
liebevoll vor. Basti deutete dies als Geste der sozialen
Verbundenheit, wie er es von den Affen her kannte.
Ganz unverhofft, wie aus heiterem Himmel, beendeten die
Robrums ihre Freundschaftspflege, und es schien, als
triebe sie eine unsichtbare Kraft an. Ohne eine Geste des
Abschieds wandten sie sich plötzlich, beinahe
fluchtartig dem Wald zu, brachen in das Unterholz ein,
und waren verschwunden. Lediglich das Weibchen blickte
sich noch einmal kurz um.
Fassungslos stand Sebastian neben seiner Frau auf der
einsamen Waldlichtung und schüttelte langsam, wie
ungläubig, den Kopf.
»Na, wenn das keine flüchtige Begegnung war...«
Antarona verstand die Doppelsinnigkeit seiner Worte
nicht. Solche Interpretationen waren ihr fremd.
»Etwas hat sie erschreckt«, bemerkte sie nachdenklich,
»etwas Großes, für diese Wesen übermächtiges.
Robrums bewegen sich nicht flüchtend, wenn sie nicht
etwas zu fürchten haben.«
»Na, das ist ja beruhigend«, bemerkte Basti
sarkastisch, »bei der Größe dieser Geschöpfe wird
das, wovor sie Angst haben, ja nicht unbedingt ein Wasel
sein, nicht wahr? Wärst du so freundlich, und kannst in
deiner unerschöpflichen Weisheit feststellen, was bei
den Göttern sie so in die Flucht geschlagen hat?«
Nicht seine komplizierten Worte, sondern eher der Klang
seiner Stimme verriet Antarona, was Sebastian sich von
ihr erhoffte. Natürlich wollte auch sie erfahren, was
die Robrums zu einem so übereilten Aufbruch getrieben
hatte.
Sie ging zurück an die Stelle, wo sie die Lichtung
betreten hatte, und wo einige aufeinander getürmte
Felsblöcke am Waldrand lagen. Dort hockte sie sich hin
und verfiel scheinbar in einen Zustand der Trance. Basti
wusste jedoch, dass sie hellwach war. Er hatte das schon
einige Male erlebt.
Es war nicht viel Zeit verstrichen, da segelten zwei
Schatten über die Lichtung heran. Tekla und Tonka
landeten auf dem Felsen, vor dem ihre menschliche
Freundin wartete. Wie so oft schon wunderte sich
Sebastian darüber, wie Antarona mit ihren Krähen
kommunizierte.
Die geistige Verbindung, die sie mit Tieren aufbauen
konnte, und die wahrscheinlich auch das Zusammentreffen
mit den Robrums zu einem glimpflichen Ausgang brachte,
machte sie bereits als Jugendliche zur Legende ihres
Volkes.
Nach einer Weile kam Antarona zu Sebastian zurück, der
bereits damit beschäftigt war, das erlegte Wild
auszuweiden.
»Viele Reiter sind über dem Tal«, verkündete sie
voller Sorge, »der Friede der großen Ebene ist
gestört!« Sebastian sah seine Frau fragend an.
»Was für Reiter? Sind es die schwarzen Reiter Torbuks,
oder die Kohorten, die ich bestellt habe, um Fürst
Jamálin das Tal zu verleiden?« Antarona zuckte
unwissend mit den Achseln.
»Tonka und Tekla vermögen nicht zu unterscheiden,
zwischen guten und bösen Reitern, Ba - shtie. Wir
müssen es selbst herausfinden!«
Mit geübten, schnellen Händen half sie ihm, das Wild an
einen Baum zu hängen, aus dem Balg zu schlagen, und das
Fleisch zu zerteilen. Rasch rieben sie es noch mit Salz
und Kräutern ein, um zu verhindern, dass Insekten
darüber herfielen und es verdarben.
Die Fleischstücke steckten sie auf zwei Stangen, um sie
bequem zu transportieren. Dann machten sie sich auf den
Weg zurück ins Tal. Sebastian stellte Vermutungen
darüber an, was für Reiter in das Tal gezogen waren.
Waren seine eigenen Kohorten so schnell, oder war Torbuk
schneller gewesen? War er mit seinen schwarzen Kriegern
bereits an der Küste gelandet?
Mit einem dumpfen Gefühl im Magen stellte er sich vor,
wie die unbekannte Macht das Tal besetzte, und sich
taktisch in Position brachte. Konnte das sein? Warum
hörte Basti nichts von Arrak? Lag er vielleicht schon in
Torbuks Festung in Ketten?
An der Stelle, wo Antarona und Sebastian aus dem Wald
traten, blieben sie erst einmal stehen. Beruhigt stellten
sie fest, dass ihr Tal so friedlich in der Sommersonne
lag, wie sie es verlassen hatten. Nichts schien die
Idylle, die sie so lange entbehrt hatten, zu stören.
Doch dann wanderte ihr Blick höher. Mit Erleichterung,
teils aber auch mit Unbehagen erblickte Sebastian die
weißen Spitzen von Zelten und die roten Fahnen seiner
Kohorten oben auf dem Hügelkamm, der das Tal begrenzte.
Auf der gegenüberliegenden Seite, über den mächtigen
Felswänden konnte er lediglich die blauen Wimpel seiner
zweiten Einheit erkennen.
Seine Truppen, sein Werkzeug zur Abschreckung des
Fürsten Jamálin, waren eingetroffen. Er hatte nicht so
rasch damit gerechnet, war aber froh, mit seinen Plänen
voranzukommen. Je eher die Krieger Antaronas Kampfkunst
erlernten, desto früher konnte er mit ihr nach
Mehi-o-ratea aufbrechen.
Zunächst suchten sie einen geeigneten Lagerplatz für
die Nacht. Er sollte in der Erreichbarkeit des Wassers
liegen, aber doch so weit von den Truppen abgeschirmt,
dass sie vor neugierigen Blicken geschützt waren. Da sie
von den Kohorten in der Höhe umlagert waren, gab es kaum
eine Möglichkeit, sich deren Aufdringlichkeit zu
entziehen.
Schließlich fand Antarona eine erhöhte Baumgruppe
unweit des Flusses. Ein par Felsen schirmten sie nach der
einen, die Bäume nach der anderen Seite hin ab.
Schließlich brannte ihr kleines Lagerfeuer und während
Antarona das Fleisch in großen, nach Thymian duftenden
Blättern garte, entzündete Sebastian einige Meter von
ihrem Lager entfernt ein weiteres kleines Feuer, das
weithin sichtbar war.
Er rechnete damit, dass Thorbald irgendwann auftauchte,
um ihm das Eintreffen der Truppen zu melden, obgleich
Zelte, Fahnen und Standarten kilometerweit in jeder
Richtung zu sehen waren. Ein Melder sollte sie aber nicht
in ihrem Lager überraschen. Wie sehr sehnte er sich Rona
und Reno herbei, die bei jeder Annäherung rechtzeitig
anschlugen.
Zwischen dem Signalfeuer und ihrem Lagerplatz spannte er
ein dünnes Seil, an das er einen kleinen Kessel hängte.
Schmunzelnd legte er ein par kleinere Steine in den
Kessel und stellte sich das dumme Gesicht eines
Störenfrieds vor, wenn er über das Seil stolperte, das
sich im hohen Gras verbarg.
Zufrieden kehrte er zum Lager zurück. Das Fleisch lag in
Blätter gewickelt auf einer Konstruktion aus flachen
Steinen und köchelte über abgeteilter Glut dampfend vor
sich hin. Daneben flackerte ein kleines Feuer, das Wärme
spenden sollte. Doch von Antarona war nicht ein Haar zu
entdecken. Sie schien wie vom Erdboden verschluckt.
Suchte sie Holz, holte sie Wasser? Gewöhnlich
hinterließ sie ein ausgemachtes Zeichen, das ihm
verriet, wohin sie sich entfernt hatte. Diese
Vorsichtsmaßnahme hatten sie sich während ihrer
gefährlichen Wanderung nach Falméra angewöhnt. Es war
nicht Antaronas Art, sie ohne Grund außer Acht zu
lassen.
Vorsichtig, mit gezogenem Schwert, ging Basti in Richtung
Fluss. Das Erlebnis mit den fremden Kriegern, die seine
Frau überfallen hatten, steckte ihm noch unangenehm
lebendig in den Knochen. Basti spähte durch die
zunehmende Dunkelheit, versuchte Einzelheiten im Gelände
zu erkennen.
Der am Himmel emporgestiegene Halbmond beleuchtete das
Gelände nur mäßig. Sein kaltes Licht erweckte eher
Angst, als Zuversicht. Aber es spiegelte sich im bewegten
Fluss, der geheimnisvoll glitzerte und funkelte, wie eine
schmale Flut tausender dahintreibender Diamanten.
Plötzlich lag etwas vor ihm im Gras. Abgelenkt von dem
Lichterspiel zwischen Mond und Wasser, wäre er fast
daran vorbeigeschlichen. Verwundert hob er Antaronas
Oberteil auf, das dalag, als hätte sie es verloren.
Sein geschulter Blick verriet ihm sofort, dass an dieser
Stelle weder ein Kampf stattgefunden hatte, noch mehrere
Personen durch das Gras gegangen waren. Durch das Gras
führte nur eine schmale Spur, wie es normalerweise nur
Wild hinterließ.
Geduckt, mit der freien Hand das hohe Gras behutsam
beiseite schiebend, pirschte er weiter, den Blick
abwechselnd zwei, drei Meter vor sich, sowie auf das
Glitzerband des Flusses gerichtet. Er konnte bereits
deutlich das Rauschen des Wassers hören, als wieder
etwas im Gras lag. Antaronas lederner Hüftschurz!
Erleichtert atmete Sebastian durch. Den nahm ihr niemand
ab, wenn sie es nicht wollte! Und Spuren eines Kampfes
fanden sich auch hier nicht. Allmählich ahnte er, was
sie im Schilde führte. Sie lockte ihn, forderte ihn
heraus, und glaubte dabei genau zu wissen, wie er
reagieren würde!
»Na warte, du kleines Luder«, murmelte er vor sich hin,
schlich etwas schneller weiter und suchte den Fluss ab.
Doch es war schwer, aus dem Dunkel in den tausendfach
sich bewegenden und blendenden Lichtpunkten etwas
auszumachen.
Er musste näher heran, wollte sich aber auch nicht
verraten. Dazu wusste er, dass Antarona ihn
möglicherweise spüren konnte, bevor sie ihn sah. Hören
konnte sie ihn kaum, denn das rauschen des schnell
fließenden Wassers übertönte jedes Geräusch.
Selbst glatte Grashalme spiegelten sich aber matt im
Mondlicht, und machte er eine unbedachte Bewegung, so
waren Antaronas Augen die ersten, die unnatürliche
Lichtreflexe wahrnahm. Sie wollte eine Herausforderung,
ein kleines Kriegsspiel? Das konnte sie haben! Er wollte
ihr schon zeigen, dass er ihr in Sachen Taktik nicht
nachstand!
Sicher vermutete sie seine Annäherung vom Lager her.
Aber sie war nicht Sonnenherz, wenn sie sich nicht auch
nach der anderen Seite absicherte und das
gegenüberliegende Ufer im Auge behielt. Zunächst musste
er feststellen, wo sie sich verborgen hielt.
Angestrengt versuchten seine Augen die Dunkelheit zu
durchdringen, bis sie tränten. Ärgerlich wischte er
sich mit dem Ärmel darüber, als er wie zufällig eine
Bewegung im Fluss erhaschte. Eigentlich war es nur eine
kurze Unterbrechung des gleichmäßigen Lichtgefunkel.
Aber es reichte!
»Diese kleine, freche Kröte hat sich also im Wasser
versteckt!« schmunzelte er. »Na warte, dir werde ich
eine Überraschung bereiten, das dir Hören und Sehen
vergeht! Deinem armen Mann so einen Schrecken zu
versetzen, warte nur!«
Tief gebückt huschte er, eine flache Senke ausnutzend,
Fluss abwärts, bis zu einer Stelle, wo er ohne große
Mühe ins Wasser steigen konnte. Er beschwerte Antaronas
dürftige Kleidungsstücke und seine eigenen Sachen mit
einem Stein, und glitt wie ein Aal in den eiskalten
Strom.
Sofort zog sich alles in ihm zusammen und er fragte sich,
wie das Krähenmädchen es schaffte, das Kältegefühl zu
unterdrücken. Rasch kam er von selbst drauf. Der
Jagdtrieb, die Aufregung, die erhoffte Erwartung ließ
die beißende Kälte nebensächlich werden!
Den Körper im Strom des Wassers, arbeitete sich Basti
mit Händen und Füßen Fluss aufwärts. Damit rechnete
sie garantiert nicht! Mit Sicherheit behielt sie die Ufer
im Blick, beobachtete die Bewegungen des Grases. Doch das
sprühende Wasser hinter sich würde sie für Sicher
halten.
Wie sollte sie auch auf den Gedanken kommen, dass sich
ihr wasserscheuer Ba - shtie meterweit gegen eine eisige
Strömung vorwärts arbeitete? Und sehr schnell spürte
er, warum sie diese Möglichkeit wahrscheinlich
ausschloss.
Es bedurfte einer mörderischen Anstrengung, sich gegen
die entgegenrauschenden Wassermassen zu stemmen und sich
von Stein zu Stein Fluss aufwärts zu ziehen. Sebastian
hatte nicht vermutet, dass strömendes Wasser eine solche
Gewalt besaß.
Bei jedem zweiten Griff rutschte er von den rund
geschliffenen, glitschigen Steinen ab, suchte verzweifelt
nach neuem Halt, stemmte sich mit den Füßen in den
steinigen Grund. Nur Zentimeterweise kam er voran, und
bald wurde ihm so warm, dass er das Wasser als angenehm
empfand.
Wie aber musste es Antarona ergehen, die im lähmend
kalten Strom fast bewegungslos ausharren musste, um sich
nicht zu verraten? Wahrscheinlich war sie zu einem
Eisblock gefroren, wenn er sie endlich fand! Ab und zu
reckte er seinen Kopf aus dem Wasser und spähte nach
vorn. Doch er konnte kaum etwas erkennen.
Jeder aus dem Wasser ragende Stein konnte ebenso gut
Antaronas Kopf sein. In der Dunkelheit war der
Unterschied kaum zu erkennen. Immer wieder glaubte er sie
im Wasser liegen zu sehen und griff schließlich auf
kalten Fels. Hatte sie ihn wider Erwarten entdeckt und
sich heimlich zum Lager zurückgeschlichen?
Das wäre eine schöne Blamage! Er kroch
splitterfasernackt den halben Strom hinauf, und sie
machte es sich inzwischen am Lagerfeuer gemütlich! Doch
so schnell gab ein Basti nicht auf! Verbissen kämpfte er
weiter gegen die macht des Wassers an.
Da! Etwas bewegte sich vor ihm in der Strömung, neben
zwei kleinen Felsen! Nur kurz, aber es genügte, um ihm
zu zeigen, dass er mit seiner Vermutung richtig lag.
Antarona hatte sich im fließenden Wasser versteckt! Ihr
Kopf, der aus den Fluten ragte, wirkte im Dunkeln, wie
einer der vielen Steine, die der Strom umspülte.
Sie sah sich nicht um. Offenbar beobachtete sie das Ufer.
Sebastian nutzte die Chance und arbeitete sich vor, bis
er beinahe ihre Füße berühren konnte. Aber warum
spürte sie ihn nicht? Versagten ihre sensiblen Sinne im
tosenden Strom? Das rauschende Wasser umspülte wild ihre
Schultern, spritzte ihr ins Gesicht. Hören konnte sie
ihn ganz sicher nicht.
Still verharrte Basti hinter ihr, überlegte, wie er sie
überraschen konnte, ohne, dass sie ihm sofort die Augen
auskratzte. Für einen Moment hob sie langsam ihren
Körper aus dem wilden Strom. Anscheinend wurde das
eisige Wasser selbst für sie unerträglich.
Glatt und nass glänzten ihre verführerischen Rundungen
im Mondlicht, präsentierten sich verlockend und süß.
Sebastian wurde es bei diesem Anblick trotz des kalten
Bergwassers ganz heiß. Seine Phantasie schlug
Purzelbäume und wären Antaronas Fähigkeit, Wesen zu
spüren, im rauschenden Wasser nicht blockiert gewesen,
so hätte seine aufkommende Hitze sie gewarnt.
Sebastians Füße suchten festen Halt im Grund,
ertasteten massiven Stein, er suchte sich links und
rechts ihrer Füße einen Griff, holte tief Luft, dann
hechtete er vorwärts. Antarona blieb keine Gegenwehr,
als er sich plötzlich von hinten auf ihren glitschigen
Körper warf. Seine Hände packten ihre Handgelenke,
seine Oberschenkel umklammerten ihren Po und drückten
ihn unter Wasser.
Wie eine ertrinkende Katze wehrte sich seine Frau gegen
den vermeintlich unbekannten Angreifer, wand sich unter
ihm mit der verzweifelten Wildheit eines Tieres, die
jeden Fremden überrascht hätte. Doch Basti kannte seine
Frau und wusste zu welcher Gewandtheit sie fähig war.
Mit aller Kraft presste er sein Gewicht auf ihren
aalglatten Leib, und hatte Mühe, sie unter Kontrolle zu
halten. Die wilden Wasser versuchten ihrerseits, die
beiden Körper zu trennen, doch Basti klammerte sich an
das zierliche Krähenmädchen wie eine Spinne an ihr
Opfer.
Das Wasser spülte ihm in die Augen, er sah nichts mehr,
spürte nur Antaronas nasse, lange Haare in seinem
Gesicht. Er schob sich auf ihrem Körper höher, sein
Mund berührte ihren Nacken, seine Lippen ihr Ohr.
»Hast du gedacht, du kannst deinen Mann an der Nase
herumführen, wie einen kleinen, dummen Jungen?« rief er
ihr vor dem Hintergrund des tosenden Rauschens ins Ohr.
Sofort fühlte er, wie sich ihr Körper für einen
Augenblick versteifte, kurz darauf aber wieder
entspannte.
Vorsichtig lockerte Sebastian seine Umklammerung und
seine Frau drehte sich frech grinsend unter ihm um und
sah ihn herausfordernd mit großen Augen an. Dann schlang
sie ihre Arme um seinen Hals und klammerte sich an ihn,
bis sich ihre Lippen berührten, sich gegenseitig mit
geheimnisvoller Magie anzogen.
Das dahin jagende Wasser nahm die nächste Stunde als
geheimes Vermächtnis mit, trug das Zeugnis ihrer Liebe
bis ins Meer...
Antarona rollte sich glücklich zusammen und suchte den
Schutz seiner starken Arme. So beruhigten sich ihre
aufgeheizten Körper halb im Wasser, halb im Uferschlamm,
bis sie zu frösteln begannen. Sebastian wusch den
Schlamm von ihrem Leib, hob sie aus dem eisigen Strom und
trug sie zum Lagerfeuer hinüber.
Schnell wickelte er sein unterkühltes Krähenmädchen in
eine Decke, rubbelte und rieb sie trocken und wärmte sie
mit seinem Körper. Anschließend rieb er ihre Haare
trocken und sie genoss es, wenn seine Hände in die
langen Strähnen fuhren und sie bewegten.
Das Fleisch war mittlerweile gar und ein
unwiderstehlicher Duft zog über das Lager. Sie sogen ihn
gierig ein, angelten die Köstlichkeiten von der
Steinplatte und begannen das Wild mit dem Heißhunger
eines Wolfes im Winter hinunterzuschlingen.
Die Waffen neben sich zum Greifen nahe, kuschelten sie
sich anschließend in Antaronas Felle ein, und fingen an,
von einer schöneren, friedlicheren Zukunft zu träumen.
Plötzlich aber wurde Antarona schwermütig, etwas, das
Sebastian nicht von ihr kannte.
»Ba - shtie, das Herz, welches unter dem Herz von euer
En-gel-sen schlägt, wird einmal Talris erblicken«,
begann sie nachdenklich, mit leiser Stimme, als bereitete
ihr diese Vorstellung Sorgen. Basti drückte sie
schützend an sich.
»Ich wünsche mir, dass es so ist«, entgegnete er,
»aber was beunruhigt dich daran so sehr?« Er wunderte
sich über ihr besorgtes Antlitz, das sonst bei diesem
Thema vor Glück erstrahlte. In ihren Augen stand eine
Traurigkeit, die ihn erschreckte.
»Es ist Hedaron, meine Vater, Ba - shtie, er soll dabei
sein! Sonnenherz wünscht sich, dass ihr Vater und Tark
bei ihr sind, wenn Talris unsere Tochter in sein Reich
aufnimmt. Wie aber können sie bei ihr sein, wenn Bental
nun ihr Vater ist, und ihr, Ba - shtie, Sonnenherz Bruder
seid?«
Sebastian schwieg. So spontan hatte er auf solch einen
Gedanken keine Antwort parat. Auf welche Weise sollte er
ihr vermitteln, dass nur ihr Herz allein ihren wahren
Vater auszuwählen vermochte? Und das hatte es bereits,
als sie begann, darüber nachzudenken.
»Ihr wollt nicht zurück ins Val Mentiér, nicht wahr,
Ba - shtie?« In ihrer Stimme klang Verbitterung mit.
»Ihr wollt König sein, und eure Träume in diesem Tal
aufbauen. Ist es so? Sagt es ruhig, Sonnenherz wird es
verstehen und dennoch an eurer Seite sein, wenn auch ihr
Herz so schwer sein wird, dass sie sich unter seiner Last
krümmen wird.« Wenn sie es auch krampfhaft versuchte,
so konnte sie doch nicht verhindern, dass ihr plötzlich
die Tränen in die Augen schossen.
»So sehr vermisst du deinen Vater und Tark?« wunderte
sich Basti und wischte ihr zärtlich die nassen Zeugnisse
ihrer Trauer aus dem Gesicht. Das Krähenmädchen hob mit
starrem Blick ins Feuer unwissend die nackten Schultern.
»Wer ist denn Sonnenherz Vater, wer ihre Familie? Wer
war ihre wahre Mutter? Oh Ba - shtie, es ist alles so
entzweit, so zerrissen in ihrem Herzen, dass es tief
schmerzt!« gestand sie ihm zitternd. Sebastian nickte
verständnisvoll, zog sie dicht an sich heran, sog den
Duft ihrer trocknenden Haare ein und flüsterte ihr ins
Ohr:
»Wer war denn deine Mutter, welche dir am See genommen
wurde, welche dir in deinen Träumen erschien, und dich
in einsamen Zentaren nie verlassen hatte? Wer war dein
Vater, der dir ein Zuhause gab, wann immer du es
wolltest? Wer ist der Mann, der sich um deiner sorgt? Wo
steht das Haus, das dir Schutz bot, wenn du vom See, von
den Bergen, aus den Wäldern zurückkehrtest? Wo durftest
du Kind sein? Frage dein Herz! Dort, wohin es dir den Weg
weist, dort ist deine Familie!« Er küsste sie und fuhr
dann fort:
»Und ich bin deine Familie, dein Leben, so, wie auch du
mein Leben bist! Und ich werde dafür sorgen, dass wir
unsere Tochter dort von Talris empfangen, wo deine
Familie ist, dein Zuhause! Ob Bental es mag, oder nicht,
ich werde Tark und deinen Vater hierher holen lassen,
wenn es soweit ist. Doch wenn du es wünscht, werden wir
auch ins Val Mentiér zurückkehren und dort bleiben,
damit unser Töchterchen in deiner Welt aufwächst.« Nun
war es Sebastian der unschlüssig mit den Schultern
zuckte.
»Wer weiß das schon, möglicherweise wird sie einmal
die nächste Hüterin der Hallen von Talris.«
Geheimnisvoll grinsend fügte er hinzu:
»Wenn sie auch nur eine Faser ihrer Mutter besitzt, so
wird sie einmal eine große Kriegerin und weise Führerin
ihres Volkes! Dabei wird es gleichgültig sein, ob sie in
einer Kate am Imflühsee lebt, oder in einer Burg, oder
in einem versteckten Tal. Sie wird unsere Tochter sein,
sie wird deine Tochter sein, mit dem Herzen einer
Felsenbärin, mit den Sinnen eines Schwarzvogels, und mit
der Wendigkeit eines Gors!«
Sebastian sah, dass sich Antaronas Gesicht etwas
aufhellte. Er streichelte und küsste ihren nackten Bauch
und sprach abschließend:
»Egal, wo sie aufwachsen und leben wird, egal, welche
Kleidung sie tragen und was ihr im Leben widerfahren
wird, und ganz gleich, wen sie als ihren Großvater
ansehen wird. Sie wird eine.., nein, sie wird die wahre
Prinzessin der Îval sein!«
»Ba - shtie, versprecht Sonnenherz, dass unsere Tochter
ihre Augen zum ersten Mal im Val Mentiér öffnet!«
forderte Antarona. Nichts schien ihr wirklich so wichtig
zu sein, wie der Geburtsort ihres Kindes.
»Wenn es in meiner Macht liegt, so wird unsere Tochter
das Val Mentiér als erstes in ihrem Leben sehen, ja mein
Engelchen, das verspreche ich dir!« versicherte er ihr.
Basti war sich im klaren darüber, wegen dieses
Versprechens notfalls mit Bental brechen zu müssen, wenn
dieser sich gegen diese Entscheidung stellte. Noch aber
würden viele Monde vergehen, bis es soweit war, darüber
nachzudenken.
Antarona hatte sich durch Sebastians Antwort wieder
beruhigt. Sie schmiegte sich an ihn und ihr immer ruhiger
werdender Atem verriet ihm, dass sie bald eingeschlafen
war. Basti lauschte noch etwas in die Nacht hinaus, bevor
auch ihn die Müdigkeit einholte. Wachen brauchten sie in
dieser Nacht keine. Zwei Heerlager wachten mit vielen
Feuern über ihre Flanken. Kein natürlicher, noch
menschlicher Feind begab sich freiwillig zwischen sie.
Ein Scheppern und Poltern zerbrach die friedliche Stille
des frühen Morgens und den zaghaften Gesang eines
kleinen Vögelchens, das sich zur Begrüßung der Sonne
in einem Baum nahe ihrem Lager niedergelassen hatte.
Sebastian fuhr hoch, tastete nach dem Griff seines
Schwerts. Sekunden später stand Antarona neben ihm,
Nantakis in der Hand.
Unbeholfen, seinen schmerzenden Arm massierend, kam
Thorbald um die Felsen ihres Lagers herumgehumpelt.
»Euer ergebener Diener wünscht euch einen frohen
Sonnenlauf, Herr«, begrüßte er die beiden. »Irgendein
Narr hat dort auf der Weide ein Seil liegen lassen. Ich
habe mir wohl den Arm verletzt, verzeiht Herr«,
entschuldigte er sich für seinen spektakulären
Auftritt.
»Der Narr seid nur ihr allein, Thorbald«, entgegnete
Sebastian spöttisch, »denn ihr seid doch über das Seil
gefallen, oder nicht? Seht ihr denn nicht, wohin ihr
geht? Sind die Wasel ebenfalls Narren, wenn ihr in eines
ihrer Löcher tretet? Wie könnt ihr es überhaupt wagen,
so ziellos in der Gegend herumzulaufen?«
»Mein Kohortenführer lässt euch sagen, dass beide
Kohorten Aufstellung genommen haben, Herr«, kam Thorbald
ohne weitere Umschweife zur Sache. Sebastian nickte
anerkennend und sagte in etwas umgänglicherem Ton:
»Dann lasse ich die Kohortenführer bitten, sich um die
Mitte der wachen Sonne jenseits der Felsen vor dem
Waldrand einzufinden. Ihr jedoch, Thorbald, werdet
dorthin kommen, sobald ihr diese Nachricht überbracht
habt!«
Sebastian wies mit dem ausgestreckten Arm zu jenen Felsen
hinauf, von wo aus ihm Antarona die Spuren des Wildes im
hohen Gras gezeigt hatte. Er fand, dieser Ort war weit
genug von ihrem Lager entfernt, um dort das Training der
Krieger abzuhalten. Thorbald blickte etwas unsicher das
Tal hinauf, wo die Steinkuppe aus der grünen Steppe
ragte.
»Dort werde ich euch erwarten, und vergesst eure Waffen
nicht! Denn ohne Waffen nützt ihr mir nichts, habt ihr
verstanden?« fügte Basti noch hinzu, als er den
skeptischen Blick seines Kriegers sah. Der schien aus
fernen Gedanken zu erwachen und sprach schnell:
»Ja, Herr, ich werde mich beeilen!« Damit verbeugte er
sich respektvoll vor ihm und vor Antarona und ging steif,
wie ein Brett, in die Richtung, aus der er gekommen war.
Mit leicht geneigtem Kopf sah Basti ihm nach und sagte
mehr zu sich selbst, als zu Antarona:
»Na, hoffentlich habe ich für diese Aufgabe den
richtigen Mann ausgewählt.« Antarona sah ihn ein wenig
vorwurfsvoll an.
»Er wird ein guter Schüler sein, doch wird er ein
ebenso guter Lehrer für die anderen Krieger sein?
Sonnenherz vermag ihn zu lehren, was sie euch gelehrt
hat, Ba - shtie, doch sie vermag nicht aus einem Wasel
einen Felsenbären zu machen!«
Das war deutlich! Aber sie hatte recht. Allein die
Fertigkeit der Kampftechnik machte noch keinen Krieger.
Es war auch das Herz, das einen Kämpfer ausmachte.
Motivation, Kampfkunst und Loyalität dem Volk der Îval
gegenüber galt es in diesen Männern zu vereinen. Eine
große Aufgabe. So groß, dass sie Sebastian Lauknitz
noch gar nicht abschätzen und erst recht nicht allein
bewältigen konnte.
Kurz nachdem Thorbald verschwunden war, nahmen Antarona
und Sebastian ihre Waffen, sowie das von der Burg
mitgebrachte Bündel Holzschwerter auf und folgten ihrer
Fährte vom Vortag. Mit dem festen Ziel vor Augen,
benötigten sie für den Weg zum Felsen nur die Hälfte
der Zeit, die sie bei der Jagd aufwenden mussten.
Die höchste Zinne des Steinmonuments diente ihnen eine
Stunde später als Rastplatz. Bis weit über die nächste
Bodenwelle hinaus reichte ihr Blick von erhöhter Warte.
Zum Waldrand hin führten wieder neue Spuren. Die Tiere
schienen diesen Wildwechsel jeden Morgen aufs neue zu
benutzen. Sie zogen stets zwischen dem Felsen und der
gigantischen Steilwand über das Grasland.
Antarona und Sebastian beschlossen daher, den
Kampfübungsplatz auf der anderen Seite der Felsenburg
einzurichten, um das Wild nicht zu stören. Eine Idee aus
Sebastians Welt gab den Anstoß für den Bau einer
seltsamen Arena. Sie knüpften mehrere Lederriemen
aneinander, bis sie ein langes Lederseil zwischen sich
spannen konnten.
Die Kornkreise, von denen Basti in den Zeitungen seiner
eigenen Welt gelesen hatte, angeblich von außerirdischen
Raumschiffen verursacht, standen Pate für den Platz, auf
dem Antarona ihre Kampfkunst vermitteln sollte. Während
sie sich in das Gras hockte, und das eine Ende des Seils
auf den Boden drückte, wanderte Sebastian gebückt im
weiten Radius um sie herum und drückte mit dem anderen
Ende das Gras nieder.
Doch schnell stellte sich heraus, dass Getreidehalme
etwas anderes waren, als frisches Gras. Grüne Halme in
Saft und Kraft richteten sich rasch wieder auf und ihre
Arena war nur noch oben vom Felsen aus deutlich zu
erkennen.
Sie mussten das Unternehmen Kornkreis mehrmals
wiederholen, und mit den Füßen nachhelfen, bis sie
einen etwa fünfundsechzig Fuß weiten Kreis zur
Verfügung hatten. Während der Arbeit in der gleißenden
Sonne brach ihnen der Schweiß in Strömen aus den Poren
und gern hätten sie sich im Bach abgekühlt. Doch jeden
Augenblick mochten die Kohortenführer erscheinen.
Nachdem Sebastian das Bündel mit den Holzschwertern am
Rand des Übungsplatzes abgelegt hatte, und sie sich
hinsichtlich der Demonstration Antaronas Kampftechnik
besprochen hatten, setzten sie sich auf die Schattenseite
des Aussichtsfelsens. Flach atmend freuten sie sich über
jeden kleinen Luftzug, der ein wenig Kühlung versprach.
Allmählich spürten sie auch den Hunger an ihren
Magenwänden nagen.
Doch das restliche Fleisch ihrer Jagd hing frisch
geräuchert an dünnen Bändern in den Bäumen ihres
Lagers unten am Fluss, unerreichbar von Raubzeug und
Nagern, sowie ungenießbar für Insekten. Frühestens am
Abend konnten sie davon zehren.
Eine geschlagene Stunde später, das Gras in der Arena
hatte sich schon wieder teilweise aufgerichtet, vernahmen
sie leise, vom Wind verwehte Stimmen. Mehrere Männer
schienen sich ihrem gedachten Übungsplatz zu nähern.
Antarona huschte wie ein Wiesel die Felsen hinauf, um
Freund oder Feind auszumachen.
»Fünf Männer kommen aus der Richtung des Passes«,
berichtete sie eher emotionslos, »einer von ihnen hat
die Statur Thorbalds, einer ist an den Händen
gebunden.« Sebastian kniff ungläubig die Augen zusammen
und fragte:
»Einer gefesselt, bist du sicher?« Im Grunde erübrigte
sich die Frage, denn Antarona besaß den Blick eines
Falken. Wenn sie sagte, die Gruppe führte einen
Gefangenen mit sich, so traf dies auch zu. Basti nahm
seine Waffen auf, zog das Schwert blank und trat
erwartungsvoll auf die mühevoll angelegte Graslichtung.
Antarona hatte ihren Bogen aufgespannt und wartete, einen
Pfeil an der Sehne, auf Knien in das hohe Gras geduckt,
außerhalb des Kreises. Es bedurfte keiner verbalen
Abstimmung zwischen ihnen. Sie funktionierten inzwischen
wie ein einziges, kampfbereites Wesen. Alle
Sicherungsmaßnahmen führten sie mittlerweile instinktiv
im stillen Einklang aus.
Es dauerte nicht lange, da traten die angekündigten
Männer in den Kreis. Zwei Kohortenführer, von denen
Sebastian einen bereits vom Abend des Talrisfestes her
kannte. Es war Hetarus, der Kohortenführer Mauretans,
Raspinas heimlichem Geliebten. Thorbald, sowie ein
weiterer Soldat, der den Gefangenen vor sich her stieß,
folgten den ranghöheren Kriegern.
»Gütiger Herr, wir bitten euch, unser unpünktliches
Erscheinen zu vergeben«, begann Hetarus mit fester
Stimme, »aber wir haben diesen hier ertappt, wie er um
unser Lager schlich!« Damit stieß er den Gefangenen vor
Sebastians Füße und zwang ihn mit einem derben Griff in
die Knie.
»Der Bastard steckte seine Nase unter jedes Zelt und war
über die Maßen neugierig«, erklärte Hetarus weiter,
»auf unsere Fragen, woher er kommt und was ihn so an
unserem Lager interessiert, schweigt er jedoch, als
hätte er seine Stimme verloren.«
»Die Stimme verloren, ja?« fragte Basti den gebundenen
Mann skeptisch, und zu Hetarus gewandt prophezeite er:
»Nun, die wird er schon wiederfinden, denke ich.«
Sebastian fiel auf, dass der Mann die gleiche Kleidung
trug, wie jene Kerle, die oben auf dem Plateau Antarona
überfallen hatten. Wenn seine Vermutung richtig war, so
hatten sie nun doch noch einen lebenden Zeugen, den man
mit etwas wohlwollendem Zureden, oder auch mit Nachdruck
zum Sprechen bringen konnte.
Unverhofft und für den Gefangenen völlig überraschend,
trat Basti auf ihn zu, packte ihn am Hemd und riss den
Stoff mit einer ruckartigen Bewegung entzwei. Eine
schwere Kette mit einem großen Emblem als Anhänger
baumelte auf seiner Brust.
Jeder in der Runde erkannte das Zeichen als Sinnbild des
Schreckens. Ein Gor, auf dessen Schultern ein Krieger
saß, über gekreuzten Schwertern: Torbuks Symbol für
seine grausame Macht, die er mit roher Gewalt immer
weiter auszudehnen versuchte!
Hetarus wollte einen Schritt auf den Gefangenen zumachen,
als ein Schatten blitzschnell über die Wiese flog.
Antaronas Schwertspitze berührte sanft das Kinn des
Mannes. Niemand hatte sie kommen sehen, urplötzlich
stand sie da, wie aus dem Boden gewachsen. Ihre Augen
funkelten gefährlich und versprühten das tödliche
Feuer des abgrundtiefen Hasses gegen Torbuks weit
reichenden Arm der Macht.
Schweigend stand das Krähenmädchen da, ihr nackter, vom
Schweiß glänzender Körper schimmerte bronzefarben in
der Sonne, und mit ihren zerzausten, schwarzen Haaren
hätte sie dem Mann auch ohne Nantakis in der Hand die
blanke Angst ins Herz getrieben. Sie musste auf den
Verängstigten wie eine vom Wahnsinn besessene Furie
wirken.
Ihr stechender Blick zeigte nicht die geringste Spur von
Gnade. Bevor jemand reagieren konnte, legte sie die
scharfe Klinge quer an den Hals des Gefangenen und schien
bereit, sie eiskalt durch seine Kehle zu ziehen. Der Mann
begann mit weit aufgerissenen Augen zu zittern, und seine
Beinlinge färbten sich dunkel.
Er schien nicht einmal zu bemerken, dass er sich vor
Angst eingenässt hatte. Gerade, als Antarona ihre zweite
Hand an den Griff des Schwertes legte, um die Klinge
ruhig und gerade zu führen, mischte sich Sebastian ein.
»Halt! Nicht so schnell, ich will ihm noch ein par
Fragen stellen!« hielt er sie auf. Nur zögernd, und mit
zornigem Blick senkte Antarona das Schwert, und sie tat
es so, dass Nantakis die Sonne in das Gesicht des
Delinquenten reflektierte und ihn blind machte. Sebastian
hatte diesen Trick bereits am eigenen Leib erfahren, und
wusste, welche Wirkung er auf den Mann haben würde.
»Wozu noch fragen«, gab Antarona fauchend zurück,
»welche Antwort erhofft ihr euch, Glanzauge, welche
nicht sowieso eine Lüge ist? Lasst es mich beenden, denn
er wird uns doch nur belügen!«
»Nein, bitte, ich werde die Wahrheit sagen«, winselte
der Mann erschrocken, »bei Talris und den Göttern, was
immer ihr wissen wollt, ich will es euch sagen! Nur,
lasst mich am Leben, lasst Gnade walten, so will ich euch
als Unwürdigster unter euch dienen, ein Leben lang!
Tötet mich nicht, habt Erbarmen! Ich will euch alles
verraten, was ich...«
»Was vermögt ihr Sonnenherz schon zu verraten, was sie
nicht längst selbst weiß?« unterbrach ihn das
Krähenmädchen mit angewidertem Ton.
»Ihr seid nicht mehr, als ein gemeiner Meuchelmörder,
und nicht wert angehört zu werden! An euch wird
Sonnenherz Rache nehmen, für das Volk der Îval und für
all jene, die durch Torbuk und Karek ihr Leben lassen
mussten. Sonnenherz wird zusehen, wie der warme Strom des
Lebens aus eurem Leibe fließt und das Gras rot färbt!
Tretet gefälligst mit der Würde eines Kriegers an das
Tor zum Reich der Toten und zetert nicht, wie ein
aufgespießter Wafan!« Damit führte Antarona Nantakis
zwischen die Beine des Mannes und setzte die Klinge ruhig
an seine Genitalien.
Ihre Kaltschnäuzigkeit, ob nun gespielt oder echt,
entsetzte sogar die beiden Kohortenführer, die bereits
einige grausige Schlachten unter Areos geschlagen hatten.
Sie wichen respektvoll einen Schritt zurück, denn sie
befürchteten, vom in die Runde spritzenden Blut
beschmutzt zu werden.
»Einen Augenblick!« unterbrach Sebastian erneut ihre
scheinbare Hinrichtung. »Warte noch, ich will ihm die
Kette vom Hals nehmen, als Beweis, dafür, dass wir ihn
gefangen genommen hatten. Ich mag das Ding nicht auch
noch von dem ganzen Blut sauber waschen!«
Widerwillig ließ Antarona das Schwert abermals sinken.
Basti trat zu dem Mann, packte die derbe Kette und drehte
sie mit aller Gewalt um seinen Hals zusammen.
»Ich bin Areos, der Sohn des Bental«, verkündete er
dem Gefangenen, »ihr versprecht mir jetzt die Wahrheit
zu sagen, die reine Wahrheit, oder ich bringe Sonnenherz
um das Vergnügen euch zu Tode zu quälen, und drehe euch
eigenhändig ganz langsam den Hals um, bis euch die Zunge
aus dem Munde hängt und euch die Augen aus den Höhlen
treten!«
Er wartete, bis das Gesicht des Mannes anfing, blau
anzulaufen, dann ließ er die Kette los. Röchelnd kippte
der Gefangene zur Seite.
»Ich werde die Wahrheit sprechen, Herr, was immer ihr zu
fragen beliebt«, stammelte er mit heiserer, gebrochener
Stimme. Sebastian packte noch einmal zu und zischte
gefährlich:
»Genau das rate ich euch! Denn wenn ich das Gefühl
habe, dass ihr mich belügt, so kann ich auch mit meinen
Kriegern für eine Weile fortgehen, und euch mit
Sonnenherz allein lassen.« Dann beugte sich Basti noch
etwas weiter zu dem Gefangenen hinab und fügte
flüsternd hinzu:
»Wisst ihr, Sonnenherz.., die Arme ist dem Irrsinn
verfallen, und hat so ihre besondere Art, Missgeburten
wie euch in das Reich der Toten zu befördern. Glaubt
mir, es ist einfach widerlich, das mitzuerleben, die
grässlichen Schreie, der Gestank von verkohltem Fleisch,
das viele Blut und die austretenden Eingeweide, die
bloßgelegten Knochen...« Sebastian schüttelte sich
heftig, als überkam ihn augenblicklich der blanke Ekel.
Das Schauspiel tat seine Wirkung. Leichenblass und mit
aufgerissenen Augen bettelte der Mann um sein armseliges,
nacktes Leben, schielte verstohlen zu Antarona hinüber,
die ihn mit kalten Augen beobachtete und dabei mit dem
Daumen die Schärfe ihres drohenden Schwertes prüfte,
als wartete sie nur darauf, dass Areos zur Seite trat und
ihr den Weg frei gab, um ihren grausamen Phantasien
freien Lauf zu lassen.
»Bitte Herr, ich flehe euch an, lasst das nicht zu«,
jammerte der Spion, »ich will euch alles sagen, nur
lasst mich nicht mit dieser Verrückten dort allein!«
Sebastian nickte zufrieden und erhob sich. Achselzuckend
wandte er sich an Antarona und zwinkerte ihr zu.
»Tja, so wie es aussieht, musst du mit deinem Spielchen
noch warten! Möglicherweise haben wir ja noch einen
neuen Verbündeten gefunden.« Antarona funkelte erst
Sebastian, dann den Gefangenen angriffslustig an.
Plötzlich wirbelte sie herum, ließ Nantakis am lockeren
Griff durch die Luft schwirren, machte einen Satz und die
blitzende Klinge fuhr nur wenige Zentimeter vor dem zu
Tode erstarrten Anhänger Torbuks in den Boden. Dann
stützte sie sich seelenruhig auf die Parierstange, sah
den Mann mit irren, weit aufgerissenen Augen an und
flüsterte ihm zu:
»Macht nur einmal den Mund auf, wenn ihr nicht gefragt
werdet, oder gebt falsch Zeugnis, dann wird es mir das
höchste Vergnügen bereiten, euch den Bauch
aufzuschlitzen!«
Dann vollführte sie aus dem Stand einen zirkusreifen
Salto rückwärts, zog das Schwert nach, schüttelte sich
wie ein Tier, das soeben aus dem Wasser gekrochen kam,
und entfernte sich ruhigen Schrittes hinter den Felsen.
Der Gefangene starrte ihr nach, als wäre er gerade dem
schlimmsten aller Dämonen begegnet. Eingeschüchtert
kauerte er im plattgetretenen Gras und harrte seinem
Schicksal.
Sebastian musste still in sich hineinlächeln. Selbst die
hartgesottenen Krieger seiner Heerlager waren von
Antaronas Auftritt beeindruckt und schwiegen betreten.
Niemand hatte bisher von einer Frau, oder einem Mädchen
gehört, dass sich anmaßte, sich im Beisein von Männern
derart zu gebärden.
Die Geschichten und Legenden, die sich um das
Krähenmädchen rankten, das sich Sonnenherz nannte,
nahmen die meisten auf Falméra lediglich als ein
Gerücht wahr, das sich als bloße Mär durch die
Erzählungen an den Lagerfeuern zog. Niemand glaubte
wirklich an eine Frau, die all jene Taten vollbracht
haben sollte, von denen in phantasievollen Abenteuern
berichtet wurde.
Diese Demonstration aber würde den Legenden neuen
Nährstoff geben. Sebastian hörte bereits die
Geschichten, die davon berichteten, dass Sonnenherz, das
Krähenmädchen, dem Wahnsinn verfallen sei, und sich
daran berauschte, ihre Feinde reihenweise
dahinzuschlachten.
Es mochte Sebastian nur recht sein. Eine blutgierige Irre
war bei Feinden mehr gefürchtet, als eine idealistische
Freiheitskämpferin. Außerdem war das Verlangen, einer
Verrückten nachzustellen, weniger stark, als bei einer
Kriegerin mit dem Ruf des Edelmuts. Dabei war es
gleichgültig, ob es daran lag, dass der Gedanke an eine
Psychopathin Torbuks Häscher abschreckte.
Thorbald und der zweite Krieger machten sich daran, den
Gefangenen auch an den Füßen zu binden. Der Mann war
nun so verängstigt, dass er jede Maßnahme
widerstandslos über sich ergehen ließ.
Die Arme vor der Brust verschränkt, sah Basti zu, wie
die beiden den Spion fesselten. Mehr einer Vermutung
folgend, rief er ihnen zu:
»Durchsucht ihn gründlich! Ich will wissen, ob er noch
irgendetwas bei sich trägt. Und nehmt ihm diese
verfluchte Kette ab, ich kann das Ding nicht mehr sehen!
Aber sie kann uns noch mal nützlich sein!«
Hetarus wiederholte den Befehl des Areos und überwachte
seine Ausführung. Offenbar fühlten sich die beiden
Kohortenführer etwas überflüssig und bemühten sich,
ihre Autorität in das Geschehen mit einzubringen.
Sebastian wandte sich kurz lächelnd ab. Wahrscheinlich
verfluchten sie nun ihre Entscheidung, den Gefangenen
mitgebracht zu haben, der sie nun der Wichtigkeit ihrer
Person beraubte.
Seine Überlegung wurde von Thorbald unterbrochen, der
seinen Kohortenführer einfach überging, und an
Sebastian herantrat.
»Dies trug er in seinem Rockbund bei sich«, verkündete
er stolz darauf, tatsächlich etwas entdeckt zu haben.
Sebastian nahm ein kleines Lederbeutelchen und die
Drachenkette an sich, wog den Beutel kurz mit
bestätigender Miene in der Hand und sah dann hinein.
Wie er geahnt hatte, befanden sich darin ein par Quarts
aus purem Gold. Torbuk hatte seine Spione fürstlich
bezahlt! Aber wofür? Niemand bezahlte einem
gewöhnlichen Kundschafter so einen hohen Preis! Was
steckte dahinter? Welche Aufgabe hatten diese Krieger
noch? Sebastian war sicher, dieses Geheimnis mit
Antaronas Hilfe zu lüften, sobald sie mit dem Gefangenen
allein waren.
Die Quarts steckte er in das bereits erbeutete
Ledersäckchen. Dann warf er Thorbald das leere
Beutelchen zu.
»Hier, verwahrt es wohl, vielleicht ist es euch einmal
von Nutzen!« Die gefüllte Lederbörse mit den goldenen
Quarts steckte er sich selbst hinter den Hosenbund. Diese
Quarts bereicherten seine Apanagenkasse um ein
beträchtliches Vermögen, das aber kaum mehr einen
Pfifferling wert sein würde, sollten einmal die Hallen
von Talris von falschen, raffgierigen Mächten entdeckt
werden.
Schließlich wandte er sich an die beiden
Kohortenführer, die schon ungeduldig warteten und ihn
verstohlen beobachteten. Was sich in dem Beutelchen
befand, war ihnen nicht entgangen. Doch sie hüteten sich
davor, auch nur ein Wort darüber zu verlieren. Sebastian
wies sie an, indem er mit dem Kopf auf den
Aussichtsfelsen deutete:
»Ihr beide seid mir dafür verantwortlich, dass sich
Thorbald mit je einem Krieger aus jedem Heerlager an
jedem Morgen an dieser Stelle einfindet. Sie mögen hier
sein, wenn der Schatten der hohen Bergwand diesen Felsen
dort berührt. Außerdem werdet ihr zwischen den
Heerlagern einen Übungsplatz, wie diesen hier,
einrichten und eure Krieger dort gegeneinander antreten
lassen.« Während Basti Luft holte, winkte er Thorbald
heran. Dann fuhr er fort:
»Thorbald hier, wird euch und eure Krieger in der neuen
Kampfkunst unterweisen, welche er von Sonnenherz erlernen
wird. Er ist euch weiterhin unterstellt, Hetarus. Doch er
genießt mein Vertrauen und ich wünsche, dass jeder
Krieger seinen Anweisungen folgt und die neue Kampfweise
einübt, auch, wenn es zunächst lächerlich erscheint!«
Sebastian nahm anschließend die beiden Kohortenführer
beiseite und erklärte:
»Ich habe vor, drei ganz neue Heerlager aufzustellen,
die besonders in der neuen Kampftechnik ausgebildet sind.
Sie werden die Speerspitze unserer Armee bilden, und als
erste dem Feind entgegentreten, sollte dieser jemals
Falméra bedrohen. Dabei ist es gleichgültig, wer dieser
Feind letztlich ist, Torbuk, oder die Oranuti.«
Die beiden sahen Sebastian verständnislos an, glaubten
sie doch die Oranuti als ihre sicheren Verbündeten. Ihre
Überraschung nutzend, gab Basti zu bedenken:
»Die Oranuti sind freilich unsere Waffenbrüder. Doch
das kann sich jederzeit ändern, so, wie sich auch das
Wetter ändern kann. Männer, es ist nun einmal so, dass
jener, welcher heute Freund ist, morgen Feind sein kann.
Das ist niemals ausgeschlossen! Und weil das so ist, will
ich, dass wir vorbereitet sind, egal, ob es nun
geschieht, oder nicht. Habt ihr das verstanden?« Er
wartete eine Antwort erst gar nicht ab, sondern sprach
weiter:
»Mit euch beginnend, will ich eine Einheit von zunächst
drei Teilarmeen bilden, die einem möglichen Feind von
drei Seiten schnell und überraschend angreifen kann.
Dabei ist die Schnelligkeit und Überraschung von
vorrangiger Bedeutung. Sollte Falméra angegriffen
werden, so ist es mein Ziel, den Gegner mit einem
plötzlichen Gegenangriff, möglichst mit einer schnellen
Zangenbewegung zum Halten zu bringen, einem Angriff, den
er nicht kommen sieht.«
Sebastian ließ seine Worte wirken und beobachtete die
beiden Heerführer, die zustimmend nickten. In ihren
Gesichtern arbeitete es, und er konnte förmlich spüren,
wie das Räderwerk in ihren Köpfen heiß lief.
»Dafür brauchen wir die neue Kampftechnik! Diese
Überraschungsarmee wird nicht, wie bisher gewohnt, mit
Lanze und Schild Aufstellung nehmen und dem Gegner eine
Front bieten. Sondern sie wird wie ein Rammbock
überraschend in seine Flanken fahren, während die
anderen Heerlager die Frontlinie des Feindes binden.«
Geduldig wartete Sebastian, bis die beiden Männer ihm
geistig folgen konnten, bevor er seinen Plan weiter
erläuterte.
»Die Männer müssen schnell sein, wie Geisterkrieger
mit wirbelnden Schwertern. Sie werden sich nicht mit
Rüstungen und Schilden belasten, sondern werden nur mit
kurzen Schwertern, Pfeilen und Bogen kämpfen. Das macht
sie so schnell, dass der Gegner ihre Paraden und Finten
zuerst gar nicht wahrnehmen kann. Sie werden sich so
schnell bewegen, dass der feindliche Krieger in seiner
schweren Rüstung gar nicht weiß, wie ihm geschieht!«
Um die beiden Männer zu überzeugen, brauchte es
allerdings mehr, als nur ein par Worte. Auch darauf hatte
sich Sebastian vorbereitet. Er fasste die beiden Männer
freundschaftlich an den Schultern und führte sie in die
Mitte des kreisrunden Übungsplatzes.
»Ich will euch zeigen, was ich meine«, kündigte er an,
»sorgt dafür, dass Thorbald und der andere Krieger ihre
Rüstungen anlegen, und sich mit den Übungsschwertern
dort bewaffnen!« Basti wies auf das zusammengeschnürte
Paket, in dem sich die stumpfen Holzwaffen befanden. Dann
verschwand er hinter den schattigen Felsen.
Antarona war dabei, einige ihrer Pfeile für eine
Demonstration umzurüsten. Sie hatte die geschmiedeten
Metallspitzen entfernt und schickte sich an, diese durch
kleine, mit Sand und Steinchen gefüllte Säckchen zu
ersetzen, die sie mit Bändern an das Schaftende wickelte
und festband.
Mit Sebastians Bogen, der etwas kräftiger gearbeitet
war, als ihr eigener, probierte sie einen der Pfeile aus.
Der Schaft des Pfeils, sowie der Bogen erfuhren eine
ungeheure Belastung, für die beide Gegenstände nicht
ausgelegt waren. Der Pfeil bog sich unter der ungeheuren
Spannung des Abschusses. Doch Pfeil und Bogen hielten.
Die umgebauten Pfeile schnellten von der Sehne, bogen
sich bis zum Bersten und flogen eher wie geworfene Eier,
denn wie Pfeile. Mit einem Klatschen trafen sie auf dem
Baumstamm auf, den Antarona anvisiert hatte, das
Säckchen platzte auf und der Sand verspritze in alle
Richtungen. Es war nicht perfekt, doch für eine
Demonstration musste es reichen!
»Warte, bis ich dich rufe«, bat Basti seine Frau. »Die
sollen noch nicht wissen, welche Überraschung auf sie
zukommt.« Sie grinsten sich an und Sebastian ging wieder
zum Übungsplatz zurück, wo die beiden Versuchskaninchen
bereits ihre Rüstungen angelegt hatten, und die beiden
Heerführer erwartungsvoll auf die Demonstration
warteten.
Thorbald und sein Kamerad steckten nun schon eine Weile
in ihrem schweren Rüstzeug, standen in der glühenden
Sonne, warteten und schwitzten. Jeder hatte sich eines
der hölzernen Übungsschwerter herausgesucht und
ausprobiert, wie es am besten in der Hand lag.
»Sonnenherz hat sich ebenfalls mit solch einem
Übungsschwert bewaffnet und wird euch gleich mit ihrer
Kampftechnik genauso überraschend angreifen, wie ihr es
später selbst tun sollt«, kündigte Sebastian an.
»Sie ist niemals als Kriegerin ausgebildet worden,
sondern hat sich diesen Kampfstil bereits als Kind selbst
beigebracht. Versucht euch also so gut zu verteidigen,
wie ihr es vermögt!«
Nach dieser Ansage schritt er zu den beiden
Kohortenführern hinüber und gesellte sich als Zuschauer
zu ihnen. Aus sicherer Entfernung gab er das deutliche
Zeichen, den Ruf eines Whulen, eines Nachtraubvogels, der
ähnlich den Eulen in Bastis Welt, am Tage so gut wie
niemals zu hören war. Dann warteten sie.
Ungeduldig traten die beiden Kommandeure von einem Bein
auf das andere und beobachteten aufmerksam das Grasland
um sie herum. Thorbald und sein Kamerad standen in der
schweren Rüstung nur da und drehten sich langsam um die
eigene Achse, um nach allen Richtungen sehen zu können.
Doch es geschah nichts.
Das Zirpen der Insekten wurde unerträglich laut und
Sebastian hatte den Eindruck, dass Antarona sie extra
angewiesen hatte, die Wartenden mit ihrem monotonen,
eindringlichen Klang zu zermürben. Gleichzeitig lastete
die glühende Sonne auf ihnen. Inzwischen befürchtete
Sebastian, dass einer der Krieger unter der drückenden
Mittagshitze umkippen könnte, bevor die Demonstration
überhaupt begann.
Aber es waren nun einmal reale Bedingungen, wie sie
überall auf Falméra herrschten. Gerade die
Schwerfälligkeit und Unbeweglichkeit der gerüsteten
Krieger war es ja, welche Sebastian den Führern seiner
Heerlager deutlich machen wollte.
Als sie nach einer gefühlten Ewigkeit immer noch
warteten und sich die beiden Kohortenführer verstohlen
ansahen, wollte Sebastian gerade hinter den Felsen gehen,
um nachzusehen, ob Antarona eingeschlafen war. In diesem
Augenblick huschte ein kleiner Schatten durch die Luft,
kaum, dass ihn jemand wahrnehmen konnte.
Plonk! Mit hohlem Klang flog ein Stein von der Größe
eines Golfballs gegen den Helm Thorbalds und schreckte
die Geister auf, die in der Hitze ihre Sinne abstumpfen
ließ. Sofort waren alle hellwach. Thorbald, überrascht
von dem Schlag, taumelte leicht und sah sich ungelenk in
die Richtung um, aus der das Geschoss gekommen zu sein
schien. Nichts. Das hohe Gras wogte friedlich im Wind.
Und doch lauerte Antarona irgendwo dort draußen,
unsichtbar wie ein Geist, bereit, jederzeit wieder
zuzuschlagen. Selbst die beiden Führer blickten sich
aufmerksam, aber erfolglos um. Dass dieser Stein eine
tödliche Lanzenspitze hätte sein können, musste
Sebastian nicht erst erläutern.
Plötzlich zischte, aus einer völlig anderen Richtung,
ein Pfeil heran. Er traf Thorbalds Kameraden in der
Nierengegend, wo der Brustschutz der Rüstung auf dem
Lendenschutz lag und eine nur Millimeter große
Angriffsfläche bot. Der Holzschaft bohrte sich in die
Fuge, das gefüllte Säckchen platzte auf und verspritzte
seinen sandigen Inhalt.
Noch bevor die beiden Krieger sich neu formieren konnten,
brach Antarona aus dem hohen Gras gegenüber hervor.
Flüchtig wie ein Windzug schnellte sie heran, drehte
sich durch die Lücke zwischen beiden Gegnern und
versetzte einem einen Streich in seine Kniekehlen.
Freilich spürte dieser nur einen dumpfen Schlag. Doch
hätte Antarona Nantakis in den Händen gehalten, so
wären dem Mann beide Sehnen seiner Beine durchtrennt
worden. In wirbelndem Tanz, wie beim Elsirenfeuer sprang
das Krähenmädchen um ihre Kontrahenten herum, ohne dass
diese sie mit den Augen verfolgen konnten.
Ihre Rüstungen waren einfach zu schwer und behinderten
sie. Außerdem brauchten ihre Arme mit den Schilden und
den Metallplatten viel zu lange, um eine Abwehrhaltung
einzunehmen. Verwirrt stießen die beiden krachend mit
ihren Rücken gegeneinander, versuchten das nackte
Gespenst, das sie wild umtanzte, mit ihrem Blick
einzufangen.
Wie aus dem Nichts traf ein heftiger Hieb den
ungeschützten Hals eines Kriegers, als Antarona mit
kräftigem Absprung an seinem Kopf vorbeiflog, und sich
jenseits der Reichweite seines Holzschwertes abrollte.
Während sie den eigenen Schwung nutzte, um wieder auf
die Beine zu kommen, griff sich der Touchierte an den
Hals, taumelte, und fiel hin.
Thorbald hatte inzwischen Antaronas Position erfasst und
stellte sich ihr kampfbereit entgegen. Das
Überraschungsmoment war klarer, nüchterner Taktik
gewichen. Lauernd standen sich der Krieger in der
schützenden Rüstung und das dürftig gekleidete,
verwundbare Mädchen gegenüber. Es bedurfte keines
Nachdenkens, dass der Mann dieser kleinen Frau an Kraft
und Größe schonungslos überlegen war.
Im gleichen Lidschlag, in dem sich Thorbald mit einer
plötzlichen Attacke auf Antarona stürzte, und mit
seinem Schwert zustieß, sprang Antarona unverhofft und
leichtfüßig zur Seite, federte ihren Sprung mit nackten
Füßen ab und flog zurück, als das Schwert ihres
Gegners, getrieben durch den eigenen Schwung, dort in den
Boden fuhr, wo Antarona eben noch gestanden hatte.
Noch im Abrollen traf Antaronas hölzerne Klinge
Thorbalds Armbeugen, bevor das Krähenmädchen mit
akrobatischer Sicherheit wieder hochschnellte, wie ein
Blitz um ihn herum huschte und in seinen ungeschützten
Rücken gelang. Bevor Thorbald die Wucht seines Angriffs
abgefangen hatte, spürte er Antaronas Schwertspitze
zwischen seinen Schulterblättern.
Die beiden Kämpfer rappelten sich nur mühsam und
keuchend hoch. Antarona hingegen schritt wie befreit von
einer Last mit erhobenem Haupt und nicht ohne Stolz in
den Schatten des Felsens zurück.
Der Kampf war entschieden, schneller noch, als es jemand
vermutet hätte. Es waren nur Minuten, wenn nicht gar
Sekunden, und eine mit leichten Lederfetzen bekleidete,
kleine, dünne Frau hatte zwei stattliche, kampferprobte
Krieger bewegungsunfähig geschlagen.
Sebastian mochte es damit vergleichen, als hätte ein
Mädchen im Bikini einen kräftigen Mann in
Motorradkleidung und Winterpelz beim Strandvolleyball
besiegt. Der Effekt war derselbe. Das Ergebnis unter
realistischen Gesichtspunkten aber für beide Krieger
tödlich. Sebastian rekapitulierte laut für die beiden
Kohortenführer:
»Der Pfeil aus unbekannter Richtung hätte einen Krieger
bereits schmerzhaft zu Fall gebracht. Doch wenn nicht
dieser, so wäre dem Mann Sonnenherz zweiter Streich zum
Verhängnis geworden. Er wäre in die Knie gebrochen und
nicht wieder hoch gekommen«, dokumentierte er Antaronas
ersten Schwerthieb.
»Mit ihrem zweiten Hieb hätte sie Thorbald den Kopf vom
Leib getrennt. An dieser Stelle wäre der Kampf bereits
entschieden gewesen«, urteilte er hart. Doch Sebastian
wollte der Möglichkeit Raum lassen, dass Antaronas
Streiche nicht sofort tödlich gewesen wären und fuhr
fort:
»Ihr dritter Hieb, nach Thorbalds Attacke, hätte diesem
beide Arme genau zwischen den Rüstungsgliedern
zertrennt, und er wäre daran verblutet«, erklärte
Basti weiter. »Zuletzt gelangte Sonnenherz in Thorbalds
Rücken und hätte genug Zeit gehabt, das kurze Schwert
durch seine Rüstung in seinen Rücken zu stoßen!«
Eine betretene Stille beherrschte die grüne Kampfarena.
Die beiden Kohortenführer nickten anerkennend, indem
Thorbald und sein Kamerad versuchten, sich vom lästigen,
metallenen Körperschutz zu befreien. Derbe Lederriemen
hielten das Rüstzeug fest auf ihren Körpern zusammen.
Dennoch hatte es ein schwangeres Mädchen geschafft, die
Panzer mühelos zu durchdringen. Fast ein Kinderspiel.
Aber eben nur fast!
Sebastian war sehr wohl klar, dass Antaronas
ungeschützter Körper auf einem realen Schlachtfeld
durch zufällige, unkontrollierte Hiebe im
Gefechtsgetümmel eher verwundet worden wäre, als durch
die Streiche des direkten Gegners. Sie hätte in einer
wirklichen Schlacht, in der tausend Kämpfer dicht
gedrängt aufeinander trafen, keine fünf Minuten
überlebt! Doch diese forensische Einsicht behielt er
für sich.
Schließlich gab es bei jedem Gefecht Verluste zu
beklagen. Ausschlaggebend für einen Sieg mochte aber das
Überraschungsmoment sein. Zusätzlich baute Sebastian
darauf, dass die neue Kampfart, deren Ruf den Schlachten
bald vorauseilen würde, eine demoralisierende Wirkung
auf den Gegner haben würde.
Die Angst vor plötzlich hereinbrechenden, wirbelnden
Schwertern hätte sich bereits in den Köpfen der Feinde
manifestiert und mochte ihren Eifer deutlich lähmen.
Selbst dieser Umstand konnte schon Schlachtentscheidend
sein!
In diesem Augenblick kam Sebastian der Einfall, die
neuen, schnellen Kohorten mit einem sich dem Feind
einprägenden Äußeren zu schmücken. Allein ihr
unverhoffter Anblick musste den Gegner bereits als
Schreck in die Glieder fahren!
Thorbalds ernüchternde Stimme ließ Sebastians Gedanken
daran verfliegen. Der junge Mann hatte sich seiner
Rüstung entledigt und sagte zu seinem Kameraden:
»Sie hat uns diesmal besiegt, Arnhold, doch seid
versichert, ein weiteres Mal gelänge ihr das nicht!«
Der Angesprochene erwiderte vorsichtig:
»Mag sein, dass ihr recht habt, mein Freund, doch
vergesst nicht: Sie war wirklich schnell, wir sahen sie
nicht einmal kommen, wir waren nicht mal einen Moment
bereit zu irgendeiner Gegenwehr!«
»Nur dieses eine Mal«, versicherte ihm Thorbald ruhig.
Sebastian entgingen die Worte nicht, und da er
befürchten musste, dass sich auch die beiden
Kohortenführer von Thorbalds Aussage beeinflussen lassen
könnten, sah er sich gezwungen, in die Diskussion
einzugreifen und sich die verbale Dominanz zu sichern.
»Wie meint ihr das, Thorbald, ein weiteres Mal gelänge
ihr das nicht?« fragte Sebastian bedächtig, aber mit
drohendem Unterton in der Stimme.
»Ganz einfach, Herr«, antwortete dieser offen, »beim
nächsten Mal wäre ich auf ihre überraschenden Finten
vorbereitet, wenn sie nicht wieder feige aus dem
Hinterhalt mit Steinen werfen würde!«
»Ach, sieh mal an«, tat Basti gespielt verwundert,
»ihr meint also Sonnenherz bereits nach dieser einen
Lektion gewachsen zu sein, ohne ihre Kampfkunst studiert
oder geübt zu haben?« In Sebastians Frage schwang etwas
Unsicherheit mit. Es war die Angst, Thorbald könnte
womöglich gar nicht so unrecht haben.
»Herr, wenn ich Sonnenherz Kampfweise so hätte
voraussehen können, wie sie mir nun bekannt ist, so
hätte ich mich in eine Position gebracht, in der ich
meine Kraft, also meine eigenen Vorteile hätte einsetzen
können«, erklärte der Krieger selbstsicher. Sebastian
wollte darauf eingehen, doch dazu kam er nicht mehr.
Wie ein rasender, zähnefletschender Eishund kam Antarona
herangestürmt. Anscheinend hatte auch sie Thorbalds
Worte vernommen. Sie baute sich vor dem großgewachsenen
Krieger auf und sah ohne Waffen beinahe lächerlich aus.
Sie bot das Abbild eines verwahrlosten, verwilderten
Mädchens, das aus der jahrelangen Gefangenschaft einer
dunklen, nassen Höhle entkommen war, und sich nun an
ihren Peinigern rächen wollte. Ein Fischlein, das sich
gegen die Pranken eines Bären erhob.
Doch ihr flammender, vernichtender Blick, der sich fest
in die peinlich berührten Gesichter der beiden Krieger
bohrte, mochte jeden ernüchtern, der versucht war, sich
über ihr Äußeres zu amüsieren.
Als hätte sie die Macht und Stärke, zwei robusten
Krieger mit einer einzigen Armbewegung umzustoßen,
stemmte sie ihre kleinen Fäuste in die Hüfte,
beförderte ihre widerspenstige, schwarze Mähne mit
einer schnippischen Kopfbewegung über die Schulter und
fauchte die beiden gefährlich an:
»Wer wirft hier feige aus dem Hinterhalt mit Steinen,
was? Wisst ihr beiden Riesentrolle eigentlich, was feige
ist? Na?« Sie ließ ein par Sekunden verstreichen, in
denen Thorbald und Arnhold sie nur verunsichert
anglotzten. Die beiden ahnten noch gar nicht, welches
Donnerwetter da über sie hereinbrach.
»Wart ihr zwei großen Krieger jemals im Val Mentiér,
dort, wo unsere Brüder und Schwestern jeden Tag sterben?
Ja?« begann sie mit bitterem Sarkasmus ihre Standpauke.
»Habt ihr je das Leid unter den Bergen des ewigen Eises
besucht? Nein? Dann will Sonnenherz euch sagen, wie es
dort ist!« Sie trat unerschrocken einen Schritt
vorwärts und deutete auf den Boden.
»Los, setzt euch, ihr einfältigen Paradefiguren,
Sonnenherz mag nicht ständig zu euch aufsehen müssen!«
befahl sie wie ganz selbstverständlich. Und ebenfalls
wie ganz selbstverständlich ließen sich die beiden vor
er kleinen, tobenden Frau nieder.
Sie hätten das Krähenmädchen einfach schnappen, und
weit von sich ins Gras werfen können. Doch sie taten es
nicht. Dieses Mädchen, das die beiden mit seinem
engelhaften Gesicht bezauberte, hatte sie im Kampf
besiegt. Sie genoss den Respekt beider vor ihrem Mut und
ihrem Können, sowie ihre Achtung vor dem Bild der
verletzlichen, wunderschönen Frau, derer Natur es war,
von ehrenhaften Kriegern beschützt zu werden.
Antarona wusste das ganz gezielt auszunutzen. Sie kannte
ihre Wirkung auf Männer und wusste, dass diese beiden
jungen Krieger noch so etwas wie Ehre im Leib trugen,
eine Unerfahrenheit, die sie in dieser Situation
verunsicherte. Sie wagte so mit ihnen umzuspringen, weil
sie wusste, dass keiner von beiden ihr ein Haar krümmen
würde, auch wenn sie nicht die Frau des Areos von
Falméra gewesen wäre.
»Ihr habt keine Ahnung, nicht wahr? Aber ihr glaubt zu
wissen, was ein feiger Hinterhalt ist! Sonnenherz wird
euch sagen, was feige ist!« schnauzte sie die beiden an,
die wie ein par Schuljungen vor diesem kleinen, erbosten
Mädchen saßen und sich nicht mehr mucksten.
Sebastian war unschlüssig, wie er sich verhalten sollte.
Hetarus und sein ebenfalls erfahrener Kamerad standen
indes am Rand des Übungsplatzes, zogen erstaunt die
Augenbrauen hoch und grinsten nicht ganz ohne
Schadenfreude in sich hinein. So etwas hatten selbst sie
noch nicht erlebt.
»An einem schönen Tag zur Zentare der spät wandernden
Sonne arbeiteten die Leute meines Dorfes auf den
Weiden«, begann sie mit etwas weniger Angriffslust in
der Stimme.
»Sie alle waren guter Dinge, die Männer und Jungen
verluden das Heu auf die Wagen, das die Frauen und
Mädchen zusammenrechten und ihnen anreichten. Plötzlich
kamen viele Reiter, mehr als Finger an zwei mal zwei
Händen. Sie alle trugen schwarze Kleider und schwarze
Rüstungen. Sie ergriffen die Mütter und Töchter, und
schleppten sie fort. Die jungen Männer trieben sie vor
sich her. Wer sich ihnen entgegenstellte, wurde ohne zu
fragen getötet.«
Antarona machte eine Pause und beobachtete ihre beiden
Zuhörer. Als sie feststellte, dass ihre Geschichte die
beiden nicht sehr beeindruckte, fügte sie hinzu:
»Alte Männer, und jene Frauen und Mädchen, die sie
nicht mitnehmen konnten, wurden ebenfalls getötet. Die
Frauen bettelten um das Leben ihrer Kinder, die noch zu
klein waren für den langen Weg. Sie flehten die Reiter
an, diese einfach nur zurück zu lassen... Doch sie haben
sie einfach erschlagen. Das ist feige! Über unbewaffnete
Frauen und Kinder herzufallen, ist feige!«
Arnhold und Thorbald saßen mit fragenden Gesichtern da
und warteten offensichtlich auf ein Finale. Antarona
kniff erst die Augen zusammen, dann weiteten sich ihre
Lider und in ihrem Blick begann erneut das gefährliche
Feuer zu glühen, vor dem sich ein Mann in Acht nehmen
sollte. Thorbald zuckte mit den Achseln und warf ein:
»Das mag alles sein, Sonnenherz, und ich glaube euch das
alles, doch aus dem Hinterhalt mit Steinen auf uns zu
werfen, wo ihr doch wusstet, dass wir uns nur schwer
bewegen konnten, war nicht erlaubt und auch nicht
ehrenvoll...« Antarona beugte sich über die beiden
jungen Krieger und fuhr sie mit allem Zorn, der in ihr
verborgen lag, an:
»Nicht ehrenvoll, nicht erlaubt? Welche Tat ist in einem
Kampf gegen Kinder denn ehrenvoll, oder erlaubt, wenn es
Sonnenherz erlaubt ist, die stolzen Krieger fragen zu
dürfen?« keifte sie die beiden an, dass diese vor
Schreck auf dem Hosenboden ein par Zentaren
zurückwichen. »Wisst ihr überhaupt, wovon Sonnenherz
spricht?«
Sie starrte die beiden Ahnungslosen mit einem Blick an,
der dem einer völlig Irrsinnigen gleichkam und ihnen
Angst machte.
»Nein, nichts, gar nichts wisst ihr, dumm seid ihr,
spielt hier nur die Helden mit euren Schwertern, fuchtelt
damit durch die Luft und beklagt euch, wenn eure Haut
einen Kratzer abbekommt, so ist das! Wisst ihr, wer die
wahren Helden sind? Nein? Es sind jene Männer, die den
Mut hatten, die Reiter um das Leben ihrer Familien
anzuflehen, obwohl sie ahnten, dass sie dafür sterben
mussten! Glaubt ihr, Torbuks Reiter fragen erst nach
Regeln und Ehre, bevor sie angreifen, bevor sie die
Väter und Brüder wahllos hinmetzen und die Frauen und
Töchter zu ihrer Kurzweil verschleppen, schänden und
töten?«
Ihre Stimme überschlug sich fast vor innerem Schmerz,
aber sie gebärdete sich so wild, dass ihre
unfreiwilligen Schüler annehmen mussten, im nächsten
Moment von ihren Krallen zerrissen zu werden.
Plötzlich wurde Antarona ganz ruhig. Ihr Blick
erstarrte, als sah sie in eine weit entfernte Welt, die
nur ihr Zugang gestattete. Dann sprach sie leise mit
unnatürlich rauer und spröder Stimme, wie mit
verrosteten Schwertklingen als Stimmbändern:
»Habt ihr einmal eine Frau gesehen, die zurückkehrte,
der das Unglück beschieden war, aus einem von Torbuks
Lagern fliehen zu können? Ja, habt ihr das, ihr stolzen,
unbefleckten Jungs, denn das ist wahrhaftig ein Unglück
für sie! In den Blicken jener Frauen ist das Licht
verloschen, ihre Augen sind tot, gestorben, so, wie ihr
Herz gestorben ist! Habt ihr je eine solche Frau gesehen,
welche dorthin blickt, wo nichts mehr ist? Sie fährt vor
Angst zusammen, wenn sie nur die Stimme eines Mannes
hört. Wenn sie Glück hatte, so haben ihr die schwarzen
Reiter nur den Schoß gebrochen.«
»Doch wenn sie ihr das Gesicht und die Brüste mit rauen
Klingen zerschnitten haben, und ihre Wunden zu faulen
beginnen, so wäre es eine Gnade für sie, von ihren
Peinigern getötet zu werden. Denn ihr Herz ist bereits
erloschen, ihre Seele ist tot, ihre Sinne sind nicht mehr
und ihr Fleisch ist blutleer. Aus ihrem Schoß tritt der
Hauch des Bösen. Manche von ihnen tragen die Brut
Torbuks in sich und richten sich selbst, aus Angst,
dafür gehasst zu werden!«
»Habt ihr je so eine Frau gesehen? Vermögt ihr euch
vorzustellen, das ist eure Mutter, oder eure Schwester,
oder die Geliebte? Wollt ihr dann noch mit Ehre kämpfen?
Glaubt ihr dann noch an das, was erlaubt ist?« Ihre
Augen verengten sich zu kleinen Schlitzen als sie sich zu
den völlig verdatterten Kriegern hinab beugte und heiser
zischte:
»Dann kämpft ihr nur noch, um zu töten. Und um euch zu
zeigen, wie das geht, ist Sonnenherz gekommen!« Damit
wandte sie sich ab, nahm wortlos ihre Waffen auf, und
verschwand hinter dem Felsen.
Stille. Niemand sagte ein Wort. Sebastian wollte sich
ebenfalls abwenden, als Thorbald, kraftlos dasitzend,
leise bemerkte:
»Das arme Krähenmädchen, ihr Herz ist wahrscheinlich
unheilbar krank vor Schmerz.« Sebastian hörte es,
drehte sich um und ging langsam auf den
eingeschüchterten Krieger zu, bis er knapp vor seinen
Füßen stehen blieb. Leise sagte er:
»Ja, Thorbald, ihr Herz ist sehr traurig, aber es ist
nicht krank. Sie trauert um jede Seele ihres Volkes, und
sie würde genauso um euch trauern!« Sebastian fielen
die Worte schwer, nur zögernd kamen sie über seine
Lippen:
»Sie musste als Kind mit ansehen, wie ihre Mutter von
schwarzen Reitern geschändet wurde. Anschließend haben
sie die Frau vor ihren Augen regelrecht zerhackt! Sie hat
ihren Vater um das, was von ihr übrig war, schreien
hören, ihn seine Götter verfluchen hören, ihn weinen
sehen, Tage lang, Nächte lang.«
»Ich habe selbst gesehen, was Torbuks Reiter mit
gefangenen Frauen anstellen. Es war das Schlimmste, das
ich je erlebt habe. Keine Schlacht, die ihr euch
vorstellen könnt, kann grausiger sein! Wisst ihr, ich
weiß nicht genau, was Sonnenherz alles mit ansehen
musste, aber eines kann ich euch versichern: Ihr wünscht
euch, so etwas niemals sehen zu müssen!« Sebastian
entfernte sich ein par Meter, doch dann drehte er sich
noch einmal um.
»Und genau deshalb sind wir hier! ...beim nächsten
Sonnenlauf an dieser Stelle! Mit dem Gefangenen!« Ohne
ein weiteres Wort folgte Basti seiner Frau.
Thorbald und Arnhold rappelten sich hoch, rieben still
den Schmerz aus ihren Gliedern und das Gras aus ihrer
Kleidung. Hetarus legte seinem Kampfgefährten aus alten
Zeiten freundschaftlich die Hand auf die Schulter, fuhr
sich mit der anderen nachdenklich durch seinen
knisternden Bart und sagte:
»Wenn alle meine Krieger das Herz dieser Frau besäßen,
mein Freund, so bräuchten wir einen Feind wie Torbuk
nicht mehr zu fürchten!« Dann nahmen sie den gefangenen
wieder in ihren Gewahrsam und gingen schweigend ihren
Heerlagern entgegen.
Antarona und Sebastian verstauten die Übungsschwerter
und andere Gegenstände, die sie noch brauchten, in einer
Lücke unter dem mächtigen Felsen, und begaben sich auf
den selbst getretenen Pfad zurück zu ihrem Lager. Auf
dem Weg dorthin schwenkten sie links und rechts ab,
hielten hier und dort, sammelten Beeren, Kräuter und ein
paar Wurzeln, die gekocht wie Spargel schmeckten.
Sie schwiegen, gingen still nebeneinander her. Sebastian
hatte das Gefühl, seiner Frau mit der Aufgabe, Thorbald
zu trainieren, zuviel zugemutet zu haben. Drei wichtige
Gründe jedoch zwangen ihn dazu. Erstens erhöhte er
dadurch die Schlagkraft Falméras Verteidigungsarmee.
Zweitens verhinderte er eine verdeckte Invasion Torbuks
Truppen in diesem Tal. Und nicht zuletzt würde Fürst
Jamálin sein Interesse an diesem Tal fallen lassen, wenn
dies nicht schon geschehen war.
Denn für Sebastian stand außer Frage, dass die Spione
von jenem Oranuti- Fürsten geschickt wurden, dessen
Tochter er nicht mehr beneidete, dessen Gold- Quarts er
nun aber in seiner Tasche trug, und deren Wert er gegen
den Fürsten und dessen Pläne einzusetzen gedachte.
Zwei Stunden vor Sonnenuntergang erreichten sie ihren
Lagerplatz. Er begrüßte sie mit einem Gefühl der
Vertrautheit und Geborgenheit. Er war ihr kleines,
bescheidenes Zuhause, in einer Zeit der Rastlosigkeit, in
einer Zeit des Umbruchs, der Veränderung.
Dieser Ort zwischen Felsen und hohen Bäumen, umgeben von
üppigen Weiden und durchflossen von einem Bach klaren
Wassers, bot ihnen mehr das Gefühl von Heimat, als es
die Burg mit ihren sicheren Mauern jemals vermochte.
Für Antarona gab es allerdings noch einen ganz anderen
Platz, den sie als ihr Zuhause ansah, das wusste er. Das
Haus ihres Vaters, am See, unter den unüberwindlichen,
schneebedeckten Bergen des Val Mentiér; Nephtir, die
Mutter der Bäume, welche aus jedem Menschenwesen die
Stimme der Wahrheit erklingen ließ und Antaronas
Lieblingsplatz war, in dessen mächtigen Ästen und
Zweigen sie ungestört träumen konnte; die Grotte und
der Wasserfall am Mentiérsee, die ihr stets Schutz
boten, wenn sie einen Rastplatz brauchte.
Und nicht zuletzt waren es die Menschen in den Tälern,
ihr Volk, die Sonnenherz liebten und verehrten und ihr
das Gefühl gaben, unter jedem Dach willkommen zu sein.
All dies war für sie der Inbegriff eines Zuhause, trotz
der immerwährenden Gefahr, die den Menschenwesen dort
durch Torbuks Stoßtrupps drohte.
Je mehr Basti darüber nachdachte, desto deutlicher
empfand er, dass sie im Val Mentiér ihre glücklichste
Zeit miteinander verbracht hatten. Der Nachmittag im
Blätterdach Nephtirs, die Stunden in Antaronas Höhle,
die Zweisamkeit am stillen Strand des Mentiérsees, sowie
am See hinter dem Haus ihres Vaters Hedaron, ja selbst
den Tag an der Hütte des Unbekannten, der ihnen ein
geheimnisvolles Vermächtnis hinterließ.
Freilich hatten sie auch auf Falméra glückliche Zeiten,
vielleicht sogar mehr und intensiver, als im Tal
Antaronas Herkunft. Doch auf Falméra unterstanden sie
stets dem Zwang Bentals und der Himmelsburg. Sie waren
niemals wirklich frei!
»Denkt ihr an die Wälder und Weiden von Val Mentiér?«
fragte Antarona plötzlich, indem sie die Asche aus der
Feuerstelle ihres Lagers entfernte.
»Ja«, gab Sebastian zu, »und ich habe darüber
nachgedacht, auch dort zu leben!« Antarona unterbrach
ihre Arbeit an der Feuerstätte, erhob sich und sah ihn
verwundert an.
»Wie meint ihr das, Ba - shtie, auch dort zu leben?«
Nachdenklich ging er auf sie zu, seine Hände umfassten
ihre Taille und zogen sie dicht an ihn heran.
»Pla-kas züchten, mein Engelchen, darum geht es,
Pla-kas züchten!« An ihrem Blick erkannte er, dass sie
noch immer nicht verstand.
»Wir könnten den Sommer über im Val Mentiér leben,
auf dem Hof deines Vaters, oder auf einem eigenen Hof in
einem der großen, unerschlossenen Seitentäler. Eine
robuste, für schwere Arbeiten geeignete Rasse Pla-kas
ließe sich dort züchten.« Sebastian machte eine
ausholende Geste in die Runde.
»Bevor dann im Val Mentiér der harte Winter einbricht,
ziehen wir in dieses Tal und widmen uns der Zucht anderer
Pla-kas, die für den Kampf geeignet sind. Und wenn uns
einmal der Sinn nach Kurzweil und Tanz steht, wartet dein
Haus in Falméra auf uns!« Was hältst du davon? Stand
in Bastis Gesicht geschrieben. Antarona sah ihm in die
Augen und konnte es lesen.
»Ba - shtie«, sprach sie mit mahnender Stimme, »ihr
folgt einmal mehr der Mutter der Nacht am Tage! Euer
Traum klingt wundersam und schön, doch ihr vergesst,
dass Quaronas noch immer zwischen Val Mentiér und
Falméra liegt! Dort herrscht das Böse! Bis es nicht
besiegt ist, wird es keinen Frieden geben, und eure Frau
und euer Kind werden nicht frei reisen können!«
Einsichtig nickte Sebastian und seufzte ernüchtert. Dann
atmete er erleichtert aus, seine Hände wanderten
zärtlich über ihre süßen Rundungen abwärts, schoben
sich unter ihren Lederschurz, packten sanft zu und
pressten sie verlangend an sich.
»Na ja«, lenkte er lächelnd ein, »mein Zuhause wird
immer dort sein, wo ich dich in meinen Armen halten und
lieben kann! Ob im Val Mentiér, oder in Falméra. Wenn
ich dich fühle, deine Wärme und dein Herz spüre,
deinen Duft atmen kann, dann bin ich zuhause!« Damit hob
er sie an, so dass sie ihre Arme um seinen Hals legen
konnte.
Vorsichtig trug er sie unter ihren Schlafbaum, breitete
die Felle aus und sie wickelten sich albern kichernd und
wild küssend in die weichen Tierhäute, bis nur noch
ihre Füße herausragten. Das Blätterdach der Bäume und
die Felsen bedeckten das heimliche Geschehen und der nahe
Bach verschluckte jedes Geräusch eines sehnsüchtigen
Verlangens...
Der Morgen drohte bereits mit Gewitter. Es war drückend
heiß und die Luft schien aufgeladen von einer
unnatürlichen Spannung. Selbst der Bach plätscherte so
müde und lustlos dahin, grau und bleiern, als führte er
nur noch Schlamm. Das frische Sprühen seines Wildwassers
war wie fortgezaubert.
Sebastian wachte auf und nahm als erstes wahr, dass
Antarona nicht mehr da war. Er vermisste ihre Wärme,
ihren Duft, ihren Herzschlag. Nur widerwillig schälte er
sich aus der angenehmen Hülle der Felle, taumelte zum
Feuer hinüber, dem es an diesem Morgen ebenfalls an
Energie fehlte, und schnitt sich ein langes Stück
geräuchertes Fleisch ab, auf dem er unlustig
herumzukauen begann.
Irgendetwas lag in der Luft. Er hatte das Gefühl, alles
um ihn herum wäre schwerer als sonst, einschließlich
seiner Glieder. Ein Blick zum Himmel ließ die Sonne
hinter einheitlichem Grau nur erahnen. Dennoch war es so
heiß, wie in einem Glutofen. Vielleicht lag es daran,
dass es völlig windstill war. Nicht ein Blatt an den
Bäumen regte sich. Die Luft stand wie eine feste Masse,
kaum, dass sie sich noch atmen ließ.
Jede noch so geringe Bewegung ließ den Schweiß aus den
Poren treten und Sebastian erinnerte sich daran, ein
ähnliches Wettermuster auf Högi Balmers Alm erlebt zu
haben, kurz bevor ein so heftiger Sturm losbrach, der den
ganzen Berg umzuwerfen drohte.
Wenn so ein Gewitter heraufzog, vermochten sie auch die
Bäume und der Felsen nicht mehr zu schützen. Doch wohin
sollten sie sich verkriechen, wenn die Natur tatsächlich
so eine Gewalt über ihren Köpfen entfesselte? Sie
hatten kein Dach über dem Kopf, keine Höhle, ja nicht
einmal einen schützenden Felsüberhang.
Bastis Blick wanderte zu beiden Talseiten die Hänge
hinauf. Die Zeltspitzen der Heerlager leuchteten hell vor
dem dunklen Grau des aufziehenden Unwetters. Hoffentlich
waren seine Heerlagerführer so klug, die Lager in eine
Senke zu verlegen, sonst würde der Sturm die Zelte mit
Mann, Maus und Waffen einfach über die Felsklippen in
die Tiefe wehen!
Mit triefend nassen Haaren kam Antarona vom Bach herauf.
Fasziniert sah er ihr zu, wie sie ihre nasse Mähne immer
mit einem groben Kamm durchzog. Sie bewegte sich anmutig,
ohne Plumpheit, oder Hast. Ihre Haut glänzte selbst bei
diesem Licht und Sebastian wusste nicht zu sagen, ob es
vom Wasser war, oder ob sie schon wieder schwitzte.
Er jedenfalls badete in seinem Schweiß, zupfte zaghaft
an seinem Hemd, stellte fest, dass es an seinem Körper
klebte und ein unangenehmes Gefühl verursachte. Er zog
es sich über den Kopf, und stellte fest, dass selbst
diese Tätigkeit in der trägen Luft Mühe bereitete.
»Ich gehe zum Bach und lege mich ins Wasser«,
verkündete er unentschlossen und müde, »was glaubst
du, ist das ein guter Gedanke, oder soll ich lieber auf
den Regen warten?« Basti erwartete nicht wirklich eine
Antwort, hatte er doch diese Äußerung nur gemacht, um
überhaupt etwas zu sagen!
»Es wird keinen Regen geben«, stellte Antarona bestimmt
fest, »geht nur zum Bach, Sonneherz wird inzwischen die
Felle aufhängen.« Mit hochgezogenen Augenbrauen blieb
er stehen.
»Wie, es gibt keinen Regen? Was soll das? Hast du mal
zum Himmel gesehen?« Sebastian wartete darauf, dass
Antarona es tat, doch die widmete sich gelassen weiterhin
ihren Haaren, die eingehender, intensiver Pflege
bedurften, wollte sie nicht wieder als Gefangenenschreck
auftreten.
»Antarona«, versuchte er sie mit ermahnender Stimme
aufzurütteln, »ich habe das schon mal erlebt, auf
Väterchen Balmers Alm, da braut sich etwas zusammen! Was
da vom Himmel kommt, kann das halbe Tal fluten!«
Unbeeindruckt zog das Krähenmädchen weiter den Kamm
durch eine Strähne nach der anderen.
»Ba - shtie, ihr seid hier nicht bei Väterchen Balmer,
wo die kalte Luft des ewigen Eises der warmen, feuchten
Luft des Stromes des großen Wassers begegnet. Hier gibt
es keinen Kampf der Wolken! Der Himmel wird in ein par
Zentaren wieder leuchten, und es wird kein Wasser von den
Göttern kommen!«
Erstaunt sah er seine Frau an. Hatten ihr das wieder
einmal Tekla und Tonka gezwitschert, oder vermochte sie
nun auch schon mit den Wolken zu sprechen?
Kopfschüttelnd ging er lustlos zum Bach hinunter.
Das Wasser, gewöhnlich reißend und sprühend, glitt
gemächlich über die Steine, als hätte es an diesem
Morgen ebenfalls einen eher trägen Charakter.
Wahrscheinlich versiegten unter der sengenden Sonne
allmählich die Ressourcen der letzten Niederschläge.
Konnte es sein, dass der Bach vollständig austrocknete?
War dieses Tal wider Erwarten nur ein Paradies auf Zeit?
Er war zu müde und antriebslos, um in diesem Moment
intensiver darüber nachzudenken. Seine Kleidung warf er
hin, wo er stand und vorsichtig ließ er sich in das
kühlende Wasser gleiten.
Die wohltuende Frische genießend, streckte er seine
Glieder aus und ließ seinen Körper vom Strom
umfließen. Basti schloss die Augen und versuchte sich
darauf einzustellen, was an diesem Tag auf ihn zukommen
sollte.
Eigentlich war er ja nur stiller Beobachter. Antarona
hatte die ganze Arbeit zu leisten. Sie musste dem
unerfahrenen Thorbald eine Kampftechnik vermitteln, die
dieser bislang nur als Tanz kannte. Obwohl ihm seine
Idee, einige Kohorten auszubilden, und gleichzeitig
Fürst Jamálins Begierde auf dieses Tal zu verleiden,
wichtig erschien, wurde ihm inzwischen der ganze Aufwand
zu lästig.
Für die nächste Zeit saßen sie in diesem Tal fest,
mussten sich mit der eintönigen Tätigkeit
beschäftigen, Soldaten auszubilden, und fanden nicht
einmal genügend Zeit, ihre Zukunft zu planen. Am meisten
ärgerte sich Sebastian darüber, dass er sich diese
Situation selbst eingebrockt hatte.
Längst hätten sie nach Mehi-o-ratea unterwegs sein
können, um die Zeit für sich zu genießen. Er tröstete
sich damit, dass er Torbuk und den Oranuti wahrscheinlich
die Invasionspläne durchkreuzt hatte. Dieses Argument
war auch das einzige, das vor Bental Bestand haben
würde, sollte ihm dieser aufgrund einer Beschwerde
Jamálins das sinnbildliche Messer an die Kehle setzen.
Seufzend kroch Sebastian wieder aus dem Bach. Alles
Hadern half nicht. Er hatte A gesagt und musste nun auch
B sagen! Der Verpflichtung, geboren aus der eigenen Idee,
konnte er nicht entfliehen. Unschlüssig stand er am
Ufer, ließ das Wasser von seinem Körper abtropfen und
verharrte einen Moment.
Das Abtrocknen konnte er sich sparen. In dieser
lähmenden Hitze würde er allein durch diese Bewegungen
erneut schwitzen. Lustlos nahm er seine Kleidung auf und
schlich zum Lager zurück.
Mittlerweile hatte Antarona ihre Schlaffelle zum Lüften
über die tiefhängenden Äste der Bäume geworfen. Sie
war bereits dabei, die Bündel für den Marsch zum
Übungsplatz zu packen, als Sebastian seinen müden
Körper heranschleppte.
Das Krähenmädchen musterte ihren von den Göttern
gesandten Helden und lächelte spöttisch. In einer wie
zufällig ausgeführten Bewegung warf sie ihm ein hartes,
geräuchertes Stück Fleisch zu und sagte nicht ganz
ernst gemeint:
»Nehmt das, müder Krieger! Hat euch Sonnenherz in der
schlafenden Sonne so sehr ausgezehrt, dass ihr euch
bewegt, wie ein Felsenbär in der Zeit des langen
Schnees?«
Dabei bewegte sie sich zielstrebig auf ihn zu, und
schlang aufreizend langsam ihre Glieder um seinen
Körper. Die treibhausartige Wärme, die Basti lähmte,
schien auf Antarona eine eher erregende Wirkung zu haben.
In der Hitze fühlte sich ihre Haut kalt und feucht an,
und verströmte einen schweren, sinnlichen Duft, der
seine Wahrnehmung vollends vernebelte.
Doch es blieb ihnen keine Zeit, sich einander hinzugeben.
Die Stunde, in welcher sie sich mit Thorbald treffen
wollten, rückte unaufhaltsam näher. So blieben ihnen
nur ein paar Minuten eng aneinander geklammert zu
verharren, um ihre innige Zweisamkeit zu genießen.
Vermutlich dachten beide über die ketzerische
Möglichkeit nach, sich einfach in den dichten Wald
abzusetzen und sich auf einer verschwiegenen Lichtung bis
zur völligen Entkräftung ihrem gegenseitigen Verlangen
nachzugeben. Doch sie beide wussten auch, worum es ging:
Um ihre eigene Zukunft!
Eine Weile später brachen sie auf. Die Waffen lasteten
schwerer auf ihren Schultern, als am Vortag. Auch der Weg
schien weiter geworden zu sein. Und als sie schließlich
von weitem den Felsen am Übungsplatz erspähten, trauten
sie ihren Augen nicht.
Nicht nur Thorbald und Arnhold waren, wie abgesprochen,
erschienen. Auch Hetarus war mit seinem Gefangenen
gekommen. Außerdem standen noch drei, oder vier andere
Männer dabei. Sebastian verdrehte die Augen, um seinem
überstrapazierten Nervenkostüm einen bildhaften
Anstrich zu geben.
»Das darf doch wohl nicht wahr sein«, fluchte er vor
sich hin, »was wollen die denn alle hier?« Sebastian
machte keinen Hehl daraus, dass er diesen übertriebenen
Aufmarsch als äußerst lästig empfand. Als sie den
Felsen erreicht hatten, verschwand Antarona wortlos auf
dessen Schattenseite. Ihre Reaktion zeigte deutlich, dass
sie keinerlei Bedürfnis verspürte, sich mit dem halben
Heerlager auseinander zu setzen.
»Herr, wenn ihr eurem ergebenen Diener erlaubt, bitte
auf ein Wort«, trat Hetarus auf Sebastian zu. Basti
konnte den Mann nicht einfach ignorieren und tat sehr
interessiert:
»Sprecht, Hetarus, was ist es, das euch so sehr bewegt,
dass ihr erneut den langen Marsch in der wandernden Sonne
auf euch nehmt?«
Der Kohortenführer trat verlegen von einem Bein auf das
andere, scharrte mit dem Fuß im Boden herum und wusste
offensichtlich nicht, wie er sich erklären sollte.
»Nun sagt schon, was euch bedrückt, Hetarus«, forderte
Basti den Mann ungeduldig auf, »mit einem
Heerlagerführer, der mir eine unangenehme Nachricht
bringt, ist mir mehr gedient, als mit einem, der mir mit
Schweigen fälschlich glauben macht, dass alles in
Ordnung ist!« Hetarus sah erstaunt auf.
»Heerlagerführer, Herr? Ich führe nur eine Kohorte,
Herr, ich bin...«
»Ihr seid vom Tage eures Eintreffens in diesem Tal
Heerlagerführer, Hetarus«, unterbrach ihn Areos ohne
Umschweife, »es sei denn, ihr fühlt euch dieser Aufgabe
nicht gewachsen, oder gebt mir Anlass, eure Fähigkeiten
anzuzweifeln. Eure Bestellungsrolle erhaltet ihr, sobald
ihr auf die Himmelsburg zurückkehrt«, versicherte er
ihm, und fügte etwas fordernder hinzu:
»Und nun heraus damit, was bedrückt euch, wir haben
nicht den ganzen Sonnelauf Zeit, und ich möchte endlich
in den Schatten!« Damit wischte sich Sebastian
demonstrativ den Schweiß von der Stirn und hielt Hetarus
vorwurfsvoll seine nasse Hand hin.
»Herr«, begann nun der alte Krieger, nachdem er sich
wieder gefasst hatte, »ich habe den Schaukampf des
letzten Sonnenlaufs mit allen Kohortenführern und mit
Thorbald und Arnhold besprochen. Wir alle glauben, dass
die neue Kampfweise für jeden Gegner viel zu rasch zu
erlernen ist, und dass Thorbald und Arnhold ohne
Rüstzeug in einem Kampf gegen Sonnenherz siegen
würden.«
»Mit anderen Worten, Hetarus«, setzte Sebastian dessen
Gedanken fort, »ihr haltet den ganzen Aufwand des
Übungslagers für überflüssig?«
»So wollte ich es sagen, Herr«, bestätigte der neu
ernannte Heerlagerführer. Er suchte nach weiteren
Worten, sah kurz zu seinen Kohortenführern und fügte
dann hinzu:
»Gelingt es den beiden nicht, Sonnenherz ohne Rüstung
zu besiegen, so mag ich euch nicht widersprechen. Doch
beweisen uns die beiden, dass sie sich von Sonnenherz
nicht noch einmal überraschen lassen, so bitte ich
gnädigst, über meine Zweifel an eurer Entscheidung, der
Erhaltung des Übungslagers nachzusinnen, Herr.«
Sebastian zeigte mit einem deutlichen Nicken, dass er
verstanden hatte. Wohl aber wunderte er sich über den
Mut, mit welchem hier Kritik geübt wurde. Aber gerade
das war es, was er an seinen Männern schätzte. Wohin es
führte, wenn ihm ein jeder nur nach dem Munde sprach,
sah er an deutlichem Beispiel bei Bental und seinen
Beratern.
»Nun, das muss Sonnenherz selbst entscheiden«, gab
Basti zu bedenken, »schließlich ist sie es, welche
euren Kriegern die Kampfweise lehren kann. Sie gilt im
Val Mentiér als die erfahrendste und mutigste Kriegerin.
Als einer solchen vermag ich ihr nicht zu befehlen, was
sie zu tun hat!«
»Sonnenherz ist bereit, wenn die Krieger dies
wünschen«, klang es in diesem Moment vom Felsen her.
Antarona war langsam aus dem Schatten der mächtigen
Steinformation getreten und schritt mit der Würde einer
Prinzessin in den Übungskreis.
»Sonnenherz wird den zweifelnden Kriegern zeigen, wie
ein Schatten kämpft. Doch seid gewarnt, Herr von
Hetarus, diesmal wird sie eure Krieger nicht mit Milde
schonen! Ihr zweifelt an Sonnenherz, so will sie euch den
Blick öffnen, was ein Geisterkrieger ist!«
Sebastian wollte beschwichtigen, denn er ahnte, dass sich
seine Frau, gekränkt in ihrem Stolz, kaum zurückhalten
würde. Er wollte nicht, dass sie einen der beiden
Krieger verletzte, noch dass, was schlimmer war, sie
selbst und ihr ungeborenes Kind Schaden davontrug. Eine
Meinungsverschiedenheit und ein wenig verletzter Stolz
waren ein solches Opfer nicht wert.
»Ich möchte, dass Sonnenherz den Kriegern zeigt, wie
sie Torbuks schwarze Reiter im Val Mentiér besiegt hat.
Ich will aber kein Schlachtfeld, noch bevor Falméra
angegriffen wird!« bekräftigte Sebastian mit lauter
Stimme.
»So sind eure Reden von der unbesiegbaren Kampfkunst nur
leere Worte gewesen?« fragte einer der umstehenden
Kohortenführer mit mehr Aufsässigkeit, als Mut.
Sebastian wollte kontern, doch Antarona kam ihm zuvor.
Ihr Blick sprühte dem Mann blankes Feuer entgegen.
Gefährlich ruhig verkündete sie:
»Sorgt dafür, dass ihr und eure Männer bereit sind!
Sonnenherz wird da sein, wenn der Thron Talris am
höchsten steht!« Damit zog sie zwei der stumpfen
Holzschwerter aus dem Bündel Übungswaffen und
verschwand wieder hinter dem Felsen.
Sebastian stand mit einem Problem vor seinen Soldaten. Er
konnte in Antaronas Namen keinen Rückzieher mehr machen,
ohne ihre und seine eigene Autorität in Frage zu
stellen. Ebenso wenig konnte er zulassen, dass drei
schwergewichtige Männer seiner zierliche Frau durch
einen dummen Zufall die Knochen im Leib brachen.
Den Dickkopf Antaronas, den er stets heimlich bewunderte,
verfluchte er nun. Warum konnte sie sich nicht wenigstens
dieses eine Mal zurücknehmen? Nun musste er versuchen,
selbst die Kontrolle über diesen Übungskampf zu
gewinnen, um im Notfall rechtzeitig einschreiten zu
können.
»Herr, da ist noch etwas...« meldete sich Hetarus
zurückhaltend, als ahnte er, dass sich sein Feldherr mit
einer großen Sorge herumschlug.
»Wir haben noch einmal den Gefangenen mitgebracht.
Während der schlafenden Sonne hatten wir ihn im Zelt des
Kohorten.., verzeiht, des Heerlagerführers verhört,
jedoch nichts aus seinem Munde erfahren können«, teilte
ihm der frisch gebackene Kommandant mit.
»Bindet ihm Hände und Füße und setzt ihn an den
Felsen, dort, wo wir ihn sehen können«, befahl
Sebastian gereizt. »Sonnenherz wird sich nachher mit ihm
befassen und glaubt mir, dann wird es aus seinem Munde
sprudeln, wie aus einer ergiebigen Quelle.«
Zwei Kohortenführer fesselten den Spion und zerrten ihn
nicht gerade zimperlich zu den Felsen hinüber, während
Thorbald, Arnhold und jener Kohortenführer mit der
wagemutigen Stimme begannen, sich auf den Schaukampf
vorzubereiten.
Sebastian wollte die Zeit nutzen und Antarona aufsuchen.
Doch als er auf die Schattenseite der wild übereinander
gelagerten Steinblöcke kam, fehlte von ihr jede Spur.
Nantakis steckte in der kleinen Grotte, ebenso ihr Bogen
und die Pfeile, sowie der große Dolch.
Also hatte sie nur die beiden Holzschwerter mitgenommen.
Aber wohin war sie gegangen? Hatte sie sich zum Bach
begeben, um sich noch einmal zu erfrischen? Oder wollte
sie einfach nur allein sein, um ihre Gefühle zu
beruhigen, um sich auf den Kampf zu konzentrieren?
Möglicherweise war sie auch nur seinen Vorwürfen
ausgewichen?.
Basti musste zugeben, dass er sie mit der Absicht
aufsuchen wollte, ihr Vorhaltungen zu machen, weil sie
sich wieder einmal in Gefahr brachte. Freilich wusste er,
dass Vorwürfe weder zu ihrem Sieg beitragen, noch ihre
Stimmung zu heben vermochte. So war es vielleicht besser,
sie im Augenblick in Ruhe zu lassen.
Zurück auf dem Übungsplatz stellte er fest, dass
Antaronas Kontrahenten bereits Aufstellung genommen
hatten. Sie trugen nur ihren leichten Waffenrock ohne
Kettenhemd und hatten sich mit den Holzschwertern
bewaffnet.
Dennoch war Sebastian nicht ganz wohl zumute. Die Angst
vor einer Eskalation des Schaukampfes ließ ihn nicht
mehr los. Wieder war er hin und her gerissen von seinem
eigenen Zwiespalt, einerseits zu wissen, dass er Antarona
nicht in eine Museumsvitrine stellen konnte, andererseits
sie ständig beschützen, und von allen Gefahren
abschirmen zu wollen.
Wie am Tag zuvor, ließ Antarona die Krieger warten. Die
Sonne hatte den Zenit längst überschritten, doch von
dem Krähenmädchen zeigte sich nicht eine Haarsträhne.
Sebastian und Thorbald nutzten die zeit, um das Gras auf
dem Übungsplatz erneut niederzudrücken und die
Kreisform zu erneuern. Das dauerte eine gute halbe
Stunde.
Als Antarona danach noch immer nicht auftauchte, wurden
die drei Krieger ungeduldig. Sebastian aber ahnte schon,
was kommen würde. Antarona war bereits da. Sie konnten
sie nur nicht sehen. Er war sicher, dass sie sich ganz in
der Nähe im Gras verborgen hielt, und eine gute
Gelegenheit zum Angriff abwartete. Fast konnte er sie
riechen.
Aber selbst er, der ihre Taktik inzwischen gut kannte,
vermochte nicht zu sagen, wo genau sie sich verborgen
hielt. Ihre Fähigkeit, sich ungesehen und ungehört
anzuschleichen, verblüffte ihn immer wieder. Natürlich
tat er, als wartete er ebenso gespannt auf das Erscheinen
des Krähenmädchens, wie ihre Kampfpartner.
Die drückende Hitze lastete auf allen Gemütern,
besonders aber machte sie den Kriegern zu schaffen, die
ihre Anspannung kaum noch kontrollieren konnten.
Probehalber hieben sie ihre Schwerter einige Male um
sich, und Sebastian fragte sich, warum die Luft bei
dieser Temperatur nicht sofort in Scheiben ins Gras fiel.
Auf einem Mal kamen aus der Richtung des Felsens zwei
Schatten auf den Übungsplatz zugeflogen. Zwei
Schwarzvögel, die über die grasebene flogen, waren an
sich nichts Besonderes. Doch diese beiden flogen so dicht
an den Köpfen der wartenden Krieger vorbei, dass diese
sich verwundert umsahen und die Vögel mit ihren Blicken
verfolgten.
Sebastian wusste, dass Antarona nur darauf gewartet
hatte. Wie ein Blitz kam etwas Grünes aus dem Gras
hervorgeschossen. Thorbald, Arnhold und Urtas, der junge,
vorlaute Kohortenführer sahen es nicht, denn sie
blickten immer noch Tekla und Tonka nach.
Als ihnen gewahr wurde, dass etwas auf sie zu kam, war es
bereits zu spät. Antarona fuhr zwischen sie und hieb mit
beiden Schwertern gleichzeitig zu, erwischte Thorbalds
und Arnholds Kniekehlen, so dass die beiden auf der
Stelle wie gefällte Bäume einknickten. Antaronas
spezieller Schwertstreich, den sie so vorzüglich
beherrschte!
Urtas war indes zu keiner Reaktion fähig. Entgeistert
starrte er auf das unbekannte, grüne Wesen, das sich
abrollte und augenblicklich, wie von einer Sehne
geschnellt, auf ihr zuraste. Auch Sebastian konnte
zunächst nur schwer erkennen, was zwischen den
kräftigen Männern herumwirbelte.
Es war Antarona, keine Frage, er erkannte sie
schließlich an ihrer schwarzen Mähne. Doch ihr ganzer
Körper schien unbekleidet und von einem grünen Lack
überzogen, so dass sie vor dem Hintergrund des Grases
kaum auszumachen war.
Bevor Urtas sie als menschliches Wesen identifiziert
hatte, schlug ihr Holzschwert mit voller Wucht gegen
seinen Hals. Er röchelte, begann fürchterlich zu husten
und sackte auf der Stelle nach Atem ringend zusammen.
Mittlerweile hatten sich Thorbald und Arnhold wieder
hochgerappelt und parierten einen neuen Angriff des
Krähenmädchens. Mit der Wucht ihres Sprungs schmetterte
sie die beiden Schwerter mit ihren eigenen Holzklingen zu
Boden und flog wie der Wind über das Hindernis.
Sie war leicht, wendig und schnell, ein Vorteil, den sie
schamlos ausnutzte. Doch die beiden Krieger ließen sich
nicht mehr an der Nase herumführen. Sie drehten sich
ruhig um und erwarteten Antaronas nächste Attacke.
Gleichzeitig kam Urtas wieder hoch, taumelte noch etwas,
aber stand fest auf dem Boden.
Antarona nahm Anlauf und sprang nach bewährter Methode
zwischen Thorbald und Arnhold hindurch, um im Sprung ihre
Schwertstreiche anzubringen. Doch die beiden waren nun
darauf vorbereitet, parierten ihre Hiebe und ließen sie
ins Leere fliegen. Urtas aber, der scheinbar neben dem
Geschehen stand, holte zur gleichen Zeit aus und hieb
Antarona schonungslos und mit solcher Kraft sein
Holzschwert in die Taille, dass sie aus der Bahn flog und
mit lautem Stöhnen seitlich hinschlug.
Der Hieb musste ihr den Atem geraubt haben, denn bei dem
Versuch, wieder auf die Füße zu kommen, sackte sie
seitlich zusammen. Auf diese Gelegenheit hatten die drei
Krieger nur gewartet. Mit einem triumphalen Grinsen in
den Gesichtern warfen sie ihre Schwerter achtlos zur
Seite und gingen auf das scheinbar hilflose
Krähenmädchen zu.
Beschämt hielt sich Sebastian die Hand vor Augen. Das
wars! Die drei würden sie nun packen und sie ihm wie
eine apportierte Beute vor die Füße legen. Damit hatte
sich die Idee, Torbuks Armee mit einer ganz neuen,
ausgefallenen Kampftechnik zu begegnen, erledigt!
Gerade wollte er sich zwischen Antarona und die Krieger
stellen, um den Kampf für entschieden zu erklären. Er
konnte es nicht ertragen, Antaronas Niederlage mit
ansehen zu müssen. Doch bevor Sebastian einschreiten
konnte, waren hatten die Krieger sie umstellt.
Sechs kräftige Arme griffen zu. Die Männer bemühten
sich, das besiegte Krähenmädchen so zu behandeln, dass
sie Areos keinen Anlass zu Vorwürfen gaben. Und
zunächst sah es so aus, als hätten sie mit Antarona ein
kraftloses, wehrloses Geschöpf in ihrer Gewalt.
Doch plötzlich entglitt Antaronas Körper ihrer Gewalt.
Wie eine nasse Schlange wand sich das scheinbar
überwältigte Mädchen ohne Mühe aus ihren Griffen, als
besaßen ihre Gegner keine Kraft mehr in ihren Händen.
Völlig überrascht versuchten die drei sie wieder zu
fassen zu bekommen, doch ihre Hände rutschten einfach an
ihrer Haut ab, behielten nur schmieriges Gras zwischen
den Fingern.
Antarona jedoch rollte sich ab, sprang wieder auf die
Beine, als wäre sie niemals niedergestreckt worden, und
griff sich eines der langen Übungsschwerter ihrer
Gegner. Mit beiden Händen umfasste sie den Griff und
hieb zunächst Urtas die abgerundete, hölzerne Klinge
mit voller Wucht gegen den Hals. Der Krieger taumelte zur
Seite, brach mit einem grunzenden Laut zusammen und blieb
regungslos liegen, wohin er gefallen war.
Sebastian nahm in diesen Sekunden einen Geruch wahr, den
er bereits kannte. Es war der Duft des Öls, mit dem sich
Antarona schon einmal eingerieben hatte, um ihn zu
verführen. Nun fand diese Substanz offenbar eine andere
Anwendung. Sie machte die Haut aalglatt und die Kriegerin
für grobe Männerhände unangreifbar.
Aus der Bewegung heraus wirbelte das Krähenmädchen
herum. Sie ließ Thorbald und Arnhold keine Chance mehr.
Die beiden versuchten an eines der fortgeworfenen
Schwerter heran zu kommen, aber Antaronas Hiebe hagelten
in so rascher Folge auf sie ein, dass ihnen nichts
anderes übrig blieb, als nur noch schützend die Arme
über ihre Köpfe zu heben.
Antaronas Attacken trafen ihre Arme, ihre Rücken, und
zuletzt ihre Kniekehlen. Ohne zu einer weiteren Gegenwehr
fähig, knickten die beiden Männer nacheinander ein und
lagen schließlich hilflos neben ihrem gefallen
Kameraden. Demonstrativ hielt ihnen Antarona die Spitze
ihres Schwertes in den Nacken.
Das Blatt hatte sich überraschend gewendet. Drei
ausgewachsene, junge Männer waren von einem
kräftemäßig unterlegenen Mädchen besiegt worden!
Schwer atmend stand Antarona zwischen den stöhnenden
Gegnern, die sich noch vor einer Minute so siegreich
wähnten. Das Gras, mit dem sie sich getarnt hatte, und
das ihr ein grünes Äußeres verliehen hatte, war
teilweise von ihrem Körper abgefallen und gab ihre
Körperpartien preis, die wie lackierte Bronze in der
Sonne glänzten.
»Nun, ihr habt gesiegt, Sonnenherz«, ergriff Hetarus
das Wort, nachdem er sich gedanklich von dem
beeindruckenden Schauspiel erholt hatte, »doch verzeiht,
aber ohne diese Hinterlist mit dem glitschigen Saft
irgendwelcher Früchte wäret ihr verloren gewesen. Zudem
hätte euch der Streich in die Seite mit einem echten
Schwert kaum erlaubt, euch noch einmal zu erwehren, nicht
wahr?« Bevor Antarona selbst antworten konnte, mischte
sich Sebastian ein:
»Verzeiht ihr, Hetarus, aber die Verwundung wäre nicht
unbedingt tödlich gewesen«, verteidigte er Antarona.
»Und was jene Hinterlist angeht, mit welcher Sonnenherz
nicht mehr zu greifen war, so muss ich euch folgendes
sagen. Wenn ihr mir versichern könnt, Hetarus, dass
Torbuks Soldaten ohne jede Hinterlist kämpfen werden, so
will ich mich geschlagen geben, und diesen Kampf
zugunsten eurer Krieger entscheiden. Vermögt ihr das
nicht, so solltet ihr zugeben, dass eure Krieger
unterlegen waren.«
Sebastian beobachtete Hetarus genau und erkannte die
Unsicherheit, die in sein Gesicht geschrieben stand.
Freilich vermochte er nicht zu garantieren, dass der
Erzfeind Falméras fair kämpfen würde, sollte es zu
einer Schlacht kommen.
Mit einer inneren Ruhe und Sicherheit, die den neuen
Heerlagerführer in Erstaunen versetzte, schritt Antarona
plötzlich auf ihn zu und warf das Schwert achtlos
beiseite. Dicht vor ihm blieb sie stehen, nahm Öl und
Gras von ihrem Körper und wischte es dem verdutzten Mann
auf den Kriegsrock.
»Siegreich werden all jene sein, welche nicht nur mit
ihren Armen und Beinen zu kämpfen vermögen, sondern
jene, welche auch ihren Geist benutzen!« sprach sie mit
fester, herausfordernder Stimme.
Dann wandte sie sich seelenruhig um, ohne eine Antwort
abzuwarten, ging zurück in das hohe Gras jenseits des
Übungskreises, woher sie gekommen war und entzog sich
ihren Blicken von einer Sekunde zur anderen. Wie durch
Zauberei, aller Augenmerk lag nur für den Moment eines
Lidschlags auf Hetarus Gesicht, war Antarona wie vom
Erdboden verschwunden, als hätte es sie nie gegeben.
Das hohe Gras wogte leicht im Wind, monoton,
geheimnisvoll. Die üppige Steppe hatte das
Krähenmädchen scheinbar verschluckt. Sebastian
triumphierte in Gedanken und im Herzen. Seine Frau hatte
eine spektakuläre, visuell eindrückliche Demonstration
geliefert, die Hetarus und seinen Männern in Erinnerung
bleiben, und die Legende von Sonnenherz noch verstärken
würde.
»Seid ihr nun überzeugt, Hetarus, oder muss ich dem
König berichten, dass seine Heerlager nicht fähig sind,
etwas Neues zu lernen?« fragte Sebastian scheinheilig.
Er wählte bewusst diesen provokativen Wortlaut, der den
Heerlageführer einschüchtern sollte. Seine List schien
aufzugehen. Hetarus sah erst beschämt zu Boden, richtete
dann aber seinen Blick fest in Bastis Gesicht und sagte:
»Areos, Herr, was immer ihr als Führer aller Heerlager
für nötig erachtet, um Falméra und das Volk der Îval
zu schützen, Hetarus und seine Kohorten werden euch treu
folgen!«
Sebastian nickte zufrieden. Er sah eine Weile zu, wie
sich die von Antarona in die Schranken gewiesenen Krieger
wieder bemühten aufzustehen, und befahl:
»Nun, dann könnt ihr in eure Heerlager zurückkehren.
Ich denke ihr habt noch damit zu tun, einen geeigneten
Übungsplatz, größer, als dieser hier, zu bauen, nicht
wahr?« Er wartete eine Bestätigung Hetarus erst gar
nicht ab, sondern wandte sich an die drei Krieger, die
sich gegenseitig das lose Gras aus den Kleidern klopften.
»Thorbald und Arnhold, ihr beide bleibt noch. Urtas, ihr
hingegen dürft mit den anderen zum Heerlager
zurückkehren. Thorbald wird euch, sobald es an der Zeit
ist, lehren, was ihr wissen und können müsst!« Er
wartete, bis Urtas sich entfernt und mit den anderen den
Rückweg angetreten hatte. Dann wandte er sich Antaronas
neuen Schülern zu.
»Ihr könnt zum Bach gehen, und euch säubern. Seid in
ein par Zentaren wieder hier am Felsen zu eurer ersten
Lektion!« Die beiden nickten dankbar, und trotteten
durch das hohe Gras davon.
Der Gefangene hatte bis dahin scheinbar unbeteiligt am
Felsen gesessen. Basti wusste aber, dass er das geschehen
sehr aufmerksam verfolgt hatte. Seinen Plan, ihn mit
einer eindeutigen, warnenden Botschaft zu Torbuk zurück
zu schicken, war damit hinfällig.
Jeder Kontakt des Mannes nach Quaronas musste unter allen
Umständen verhindert werden. Natürlich war Sebastian
klar, dass der neue Kampfstil kaum auf ewig ein Geheimnis
bleiben würde, doch war es auch nicht nötig, Torbuk
davon aus erster Hand zu unterrichten.
Er musste ihn verhören, versuchen, so viele
Informationen, als möglich aus ihm herauszubringen, und
ihn dann durch Hetarus in die Himmelsburg überstellen
lassen. König Bental und der hohe Rat würden sicherlich
erstaunt sein, über den Wandel der Entwicklungen der
letzten Tage. Möglicherweise war damit der Beweis für
Sebastians Befürchtungen hinsichtlich Oranutu und
Quaronas bereits erbracht.
Das Schwert drohend vor sich, ging Basti zu dem
Gefangenen hinüber. Sah er ein kurzes Grinsen über
dessen Gesicht huschen? Der Spion tat inzwischen wieder
völlig unbeeindruckt. Vermutlich meinte er, ruhig auf
seine Befreiung warten zu können, da auf Antaronas
Drohungen am Vortag ohnehin keine Tat folgte.
»Wie ist euer Name?« fragte Sebastian, indem er sich
auf sein Schwert stützte und sich vor ihm hinhockte. Der
Mann sagte keinen Ton, grinste Sebastian nur frech an.
Basti wiederholte seine Frage mit etwas mehr Ungeduld in
der Stimme. Er bekam auch diesmal keine Antwort, nur eine
hämische Grimasse.
»Lasst das dämliche Grinsen«, warnte er ihn, »oder es
wird euch noch leid tun! Also noch mal: Wer seid ihr, und
was habt ihr in dieser Gegend verloren? Was wolltet ihr
bei dem Heerlager?« Sebastian wartete einen Moment,
bevor er fortfuhr:
»Guter Mann, ihr könnt euch selbst einen großen
Gefallen tun, und eine Menge Wohlwollen sammeln, indem
ihr euch erklärt. Bleibt ihr weiterhin so starrköpfig,
so kann ich euch einen wunderbaren, feuchten und dunklen
Platz im tiefsten Kerker der Himmelsburg versprechen, wo
ihr meinetwegen verrotten könnt. Also überlegt euch, ob
ihr nicht lieber den Mund aufmacht, bevor ich schlechte
Laune bekomme!«
»Macht euch nicht die Mühe, Ba - shtie, freiwillig wird
er keinen Ton von sich geben!« Antarona war hinter dem
Felsen aufgetaucht.
Sie hatte sich ihrer Grasmaskerade entledigt. Ihr
Lederschurz klebte nass an ihrer Haut und tropfte.
Vermutlich hatte sie am Bach ein Bad genommen. Ihr
Erscheinen schien bei dem Gefangenen, der am Vortag noch
vor ihr gezittert hatte, keine Furcht mehr auszulösen.
Ȇberlasst ihn Sonnenherz, und er wird singen, wie ein
Vogel in der Stunde der erwachenden Sonne!« schlug sie
mit eiskalter Miene vor. Sebastian sah kurz zu dem
Gefesselten, stellte fest, dass er völlig gleichgültig
tat, und nickte nachdenklich.
»Ja, ich glaube, das sollte ich tun«, stellte er
zögernd fest. »Aber ich will dabei sein. Vielleicht
sagt er ja doch noch etwas, bevor du ihn in das Reich der
Toten schickst!«
Während er sprach beobachtete er den Mann aus den
Augenwinkeln. Falls die Angst wieder in ihm aufkeimte, so
zeigte er es nicht. War sich dieser Kerl so sicher, von
seinen Leuten wieder befreit zu werden? Waren immer noch
welche von seinem Kommando am Leben und in der Nähe?
Kopfschüttelnd machte er zu Antarona eine einladende
Geste. Er hatte die Nase gestrichen voll davon, sich bei
dieser schwülen Hitze auch noch über einen
halsstarrigen Gefangenen aufzuregen.
»Mach mit ihm, was du willst, aber lass uns noch einen
Augenblick warten. Thorbald und Arnhold sind am Bach, sie
werden gleich zurückkommen. Die können gleich etwas
lernen!«
Sebastian war sich nicht ganz im Klaren darüber, was er
nun erwartete. Fest stand, dass er den Mann zum Reden
bringen musste, um Bental zu überzeugen, dass eine
Invasion Torbuks bevor stand, und dass zumindest einige
Oranuti- Fürsten als Wegbereiter dienten, vielleicht
sogar die Initiatoren waren.
Das Überleben der Îval als Volk hing davon ab, ob sie
den Spion zum Sprechen bringen würden, oder nicht. Dabei
fragte sich Basti, wie weit sie dabei gehen durften.
Rechtfertigte das Wohl eines Volkes, die Folter eines
Einzelnen, um an Informationen zu gelangen?
Vor einem Jahr hätte die Antwort für den Norddeutschen
Handwerker Sebastian Lauknitz festgestanden. Nun
verkörperte er Areos, den Thronfolger eines bedrohten
Landes, eines vor der Vernichtung stehenden Volkes. Er
war derselbe Mensch, derselbe Körper, derselbe Geist.
Doch die Säulen seiner Prinzipien wankten.
Wieder stand er vor der Frage, inwieweit eine Regierung
das Recht hatte, für das Wohl ihrer Gemeinschaft, für
die Sicherheit des Volkes, ein Verbrechen an der
Menschlichkeit zu begehen. Antarona kannte gewiss
Methoden, dem Mann die Zunge zu lockern.
Sebastian dachte dabei an die Elsirenjäger, denen sie
auf dem Weg vom Val Mentiér nach Falméra begegnet
waren. Er wusste, dass Antaronas Hass groß genug war,
keine Gnade walten zu lassen. Durfte er das in der Rolle
als des Königs Sohn zulassen? Konnte er es andererseits
verantworten, auf die für die Îval lebenswichtige
Information zu verzichten?
Er allein hatte es in der Hand. Eine einsame
Entscheidung. Basti erinnerte sich an Bentals Worte, als
er ihm erklärte, dass oft unpopuläre Entscheidungen zum
Wohl des Volkes nötig waren. Stand er nun selbst vor
einer solchen Entscheidung?
Antarona nahm sie ihm ab, als Thorbald und Arnhold vom
Bach zurückkamen. Sie zog ihren Dolch und ging
zielstrebig auf den Gefangenen zu. Diesem wich
augenblicklich das überlegene Grinsen aus seinem
Gesicht. Mit Entsetzen sah er den Dolch auf sich zukommen
und riss seinen Mund zu einem stummen Schrei auf.
Kaltschnäuzig setzte Antarona ihren Fuß auf seine
Schulter und stieß ihn mit der ganzen Kraft ihres
Körpers ins Gras. Blitzschnell beugte sie sich über ihn
und durchschnitt seine Fesseln. Verdutzt blickte der Mann
zu ihr hoch. Er hatte seinen Tod erwartet. Statt dessen
hatte ihn die Frau befreit, die noch am Vortag wie eine
Irre auf ihn losgegangen war.
Doch bevor er sich die frage stellen konnte, was das
Krähenmädchen vorhatte, war sie über ihm und hielt ihm
den Dolch an die Kehle.
»Hört zu, Nuk-trin von Quaronas. Ihr werdet jetzt
aufstehen, und langsam vor Sonnenherz und Areos her
gehen, dort hinüber zum Wald!« ordnete sie mit
gefährlich leiser Stimme an.
»Lasst euch einfallen zu fliehen, so werdet ihr
Sonnenherz Pfeile in eurem Rücken spüren, welche euch
in das Reich der Toten befördern!«
Damit schwang sie ihren Bogen von der Schulter und nahm
demonstrativ drei Pfeile in die Hand. Für den gefangenen
gab es keine Alternative. Er hatte von seinem Platz am
Felsen mit angesehen, wie Antarona drei kräftige Krieger
in ihre Grenzen gewiesen hatte. Anschließend wandte sie
sich an Arnhold und Thorbald.
»Ihr geht zu beiden Seiten voran, aber haltet Abstand!
Sonnenherz wird auf ihn schießen, auch wenn ihr
dazwischen steht!« kündigte sie kompromisslos an. Die
beiden sahen zu Sebastian, als brauchten sie von ihm eine
Bestätigung für Antaronas Anweisung.
Basti nickte nur zustimmend und machte mit der Hand eine
auffordernde Geste. Er ließ Antarona freie Hand.
Insgeheim hoffte er sogar, dass sich ihr konsequentes
Handeln, ihr wildes, unkonventionelles Handeln
herumsprach. Er glaubte, je furchteinflößender ihr Ruf
war, desto weniger würde versucht werden, sie
anzugreifen.
Die schwirrende Hitze lastete über dem Grasland, als
sich die kleine Gruppe in Bewegung setzte. In der
stehenden Luft fiel selbst das Atmen schwer. Der
Gefangene, mit auf den Rücken gefesselten Händen, ging
voran, in gebührendem Abstand flankiert von Thorbald und
Arnhold. Antarona und Sebastian folgten.
Bei jeder Gelegenheit, wenn der Gefesselte langsamer
wurde, oder fast unmerklich versuchte, die Richtung zu
ändern, traf ihn unsanft Antaronas nackter Fuß. Sie
sagte nichts und ermahnte ihn nicht. Aber blitzschnell
hieb sie ihm ihre Ferse in die Nierengegend, so dass er
wie von einer Spannfeder getrieben, vorwärts fiel und
zusammenklappte. Mühsam musste er sich jedes Mal wieder
hochrappeln.
Irgendwann gab er seine Versuche auf, das Krähenmädchen
zu provozieren. Vielleicht gelangte er auch zu der
Einsicht, dass Antarona ihn bereits zum Krüppel getreten
haben würde, wenn sich ihm endlich die Möglichkeit zur
Flucht bot.
Alle atmeten erleichtert auf, als sie schließlich in den
schattigen Wald eintraten. Das Blätterdach der Bäume
schützte sie vor der sengenden Sonne. Dafür vielen die
Mücken in Schwärmen über sie her.
Sogleich suchte Antarona nach einer bestimmten Pflanze,
die, zwischen den Fingern zerrieben, einen penetranten
Geruch nach Zitronengras verbreitete. Damit eingerieben,
ließen sich die kleinen, Blut saugenden Plagegeister
halbwegs auf Abstand halten. Der Gefangene bekam freilich
keinen Mückenschutz.
Einen einzelnen Pfeil in der Hand, mit dessen scharfer
Spitze sie ihn traktierte, dirigierte Antarona den Spion
durch das teilweise unwegsame Unterholz. Gleichzeitig
suchte sie den Boden ab. Offenbar hielt sie nach etwas
ganz Bestimmten Ausschau. Unverhofft hielt sie an einer
Stelle an, wo der Wald nicht anders aussah, als bisher.
Das Krähenmädchen trat hinter den Gefangenen und löste
ihm die Handfesseln. Verwundert wollte er sich zu ihr
umdrehen, da schlug sie ihm völlig unvorbereitet in
einer plötzlichen Bewegung ihren Bogen in die
Kniekehlen. Mit einem Stöhnen sank der Mann zu Boden.
»Fesselt ihn an den Baum«, befahl sie Thorbald und
Arnhold knapp. Die beiden griffen dem Überrumpelten
unter die Arme, setzten ihn an den Stamm des bezeichneten
Baumes und banden ihn mit den Armen nach hinten fest.
Antarona sah zu und wies die beiden an, die Lederriemen
noch kräftiger anzuziehen, so dass der Gebundene vor
Schmerz das Gesicht verzerrte.
Doch dabei ließ sie es nicht bewenden. Sie spreizte ihm
die Beine und pflockte seine Füße am Waldboden fest.
Sebastian schüttelte zweifelnd den Kopf und fragte sich,
wozu dieser Aufwand nötig war. Wenn der Mann nicht
antworten wollte, so tat er es eben nicht. Ihn auf diese
weise zu fixieren, änderte wohl kaum etwas daran. Aber
er irrte sich.
»Fragt ihn noch einmal, was ihr wissen wollt, Ba -
shtie«, sagte Antarona mit gleichmütiger Ruhe, »er
wird euch nun antworten.« Skeptisch sah Basti seine Frau
an. Sie bemerkte seinen zweifelnden Blick und fügte
hinzu:
»Er wird euch anflehen, sprechen zu dürfen, wenn ihn
der Tod von Mutter Erde ereilt«, verkündete sie
geheimnisvoll. »Versucht es nur, ihr werdet es sehen!«
Sebastian zuckte widerstandslos mit den Schultern. Er sah
keinen Sinn mehr darin, sich mit dem verstockten Kerl
abzugeben, aus dem offensichtlich kein vernünftiges Wort
herauszubringen war. Lustlos fragte er den Mann noch
einmal nach seinem Namen und nach dem Grund seines
Herumschnüffelns in den Heerlagern.
Der Gefangene hatte seine Fassung zurückgewonnen und
wähnte sich im kühlen Schatten an den Baum gefesselt
sicherer, als am Felsen in der glühenden Sonne. Er
grinste Sebastian frech an und sagte:
»Ihr mögt mich töten, aber ihr werdet keines der Worte
aus meinem Munde hören, welches ihr euch erhofft!«
Antarona ging vor ihm in die Hocke und sah ihm tief und
durchdringend in die Augen.
»So, meint ihr?« fragte sie hinterhältig. Dann erhob
sie sich in aller Seelenruhe, und holte eine kleine
Kürbisflasche aus ihrem Bündel. Wortlos zog sie den
Stöpsel heraus und ließ eine transparente,
dickflüssige Substanz auf seinen Kopf tropfen. Ein
süßlicher Duft verbreitete sich in der warmen Luft.
Ihre Hand mit der Flasche wanderte langsam an seinem
Körper herab, zwischen seine Beine, wo sie eine Zeit
lang verhielt, bis sich dort eine größere Menge des
klebrigen Zeug verteilt hatte. Zuletzt ging sie langsam
in das Dickicht hinein, und ließ auf dem Weg Tropfen
für Tropfen auf den Boden fallen. Die Zweige teilten
sich, schlossen sich wieder, und es schien, als hätten
sie das Krähenmädchen verschluckt.
Einen Moment später tauchte sie wieder auf. Sie steckte
den ausgehöhlten Kürbis zurück in ihr Bündel zurück,
nahm Pfeil und Bogen zur Hand und zielte damit scheinbar
wahllos in die Büsche. Mit einem zischenden Laut fuhr
der Pfeil durch das Blätterwerk der Büsche und war
verschwunden.
Ohne sich weiter darum zu kümmern, hängte Antarona den
Bogen an einen Ast, holte aus ihrem Bündel ein Stück
Trockenfleisch hervor, und begann wie gelangweilt darauf
herum zu kauen. Sebastian holte tief Luft und hob seine
Handflächen, zum Zeichen, dass er mit ihrem Verhalten
rein gar nichts anfangen konnte.
Thorbald und Arnhold hatten sich etwas abseits auf einen
umgestürzten Baumstamm gesetzt, und tuschelten
miteinander. Fast hatte Basti das Gefühl, als Zuschauer
einer geheimnisvollen Verschwörung beizuwohnen. Eben
wollte er Antarona fragen, was diese Spielchen bei diesem
schweißtreibenden Wetter sollten, als sie ihn eher
gelangweilt fragte:
»Was glaubt ihr, Ba - shtie, wer wird zuerst kommen, die
Gal-ná-ròs, oder die Tre-mor-fas?« Sebastian zog,
plötzlich aufmerksam geworden, fragend die Augenbrauen
hoch. Dem Gefangenen jedoch wich sämtliche Farbe aus dem
Gesicht.
Tre-mor-fas waren eine Ameisenart, die sich von allem
ernährte. Sie fraßen Früchte und Blätter ebenso wie
Fleisch. Sebastian hatte einmal in Falméra gehört, dass
einem Bauern ein gesundes Kalb von Tri-mor-fas in einer
nacht bis auf das Skelett abgenagt wurde. Diese Tiere
griffen kein Lebewesen an, das größer als ein Hund war.
Doch wenn sich ihr Lebendfutter nicht wehren konnte...
Die Gal-ná-ròs, eine Art aggressiver Wespen, brauchten
keinen besonderen Grund, außer jenem, gestört zu
werden, um ein Wesen, das um ein vieles größer war, als
sie selbst, anzugreifen und zu töten. Wohin Antaronas
Pfeil geflogen war, wusste Sebastian nicht. Doch was
immer der auch gereizt haben mag, es würde nicht allzu
lange auf sich warten lassen, und der verführerischen
Spur folgen, die das Krähenmädchen mit der
dickflüssigen Substanz gelegt hatte.
Das war inzwischen wohl auch ihrem Spion klar geworden.
Er schien sich mit einem Mal extrem unwohl in seiner Haut
zu fühlen, wand sich, soweit es die Fesseln zuließen,
hin und her, und sah sich mit vor Angst weit
aufgerissenen Augen hektisch um.
Basti erkannte die Möglichkeit, die seine panische Angst
ihnen bot, doch noch etwas über seinen Auftrag zu
erfahren. Und er hatte keine Skrupel, die Situation
auszunutzen. Er hockte sich vor den Mann hin, wie zuvor
Antarona, und sah ihm bedeutungsvoll in die Augen.
»Nun hört mal gut zu«, begann er heuchlerisch, fast
freundschaftlich anmutend, »ich weiß nicht, welches
Viehzeug Antaronas Pfeil geärgert hat. Aber eines weiß
ich. Dass es wohl nicht lange dauern wird, bis sich die
kleinen Krabbler einstellen, um nachzusehen, wer sie
gestört hat, und woher der süße Sirup kommt.«
Genüsslich nahm Sebastian etwas von der klebrigen
Flüssigkeit mit dem Finger auf, und kostete, bevor er
verschwörerisch fortfuhr:
»Was meint ihr, regt das Zeug ihren Appetit auf frisches
Fleisch an, oder nicht? Eine interessante Frage, nicht
wahr? Aber noch interessanter ist vielleicht, ob sie
darüber verärgert sind, dass sich so ein großes Wesen,
wie ihr es seid, erdreistet, ihnen das süße Zeug
streitig zu machen. Was glaubt ihr, was passieren wird,
na?«
Fragend sah er den Gefangenen mit einem viel zu
freundlichen Lächeln an. Dann zuckte er gleichgültig
mit den Achseln, als ginge es ihn das alles gar nichts
an.
»Ihr könnt natürlich auch kundtun, dass ihr uns etwas
erzählen wollt, das unsere Neugier befriedigt. In diesem
Fall könnten wir euch natürlich die Fesseln abnehmen,
damit die Tre-mor-fas nicht unsere Unterhaltung stören.
Und ehrlich gesagt, solch riesige Viecher, wie hier, habe
ich noch nie zuvor gesehen...«
Noch bevor er den Satz ganz zuende gesprochen hatte, spie
der Gebundene hasserfüllt und angewidert vor Sebastians
Füße.
»Nichts erfahrt ihr von mir, gar nichts!« herrschte er
ihn an. »Kann man nicht mal in Ruhe im Wald nach Pilzen
suchen, ohne von den räudigen Hunden eines
unrechtmäßigen Königs entführt zu werden! Sitten sind
das... Mit speichelleckenden Kriechern eines unfähigen,
greisen Möchtegernkönigs rede ich erst gar nicht!«
»Nun, das steht euch frei«, antwortete Sebastian
scheinbar gelassen. »Wenn ihr in Ruhe gelassen werden
wollt, so kann ich euch diesen Wunsch gern erfüllen!«
Zu Antarona gewand sagte er:
»Ich denke, von dem können wir nichts mehr erwarten.
Lassen wir ihn hier, der belastet uns nur. Mir steht
jetzt eher der Sinn nach frischem, kalten Wasser. Lass
uns zum Bach gehen, und dort die Hitze der wandernden
Sonne abwarten!«
Damit sammelte er seine Waffen auf, und auch Thorbald und
Arnhold nahmen ihre Ausrüstung auf und machten sich
bereit zu gehen. Antarona trat noch einmal vor den
Gefangenen, der wohl annahm, sie würde ihn zum Abschied
von den fesselnden Riemen befreien. Doch sie sah ihn nur
mitleidig an und sprach:
»Ihr seid so töricht, Mann von Quaronas! Der König,
welchen ihr so verachtet, hätte euch gut leben lassen,
wenn ihr euch ihm zugetan hättet. Nun wird sich das
Gewürm von Mutter Erde um euch kümmern. Sonnenherz
hört sie bereits kommen, die kleinen Geister des Waldes,
welche das vertilgen, was das Land beschmutzt!«
Ohne ihn weiter zu beachten, wandte sie sich ab, folgte
Sebastian und den Kriegern, verschwand im Gewirr der
dicht stehenden Bäume. Zurück blieb ein starrsinniger
Gefolgsmann Torbuks, dem noch nicht ganz klar geworden
war, dass er offenbar sein eigenes Todesurteil besiegelt
hatte.
Antarona, Sebastian und die beiden Krieger entfernten
sich gerade mal außer Sichtweite des Zurückgelassenen.
Hinter dichtem Buschwerk ließen sie ihre Bündel fallen
und warteten lauschend.
Nach ein par Minuten schob sich Antarona kriechend von
der Seite her durch das Dickicht, bis sie den Gefangenen
sehen konnte. Sebastian folgte ihr, legte sich neben sie
und beide beobachteten sie seinen Versuch, sich aus den
Fesseln herauszuwinden, was ihm nicht gelang.
Er versuchte die Füße zu drehen, um zumindest die
Fußfesseln zu lockern, doch Antarona hatte sie so
festgezogen, dass sie ihm nur ins Fleisch schneiden
mussten. Ein par Atemzüge später gab er es auf.
Offenbar lauschte er und hoffte, dass sich nicht
vielleicht doch noch einer seiner Mordgesellen in der
Nähe herumtrieb.
Plötzlich aber erstarrte er. Sogar auf diese Entfernung
war zu erkennen, wie die Farbe aus seinem Gesicht wich.
Kurz darauf begann er wie wild an seinen Fesseln
herumzureißen, wand und drehte sich wie ein Irrer im
Fieberwahn, soweit es seine eingeschränkte
Bewegungsfreiheit zuließ.
Der Grund dafür trieb sogar Basti einen Schauer des
Schreckens über den Rücken. Ein schwarzes Insekt, etwa
so groß wie eine Kinderfaust, und mit dem Aussehen einer
Ameise, krabbelte über den Waldboden, huschte auf jener
Spur entlang, die Antarona mit dem unbekannten Sirup
gelegt hatte.
»Tre-mor-fas, sie kommen!« flüsterte das
Krähenmädchen leise in Bastis Ohr, und er musste
überrascht zugeben, mit seiner Drohung vor dem
Gefangenen, was die Größe dieser Biester anging, nicht
übertrieben zu haben.
Es war nur ein einzelnes Tier, doch es jagte dem
Gefesselten eine panische Angst ein. Er versuchte an den
Lederriemen zu reißen und sie zu lockern, doch das
Material gab nicht nach. Inzwischen kam das Insekt immer
näher und der Gefangene erstarrte.
Womöglich glaubte er, dass es nicht auf ihn aufmerksam
werden würde, wenn er sich still verhielt. Doch Antarona
hatte mit ihrem wohlduftenden Saft dafür gesorgt, ihn
für Tre-mor-fas interessant zu machen. Als das Tier den
Mann erreicht hatte, tauchten am Rande des Gebüschs ein
zweites und ein drittes auf.
Wie Espenlaub begann der Gefangene zu zittern, bemühte
sich aber krampfhaft, keine Bewegung zu machen. Fast sah
es so aus, als versuchte er sogar den Atem anzuhalten.
Währenddessen hatte sich eine kleine Gruppe von
Tre-mor-fas gebildet, die zwischen dem Gebüsch und der
Sirupspur geschäftig hin und her eilten. Welch große
Beute da wehrlos in einiger Entfernung auf sie wartete,
hatten sie offensichtlich noch nicht erkannt.
Indes ließ das einzelne Insekt von Torbuks Mann ab und
widmete sein Interesse scheinbar wieder dem Waldboden.
Man konnte es bis zu Antaronas und Bastis Versteck
hören, wie der Gepeinigte hörbar erleichtert ausatmete.
Das blanke Entsetzen packte ihn aber erneut, als er sah,
dass nun eine ganze Reihe der gefräßigen Tiere auf ihn
zu krabbelten. Ohne zu zögern, oder sich orientieren zu
müssen, folgten sie zielstrebig der süßen Spur und
erreichten nur Sekunden später ihr vermeintliches Opfer.
Emsig sammelten sie den von Antarona vergossenen Sirup
vom Schoß des Gefesselten, und trugen ihn zurück ins
Gebüsch. Jedoch erschienen immer mehr dieser
unangenehmen Krabbeltiere, um sich der dargebotenen
Süßigkeit zu bedienen.
Je mehr Tre-mor-fas aber auf dem Waldboden auftauchten,
desto wilder und panischer zerrte der Gefangene an seinen
Fesseln. Je heftiger er sich aber bewegte, desto mehr
dieser großen Ameisen kamen aus dem Unterholz hervor.
Nach kurzer Zeit wimmelte der Waldboden von den Tieren,
die mittlerweile wie auf einer Straße zur Quelle ihrer
Nahrung unterwegs waren.
Als die ersten Tiere in des Gefangenen Hosenbeinen
verschwanden, verlor dieser völlig die Beherrschung. Er
strampelte und versuchte sich zu drehen, konnte sich aber
dennoch kaum einen Zentimeter bewegen.
Die Tre-mor-fas aber fühlten sich nun bedroht, und
begannen zu zwicken, zu beißen, und ein Sekret
auszuscheiden, das wie glühende Kohle auf der Haut
brannte. Der Mann brüllte und schrie wie am Spieß, man
möge ihm doch zu Hilfe eilen.
Schon wollte Sebastian hinübergehen, und ihn aus seiner
misslichen Lage befreien, doch Antarona hielt ihn
zurück.
»Lasst ihn noch ein wenig Schmerzen kosten, Ba - shtie,
er muss begreifen, dass er ohne das Wohlwollen von
Glanzauge und Sonnenherz verloren ist!« Sie lag still in
der Deckung der Sträucher, auf dem Bauch, die Füße
entspannt verschränkt, das Kinn auf ihre übereinander
gefalteten Hände gelegt, und beobachtete ungeniert.
Inzwischen tummelten sich die Insekten auf dem ganzen
Körper des feindlichen Reiters. Sie krochen unter sein
Hemd, verschwanden in seiner Hose, und versuchten in
seine Mundhöhle zu gelangen. In nackter Angst presste er
die Lippen aufeinander, was aber zur Folge hatte, dass er
nicht mehr lauthals um Hilfe rufen konnte. Einige
Tre-mor-fas versuchten seine Augen anzugreifen, indem sie
ihm mit den kräftigen Zangen in die Lider zwickten und
ihre brennende Flüssigkeit verspritzten.
Die Biester fingen nun an, ihn bei lebendigem Leib
aufzufressen, bissen kleine Stücken Fleisch aus seinen
ungeschützten Waden und Armen. Aber erst, als sie
begannen, auch sein Gesicht zu malträtieren, und er nur
noch ein hilfloses Wimmern von sich gab, meinte Antarona
ungerührt:
»Wenn ihr wollt, könnt ihr ihn ja jetzt los machen!«
Sie selbst blieb mit einer Kaltschnäuzigkeit im Gebüsch
liegen, die ihren ganzen inbrünstigen Hass auf Torbuk
und Quaronas beschrieb.
Sebastian wollte aufspringen und dem Gefangenen zu Hilfe
eilen, doch das Krähenmädchen hielt ihm ein Büschel
Kräuter hin.
»Hier, Ba - shtie, reibt damit eure Beine und Arme ein,
sonst fallen die Geister der Erde auch über euch her!«
Schnell tat Basti, wie ihm geheißen, und rieb mit dem
nach Zitronengras riechenden Kraut seine Haut ein. Er zog
sein Messer, schritt auf den Gefesselten zu und schnitt
ihm die Lederbänder durch.
Sofort sprang er in die Höhe, nahm das Kraut, das Basti
ihm entgegen hielt, und wischte sich in Panik die
Quälgeister vom Körper, die sich an ihm festgebissen
hatten. Dabei vollführte er einen wilden Tanz, der an
den Elsiren- Feuern sicher für eine neue Revolution
gesorgt hätte.
Die Tre-mor-fas, ihres Leckerbissens beraubt, krabbelten
in einem heillosen Durcheinander herum, als suchten sie
ihr Opfer, da sie sonst verhungern müssten. Torbuks
Spion hatte sich kaum beruhigt, da war auch schon
Antarona zur Stelle, und band ihm mit flinken Händen
wieder die Arme zusammen. Dann stieß sie ihn mit ihrer
ganzen Verachtung zu Boden.
»Dies lasst euch sagen! Ihr verdankt es Areos von
Falméra, dass ihr noch lebt. Hätte Sonnenherz zu
entscheiden gehabt, so wären eure Gebeine von den
Tre-mor-fas abgenagt worden und die Reste in der Sonne
ausgebleicht liegen geblieben. Wagt es, Areos nur eine
falsche Antwort zu geben, so wird euch dieses Schicksal
dennoch ereilen, dies verspricht euch Sonnenherz!«
Antarona wartete, bis Sebastian bereit war, den
Gefangenen zu verhören. Dann zog sie sich in den
Hintergrund zurück, wartend, mit prüfendem Blick,
jederzeit bereit, dem Delinquenten einen Pfeil in den
Leib zu jagen, sollte dieser sich ungebührlich benehmen.
Dem Gefangenen indes entging nicht die lauernde Haltung,
mit dem ihn das Krähenmädchen beobachtete.
»Ich stelle euch die Fragen nur einmal«, begann
Sebastian freundlich, während er zusah, wie der Mann
seinen von kleinen Wunden übersäten Körper
betrachtete.
Ȇberlegt euch also sehr gut, wie ihr antwortet. Noch
einmal werde ich Sonnenherz nicht davon abhalten, euch
langsam von den Tre-mor-fas auffressen zu lassen, merkt
euch das!« Basti nickte, um seine Worte zu
unterstreichen, und fuhr dann fort:
»Also antwortet auf meine Fragen, und ich kann euch
versichern, dass ihr euren Kopf behalten werdet. Zuerst
möchte ich euren Namen wissen, und was ihr dort oben bei
den Heerlagern zu suchen hattet. Und erzählt mir nicht,
dass ihr nur Pilze gesucht habt, das glaubt euch niemand
mehr!«
Der Gefangene zögerte, als befürchtete er, von einer
unsichtbaren Macht niedergestreckt zu werden, wenn er
Areos seine Identität Preis gab. Schließlich sah er
wohl ein, dass es zwecklos war, zu schweigen, wenn er an
Leib und Leben unversehrt bleiben wollte.
»Wenn ihr mir garantiert, dass ich ein trockenes, gut
belüftetes Verlies bekomme, genug zu Essen und zu
Trinken und dass ich einmal am Tag ins Freie darf, so
will ich euch sagen, was ihr zu wissen wünscht«
antwortete der Mann, gemessen an seiner Situation mit
einiger Kühnheit.
Sebastian sah ihn etwas verwundert an, blickte kurz zu
Antarona hinüber, die ein eindeutiges Zeichen machte,
wie man mit Verrätern verfahren sollte, und sagte nicht
ganz ohne Belustigung:
»Nun, ich glaube nicht, dass ihr euch in der Lage
befindet, Forderungen zu stellen. Ich bin nicht der
König und kann euch folglich nichts versprechen. Doch
sollt ihr sehen, dass Areos von Falméra kein Mann ist,
der sein Wort bricht, wie jener, den ihr als König von
Quaronas anseht. Wenn ihr die Wahrheit sprecht, und diese
auch vor dem Rat von Falméra bezeugen wollt, so werde
ich mich für euch verwenden und es soll euer Schaden
nicht sein!«
Der Gefangene sah mit zusammengekniffenen Lippen zu
Boden, als überlegte er, welch frevelhaften Verrat er
gegenüber seinem Herrn beging. Dann sah er sich kurz um,
fixierte jene Stelle, an der er eben noch angebunden war,
und stellte fest, dass die Tre-mor-fas noch immer ziellos
umher liefen, und ihr geraubtes Opfer suchten. Die
Aussicht, noch einmal mit ihnen Bekanntschaft zu machen,
ließ ihn endlich gesprächig werden.
»Wir waren zwölf, und sind mit einem Wasserwagen der
Oranutis nach Falméra gekommen«, gestand der Mann.
Sebastian gebot ihm, sich zu setzten und winkte Antarona
heran. Die beiden Krieger wies er an, die Umgebung zu
sichern, denn er konnte sich ausrechnen, dass sich noch
zwei, oder drei dieser Spione auf Falméra herumtrieben.
»Wie ist euer Name, und was tut ihr, wenn ihr nicht um
fremde Heerlager herumschleicht, oder Frauen
überfallt?« wollte Sebastian wissen. Der Spion riss die
Augen auf und sagte schnell:
»Damit habe ich nichts zu tun, Herr. Das waren andere,
die ich nicht kenne. So etwas würde ich niemals...
»Natürlich nicht«, unterbrach ihn Sebastians Sarkasmus
verächtlich, »aber ihr wusstet davon, nicht wahr? Dann
erzählt mir doch mal, welche Aufgabe euch zugedacht
war.«
»Ich sollte herausfinden, welcher Art die Heerlager
sind, und wie stark die Einheiten sind. Aber mit der
Entführung von Sonnenherz, der Kriegerin aus dem Val
Mentiér, habe ich nichts zu tun!« wiederholte er
ängstlich. Sebastian nickte nur nachdenklich.
»Entführung, ja? Das hatte ich mir fast gedacht. Nun,
wie ihr seht, waren eure Gesellen ebenso erfolglos, wie
ihr. Wer seid ihr, dass ihr glaubt, mit fünf Mann jene
Kriegerin entführen zu können, welche im Kampf getrost
zehn von euch aufwiegt? Wie ist euer Name?« bohrte Basti
nach. Der Mann hob kurz die Schultern, als hätte er in
diesem Augenblick mit Torbuk abgeschlossen und sagte:
»Ich bin Harlund von Gorenstein, Herr, aus der zehnten
Kohorte der Reiterei von Karek, dem Sohn des Torbuk von
Quaronas. Ich wurde für diese Aufgabe auserwählt, weil
ich mich unbemerkt anschleichen kann.«
Sebastian setzte ein teils belustigtes, teils mitleidiges
Lächeln auf. Er blickte kurz zu Antarona hinüber, die
scheinbar teilnahmslos da saß und wandte sich wieder
Harlund zu.
»Nun, wie ihr seht, hat eure Gabe für das Heerlager des
Areos, Sohne des Bental von Falméra nicht ganz gereicht.
Meine Leute haben euch dennoch aufgespürt!«
»Aber nur, weil sich einer an jenem Strauch erleichtern
wollte, in welchem ich mich verbarg!« entgegnete der
Spion fast beleidigt.
»Wie auch immer«, fuhr Sebastian fort, »Sonnenherz
sollte also entführt werden, ja? Dann verratet mir doch
mal, welches Interesse hat ein so großer Heerführer wie
Torbuk an einer kleinen, schmächtigen Kriegerin, die
nicht einmal eine Armee hinter sich weiß. Warum ist
Sonnenherz so wichtig für ihn, könnt ihr mir das
sagen?«
Sebastian wollte herausbekommen, wie viel Torbuk
möglicherweise von Antaronas wahrer Herkunft wusste,
oder ahnte. Doch er glaubte nicht, dass ihm Harlund in
dieser Sache die Wahrheit sagen würde. Doch der, von den
Tre-mor-fas offenbar mehr eingeschüchtert, als
angenommen, überraschte mit seiner klaren Antwort:
»Herr, Karek und Torbuk glauben, dass das Volk des Val
Mentiér schneller zu unterwerfen ist, wenn jene nicht
mehr unter ihm ist, welche zum Widerstand aufruft, und
welcher die Menschen des Val Mentiér folgen. Torbuk
wollte Sonnenherz lebend auf dem Marktplatz von Quaronas
an den Pranger stellen. Das hätte den Widerstandswillen
des Tals endgültig gebrochen, und selbst die noch
hadernden gefügig gemacht. Torbuk hätte dadurch viele
Zentaren eingespart.«
Antarona hatte sich bei der Beichte Harlunds immer mehr
gestreckt und Basti befürchtete schon, sie könnte dem
Gefangenen an die Kehle springen, und ihm das Lebenslicht
auspusten, bevor er ihm alle Antworten auf seine Fragen
entlockt hatte. Aber das Krähenmädchen besann sich,
blieb ruhig, und vertraute auf die Verhörkunst ihres
Mannes.
»Nun, ich denke ich weiß, weshalb Torbuk die Zentaren
davon galoppieren, doch sagt ihr es mir, aber lügt mich
nicht an!« ermahnte Basti den Mann.
»Überlegt euch gut, was ihr mir erzählen wollt!
Bedenket wohl, dass ich bereits einen zuverlässigen Mann
ausgesandt habe, der Torbuks Absichten auskundschaften
soll. Kommt er mit einer anderen Nachricht zu mir, als
ihr mir glauben machen wollt, so werden die Tre-mor-fas
doch noch zu ihrem Mahl kommen, dessen seid gewiss!«
Unmerklich schielte Harlund aus den Augenwinkeln zu den
Insekten hinüber, die sich allmählich wieder
beruhigten, aber immer noch zu Tausenden den Waldboden
absuchten.
»Niemand von uns weiß etwas genaues, aber in den
Spelunken und Kaschemmen, in denen Krieger und Reiter
verkehren, wird in heimlichen Winkeln erzählt, dass
Torbuk mit den Oranuti einen Angriff auf Falméra plant.
Er kann es nicht riskieren, dass ihm unbekannte Kräfte
aus dem Val Mentiér dabei in den Rücken fallen. Deshalb
braucht er für das Val Mentiér eine schnelle, klare
Entscheidung.«
Zustimmend nickte Sebastian. Er glaubte, was Harlund
offenbarte, denn es deckte sich mit seinen eigenen
Überlegungen hinsichtlich einer Invasion Torbuks Truppen
mit der Hilfe von Oranuti- Schiffen.
Anscheinend bewertete Torbuk die Gefahr, welche von den
Dörfern des Val Mentiér ausging, unverhältnismäßig
zu hoch. Das mochte nicht zuletzt Antaronas und Arraks
Verdienst sein, die mit ihren Attacken kontinuierlich
Stoßtrupps und Aufklärungstrupps Torbuks dezimiert
hatten.
Doch gerade dieses Fehlurteil Torbuks konnte für
Falméra die entscheidende Frist bedeuten, die Bental
benötigte, um sich auf eine Invasion genügend
vorzubereiten. Dabei mochte jedes Detail, das Sebastian
von Harlund als Information bekommen konnte, von
entscheidender Wichtigkeit sein.
Eines jedoch stand bereits fest. Antarona nahm in der
Planung Torbuks eine nicht unerhebliche Schlüsselrolle
ein. Ihr Tod, oder ihre Gefangennahme waren für ihn so
wichtig, wie die vollständige Unterwerfung des Val
Mentiér.
Torbuk schien zu glauben, dass er den Widerstand der
Täler nicht brechen konnte, bevor er das
Krähenmädchen, und somit die einzige Hoffnung der
Dörfer im Val Mentiér, beseitigt hatte. Dabei wusste er
offenbar nicht, wer Sonnenherz, Antarona Holzer wirklich
war. Hätte er es gewusst, so hätte die Ergreifung des
Krähenmädchens für ihn eine noch höhere Priorität
gehabt.
Insgeheim spekulierte Basti, wie Torbuks sich verhalten
würde, wüsste er, dass Antarona das Geheimnis der
legendären Hallen von Talris kannte, und deren selbst
ernannte Hüterin war. Die hassträchtige Energie, mit
der er dann ihre lebende Ergreifung betrieben hätte,
wäre wohl noch um ein Vielfaches größer gewesen.
»Eure Kriegsgefährten sollten also Sonnenherz
entführen«, rekapitulierte Sebastian kurz, und sah den
Gefangenen durchdringend an.
»Entführen und nach Quaronas bringen, oder sie töten
und Torbuk ihren Kopf bringen«, bestätigte Harlund
kopfnickend. Dabei wagte er nicht, Antarona anzusehen. Er
rechnete wahrscheinlich damit, dass sie aufsprang und ihm
einfach und kompromisslos die Kehle durchschnitt.
»In Quaronas geht das Gerücht um, Torbuk hat auf
Sonnenherz Kopf ist eine hohe Belohnung versprochen«,
fügte Harlund kleinlaut hinzu. »Dann wurde bekannt,
dass sich Sonnenherz in Falméra aufhält, und viele
glaubten, sie ohne den Schutz ihrer Wälder, in denen sie
sich bisher gut verstecken konnte, leicht töten zu
können, um dann in der Gunst Torbuks zu stehen.«
Diese Informationen erstaunten Sebastian wenig. Im
Gegenteil, erklärten sie doch die heimtückischen
Attentate auf seine Frau. Noch bevor Torbuk sein Kommando
losgeschickt hatte, fanden sich offenbar selbst in des
Königs Umgebung genug Verräter, die sich ein
vielversprechendes Kopfgeld verdienen wollten.
Antarona war also fast überall auf Falméra in Gefahr.
Lediglich in den Wäldern, wie Harlund richtig erwähnte,
war sie halbwegs sicher. Das Argument, so schnell wie
möglich eine Reise nach Mehi-o-ratea zu starten gewann
immer mehr an Dringlichkeit.
Unter den vielen jungen Leuten dort, die sich alle mehr
oder weniger großer Freizügigkeit erfreuten, mochte sie
nicht so schnell als Sonnenherz erkannt werden. Jedwede
Gedanken drehten sich dort allein um Liebe und die
Elsirentänze. Tagsüber wurde geschlafen, oder im
Schatten der Sümpfe geruht, während das Leben erst in
den Nächten an den Tanzfeuern erwachte.
Sebastian erkannte, wie lebenswichtig es war, Antarona
aus den Zwängen der Burg herauszubringen, wo ihr
besonderer Status für jeden augenfällig wurde.
Sonnenherz musste in den Wäldern Falméras untertauchen,
und erst am Strand von Mehi-o-ratea wieder als
gewöhnliches Bauernmädchen in Erscheinung treten!
»Was wisst ihr über die Wasserwagen, die Torbuk
jenseits Zarollon, weit im Land der schlafenden Sonne
mithilfe der Oranuti bauen lässt?« konfrontierte Basti
den gefangenen Spion ohne Vorwarnung mit dem, was nur
seiner eigenen Ahnung entsprach. Harlund zuckte mit den
Schultern und antwortete ergeben:
»Nicht viel, Herr. Nur so viel, als dass man sich in
Quaronas hinter vorgehaltener Hand erzählt, dass Torbuk
seinen großen Angriff auf Falméra beginnen wird, wenn
er eine so große Anzahl Wasserwagen von den Oranuti
erhalten hat, dass er mit einer ganzen Armee auf einen
Schlag übersetzen kann.«
»Ja, das ist mir auch klar«, dachte Basti laut, »doch
wann wird er diese Wasserwagen von den Oranuti bekommen,
und warum lässt er sie so weit in der schlafenden Sonne
herrichten?« fragte Sebastian bohrend.
Harlund wusste dazu keine Einzelheiten zu sagen, doch
Sebastian genügte sein weniges Wissen, das die eigene
Theorie bestätigte:
»Bereits seit zwei Wintern bringen die Wasserwagen der
Oranuti leichtes und schnell wachsendes Bauholz weit
hinauf in die Wälder der schlafenden Sonne, Herr. Es ist
ein Holz, das sich nicht zum Stützen der Löcher eignet,
welche Torbuk in die Berge schlagen lässt, um die
Tränen der Götter zu ernten. Es ist leicht, und
schwimmt gut«, berichtete der Gefangene.
»Und wann wird Torbuk Falméra angreifen?« wollte Basti
wissen. »Wann wird er so viele Wasserwagen fertig haben,
dass er eine Invasion wagen kann? Wie will er vor allem
die vielen, vor Quaronas zusammengezogenen Heerlager an
die Küste bringen und verladen? Das Gelände ist zum
großen Teil sumpfig«, überlegte er so laut, dass
Harlund seinen Gedanken folgen konnte.
Torbuks Spion zog verwundert die Augenbrauen hoch.
Vermutlich war er überrascht, dass Areos von den
Heerlagern vor Quaronas wusste. Wohl auch deshalb gab er
bereitwillig Antwort:
»Diese Heerlager werden Falméra nicht angreifen,
Herr«, verkündete er mit ziemlicher Sicherheit.
»Torbuk hält sie bereit, um das Val Mentiér, und zwei
weitere Täler unter dem ewigen Eis zu besetzen. Er will
die Täler in seinem Rücken in seiner Hand wissen. Er
kann von dort keine verdeckten Angriffe gebrauchen, wenn
er sich auf Falméra konzentrieren muss«, gestand
Harlund.
Sebastian zeigte sein Erstaunen nicht. Er hatte nicht
damit gerechnet, dass Torbuk Antaronas Heimattäler mit
einer so großen Streitmacht angreifen wollte. Offenbar
wollte er mit den Guerillakämpfern des Val Mentiér ein
für allemal aufräumen. Danach konnte er die Truppen
abziehen und in den Angriff auf Falméra eingliedern.
»Wie viele Heerlager hat Torbuk noch zur Verfügung, und
wo stehen diese Truppen?« fragte Basti nun ganz gezielt.
»Und Harlund, befleißigt euch, die Wahrheit zu sagen,
denn ich lasse eure Aussagen durch meine Spione
überprüfen!« Der Gefangene sah ihn skeptisch an. Doch
er war nicht so mutig, zu testen, ob Areos seine Drohung,
ihn in einem dunklen Loch verrotten zu lassen, wahr
machen würde.
»Die meisten Truppen, drei mal so viele, wie vor
Quaronas, stehen in den Tälern jener Berge, aus denen
Torbuk die Tränen der Götter herausholen lässt«,
verriet Harlund, »sie können in einem Tagesmarsch die
Küste bei Zarollon erreichen und in den felsigen Buchten
verladen werden. So können die fertigen Wasserwagen die
Strömung ausnutzen, und müssen nicht gegen den großen
Strom fahren.« Sebastian nickte nachdenklich.
Torbuk hatte also mehr als doppelt so viele Truppen zur
Verfügung, wie er geglaubt hatte. Dabei waren Einheiten,
die möglicherweise von den kriegswilligen Oranuti-
Fürsten gestellt werden würden, noch gar nicht
berücksichtigt.
Die vordringlichste Frage aber hatte Harlund noch nicht
beantwortet. Sebastian wusste nicht, wie viel Zeit ihm
und Antarona blieb, den Achterrat des Val Mentiér, sowie
König Bental auf einen Angriff vorzubereiten.
»Harlund«, begann Basti noch einmal drängend, »wann
wird Torbuk angreifen, und wo wird er angreifen? Wenn ihr
mir das sicher sagen könnt, verbürge ich mich
höchstselbst dafür, dass ihr als Gefangener eine
angenehme Behandlung erfahrt, und, wenn Torbuk besiegt
ist, in Falméra frei leben könnt!«
Der Angesprochene lächelte bittersüß und etwas
gequält. Offenbar glaubte er nicht daran, dass Torbuks
Armeen jemals noch aufzuhalten waren. Dann hob er
unschlüssig die Schultern und sagte:
»Ich weiß es nicht, Herr. Niemand weiß es wirklich. Es
gibt nur Gerüchte in den Heerlagern vor Quaronas und in
der Stadt selbst. Danach will Torbuk noch in diesem
langen Schnee einen Vorstoß in die Täler beginnen, und
sämtliche Speicher plündern lassen. Die Menschen in den
Tälern sollen über den langen Schnee hungern müssen,
so glaubt er die Täler zur erwachenden Blüte ohne
großen Widerstand besetzen zu können.«
»Torbuk will also mitten im Winter angreifen, um den
Menschen die Grundlage zum Überleben zu nehmen, ja?«
versuchte Sebastian die Taktik zu begreifen.
»Das heißt, er wird in den nächsten Tagen, oder Wochen
in die Täler einmarschieren, und, wenn ihn niemand
aufhält, im Frühjahr alle Täler besetzen. Die
Menschen, halb verhungert und geschwächt, werden ihm
dann nichts entgegenzusetzen haben«, prophezeite er mehr
für sich selbst. Und an Antarona gerichtet:
»Unter diesen Umständen müssen wir Bental und den Rat
ganz schnell von dem überzeugen, was wir eben gehört
haben, bevor es zu spät ist! Denn fällt das Val
Mentiér, dann fällt möglicherweise auch Falméra und
viele Îval werden in die Sklaverei gehen!«
»Aber was wollt ihr tun, Ba - shtie?« fragte das
Krähenmädchen, innerlich hin und her gerissen zwischen
ihrem zornigen Hass gegen Torbuk, Karek und den
Gefangenen, und der nackten Angst um die Zukunft ihres
Volkes. Sebastian wiegte den Kopf hin und her, als
müsste er zwischen mehreren Optionen entscheiden.
»Wir müssen Bental und den Rat davon überzeugen, dem
Achterrat von Val Mentiér eine sofortige
Handlungsvollmacht auszustellen, mit der wir im Namen des
Königs den Widerstand organisieren«, legte er seine
Gedanken offen. Aber er wusste, dass es damit allein
nicht getan war. Antarona sprach die Widrigkeiten aus:
»Ba - shtie, dort in den Tälern des ewigen Eises ist
jetzt erst der lange Schnee angebrochen. Niemand außer
dem Schnee selbst vermag Torbuk aufzuhalten, wenn er mit
diesen vielen Truppen in die Täler marschiert! Die Îval
dort sind müde von der Ernte, sie sitzen an den Feuern
und lauschen den Geschichten der Alten. Sie sind nicht
auf einen Kampf vorbereitet, ja, sie sehen die Truppen
Torbuks nicht einmal, wenn sie kommen!«
Sie wirkte auf einem Mal sehr müde, stocherte
nachdenklich mit einem Zweig im Boden herum, und meinte
dann niedergeschlagen:
»Nicht einmal Arraks Windreiter vermögen ihnen Verluste
beizubringen, wenn der Schnee alle Wege, die Wiesen und
den Waldboden unter sich begraben hat. Niemand kann in
der Zeit des langen Schnees einen großen Tross
aufhalten, wenn er der Deckung des Landes und des
Hinterhalts bedarf!«
Gewiss hatte Antarona recht mit ihren Einwänden, dennoch
musste das Volk in den Tälern vor der drohenden Gefahr
gewarnt werden. Das allein forderte von jedem Boten, der
damit beauftragt wurde, das Äußerste. Schnee, Kälte,
Sturm, die Spähtrupps Torbuks, Eishunde und Lawinen,
sowie der Mangel an Nahrung waren seine Feinde auf dem
ganzen Weg von der Küste bis in die Täler.
Und es war nahezu unmöglich, im tiefsten Winter, in bis
an die Hüttendächer zugeschneiten Täler eine
provisorische Verteidigungsarmee aufzustellen, selbst,
wenn diese auf der Grundlage von Guerillakriegern
kämpfen sollte. Wenn es nur irgendwie gelang, Torbuks
Vormarsch auf die Täler bis in den Frühling zu
verzögern... Dann hatten sie eine winzige Chance!
Damit Harlund sie nicht hören konnte, nahm Basti
Antarona zur Seite, deutete erst auf den Hügelkamm im
Westen, dann auf den First der Steilwand im Osten und
dachte laut über eine Möglichkeit nach, die ihm spontan
einfiel:
»Wenn wir rasch diese beiden Heerlager ausbilden, eines
hier lassen, welches weitere Heerlager in der neuen
Kampftechnik unterweist, und selbst mit dem anderen über
die Berge ins Val Mentiér ziehen, als kleine Kampftruppe
und als Boten des Königs...« Antarona wog seinen
Vorschlag ab, setzte aber eine zweifelnden Miene auf.
»Viele werden leichter entdeckt, als wenige, Ba - shtie,
und viele benötigen viel Nahrung, viel Holz für die
Feuer in den Nächten, und viele Feuer machen viel Rauch,
welchen man in der Zeit des langen Schnees weithin sehen
kann«, gab sie zu bedenken.
»Viele können sich aber auch dabei abwechseln, im hohen
Schnee eine Spur für die Nachfolgenden zu treten«,
hielt Sebastian dagegen, »und viele vermögen schon mal
ein Dorf zu verteidigen, sollte Torbuk seiner Armee
Spähtrupps vorausschicken!« Basti holte tief Luft,
raufte sich die Haare und hieb sich leicht gegen den
Hinterkopf.
»Wenn wir doch nur deinen Stein der Wahrheit mitgenommen
hätten«, spekulierte er, »so wären wir wenigstens
rechtzeitig gewarnt.«
In seinen Worten klang ein wenig Resignation mit. Doch in
seinem Kopf entstand bereits ein fantasievolles Gespinst.
Ein Plan, der bereits in der Geschichte seiner eigenen
Welt geboren, und teilweise erfolgreich umgesetzt wurde.
Antarona selbst hatte ihn darauf gebracht, als sie sagte
niemand außer dem Schnee selbst vermag Torbuk
aufzuhalten.
Sebastian erinnerte sich an die Geschichten alpiner
Freiheitskämpfer, die sich feindliche Armeen
untereinander mit Höhenfeuern ankündigten, und die
Schneelast der Berge für Lawinen ausnutzten, und damit
ganze Truppenaufmärsche zum Stehen brachten.
Mit einem Heerlager zum Festland überzusetzen, war mit
etwas Phantasie ebenfalls kein Hexenwerk. Nutzte man die
Strömung und eine Schlechtwetterperiode aus, so war es
durchaus möglich, eine größere Truppe, beispielsweise
während eines Schneesturms, ungesehen anzulanden. War
die Einheit dann erst einmal vom Strand in die Sümpfe
und in die Wälder vorgedrungen, so war ihre Entdeckung
eher unwahrscheinlich.
Überzeugt vom Gelingen seines heimlichen Plans, atmete
Sebastian hörbar tief ein und aus, schlug sich mit der
flachen Hand auf den Oberschenkel und sagte zu Antarona
mit hoffnungsvollem Gesichtsausdruck:
»Zunächst einmal müssen wir den Gefangenen auf die
Burg schaffen lassen, damit er seine Aussage vor dem Rat
des Königs wiederholt. Dann lehren wir Thorbald und
Arnhold deine Kampfweise, bis sie selbst dazu befähigt
sind, die Kohorten ausbilden zu können. Und
anschließend gehen wir nach Mehi-o-ratea, wo du sicherer
bist, als in der Burg, und warten auf die Entscheidung
des Rates. Mit ihr, ob hilfreich, oder nicht, gehe ich
schließlich zurück ins Val Mentiér, nach Möglichkeit
mit einer kleinen Truppe von Kriegern...«
»Wieso geht ihr, Ba - shtie«, fiel ihm Antarona ins
Wort, »was ist mit Sonnenherz, sie wird euch natürlich
begleiten!« Antarona war nicht so naiv, den kleinen
Unterschied zwischen wir und ich aus Sebastians Plänen
herauszuhören und fühlte sich übergangen.
»Nein«, antwortete Basti bestimmt, »du wirst mich
natürlich nicht begleiten! Ich will, dass du bei deiner
Base Zinthia und ihrem Mann Corneus in Val Argón
bleibst, bis ich dich in der neu erwachenden Sonne holen
lasse. Ich will weder dich, noch unser Töchterchen an
den Berghängen um Quaronas erfrieren sehen, weil wir
dort kein Feuer machen können. Du bleibst hier, und
Schluss!«
»Das werden wir ja sehen, Herr von den Göttern, ob sich
Sonnenherz so einfach abschieben lässt!« konterte sie
aufgebracht.
»Unsere Tochter wird im Val Mentiér geboren, das habt
ihr Sonnenherz versprochen! Warum soll sie dann nicht
gleich mit euch kommen?« Sie suchte verzweifelt nach
Argumenten, in jedem Fall an Sebastians Seite bleiben zu
können.
Er hingegen, wollte sie in Sicherheit wissen. Zu groß
war das Risiko, dass sie bei einer solch strapaziösen
Reise verletzt werden, krank werden, oder ihr noch
Schlimmeres widerfahren könnte.
»Als ich dir versprach, unsere Tochter werde im Val
Mentiér geboren, waren die Verhältnisse aber andere«,
rief Basti ihr in Erinnerung, »jetzt steht ein Krieg vor
den Tälern des Val Mentiér. Das ist sicher kein
geeigneter Ort für unsere Tochter, Talris zu
erblicken!«
»Ba - shtie, wenn ihr es noch nicht begriffen habt«,
fauchte sie ihn zornig an, »im Val Mentiér herrschte
bereits Krieg, als Sonnenherz Vater ein Jüngling war!
Das hat die Frauen der Îval seither aber niemals davon
abgehalten, Kinder zu gebären! Sonnenherz wird mit euch
gehen, wenn ihr in die Täler des ewigen Eises zieht, und
Schluss!«
Gerade wollte Sebastian erneut ansetzen, ihr die Sache
mit seinen Argumenten auszureden, da begann Harlund ein
Geschrei, als wollten ihn alle Teufel der Hölle ins
Fegefeuer ziehen. Sie wirbelten beide herum, vermochten
aber nicht die Ursache zu erkennen, die ihren Gefangenen
derart in Panik versetzte.
»Sis-tà-wàn.., Sis-tà-wàn!« kreischte Harlund mit
sich überschlagender Stimme. Augenblicklich zog Antarona
ihr Schwert und blickte sich gehetzt um.
»Was bei den Göttern ist Sis-tà-wàn?« entfuhr es
Basti, der dieses Wort bei den Îval noch nie gehört
hatte.
»Still, Ba - shtie, Sis-tà-wàns sind die Kreaturen des
Bösen! Sonnenherz hat bisher noch nie vermocht, eine von
ihnen zu besänftigen.«
Unbeweglich stand das Krähenmädchen da, Nantakis halb
über ihrer Schulter schwebend, bereit, zu einem
vernichtenden Schlag auszuholen. Ganz langsam, als
vollführte sie einen Tanz unter Wasser, drehte sie sich,
versuchte mehr mit den Sinnen zu sehen, als mit ihren
Augen.
Sebastian, völlig verunsichert vor der unbekannten
Gefahr, trieb es die Schweißperlen auf die Stirn. Er
kniff die Augen zusammen, und versuchte irgendetwas in
den umliegenden Büschen zu erkennen. Doch alles war
ruhig. Zu ruhig!
Der Gefangene zerrte unterdessen in Todesangst an seinen
Fesseln, warf wie irr seinen Kopf hin und her, und
brüllte wie jemand, dem man die Haut bei lebendigem Leib
in Streifen abzog. Antarona war es nicht mehr möglich,
ihre Sinne auf die Geräusche der Umgebung konzentrieren.
»Ruhe! Seid still, ihr unverbesserlicher Narr, wenn euch
euer Leben lieb ist!« schrie sie ihn an, ohne ihre
lauernde Stellung zu verändern. Harlunds Geschrei
verstummte, und er verfiel in ein jämmerliches Zittern
und Wimmern. Ein ausgewachsener Krieger, kampferprobt,
schien aus nackter Angst sterben zu wollen.
Plötzlich raste etwas mit unglaublicher Geschwindigkeit
aus dem Unterholz direkt auf Harlund zu. Es war
unglaublich schnell. So schnell, dass Sebastians Auge nur
etwas langes, braunes erfassen konnte, wie einen
mächtigen Ast, der von unnatürlicher Kraft gelenkt, wie
ein Blitz auf den Gefangenen zuschoss.
Antarona reagierte sofort. Sie wirbelte einmal um die
eigene Achse, um mit Nantakis Schwung zu holen, machte
einen Ausfallschritt und ließ das Schwert sirrend durch
die Luft fahren. Ein Gegenstand plumpste zu Boden, und
ein langer, schlanker, sich windender Leib hauchte sein
Leben aus.
Basti erwachte aus einem Moment der fassungslosen Starre,
ging langsam zu dem Ding hinüber, das auf die Erde
gefallen war. Ungläubig riss er die Augen auf. Es war
der Kopf eines Tieres, eigentlich der eines kleinen Gors.
Doch an diesem Kopf hing ein Stück Hals, das genauso
dick war, wie das Haupt selbst. Aus dem aufgerissenen
Maul des Monsters ragten zwei mächtige, spitz
zulaufende, lange Reißzähne, sowie eine Reihe kleinerer
Zähne, die aber immer noch so lang waren, wie eine Hand.
Etwas Besonderes aber fiel ihm an diesem Kopf sofort auf.
Das Biest besaß im Gegensatz zu einem Gor keine Augen.
Wo sich bei einer Schlange, oder bei einem Gor
gewöhnlich das Sehorgan befand, hatte diese Kreatur nur
eine Einbuchtung, so groß wie ein Fünffrankenstück.
Sebastian nahm das Ende eines kleinen Zweiges und
drückte vorsichtig darauf. Er fühlte eine dünne,
elastische Haut, fast so etwas, wie eine Membran.
Wahrscheinlich ein hoch sensibles Organ, das feinste
Schwingungen und Vibrationen aus der Luft und vom Boden
wahrnehmen konnte.
Dann lenkte sich sein Augenmerk auf den immer noch leicht
zuckenden Körper. Was dort auf dem Waldboden vor ihm
lag, war so etwas, wie eine riesige Anakonda. Selbst im
Fernsehen hatte Sebastian nie eine größere Schlange
gesehen. Das Vieh war mindestens zwanzig Meter lang und
ihr Hinterleib lag noch im Gebüsch verborgen.
Die graubräunliche Färbung des langen Körpers hob sich
kaum vom Waldboden ab. Eine perfekte Tarnung, die das
kriechende Raubtier beinahe unsichtbar machte. Aber
kriechend? Wie eine Kanonenkugel war das Schrecken
einflößende Geschöpf auf Harlund zugeschnellt...
Nun erst fiel Sebastian auf, dass der Gefangene keinen
Muckser mehr von sich gab. Hatte ihn die pure Angst etwa
in die Ohnmacht getrieben? Antarona hatte sich vor den
Körper des Gefangenen gekniet und ihr Ohr auf dessen
Brust gelegt, als er hinzu trat.
»Ist er tot?« fragte Sebastian unsicher. Das
Krähenmädchen verharrte noch eine kurze Weile, dann hob
sie resigniert den Kopf und sagte kalt:
»Na wenn er das nicht ist...« Offenbar war ihr Hass
gegen den Spion Torbuks selbst jetzt noch nicht
verraucht, da er in das Reich der Toten eingegangen war.
Aufmerksam untersuchte Sebastian den reglosen Mann, der
das Wissen einer ungeheuerlichen Wahrheit in sich
getragen hatte, und der dieses Wissen dem Rat und dem
König von Falméra vortragen sollte. Daraus wurde nun
nichts mehr. Er hatte die Wahrheit ins Reich der Toten
mitgenommen.
»Na, der ist ja wohl tot, wenn die Bemerkung erlaubt
ist, Herr«, vernahm Basti nun die geringschätzige
Stimme Thorbalds. Das Geschrei des Gefangenen hatte die
beiden Krieger wohl von ihrem Posten zurückgerufen.
»Sie ist nicht erlaubt!« blaffte Sebastian den jungen
Krieger an, der erschrocken zurückfuhr. »Wer hat euch
beiden Nichtsnutzen eigentlich erlaubt, euch von eurem
Posten zu entfernen, na? Nicht einmal ordentlich Wache
halten könnt ihr!« Basti schämte sich sogleich seiner
Überreaktion und fügte erklärend hinzu:
»Was ihr freilich nicht wissen könnt, Thorbald, dieser
unglückselige Wurm von einem Verräter hier, sollte dem
König und dem Rat berichten, was er über Torbuks Pläne
weiß. Nun wissen wir wohl davon, doch um den Rat und
Bental davon zu überzeugen, werden unsere Worte kaum
ausreichen. Thorbald nickte verständnisvoll und sagte:
»Verzeiht Herr, so weit hatte ich nicht gedacht. Ich sah
nur den Tod eines verräterischen Abschaums des Volkes,
der seine gerechte Strafe erhalten hat«, gab er
schuldbewusst zu. Sebastian setzte ein vergebendes
Lächeln auf und beruhigte ihn:
»Thorbald, darum seid ihr ja auch der Krieger, dessen
Aufgabe es ist, Befehle auszuführen und zu kämpfen, und
ich bin Areos, der Sohn des Königs, dessen Aufgabe das
Denken und Entscheiden ist. Ich mache euch keinen Vorwurf
daraus, denn im Herzen empfinde ich das gleiche, wie ihr.
Nur mein Stand und mein Wissen gebieten mir eine andere
Sichtweise, versteht ihr das?«
Natürlich verstand Thorbald nicht genau, was Sebastian
meinte. Doch er nickte mit einem unsicheren ja Herr, wie
Basti es von seinem Diener Frethnal kannte, und wandte
sich ab. Im Hintergrund hörte er Arnholds Verwunderung
über das außergewöhnlich große Exemplar eines
Sis-tà-wàns.
»Gütige Götter Talris, was für ein Mordsding! Wenn
uns das Vieh im Schlaf überrascht hätte, befänden wir
uns nun an der Seite der Götter!«
Darüber musste er unbedingt noch mit Antarona sprechen,
dachte Basti, als er den Ausruf hörte. Wie viele von
diesen abnormen Geschöpfen gab es, die einen locker im
Schlaf verschlingen konnten? Dabei sah er sich den
Leichnam Harlunds noch etwas genauer an. Seine Lippen und
Augenlider waren blau, fast schwarz angelaufen.
Irgendwo hatte Sebastian einmal gelesen, dass dies ein
untrügliches Zeichen von Gift war. Aber er konnte an dem
Toten keine Bisswunde feststellen. Hatte das Ungetüm
auch noch die Fähigkeit, Gift auf große Entfernung auf
sein Opfer zu speien, wie es etwa eine Kobra fertig
brachte? Wozu dann aber die mächtigen Hauer in seinem
Maul?
Kurz entschlossen riss Basti dem Toten das Hemd auf und
staunte nicht schlecht. Zwei Wunden, wie Einschusslöcher
eines großen Gewehrkalibers, prangten auf seiner Brust.
Das Biest hatte ihm mit blitzartiger Schnelligkeit seine
Giftzähne durch die Kleidung hindurch in den Körper
getrieben.
Das Gift musste ihn auf der Stelle getötet haben, denn
das Entsetzen stand ihm noch im Gesicht geschrieben.
Hätte Antarona gewusst aus welcher Richtung die Gefahr
drohte, so hätte sie Schlimmeres verhindern können. Der
Gefangene hatte die Schlange rechtzeitig, wohl eher
zufällig entdeckt. Doch da ihm die Hände gebunden
waren, konnte er nicht deuten, aus welcher Richtung die
Bedrohung kam.
Missmutig zog Basti dem Toten das Hemd unter dem Körper
hervor und bedeckte ihn damit. Dann sah er sich das
gefährliche Reptil noch einmal genauer an. Das Tier
hatte den ebenmäßigen, langen Körper einer Kobra, eben
nur so dick, wie der trainierte Oberschenkel eines
gestandenen, kräftigen Kriegers. Die Länge schließlich
schritt er mit mehr als fünfundzwanzig Metern ab.
Das Haupt des Reptils, das mit geöffnetem Maul etwas
entfernt daneben lag, glich eher dem Kopf eines Drachen,
als dem einer Schlange. Aufgestellte Schuppen und kleine
Hörner gaben ihm ein bizarres Aussehen. Die Giftzähne,
welche Sebastian für Reißzähne hielt, mochten sogar
einen ausgewachsenen Felsenbären zu Fall bringen.
Allerdings bezweifelte er, dass diese Schlange, selbst
bei ihrer außergewöhnlichen Größe, einen
Felsenbären, oder einen Robrum hätte verschlingen
können. Neugierig untersuchte er ihre Kiefer. Dabei
stellte er mit Staunen fest, dass sie ihren Unterkiefer
im Gegensatz zu gewöhnlichen Schlangen nicht aushaken
konnte.
Basti schüttelte unverständlich den Kopf. Sie hätte
trotz ihrer enormen Größe nicht einmal einen
Halbwüchsigen in ihren Rachen bekommen!
»Was versteht ihr nicht, Ba - shtie?« hörte er
Antarona sagen, die neben ihn getreten war, und seine
Verwunderung erkannte. Sebastian zuckte mit den Achseln.
»Ich verstehe nicht, warum dieses Vieh ihn angegriffen
hatte. Er ist viel zu groß, als dass der Sis-tà-wàn
ihn hätte ganz verschlingen können!« Antarona sah ihn
nun ihrerseits erstaunt an.
»Ba - shtie, wie kommt ihr nur darauf, dass er seine
Beute im ganzen Stück hinunterschlingen wollte?
Sis-tà-wàns zerreißen ihre Opfer mit schnellen,
heftigen Bewegungen ihres Körpers! Seht ihr nicht die
vielen scharfen Zahnreihen, und die kleineren Zahnreihen
dahinter?« Sie ließ Sebastian einen Augenblick Zeit,
sich das Maul des Ungetüms noch einmal ganz genau
anzugucken, bevor sie fortfuhr:
»Er vermag seine giftigen Fangzähne aus seinem Maul
heraus zu strecken, wenn er angreift und tötet. Sobald
seine Beute durch das Gift benommen ist, zieht er seine
Giftzähne wieder ein, wie die Zugbrücke einer Burg.
Dann zerreißt er sein Opfer mit den Reißzähnen!«
Antarona deutete auf die beiden hintereinander liegenden
Reihen von Zähnen und erklärte:
»Sie wachsen nach, Ba - shtie, seht ihr? Verliert er
einen Zahn, was oft vorkommt, wenn er auf einen Knochen
beißt, so wächst ihm in kurzen Zentaren ein neuer
nach!« Sebastian verstand eines aber immer noch nicht.
»Aber wieso ihn? Warum hat das Vieh Harlund angegriffen,
und nicht uns? Das ergibt keinen Sinn, denn das Biest war
dir doch näher, als ihm!« Antarona hockte sich vor den
abgeschlagenen Kopf, wiegte ihren Körper auf den Zehen
hin und her und schien die Antwort aus weiter Ferne
herzuholen.
»Die Alten erzählen sich an den Feuern eine Geschichte
darüber, Ba - shtie«, begann sie, und versuchte die
alte Mär aus ihrem Gedächtnis zu rekapitulieren. Das
Krähenmädchen gab wieder, was sie als Kind gehört
hatte und Sebastian lauschte fasziniert einem
fantastischen Märchen.
Es war zu jenen Zentaren, als die alten Götter, welche
die Menschenwesen werden sollten, sich zerstritten. Einer
suchte den anderen zu Übertrumpfen und es war ihnen der
Sinn, ihre Nebenbuhler mit aller List zu bekämpfen und
zu besiegen.
Der niederträchtigste von ihnen, der böse Hu-ròn,
reich an Tücke, Schläue, und Hinterlist ersann einen
verräterischen Plan. Er nahm eines jener grausamen
Wesen, welche auf dem Lande lebte, auf welchem sie mit
ihrem Feuerschweif gestrandet waren.
Bald erschlich Hu-ròn sich das Vertrauen des
Geschöpfes, welches nur wenig Geist, aber viele
todbringende Waffen besaß, nahm das blaue Licht aus
seinem eigenen Lande, das noch im Feuerschweif lebte, und
schuf damit aus dem Wesen ein noch grausameres Geschöpf,
das nur dem einen Sinne folgte, zu töten. Er machte es
ohne Augen, denn es sollte nicht das Frevelhafte sehen
können, was es tat. Dafür schenkte er ihm eine Höhle
der Sinne in seinem Kopf, welche er unter Haut und
Schuppen verbarg.
Sis-tà-wàn ward geboren! Es war das reine Böse. In ihm
lebten Hinterlist, Raffgier, Zorn und Missgunst. Seine
Mordlust war selbst von Hu-ròn gefürchtet. Darum band
er Sis-tà-wàn eine Windflöte um den Hals. Selbst der
kleinste Hauch, welcher kaum die Blätter der Bäume zu
bewegen vermochte, entlockte jener Flöte eine liebliche,
beruhigende Melodie.
Solange Sis-tà-wàn den Klang der Flöte vernahm, war er
ruhig, friedlich und gehorsam. Doch nahm ihm der böse
Hu-ròn das Windspiel vom Halse, so wurde er zu jener
blutrünstigen Bestie, die jeden tötete, der ihr über
den Weg kam. So ließ Hu-ròn einen seiner Götterbrüder
nach dem anderen von Sis-tà-wàn töten, bis nur noch
sechs von ihnen übrig waren.
Diese sechs letzten Götter, des alten Geschlechts gingen
im Angesicht ihres Todes zu den Elsiren und baten diese
um ihre Hilfe. Die Elsiren aber verlangten als Lohn für
ihren Beistand das blaue Licht aus dem Urlande der
Götter, welches sie gedachten, zum Schutze ihrer selbst
stets an sich zu tragen. Die Götter, wie von Sinnen vor
Angst, versprachen es.
Da flogen die Elsiren zu Hu-ròn und Sis-tà-wàn, als
diese des Nachts schliefen. Sie stimmten ein Lied an, so
lieblich und schön, so voller Verzückung, so sanft und
melodisch, dass Sis-tà-wàn in einen tiefen Schlaf
verfiel. So nahmen sie ihm die Windflöte vom Hals,
welche sie fortan bis zu dieser Zentare in ihren Sümpfen
verbargen.
Als Hu-ròn am Morgen erwachte und sah, dass die
Windflöte am Halse seiner schrecklichen Kreatur fehlte,
hob er ein Geschrei an, welches Sis-tà-wàn aus dem
Schlaf riss. Das Ungeheuer vermochte nicht zu sehen, wer
da brüllte und tobte, und meinte, ein weiteres Opfer vor
sich zu haben.
Noch ehe Hu-ròn sich recht besann, wurde er von seiner
eigens erschaffenen, bösen Kreatur in Stücke gerissen,
und ward seit dem nicht mehr.
Die Elsiren forderten ihren Lohn ein, und fortan durften
sie sich mit dem geheimnisvollen Feuer schützen, das
jene verbrennt, welche ihnen in Absicht der Niedertracht
zu nahe kamen. So ist es geblieben bis in die jüngste
Zentaren.
Sis-tà-wàn aber, entfloh in die Lande unter der Götter
Sitz, und in die Täler, und in die Wälder, und er
nährte sich von jenen Wesen und Geschöpfen, welche das
Land mit ihrem Lärm entweihten. Seither stürzte er sich
auf alles und jedes, welches mit seinem lauten Getue und
Geschrei die Ruhe und den Frieden des Waldes stört.
»Bis zu dieser Zentare«, kommentierte Sebastian nicht
ganz ohne Sarkasmus ihr Märchen, als sie geendet hatte,
und wies wie zum Beweis auf den am Waldboden liegenden,
Angst einjagenden Körper.
»Und nun, ihr Götter, schaut hernieder auf das Land der
Menschenwesen, in welchem die Kriegerin Sonnenherz das
vermocht hat, was euch nicht gelang!« rief er nicht
ernst gemeint und im Überschwang des weichenden
Schreckens wie eine Verkündung aus.
»Seid nicht albern, Ba - shtie«, entgegnete Antarona
vorwurfsvoll, »es ist nur eine alte Mär! Es gibt nicht
nur einen Sis-tà-wàn!« Dann aber wurde sie auf einem
Mal sehr nachdenklich, ja fast ehrfürchtig.
»Dieser Sis-tà-wàn wurde durch die Tre-mor-fas
angelockt. Sie sind sein bevorzugtes Futter, denn er
braucht sie nur vom Boden auflesen. Doch das Gezeter
Harlunds muss ihn zornig und angriffslustig gemacht
haben, wie in jener alten Mär«, überlegte sie laut und
eher für sich selbst.
»Du meinst, wenn die Geschichte nicht nur eine alte Mär
ist, so bewahren die Elsiren etwas, das einen
Sis-tà-wàn besänftigen kann?« folgte Basti ihren
Ausschweifungen. Antarona nickte bedächtig und murmelte
vor sich hin:
»In jenem, was die Alten erzählen, ist stets ein wenig
Wahrheit verborgen, ein jeglicher mag sie nur zu finden
wissen.« Sebastian stand auf, stupste leicht mit dem
Fuß gegen den Kopf des toten Sis-tà-wàn und sagte:
»Na ja, wir haben wohl kaum die Zentaren, um bei den
Elsiren nach einer Windflöte zu suchen, die seit dem
Krieg der alten Göttern niemand mehr zu Gesicht bekommen
hat, oder?«
»Darum geht es nicht, Ba - shtie«, entgegnete sie
ungeduldig, »aber möglicherweise vermag jemand ein
Windklangspiel zu schnitzen, welches zum Nachtlager in
einen Baum gehängt, vor den Angriffen eines Sis-tà-wàn
schützt!«
»Ja«, gab Basti zu, »das wäre dann tatsächlich mal
eine sinnvolle Erfindung!« Aber die ließ ihn von dem,
was ihn gerade vordringlich beschäftigte, nicht
abbringen. Er wandte sich wieder dem Toten zu.
»Und was machen wir mit dem? Begraben und aus? Schwamm
drüber? Denn reden kann er ja wohl nicht mehr!«
Unbeantwortet ließ er die Worte zwischen den Bäumen
verklingen.
Er machte kein Geheimnis daraus, dass er nun selbst nicht
wusste, wie man König Bental und dem Rat die Gefahr
durch Quaronas mit einem Zeugen glaubhaft machen sollte,
der nicht mehr sprechen konnte. Bental würde die ganze
Geschichte wahrscheinlich für ein Hirngespinst halten,
für einen phantasievollen Versuch, ihm die bevorstehende
Invasion Falméras erneut vorzutragen.
Die beiden jungen Krieger sahen ihn nur dumm an. Sie
waren gewohnt Befehle zu empfangen, und dass ihr
Vorgesetzter stets die richtige Entscheidung traf. Sie
würden Areos Urteil auch kaum in Frage stellen. Antarona
aber blickte genauso ratlos auf den Toten, wie Sebastian.
Dabei ging es nicht einmal um den Toten selbst, sondern
um das Wissen, das dieser Mann mit in das Reich der Toten
nahm. Für Sebastian war jedoch auch der Leichnam eine
ungeklärte Frage.
»Kann mir mal jemand helfen«, fragte er in die Runde.
»Also, im Val Mentiér bringt man jene, welche zu den
Göttern gehen, an das Tor zum Totenreich im ewigen Eis.
Aber wie macht ihr das hier, auf Falméra? Wo befindet
sich hier das Tor zum Reich der Ewigkeit?«
Sebastian hatte inzwischen auch auf Falméra mehr mit dem
Tod Bekanntschaft gemacht, als ihm lieb war, und er
wusste, dass die Leichen, wollte man sie vor Tierfraß
schützen, erst einmal mit Steinen bedeckt wurden. Doch
was kam danach? Dem Glauben der Îval zufolge musste
jeder Tote an das Tor zum Reich der Toten geleitet
werden.
»Die Toten werden zur Küste der erwachenden Sonne
gebracht, Ba - shtie«, klärte ihn das Krähenmädchen
auf, »dort bettet man sie auf einen aus Reisig
zusammengesteckten Wasserwagen. Brennend wird der
Wasserwagen in die Strömung gestoßen, welche ihn sicher
durch das Tor ins Reich der Toten treibt. Es mag ein
anderes Tor ins Totenreich sein, Ba - shtie, denn von
dort haben die Götter niemals jemanden zurück
geschickt, wie sie es im Val Mentiér getan haben.« Da
er nun diese Frage geklärt wusste, nickte Sebastian
zustimmend und sagte müde:
»Na ja, darum mögen sich Hetarus Krieger kümmern.«
Dabei sah er Thorbald und Arnhold an. In ihrem Blick
erkannte er, dass diese beiden niemals von allein darauf
kommen würden, Hetarus die Unwesentlichkeit zu melden.
Sie waren Krieger und töteten. Den Abfall mochte jemand
anderes beseitigen, es war nicht ihre Aufgabe und sie
dachten nicht darüber nach.
»Thorbald, ihr berichtet Hetarus, dass er ein par Leute
schicken soll, die den da zur Küste bringen«, bestimmte
Basti. » Und nun deckt ihn mit Steinen zu, sonst kommen
die Tre-mor-fas doch noch zu ihrem Festmahl!«
Danach zog sich Basti das Hemd aus, wischte sich damit
den Schweiß von der Stirn und hängte sich das
Kleidungsstück wie ein Handtuch um den Hals.
Nachdenklich beobachtete er Arnhold und Thorbald bei der
Aufschichtung des Steingrabs.
Sie fügten die Steine aneinander, wie es ein Maurer
nicht besser gekonnt hätte. Die beiden machten das
gewiss nicht zum ersten Mal! Antarona nahm unterdessen
Nantakis und schnitt mit dem Schwert den Körper der
Schlange in mehrere Stücke, die sich tragen ließen.
Zunächst hatte Sebastian befürchtet, sie könnte die
auf den Einfall kommen, ein Stück davon zum Abendessen
über dem Feuer zu garen. Er hatte es nie probiert, aber
Schlange sollte in seiner Welt als Delikatesse gelten und
wie zartes Hühnchen schmecken.
Jedenfalls atmete er befreit auf, als seine Frau die
Stücke dort hinüber trug, wo die Tre-mor-fas immer noch
umherwuselten und nach Nahrung suchten. Nur Augenblicke
später wimmelten die Insekten über die Fleischstücke
ihres natürlichen Feindes. Man konnte direkt zusehen,
wie das Aas vom Waldboden verschwand und nur feinen
Knochenglieder liegen blieben.
Thorbald und Arnhold schickte Sebastian wieder in ihre
Heerlager zurück, und bestellte sie für den nächsten
Morgen wieder zum Stein auf der Weide, wo die ins Gras
gedrückte Arena wartete. Antarona und er traten den
Rückweg zu ihrem Lagerplatz an. Gemischte Gefühle
begleiteten sie.
Zum einen waren sie über das, was sie erfahren hatten,
schockiert und bedrückt, zum anderen aber in der inneren
Aufruhr, etwas entscheidendes unternehmen zu müssen. Sie
ahnten, das die Zeit drängte, waren aber gefangen
zwischen den Mühlrädern der Burg, des Rates und des
Königs. Doch das Val Mentiér brauchte sie. Die Îval
dort brauchten sie jetzt!
Die Ereignisse des Tages, das schwülwarme Wetter, das
sich noch immer nicht zu einem abkühlenden Regenguss
entscheiden konnte, und die verfahrene Situation hatten
sie mehr ermüdet, als ein Tag voller hartem
Kampftraining.
Schweigend kauten sie auf ein par Streifen Trockenfleisch
herum, und krochen dann, noch im Dämmerlicht der hinter
dem Hügelkamm verschwindenden Sonne unter ihre Felle.
Seufzend suchten ihre Körper die Nähe des anderen,
kuschelten sich eng hintereinander und schliefen bald
ein.
Ein dumpfer Knall riss beide aus dem Schlaf. Noch war
stockfinstere Nacht, nach Sebastians Empfinden dunkler,
als jemals zuvor. Leise wechselten sich das Rauschen des
Baches und das des Windes in den Bäumen einander ab.
Da flammte über dem Hügelkamm, wo die Zelte des einen
Heerlagers standen, ein grelles, flackerndes Licht auf
und erhellte beinahe das ganze Tal. Es schien, als
würden mehrere Batterien Artillerie gleichzeitig ihre
Mündungsfeuer aufblitzen lassen.
Dem hellen Licht, das blendete und sofort wieder
verlosch, folgte ein dumpfes Krachen, das Antarona und
Sebastian den Schrecken in die Glieder fahren ließ.
Mehrfach wurde der ohrenbetäubende Lärm von den roten
Felsen auf der anderen Talseite zurückgeworfen. Das Echo
inszenierte einen hallenden Donnerschlag, der mehrere
synchronisierte Salven aus Hunderten von Feldhaubitzen
glaubhaft machte.
Sebastian bewegte sich nicht, meinte im ersten Moment,
Torbuk würde plötzlich mit einer großen Anzahl
schwerer Artilleriegeschütze angreifen. Bis ihm sein
Verstand sagte, dass dies nicht sein konnte, tauchte der
nächste Mündungsfeuerschein das ganze Tal in taghelles
Licht.
Um nicht vom folgenden Krachen überrascht zu werden,
hielt Sebastian sich die Ohren zu. Antarona kroch wie ein
verängstigtes Kätzchen wieder unter die Felle und
klammerte sich zitternd an seinen Körper. Krawummm! Es
donnerte aus allen Rohren. Aber die Einschläge blieben
aus! Dafür erhob sich plötzlich aus dem Nichts eine
kräftige, kurze Windböe, die sämtliche Bäume und
Sträucher durchschüttelte und sie sich zum Boden neigen
ließ.
Dann herrschte eine trügerische Ruhe. Die Luft schien zu
stehen. Jedes Insekt, jeder Laut war erstorben. Selbst
das ständige Rauschen des Baches schien leiser zu
werden. Basti streichelte beruhigend Antaronas bebenden
Körper und wartete gespannt.
Erneut brach das Mündungsfeuer die Dunkelheit und
Stille. Kurz konnte Sebastian tief hängende, massive
Wolken erkennen, die knapp über den Höhen standen.
Bloß ein Gewitter, dachte er und zuckte im selben
Augenblick zusammen. Ein scharfer Knall zerriss nur
Sekunden später die Luft. Er ging durch Mark und Bein,
brachte sogar die Berge zum zittern. Der Donnerschlag
wanderte von den Höhen herab, prallte gegen die
mächtige Felswand und rollte das Tal hinunter. Er
pflügte wie die zornige Faust der Götter durch die
Nacht und ließ Antarona sich unter den Fellen noch mehr
zusammenkauern.
Dann, nach einem Augenblick lauernder Stille, schlug
etwas hart auf dem Haufen Felle auf, unter dem Sebastians
Gesicht hervorlugte. Ein weißer Stein purzelte seitlich
ins niedergetretene Gras und blieb dort liegen. Basti
schob seinen Arm unter den Häuten hervor, um danach zu
greifen. Doch irgendetwas schlug ihm so hart auf den
Handrücken, dass er den Arm schnell wieder zurückzog.
Ein weiteres weißes Geschoss, kaum kleiner, als ein
Apfel, kullerte neben ihrem Lager ins Gras. Dann noch
eines, und noch eines, und schließlich öffnete der
Himmel seine Schleusen und bombardierte die Erde mit
Millionen dieser Eisgranaten.
Pochend trafen die harten Himmelsprojektile den
Fellhaufen, unter dem sich zwei demütige Seelen
verkrochen hatten. Antarona, durch das Geräusch in ihrer
Neugier geweckt, wollte sehen, was vor sich ging, doch
Basti drückte ihren Kopf wieder unter die Felle und
schützte sie mit seinem Leib.
»Besser du bleibst unten, sonst erschlägt es dich«,
warnte er sie, und verkroch sich selbst noch tiefer unter
die Häute.
Ein wahres Krescendo prasselnder Eisbälle ging auf sie
nieder, begleitet von immer neuen Lichtblitzen und
Donnerkaskaden. Das ging beinahe eine Viertelstunde so,
dann ließ die Intensität des Bombardements allmählich
nach.
Vorsichtig wagte Sebastian einen Blick nach draußen und
staunte nicht schlecht. Die Welt hatte sich verändert.
In einem neuen Mündungsfeuer des Gewitters glaubte er zu
träumen, was er sah. Das Land war mit Bällen aus Eis
bedeckt und hatte ein futuristisches Aussehen bekommen.
Aus der kugeligen Schicht ragten Zweige, Blätter, ja
sogar armdicke Äste hervor. Die Bäume waren von den
Eisgeschossen regelrecht zusammengehauen worden, und
standen als schwarze, nackte Silhouetten da. Ein lautes
Knistern war zu hören, als würde die gesamte, auf
Falméra befindliche Population von Tre-mor-fas über
trockenes Laub krabbeln.
Freilich hatte das knisternde Geräusch eine andere
Ursache. Die Eisbälle, in Sekunden aus eisiger Höhe auf
das warme, von der Sonne des Tages aufgeheizte Land
gefallen, büßten ihre feste Struktur ein, bekamen
Risse, platzten auseinander und tauten langsam ab.
Aber schon sahen sich Antarona und Sebastian einer neuen
Bedrohung ausgesetzt. Mit der folgenden Blitzserie und
Donnerreihe kam erneut heftiger Wind auf, der mächtige
Regentropfen mit sich trug. Sie klatschten Sebastian ins
Gesicht, eiskalt!
Er ahnte, dass es ein so sintflutartiger Guss werden
könnte, wie er ihn auf Högi Balmers Alm und im Haus
Hedarons erlebt hatte, und zog sein Krähenmädchen an
den Schultern aus den Fellen hervor.
»Komm, es ist vorbei. Aber gleich gibt es eine
Regenflut, die uns ersäuft, wenn wir nicht irgendwo
Schutz suchen!« prophezeite er nüchtern. Antarona
fröstelte, schnupperte in alle Himmelsrichtungen und
nickte gewichtig.
»Es riecht nach Wasser, das von den Göttern kommt«,
stimmte sie zu. Wackelig stand sie mit nackten Füßen
auf der labilen Schicht tauender Eiskugeln. Sie sah so
verletzlich und armselig aus, dass Basti ihr zunächst
ein dickes Fell um die Schultern hängte.
Dann sah er sich um. Schutz und Deckung gab es nicht
mehr. Die Bäume waren von dem heftigen Hagelschauer
schlichtweg entlaubt worden. Doch er wusste, dass hinter
den Felsen, wo das Gelände etwas anstieg, die
freierodierten Felsplatten einen mächtigen Überhang
bildeten, fast so etwas wie eine offene Grotte.
Freilich sagte ihm seine alpinistische Erfahrung, dass so
ein Platz bei heftigem Gewitter gefährlich sein konnte,
doch eine Alternative hatten sie nicht. Noch so ein
Hagelschauer, wie jener vor ein par Minuten, und Torbuk
konnte sich die Mühe sparen, ihnen Mordbrenner hinterher
zu schicken. Sie würden einfach vom Wetter erschlagen
werden!
Alles, was ihnen wichtig und teuer war, musste auf die
andere Seite der Felsen in Sicherheit geschafft werden.
Es waren nur wenige Meter bis zum Überhang, doch es war
ein Abenteuer für sich, die Lasten auf dem rutschigen,
rollenden Untergrund der Hagelkörner den Hang hinauf zu
schleppen.
Als Sebastian sein Schwert greifen wollte, fuhr er
erschrocken zurück. Blaue Flämmchen umgaben die Waffe,
die neben Antaronas Nantakis im Baum hing. St. Elmsfeuer!
Doch Antaronas Schwert blieb von der statischen Aufladung
durch das Gewitter unberührt.
Seltsame, geheimnisvolle Eigenschaften waren es, die das
Metall von Nantakis hatte. Damals, in den Hallen von
Talris, da hatte diese Waffe die blauen, tödlichen
Blitze wie ein Blitzableiter auf sich gezogen, und sie
gerettet. Bei einem normalen Gewitter aber, schien das
Metall keine Reaktion zu zeigen.
Mit vorsichtigen Griffen nahm Basti die Waffen vom Ast
und reichte Antarona ihr Schwert, Pfeile und Bogen.
Unschlüssig stand das Krähenmädchen auf der
Eisschicht, die rasch taute und unförmige Eisklumpen
zurückließ, die teilweise immer kleiner, scharfkantiger
und spitzer wurden.
Basti beobachtete seine kleine Frau aus den Augenwinkeln,
wie sie behutsam von einem Fuß auf den anderen trat.
Dann fasste er sich ein Herz, packte sie und trug sie zum
neuen Lagerplatz den Hang hinauf.
»Wo hast du eigentlich deine Beinlinge?« wollte er
wissen, denn er hatte sie seit ihrer Ankunft im Tal der
roten Flühen nur mit bloßen Füßen herumlaufen sehen.
Antarona lächelte süß, sagte nichts, deutete aber zum
Baum hinauf, an dem ihre Waffen gehangen hatten.
Sebastian sah sie fragend an.
»Noch höher hinauf ging es nicht, oder? Was hast du
eigentlich dagegen, die Dinger so aufzuhängen, dass man
sie auch erreichen kann?« fragte er mit einem etwas
gereizten Unterton.
»Wenn Sonnenherz sie leicht erreicht, dann tun es auch
andere«, war ihre knappe Antwort. Manchmal bestach ihre
einfache, unkomplizierte Sichtweise Sebastians Logik. Er
schüttelte dann zwar jedes Mal verständnislos den Kopf,
bewunderte sie aber für ihre naive, kindliche Art.
Zwischen zwei Blitzphasen kletterte er in den Baum und
angelte Antaronas Beinlinge von einem ausladenden Ast.
Beinahe rutschte er mit den Füßen von der nassen Borke
ab.
Fluchend stand Sebastian kurze Zeit später wieder auf
festem Boden. Was war das für eine Nummer? Da stand er
die gefährlichsten Abenteuer durch, und dann lief er
Gefahr, sich beim Versuch, ihre Schuhe aus dem Baum zu
pflücken, fast noch das Genick zu brechen!
Nachdem ihre Füße in den Beinlingen Schutz gefunden
hatten, half Antarona beim Umzug des Lagers. Dabei
entledigte sie sich des Fells, dass Basti ihr umgehängt
hatte. Doch beim nächsten Gang bereute sie es schon.
Gerade sammelten sie ihre Fleischstreifen ein, die noch
über einem Gestell trockneten, als die Götter
endgültig ihre Wasserreservoirs öffneten.
Von einer Sekunde zur nächsten prasselte ein heftiger
Regen nieder, dass sie nicht einmal die Hand vor Augen
sehen konnten. Binnen einer Minute klebten Sebastian Hemd
und Hose wie eine zweite Haut am Körper. Es wurde sofort
empfindlich kühl, und der aufkommende Wind tat das seine
dazu, dass er zu frieren begann.
Noch ärger wurde es für Antarona, die nur mit dem
Unterteil ihres Lederschurzes bekleidet, unter dem
rauschenden Regenguss hin und her sprang, um ihre
Habseligkeiten von Felsnasen, Ästen und Zweigen zu
zerren, um sie in Sicherheit zu bringen.
Ihre langen Haare klebten ihr klatschnass auf dem Leib,
der Lederschurz hatte sich mit Wasser vollgesogen und
haftete wie angenagelt an ihren Schenkeln, und ihr
zierlicher Körper dampfte wie eine rauchende Fackel. Sie
kümmerte sich jedoch nicht darum, machte unbeirrt
weiter. Ihre nasse Haut glänzte bei jedem Blitz
unnatürlich blau und violett, und sie sah aus, wie ein
Chamäleon, das gerade vom Baden kam.
Bald lagen nur noch wenige, unempfindliche Dinge im Gras
herum, die aber im Wasser unterzugehen drohten. Es
regnete so gewaltig, dass der Boden nach kurzer Zeit
keinen Tropfen Wasser mehr aufnehmen konnte. Es bildeten
sich riesige Pfützen, die sich vergrößerten, sich
fanden, zusammenschlossen, und schließlich eine
durchgehende Seenlandschaft bildeten.
Dazwischen sprang ein nacktes Mädchen wie eine tanzende
Mücke herum, und klaubte die letzten Dinge, wie
Werkzeuge, geflochtene Stricke und anderen Kleinkram auf.
Sebastian hielt es für ein Risiko, so zwischen den
Blitzkaskaden herumzuhüpfen und schnappte sein
Krähenmädchen zum zweiten Mal.
Strampelnd protestierte sie und versprach ihm dafür die
Augen aus den Höhlen zu kratzen, wenn er sie nicht
augenblicklich wieder herunter ließ. Sebastian aber nahm
lieber Vorlieb mit einem kratzenden Frauenzimmer, als mit
einer vom Blitz gebratenen Frau.
Kompromisslos trug er sie zum Felsüberhang hinauf,
setzte sie nicht gerade sanft auf den trockenen Boden,
warf ihr erneut ein Fell um und sagte streng:
»Diesmal lässt du deinen kleinen Hintern gefälligst im
Trockenen, sonst werde ich ihn dir verhauen, bis er
glüht!« Ihre Augen blitzten auf, und wütend fuhr sie
ihn an:
»Versucht es nur, Ba - shtie - laug - nids, versucht es
nur, dann werdet ihr eine böse Überraschung erleben!«
Sie wollte ihm noch etwas hinzufügen, doch Basti packte
sie und presst ihr seine Lippen auf den Mund. Er küsste
sie so lange, bis er spürte, dass sie sich entspannte
und ihr allmählich die Luft ausging.
Nach Luft ringend saß sie da, ihre Lungen hoben und
senkten die verführerischen Brüste wie ein
Schiffsdiesel seine mächtigen Hubkolben. Unter nassen
Haarsträhnen funkelten ihre angriffslustigen Augen
hervor.
»So, und nun hörst du zur Abwechslung mal auf das, was
ich sage, sonst binde ich dich an den Felsen!« drohte er
ihr ohne jede wirkliche Ernsthaftigkeit.
»Wenn ihr es schafft..,« gab sie nur warnend zurück,
zog das Fell aber bereitwillig um ihre Schultern
zusammen.
Offenbar hatte sie eingesehen, dass ihr Mann recht hatte.
Sie fügte sich seinem Urteil, und war schließlich froh,
nicht noch einmal in den eiskalten, himmlischen
Wasserfall hinaus zu müssen. Sebastian hingegen huschte
noch einmal in den wild prasselnden Regen, um ein par
Steine für eine Feuerstelle zu holen.
Anschließend suchten beide nach ihrer Zunderbüchse.
Doch alles, was sie besaßen, war nass, oder zumindest
feucht geworden. Notdürftig begann er mit seinem
Bowiemesser hauchdünne Späne von einem Stück hartem
Feuerholz zu schnitzen.
Diese Arbeit gestaltete sich in der feuchtwarmen Luft so
schweißtreibend, dass Hemd und Hose gar nicht trocknen
wollten, und er sie kurzerhand auszog, und über eine
Felskante hängte. Während er den Feuerstein heftig
gegen das Bowiemesser schlug, um Funken zu erzeugen,
wollte Antarona seine Kleider richten. Dabei fiel ein
Beutelchen aus seiner Hosentasche direkt in ihren Schoß.
Sie warf einen verstohlenen Seitenblick auf ihren Mann,
und stellte zufrieden fest, dass er voll auf die
Beschäftigung konzentriert war, ein Feuer zu entfachen.
Sogleich wollte sie es wieder zurückstecken, fühlte
aber die harten Quarts darin, die ihr ungewöhnlich groß
und schwer vorkamen. Sie war nicht nur Sonnenherz, die
Kriegerin, sondern auch Antarona, die Frau, mit eben den
typischen Eigenschaften dieser Spezies ausgestattet, der
Neugier.
Vorsichtig ließ sie die Quarts in ihre kleine Hand
purzeln, und war überrascht. Gleichzeitig verriet sie
der melodische Klang der Metallringe, und ließ Sebastian
aufschauen. Antarona fühlte sich ertappt. Sie machte
sich nicht mehr die Mühe, unschuldig und staunend zu
tun.
»Ba - shtie, wollt ihr Sonnenherz verraten, woher ihr
diese Quarts habt? Bental wird sie euch kaum gegeben
haben, der er selbst hat jeden Besitz der Tränen der
Götter verboten. Wie kommt ihr dazu, und was habt ihr
damit vor?« fragte sie fordernd.
Fieberhaft suchte Sebastian nach einer Antwort, doch eine
plausible Erklärung wollte ihm nicht einfallen. Er
fühlte sich ebenfalls ertappt, weil er es bewusst
unterlassen hatte, Antarona von dem wertvollen Fund in
den Habseligkeiten der schwarzen Krieger und Harlunds zu
erzählen.
»Ach, die hatten Torbuks Mordgesellen bei sich«,
versuchte er die Existenz der Quarts herunterzuspielen,
»ich habe sie aufbewahrt, als Beweis für die Allianz
zwischen Fürst Jamálin und Torbuk, und dafür, dass sie
bereits Spione und Meuchelmörder anheuern.«
Ein wenig hatte Sebastian das Gefühl, seine Frau belogen
zu haben, doch er redete sich ein, mit diesem Argument
durchaus den Tatsachen zu entsprechen. Doch würde er
Bental von den Quarts bereichten, so würde dieser das
Ringgeld aus den Tränen der Götter von ihm einfordern.
Sebastian wollte die Quarts aber nicht wieder hergeben.
Für ihn waren die wertvollen goldenen Ringe ein
begehrtes Objekt, mit dem man manchen Verstockten zum
Reden bringen konnte, mit dem sich mancher Gegner
bestechen ließ, und mit dem man auch sonst allerlei
Möglichkeiten hatte, die einem ohne diesen Anreiz nicht
eröffnet wurden.
»Es sind die Tränen der Götter, Ba - shtie, das
Metall, das die Menschenwesen böse und hinterhältig
werden lässt«, stellte Antarona vorwurfsvoll fest.
»Wir werden das böse Metall in den Bach werfen«,
bestimmte sie, »das Unwetter wird es fortspülen und es
wird den Menschenwesen kein Leid mehr zufügen!«
»Nein, das werden wir nicht tun«, entgegnete Basti mit
gebieterischer Stimme, »ich werde diese Tränen der
Götter behalten! Sie werden uns noch sehr nützlich
sein.« Er sah Antarona eindringlich an und fuhr fort:
»Vielleicht können sie einmal bewirken, dass einer von
Torbuks Leuten die Seiten wechselt, und uns zunutze wird.
Diesen Trumpf werde ich nicht einfach in einen Bach
werfen.« Dann zuckte er gespielt gleichgültig mit den
Achseln und sagte emotionslos:
»Aber wenn du mir nicht traust, so kannst du die Quarts
ruhig an dich nehmen, sie werden allmählich ganz schön
schwer, und ich bin froh, wenn ich sie nicht ständig
tragen muss.« Antarona biss sich auf die Unterlippe und
stopfte die goldenen Ringe wieder in das Beutelchen, das
sie ihm schnell hinüber reichte, als hätte sie sich die
Finger daran verbrannt..
»Nehmt ihr sie nur, Ba - shtie«, lenkte sie rasch ein,
»Sonnenherz bedarf nicht der Tränen, welche die
Menschenwesen falsch machen. Wenn ihr sie zum Wohl der
Îval verwendet, so will euch Sonneherz dies nicht
abtun!«
Sebastian nahm eine geflochtene Lederschnur, band sich
diese um die Hüfte, und knüpfte das Ledersäckchen
seitlich daran fest. Antarona vermochte mit den goldenen
Quarts nichts anzufangen, und so existierten sie ab
diesem Moment für sie nicht mehr.
Währenddessen regnete es unablässig und ungewöhnlich
stark. Kleine Rinnsale entstanden, ergossen sich über
den Felsen und über den Überhang. Kleine Wasserfälle
platschten vor ihren Füßen auf den Boden und spritzten
nach allen Seiten. Ein Feuer wurde immer sinnloser.
Statt dessen schichtete Basti eine Vielzahl von Steinen
unter der Kante des Überhangs auf, um das Spritzwasser
abzuhalten. Pitschnass und mit dampfendem Körper kroch
er anschließend zu Antarona unter die Felle. Sie hatte
inzwischen ein gemütliches, trockenes Lager
hergerichtet, und empfing ihn mit dem verführerischen
Duft ihrer Wärme.
Ihre frierenden Körper drängten sich aneinander, und
rieben sich mit verlangenden, fordernden Bewegungen
trocken. Eine Weile zählten sie noch die Blitze, die
durch den dichten Schleier des strömenden Regens
zuckten, lauschten dem Krachen und Donnern, das für
Sekunden das permanente Rauschen unterbrach, bevor sie
ineinander verschlungen einschliefen...
Der Morgen weckte sie mit einer Sonne, die Mühe hatte,
ihre Strahlen durch dichten Dunst zu schicken. Das Land
dampfte und es so aus, als kochte die Erde. Dampfschwaden
stiegen auf, erhoben sich bis zu einer bestimmten Höhe,
und schienen dann still zu stehen.
Es roch nach frischer Erde, nach Gras und Wald. Den
schweren Duft nach Blüten hatte der Regen aus der Luft
gewaschen. Das Gras der Weiden lag niedergestreckt unter
der Last Millionen funkelnder, glitzernder Wassertropfen,
und die Wiesen sahen aus, als hätte einer der Götter in
der Nacht überall Diamanten verstreut.
Sehr viel hatte es sich nicht abgekühlt, dafür stand
die Luft vor Feuchtigkeit. Antarona und Sebastian lugten
unter den Fellen hervor, und sogen die Luft ein, die den
würzigen Duft des Waldes herübertrug, aber schon wieder
Wärme speicherte.
Basti kroch aus dem Fellhaufen, stieg über den
Spritzwasserschutz, und reckte sich genüsslich vor dem
Überhang. Ungeachtet ihrer Blöße tat es Antarona ihm
nach. Ungeniert reckte sie ihre Arme gen Himmel und
ordnete grob ihre wirr herabhängenden, Haarsträhnen.
Müde hockte sie sich ins Gras, zog die letzten
Regentropfen von den Halmen, und wusch sich damit das
Gesicht. Die Erfrischung weckte ihre Lebensgeister.
Übermütig streifte sie eine Hand voll Wasser von den
Gräsern und schleuderte sie Basti ins Gesicht.
»Wascht euch gefälligst erst einmal, bevor ihr Talris
und einem neuen Tag huldigt«, rief sie ihm spitzbübisch
zu. Basti zuckte unter der kalten Dusche zusammen und
holte tief Luft.
»Na warte, du kleine Hexe, dir werde ich helfen!« Er
schnappte sie sich, warf sie zu Boden uns wälzte sie
durch das nasse Gras. Schneller als er sprang sie wieder
auf die Beine und stieß ihn in eine Vertiefung im Boden,
in der sich reichlich Regenwasser gesammelt hatte.
Prustend kroch er wieder daraus hervor, und sann nach
Rache. Er mochte ihren unbeschwerten Übermut, doch so
viel Frechheit musste abgekühlt werden. Erneut packte er
sie um die Taille und warf sich ihren leichten,
strampelnden Körper über die Schulter.
Antarona ließ es quiekend vor Freude geschehen. Basti
wusste aber, dass er, wenn sie es nicht gewollt hätte,
nicht die geringste Chance gehabt hätte. Sie war viel zu
gelenkig, wendig und schnell. Während sie ihm mit
trommelnden Fäusten auf seinem Rücken Widerstand
vorspielte, hielt er ihre Hüfte mit einem Arm fest
umklammert und sorgte mit der anderen auf ihrem Po für
das Gleichgewicht seiner ausgelassenen Fracht.
Als sie bemerkte, dass er die Richtung zum Bach hin
einschlug, wurde sie noch wilder, wirbelte mit den Beinen
herum, ihre Krallen fuhren über seinen Rücken und sie
fauchte, wie eine gereizte Raubkatze.
»Das tut ihr nicht, Ba - shtie, das wollt ihr nicht tun,
Sonnenherz wird euch die Haut vom Leib kratzen, wenn ihr
das wagt!« Sebastian ließ sie ruhig weitertoben,
klatschte ihr leicht auf den Hintern und sagte fröhlich:
»Und ob ich das tun werde, wirst schon sehen, und
Sonnenherz wird gar nichts dagegen machen können! Sie
wird ein schönes, erfrischendes Bad nehmen, bis ihr
Temperament wieder etwas abgekühlt ist, und sie ihrem
Mann wieder den nötigen Respekt erweist!«
»Das könnt ihr vergessen, Mann mit den Zeichen der
Götter«, kreischte sie ohne wirklichen Zorn, »lasst
Sonnenherz sofort runter, oder ihr werdet es bereuen!«
Sebastian lachte laut und wurde nun selbst übermütig.
»Das kannst du vergessen!« äffte er sie übertrieben
nach. »Du wolltest, dass ich mich erst einmal wasche?
Das kannst du haben, mein Engelchen, aber nur mit dir
zusammen!« Inzwischen hatten sie eine seichte, sandige
Furt am Bach erreicht. Die Strömung war hier geringer,
als im steinigen Bett des Gewässers, dafür aber durch
das vom Regen verursachte Hochwasser, tiefer als sonst.
In hohem Bogen warf Basti sein Krähenmädchen in die
kühlen Fluten und hechtete selbst hinterher. Die
Abkühlung bei den schwülen Wetter tat unheimlich gut.
Er breitete die Glieder aus, atmete befreit durch und
ließ seinen Körper vom frischen Strom umspülen.
Wie ein Fisch tauchte Antarona wieder aus dem
dahinsprühenden Wasser auf. Sie hob eine Hand und rief
ihm zu:
»Passt auf, Ba - shtie - laug - nids, dies sind Pfeile
der schwarzen Reiter!« Damit öffnete sie ihre kleine
Faust und ließ kleine Steinchen, die sie vom Grund
aufgelesen hatte in seine Richtung fliegen. Sebastian
reagierte zu spät. Schmerzhaft trafen die kleinen
Geschosse seinen Körper und es fühlte sich tatsächlich
so an, als trafen ihn ein Schwarm Pfeile.
»Na warte, das wirst du mir büßen«, drohte er spaßig
hinüber und tauchte ab, um ebenfalls ein par Steine vom
Grund zu holen. Schnaufend kam er wieder hoch, und wurde
sogleich erneut von einem Steinchenhagel eingedeckt.
»Pah, da müsst ihr schon früher aufstehen«,
triumphierte Antarona keck. Doch nun hatte Sebastian eine
Hand voll Steinchen und warf sie in ihre Richtung hoch in
die Luft. Noch während die kleinen Pfeilattrappen in
hohem Bogen auf das Krähenmädchen zuflogen, verschwand
sie unter der Wasseroberfläche. Die Steinchen platschten
unverrichteter Dinge ins Wasser.
Nun aber war Basti auf der Hut. Sofort tauchte er wieder
ab und sammelte neue Munition vom Grund des Baches. Dann
steckte er kurz den Kopf aus dem Wasser, um zu sehen, wo
sich seine gespielte Gegnerin befand, ließ sich aber
sofort wieder unter die Wasserfläche sinken. Keine
Sekunde zu früh. Er sah noch, wie ihre gedachten Pfeile
auf dem Wasser aufschlugen, ohne ihn aber zu treffen.
So ging das eine ganze Weile, und allmählich fanden sie
beide Spaß an dem neuen Spiel, das Kampftraining und
Abkühlung gleichermaßen war. Mal trickste Antarona, und
er bekam die volle Ladung ab, mal war er im Vorteil und
traf noch ihre Beine, während sie schon wieder
abtauchte.
Im Schlagabtausch ihrer Angriffe mit simulierten Pfeilen
verging die Zeit wie im Flug und selten hatten sie so
viel Spaß miteinander, wie an diesem Morgen. Antarona
war es aber bald leid, nur mit Steinchen zu werfen. Sie
dachte sich ein neues Spiel aus.
Als wollte sie eine neue Hand Steinchen heraufholen,
tauchte sie unter, gerade, als Sebastians Geschosse auf
dem Wasser aufschlugen. Sie krallte ihre Finger in den
Sand des Bachgrunds und zog sich unter wasser vorwärts,
in die Richtung, wo sie Basti zuletzt gesehen hatte.
Er aber hatte sich beeilt, neue Steinchen in beide Hände
zu bekommen, und wartete regungslos auf das Auftauchen
seiner Spielgefährtin. Doch die ließ sich diesmal
reichlich Zeit.
Antarona indes kämpfte getaucht gegen die Kraft des
fließenden Wassers. Wurde sie abgetrieben, so hatte sie
kaum mehr die Chance, Sebastian ungesehen aufzuspüren.
Hinter einem größeren, rund gewaschenen Felsen kam sie
vorsichtig hoch, wischte sich das Wasser aus den Augen
und spähte hinter dem nass glänzenden Stein hervor.
Nur wenige Schritte entfernt von ihr stand ihr gespielter
Feind bis zur Hüfte im Wasser. Er starrte auf die
Stelle, wo sie vorhin verschwunden war. Schnell ließ sie
sich wieder auf den Grund sinken. Brauchte sie zu lange,
dann glaubte er am Ende noch, sie wäre ertrunken.
Gegen den kräftigen Strom zog sie sich von ihm fort, zum
Ufer hin. Die Abdrift durch die Strömung musste sie
genau vor seine Beine führen. Sie musste nicht lange
suchen. Im aufgewühlten, von Millionen winziger
Luftbläschen durchzogenen Wasser tauchte er plötzlich
vor ihr auf.
Na der sollte sich wundern! Sie streckte die Arme aus,
bereit, mit ihren Krallen zuzupacken. Um ihn mit
kräftigem Schwung zu attackieren, grub sie ihre Zehen in
den Grund und stemmte sich ab. Doch genau in diesem
Augenblick spürte sie, wie zwei Hände wie Klammern ihre
Taille umfassten und sie aus dem Wasser rissen.
Angestrengt hatte Sebastian die Stelle im Auge behalten,
an der seine Frau untergetaucht war. Er wartete,
jederzeit in der Lage, seine gedachten Pfeile auf
Antarona niedersausen zu lassen. Doch sie tauchte nicht
wieder auf. Erst glaubte er an einen Trick, dann machte
er sich ernsthaft Sorgen.
Hatte sie den Halt verloren? War sie in der Strömung
abgetrieben, flussabwärts, wo das Bachbett wieder tiefer
und enger wurde, und die Strömung gefährlich schnell?
Er blickte Strom abwärts, sah aber nur das weiß
spritzende Wasser wild und ungezügelt gegen Felsen und
Steine anbranden. Wenn sie dort hineingeraten war...
Er wollte eben aus dem Wasser steigen, und nach ihr
suchen, als etwas Dunkles unter der Wasseroberfläche auf
ihn zu glitt. Es sah aus wie eine schwarze Qualle, oder
ein vielarmiger, dunkler Krake. Dann fiel es ihm wie
Schuppen aus den Augen:
Antaronas lange, schwarze Haare! Die kleine raffinierte
Kröte hatte ihn tatsächlich ausgetrickst! Sebastian
reagierte sofort. Er griff ins Wasser, bekam ihre schmale
Taille zu packen, und hob sie hoch.
»Was für einen seltsamen Fisch wir da gefangen
haben..!« rief er mit gespieltem Erstaunen aus.
Antarona, die sich ihrer Sache sicher war, zappelte
tatsächlich wie ein Fisch auf dem Trockenen.
Sie versuchte erst, ihren glitschigen, nassen Körper
seinen Händen zu entwinden, gab es aber schließlich
auf. Statt dessen begann ihr Herz noch heftiger zu
pochen, als in der Spannung des Angriffs, sie spürte
seine kräftigen Arme und wollte nichts anderes, als von
ihnen verführt zu werden...
Eine Stunde später, erfüllt von innerer Glückseligkeit
trug Basti ihren ermatteten, fröstelnden Leib in das
Lager zurück. Nach ihrem verschwiegenen Abenteuer im
eiskalten Bach, kam ihnen die drückende, feuchte Wärme
plötzlich ganz angenehm vor.
Ohne, dass sie es gemerkt hatten, war die Zeit
verstrichen. Sie hatten einen ganzen Morgen vertrödelt.
Nun mussten sie sich beeilen, zum Felsen und zur selbst
angelegten Kampfarena zu kommen. Rasch legten sie noch
ein par Dinge zum Trocknen aus, nahmen sich jeder zwei
Stück Trockenfleisch in die Hand und hängten sich ihre
Waffen um.
Kauend durchzogen sie das nasse Gras. Immer wieder traten
sie in verborgene Tümpel und Pfützen, da der Boden das
viele Regenwasser noch nicht vollständig aufnehmen
konnte. Sebastian ging, wie Antarona, mit bloßen
Füßen. Seine Stiefel hatte er sich mit den
Lederbändern um den Hals gehängt.
Schon bevor sie den Trainingsplatz erreichten, sahen sie
Thorbalds Silhouette von Weitem auf und ab wandern. Er
hatte bereits längere Zeit gewartet, und sich die Zeit
damit vertrieben, das Gras der Arena erneut
niederzudrücken.
Zunächst wunderte sich Sebastian, dass Arnhold nicht
mitgekommen war. Doch Thorbald berichtete, dass Hetarus
nach dem Unwetter jede Hand brauchte, um das Lager wieder
herzurichten. Auch die Heerlager waren von den heftigen
Hagelschauern, von Sturm und Regen nicht verschont
geblieben.
Die meisten Zelte von Hetarus Heerlager waren beschädigt
worden. Einige hatte der Sturm regelrecht zerrissen. Im
anderen Heerlager über den roten Flühen wurden einige
Zelte vom Wind über die Felskante gefegt. Wie durch ein
Wunder war kein Krieger verletzt worden.
Doch nun standen die Kampfübungen im Vordergrund.
Sebastian überließ Antarona die Bühne. Sie hatte aus
ihm einen Krieger gemacht, der all ihre Finessen
beherrschte, und würde auch Thorbald sehr schnell ihre
Kunst vermitteln.
Sie verlor dabei nicht unnötig viele Worte, sondern kam
gleich zur Sache. Kaum hatte Thorbald sein Übungsschwert
in der Hand, schon hatte sie ihn blitzschnell wieder
entwaffnet. Anschließend zeigte sie ihm in langsam
ausgeführten Bewegungen, wie sie es gemacht hatte,
welche Drehung sie ausgeführt, und welche Finte sie
gleichzeitig angewandt hatte.
Thorbald sah sich alles ganz genau an und probte selbst
die gezeigten Übungen, zunächst langsam, bedächtig,
später immer schneller, bis die Bewegungen fließend in
Fleisch und Blut übergingen.
Der junge Krieger kämpfte im leichten Kettenhemd,
Antarona in ihrem Lederschurz. Sebastian hatte darauf
bestanden, dass sie ihr Oberteil anzog. In den
Kampfpausen wusste Thorbald ohnehin schon nicht mehr,
wohin er schauen sollte.
Antarona war nur Lehrerin, dennoch war sie eine Frau, die
jedem Mann sofort die Sinne rauben konnte. Basti wusste
das, und ließ die beiden nicht eine Minute aus den
Augen. Er hielt sich im Hintergrund, beobachtete aber mit
Argusaugen das Geschehen.
Sie trainierten bis in den Nachmittag hinein.
Zwischendurch löste Sebastian sein Krähenmädchen ab,
um Thorbald Gelegenheit zu geben, das Gelernte
anzuwenden. Für Basti war es ebenfalls eine willkommene
Übung.
Der junge Krieger erwies sich als gelehriger Schüler.
Bald beherrschte er die ersten Drehungen im Zusammenhang
mit Hieben und Streichen. Es wurde klar, dass er im
Vorteil war, weil er den neuen Tanz an den Elsirenfeuern
einstudiert hatte. Die Grundbewegungen waren auch die
Voraussetzung für den Kampfstil Antaronas.
Abends genossen Antarona und Sebastian ihre Zweisamkeit.
Oft spielten sie im Bach das Spiel der vielen Pfeile.
Dabei entwickelten sie immer neue Tricks und Varianten,
um den Gegner zu täuschen und in die Irre zu führen.
Nebenbei gingen sie auf die Jagd, räucherten und
trockneten Fleisch, und Antarona fand sogar Zeit, ihre
und Bastis Kleidung zu flicken. Sebastian verfasste
alsbald eine Botschaft an König Bental. Er schilderte
darin die Vorfälle, wie den Angriff auf Antarona und die
Aussagen des Gefangenen, sowie seine Befürchtungen dazu,
die Bental bereits kannte.
So zogen sich vier Wochen in diesem immer gleichen
Rhythmus hin, ohne dass weitere Vorkommnisse stattfanden,
die der besonderen Erwähnung bedurften. Zwischenzeitlich
kam auch Arnhold zu den Übungsstunden. Es ergab sich
einfach, und Sebastian hatte die Hoffnung, dass sie durch
zwei Schüler schlussendlich eher fertig werden würden.
Anfangs machte Sebastian seine Eifersucht enorm zu
schaffen. Doch bald erkannte er mit Gewissheit, dass
Antarona nur Blicke für ihren Mann mit den Zeichen der
Götter hatte. Mit den jungen, in der Liebe und dem Leben
unerfahrenen Burschen fand sie keinerlei Gemeinsamkeiten.
Nachdem Sebastian weder vom König, noch vom Rat von
Falméra eine Antwort auf seine Depesche bezüglich der
Vorfälle mit Torbuks Reitern erhalten hatte, brannte ihm
die Zeit unter den Füßen. Er zeigte es nicht, doch
unbewusst drängte er darauf, die Ausbildung Thorbalds
und Arnholds abzuschließen, damit sie zur Burg
zurückkehren konnten.
Sebastian wollte selbst mit Bental unter vier Augen
sprechen. Möglicherweise war seine Botschaft nicht
aussagekräftig genug gewesen, um Bental und den Rat zum
Handeln zu bewegen. Außerdem hegte er die Hoffnung,
Arrak könnte inzwischen mit zuverlässigen Informationen
zurückgekommen sein. Längst war der Anführer der
Windreiter überfällig. Alles in allem fühlte sich
Sebastian zur Tatenlosigkeit verurteilt, während er
seine Zeit als Zuschauer der Kampfübungen vertat, oder
als gelegentlicher Sparringpartner Thorbalds.
Andererseits mochte er Antarona und ihre Schüler nicht
allein lassen. Zu groß war noch die verborgene
Eifersucht, zu quälend der Gedanke, sein Krähenmädchen
könnte doch für einen Augenblick schwach werden, und
sich einem der jungen Krieger zuwenden.
So fügte sich Sebastian in die Situation, die er selbst
initiiert hatte. Nichts desto Trotz genoss er die
Nachmittage, an denen er mit seiner Frau auf die Jagd
ging, oder mit ihr das weite Tal, bis hinunter zur
Schlucht erkundete.
Er freute sich täglich auf die stillen Abende im
goldenen Schein der untergehenden Sonne, die sie in
verschwiegener Zweisamkeit verbrachten, und war ebenso
begeistert von ihren Pfeilspielen im Bach, bei denen sie
wiederum eine ganz neue Kampftechnik im Wasser
entwickelten, die ihnen vielleicht noch einmal zugute
kommen mochte.
Bis zum neuen Mond musste sich Basti gedulden. Dann,
nachdem sie ein par Mal von Thorbald besiegt worden war,
befand Antarona, dass sie ihm nichts Wesentliches mehr
beibringen konnte. Arnhold war zwar noch nicht ganz so
weit, doch er konnte fortan von seinem Kameraden lernen.
Thorbald war beinahe so perfekt geworden, wie Antarona
selbst, und Sebastian hatte es inzwischen aufgegeben,
gegen ihn im Kampf bestehen zu wollen. Ihre Mission war
damit so gut wie beendet. Nebenbei hatte der junge
Krieger bereits begonnen, selbst einige seiner Kameraden
aus den Heerlagern zu unterrichten.
Auf einer Waldlichtung zwischen den beiden Heerlagern
hatte er zwei neue Kampfarenen eingerichtet, und ließ
abwechselnd immer wieder andere Krieger gegeneinander
antreten. Sebastian, der die Anforderungslisten für
Proviant und Ausrüstung gegenzeichnen musste, staunte
nicht schlecht über den sprunghaft ansteigenden
Verbrauch von Übungsschwertern aus Holz.
Irgendwann blieb nichts weiter zu tun, als Thorbald bei
der Unterweisung der Krieger zuzuschauen. Deshalb
beschlossen Sebastian und Antarona zur Burg
zurückzukehren. Sie verbrachten noch einen Tag im Tal
mit Müßiggang, kramten ihre Habseligkeiten zusammen,
die sich während ihres Aufenthalts in ihrem Lager wie
von selbst verteilt hatten, und beseitigten die Spuren
ihrer Anwesenheit.
Vor der letzten Nacht im Lager suchten sie nach ihren
Pla-kas, die sich seit ihrer Ankunft einer neuen Freiheit
erfreuten. Sie fanden die Tiere in einem ausgetrockneten
Bachbett, das von der Felswand zur Schlucht verlief. Das
freie Leben schien ihnen gut zu tun, denn sie strotzten
vor Kraft und Gesundheit.
Nach einer ruhigen Nacht schnürten Antarona und
Sebastian beim ersten Sonnenlicht ihre Bündel, nahmen
ihre Waffen auf und begannen zum Hügelkamm aufzusteigen,
der das Tal vom großen Plateau trennte.
Trotzdem die Sonne noch nicht hinter den roten Flühen
hervorgekrochen war, brach ihnen der Schweiß schon nach
den ersten Metern aus den Poren. Sehnsuchtsvoll blickten
sie auf den Bach hinab, der sich als silbernes Band durch
das gelbgrüne Grasland schlängelte.
Sie dachten an die vielen Sonnenaufgänge, in denen sie
sich im kalten Wasser tummelten und sich bei ihrem
Pfeilspiel abkühlten. Sie vermissten schon jetzt das
freizügige, wilde Leben, das in der Burg dem Zwang
Bentals Protokoll weichen musste.
Um so mehr drängte sich wieder ihre Reise nach
Mehi-o-ratea ins Bewusstsein. Der heimliche Ruf der
Wildnis und nach Freiheit versetzte ihren Geist und ihre
Herzen mehr denn je in Aufruhr. Und beide hatten das
Bestreben, die Burg nach der Audienz beim König umgehend
wieder zu verlassen.
Oben am Hang angekommen, drehten sie sich noch einmal um.
Traurig sahen sie hinab, auf die Weiden, die Wälder und
den kleinen Fluss, die Lebensader des Tals - ihres Tals!
»Wir werden wiederkommen«, versprach Sebastian, der
Antaronas Gedanken erraten hatte, weil es ihn
gleichermaßen bewegte. Antarona sah ihn nachdenklich an.
»Wenn Ba - shtie und Sonnenherz zurückkehren, werden
sie nicht mehr allein sein«, prophezeite sie
geheimnisvoll. Doch Sebastian wusste, was sie meinte.
Wenn sie eines Tages wieder auf diesem Kamm stehen, und
zu Tal blicken würden, sollte, so ihnen die Götter
gewogen waren, auf einem Pla-ka ein kleines Bündel
aufgeschnallt sein. Ein kleines Bündel, das ein kleines,
neues Leben in sich barg. Ihre Tochter würde hier ein
Zuhause finden!
Basti ließ noch einmal prüfend sein Augenmerk über die
weißen Spitzen der Zelte gleiten. In den beiden
Heerlagern regte sich erste Betriebsamkeit. Das Training
der Krieger würde nun ohne jene beiden weitergehen,
welche bereits die Art des Kampfes einer unterlegenen
Kriegspartei revolutioniert hatten.
Doch nun nahmen sie erst einmal Abschied von diesem Ort,
der ihnen ein Stück Freiheit und Zweisamkeit beschert
hatte. Mit Zufriedenheit, aber auch mit Wehmut wandte
sich Sebastian dem großen Plateau zu, dass sie nun ohne
Pla-kas bewältigen mussten.
Drei Tage, rechnete Basti, würden sie über staubige
Steppe laufen. Drei Tage in der glühenden Sonne des
Falmérischen Sommers. Ihre Wasserschläuche waren wohl
gefüllt, dennoch würden sie das kostbare Nass streng
rationieren müssen.
Auf dem gesamten Plateau gab es keine Wasserstelle und in
den Wäldern links und rechts der Hochebene danach zu
suchen, hatten sie nicht die Zentaren. Antarona
schlüpfte in ein paar leichte, weiche Moccasin, die
gerade ihre Füße bedeckten, aber eine kräftige Sohle
besaßen.
Das von der Sonne zu Stroh getrocknete Gras, sowie die
kleinen und großen Steinchen stachen in die Fußsohlen.
Ohne Schutz an den Füßen hätten sie sich diese bald
blutig gelaufen. Sebastian erkannte, wie unentbehrlich
Pla-kas in diesem Gelände waren.
Die Steine und harten Grasbüschel machten ihre Wanderung
zu einem Eiertanz. Dabei war Antarona mit ihrer
Leichtfüßigkeit, und ihrer Fähigkeit, jeden ihrer
Schritte wie im Schlaf gezielt zu setzen, deutlich im
Vorteil. Sebastian hingegen stolperte mit seinen derben
Kampfstiefeln wie ein ungelenker Troll hinter ihr her.
Solange sie die aufgehende Sonne im Rücken hatten, kamen
sie gut voran. Doch mit jeder Zentare, die der glühende
Himmelsball dem Zenit entgegenwanderte, wurde auch die
Hitze größer. Das Land heizte sich auf. Wie in einem
Kessel staute sich die Wärme zwischen den Wäldern links
und rechts. Das Plateau wurde zum Glutofen.
Die Sonne hatte ihren Höhepunkt noch nicht erreicht, als
sie schwer atmend und nach Luft ringend, eine erste
längere Pause einlegen mussten.
»Wenn das so weiter geht, brauchen wir fünf Sonnen, bis
wir die Wälder der Burg erreichen. Bis dahin liegen
unsere Gebeine ausgedörrt in der Steppe«, bemerkte
Sebastian bitter, »vielleicht hätten wir unsere Pla-ka
doch nicht im Tal der roten Flühen lassen sollen.
Antarona entledigte sich ihres Oberteils und reckte sich
ausgiebig und Sebastian sah ihr mit wachsendem Verlangen
zu. Auch ihr Bündel schien mit ansteigender Hitze
schwerer zu werden. Sebastian betrachtete sie forschend.
Anscheinend wollte sie nur mit ihrem knappen Lederschurz
und den Moccasin an den Füßen weitergehen.
Und er selbst war ebenso versucht, sich die Kleider auf
das Bündel zu schnallen. Doch die Angst vor der intensiv
brennenden Sonne hielt ihn davon ab. Auf Balmers Alm
hatte er sich einmal einen kleinen Sonnenbrand
eingefangen. Wie mochte seine Haut erst in diesem
glühenden, schutzlosen Bratofen reagieren?
»Willst du so etwa den ganzen Weg zurücklegen?« fragte
er das Krähenmädchen zweifelnd. Skeptisch sah er sie
an.
»Die Sonne wird dir die Haut verbrennen, bis sie in
Streifen an dir herabhängen wird!« Er befürchtete
tatsächlich, dass die intensive Strahlung seine
zierliche Frau innerhalb eines Tages zu einem runzligen
Weib verdörren ließ.
Doch Antarona hob nur gleichmütig die Schultern, nahm
wieder ihr Bündel und die Waffen auf und meinte ziemlich
unbekümmert:
»Das Licht Talris schadet Sonnenherz nicht. Habt ihr
vergessen, dass sie bereits als Kind unter ihm lebte? Nie
hatte das Licht des Lebens Sonnenherz Haut ein Leid
zugefügt!«
Sebastian betrachtete seine Frau nachdenklich. Es war ihm
nie wirklich aufgefallen, doch nun schien es ihm um so
deutlicher ins Bewusstsein zu treten. Antarona war
während der ganzen Zeit, die sie im Tal der roten
Flühen verbracht hatten, unbekleidet herumgelaufen.
Die Tage waren nicht minder heiß, und sie war ständig
den Strahlen der Sonne ausgesetzt gewesen. Es hatte ihr
nichts ausgemacht. Er hatte auch nie beobachtet, dass sie
sich etwa mit einem Sonnenschutz eingerieben hätte.
Statt dessen, und das fiel ihm erst jetzt bewusst auf,
hatte ihre Haut einen deutlich dunkleren Teint bekommen.
Sie war beinahe so dunkelbraun geworden, wie ein Stück
sonnenverbranntes Arvenholz. Zum Vergleich sah er an sich
selbst herunter und stellte fest, dass er ebenfalls eine
augenfällig braune Hautfarbe bekommen hatte.
Im Tal war er genauso freizügig herumgelaufen, wie
Antarona. Da er die Intensität der Sonne dort nicht so
gespürt hatte, wie auf diesem Plateau, und sich auch
keine schmerzhaften Folgen eingestellt hatten, war ihm
auch nicht in den Sinn gekommen, etwas dagegen zu
unternehmen.
In seiner Welt wäre das nicht ohne lebensbedrohliche
Folgen geblieben. Auf Falméra jedoch war die intensive
Sonne anscheinend nicht schädlich. War hier die
Atmosphäre dichter, oder mit einem stärkeren Filter
ausgestattet? Lag es an der abklingenden Eiszeit, die das
Festland noch zum Teil beherrschte?
An dieser Stelle seiner Gedanken musste sich
zwangsläufig wieder die Frage aufwerfen, in welchem Teil
der Welt er sich befand, oder ob es überhaupt ein Teil
seiner bekannten Welt war. Aber Sebastian Lauknitz hatte
aufgegeben, darüber nachzusinnen.
Allmählich fragte er sich auch, ob das Leben, dass er
meinte, vorher geführt zu haben, überhaupt real war.
Seine moderne Wohnung in der Norddeutschen Stadt, der
ständig lärmende Autoverkehr unter seinem Fenster, die
Rohbauten, die er tagtäglich mit Verputz versah, das
alles kam ihm inzwischen nur noch wie ein klarer,
deutlicher Traum vor, wie etwas, das er sich eingebildet
hatte, und das immer mehr verblasste.
Doch das nackte, wunderschöne gebräunte Mädchen neben
ihm, die glühende Sonne, die auf eine ausgedörrte Ebene
brannte, sie waren ebenso real, wie der Durst, der ihn
plagte. Auch die Erlebnisse der letzten Tage waren
Wirklichkeit!
Sebastian schlug sich mit geballter Faust auf den
Oberschenkel und verzog schmerzhaft das Gesicht, als er
eine empfindliche Stelle seines Muskels traf. Aber er
wollte sicher gehen, dass er nicht gerade dieses
träumte. Er brauchte Gewissheit, dass er sich in der
Wirklichkeit befand.
Antarona beobachtete ihn und sah ihn fragend an, als
zweifelte sie mittlerweile an seinem Verstand. Vermutlich
dachte sie gerade darüber nach, ob ihm das Licht Talris
nicht doch das Gehirn verbrannt hatte.
»Ba - shtie, sind es Talris und seine Götter, welche
euch dazu bringen, euch zu geißeln«, fragte sie
verwundert.
»Muss Sonnenherz anfangen, sich Sorgen zu machen? Sorgen
um euch, Ba - shtie?« Er machte eine fahrige
Handbewegung, die wohl bedeuten sollte, dass sie
vergessen sollte, was sie eben gesehen hatte. Statt
dessen schlug er vor:
»Vielleicht sollten wir zum Wald der wandernden Sonne
hinübergehen, und unseren Weg im Schatten der Bäume
fortsetzen?«
»Ba - shtie, wir würden die Hälfte der Zentaren einer
Sonnenreise verlieren«, gab Antarona zu denken, »zudem
geht es sich zwischen den Bäumen langsamer, als auf den
verbrannten Weiden!«
»Aber möglicherweise finden wir dort eine Quelle und
müssen nicht erleben, wie uns die Zungen am Gaumen
festkleben«, warf er konternd ein. »Und wir haben
Schatten, was bedeutet, dass wir nicht so rasch müde
werden, außerdem bieten die Bäume Deckung vor...«
»Was Sonnenherz und euch verbirgt, versteckt auch
Feinde!« entgegnete sie. »Auf der Ebene sind Feinde
jedoch zu sehen, lange bevor sie zu einer Bedrohung
werden!« Sebastian wurde bald klar, dass Antarona nicht
viel davon hielt, einen Umweg durch die Wälder zu
machen. Doch plötzlich lenkte sie ein:
»Beobachtet einer aber die Ebene aus der Deckung der
Bäume heraus, so ist er im Vorteil, auch wenn die Feinde
vielzählige ist«, erklärte sie. Basti begrüßte diese
sinneswandlerische Einsicht und änderte abrupt seine
Marschrichtung.
Der Wald schien bereits zum Greifen nahe. Trotzdem
brauchten sie nicht weniger, als schätzungsweise vier
Stunden, bis sie zwischen die locker stehenden,
mächtigen Laubbäume traten, die angenehm vor der
brüllenden Sonne schützten.
Sogleich verstaute Antarona ihre Moccasin wieder in ihrem
Bündel, denn der Boden im Schutz der Bäume war kühl,
und das Laub weich und feucht. Die Sonne hatte es nach
dem Unwetter noch nicht geschafft, die alte, auf der Erde
liegende Blätterschicht zu trocknen.
Geräuschlos und schnell federten Antaronas nackte Füße
über den Waldboden, der selbst unter ihrem wenigen
Gewicht nachgab. Ihre Augen huschten ihren Schritten
voraus, registrierten Spuren, Heilkräuter und verborgene
Stolperfallen, wie von Blättern verdeckte Äste.
Auf diese Weise schlichen sie dicht am Waldrand entlang,
bis die Sonne schräg durch das Blätterdach einfiel und
mit goldenem Licht die dicken Stämme bestrich. beide
spürten sie, dass es Zeit war, sich nach einem
Lagerplatz für die Nacht umzusehen.
Direkt am Waldrand zu lagern, war zu riskant, wenn sie
ein Feuer machen wollten. Den Schein würde man von der
Ebene aus kilometerweit sehen. Andererseits konnte sich
jedes Geschöpf vom Wald her anschleichen, ohne dass sie
seiner gewahr wurden.
Also drangen sie tiefer in den Forst ein. Irgendwann, es
begann schon zu dämmern, gelangten sie zu einer weiten
Lichtung, die von einer Felsformation beherrscht wurde.
Die ringförmige Anordnung der Steinblöcke glich mit
etwas Phantasie einer Burg, hinter deren Mauer man sich
leicht verbarrikadieren konnte.
Welche Laune der Natur diese Felsen wie eine riesige
Feuerstelle auf die Lichtung gestreut hatte, blieb
Sebastian verborgen. Aber sie eignete sich hervorragend
als Nachtquartier, und erinnerte ihn an eine ähnliche
Formation, die er auf seinem Weg von Högi Balmers Alm
ins Tal von Val Mentiér gefunden hatte.
Solche Felsburgen mochten alles mögliche sein.
Landmarkierungen, von den alten Göttern angelegt, über
Jahrmillionen auserodierte Lavaschlote, oder auch nur
zufällige Phänomene der Natur. Sebastian nahm sie
dankbar an.
Seine Frau hingegen wurde stets von gesunder Skepsis
getrieben. Sie suchte die Umgebung nach Spuren ab, um
festzustellen, welche Wesen des Waldes sich regelmäßig
in der Nähe dieser Felsenburg herumtrieben.
Nachdem sie befand, dass keine Gefahr zu erkennen war,
zwängte sie sich durch die eng aneinander liegenden
Felsen und warf ihr Bündel, sowie einen Arm voll
Feuerholz in die Mitte des Steinforts, dessen innere
Grasfläche im Durchmesser etwa sechs bis sieben Meter
maß.
Schneller als erwartet, ging die Sonne unter und es wurde
schlagartig dunkel. Auf einem mal hielt der Wald den Atem
an. Verstummt war jedes Geräusch. Kein Vogel sang mehr,
keine Zikade zirpte, selbst der Wind schien plötzlich
still zu stehen. Es war beinahe unheimlich und Sebastian
sah sich verwundert um.
Antarona hielt ebenfalls für ein par Atemzüge in ihrer
Geschäftigkeit inne, und ließ diesen Moment auf ihre
Sinne wirken. Am Ende eines jeden Tages, gerade um die
Zentare, da die Sonne hinter dem Horizont verschwand,
entstand in dieser Welt ein Moment der Stille, der das
Licht an die Dunkelheit übergab.
War der Wechsel, der nur ein par Minuten andauerte, erst
einmal vollzogen, begannen die Stimmen der Natur wieder
ihr vielfältig klingendes Konzert, und wie Basti
empfand, lauter als zuvor. Es war die Zentare, so verriet
ihm das Krähenmädchen, in der die Menschenwesen und die
Tiere den Göttern dankten, dass sie den Sonnenlauf
erleben durften.
Mit zunehmender Dunkelheit wurde es trotz eines kleinen
Feuers empfindlich kühl in ihrem Steinkreis. Müde und
abgeschlagen von der Wanderung in des Tages Hitze krochen
sie alsbald unter ihren Fellhaufen.
Die Sonne warf wie ein Lanzenritter ihre ersten Strahlen
durch das Blättergespinst der Bäume. Ein leichter
Dunst, der im Wald hing, ließ die Lichtbahnen wie eine
Lasershow wirken, an die sich Sebastian aus seiner Welt
erinnerte.
Dort wo Talris Licht den Boden berührte, begann das
nasse Laub zu dampfen. Kleine Nebelschwaden zogen
zwischen den Stämmen dahin, brachen das Licht,
zerstreuten es, oder ließen die Strahlen geheimnisvoll
leuchten.
Dennoch fror Sebastian in der kalten, frischen Luft des
Morgens, als er sich dehnend und streckend aus dem
Fellhaufen quälte. Schwankend lehnte er sich an einen
Baumstamm. Er spürte die feuchte Rinde in seinem
Rücken, seine Füße fühlten den kühlen
Blätterteppich auf dem Waldboden.
Er nahm einen großen Zug aus dem Wasserschlauch, sah wie
nebenbei über den Rand des Steinkreises und vergaß das
Wasser in seinem Mund hinunter zu schlucken. Im dichten
Dunst der nassen Wiese zogen riesige, sich gemächlich
bewegende Schatten an ihrem Felsfort vorbei.
Ab und zu drang ein Grunzen, wie von einem zufriedenen
Schwein durch den Nebel zu ihm herüber. Als ein leichter
Windzug über die Lichtung fuhr, und den Dunstschleier
für einen Augenblick hob, sah er sie! Eine Herde
mächtiger Wildrinder, ähnlich einem Wisent, oder
Auerochsen, nur viel größer, trottete friedlich äsend
über die Waldoase.
Sebastian hielt den Atem an. Wohl stand er für die Tiere
unerreichbar hinter der Felsbarriere und musste keine
Angst haben, dass ihn ein wütender Bulle in den
Waldboden trampelte, er wollte die Tiere aber auch nicht
verschrecken. Viel zu faszinierend war der Anblick, der
sich ihm bot.
Mächtige, dunkelbraune und zottige Leiber mit einem
Stockmaß von wenigstens drei Metern schoben sich
scheinbar schwerfällig durch das hohe Gras. Dazwischen
sprangen ein par Jungtiere umher, die jedoch so groß
waren, wie ein ausgewachsenes Rind in Bastis Welt.
»Pò-ná-ka«, flüsterte ihm Antarona zu, die
plötzlich neben ihm aufgetaucht war. Nur mit ihrem
Lederschurz bekleidet stand sie da, die Arme vor ihren
bloßen Brüsten verschränkt. Ein Windhauch bewegte
leicht die Federn in ihrem Haar.
Sebastian dachte daran, wie es gewesen wäre, einen
Fotoapparat zu haben. Ein Bild von Antarona, einer
weißen Indianerin, so rein und natürlich, wie die
Götter sie geschaffen hatten, vor einer Herde
Wildrinder, die eine Bisonherde lächerlich aussehen
lassen würde.
Für ein solches Bild hätte er glatt einen Ehrenpreis
der National Geographic bekommen. Eine Traumfantasie, ein
unentdecktes Land, festgehalten in einem realistischen
Foto! Mit einer Reportage über die vergessene Welt
mochte er berühmt und reich werden!
Ernüchtert schüttelte er den Kopf. Damit würde er
diese phantastische Welt, deren Teil er selbst inzwischen
geworden war, der kommerziellen Zivilisation ausliefern
und zwangsläufig zerstören. Nein, sein Reichtum lag
darin, in dieser Welt, mit der schönsten und
wunderbarsten Frau leben zu dürfen!
Noch eine Weile lang beobachteten sie die massige Herde,
die sich schließlich am gegenüberliegenden Ende der
Lichtung in den Wald schob.
»Wie hast du sie genannt, Ponacka?« fragte Basti seine
Frau ehrfurchtsvoll flüsternd. Antarona schmiegte sich
Wärme suchend, von hinten an ihn. Ihre warmen Brüste
pressten sich an seinen Rücken und er spürte ihren Atem
auf seiner Haut. Erregt lauschte er ihrer flüsternden
Stimme:
»Pò-ná-ka, Ba - shtie, Pò-ná-ka! Sie verlassen den
schützenden Wald und ziehen auf die Ebenen.«
»Den schützenden Wald verlassen sie?« fragte Sebastian
hintergründig. Dann meinte er trocken, nicht ganz ohne
Sarkasmus:
»Vor welchen Feinden muss der Wald denn diese Ungetüme
schützen? Gibt es noch etwas größeres, als diese
Kolosse?« Antarona wollte etwas erwidern, doch er
unterbrach sie:
»Nein, sag' es nicht, ich tappe gern im Dunkeln, was das
angeht, ich lasse mich gern immer wieder von neuen
Ungeheuern überraschen, die mich beißen, fressen, oder
zertrampeln wollen!« Vorwurfsvoll sah ihn seine Frau an.
»Ba - shtie, Pò-ná-kas sind die friedlichsten Wesen ,
sie fressen euch nicht, sie mögen nur das lange Gras!«
Nachdem dies geklärt war, schnürten sie ihre Bündel
und setzten ihren Weg fort. Dabei hielten sie sich stets
im Schutz der hohen Bäume, wobei die Sonnenstrahlung
wohl das einzige war, das ihnen im Moment gefährlich
werden konnte.
Am Nachmittag fanden sie eine Quelle und beschlossen, die
Nacht in der Nähe zu verbringen. Ein Haufen aufeinander
geworfener Granitfelsen, vom Wetter rund geformt, luden
sie ein, auf ihren höchsten Zinnen ihr Nachtlager
aufzuschlagen. So waren sie zumindest vor wilden Tieren
geschützt.
Ein kleines Feuer wärmte sie in den Abendstunden am
Fuße der Felsenburg. Als Sebastian Wasser holen ging,
bewegte er sich vorsichtig durch den Wald. Es war die
einzige Quelle in der Umgebung, und er wollte nicht
unbedingt austesten, wie viele Tiere, große und kleine,
das Wasser ebenfalls für sich beanspruchten.
Sie verzehrten ihr letztes Dörrfleisch, dazu wilde
Beeren, Pilze, und gegarte Wurzeln, die Antarona während
der Wanderung ausgegraben hatte, und die wie eine
süßliche Kartoffel schmeckte. Sebastian hatte so etwas
wie einen Bimsstein gefunden, und machte sich daran, den
Flugrost von seinem Schwert zu schleifen.
Antarona hatte solche Sorgen nicht. Nantakis mochte sie
durch Schlamm ziehen, im Regen herumführen, oder ins
Wasser werfen, es oxydierte nicht. Das bläuliche Metall
schien keine Schwäche zu besitzen. Selbst Baumharz ließ
sich, nachdem es angetrocknet war, leicht von seiner
Klinge abziehen, als wäre diese vorher eingeölt worden.
Ziemlich früh richteten sie sich ihr Lager auf dem
Felsen ein. Nackt legten sie sich auf die Felle, ließen
den leichten, warmen Wind über ihre Körper streichen,
und blickten zu den Sternen hinauf. Millionenfach
funkelten sie herab, und Basti hatte den Eindruck, dass
sie deutlicher zu sehen waren, als auf den ihm bekannten
Fotos, die mit irgendwelchen Superteleskopen gemacht
wurden.
Zeitweise neigte Sebastian den Kopf und beobachtete
heimlich ein anderes Sternchen. Antaronas Schönheit, die
Vollkommenheit ihres Körpers, glänzte seidig und
verführerisch im Licht der Gestirne. Sie räkelte sich
auf den Fellen und genoss es, vom Wind gestreichelt zu
werden.
Immer wieder schielte Sebastian auf ihren Bauch. Manchmal
bildete er sich ein, eine kleine Wölbung wäre
entstanden. Doch dann sah er wieder nur den perfekten
Leib einer trainierten Athletin. Warum die
Schwangerschaft einer Îval mehr als doppelt so lange
dauerte, wie bei einer Frau seiner Welt, würde er wohl
nie ergründen können.
Möglicherweise hing es mit der allgemein langsameren
Entwicklung nach der Eiszeit dieser Welt zusammen. Aber
es mochte auch die Zusammensetzung der Atmosphäre Grund
dafür sein. Wenn Högi Balmers Aussage über sein
eigenes Alter halbwegs stimmte, so alterten die Menschen
dieser Welt lange nicht so schnell, wie es Sebastian
gewohnt war.
»Zum Ende des nächsten Sonnenlaufs werden wir zurück
auf der Burg sein«, sagte Antarona plötzlich wie
beiläufig. Dabei sah sie Basti mit einer Mischung aus
Wehmut und Herausforderung an, als wollte sie diese
Stunden nie enden lassen, aus Angst, es konnte ihre
letzte, gemeinsame Liebesnacht sein.
Sebastian war ohnehin der Meinung, dass sie Falméra
bereits an diesem Abend erreicht hätten, wenn sie sich
darum bemüht hätten. Er gestand sich ein, dass sie
beide versuchten, die Rückkehr zur Burg so lange, als
möglich hinauszuzögern.
Viel zu sehr liebten sie es, die Unbeschwertheit der
Freiheit zu genießen, die ihnen auf der Burg nicht
gewährt wurde. Beide wünschten sie sich, dass diese
warme, von Tausenden Naturklängen und lieblichen Düften
angefüllte Nacht nie endete. Die Luft war beherrscht von
einem unerklärlichen Zauber, von einer Magie, die selten
in die Herzen und Sinne der Menschenwesen drang.
Das leuchten der Himmelslichter, der schwere, süßliche
Geruch von betörenden Blüten, der warme Wind, welcher
der Atem der Götter selbst zu sein schien, und die
Melodien der Nachttiere, die ihrerseits das Besondere
dieser Nacht spüren mochten. All diese Eindrücke
vereinten sich in einer Komposition der Empfindungen, die
das Gefühl von tiefem Glück ausdrückte.
Ganz unverhofft tauchte ein kleines Lichtlein zwischen
den Bäumen auf. Mit einem Mal war es da. Sebastian
entdeckte es nur zufällig, als er seinen Blick Antarona
zuwendete. Wie ein kleiner Funken tanzte es zwischen den
Silhouetten der Stämme hin und her, flog mal hoch, mal
runter, kam allmählich näher.
Plötzlich gesellte sich ein zweites hinzu. Sie
umspielten einander, neckten sich, vereinten und trennten
sich wieder. Sebastians überraschter Blick veranlasste
auch Antarona in die Richtung zu sehen. Ehrfürchtig
flüsterte sie:
»Elsiren, Ba - shtie, dies ist eine ganz besondere
Nacht! Haltet still, bewegt euch nicht, so mag das Glück
in diesem Mondlauf die Seelen der Menschenwesen finden!«
Er dachte gar nicht daran, sich zu rühren. Viel zu
beeindruckend war das Schauspiel, das ihnen die Elsiren
boten. Es dauerte nicht ganz eine Minute, da wurden aus
zwei Lichtpunkten drei, dann vier, zehn, zwanzig, und
einige Atemzüge später schien der Wald von den kleinen
Wesen hell zu erglühen.
Die ersten kleinen Glückselfen schwirrten heran und
begannen über ihren Köpfen zu tanzen. Der Wald war
inzwischen wie durch einen Zauber von einem süßlichen,
betörenden Duft erfüllt. Sebastian erblickte Antaronas
verführerische Gestalt im glimmenden Licht der kleinen
Leuchtwesen, und augenblicklich stieg ein unstillbares,
bohrendes Verlangen nach ihr in ihm hoch.
Das glühende Licht, die helle Wolke, die sie umhüllte,
flammte mal stärker, mal schwächer, schien zu
pulsieren, und es sah aus, als lebte sie. Antarona setzte
sich auf und nahm Sebastians Hand. Diese Berührung
durchströmte beide, wie ein Fluss reinen Glücks.
Immer mehr Elsiren umschwirrten die beiden Verliebten,
die sich verzückt ansahen, sich zärtlich streichelten,
und sich dem wunderbaren Gefühl hingaben, das die
kleinen, leuchtenden Wesen verströmten. Die Götter
hatten sie in dieser Nacht mit dem höchsten Glück
bedacht, welches sie den Menschenwesen durch ihre kleinen
Engel bescheren vermochten.
Die ersten Elsiren ließen sich auf ihren Köpfen und
Schultern nieder, hängten sich in Antaronas lange Haare,
setzten sich keck auf Bastis Arme und ließen ihre
winzigen Beinchen baumeln. Doch sie verbrannte die beiden
Glücklichen nicht.
Vielmehr hatte Basti das Gefühl, dass sie sein Blut in
Wallung brachten, ihn innerlich aufheizten, seine
Sehnsüchte, sein Verlangen schürten, und seine Begierde
nach der seidigen, warmen haut seines Krähenmädchens.
Antarona hingegen wusste, dass es ein Zeichen war, eine
untrügliche Botschaft ihrer Götter. Sie glaubte, dass
etwas Heiliges, Sakrales geschah. Sie betrachtete ihre
bevorstehende Liebesnacht als göttliches Geschenk, als
ein besonderes, gnadenreiches Ritual ihres Glaubens.
Je mehr Elsiren sich um sie scharten, desto verlangender
und fordernder wurden ihre gegenseitigen Berührungen.
Erst zaghaft, als könnte der wunderschöne Zauber mit
einem Mal zerbrechen, fanden sich ihre Lippen zu einem
leidenschaftlichen Kuss.
Schließlich ließen sie sich von einer Welle der
Begierde hinreißen, küssten sich immer fordernder und
wilder, als befürchteten sie, im nächsten Moment wieder
auseinandergerissen zu werden. Atemlos verzehrten sie
sich, spürten eine unkontrollierte Lust in sich
aufsteigen und konnten nicht genug voneinander bekommen.
Je mehr Elsiren sich auf ihnen niederließen, desto
hemmungsloser gaben sie sich einander hin, bis sie oben
auf ihrem Felsen in einen nicht enden wollenden Rausch
der Gefühle verfielen. Nur die Tiere des Waldes blickten
hinauf, und sahen die Silhouetten der beiden
Menschenwesen, die im umhüllenden Licht der Elsiren
ineinander verschmolzen...
Erschöpft und nach Luft ringend lagen ihre dampfenden
Leiber auf den Fellen. Nur ihre Hände berührten sich
zärtlich, während sie in die Krone eines nahe stehenden
Baumes sahen, durch dessen Blätterdach einzelne Sterne
funkelten.
Zwei Lichtlein aber tanzten noch dazwischen herum. Alle
anderen Elsiren hatten sich bald verflüchtigt, wie
kleine Gespenster, deren Geisterstunde beendet war. Diese
zwei aber blieben, wie geheimnisvolle Schutzpatrone ihres
Glücks.
Antarona und Sebastian beobachteten sie, wie sie sich
umtanzten, ihr Leuchten sich vereinte, stärker wurde,
und wieder schwächer. Es sah aus, wie das Balzverhalten
zweier Vögelchen in der Luft. Ein par Mal schienen sich
die Lichtpunkte zu vereinen, sie glühten gleißend auf,
leuchteten flimmernd, bis Strahlen wieder allmählich
abnahm.
»Meinst du, dass sie sich lieben, so wie wir?« fragte
Basti leise. Antarona drehte sich herum, legte ihren Kopf
auf seine Brust und antwortete verträumt:
»Ja, genauso wie Sonnenherz und Glanzauge, Ba - shtie.
Sie tragen die heißeste Liebe und das reinste Glück in
sich. Sie sind die Liebe und das Glück der Götter. Und
sie geben sie weiter an uns, die Menschenwesen, damit wir
nicht vergessen einander zu lieben.«
»Das war das zweite Mal, dass uns die Elsiren das Glück
brachten«, bemerkte Sebastian beinahe flüsternd.
»Das erste Mal am See bei deinem Vater, und nun hier auf
dem Felsen. Manchmal glaube ich, dass sie in uns beiden
etwas Besonderes sehen«, verriet er ihr seine Gedanken.
»Das tun sie auch«, bestätigte Antarona geheimnisvoll,
»ihr, Areos, der Mann, der von den Göttern und den
Toten zurückgekehrt ist, und Sonnenherz, die Hüterin
der Hallen von Talris...«
Sie ließ diesem Gedanken Raum und machte eine längere
Pause. Dabei strich sie sich mit der Hand liebevoll und
schützend über ihren Bauch, den Sebastian zum ersten
Mal nicht mehr ganz so flach empfand. Doch das mochte
freilich auch am diffusen, kalten Licht der Gestirne
liegen.
»Areos und Sonnenherz sind etwas Besonderes, Ba - shtie.
Die Menschenwesen im Val Mentiér und die Elsiren
gleichermaßen, sehen in ihnen die Hoffnung, die
Wiederkehr eines glücklichen Lebens«, erklärte sie
ihm. Sebastian küsste zärtlich ihren Bauch und meinte
dann:
»Glaubst du, dass sie uns beschützen, über uns wachen,
dass sie über unsere Liebe wachen?« Sebastian kam diese
Frage beinahe lächerlich vor, und hätte er sie einem
anderen Menschen als Antaronas gestellt, so hätte er
sich vor Scham im das tiefsten Erdloch verkrochen. Seine
Frau jedoch antwortete ohne Verwunderung und mit leichter
Ernsthaftigkeit:
»Sonnenherz glaubt, dass es so ist. Die Elsiren sind von
allen Geschöpfen den Göttern am nächsten. Sie
wünschen und sehnen sich ein gedeihendes Volk der
Menschenwesen in Frieden und Glück. Talris und seine
Götter haben ihnen einst in der alten Zeit aufgetragen,
darüber zu wachen, so erzählen es die Alten. Es ist die
Mär vom gestohlenen Feuer der Götter, vom Leuchten der
Elsiren.«
»Auch darüber gibt es eine Geschichte?« fragte Basti
und ahnte, dass er wieder eine Episode aus der Mythologie
der Îval erfahren sollte.
Antaronas Finger spielten mit seinen Brusthaaren. Sie
schob plötzlich ihr Kinn vor, als wollte sie einen
inneren Trotz zum Ausdruck bringen, legte sich warm und
weich auf ihn und begann zu erzählen:
Einst lebte das Stammvolk der Elsiren unter der
Herrschaft der Götterwesen. Doch sie waren klein und
schwach, mäßig an Zahl, und vermochten sich gegen
Feinde jeglicher Art nicht verteidigen. Sie lebten im
Dunkel, und unter der Last ihrer Kleinheit. So erduldeten
sie ihren Fron und sehnten sich nach Schutz und Beistand,
denn sie konnten ein ums andere Jahr ihre Ernte vor
Dieben und Räubern nicht bewahren.
Da boten ihnen die Robrums den Schutz ihrer Haine und
ihres Lebens an. Sie verlangten aber als Lohn ein Drittel
ihrer Ernten und Vorräte. In ihrer Not willigten die
Elsiren ein, und fortan wehrten die Robrums jeden ab, der
sich den kleinen Wesen und ihrem Blütensaft in
eigennütziger Absicht näherte.
Die Robrums aber waren so tölpelhaft und grob, dass sie
viele von ihren Schützlingen zertraten, sie verletzten,
oder sie um ihren Anteil der Ernte betrogen. So ersehnten
sie weiter einen Schutz um Leib, Leben, und Nahrung.
Da boten ihnen die Menschenwesen den Schutz ihrer Haine
und ihres Lebens an. Sie vertrieben die Robrums in die
Tiefe der Wälder und fortan wehrten die Menschenwesen
alles ab, was sich den Elsiren in Absicht des Eigennnutz
näherte.
Die Menschenwesen aber waren so von Schläue und
Hinterlist, dass sie sich selbst an der Elsiren Ernte
bereicherten, sie betrogen und sie hintergingen. Den
Elsiren blieb kaum etwas zum Leben und so ersehnten sie
weiter einen Schutz um Leib, Leben, und Nahrung.
Da ward einer Elsirin ein kleines Mädchen geboren. Sie
war schöner und lieblicher als alle anderen Kinder und
als sie heranwuchs, zeigte sich, dass sie eine große
Klugheit in ihrem Köpfchen und eine heldenhafte
Kühnheit sowie viel Sonnenschein in ihrem Herzen trug.
Ein ums andere Mal befragten die Elsiren die Tochter
ihres Volkes, wenn es galt, eine große Not abzuwenden.
Das Mädchen wusste stets einen einfachen, guten Rat zu
geben, und alsbald galt sie unter ihrem Volk als jene,
welche die Hoffnung und Rettung vieler Unbilden war.
So fragte das Volk sie, als wieder einmal die Not am
größten war, nach Schutz um Leib, Leben, und Nahrung.
Das Mädchen wies zur Sonne und sagte ihnen:
»Sehet hinauf zu Talris und den Götterwesen, sehet, wie
sie Ihresgleichen zu schützen wissen. Ziehet aus, und
holt euch vom Licht der Götterwesen. So vermag ein
jeglicher des Volkes selbst in der Nacht zu sehen. Auch
wird ein jeglicher Feind, welcher uns Böses dünkt, sich
verbrennen, und von unserer Ernte ablassen, ohne dass der
Elsiren Volk Hand und Geist erhebt, gegen die anderen
Wesen unter der Götter Hort.«
Also sandten die Elsiren ihre besten und kräftigsten
Sammlerinnen und Sammler aus, das Licht der Götter zu
holen. Sie flogen bis weit hinauf in die hehre
Himmelswelt, in der die Götterwesen thronten, und
suchten den heiligen Strahl, auf dem die Götterwesen
einst auf diese Welt gelangten. Heimlich nahmen sie von
dem Feuer des Strahls und brachten es zum Volk der
Elsiren.
Als die Götterwesen dies bemerkten, erzürnten sie
fürchterlich, und schalten die Elsiren, und bezeugten
sie des Diebstahls, und nahmen ihnen das Licht wieder
fort. Da setzte ein großes Wehklagen unter dem Volk der
Elsiren ein, und sie fürchteten erneut um Leib, Leben
und ihre Ernte.
Das Elsirenmädchen aber, welches dem Volk geraten hatte,
das Licht der Götter zu holen, plagte tiefe Reue ob
seinem folgenschweren Rat. Sie kehrte in sich und
überlegte, wie sie dem Volk zu helfen vermochte.
Mit ihrer Verzweiflung und ihrem Mut ging sie zu den
Götterwesen und bot ihr eigen Leben im Tausch für das
Feuer der Götter, welches das Elsirenvolk schützen
sollte. Da erstaunten die Götterwesen, und erbarmten
sich ob der Kühnheit, des Mutes und der Selbstlosigkeit
jenes Elsirenkindes und sie zollten ihm Ehre und Respekt.
So gaben sie mit gutem Willen den Elsiren das Feuer von
ihrem Strahl, auf dass es das Volk der kleinen Wesen
beschützen sollte. Dem Mädchen aber erließen sie seine
Schuld und es kehrte wohlbehalten zu seiner Familie
zurück.
Die Götterwesen aber verbanden mit dem Licht einen hohen
Dienst als Vergeltung an das Elsirenvolk. Die Elsiren
sollten fortan über das Glück der Menschenwesen wachen,
die Liebe und das Gute lohnen, und das Böse und die
Hinterlist strafen. Dies mochten die Elsiren von Herzen
gerne zusagen.
Seither schützen Feuer und Licht der Götter alle
Elsiren, und lassen sie leuchten und glühen, und
verbrennen jene, welche sich in bösem Ansinnen ihnen
nahe tun. Jene aber, welche Gutes tun, die Liebe und das
Glück ehren, und den Elsiren in wohl gesinnt sind,
vermögen die kleinen Wesen zu schützen und Liebe und
Glück zu schenken.
So sind die Elsiren die Hüter des Glücks und der Liebe
aller Menschenwesen, welche ihnen huldigen mit dem Tanz
des Feuers und ihrer Verbundenheit zwischen Mann und
Frau, durch die wahre Liebe, seit jener alten Zeit, und
heute, und immerdar!
»Es ist eine schöne Geschichte«, bemerkte Sebastian
anerkennend, als Antarona geendet hatte. Sie sah ihm in
die Augen und erklärte:
»Diese Mär findet ihr an der Sonnenwand in den Hallen
von Talris, Ba - shtie. Aber auch die Alten vermögen sie
zu berichten, denn sie ist wahr! Sie ist die Geschichte
von den Götterwesen und den Menschenwesen, sie ist die
Geschichte der Îval, es ist jenes, was war, vor
Sonnenherz Vater, und dessen Vater und wiederum vor
dessen Vater bis in die alte Zeit.«
Sebastian fing an, Antaronas Geschichten zu mögen. Er
ahnte aber auch, dass mehr Wahrheit in ihnen steckte, als
er sich vorstellen konnte. Im Grunde war die ganze
Märchenwelt der Îval nichts anderes, als ihre
Entwicklungsgeschichte.
In allen Märchen und Berichten, die er gehört hatte,
kam ein seltsames Licht mit besonderen Eigenschaften vor.
Selbst in den Aufzeichnungen, die er in der
Burgbibliothek gefunden hatte, wurde von dem blauen Licht
berichtet.
Die Elsiren leuchteten zwar nicht bläulich, doch aber
irgendwie fluoreszierend. Und dass es ein Licht mit
besonderen Kräften gab, konnte er nicht mehr leugnen.
Antaronas Schwert war der Beweis. Außerdem war das
Erlebnis in den Hallen von Talris kein Traum gewesen!
Etwas aber wurde für Sebastian immer deutlicher: Die
Märchen der Îval waren ein Geschichtsbuch! Die Kinder
dieses Volkes lernten ihre Geschichte aus den
Erzählungen der Alten, aus reinen Überlieferungen.
Es gab keine Bücher, die ihnen Herkunft und
Vergangenheit vermittelten, außer jenen wenigen
Exemplaren, die sich meist plano gerollt, in den Regalen
der Burg befanden. Aber die Aufzeichnungen und
Erzählungen der Alten schienen sich mit den Inschriften
in der Goldwand der Hallen von Talris zu decken.
Offenbar gelang es den Märchenerzählern über
Generationen hinweg die Geschichten zu bewahren, ohne sie
zu verändern oder abzuwandeln. So wurde die ganze
Geschichte eines Volkes vom Großvater an die Enkel
weitergegeben, die sie dann irgendwann wiederum ihren
Nachfahren als mündliches Vermächtnis anvertrauten.
Sebastian wollte Antarona fragen, wer ihr die Geschichten
erzählt hatte, denn sie erwähnte bisher nie ihre
Großeltern. Ein Blick genügte, um festzustellen, dass
sie bereits in das Land der Träume eingezogen war.
Mit einem seligen Lächeln auf dem Gesicht lag sie neben
ihm. Sie hatte die Beine angezogen, ihr Kopf ruhte auf
seinem Leib, und ihre Brüste hoben und senkten sich im
ruhigen, friedlichen Takt. Wie Bronze glänzte ihre
glatte Haut im Licht der Gestirne.
Sebastian zog vorsichtig die Felle über ihre beiden
Körper. Trotzdem wachte Antarona kurz auf, befand sich
aber immer noch im Halbschlaf, zog sich an ihm hoch,
vergrub ihr Gesicht an seinem Hals, winkelte ein Bein an
und presste ihren Unterleib an seine Lenden. Ihre Hände
tasteten seinen Oberkörper entlang. Sie klammerte sich
an ihn, schmiegte sich Schutz und Wärme suchend an
seinen Körper, wie ein kleines Äffchen.
Eine Weile streichelte Basti sie noch zurück in ihre
Träume. Er lauschte ihrem ruhigen Atem, genoss das
Gefühl, das ihre lebendige Wärme auf seiner Haut
inszenierte, und spielte mit ihren langen Haaren.
Schließlich übertrug sich ihre kaum wahrnehmbare
Atembewegung auf ihn und er folgte seiner Krähenfrau in
einen tiefen und festen Schlaf...
Der Morgen weckte sie mit warmem Regen, der beruhigend
leise auf die Felle trommelte, unter denen sie sich
aneinandergekuschelt gegenseitig Wärme spendeten. Die
Luft hatte sich etwas abgekühlt, doch der Regen war
nicht kalt, sondern so warm, als tropfte er aus einer
Heizanlage.
Es regnete ruhig und leicht vor sich hin, ohne Wind, ohne
prasselnde Schauer, so, als schliefe der Himmel noch, und
überließ die Wolken ihren eigenen Träumen. Antarona
und Sebastian blieben noch eine Weile liegen, lauschten
dem gleichmäßigen, leisen Rauschen und dem leisen
Geräusch, das die Tropfen auf ihren Tierhäuten
verursachten.
Am liebsten hätten sie den ganzen Tag so verbracht.
Irgendwann aber wurde der Drang stärker, sich aus den
Fellen zu wälzen, sich zu strecken, und weiter ihrem
Ziel zu folgen. Dabei war der Aufenthalt in der Burg nur
eine lästige Etappe. Was sie eigentlich antrieb, war die
Aussicht, bald eine neue Freiheit in Mehi-o-ratea zu
genießen.
Trotz des Regens verzichteten sie darauf, sich Kleider
anzuziehen. Antarona trug nur ihren inzwischen ziemlich
verschlissenen Lederschurz, und Sebastian zog sich
lediglich die dünne, Leinenunterhose und seinen
Kriegsrock an.
Sie würden ohnehin bald durchnässt sein. Also ließen
sie alles, bis auf die Fußbekleidung im Bündel
verschwinden, dann brachen sie auf. Es zeigte sich, dass
ihre Entscheidung richtig war. Zweige, Blätter und
Gräser, die beim durchdringen des Unterholzes ihre
Körper berührten, überließen ihnen dankbar ihre
Regenlast.
Bald klebte Antarona ihr Lederschurz wie ein lästiges
Stück abgelöste Haut an den Oberschenkeln. Ihre Haare
hingen ihr nass und tropfend über die Schultern.
Sebastian ging es nicht besser. Der nasse Stoff seiner
Hose spannte um seine Beine und hinderte ihn am Gehen.
Kurz entschlossen trennte er die Hosenbeine knapp über
den Knien ab, so, dass sie seine Haut gerade noch vor dem
rauen, Metall besetzten Leder seines Kriegsrocks
schützten. Die Füße quatschten in den derben
Lederstiefeln und machten Geräusche, die sterbenden
Kleintieren nicht unähnlich waren.
Antarona war mit ihren Moccasin besser bedient. Sie band
die Schäfte los, und trug nur noch die Fußteile, die
sich selbst mit Wasser vollgesogen noch angenehm zubinden
ließen. Überhaupt bestach ihre knappe, freizügige Art
sich zu kleiden, in dieser Umgebung durch ihren
praktischen Wert.
So wanderten sie bis in den Mittag hinein und ihre nassen
Körper spürten den Regen bald nicht mehr. Mal hellte es
etwas auf und der Niederschlag wurde geringer, mal
regnete es stärker. Aber es blieb warm und allmählich
füllte sich die Luft mit einem feuchtwarmen Dunst, der
Sebastian an tropisches Regenwaldklima der erinnerte.
Der gegenüberliegende Wald rückte näher, und ehe die
Mittagszeit vorüber war, sahen sie die Stelle, an der
Antarona von den Schergen Torbuks überfallen worden war.
Eine säuerliche Erinnerung stieg in ihnen hoch.
Sie blieben im Schutz des Waldes und folgten der
Richtung, bis sie zu der Stelle gelangten, wo der Weg zu
den mächtigen Felsabstürzen führte, an denen sie am
Tag des Talrisfestes gestanden hatten. Bald würden sie
die Dächer der Burg durch das Blätterwerk des Waldes
erkennen können.
Sebastian warf sich ein Hemd über und sah seine Frau
auffordernd an. Antarona kannte diesen Blick inzwischen.
Bald würden sie die ersten Menschen treffen, und Basti
liebte es nicht besonders, wenn fremde Männer auf ihre
bloßen Brüste starrten, und ihren Körper mit den Augen
verschlangen.
Mit einem schiefen Lächeln zog sie ihr Oberteil aus dem
Bündel und knotete es sich um die Schultern. Manchmal
vergaß sie einfach, dass sie sich auf Falméra und nicht
im Val Mentiér bewegten, wo junge Frauen durchaus
unbedarfter herumliefen. Sebastian nickte zufrieden.
»Du bist die süßeste Versuchung, die Falméra zu
bieten hat, mein Engelchen«, schwärmte er unverhohlen,
»aber das müssen die da unten nicht gleich sehen,
denkst du nicht auch?« Antarona hob stolz ihr Kinn,
setzte eine trotzige Miene auf und fragte schnippisch:
»Ihr seid immer noch eifersüchtig auf den Stallknecht?
Wie ward er noch geheißen? Toban, Torin, To...« Basti
sah sie missbilligend an und unterbrach sie ärgerlich:
»Gerade Tobyn muss dich nicht so sehen, hat sowieso
schon genug Gespinste im Hirn, ohne dass du mit deinen
Reizen seinen Verstand auf den Kopf stellst!« Antarona
lachte schelmisch und neckte weiter:
»Vielleicht ist Sonnenherz ja nicht mehr empfänglich
für Tobyns Werben, wenn sie gerade von einem Mann
beglückt wurde, was meint ihr, Ba - shtie?« Dabei
wackelte sie verführerisch mit den Hüften und warf sich
keck die nassen Haarsträhnen nach hinten.
»Du kommst wirklich immer ohne Hadern zur Sache, was?«
bemerkte Basti gespielt vorwurfsvoll. Sie warf plötzlich
ihr Bündel zu Boden, wo sie gerade stand und drehte sich
zu ihm um.
»Wenn ihr nicht von selbst darauf kommt«, antwortete
sie mit anklagendem Unterton in der Stimme und fügte
hinzu:
»Wer mag wissen, was in der Himmelsburg geschieht, wann
Ba - shtie sein En-gel-sen wieder lieben kann? Wisst ihr,
wie lange Sonnenherz und Glanzauge in den dicken Mauern
ohne Luft und Wind ausharren müssen, bis sie nach
Mehi-o-ratea aufbrechen können?«
Sebastian ließ ebenfalls sein Bündel fallen und kickte
beide mit einem gezielten Fußtritt unter die Büsche am
Rande des Pfades. Antaronas Augen blitzten ihn über die
Schulter hinweg neckisch und verführerisch an, während
sie sich durch das Dickicht wand.
»Warte, wo willst du denn hin?« rief er ihr nach.
Fluchend schob er sich ihr hinterher durch das dornige
Unterholz. Dabei ging seine dünne, durchnässte Hose
endgültig in Fetzen.
»So fangt es doch ein, euer En-gel-sen«, flötete sie
süß aus dem Dickicht, »bemüht euch gefälligst!
Glaubt ihr etwa, Sonnenherz springt euch auch noch an?«
»Na warte, du kleine Hexe, wenn ich dich kriege..!«
drohte er zum Spaß. Egal, wie vorsichtig er sich durch
das Dickicht zwängte, die Dornen einiger Büsche rissen
ihm die Haut an Armen und Beinen auf. Doch Basti
ignorierte es. Viel zu sehr hielten Verlangen und
Begierde nach Antaronas nackter Haut seinen Verstand
gefangen.
Ihre nackten Füße hinterließen auf dem mit nassem Laub
bedeckten Waldboden keine Spuren. Und so irrte er hinter
ihr her, orientierte sich nur an den Geräuschen, die sie
absichtlich machte, um ihn zu locken. Während er sich
fragte, wie lange sie dieses Spiel noch treiben wollte,
gelangte er in einen lichten Hochwald.
Das Unterholz hörte plötzlich auf, als hätte eine
Armee von Waldarbeitern jeden Strauch gerodet. Dafür
wiegten sich hohe Bäume mit mächtigen Stämmen knarrend
im leichten Wind. Ihr dichtes Blätterdach hielt den
meisten Regen ab. Unregelmäßig gaben sie das Wasser in
dicken, schweren Tropfen ab, die klatschend Bastis Kopf
und Körper trafen.
Suchend sah er sich um. Wohin war Antarona verschwunden?
Lauernd schlich er um die dicken Baumriesen herum. Da! An
einem tief hängenden Ast hing Nantakis, ihr Bogen und
ihr Fellköcher mit den Pfeilen.
Sebastian zog seine Stiefel aus und tastete sich auf
Zehenspitzen zu dem Baum vor, hängte seine Waffen
ebenfalls an den Ast, und spähte vorsichtig um den
dicken Stamm herum. Antarona machte sich gar nicht die
Mühe, sich zu verstecken. Sie wollte, dass er sie fand!
Ein kleines, beindickes und schräg wachsendes Bäumchen
hatte sie sich ausgesucht, um auf ihn zu warten. Ihr
winziger, nass auf ihrer Haut klebender Lederschurz ließ
sie im diffusen Licht nackt erscheinen. Aufreizend hielt
sie sich an dem schmalen Baum fest, und lockte ihn mit
ihrem auffordernden Blick...
Einige Zeit später fanden sie sich auf dem Waldboden
liegend wieder. Der Regen fiel sanft schmeichelnd auf
ihre erhitzten Körper, und sie empfanden es als
angenehm. Antarona wälzte sich auf ihren ermattet
daliegenden Mann, setzte sich auf seine Oberschenkel und
ihre Füße auf seine Brust.
»War euch diese Versuchung süß genug, Mann mit den
Zeichen der Götter?« fragte sie mit listigem Blick.
Basti betrachtete ihren Körper bis hin zu ihren Füßen,
die unterbewusst begonnen hatten, seine Brust zu
massieren.
Ihre ganze Statur, aber besonders ihre Füße erschienen
ihm sehr zierlich für eine Frau, die perfekt ein Schwert
zu führen wusste. Ihre Füße waren bemerkenswert
gepflegt und sauber, obwohl sie eigentlich immer barfuss
unterwegs war.
Antarona hasste Schuhe, ganz gleich, wie bequem und weich
sie gearbeitet waren. Sie meinte den Boden nicht mehr
fühlen zu können, wenn sie ihre Füße bedeckte. Sie
wollte spüren, wohin sie trat. Und nicht umsonst war sie
in der Lage, sich lautlos anzuschleichen, ohne den Blick
auf den Boden zu senken.
Basti blieb ihr die Antwort ein par Minuten schuldig und
sah sie verzückt an, wie man eine Rose anblickte, die
ihre zarten, feinen Blütenblätter in der Morgensonne
entfaltete. Verträumt sogen seine Augen ihren
ebenmäßigen Wuchs und ihre sanften Rundungen auf. Er
war glücklich, diese Frau lieben zu dürfen, und dankte
ihren Göttern dafür.
»Du warst so wunderbar, dass ich nie genug von dir
bekommen werde«,gestand er ihr und lächelte viel
versprechend.
»Wenn wir so weitermachen«, gab er zu bedenken, »dann
kommen wir vor Dunkelheit nicht mehr zur Burg.« Antarona
glitt auf seinem Körper nach oben und sie flüsterte ihm
ins Ohr:
»Na wenn schon, Ba - shtie, dann bleibt Sonnenherz mit
euch im Wald und wird euch lieben, bis Talris wieder am
Himmel erscheint!« Er lächelte sie dankbar an und
antwortete zögernd:
»Ja, aber dann kommen wir nie nach Mehi-o-ratea. Ich
will dich für eine lange Zeit, und nicht nur für ein
par Zentaren, verborgen im Wald!«
»Hat Sonnenherz euch Fleisch und Sinne nicht gut genug
berauscht?« fragte sie naiv und fast schon beleidigt.
Behütend legte er seine Arme um ihre Taille und seine
Lippen suchten ebenfalls ihr Ohr:
»Doch, mein Engelchen, das hast du! Deine Liebe ist die
schönste Liebe, die ein Mann nur bekommen kann, und ich
bin dankbar für jede Zentare, in der ich dich fühlen
kann. Aber ich will frei sein, und nicht bedrängt von
den Zentaren, welche bestimmen, was zu tun ist! Verstehst
du das?«
»Auch Sonnenherz will mit euch frei leben«, gab sie
sehnsuchtsvoll zu, »ja, sie versteht euch, und sie ist
glücklich, dass ihr so denkt!« Sie sah ihn eine Weile
mit schräg geneigtem Kopf neckisch an und fügte dann
hinzu:
»Doch sie wird nicht von euch ablassen, wenn ihr nach
euch verlangt! Versteht ihr das?« Basti lächelte
dankbar, und sagte:
»Ja, und ich will, dass es so ist, und dass du niemals
damit aufhörst!« Glücklich und zufrieden sahen sie
sich an.
Der Regen wurde etwas heftiger und kühler. Sie standen
auf und stellten sich an eine Stelle, an der das
Blätterdach der Bäume sie nicht von oben abschirmten,
und begannen sich gegenseitig von Erde und Blättern zu
befreien und sauber zu waschen.
Anschließend suchten sie ihre Bündel zusammen, zogen
sich dem Protokoll der Burg gemäß an und folgten dem
Pfad nach Falméra.
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