Das Geheimnis von Val Mentiér
 
32. Kapitel
 
Auf nach Mehi-o-ratea
 
er nächste Tag bescherte schwülwarmes Wetter und leichten Regen. In der Nacht und den frühen Morgenstunden war Sebastian einige Male aufgewacht, als Blitz und Donner die Dunkelheit erhellten und ihn mit ohrenbetäubendem Krachen aus dem Schlaf riss.
Jeweils lag er dann eine Weile wach und grübelte darüber nach, ob ein Blitzeinschlag vermochte, ganze Teile von Falméra in Schutt und Asche zu legen. Er hatte irgendwo gelesen, dass dies im Mittelalter keine Seltenheit gewesen war. Nun, für ihn befand sich Antaronas Welt in eben jener Epoche.
Es hatte jedoch keinen Brand gegeben, und als Sebastian ziemlich spät aus den Fellen kroch, und auf dem engen Flur fast mit Frethnal zusammenstieß, hatten die emsigen Hände von Vesgarina und Antarona bereits ein vorzügliches Frühstück vorbereitet.
Stolz präsentierten sie den beiden Männern heißen Kräutertee, frisches Brot, Wurst und Käse vom Markt, sowie süßen Rahm, der zu dem knusprigen Brot vorzüglich mundete.
Antarona, die als alltägliche Kleidung gewöhnlich ihren Hüftschurz, und manchmal wirklich nicht mehr, trug, hatte sich ein schlichtes, langes Kleid aus ungefärbtem, weichen Stoff übergeworfen. Es besaß die typischen Eigenschaften von Baumwolle. Ob es aber Stoff von solcher Herkunft bei den Îval gab, konnte er nicht sagen.
Was er aber feststellen konnte, war dass Antarona selbst in einem schlichten Kleid verführerisch aussah und ihn zu verzaubern verstand. Diese wiederholte Erkenntnis machte ihm selbst bei so trübem Wetter noch gute Laune.
Nach dem ausgiebigen Frühmahl begannen sie ihre Bündel für den langen Weg zu schnüren und das Haus für eine längere Abwesenheit vorzubereiten.
Inzwischen klarte das Wetter auf. Mehr und mehr verdrängte die Sonne die wabernden Wolken an den Berghängen, ließ sie wie den Dampf aus einem Zuber aufsteigen, und langsam erhellte sich der Tag. Allmählich trat das Blau des Himmels hervor und bald erinnerte nichts mehr an die nächtlichen Gewitter.
Nach den Vorbereitungen für den bevorstehenden Weg ruhten sie sich aus, schliefen, und sammelten Kraft für die lange Wanderung. Da Sebastian noch keine wirkliche Vorstellung von der Größe der Insel, aber schon die Ausdehnung des ersten Tals gesehen hatte, machte er sich keine verschönten Illusionen.
Antarona und er zogen sich zunächst auf die kleine Veranda ihres Hauses zurück, und dösten im Schatten des Bewuchses, der wild über die schmale Überdachung wucherte. Die große Mittagshitze trieb sie jedoch bald in das Schlafgemach hinauf, das ihnen im Gegensatz zum Garten geradezu kühl erschien.
Vermutlich war das Haus aus Lehmziegeln errichtet worden, und das Dach unter den Dachsteinen mit Stroh isoliert. Bei halb geöffnetem Fenster schliefen sie bald ein. Auch Vesgarina und Frethnal versanken in einem erholsamen Schlaf.
Sebastian wurde von einer immer lauter werdenden Musik geweckt. Es war bereits dunkel, doch durch das Fenster drang der zuckende Schein des Elsirenfeuers vom Marktplatz herein. Auch die Gerüche nach gebratenem Fleisch und frischem Gebäck drang von draußen herein.
Vorsichtig, um Antarona nicht zu wecken, schlich er sich aus dem Gemach, und nach unten in den Wohnraum. Dort bereitete er im Halbdunkel für alle einen kleinen Imbiss vor. Die Öllampen anzuzünden, wagte er nicht. Niemand musste wissen, dass sich jemand im Haus befand.
Nach und nach schlichen Antarona, Vesgarina und Frethnal die Treppe herunter. Gemeinsam kauten sie Trockenfleisch, Brot und verzehrten den Rest des süßen Rahms, den sie ohnehin nicht auf ihren Weg mitnehmen konnten.
Zum Aufbruch war es noch zu früh. Zu dieser Zentare zogen die Menschen Falméras gerade mal zu den Tanzfeuern. Noch floss durch den Abwassergraben eine stinkende, ekelhafte Brühe. Die würde erst versiegen, wenn die Bewohner der Häuser entweder bei den Feuern war, oder sich zur Ruhe begaben.
Sebastian war ungeduldig. Bereits zum fünften Mal ging er im Schutz der Dunkelheit hinaus, durch den Garten, bis zur kleinen Pforte und spähte in den Graben, der neben dem Wasser vom Berg auch die Hinterlassenschaften Falméras in die Meeresbucht beförderte.
Der Bachlauf führte viel Wasser, vermutlich durch die Niederschläge des vergangenen Gewitters. So hielt sich die Geruchsbelästigung in erträglichen Grenzen, und er hoffte, dass sie dadurch früher aufbrechen konnten.
Als er wieder herein kam, erwartete ihn Antarona mit erwartungsvollem Blick und dem Kurzschwert in den Händen, das sie am Abend zuvor von dem Waffenschmied erhalten hatte.
»Das solltet ihr nehmen, Ba - shtie«, hielt sie ihm die Waffe entgegen. Er sah sie etwas verwirrt an.
»Aber das hast du doch von dem Waffenhändler bekommen, es ist wie gemacht für dich!« Beinahe vorwurfsvoll sah sie ihn an.
»Ba - shtie, glaubt ihr, Sonnenherz wird sich von Nantakis trennen? Doch ihr habt ein Schwert, dass in einem Kampf leicht brechen kann. Dieses hier jedoch mag nicht besonders gut aussehen, doch es wird einen Kampf wohl überstehen. Nehmt es und lasst eures hier in der Kammer!«
Zögernd wiegte er seinen Kopf hin und her, nahm ihr das Schwert schließlich aus der Hand. Er testete es mit ein par Schattenhieben, und stellte fest, dass es leichter als sein bisheriges war. Auch lag es besser in der Hand. An Schärfe stand es seinem Schwert in nichts nach, das bewies sich, als Basti es mit zwei Fingern haltend, über einen Apfel zog. Ein sauberer Schnitt teilte das Obststück.
Anerkennend nickte er und betrachtete die Klinge unter der kleinen Funzel, die auf dem Tisch brannte. Es war glatt, hatte aber rein optisch eine gemaserte Struktur. Die Klinge war vorn leicht gerundet, breiter und flach, während sie zur Parierstange hin gering schmaler, aber viel kräftiger wurde.
Sebastian meinte einmal gelesen zu haben, dass es Verfahren gab, hochelastischen, jedoch festen Stahl, mit guter Bruchfestigkeit in vielen gefalteten Lagen zu schmieden, den man an seinen verschiedenfarbigen Maserungslinien erkennen konnte. War ein Schmied der Îval fähig, ein solches Meisterstück herzustellen?
Er versuchte die neue Waffe in seine Schwertscheide zu stecken. Sie ging nur schwer hinein, und ließ sich auch nur mit Mühe wieder herausziehen. Antarona versprach ihm aber, die Schwertscheide der neuen Waffe anzupassen, und Sebastian fragte sich, welche Fähigkeiten dieses Mädchen noch besaß.
Sein bis dahin benutztes, blank poliertes Schwert hängte er an einen Haken hinter Antaronas Kleiderschrank. Vielleicht konnte er es noch einmal dringend gebrauchen. Ein wenig hatte er in seiner Entscheidung gezögert, denn dieses Schwert hatte ihm gute Dienste geleistet, und sah sicherlich besser aus, als die neue, eher schlichte Waffe.
Doch er vertraute Antarona, die mit solcherlei Waffen aufgewachsen war, und ein Gefühl dafür besaß. Ein gutes Schwert war hart genug, um sich nicht zu verbiegen, allerdings auch elastisch genug, um nicht zu brechen. Das graumelierte Schwert versprach genau das!
Außerdem überlegte er, ob er nicht beide Schwerter tragen sollte, so, wie er es oft in den Spielfilmen seiner Welt gesehen hatte. Antarona riet ihm aber dringend davon ab.
»Ba - shtie, wozu wollt ihr das tun? Es wird euch nur behindern! Ihr seid schnell, und wenn ihr weiter übt, werdet ihr noch schneller, ihr braucht kein weiteres Schwert!« argumentierte sie mit tadelndem Blick. So verwarf er diesen Gedanken wieder.
Als die Elsirenfeuer allmählich herunterbrannten, beschlossen sie aufzubrechen. Viele Menschen zog es zu dieser Zentare von den Marktplätzen in ihre Häuser, Herbergen und Unterkünfte. Die Stadtwachen sahen sich außer Stande, diese Mengen von Tanzsüchtigen zu überwachen, geschweige denn zu kontrollieren.
Nachdem sie die Fensterläden verschlossen hatten, und die überzähligen Seile und Stricke sauber im Schlafgemach aufgehängt hatten, begaben sie sich in den Garten und kletterten ins Bachbett hinunter, das inzwischen fast nur noch einen Rinnsal sauberes Wasser führte.
Der Duft von Feuern, und den Genüssen der Märkte lag in der Luft, wenn es windstill war. Kam ein leichter Wind auf, roch es aber sogleich nach Wald und nasser Erde.
»Der Wind weht von den Bergen«, kommentierte Antarona diese Feststellung knapp. Dazu kam, dass die Gewitterneigung wieder zunahm. Der Himmel, der am Vormittag aufgeklart hatte, zog wieder zu. Immer weniger Sterne leuchteten herab, so dass sie dort, wo keine Laternen brannten, acht geben mussten, wohin sie traten.
Das wurde um so schwieriger, als sie die Straßen der Stadt hinter sich ließen, durch das große Portal vor der Burg traten und sich nach links zur Brücke hin orientierten. Und beinahe unmöglich wurde es, sobald sie den Bergpfad beschritten, der sich hinter der Brücke in den Hochwald hinter der Himmelsburg hinaufzog.
Es war nicht üblich, in solcher Dunkelheit durch den Wald, noch dazu nahe der Berge, zu stolpern. Es war nicht nur durch wilde Tiere gefährlich, die man leicht im Dickicht überraschen konnte. Noch mehr erwuchs sich das Risiko aus einem falsch gesetzten Tritt, der zu bösen Stürzen führen konnte.
Auf einem kleinen Felsabsatz, von wo aus man bei Tag eine gute Aussicht auf die Himmelsburg genießen konnte, machten sie eine kurze Rast. Ihre Körper dampften von der Anstrengung des Aufstiegs. Antarona entledigte sich ihres Kleides und verstaute es sorgsam in ihrem Bündel.
Statt dessen trug sie nun wieder ihren kurzen, kaum etwas bedeckenden Hüftschurz, sowie ein loses, übergeworfenes Oberteil, das gerade mal ihre Brüste vor dem scheuernden Gurt ihres Schwertes Nantakis schützte. Doch sie behielt ihre Fellmokassin an, die verhinderten, dass sie sich ihre Füße an den Felsen und Steinen blutig stieß.
Während Antaronas kurzer Schurz abgetragen, dunkel, und wie eingefetteter Stoff aussah, war der Vesgarinas, die ihrer Herrin selbst in Sachen Kleidung nacheiferte, hell, steif und neu. Der frisch gegerbte Hüftschurz schlug ihr beim Gehen wie ein Stück Holz gegen Gesäß und Schoß. Sie sah damit so kurios aus, wie eine Schildkröte mit einem schlecht sitzenden, viel zu kleinen Panzer.
Die beiden Mädchen konnten verschiedener nicht aussehen. Antarona mit ihrer schwarzen Mähne, ihrem dunklen Hauttyp ähnlich einer Oranuti, und ihrem über die Zeit dunkel gewordenen Lederschurz, dazu im Gegensatz Vesgarina mit ihrem hellblonden Schopf, blasser Haut und beigefarbenem Hüftschurz.
Sebastian bemerkte Frethnals Blicke, als die Mädchen sich umzogen und völlig ungeniert in die freizügige Kleidung der jungen Mädchen aus dem Val Mentiér schlüpften. Seine Miene verreit Eifersucht, Empörung und gleichzeitig sehnsüchtige Faszination.
Aus eigener Erfahrung wusste Basti um die Empfindungen, die in seinem Kammerdiener durcheinander toben mussten. Als er Antarona die ersten Male so freizügig in Sichtweite anderer Männer erlebte, hätte er jeden umbringen können, der sie sah, oder sich ihr näherte. Er hatte das Gefühl, jeder Mann der sie anblickte, raubte ihm ein Stück von ihr.
Andererseits gefiel es ihm, wenn Antarona in ihrer sommerlichen Landestracht vor seinen Augen herumlief. Aber nur er wollte es sehen dürfen, wie ein lebenswichtiges Geheimnis, das er allein für sich behüten und genießen wollte.
Er musste heimlich grinsen. Irgendwann würde Frethnal lernen, die freizügige Kleidungsweise der Mädchen und jungen Frauen aus dem Val Mentiér zu akzeptieren. Spätestens aber, wenn er an Sebastians Seite blieb, und mit ihm in das Tal ging, das so sehr nach Freiheit schrie.
Die meisten Frauen, vornehmlich die jüngeren, das hatte Basti inzwischen mitbekommen, ließen rasch die alten Zwänge fallen und gewöhnten sich sehr schnell an die bequeme, unhinderliche Alltagstracht, wenn sie in die Bergtäler des Festlandes kamen.
Antaronas Mutter, die sich mit dem Holzer verband und nach Fallwasser ging, war das anschaulichste Beispiel. Wie ihre Schwester, Antaronas Tante Xxxx bei ihrer Ankunft in Falméra beklagte, hatte sie all ihre wunderbaren Kleider auf der Insel gelassen und gegen die wilde, freizügige Lederkleidung eingetauscht.
Und Sebastian kannte so etwas, zumindest vom Hörensagen, auch aus seiner Welt. Weiße Frauen, oder Kinder, die beispielsweise von Indianern, oder Maori entführt und in ihre Gemeinschaft integriert wurden, gewöhnten sich sehr schnell an die ungezwungenere Lebensweise, die ihnen insbesondere in der Jugend mehr Freiheiten bescherte, als in der von Kirche und Krone bestimmten Welt.
Sebastian, ebenfalls vom Aufstieg leicht erhitzt, legte seinen Brustpanzer und das Hemd ab. Lediglich den unteren Teil seines Waffenrocks behielt er an. Dann nahmen sie ihre Bündel wieder auf. Antarona hatte für sich und Vesgarina eine Tragetechnik entwickelt, die ihn an Afrika erinnerte.
Sie hatte die Bündel mit einem breiten, weichen Ledergurt versehen, den sie sich auf die Stirn legten, während die last im Rücken ruhte. Sicherlich war diese Trageweise gewöhnungsbedürftig, doch sie schützte die Brüste der Mädchen, die ansonsten unter dem Gewicht zusammengequetscht worden wären.
In der ersten Stunde stiegen sie bis zu der Stelle, an der sie in das Tal der roten Flühen abgebogen waren. Die zweite Stunde quälten sie sich zur Felskante hinauf, die das Tal hinter der Himmelsburg begrenzte und wo das Wasser in den Flutgraben hinabstürzte.
Zum Sonnenaufgang standen sie an der Stelle, wo Antarona und Sebastian bereits schon einmal gestanden waren, und einen Weg in das weite, unter ihnen liegende Tal gesucht hatten. Sie warfen ihre Bündel am Waldrand in das Gras und spähten in die Tiefe.
Mächtige Felsabstürze fußten in einem ausgedehnten, weiten Tal, das zum großen Teil mit Wald bewachsen war. Nur hier und dort wurde der Urwald von steppenartigen Grasgebieten unterbrochen. Unter ihnen breitete sich eine Welt aus, die scheinbar von den Menschen abgeschieden war.
Tatsächlich stellte die Felskante zwischen dem Rest der Insel und der Stadt Falméra, sowie der Bucht und dem Hafen ein natürliches Bollwerk dar, das die Himmelsburg nach Süden und Osten hin zumindest teilweise schützte. Selbst angreifende Truppen mussten mit großem Aufwand aufwarten, wollten sie Burg und Stadt aus dieser Richtung erobern.
Die Gefährten saßen an der Kante des Felsabsturzes, und ließen ihre nass geschwitzten Rücken von der Morgensonne trocknen. Rechts und links neben ihnen ragten verkrüppelte, verdreht gewachsene Nadelbäume mit teilweise freiliegenden Wurzeln über den Abgrund.
Für einen phantasievollen Betrachter sah es so aus, als hätten die Bäume sich zu nahe an die Kante gewagt, beinahe das Gleichgewicht verloren, sich gerade noch im letzten Augenblick zurückgewunden, und wären in dieser Bewegung erstarrt.
Wahrscheinlich aber stürzten regelmäßig Teile des Felsmassivs durch Erosion in die Tiefe, was die Kante bis zum Wald hatte vordringen lassen.
»Also, entweder suchen wir uns einen Weg dort hinunter, oder wir folgen der Felskante, so weit es geht«, dachte Sebastian laut nach.
»Vielleicht wird das Gelände ja noch flacher«, fügte er hoffnungsvoll hinzu. Doch so weit das Auge reichte, zogen sich die Felsfluchten fort, verzweigten sich und waren hier und dort wild zerklüftet. Der Anblick erinnerte Sebastian an Bilder vom Grand Canyon in Amerika. Der einzige Unterschied war der üppige Bewuchs, den das Land in dieser Welt aufwies.
Selbst Antarona vermochte nicht zu sagen, was vorteilhafter war, weiter in den felsigen Höhen herumzusteigen, und Nebenschluchten und Berge umgehen, oder einen halsbrecherischen Weg nach unten zu suchen, um sich im unwegsamen Dschungel durch das Unterholz und Dickicht zu schlagen.
Der einfachste, übliche Weg führte an der Küste entlang über das Wasser, oder durch die westlichen Täler. Beide Varianten kamen aber nicht in Frage, da sie offenbar gesucht wurden, und diese Wege mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit überwacht werden würden.
Sie einigten sich darauf, zunächst dem Verlauf der Felskante zu folgen, bis sich die Gelegenheit für einen ungefährlichen Abstieg ins Tal bot.
Nach einer kurzen Pause gingen sie weiter. Antarona, die in der Wildnis wieder das Gespür dafür entwickelte, sich den Weg zu erahnen, führte die kleine Gruppe an. Einige Male blieb sie stehen, und während die drei anderen die Ausblicke in die Tiefe genossen, schien sie eine Art Gebet zu verrichten.
Sebastian kannte das. Ab und zu sprach sie mit den Göttern, dann wieder mit der Mutter Erde, oder mit einem ihrer Geister. Und oft brachte dieser Dialog jenen, die mit Sonnenherz unterwegs waren, hilfreiche Vorteile. Er bezweifelte aber, dass Antarona tatsächlich mit irgendwelchen Götterwesen kommunizierte.
Vielmehr glaubte er, das sie in der Lage war, im Gebet ihr Bewusstsein zu erweitern, und deshalb mehr sah, hörte, und spürte, als ihre Reisegefährten. Insgeheim hoffte er, dass es ihr auf diese Weise wiederum möglich war, den Weg zu finden, und mögliche Feinde rechtzeitig wahrzunehmen.
Doch er hatte sich getäuscht! Ihre spirituellen Pausen galten weder Göttern, noch Geistern. Wieder einmal ließ sie sich auf gespreizten Knien im trockenen Gras nieder, malte mit den Händen seltsame Symbole in die Luft und wiegte ihren Oberkörper hin und her. Anstelle der Stimme von geheimen Mächten antwortete jedoch ein Laut der irdischer nicht sein konnte.
Ein heiseres, lang gezogenes Krächzen durchdrang das morgendliche Konzert der Singvögel und Insekten. Mit einem lauten Kroooh, Kroooh segelten zwei schwarze Schatten auf der Thermik der von der Sonne beschienenen Felsen heran, fächerten ihre weiten Schwingen auf und landeten auf einem alten Baumstumpf, vor dem Antarona hockte.
Tekla und Tonka! Die beiden treuen Schwarzvögel des Krähenmädchens hatte Sebastian fast vergessen. Mochte sie auch keine Geister anrufen, ihre beiden Krähen aber waren bereits mehr als einmal hilfreich gewesen, wenn es galt, lauernde Feinde zu erspähen, oder in unübersichtlichen Gegenden einen Weg zu finden.
Niemand vermochte zu sagen, wo sich die beiden Rabenvögel bis zu diesem Moment herumgetrieben hatten. Basti vermutete aber, dass sie inzwischen durchaus zum Festland und bis zu Hedarons Haus geflogen waren. Irgendwie brachte Antarona es fertig, ihrem Vater durch die beiden gefiederten Freundinnen Nachrichten zu übermitteln.
Hatte Hedaron der Holzer ebenfalls die Gabe mit Tieren zu kommunizieren? Sebastian wusste es nicht, doch in einem Land der Drachen, Schwerter und unermesslichen Goldschätzen war scheinbar alles möglich!
Antarona sprach leise mit den Krähen, wie Sebastian es von ihr kannte, dann breiteten die Vögel ihre Schwingen aus, ließen den heraufströmenden, warmen Wind unter ihre Flügel fahren und hoben ab, als zog sie eine fremde Macht in die Höhe.
Elegant und Souverän ließen sie sich über die Felskante kippen, nutzten erneut die Thermik und schwebten an den Felsen entlang, folgten dem Tal, bis sie nicht mehr zu sehen waren.
»Im nächsten Tal, welches sich nach der erwachenden Sonne hin streckt, werden Sonnenherz und ihre Gefährten hinunter steigen«, kündigte Antarona ohne weitere Erklärung an.
Sebastian wusste, woher sie ihre Informationen bezogen hatte. Vesgarina und Frethnal blickten sie jedoch mit Verwunderung an. Sie sagten aber nichts, denn sie hatten nie erlebt, dass sich ihre Herrin getäuscht hatte.
Bis zum Mittag veränderte sich die Landschaft nicht, außer, dass die Schlucht unter ihnen immer breiter wurde. Sebastian schätzte die Entfernung zwischen den Felswänden auf eineinhalb Kilometer. Und nach Süden hin schien sich der Talboden stetig zu verbreitern.
Von Geologie verstand er nur so viel, wie er in der Schule gelernt hatte. Doch das reichte aus, um nachvollziehen zu können, was sich während der Erdgeschichte in diesem Landstrich abgespielt hatte.
Wahrscheinlich thronte irgendwann einmal, vielleicht vor hunderttausend Jahren, dort, wo nun die Himmelsburg auf einem Felsen saß, ein mächtiger, hoher Berg. Das war vermutlich zu einer Zeit gewesen, da Falméra noch mit dem Festland verbunden gewesen war.
Von diesem Berg und seinen steinernen Vasallen flossen große Gletscher nach dem Süden hin, hobelten tiefe Rinnen aus dem Land, und vereinten sich zu einem gigantischen Eisstrom, der mit seinem Gewicht und seinem Vorschub das weite Tal geschaffen hatte.
Mochte es ein Erdbeben, oder ein Vulkan gewesen sein, der den Berg ins Meer stürzen ließ, das blieb Sebastian verborgen. Zurück blieb die Felsbarriere, wie ein halber, riesiger Krater, mit der Himmelsburg im Zentrum. Wo der Berg ins Meer rutschte, quasi auf seinem Bergsturz, entstanden Bucht, Hafen und die Stadt Falméra.
Zum Süden hin musste der Eisstrom, seines Hauptlieferanten an Schnee, sowie seiner Wetterscheide beraubt, allmählich abschmelzen. Zurück blieben die Vertiefungen im Land, die durch Erosion die steilen Felswände ausbildeten. So, oder zumindest so ungefähr musste es sich abgespielt haben.
Im Grunde wanderten sie nun auf der Seitenmoräne eines ehemaligen Gletschers. Freilich fand er kaum ein Detail, das seine Theorie bestätigte. Aber vor seinem geistigen Auge vollzog sich eine Jahrhunderte lange, geologische Entwicklung.
Während ihrer Wanderung wurden die Felsabstürze immer zerrissener, zerklüfteter. Teilweise standen Felstürme wie Finger, oder Nadeln von der Basiswand ab, oder es reichten bis zu zwanzig Meter dicke Risse weit in den Wald hinein.
Manchmal wurde es gefährlich, wenn sie versuchten, einen dieser Risse zu umgehen. Im Wald waren oft kleinere Nebenrisse, die aber immer noch eine Breite von zwei Metern hatten, von Todholz, Gestrüpp, Laub und Moos bedeckt.
Ein falscher Tritt und man konnte auf nimmer Wiedersehen in einer der Erdspalten verschwinden. Allein Antaronas Gabe, den Weg auch mit dem geistigen Auge zu sehen, verhinderte ein Unglück.
Einmal führte sie ein Spalt gut einen halben Kilometer in den Wald hinein. Das felsige, von vielen durchzogene Gelände besaß einen wilden Charakter. Verdrehte und verkrüppelte Kiefern wuchsen auf dünnem Nährboden, der kaum den steinernen Untergrund bedeckte. Die Wurzeln fußten eher in den verborgenen Rissen, denn in Erde.
An der hohen Kante der Schlucht mussten ungewöhnliche, verwirbelte Winde herrschen, anders konnte sich Sebastian solch verwundenen Wachstum nicht vorstellen. Wie skurrile Lebewesen mit vielen durcheinander greifenden Armen und Beinen sahen die Bäume aus.
Geriet man im Nebel in diesen Wald, so mochte man schon geneigt sein, an Geister und Gespenster zu glauben. Zwischendurch, dort, wo sich dicke Moospolster angesiedelt hatten, wuchsen mächtige Farne, die nicht selten zwei Mann hoch waren. Basti hätte sich kein bisschen gewundert, wenn plötzlich ein Dinosaurier hinter einem Felsen hervorgekommen wäre.
Je tiefer sie in den Wald eindrangen, desto mehr üppigen Reichtum an Flora wies dieser auf. Es gab Glockenblumen, die man getrost hätte als Kaffeekannenwärmer benutzen können, sowie Teller große Veilchen, die einen so betörenden Duft verbreiteten, dass man kaum noch Luft bekam.
An anderer Stelle wuchsen Früchte am Boden, die vom Aussehen der Basti bekannten Erdbeere nicht unähnlich waren. Nur, dass diese die Größe eines kleinen Kürbisses aufwiesen. An einer anderen Stelle, auf einem sonnigen Felsabsatz, lag eine seltsam verkrümmt und verschlungene Wurzel, der Farbe nach, die einer Kiefer.
Sebastian wollte sie näher untersuchen, als Antarona ihn plötzlich brutal zurückriss. In der nächsten Sekunde wusste er warum. Mit warnendem, lauten Zischen fuhr die Wurzel unverhofft und schnell in die Höhe, riss ihr Maul auf und zeigte drei furchteinflößende, spitze, nadelartige Zähne, die so lang wie die Hand eines ausgewachsenen Mannes waren. Sebastian fuhr zurück, als wäre er in ein Wespennest getreten.
Was da auf einem Mal vor ihm lebendig geworden war, hatte nichts gemein mit einer dieser Schlangen, die den Spion im Tal der roten Flühen getötet hatte. Diese hier hatte eher Ähnlichkeit mit den Giftschlangen, die Sebastian aus seiner Welt kannte. Drohend, mit geöffnetem Maul richtete sie sich auf und erreichte mit ihrem Kopf eine Höhe von zwei Metern. Und dazu musste sie sich nicht einmal sehr anstrengen.
Gleichzeitig rissen Antarona und Sebastian ihre Schwerter heraus. Dieses Vieh mochte locker einen ausgewachsenen Menschen verschlingen!
»Geht ganz langsam zurück, macht keine schnellen Bewegungen«, ermahnte sie Antarona. Vesgarina und Frethnal standen wie erstarrt da. Antarona spürte die Panik, die in Bastis Kammerdiener hochstieg. Eindringlich aber ruhig sagte sie über die Schulter:
»Frethnal, bei den Göttern, versucht nicht davonzulaufen! Bleibt ruhig, sonst seid ihr verloren! Denkt an Vesgarina, nehmt ihre Hand und geht ganz langsam zurück, und um der Götter Willen, stolpert nicht!«
Währenddessen versuchte Sebastian abzuschätzen, wie die Schlange angreifen würde, und in welchem Winkel er sie am besten mit dem Schwert erwischen konnte. Das Tier wiegte den Kopf hin und her, wie das eine Kobra tat, und kroch ganz langsam näher.
Frethnal und Vesgarina hatten sich noch nicht einen Zentimeter bewegt. Fauchend fuhr Antarona die beiden an, und machte dabei der Schlange ernsthafte Konkurrenz:
»Verdammt, nun macht schon! Geht los, langsam, aber geht endlich los, wenn ihr die ruhende Sonne noch erleben wollt! Langsam!«
Die Schlange blinzelte sie abwechselnd an, konnte sich anscheinend nicht entscheiden, welchen der Zweibeiner sie als ersten attackieren sollte. Diese Unschlüssigkeit rettete den Gefährten das Leben, gab sie doch Antarona die Zeit, ihre Sinne auf das Tier zu konzentrieren.
Ruhig, aber mit bereiter Schwerthand, redete sie auf das Tier ein. Es schien, als wirkte Antaronas Stimme hypnotisierend. Gleichzeitig zogen sich Vesgarina und Frethnal zurück. Sebastian jedoch blieb an der Seite seiner Frau, er dachte gar nicht daran, sie mit diesem tödlichen Biest allein zu lassen.
»Geht auch zurück, Ba - shtie!« befahl Antarona mit gepresster Stimme. »Er hat Angst und er fühlt sich bedroht. Zeigt ihm, dass wir ihm nichts tun wollen, so wird er uns ebenfalls nicht angreifen!«
Nur zögernd wich Sebastian zurück, aber bereit, wieder vorzuspringen, sollte das Vieh auf das Krähenmädchen losgehen.
Antarona ging nun auch langsam drei Schritte zurück, sprach aber immer noch beruhigend auf die Schlange ein. Das Tier folgte ihr nicht mehr, senkte allmählich sein Haupt, verharrte aber in lauernder Stellung. Wie mechanisch schoss die gespaltene Zunge des Reptils vor und zurück, als wollte das Tier ihnen mitteilen, Bleibt mir vom Leib, rührt mich nicht an!
Langsam senkte Antarona das Schwert und zog sich ebenfalls zurück, allerdings, ohne das Tier aus den Augen zu lassen. Erst, als sie einen großen Abstand zwischen sich und die Bedrohung gebracht hatten, wagten sie sich umzuwenden, und sich normalen Schrittes zu entfernen.
Nach dieser Erfahrung gingen sie einen weiten Umweg, tiefer in den Wald hinein. Wahrscheinlich gab es noch mehr Schlangen, die sich auf den Felsterrassen sonnten.
»Was war das jetzt gerade wieder?« entfuhr es Sebastian, als sich die Anspannung löste. »Das Biest hatte Glück, dass ich ihm nicht den Kopf abgeschlagen hatte!« setzte er noch hinzu, wohl mehr um seine Angst zu kaschieren, die ihm noch in den Knochen saß.
»Ihr hattet Glück, Ba - shtie, dass der Sis-tà-wàn durch so viele Menschenwesen überrascht war. Er hätte euch sonst in das Reich der Toten befördert, noch bevor ihr Zeit gehabt hättet, nach eurer Waffe zu greifen«, klärte ihn Antarona auf. Und etwas ärgerlich fuhr sie fort:
»Ihr alle hattet Glück! Dieser Sis-tà-wàn besitzt die Zauberzähne. Egal, wo er euch beißt, ihr könnt dem Tod nicht mehr entrinnen. Und er ist schnell, viel schneller, als eine aufgeregte Elsire! Wer gebissen wurde, dem fährt ein heißer Strom durch den Leib, der einen jeglichen in wenigen Augenblicken aus dem leib heraus verbrennt!«
Sebastian war klar, dass seine Frau Gift meinte. Doch diesen Begriff schien sie im Zusammenhang mit einem Sis-tà-wàn nicht zu kennen. Er war dankbar, aber auch verärgert, dass sie sich zwischen die Schlange und ihre Gefährten gestellt hatte. Irgendwie hatte er jedoch das Bedürfnis, ihr dafür mit ein par Worten seine Anerkennung und Dankbarkeit auszusprechen.
»Es war aufopferungsvoll und Mutig von dir, aber auch sehr gefährlich, dich dem Biest entgegen zu stellen«, begann er, und wollte weiter fortfahren, als Antarona ihn vorwurfsvoll unterbrach:
»Es war dumm von Sonnenherz, Ba - shtie, sehr dumm! Sonnenherz wäre niemals schnell genug gewesen, hätte der Sis-tà-wàn angegriffen. Niemand ist so schnell! Er hatte gerade gefressen und wollte nur in Frieden ruhen. Er sah Sonnenherz und ihre Gefährten als Gefahr, darum drohte er mit seinen Zauberzähnen.«
Basti wurde klar, dass Antarona alles auf eine Karte gesetzt hatte. Wäre die Schlange auf Beute ausgewesen, so wären sie wohl nicht mit heiler Haut davongekommen. Zudem rettete sie Antaronas Fähigkeit, mit Tieren zu kommunizieren. Ihre Gabe hatte ihm schon einige male aus der Klemme geholfen.
Schweigend gingen sie weiter, drangen tiefer in den Wald ein, aufmerksam, vorsichtig, darauf gefasst, jederzeit wieder einer Bedrohung, oder einer neuen Gefahr gegenüber zu stehen. Und die schienen überall zu lauern.
Sie waren etwa eine halbe Stunde gegangen, als sie auf eine Lichtung kamen, die Sebastian ungewöhnlich vorkam. Zunächst mochte er aber nicht zu erkennen, was diese so besonders machte. Erst, als Antarona sie alle aufforderte, die Waldwiese weit zu umgehen, wurde ihm augenfällig, was daran nicht stimmte.
Jede Grasfläche war aufgrund des felsigen Untergrunds und der stets sommerlichen Temperaturen gelb bis graubraun, eben von der intensiven Sonne ausgetrocknet und verbrannt. Diese Lichtung jedoch war grün!
Als hätte gerade ein länger anhaltender Regen diesen Flecken Erde mit Wasser beglückt, stand die Weide in frischem, leuchtenden Grün. Fragend sah Sebastian das Krähenmädchen an. Antarona nahm einen dickeren Ast und schleuderte ihn weit in die Waldwiese hinein.
Dort, wo er aufschlug stieg sofort in weiterer Umgebung ein geheimnisvoller Nebel auf, hing Minuten lang über dem Boden, wurde dann vom leichten Wind erfasst und davongetragen. Nun blickte Sebastian noch verwunderter drein.
Antarona ging behutsam auf den Rand der Lichtung zu, blieb aber einen Meter davor stehen und gebot ihren Freunden mit erhobener Hand auf keinen Fall weiter zugehen. Dann nahm sie einen langen, dünnen Ast, streckte den Arm und teilte mit dem Astende vorsichtig den hohen Grasteppich.
Zwischen den Ellen hoch wachsenden Gräsern standen Pilze mit leuchtend gelben Kappen, deren Oberfläche winzige Poren aufwiesen. Sie besaßen verschiedene Größen, vom Durchmesser einer Goldmünze, bis hin zum Umfang eines Kuchentellers.
Ganz leicht berührte Antarona die Kappe eines kleinen Pilzes. Augenblicklich trat aus seinen Poren ein nebelartiger Staub, fast wurde er wie ein Hauch herausgeblasen. Wie ein schweres Gas schwebte der Nebel eine Weile zwischen den Grashalmen, bevor er mit dem nächsten Windzug davon wehte.
»Es ist Ha-ma-tsi, ein sehr starkes Gift«, erklärte Antarona, »wer auch nur sehr wenig davon einatmet, erstickt auf der Stelle!« Sie holte mit dem Arm aus und bezeichnete die gesamte Weide, bevor sie fortfuhr:
»Die Pilze schützen mit ihren Wolken die Wiese. Sie sammeln Wasser, wenn es regnet und geben es der Weide, wenn die Sonne eine lange Trockenheit bringt. Dafür verbirgt das Gras die Pilze vor Feinden. Stirbt ein Wesen in den Wolken, so verzehren es die Pilze durch die Erde.«
Demonstrativ suchte Antarona mit dem Zweig das Gras ab. Dann fand sie, wonach sie gesucht hatte. Ein Wasel hatte sich in die Weide verirrt und war an der Wolke erstickt. Ein feiner Schimmel überzog den Kadaver und an einer Stelle wuchs ein neuer Pilz aus dem Fell des Wasel heraus. So funktionierte das!
Sebastian war schockiert und beeindruckt zugleich. Von so einem Pilz hatte er noch nie gehört, und er bezweifelte, dass es so etwas in seiner Welt gab. Die biologische Symbiose war perfekt. Das hohe, saftige Gras lockte die Opfer in die Pilze, die sofort ihre giftigen, rasch tötenden Sporen abgaben. Ein verendetes Lebewesen wurde sofort von neuen Pilzkulturen zersetzt.
Als Gegenleistung für die natürliche Tarnung spendeten die Pilze der Wiese das lebenswichtige Wasser, das sie während des seltenen Regens auf Falméra in ihrer schwammigen Struktur speicherten. Ein ausgeklügeltes Miteinander von zwei Pflanzen, die voneinander profitierten. Keine lebte ohne die andere.
»Gibt es hier noch andere gefährliche Pflanzen und Tiere, von denen ich wissen sollte?« fragte Sebastian, nachdem er die Pilze und die Schlange geistig verarbeitet hatte. Vesgarina machte nun eine erklärende Geste, indem sie ihren Arm senkrecht hielt, und die Handfläche des anderen Armes dagegen hielt.
Er verstand nicht und blickte Antarona an, die auch nicht sofort begriff, was das Mädchen meinte. Da sagte Frethnal etwas, das für Basti aber ebenfalls keinen Sinn ergab:
»Sie meint die Dummblätter! Diese wachsen auch in der Nähe der Himmelsburg, sogar an der Wehrmauer habe ich sie schon gesehen.« Endlich wurde auch Antarona klar, welches Kraut sie meinten.
»Ja, da gibt es noch die Blätter, welche wirr im Kopf machen«, erklärte sie wie beiläufig, »diese findet ihr beinahe überall.« Sie nahm wieder den langen Zweig zur Hand, und ging voran, weiter in den Wald hinein, wo er noch dichter und üppiger wuchs.
Im Schatten eines hohen Felsgebildes steckte sie ihren Stock in ein Büschel übergroßer Brennnesseln, die sich dort angesiedelt hatten.
»Che-na-tsi, die Blätter, welche wirr im Kopf machen«, verkündete sie mit der Emotionslosigkeit einer gelangweilten Lehrerin.
»Ich kenne das Kraut«, gestand Sebastian, »ich weiß, dass es fürchterlich auf der Haut brennt, wenn man sich an den Blättern sticht.« Antarona sah ihn skeptisch an und berichtigte ihn:
»Es ist Brennen und Jucken gleichsam. Doch es macht auch wirr im Kopf. Berührt einer diese Blätter zu oft, so weiß er nicht mehr, was er tut! Einige Menschenwesen schlagen sich mit ganzen Büscheln, auf dass sie in einen Rausch fallen, welcher ähnlich jenem, der Elsiren ist.« klärte sie ihn auf.
»Besser, ihr haltet euch von diesen Blättern fern, Ba - shtie!« Dass diese Pflanze auch eine heilende Wirkung besitzt, erwähnte sie nicht. Kannte Antarona etwa diese Eigenschaft der Brennnessel nicht? Da Sebastian nicht genau wusste, gegen welche Leiden der Tee aus diesem Wildkraut eingesetzt wurde, beließ er es zunächst dabei.
Sie setzten ihren Weg fort, und bis um die Mittagsstunde erreichten sie den Seitencanyon, von dem Antarona gesprochen hatte. Die Felsen wurden zerklüfteter, der Boden immer zerrissener.
Dort, wo der Seitenarm der Schlucht in das Haupttal überging, standen mächtige, von der Felswand abgespaltene Türme aus grauem Stein. Nicht weniger als hundert Meter ragten einige vom Talboden auf. Ihre Häupter waren mit Bäumen, Sträuchern und Gräsern bedeckt, und maßen geschätzte dreißig bis hundertzwanzig Quadratmeter in der Fläche.
Hätte man die Gipfel dieser Türme bequemen Fußes erreichen können, so hätte jeder von ihnen eine perfekte, uneinnehmbare Festung darstellen können. Häuser große Trümmer am Talboden erzählten jedoch, dass diese Felsmonumente auch jederzeit in sich zusammenbrechen konnten.
Es wurde für Antarona und ihre Gefährten immer schwieriger, sich auf der Felskante zu bewegen. Zu viele Umwege, gewagte Sprünge über Felsspalten sowie Kraft raubende Klettereien behinderten ein zügiges Vorankommen.
Die gegenüberliegende Seite der Klamm zeigte ihnen, wie weit die Felskanten zerspalten waren. Da sie Gefahr liefen, dass früher oder später einer von ihnen ins Leere treten, und abstürzen würde, beschlossen sie, ihren Weg weiter von der Abbruchkante entfernt fortzusetzen.
Immer tiefer drangen sie in den Urwald ein, und stellenweise mussten die Schwerter ihnen den Weg durch das Unterholz bahnen. So ging das bis in den Nachmittag hinein. Bald wussten sie kaum noch, wo sie sich befanden. Nur eine grobe Richtungsbestimmung anhand des Sonnenstandes war noch möglich.
Ab und zu sahen sie durch das Blätterwerk der Bäume hindurch himmelhoch aufstrebende Felsen leuchten. Das Tal, in dem sie sich bewegten, schien von hohen Bergen gesäumt, deren Fuß sie nur erahnen konnten.
Nur um Frischwasser mussten sie sich nicht sorgen. Überall sprudelten Quellen, sprangen kleine, kristallklare Bäche zu Tal, die Erfrischung versprachen. Einmal, als sie von zu vielen Mücken geplagt wurden, die sich von ihrem Körperschweiß angezogen fühlten, warfen sie sich in einen kleinen Tümpel, der am Rande eines Baches entstanden war.
Ausgelassen planschten sie herum, und kühlten sich ab. Antarona und Sebastian brachten den beiden Dienern ihr Wurfspiel mit den kleine Steinchen bei. Vesgarina und Frethnal fanden rasch Gefallen daran, und wollten den Spaß gar nicht mehr enden lassen.
Nach dieser Abkühlung schlugen sie sich mit neuer Kraft durch das Gestrüpp des Dschungels. Doch die Orientierungslosigkeit, die an den Nerven zerrte, blieb. Auch das dornige Strauchwerk des Unterholzes wurde zur ständigen, belastenden Begleitung ihrer Wanderung.
Die fast nackten Körper der beiden Mädchen waren inzwischen von unzähligen Kratzern und Schnitten gezeichnet. Ihre Beine versuchten sie dadurch zu schützen, dass sie sich lange Lederlappen um die Schenkel banden, die ihnen bei jedem Schritt wie abgelöste Haut um die Beine schlugen. Doch keine von beiden jammerte, oder klagte. Dies war eben der Preis für die Freiheit.
Die Idee, ihre Kleider anzulegen, verwarfen sie bereits in dem Augenblick, als der Gedanke daran aufkam. Abgesehen vom Umstand, dass sie darin derart schwitzen würden, dass ihnen die Sachen wie Tapete am Körper kleben musste, würden die Dornen selbst groben Stoff binnen einer Stunde in Fetzen gerissen haben.
Aber auch Sebastian und Frethnal vermochten ihre Oberkörper nicht wirklich zu schützen. Die einzige Möglichkeit den scharfen Krallen der Sträucher zu entgehen, bestand im schonungslosen Gebrauch der Schwerter. Allerdings vermochten auch die kräftigen Klingen nicht, ihnen einen besseren Überblick über ihren Weg zu verschaffen.
Häufig rief Antarona ihre beiden Krähen herbei, und schickte sie auf Erkundung. Tekla und Tonka erwiesen sich als perfekte Pfadfinder. Die Sonne befand sich bereits im letzten Abschnitt ihres Tageslaufs, als Antarona verkündete:
»Hinter dem nächsten Berg erstreckt sich ein großes Grasland, welches in die Schlucht führt. Es gibt dort einen großen See, aber keine Deckung mehr!« Wiederum fragte sich Basti, wie sie solche detaillierten Informationen aus ihren gefiederten Freundinnen heraus bekam.
Tatsächlich veränderte sich der Wald, während sie über den nächsten Hang schritten. Die Bäume standen nicht mehr so dicht, wechselten von Laubbäumen zu Föhren, und das Dickicht, das ihnen mit seinen dornigen Waffen so zugesetzt hatte, verschwand.
Statt dessen begleiteten sie nun die langen Schatten der hohen Wetterkiefern, die in lockeren Gesellschaften standen, als hätten sie Gruppen gebildet, die sich miteinander unterhielten. Geheimnisvoll knarrten ihre Stämme im leichten Abendföhn.
Hier und dort erstreckten sich bereits Lichtungen und Schneisen im Wald, deren Flächen größer wurden. Das hohe, gelbbraune Gras wiegte sich im Wind, formte Wellen, wie eine Wasserfläche. Die tief stehende Sonne, die immer noch genug Kraft besaß, wärmte ihre ungeschützten Körper und Antarona sah im rötlichen Licht aus, wie eine Bronzefigur, die zum Leben erwacht war.
Vesgarinas Rücken begann sich leicht zu röten. Sie war die Sonne nicht gewohnt. Doch das Mädchen ließ sich nicht überreden, ein Kleid anzuziehen. Viel zu lange war sie auf der Burg mit zuviel schwerem Stoff auf dem Leib umher gelaufen. Nun genoss sie ein völlig neues Freiheitsgefühl.
Sie durchwanderten eine weite Senke, in der nur noch vereinzelte Grüppchen von Kiefern standen. Überall ragten helle Felsen, wie kleine Burgen aus dem Grasland, und an einer Stelle lag eingebettet in das friedliche Bild ein kleiner Tümpel, der den Tieren offenbar als Tränke diente. Das Ufer war von Hufspuren und Tatzenabdrücken übersät.
Das Landschaftsbild erinnerte Sebastian an die Winnetou- Filme, die er als Kind so geliebt hatte. Nun schritt er selbst durch ein solches Land, und an seiner Seite ging eine Frau, die einer Indianerin nicht ähnlicher sein konnte.
An der Wasserstelle hielten sie sich nicht lange auf. Zur Dämmerstunde würde es viele Tiere zur Tränke ziehen. Sebastian war nicht scharf darauf, zu erfahren, welche davon möglicherweise Raubtiere waren, die ihn auf die Speisekarte ihres Abendessens setzen könnten.
Auf der Suche nach einem Lagerplatz für die Nacht, stiegen sie den nächsten Hang hinauf. Was sie oben erblickten, ließ Sebastian schlicht den Atem stocken. Eine unendlich scheinende, weite Steppe breitete sich vor ihnen aus, eingerahmt von bizarren Felsbergen, die sich in der Blickrichtung mit der Sonne gestochen scharf und klar zwischen dem Grasmeer und dem Himmel abhoben.
Jeder Pfeiler, jede Scharte, Grate, Wände, und Gipfel waren deutlich erkennbar. Darunter lag, von der Sonne golden beschienen, das sich Kilometer weit erstreckende, hüfthohe Gras. Selten unterbrach ein Felsen, oder eine Baumgruppe diese Weite.
Etwa einen Kilometer entfernt schimmerte ein größerer See in leuchtendem Türkisblau als Farbtupfer im wogenden, goldgelb leuchtenden Ozean aus Gras. Was für ein Land! Noch nie hatte Sebastian so etwas gesehen, und niemals hätte er vermutet, das auf dieser Insel, die er für so klein gehalten hatte, vorzufinden.
Einmal hatte er eine Fernsehdokumentation über die Serengeti Afrikas gesehen. In diesem Augenblick fühlte er sich genau dorthin versetzt. Auch seine Gefährten waren von diesem Anblick fasziniert. Selbst Antarona kannte das noch nicht, obwohl das Land im Tal der roten Flühen dieser Landschaft glich, eben nur überschaubarer.
»Meinst du, wir können dort unten am See unsere Felle für die Nacht ausbreiten, ohne dass uns irgendeine Kreatur beißen, oder verspeisen will?« fragte Sebastian seine Frau, nicht ganz ohne Ironie.
»Der See ist groß genug für alle Wesen der Götter«, antwortete sie beinahe ehrfürchtig, »Ja, Ba - shtie, dort unten soll die Ruhestatt für diese Nacht sein!«
»Na dann, worauf warten wir noch?« forderte Basti die anderen auf. Die kleine Gruppe von Menschen, verloren in einer unüberschaubaren Ebene wogenden Grases, wie Milben auf einem Bärenpelz, setzte sich in Bewegung.
Nach einer Weile waren sie alle von einer feinen, gelblichen Staubschicht überzogen, die aus den Ähren der Gräser zu kommen schien. Manchmal, wenn der Wind leicht über die Steppe fuhr, wirbelten kleine Wolken von Blütenstaub auf und zogen über das Tal.
Endlich erreichten sie den See, der vom Ufer aus noch größer wirkte. Auf der Wasserfläche hatte sich ebenfalls Blütenstaub abgelagert, der in langen, hellgelben Schlieren die Uferlinie nachzeichnete.
Hier und dort säumte ein breiter Schilfgürtel das Ufer, während an anderer Stelle dunkler Sand bis ans Wasser reichte. Sie wanderten am der Sonne zugewandten Ufer entlang, bis sie eine ansprechende Stelle fanden, die ihnen für die Nacht am geeignetsten erschien.
Ein par alte, knorrige, und verdrehte Bäume standen nahe an einer Gruppe flacher Felsen, die wie monumentale, übereinander gelegte Platten aussahen. Bis zum Wasser, dem ein Gras bewachsener Strand vorgelagert war, ging es nur ein par Meter.
Die Felsen und Bäume, so erklärte ihnen Antarona, würden den Schein des Feuers eindämmen, und verhindern, dass Feinde auf sie aufmerksam wurden.
»Ich denke, der See ist groß genug für alle, und das Raubzeug wird uns in Ruhe lassen«, wiederholte Sebastian Antaronas Prophezeihung.
»Ba - shtie, Sonnenherz meinte damit die Tiere! Vor ihnen braucht ihr euch nicht zu fürchten. Vor den Feinden mit zwei Beinen jedoch, solltet ihr auf der Hut sein. Sie rauben und morden aus Niedertracht.« Sebastian musste ihr leider Recht geben.
Allerdings bezweifelte er, dass sich die Spione, und Meuchelmörder Torbuks in dieser abgelegenen Gegend herumtrieben. Eher wahrscheinlich war, dass diese sich in der Anonymität der vielen Menschen Falméras verbargen.
Im goldenen Licht der Abendsonne richteten sie ihr Lager her. Die Mädchen kümmerten sich um die Feuerstelle und die Schlafstätten, Frethnal und Sebastian schweiften weit um das Lager herum und suchten nach Holz abgestorbener Bäume. Doch viel gab es nicht zu finden.
Ärgerlich darüber, dass sie nicht bereits im Wald Feuerholz gesammelt hatten, kehrten sie mit gerade mal zwei Armen voll Holz zurück. Es würde kaum reichen, das Feuer die ganze Nacht hindurch brennen zu lassen. Andererseits konnten sie auch nicht noch mal den ganzen Weg bis in den Wald zurücklegen.
Vesgarina und Antarona hatten inzwischen aber entdeckt, dass aus einem der Bäume, die ihr Lager umstanden, bereits vor Ewigkeiten das Leben gewichen war. Er trug keine Blätter mehr, der Stamm war morsch und trocken, so dass es wunderte, warum ihn der Wind noch nicht umgeworfen hatte.
Frethnal half Sebastian, das Holz Feuer gerecht zu verkleinern. Mittlerweile hatten sich die Mädchen in das Wasser des Sees begeben. Mit Speeren bewaffnet standen sie nur mit dem winzigen Hüftschurz bekleidet in der Sonne, drehten sich langsam um die eigene Achse, ohne die glatte Wasserfläche mit Wellen zu stören, und hielten nach Fischen Ausschau.
Ihr Anblick rief bei den Männern Sehnsüchte wach, die sie während der anstrengenden Wanderung verdrängt hatten. Kaum einer von ihnen vermochte seinen Blick von den verführerischen Badenixen abwenden.
Frethnal, der dabei war, das Holz des alten Stammes mit dem Schwert zu zerhacken, schielte mit einem Auge stets zum halbnackten Geschöpf seiner Begierde hinüber. Sein Blut begann zu kochen, und seine Sinne waren nicht mehr bei der Arbeit. Sebastian erging es nicht anders.
Erneut holte der Kammerdiener aus, und ließ das Schwert niedersausen. Doch er achtete nicht mehr, wohin er die Klinge lenkte. Die Schneide traf schräg auf ein Astauge, rutschte ab und säbelte knapp an Sebastians Bein vorbei.
»Verflucht noch mal, Frethnal, schlaft ihr?« tobte er und fuhr seinen Diener so laut an, dass dieser vor Schreck zusammenzuckte.
»Mensch Kerl, so gebt doch acht«, schimpfte Basti, »wenn ihr so weiter macht, dann brauchen wir nicht auf Torbuk zu warten, dann massakrieren wir uns selbst!«
Im Grunde ärgerte er sich mehr über sich selbst. Denn er konnte sich genauso wenig auf das Holzhacken konzentrieren, solange die beiden Mädchen in aufreizender Pose vor ihnen herumstelzten. Das dünne Leder ihrer Hüftschurze klebte ihnen inzwischen nass auf der Haut und regte die Fantasie der Männer noch mehr an.
Antarona und Vesgarina sahen zu ihnen herüber, steckten die Köpfe zusammen, es schien, als flüsterten sie sich heimlich etwas zu, und Antarona fing an, laut zu kichern. Ihnen war nicht entgangen, welche Wirkung ihr Anblick auf die Männer hatte. Ebenso wenig wie die sich auf das Holz konzentrieren konnten, waren sie noch in der Lage, ernsthaft Fische zu fangen. Und sie gaben sich auch keine Mühe mehr.
Statt dessen alberten sie herum, und begannen, sich übermütig nass zu spritzen. Dabei meinte Basti sogar Vesgarina lachen gehört zu haben. Die beiden Freundinnen gebärdeten sich, als ob sie dadurch die Erfüllung höchster Lust verspürten. Sie wackelten aufreizend mit ihren Hüften und berührten sich wie rein zufällig in einer Weise, die eine bewusste Provokation offensichtlich werden ließ.
Nur noch oberflächlich taten Sebastian und Frethnal so, als arbeiteten sie ernsthaft an ihrem Feuerholz. Ihre Körper glänzten vor Schweiß, der aber ganz sicher nicht durch die Arbeit entstand. Der Anblick der Mädchen heizte sie auf, und keiner von beiden war mehr zu einem sinnvollen Handgriff fähig.
Die beiden Frauen hatten die Schwäche ihrer Helden vom ersten Augenblick an zu ihrem Vergnügen ausgenutzt und machten sich nun einen Spaß daraus, das Spiel bis zum Äußersten zu treiben, um Frethnal und Sebastian vollends aus der Fassung zu bringen.
Antarona tat, als strich sie ihrer Freundin mit sanften Händen das Spritzwasser vom Körper, und zeichnete dabei unmissverständlich ihre Kurven nach. Dem stummen Mädchen gefiel das anscheinend, denn sofort stieg sie in die aufreizende Darbietung mit ein und beide schienen die Männer vergessen zu haben.
Frethnal stand inzwischen wie erstarrt da, glotzte zu den Mädchen hinüber, und hatte vergessen, seinen Mund zu schließen. Eine Mischung von Erstaunen, Faszination und Begierde war in seinem Gesicht zu lesen.
Vergeblich versuchte Sebastian ihn aus seiner Trance zu reißen, denn er wollte ihre Schwäche nicht so offensichtlich zeigen, und den Frauen den Sieg über ihr Verlangen überlassen. Doch sein Kammerdiener reagierte gar nicht mehr. Er stierte zum Wasser hin und gierte danach, sich in den Reigen der Verführung zu gesellen.
Beide Mädchen hielten ihre zierlichen, schlanken Körper eng umschlungen. Fast nackt, und mit dampfender Haut standen sie im seichten Wasser des Sees, das den Schein des Abendlichts schimmernd wiederspiegelte. Von der gerade untergehenden Sonne rotgolden beleuchtet, boten sie Frethnal und Sebastian ein Bild vollkommener Sinnlichkeit.
Die zärtlichen Küsse und das zaghafte Streicheln, mit dem sich beide beglückten, brachte Sebastians Eifersucht an ihren Höhepunkt. Was dachten die beiden sich eigentlich? Schmusten miteinander herum, und überließen ihre Männer ihren Phantasien. Das reichte nun aber!
Sebastian hieb sein neues Schwert in den Baumstamm, den er mit Frethnal zu Kleinholz zu verarbeiten suchte und riss sich den Waffenrock vom Leib. Zu Frethnal sagte er mit ärgerlicher, bestimmter Stimme:
»Frethnal, lasst das Holz, wir gehen jetzt fischen!« Ohne darauf zu achten, was sein Kammerdiener tat, ging Sebastian mit nie da gewesener Entschlossenheit zum Wasser, und marschierte ohne seinen Schritt zu verlangsamen in die Fluten, so dass er eine spritzende Bugwelle vor sich her schob.
Erstaunt und überrascht blickten ihm die beiden Mädchen entgegen, lösten sich voneinander, und erwarteten neugierig, was nun folgen sollte. Sie standen weiter im See, als Basti vermutet hatte. Und als er sie fast erreicht hatte, und sich umblickte, sah er den Schilfgürtel links und rechts wie ein schemenhaftes, dunkles Band daliegen.
Dazwischen, auf dem kleinen Stück von der roten Sonne beleuchteten Strand sah er Frethnals silhouettenhafte Gestalt ihm folgen. Sebastian verminderte seinen raschen Schritt nicht, und pflügte mit aller Kraft seiner Beine durch den See, bis er die beiden Frauen erreicht hatte, die seine Sinne berauscht hatten, wie Sirenen, die ahnungslose Matrosen betörten.
Ohne auf Vesgarina zu achten, packte er Antarona, hob sie kompromisslos hoch und warf sie in hohem Bogen ins Wasser, das hoch um sie herum aufspritzte. Schnaufend, prustend und mit den Armen rudernd kam sie wieder hoch und in ihren Augen leuchtete und blitzte es gefährlich.
»Was fällt euch ein, so mit Sonn...« Weiter kam sie nicht. Sebastian riss sie ungeachtet ihres Versuchs, sich zu wehren, an sich und verschloss ihren frechen Mund mit einem fordernden Kuss.
»Was fällt dir ein, mich erst heiß zu machen, und dich dann mit deiner Dienerin zu vergnügen?« erwiderte er ihren unausgesprochenen Vorwurf.
»Jetzt bist du hoffentlich etwas abgekühlt«, fügte er atemlos hinzu, »und jetzt werde ich dich heiß machen!« Damit nahm er sie erneut auf seine kräftigen Arme und trug sie dem Schilfgürtel zu. Sie lächelte süß, schlang ihre Arme um seinen Hals und hauchte ihm ins Ohr:
»Das hat aber gedauert, Ba - shtie, Sonnenherz hatte schon geglaubt, ihr wollt sie nicht mehr.« Sebastian grinste sie frech an und raunte zurück, als hätte er Angst gehabt, Frethnal und Vesgarina wollten sie belauschen.
»Und wie ich dich will! Ich werde dir zeigen, wie sehr ich dich will!« Das Schilf teilte und schloss sich hinter ihnen, und verbarg das zärtliche Geheimnis ihrer Zweisamkeit. Gleichzeitig glomm an anderer Stelle des Schilfgürtels ein kleines Lichtlein auf, dass Antarona und ihr Geliebter nicht mehr wahrnehmen konnten.
Wie zwei ausgelassene Kinder spielten sie im seichten Uferschilf, rollten sich in einem scheinbar heftigen Wrestlingkampf rollten durch den Schlamm, bis sie in tieferem Wasser plötzlich untertauchten. Als sie wieder durch die Wasseroberfläche stießen, glaubten sie zu träumen.
Zwei kleine Lichtpunkte tanzten zwischen den Schilfhalmen auf und ab. Elsiren! Fasziniert standen sie da und beobachteten die kleinen Geschöpfe beim Liebestanz. Nach und nach kamen weitere Elsiren hinzu, und ein par Minuten später schien das Schilf von den glühenden Wesen nur so zu strahlen.
Sebastian stellte sich eng hinter Antarona, schmiegte seinen Körper an ihren und ließ sein Kinn auf ihrer Schulter ruhen. Wie berauscht sahen sie dem wirren Spiel der kleinen Leuchtgeschöpfe zu, und spürten die seltsame Spannung von Sehnsucht und Verlangen in sich aufsteigen.
Und je mehr Elsiren sich um sie herum versammelten, desto drängender wurde das Gefühl der Begierde zueinander. Antarona und Sebastian hoben die Arme. Sofort ließen sich einige der kleinen Leuchtwesen auf ihnen nieder, wirkten wie elektrisierend und bescherten den beiden Liebenden das höchste Glück, das die Götter den Menschenwesen zu schenken vermochten.
Die Sonne war bereits untergegangen, als Antarona und Sebastian sich gegenseitig den Uferschlamm von den Körpern wuschen, und sich durch den dichten Schilfgürtel den Rückweg zum Strand bahnten.
Inzwischen hatten die Elsiren ein neues Ziel gefunden. Von allen Seiten her schwirrten sie heran, und ließen sich auf Vesgarina und Frethnal nieder, die zwar immer wieder davon gehört, es jedoch nie am eigenen Leibe erlebt hatten.
Hand in Hand standen die beiden Verliebten im seichten Wasser des Sees und spürten, wie ein seltsames, wunderbares Gefühl in ihnen hochstieg. Es zog sie gegenseitig an, es war wie eine unsichtbare Magie zwischen ihnen.
Sie hielten still, wagten kaum zu atmen, um die kleinen Leuchtwesen nicht wieder zu vertreiben. Langsam, unsicher suchend tastete Frethnals Hand nach Vesgarinas Körper, berührte das nasse Stückchen Leder, das noch ihren Po bedeckte, fuhr sanft höher und fand ihre grazile Taille.
Durch Vesgarinas Leib rieselte ein Glücksgefühl, als vielen ihr Tausende winziger Sternchen aus ihrem Kopf durch den Hals und in den Körper. Frethnals Berührung brachte all diese Sternchen durcheinander. Sie tanzten, tobten und wirbelten in ihrem Bauch wild durcheinander, und ließen ihren ganzen Körper daran teilhaben.
Das Gefühl seltsamen Herzklopfens spürte auch Frethnal, und er legte, einer geheimnisvollen macht folgend, seinen Arm um das blonde, stumme Mädchen und zog ihren Körper sanft an sich. Unterdessen sammelten sich immer mehr Elsiren auf ihren Körpern, die zuvor schon zwei andere Verliebte beglückt hatten.
Unter dem Einfluss des berauschenden Glücksgefühls der Elsiren fanden sich Vesgarinas und Frethnals Lippen und verschmolzen zu einem intensiven, verlangenden Kuss, der sie in die Welt der Sehnsüchte und der Liebe entführte. Was der Einfluss der Elsiren in den beiden entfachte, blieb das Geheimnis des Sees und ihr eigenes...
Irgendwann begann Frethnal die verführerischen Rundungen der Wenderin zu streicheln. Ihre Haut fühlte sich feucht und kalt an, erschauderte bei jeder seiner Berührungen. Er wusste nicht, wie lange sie so mit dampfenden Körpern dagelegen hatten, in die Sterne geblickt, und sich Eins gefühlt hatten.
Vesgarina zitterte leicht, sie schien zu frieren. Frethnal hob sie auf, trug sie das kurze Stück den Strand hinauf, bis kurz vor das Lager, wo sich Antarona und Sebastian bereits unter einem großen Fell vor dem Lagerfeuer zusammengekuschelt hatten.
Mit hektischen Händen riss Frethnal sein Bündel auseinander, griff sich das größte Fell und eine gewebte Decke, und kehrte damit zu seinem Mädchen zurück. Liebevoll wickelte er ihren verletzlich wirkenden Körper in die wärmenden Hüllen ein, rieb sie kräftig warm und konnte der Verlockung nicht wiederstehen, ihren süßen, frechen Mund zu küssen, bis ihm selbst ausreichend warm geworden war.
Danach trug er sie samt den Fellen zum Lagerfeuer, setzte sie sanft ab, und reichte ihr von dem gegarten Fleisch, das noch aus ihrem Proviant stammte. Antarona und Sebastian sahen sich vielsagend an. Sie kannten das selige Gefühl danach, und in Gedanken wünschten sie den beiden, das sie das Glücklichsein noch lange und oft erleben mochten.
»Und.., wie war das Fischen, Frethnal?« erkundigte sich Sebastian bei seinem Diener scheinheilig.
»Habt ihr etwas gefangen?« forschte er weiter, nachdem die beiden ihn nur mit großen, verklärten Augen ansahen.
»Nein, gefangen habe ich nichts«, erwiderte Frethnal, noch immer in den Sphären der Glückseligkeit schwelgend, »aber etwas wunderbares ist mir dennoch ins Netz gegangen, und hat mein Herz für immer gewonnen.« Er sprach wie in Trance und seine Worte ließen keinen Zweifel an ihrer Ehrlichkeit aufkommen.
Vesgarina saß an ihn geschmiegt, ihre Augen strahlten und sprühten vor Glück. Antarona registrierte es mit einem wohlgemeintem, zufriedenem Lächeln. Lange saßen sie noch gemeinsam vor ihrem Lagerfeuer, das auf wundersame Weise trotz der unterbrochenen Baumstammzerkleinerung genug Brennholz hatte.
Sebastian kritzelte im Schein des Feuers in seinem Tagebuch herum, versuchte die Inschriften der magischen Schwerter mit den Schriften der Burgbibliothek und jenen Aufzeichnungen, die sie in den Hallen von Talris gefunden hatten, in Einklang zu bringen.
Das Krähenmädchen hatte sich an ihn gelehnt, und ein großes Fell über ihrer beider Schultern gelegt. Halb interessiert, halb ihren Träumen nachhängend, sah ihm Antarona über die Schulter.
Immer wieder las Sebastian die Verse, die er von den Klingen der Schwerter abgeschrieben hatte. Doch außer einer schönen Landschaftsbeschreibung vermochte er den Texten nichts abgewinnen.
Faszinierender fand er da schon die Geschichte des Volkes der Îval. Die las sich wie die Mär von vielen Völkern, die aufbrachen, ein neues Land zu suchen, in dem sie glücklich und zufrieden leben konnten. Doch was bedeutete der Ritt auf dem Feuerstrahl, den die Götterwesen erlebt haben wollten? Was vermittelte die Geschichte der Götterwesen, die zu Menschenwesen wurden?
War das die Beschreibung der Entwicklung von einer Spezies zur nächsten, verfasst von Menschen, die sich alles nur mit der Einfachheit eines Naturvolkes zu erklären wussten? Wie passten die vielen Texte und Verse zusammen? Welches Geheimnis verbarg sich hinter den Überlieferungen?
Welche Rolle spielten die Hallen von Talris dabei, aus denen offenbar Millionen Tonnen von Gold gefördert worden waren? Welche Macht war, im Hinblick des Entwicklungsstandes der Îval und Oranuti dazu in der Lage? Vor allem stellte sich die Frage, wo all das begehrte Edelmetall geblieben war? Das Gold in den Schatzkammern der Himmelsburg konnte allenfalls ein Hunderttausendstel der geförderten Menge ausmachen.
Selbst bei Berücksichtigung der Möglichkeit, dass auch die Burg Quaronas und die Feste Zarollon einen nicht zu verachtenden Anteil des Fördergutes beherbergten, musste sich die Masse des Aurums noch irgendwo anders befinden. Goldnuggets waren aber keine Federn, und die Îval besaßen gerade mal Pferdekarren!
»Wollt ihr zu den Göttern gehen, Ba - shtie« wollte Antarona plötzlich und beinahe gelangweilt wissen. Sebastian sah sie verwundert und skeptisch an.
»Wie meinst du das, ich will zu den Göttern gehen?« fragte er, verwundert über ihre Bemerkung.
»Dort, Ba - shtie«, sie zeigte in seinem Buch auf die Stelle, wo er die Inschriften der beiden Schwerter Nantakis und Tálinos notiert hatte, »ihr habt den Beginn des Weges zu den Götterwesen aufgeschrieben. Sonnenherz kennt diese Worte. Die Alten erzählen manchmal noch davon. Der Vater des Vaters jenes Mädchens, welches die Muscheln trug, und welches Sonnenherz Freundin gewesen war, und welche sie und Ba - shtie nach dem Überfall von Torbuks Soldaten auf der Weide des Todes unter Steinen begraben haben, erzählte oft von diesem Weg.«
Sebastian sah seine Frau mit ungläubigem Blick an, schaute dann wieder auf seine Aufzeichnungen, und blickte ihr erneut in die Augen. Antarona hob gleichmütig die Schultern, und schien wenig beeindruckt davon, dass die Verse eine Wegbeschreibung zu den Göttern bedeuten sollten.
Dass er eine überlieferte, uralte Routenbeschreibung notiert hatte, das hatte er ja bereits vermutet. Doch er dachte eher an einen Schatz, möglicherweise die Riesenmenge Gold, die verschwunden war, oder an irgendein anderes Geheimnis.
Auf den Gedanken, die beschriebene Landschaft könnte sich auf den Weg zu den Göttern beziehen, war er noch nicht gekommen. Etwas enttäuscht dachte er über diese Möglichkeit nach. Was mochte er finden, wenn er die Wegbeschreibung vervollständigen konnte, und sich auf den Weg machte?
Monumente aus vergangener Zeit? So etwas wie Pyramiden, Höhlensysteme, verfallene, mit Dschungel überwucherte Grundmauern einer Stadt irgendeiner ausgestorbenen Hochkultur? Basti schüttelte den Kopf, um diesen Gedanken nicht weiterspinnen zu müssen. Er war kein Archäologe und hatte auch nicht die Muße, in alten Legenden und den Resten der Vorfahren Antaronas herumzustöbern!
Oder konnte mit dem Weg zu den Göttern der Weg in zurück in seine Welt gemeint sein? Jeder in dieser Welt glaubte ja auch daran, dass er, Sebastian, als Areos von Falméra, aus der Welt der Götterwesen, also aus dem Reich der Toten, zurückgekehrt war. Konnte der Ort, wo die Götter waren, mit seiner Welt und dem Reich der Toten identisch sein?
Angeblich hatte Tark, Antaronas Bruder ihn gefunden, als er aus dem Reich der Toten zurückkam. Tark war der Hüter des Tores zum Totenreich. Waren Bastis Welt, das Reich der Toten, und die Welt der Götter ein und derselbe Ort, so war das Geheimnis gar keines. Denn zumindest Tark kannte ja den Weg dorthin!
»Antarona, sag mal, das reich der Toten und der Sitz der Götter, sind das der gleiche Ort?« wollte Basti nun von seiner Frau wissen, und schreckte sie auf. Anscheinend war sie schon in das Land der Träume abgedriftet. Überrascht sah sie ihn an und meinte dann:
»Ba - shtie, ihr solltet es besser wissen, als jeder sonst! Ihr seid aus dem Reich der Toten zurückgekehrt, und tragt die Zeichen der Götter in eure Haut gebrannt!«
»Das mag schon sein, mein Engelchen, aber ich will wissen, was du darüber weißt, was das Volk glaubt. Was sagen die Gelehrten der Îval? Sind das Reich der Toten und die Welt der Götter ein Ort, oder sind es verschiedene Orte?« Unschlüssig wiegte Antarona ihren Kopf hin und her, bevor sie zögernd antwortete:
»Ja und nein, Ba - shtie«, versuchte sie seine Frage zu beantworten. »Wenn die Menschenwesen sterben, so gehen sie in das Reich der Toten. Sie sind dann in der Obhut der Götter. Doch sie leben nicht in der Welt der Götter. Dennoch vermögen die Götter ein Menschenwesen zu seinem Volk zurückschicken, wenn es noch eine Aufgabe in der Welt der Menschenwesen hat.«
Antarona machte eine Gedankenpause, denn sie sah Sebastians skeptischen Blick und befürchtete, dass er ihr nicht glaubte.
»Ba - shtie, es ist so, wie Sonnenherz mit den Tieren spricht«, fuhr sie dann fort, »sie spricht ja mit den Sinnen zu ihnen. So ist es auch mit dem Reich der Toten und der Welt der Götter. Mit den Sinnen sind die Menschenwesen eins mit den Göttern, sie sind in ihrer Welt, wenn sie in das Reich der Toten treten. Doch die Leiber vergehen im Totenreich. Das tun sie nur dann nicht, wenn die Toten von den Göttern zu den Lebenden zurückgeschickt werden.«
Langsam nickend signalisierte ihr Basti, dass er ganz allmählich dahinter kam. Tatsächlich aber versuchte er noch die vielen Aussagen zu sortieren, und in ein passendes, verständliches Schema zu stecken.
All das kam einer Wissenschaft gleich, die sich ihm noch nicht vollends erschlossen hatte. Antaronas Aussage ließ einige Interpretationen zu. Sebastian nahm an, dass jenes Reich der Toten im Glauben der Îval eine Art Zwischenwelt war, in der sich der Geist vom Körper löste, um dann zu den Göttern in ihre Welt zu gehen.
Doch in welcher Weise vermochte das diese Welt erklären, in der er sich befand, die definitiv nicht seine Welt war, und mit dem Planeten Erde, wie er ihn kannte, zumindest im Hinblick auf die Zeit, nicht viel zu tun hatte.
In ihm brodelte ein innerer Zorn, weil es ihm gedanklich nicht gelang, die Mythologie der Îval mit seinen Erfahrungen und Erlebnissen auf eine logisch verständliche Ebene zu projizieren.
Er ahnte, nein, er wusste, dass es zwischen den Legenden und der Mythologie des Volkes, und den Hallen von Talris, sowie der Tatsache, dass er sich in einer unbekannten Welt befand, in der Unmögliches möglich schien, eine reale Verbindung gab.
Doch er konnte sie nicht finden und das ärgerte ihn. Indem er sich weiterhin darüber das Hirn zermarterte, war Antarona, an ihn gekuschelt, eingeschlafen. Er betrachtete sie lächelnd, und kam zu dem Schluss, dass sie unbeschwerter und glücklicher war, weil sie Vieles gar nicht wusste, und mit ihrem einfachen Glauben, den sie niemals hinterfragte, ihre Welt so hinnahm, wie sie war.
Sie belastete sich nicht mit forschenden Überlegungen. Und wäre Sebastian nicht in ihre absonderliche Welt gestolpert, so würde er wahrscheinlich auch keinen Gedanken an die Möglichkeit anderer, vielleicht geistiger, oder paralleler Welten verschwenden.
Er blickte nach oben, wo ein spektakulärer Sternenteppich den dunklen Himmel mit Milliarden von leuchtenden Punkten bevölkerte. Niemand vermochte zu erfassen, was sich dort oben alles befand. Vielleicht waren diese fernen Welten, die er als Sterne leuchten sah, gar nicht so weit weg? Möglicherweise war er bereits in ihnen, er verstand es nur nicht. Was für Vermutungen! Dabei konnte man ja irre werden! Er versuchte sich von diesem Thema abzulenken, indem der sich vorstellte, was er in Mehi-o-ratea vorfinden würde.
An einen weißen Sandstrand dachte er, und an Palmenhaine, an romantische Lagerfeuer am rauschenden Meer und an Nächte in verschwiegener Zweisamkeit. Vor seinem geistigen Auge entstand die Suggestion von dem, was er aus seiner Welt als Urlaub kannte. Unter diesen Gedanken schlief er endlich ein...

Vier Tage und Nächte verbrachten Sebastian, Antarona und ihre Diener an dem idyllisch gelegenen See inmitten weiter Steppe. Sie badeten im vom Schilfgürtel sichtgeschützten Wasser, trainierten das Pfeilspiel, indem sie sich mit Kieselsteinen bewarfen, und versuchten, davor wegzutauchen, und sie jagten Fische mit Speeren.
Antarona lehrte Frethnal und Vesgarina den Umgang mit Pfeil und Bogen, anschließend übten sie sich im Wettschießen, bei dem Vesgarina erstaunliches Talent bewies. In der Dämmerung gingen sie im hohen gras der Steppe auf Jagd. Kilometerweit durchstreiften sie das Grasland, bis sie eine Herde von Antilopen fanden, die Antarona Na-ha-pú nannte.
Die Tiere waren beinahe so groß, wie die Sebastian bekannten Kühe, doch sehr viel schlanker gebaut, und schneller und eleganter in der Bewegung. Es bedurfte einer immensen Geduld, sowie Erfahrung und Taktik, diese scheuen, flinken Tiere zu bejagen.
Allein das Anschleichen gegen die Witterung gestaltete sich als Wissenschaft, da der Wind in der Steppe ständig drehte. Sehr nahe kamen sie nie an die Tiere heran, denn sie witterten, hörten und sahen sehr gut, schienen mit ausgeprägten Sinnen beglückt zu sein.
Wenn sich die Gefährten auf einen hohen Felsen stellten, die in diesem weiten Grasland selten vorkamen, vermochten sie noch die Wildwechsel als niedergedrücktes Gras erkennen. Dann brauchten sie sich nur neben der Fährte in der hohen Deckung verbergen, bis eine Herde vorbeigezogen kam.
Aber dann kam es noch auf die Schnelligkeit und Treffsicherheit an. Denn tauchten sie erst einmal aus dem Gras auf, flüchteten die Tiere sprunghaft. Und wieder kam es darauf an, junge Tiere zu erlegen, die weder brunftig, noch läufig waren, also im Geschmack neutrales Fleisch lieferten. Bei dieser Auswahl war Antarona mit ihren Sinnen eine unerlässliche Jagdgefährtin.
Jeden Abend durften sie sich über ein üppiges Mahl von gegarten Fischen und gebratenem Na-ha-pú freuen. Was jedoch gänzlich fehlte, waren Obst und Gemüse. Zwar gab es einen Baum, der eine Art Brotfrucht trug, die leicht nach Vanille schmeckte, doch die war so trocken und holzig, dass sie zum Fleisch kaum eine Abwechslung bot.
Für frisches Wasser mussten sie ebenfalls ein Viertel des Sees umrunden, wo er in sumpfigem Gelände einen Zulauf aus den Bergen hatte. Allerdings schluckten sie bei ihren Kampf- und Liebesspielen im See so viel Wasser, dass sie Abends kaum noch Durst verspürten.
Überhaupt trieben sie sich die meiste Zeit im Wasser herum, so dass Sebastian schon Angst hatte, es könnten sich an ihren Füßen und Händen Schwimmhäute bilden. Doch in der Hitze der Steppe, wo es tagsüber kaum Schatten gab, ließ es sich im kühlen Nass am ehesten aushalten.
Antarona und Sebastian trainierten in den frühen Morgenstunden und am Abend regelmäßig ihren Schwertkampf, feilten an neuen Techniken, und übten diese auch für den Elsirentanz ein. Das Krähenmädchen wollte auch Frethnal und Vesgarina die neue Tanzweise beibringen, doch die beiden zogen es vor, ihre frisch verliebte Zweisamkeit zu genießen.
Die Abende am Lagerfeuer verbrachten sie aber gemeinsam. Antarona erzählte Geschichten, die sie seit Kindestagen von den Alten gehört hatte, und Sebastian verband die eine oder andere Mähr mit der Mythologie und Lebensgeschichte des Volkes und machte sich Notizen in sein Tagebuch.
Am vierten Abend braute sich ein Unwetter über der Steppe zusammen. Mächtige, schwarz bis lila gefärbte Wolken mit leuchtend weißen Rändern türmten sich bis in die Stratosphäre auf, verdichteten sich zu einer düsteren Masse, die bald den ganzen Himmel ausfüllte.
Zunächst ging kein einziges Lüftchen mehr. Der Wind, der bis dahin die langen Grashalme wie Meereswogen bewegt hatte, war eingeschlafen. Die Luft stand schwer und flimmernd über dem Grasland, trieb den Freunden bei jeder Bewegung den Schweiß aus den Poren, obwohl sie alle mit nichts anderem, als ihren Lederhüftschürzen bekleidet waren.
Als dann noch einige Moskitos ihren Tanz begannen, und über die Gefährten herfielen, flüchteten sie ins Wasser des Sees, das wie eine bleigraue, polierte Platte vor ihnen lag. Übermütig warfen sie sich in das erfrischende Nass, das sich aber ebenfalls aufgeheizt hatte.
Der See war nicht sehr tief und infolge dessen erwärmte sich sein Wasser zumindest in Ufernähe ziemlich rasch.
Ausgelassen tobten sie herum, bespritzten sich, spielten ihr beliebtes Pfeiletreffenspiel, und die erhitzten Körper der sich Liebenden zogen sich magisch an. Sie ließen ihren Gefühlen freien Lauf, gaben sich ihrem Verlangen hin, und zogen sich schließlich in ihre Zweisamkeit zurück.
Basti und Antarona machten sich erst gar nicht die Mühe, sich im Schilfgürtel zu verbergen. Wozu auch? Vesgarina und Frethnal taten das Gleiche, und beide Paare hatten keine Geheimnisse mehr voreinander. Ohne Scheu gaben sie sich ihren Sehnsüchten hin...
Allmählich entspannten sich ihre Körper, und sie ließen sich glücklich, Hand in Hand ins Wasser gleiten und verträumt dahintreiben. Urplötzlich jedoch wurde ihr Traum unterbrochen.
Ein greller Blitz erhellte sekundenlang den Himmel, der inzwischen aussah, als hätte ihn jemand mit schwarzen, wallenden Tüchern verhängt. Unmittelbar danach folgte ein Krachen, das sie beinahe taub werden ließ. Das Unwetter hatte sie erreicht!
»Wir sollten aus dem Wasser heraus, mein Engelchen«, schlug Sebastian erschrocken vor, »es könnte hier gefährlich werden!« Allerdings konnte er seiner Geliebten auch keinen Vorschlag machen, wohin sie sich verkriechen konnten.
Am Felsen ihres Lagerplatzes, der einzigen Erhebung weit und breit, war es bei schwerem Gewitter auch nicht sicher. Leicht konnten sie von einem Blitz erschlagen werden. Sie wateten hastig ans Ufer, und zogen ihre Beinlinge an. Sebastian legte sich in aller Eile den Waffenrock um. Antaronas Kleider waren im Lager geblieben.
Wieder zuckte eine Blitzkaskade aus dem finsteren Grau und schlug irgendwo in der Steppe ein. Das ohrenbetäubende Krachen kurz danach erzählte Sebastian, dass sich die Gefahr schnell näherte. Rasch schwammen sie zum Ufer. Dabei suchten ihre Augen den Schilfgürtel nach Vesgarina und Frethnal ab.
Als sie die beiden nirgends erblicken konnten, begannen sie, nach ihnen zu rufen. Wieder schoss ein Blitz wie eine glühende Baumwurzel vom Himmel zu Boden, diesmal ganz nahe. Fast gleichzeitig ertönte der Donner, der ihr Rufen zum Piepsen einer verängstigten Maus degradierte.
In diesem Augenblick fuhr ein heftiger, kalter Luftzug über den See, der die Schilfhalme nahezu auf die Wasseroberfläche niederdrückte und ein kurzes Frösteln in Basti und Antarona auslöste. Wieder riefen sie nach den beiden Dienern, bemüht, eine Pause zwischen Blitz und Donner zu erwischen, damit die beiden sie auch hören konnten.
Hatten die beiden etwa bereits das Wasser verlassen, und bei den Felsen Schutz gesucht? Antarona und Sebastian gingen zu ihrem Lagerplatz im Windschatten der hoch aufgetürmten Steine, fanden ihn aber leer vor.
Wieder erhellten Blitze die ganze Umgebung, die durch das Unwetter inzwischen in Dämmerung versunken war. Das gleichzeitige Krachen war so heftig, dass es die beiden schlicht auf den Boden warf. Immer neue Blitze fuhren auf die Erde nieder, tauchten alles in gleißendes Licht und ließen mit ihrem Donner die Welt erzittern.
Antarona und Sebastian blieben liegen, warteten auf eine kleine Pause. Doch die wollten ihnen die Götter in ihrem unermesslichen Zorn nicht gönnen. Antaronas nackter Körper lag zitternd und bebend auf der Erde. Sie wagte nicht, auch nur den Blick zu heben.
Basti bemerkte ihre Angst, und zog sie schützend an sich. Die Entladungen des Himmels verwandelten die Welt in eine blitzende Hölle.
»Werden die Götter uns nun dafür bestrafen, dass wir aus der Burg geflohen sind, Ba - shtie?« Ihre Stimme klang unsicher, voller Angst vor dem, was ihr Geist nicht erfassen konnte.
»Nein, das ist bei einem Unwetter ganz normal«, versuchte er sie zu beruhigen, »denk an den Baum im Hof deines Vaters. Den haben die Blitze auch zerstört, und dein Vater hatte ganz sicher nichts getan, das die Götter hätte erzürnen müssen!«
Der nächste Blitz hämmerte ganz in der Nähe in den Boden. Für Sekunden war es um ein Vieles heller, als das Licht des Tages. Das Krescendo des Donners brach zugleich über sie herein. Es stank fürchterlich nach Schwefel, und Sebastian wusste, dass der Blitz in die Felsen gefahren war, die ihnen eigentlich Schutz vor dem Wetter gewähren sollten.
Nun aber nichts wie weg! Sebastian wollte seine verängstigte Frau hochziehen, und mit ihr aus der unmittelbaren Nähe der Felsen verschwinden. Er hatte gehört, dass man sich besser im flachen Gelände hinkauerte, als an erhöhten Punkten Schutz zu suchen. Antarona aber ließ sich nicht dazu bewegen, auch nur einen Finger zu krümmen.
Zitternd und verkrampft lag sie da, das Gesicht auf den Boden gepresst, fast verrückt vor Furcht. Weder gutes Zureden, noch die Androhung von Gewalt vermochte sie dazu veranlassen, sich zu erheben. Sie lag so fest auf dem Boden, als wäre sie selbst ein Felsen.
Um sie herum krachten die Blitze in immer kürzeren Abständen in die Erde, es stank fürchterlich nach faulen Eiern, und sie spürten die elektrische Spannung, die ihnen durch Mark und Bein drang. Sebastian musste etwas tun, wenn sie nicht gegrillt werden wollten!
Kurz entschlossen packte er ihren zierlichen Körper, warf sie sich über die Schulter und rannte los. Keine Sekunde zu früh! Wo sie soeben noch lagen, fuhr laut zischend ein Blitz in den Boden. Das anschließende Krachen warf sie nieder. Antarona war irr vor Angst, schlug mit den Armen um sich, strampelte mit den Beinen, und Basti hatte Mühe, sie zu bändigen.
Halb trug er sie, halb schleifte er sie gnadenlos hinter sich her, nur heraus, aus der Gefahrenzone bei den Felsen. Nach ein par Metern erreichten sie eine kleine Bodenvertiefung, wie ein kleiner Bombenkrater. Das Relikt eines früheren Blitzeinschlags? Er überlegte nicht lange, stieß das Krähenmädchen hinein, und warf sich schützend über sie.
Antarona wimmerte unter ihm, wie eine Verbrennende. Sie stammelte etwas von Rache der Götter, und Gericht des Himmels, und war nicht mehr zu beruhigen. Diese Frau, die es mit drei gestandenen Kriegern gleichzeitig aufnahm, die keine Furcht kannte, wenn eine Übermacht sie bedrohte, war wie gelähmt und starb vor Angst, wenn sie glaubte, dass die Götter ihr zürnten.
Das Gewitter indes ließ an Heftigkeit kaum nach. Hatte Sebastian schon das Gefühl, Blitz und Donner entfernten sich voneinander, so wurde er immer wieder eines Besseren belehrt. Das Unwetter saß über ihnen fest! Wahrscheinlich konnte das Wetter, das mit raschem Wind über die Ebene gefegt kam, nicht so schnell über das nahe Gebirge hinweg!
Sie mussten Vesgarina und Frethnal finden, und dann in die Steppe hinaus! Das Unwetter, das sich an den Bergen staute, hinter sich, und austoben lassen! Aber wo waren die beiden Diener? Schon vom Blitz erschlagen? Doch wie sollte er sie suchen? Antarona rührte sich keinen Millimeter von der Stelle, tragen konnte er sie auf Dauer nicht, und allein lassen ebenso wenig.
Er richtete sich halb auf, riskierte einen Blick über den Rand der Senke, in der Hoffnung, die beiden vielleicht irgendwo zu erspähen. Doch was Sebastian sah, ließ ihn das kalte Grausen über den Rücken laufen!
Vom linken Seeufer bis weit in die Steppe hinein, stand eine schwarze Wand aus Rauch, noch weit entfernt, doch Sebastian konnte die Flammen erkennen, die sich am Boden vorwärts fraßen. Ein Blitz musste das trockene Gras entzündet haben. Der Wind blies ihnen einen mächtigen Buschbrand entgegen!
Wie lange würde es dauern, bis das Feuer sie erreicht hatte? Bei dem auffrischenden Wind mochte es ziemlich schnell gehen! Doch wohin sollten sie fliehen? Zu den Bergen, wo sich das Gewitter staute? Zurück in den See? Sebastian lugte noch einmal über die Senke und erschrak!
das Feuer kam rasend schnell auf sie zu, schneller, als er zu befürchten gewagt hatte! Eine lückenlose Flammenwand trieb der Wind vor sich her! Wenn es doch wenigsten regnen würde! Doch das Gewitter wütete trocken weiter, als wäre es darüber verstimmt, dass es den Wolken kein Wasser entlocken konnte. Sebastian riss das Krähenmädchen hoch und brüllte sie gegen das Wetter an:
»Du musst jetzt um dein Leben laufen, hörst du? Lauf, oder wir werden brennen! Lauf was du kannst!«
Das Feuer hatte sich bis auf wenige hundert Meter an sie herangefressen. Angesichts der glühenden Feuerwalze verlor Antarona plötzlich jegliche Starrheit. Hand in Hand sprangen sie aus der Kuhle und liefen, was das Zeug hielt, zunächst auf ihr Lager zu.
Antarona wollte ihre Waffen nehmen, schrak aber mit angstvollem Blick zurück. Blaue Flämmchen waberten um die Metallteile der Schwerter und Messer herum, standen bis zu zehn Zentimeter weit ab, als brannten die Waffen selbst von innen heraus.
Beherzt griff Sebastian zu, beförderte die Waffen unter den Felsen, schnappte sich Antaronas Handgelenk, und zerrte sie mit sich. Die Feuersbrunst mochte noch etwas zwei Minuten vom Felsen entfernt sein. Zeit, sich Kleider, oder Felle herauszusuchen hatten sie nicht mehr. Sie mussten Halsüberkopf fliehen!
Was ihre Beine hergaben rannten sie in panischer Angst davon, und das Flammenmeer trieb sie vor sich her, wie eine hilflose Beute. Den Weg ins Wasser des Sees hatte ihnen die Flammenwalze bereits abgeschnitten. Ihnen blieb nur, in die Steppe hinaus zu laufen, in großem Bogen das Feuer zu überholen, dass bei der Windrichtung auf die Berge zuraste, und sich dann ins Wasser zu retten.
Zwischendurch dachte Sebastian kurz daran, was wohl aus Frethnal und Vesgarina geworden war. hatten sie geschafft, den Flammen zu entkommen? Waren sie im See geblieben? Er hatte keine Zeit, näher darüber zu grübeln.
Er sah sich kurz um, als immer mehr dichter, beißender Rauch sie einhüllte. Der Wind trieb den Qualm nun voraus. Trotzdem sah Basti die Flammen zwischen den schwarzen Schwaden aufblitzen. Sie waren bedrohlich nahe gekommen, und er glaubte, trotz des heftigen Windes schon die Hitze zu spüren.
Sie mussten noch schneller werden, um zu verhindern, dass das Feuer vom Seeufer her sie einschloss! Sie rannten ums nackte Überleben. Sebastian hielt Antaronas Handgelenk umklammert, aus Angst, sie in dieser Hölle zu verlieren. Allmählich schafften sie es tatsächlich, das Feuer zu überholen, und wandten sich dem rechten Seeufer zu.
Der Wechsel der Richtung kam ihnen zugute. Das Feuer trieb weiter auf die Berge zu, hatte ihren Lagerplatz längst überrannt, und schien Abstand zu ihnen zu gewinnen. Immer noch sausten Blitze zu Boden, doch weiter entfernt. Nur das Schmettern des Donners ließ sie weiterhin zusammenfahren.
Als sie dem Rauch entkommen waren, der ihnen in die Lungen biss, blieben sie hustend stehen, rangen nach Luft und blickten sich um. Das Feuer zog seitwärts auf die Berge zu, schien sich vom Seeufer zu entfernen. Vom rettenden Wasser waren sie aber ein par hundert Meter entfernt. Doch zunächst mussten sie kurz verschnaufen.
»Ba - shtie, habt ihr Vesgarina und Frethnal gesehen?« fragte Antarona besorgt. Ihre Angst schien sie inzwischen vergessen zu haben. Sebastian schüttelte traurig den Kopf. Dort, wo sie gelagert hatten, war das Feuer hinweggefegt. Und im See? Konnten sie das Gewitter im Wasser überstanden haben? Achselzuckend sagte er:
»Vielleicht konnten sie sich irgendwo verkriechen, vielleicht sind sie zurück in die Berge gelaufen, als das Unwetter noch nicht ganz da war.« Doch er wollte selbst nicht so recht daran glauben, und Antarona spürte es. Schwer schluckend sagte sie leise:
»Die Menschenwesen vermögen den Willen der Götter nicht aufzuhalten, Ba - shtie. Wenn sie ihnen gnädig waren, so werden sie in Sicherheit sein!« Sebastian nickte nachdenklich und sah an sich herab.
Sein Waffenrock saß schmutzig auf den Resten seiner Unterhose. Die Ledermokkasinn waren über und über mit hellem Staub belegt. Das war alles, was er trug. Antarona traf es schlimmer. Ihre Mokkasin waren nur noch Fetzen an den Füßen, und ihr Hüftschurz bot den Anblick eines winzigen, löchrigen Stück Leders, das nicht einmal mehr als Flicken taugte. Ihr Oberteil war irgendwo in der Nähe des Lagers am Strand geblieben.
»Ich glaube, sie konnten sich retten, und sitzen irgendwo ebenso abgerissen wie wir herum, und...« Sebastian hatte sich erhoben, und wollte seinen Blick über das Land schweifen lassen. Die Worte blieben ihm im Hals stecken.
Eine dunkelgraue Wand aus Rauch zog ihnen vom Gebirge her entgegen. Bedrohliche Wolken hingen darüber, aus denen immer noch Blitze schossen. Da erreichten sie schon die ersten Rauchschwaden. Der Wind hatte gedreht! Er wehte nun von den Bergen her auf die offene Steppe hinaus.
Sebastian sah dem Feuer verzweifelt entgegen, das sich anschickte, erneut Jagd auf sie zu machen. Er zog Antarona hoch, die immer noch im hohen Gras saß, und zeigte ihr, was auf sie zu kam.
»Wie kann das sein?« wunderte er sich und hob ratlos die Schultern. »Wie kann der Wind plötzlich beinahe aus der entgegengesetzten Richtung wehen?« Er schüttelte ungläubig den Kopf. So etwas hatte er noch nie erlebt.
»Die Götter haben ihre Gründe, warum sie Ba - shtie und Sonnenherz das Feuer senden«, sagte Antarona tonlos. Verständnislos, ja fast ärgerlich sah er sie an.
»Ba - shtie und Sonnenherz vermögen dem Willen der Götter nicht zu entkommen. Sie sollten tapfer zu ihnen gehen!« fügte sie wie unter dem Einfluss von Rauschmitteln hinzu. Für sie stand offenbar fest, dass es der Wille der Götter war, dass sie in den Flammen umkamen. Doch Sebastian hatte noch nicht vor, zu den Göttern zu gehen, wo immer die sich aufhielten, und was immer sie im Schilde führten.
»Wenn die Götter gewollt hätten, dass wir sterben, dann hätten sie uns längst das Lebenslicht ausgeblasen«, erwiderte er trotzig und zog Antarona wieder hoch, die sich im Gras niederlassen wollte, um sich ihrem Schicksal zu ergeben.
»Nun reiß dich mal zusammen, ja«, fuhr er sie an, »Wir werden heute hier nicht sterben! Los komm, wir versuchen zum See zu kommen!«
Gnadenlos zerrte er seine Frau hinter sich her, dem See zu. Doch rasend schnell näherte sich die Feuerwand. Basti hatte nicht geglaubt, dass ein Feuer vor dem Wind eine solche Geschwindigkeit entwickeln konnte. Viel zu weit waren sie vom See entfernt. Das schafften sie nicht mehr!
Fortlaufen ging auch nicht. Das Feuer flog förmlich über die Steppe, fegte wie der Wind selbst darüber hinweg und hinterließ nur noch schwarze Stoppeln auf dem Boden. Das war’s! Plötzlich hatte er den rettenden Einfall. Doch es musste schnell gehen!
Gehetzt suchte er eine Stelle, wo das Gras nicht so dicht stand, ließ sich auf die Knie fallen, und begann mit den bloßen Händen zu graben. Der Boden war locker, beinahe wie Heidesand, und ließ sich ohne Mühe beiseite schaufeln.
»Los, hilf mit, grab!« schnauzte er Antarona an, die wie in Trance daneben stand und zusah. Er sprang auf und schüttelte sie so heftig, dass er daran zweifelte, ob ihr Kopf auf den Schultern blieb.
»Du sollst graben, hörst du mich? Graaaben! Los, graben!« Damit stieß er sie zu Boden und begann wie ein Irrer in der Erde zu buddeln. Grashalme, die er zu fassen bekam, riss er mit Wurzel aus, und warf sie dem sich rasch nähernden Feuer entgegen.
Allmählich erwachte Antarona aus ihrer Entrücktheit, und begann die sandige Erde mit den Händen beiseite zu schieben.
»Schneller, du musst schneller machen«, schrie Sebastian sie an. Wie ein wilder wühlte er im Boden. Angst und Verzweiflung verleihen dem Menschen unglaubliche Kräfte. Er gelang ihm tatsächlich, eine längliche Grube auszuheben, in der eine Person knapp Platz hatte.
Ohne Vorwarnung schnappte er Antarona und warf sie in die gegrabene Vertiefung. Für große Erklärungen war keine Zeit mehr. Er riss sich die Unterhose unter dem Waffenrock hervor und bedeckte mit einer Hälfte davon ihr Gesicht.
»Ich werde dich jetzt mit Sand und Erde überdecken. Versuch so wenig wie möglich zu atmen, und steh erst auf, wenn ich es dir sage. Und bei den Göttern, tu was ich sage, und bleib liegen! Ich bin ganz dicht neben dir!«
Wie ein Grabhügel sah sie aus, als er sie fertig mit Erde bedeckt hatte. Nun grub er Antaronas Grube fertig. Ein angstvoller Blick nach hinten ließ die ersten Flammen erkennen. Seine Hände begannen zu bluten, doch er achtete nicht darauf. Besser kaputte Hände, als das Leben!
Er grub wie ein Wahnsinniger, und als er seine Vertiefung fertig hatte, begann er Gras zwischen ihnen und dem Feuer auszureißen, ebenso um ihre Gruben herum. Er warf sie weit seitwärts fort, und schuf so eine kleine Fläche, auf der nichts mehr war, das brennen konnte.
Erst im letzten Moment, er spürte bereits die Hitze und erste Funken der Feuerwand regneten bereits auf ihn herab, legte er sich in die Mulde und schaufelte sich die Erde auf den Körper. Dann legte er sich die zweite Hälfte seiner Unterhose aufs Gesicht und warf Sand darüber. Zuletzt grub er seine Arme und Hände ein, indem er sie immer wieder und immer tiefer in den lockeren Boden drehte.
Dann wartete Sebastian. Er hatte keine Ahnung worauf er wartete, und was ihn erwartete. Er wusste nicht, ob sie nun gegrillt würden, oder ob das Feuer wirklich über sie hinwegrasen würde. Er wusste nicht, ob sie sich verbrennen würden, oder doch noch ersticken mussten. Die Ungewissheit war ein noch grausamerer Feind, als die Feuerwalze.
Zitternd wartete Sebastian und betete, Antarona möge still liegen bleiben und nicht in Panik versuchen davon zu laufen. In regelmäßigen Abständen hörte er noch das Donnergrollen des Gewitters. Einmal glaubte er zu spüren, wie es warm wurde, und er fing an zu schwitzen. Dann glaubte er wieder frieren zu müssen, als kühlte ihn ein frostiger Wind.
Aber es geschah nichts. Was war geschehen? Hatte es zu regnen begonnen? war das Feuer längst gelöscht, oder zum Stillstand gekommen? Sollte er wagen, nachzusehen? Was aber, wenn die Zeit ihm einen Streich gespielt hatte, und die Feuerwand direkt über ihm war?
Unentschlossen wartete er noch ein par Minuten, zählte bis Hundert, um nicht das Gefühl für die Zeit zu verlieren, und begann noch drei Mal von neuem zu zählen. Dann nahm er seinen Mut zusammen, schob zögernd seine Hand an die Oberfläche und befühlte skeptisch den Boden.
Als er nichts ungewöhnliches spürte, richtete er sich auf. Das Stück Stoff rutschte ihm vom Gesicht, Sand und Erde rieselten über seine bloße Haut. Bevor er die Augen öffnete, rubbelte er sich den Dreck aus den Haaren.
Was er dann erblickte, schien der Hölle entsprungen. Soweit das Auge reichte, erstreckte sich schwarzer Boden, aus dem nur da und dort graue Stoppeln ragten. Darüber hingen die schwarzen Gewitterwolken, aus denen immer noch grelle Blitze zuckten.
Er sah sich um und erkannte weit entfernt eine Wand aus dunklem Rauch. Auch auf dieser Seite gab es nichts mehr, was an die Steppe mit dem hohen Gras erinnerte. Lediglich die par Quadratmeter, die er vom Gras befreit hatte, waren nicht verkohlt.
Was aber war mit Antarona? Das Schlimmste ahnend, robbte er zu ihr hinüber, wischte die Erde von ihrem Körper und rüttelte sie.
»Antarona, es ist vorbei, du kannst aufstehen. Das Feuer ist fort, und wir leben!« Angst schwang in seiner Stimme mit. Doch unbegründet. Langsam erhob sich Antarona, wischte den Sand von ihrem nackten Körper und schüttelte heftig den Kopf, um die Erde aus ihren langen Haaren zu bekommen.
Schweigend standen sie beide da, blickten über die schwarz verrußte Ebene, über das verbrannte Land. Frischer Wind wirbelte Asche auf, die sich als feiner, grauer Staub auf ihre unbekleideten Körper legte.
Der Wind trieb das Gewitter zurück. Bald würde es wieder über ihnen sein. Nur verbrennen konnte es nichts mehr. Es vermochte sie nur noch zu erschlagen!
»Lass uns zusehen, dass wir zum See kommen, und irgendeine Mulde finden«, schlug er vor, »sonst erwischen uns die Blitze doch noch!« Aber wieder kam es anders, als Sebastian gedacht hatte.
Die tiefschwarzen Wolken, die offenbar ein Teil ihrer Ladung über den Bergen abgeworfen hatten, fegten heran, und mit ihnen nicht nur Blitze, sondern Niederschlag. Doch hatte Basti sich Regen erhofft, so wurde er wiederum enttäuscht.
Hagelkörner so groß wie Taubeneier prasselten plötzlich und unerwartet vom Himmel und schlugen auf ihre ungeschützten Körper. Die Haut an Fingerknöchel und Schultern platzte auf und begann zu bluten. Fluchtartig warfen sie sich in die Wellen des Sees, und tauchten ab. So konnten ihnen die Geschosse nicht viel anhaben.
Wie gut, dass sie so oft ihr Pfeil-Spiel geübt hatten. Das kam ihnen nun zugute. Halb schwimmend, halb tauchend versuchten sie die Stelle des Schilfgürtels zu erreichen, wo die Halme nicht ein Opfer der Flammen geworden waren.
Eng umschlungen, zitternd und frierend verbargen sie sich zwischen den Schilfgewächsen, tauchten ab, wenn es allzu heftig wurde, und lugten aus dem Wasser, wenn das Wetter eine Pause einlegte. Vor den Blitzen hatten sie keine Angst mehr. Sie hatten das Feuer und das Bombardement des Himmels überstanden, schlimmer konnte es kaum noch werden.
Das Gewitter wütete noch beinahe eine Stunde. Dann ließ es so rasch nach, wie es aufgezogen war. Unverhofft brach die Wolkendecke auseinander. Mächtige, schwarze Wolken mit weißen Rändern zogen dorthin, woher sie gekommen waren, und nur die unwirklich scheinende dunkle Wand am Horizont erinnerte an den Zorn, den das Wetter über ihren Häuptern entladen hatte.
Beinahe nackt stiegen sie aus dem See, und es kam ihnen vor, als hätte die Natur sie neu geboren. Nass und frierend standen sie in der verkohlten Steppe, und waren froh, dass die Sonne wieder hinter der Wolkenwand hervorstrahlte.
Außer ihren ziemlich lädierten und nassen Ledermokkasin trugen sie so gut wie nichts mehr auf dem Leib. An Antaronas Hüftschnur hing nur noch ein Rest ihres Lederschurzes, und Sebastians Waffenrock schlug ihm unangenehm um die ungeschützten Lenden und Beine.
In der Ferne sahen sie die Felsen ihres Lagers wie eine Burg aus der Ebene aufragen. Dort mussten sie hin, nachsehen, was ihnen das Unwetter gelassen hatte. Sie hofften, dass Vesgarina und Frethnal das Inferno überlebt hatten, und sich ebenfalls dort einfanden.
Fast zwei Stunden wanderten sie über das verbrannte Land, orientierten sich nahe am Ufer des Sees, weil das Gehen auf der abgebrannten Steppe schlimm war. Die kurzen Stoppeln des kräftigen Grases, die noch aus dem Boden lugten, stachen gnadenlos durch das nasse, weiche Leder der Mokkasin und pisakten ihre ohnehin schon geschundenen Füße.
Endlich erreichten sie die Felsen. Ihre Felle, Decken, Wasserbeutel und andere Dinge, die sie zum Überleben brauchten, waren ein Opfer der Flammen geworden. Kaum etwas war noch zu gebrauchen. Nur das kleine Päckchen, in dem Sebastian die Siegel des Königs und seine Aufzeichnungen aufbewahrte, blieben verschont. Die Waffen allerdings, die Basti geistesgegenwärtig unter die Steinblöcke geworfen hatte, waren ebenfalls unversehrt.
Aus den angesengten Fellresten riss Antarona ein par Lederfetzen, die sie am See wusch und sich als neuen Hüftschurz an ihr Band knüpfte, das sie noch um die Taille trug. Ihre Brüste bedeckte sie mit zusammengebundenen Streifen, die sie hinter ihrem Hals verknotete.
Die langen Haare hingen ihr schmutzig, verfilzt, und in wüsten Strähnen vom Kopf. Zwar hatte das Unwetter nicht vermocht, ihre Schönheit zu mindern, doch nun sah sie noch wilder und ungezähmter aus, als bisher.
Beide waren mit unzähligen kleinen Wunden übersät, an denen verkrustetes Blut klebte. Aber das kümmerte sie im Augenblick wenig. Als sie sich ihre Waffen umgehängt, und zusammengeschnürt hatten, was noch zu retten war, kletterten sie auf den Felsen, um nach ihren beiden Dienern Ausschau zu halten.
Die Sonne schien nun angenehm warm auf sie herab, und das Land begann zu dampfen. Über der schwarzen Ebene sah der Dampf aus, wie Rauch, der noch aus der Asche stieg. Soweit ihre Blicke jedoch zu beiden Seiten des Seeufers reichten, vermochten sie kein Lebewesen zu erkennen. Nun machten sie sich um die beiden Freunde ernsthaft Sorgen.
Wo sollten sie suchen? Wurden sie im See vom Blitz erschlagen? Hatten sie vergeblich versucht, vor dem Feuersturm davon zu laufen? Es gab keinen Hinweis. Die Waffen der beiden lagen unangetastet mit ihren zusammen unter dem Felsen. Das Unwetter hatte sie also ebenso überrascht.
»Wir sollten das Ufer und die Schilfgürtel absuchen«, schlug Sebastian bedrückt vor, »vielleicht finden wir einen Hinweis auf...«
Er sprach den Satz nicht vollständig aus, Antarona verstand aber auch so seine Sorge, dass sie eventuell nur noch die Leichen ihrer beiden Begleiter bergen konnten. Sie gaben die Hoffnung nicht auf, zogen diese Möglichkeit aber zumindest in Betracht.
Da auch alle ihre Vorräte, einschließlich des frischen Wassers vernichtet waren, konnten sie ihre Suche auch nicht unendlich ausdehnen. Bald mussten sie darangehen, etwas zu Essen zu finden. Auf der Steppe war kaum noch Wild zu erwarten. Also mussten sie sich bald in Richtung Berge aufmachen.
Ein par Stunden lang wanderten sie am Ufer des Sees auf und ab, ohne jedoch eine Spur von Vesgarina und Frethnal zu finden. Dann suchten sie die weitere Umgebung der Felsen ab, ebenfalls ohne Erfolg. Sie wussten, solange sie nichts fanden, bestand die Hoffnung, die beiden lebend wiederzusehen.
Am Nachmittag, das Unwetter war abgezogen und hatte der erbarmungslos brennenden Sonne Platz gemacht, beschlossen sie, nach Süden zu gehen, und den Zugang zur einer Schlucht zu suchen, die sie in das große Tal führen würde.
Sie hatten sich gerade mal einen halben Kilometer von den Felsen entfernt, als Antarona stehen blieb, die Augen mit der Hand vor der Sonne abschirmte, und dorthin spähte, von wo sie vor einigen Tagen gekommen waren. Basti sah sie fragend an.
»Dort, wo das ausgetrocknete Flussbett war, gehen zwei Menschenwesen«, kommentierte sie ihre Beobachtung. Sebastian blickte in die angegebene Richtung, vermochte aber nichts zu erkennen.
»Bist du sicher, dass das Vesgarina und Frethnal sind?« fragte er hoffnungsvoll. Antarona wollte sich nicht festlegen.
»Sonnenherz vermag die Wesen nicht zu erkennen, sie sind zu weit weg. Doch wer sollten sie sonst sein?«
»Was schlägst du vor, sollen wir in diese Richtung gehen?« fragte Sebastian unsicher. Aber diese Frage erübrigte sich. Sie mussten feststellen, ob Vesgarina und Frethnal noch am leben waren. Die einzige Möglichkeit, das herauszufinden war, den beiden Figuren entgegen zu gehen.
Eine halbe Stunde, nachdem sie ihre Richtung geändert hatten, stand fest, dass es die vermissten Freunde waren. Hätte Antarona nicht so gute Augen gehabt, so wären sie aneinander vorbei gelaufen und hätten sich allenfalls in Mehi-o-ratea wiedergesehen.
Die Gefährten umarmten und begrüßten sich herzlich, und auch Vesgarina und Frethnal hatten Zweifel daran, ob sie Basti und Antarona lebend wiedergesehen hätten. Die beiden hatten versucht, vor den Flammen zu fliehen. Das Feuer hatte sie gnadenlos vor sich her getrieben, bis sie die Ausläufer der Berge erreicht hatten. Dort begann es so heftig zu regnen, dass sie in einem kleinen Canyon fast davongespült wurden, und sie sich nur mit letzter Kraft auf einen Felsen hatten retten können.
Den beiden war gelungen, ein teil der Felle und Decken, sowie ein par Seile mitzunehmen, eben das, was sie gerade noch greifen konnten. Sebastian faltete eine Skizze der Insel auseinander, die er von einer Karte der Bibliothek kopiert hatte.
»Es gibt zwei Möglichkeiten, unsere Vorräte und Ausrüstung zu ergänzen«, eröffnete er ihnen, »allerdings bedeutet das einen Umweg von mehreren Tagen«, gab er zu bedenken. Als die anderen ihn nur unschlüssig ansahen, fuhr er fort:
»Wir können nach Angertal gehen, hinter dem Tal der roten Flühen, dann müssten wir allerdings durch die gesamte Steppe laufen, die wahrscheinlich überwiegend verbrannt ist.« Er sah in den Augen seiner Begleiter wenig Begeisterung für diesen Vorschlag.
»Oder wir gehen nach Val Nieort, oder Anderlecht. Dann müssten wir auf der anderen Seite des großen Tals wieder hinauf, und auf die wahrscheinlich überwachten Wege.« Antarona warf einen Blick auf die Linien und Zeichen der Skizze und er sah ihr an, dass sie für keine der beiden Varianten zu begeistern war.
»Ba - shtie, warum gehen wir nicht einfach nach Mehi-o-ratea mit jenen Dingen, die wir besitzen. Der Wald gibt uns das Nötige, was wir brauchen! Und bedürfen wir noch anderer Dinge, so ist es ein bequemerer und ungefährlicherer Weg von Mehi-o-ratea nach Anderlecht, oder Wiestal. Wir sollten nicht in Orte, oder auf Wege gehen, die von den Kriegern des Königs benutzt werden!«
Sie argumentierte scheinbar gleichgültig, wie es ihre Art war, wenn es um Dinge ging, die sie als nicht lebenswichtig erachtete, und fügte noch hinzu:
»Ihr mögt Areos, der Sohn des Königs sein, und der Heerführer aller Truppen von Falméra, und es mag sein, dass jeder Kohortenführer euch achtet, und eurem Wort gehorcht. Vielleicht würden sie auch Sonnenherz ziehen lassen, wenn jener, der behauptet, ihr Vater zu sein, es so gefügt hat. Doch Vesgarina und Frethnal gelten nur als Diener, die aus dem Dienst des Königs geflohen sind. Jeder Krieger hat das Recht, mit ihnen zu tun, was ihm beliebt!«
Sebastian nickte nachdenklich. Bental wusste garantiert von dem freundschaftlichen Verhältnis Sebastians und Antaronas zu den beiden Dienern. Er würde nicht scheuen, sie als Druckmittel zu benutzen, um seine Tochter und seinen imaginären Sohn zur Rückkehr auf die Burg zu zwingen.
»Gut«, sah Basti ein, »dann gehen wir direkt nach Mehi-o-ratea. Aber wir werden nicht schnell vorankommen. Wir müssen jagen, denn wir brauchen Nahrung und Felle, wir müssen Feuerstein suchen und neue Pfeile machen. Oder habt ihr noch Zunderbeutel und Pfeile?«
»Auch diese Dinge wird Mutter Erde gern ihren Menschenkindern geben«, entgegnete Antarona zuversichtlich. An Sebastian gewandt sagte sie mit hoffnungsvoll leuchtenden Augen:
»Und wen mag es stören, wenn Sonneherz und Ba - shtie dadurch mehr Zeit füreinander haben werden?« Ihm entging nicht das freudige Lächeln, das über ihr Gesicht huschte. Es zeigte, was Antarona dachte: Auf dem langen Weg hatten sie genug Zeit, sich zu lieben!
Sie zogen nun im stumpfen Winkel nach der wandernden Sonne hin, den Bergen zu. Bald schon mussten sie sich nach einem Lagerplatz für die kommende Nacht umsehen. Und sie mussten etwas Essbares finden! Je eher sie in ein Gelände kamen, wo Wild, Früchte und Wurzeln zu erwarten waren, desto eher verbesserte sich ihre Situation.
Als sie die Ausläufer der Felsberge, und somit den Waldrand erreicht hatten, wurde die Sonne bereits von den aufragenden, bewachsenen Hängen verschluckt. Es wurde schlagartig dunkel, und rasch kühler.
Antarona nahm die restlichen Pfeile an sich und spannte ihren Bogen. In der Dämmerung traten gewöhnlich viele jagdbare Tiere auf die Lichtungen und aus den Wäldern. Vielleicht war das Jagdglück ihnen hold, und sie konnten frisches Fleisch erbeuten.
Die Jägerin schlich voran, Sebastian und die beiden Diener in einigem Abstand hinterher. Sie wollten nicht riskieren, das Wild zu verschrecken, bevor Antarona zum Schuss gekommen war. Doch das Feuer hatte offenbar alle Tiere verjagt. Außer kleinen Nagern und Vögeln kreuzte nichts ihren Weg.
Allmählich wurde es zu dunkel, um überhaupt noch etwas sehen zu können, und bald war es so finster, da hätte ihnen eine Sippe Robrums über den Weg laufen können, sie hätten sie allenfalls durch Antaronas Sinne bemerkt.
Vernünftigerweise verschoben sie die Jagd auf den nächsten Morgen. Mit leeren, knurrenden Mägen legten sie sich auf einer von einem mächtigen, einzelnen Felsen beherrschten Lichtung zur Ruhe.
Sie teilten die verbliebenen Felle, und versuchten sich pärchenweise in sie einzuigeln. Einen Schutz gegen den kalten Boden hatten sie nicht. Dennoch schliefen sie vor Erschöpfung bald ein.
Es wurde eine unruhige Nacht. Mal die eine, mal der andere zogen sich im Schlaf unbewusst das Fell über die Schultern, so dass stets ein Bein, ein Po, oder ein Rücken frei lag, und erbärmlich fror. Das geschah im Wechsel beinahe die ganze Nacht hindurch.

Entsprechend früh, müde und missgelaunt waren die Freunde am Morgen erwacht. Vesgarina und Frethnal suchten nach Beeren und Wurzeln, damit sie wenigstens eine Kleinigkeit in den Bauch bekamen. Sebastian hatte sich auf die Suche nach Flintstein gemacht, der sich dazu eignete, gegen Antaronas Schwert geschlagen, Funken zu erzeugen. Sie brauchten dringend ein Feuer!
Währenddessen hatte sich Antarona mit Pfeilen und Bogen am Rand einer weiten Lichtung auf die Lauer gelegt. Das junge, taufrische Gras sollte die Waldantilopen aus dem Dickicht locken. Doch nichts geschah. Da hatte Sebastian einen Einfall, den er seiner Frau sofort stolz mitteilte:
»Wir werden dir das Wild zutreiben, aber pass auf, dass du nicht aus Versehen uns erschießt!« Er holte Vesgarina und Frethnal herbei, sie bewaffneten sich jeder mit zwei trockenen Ästen, und gemeinsam durchkämmten sie den Wald, nachdem sie einen großen Bogen um Antaronas Position geschlagen hatten.
Sie hieben die Stöcke kräftig gegeneinander, und mit lautem Klack, Klack, Klack trieben sie alles vor sich her, was im Wald vier Beine hatte, oder nicht schnell genug auf die Bäume kam. Diese Methode erwies sich als sehr erfolgreich.
Gleich mehrere wilde Schweine brachen durch das Unterholz, und stoben auf die Wiese, um auf der anderen Seite wieder in den Wald zu fliehen. Antaronas Pfeile waren wie immer blitzschnell. Da das Rüsselwild jedoch in heilloser Flucht an ihr vorüber trabte, erwischte sie nur eines der Tiere und verwundete es, so dass es quiekend und strampelnd liegen blieb.
Es war nicht ungefährlich, einem angeschossenen Wildschwein die Kehle zu durchstoßen, zumal diese Tiere größer waren, als Sebastian sie aus seiner Welt kannte. Antarona wollte auch nicht noch einen Pfeil opfern, denn oft wälzten sich verendende Tiere herum, oder fielen auf die Seite. Der Pfeil, von denen sie nicht mehr genug hatten, brach ab, und war dann verloren.
Kurzum zog Basti sein Schwert, und hieb dem leidenden Tier mit einem Streich beinahe den Kopf vom Rumpf. Sofort machten sich die beiden Frauen daran, die Beute auszuweiden. Sie zerlegten das Fleisch zunächst in Stücke, später in Streifen, und zogen das Fell mit den Borsten nach innen auf eine Astgabel, bis diese unter der Spannung ächzte.
»Ihr hättet Sonnenherz kein Wühltier vor den Bogen treiben sollen, Ba - shtie«, tadelte Antarona, »sein Fell ist nicht weich und wärmt auch nicht gut!« Basti sah seine Frau bitter an. Für ihn zählte in erster Linie, dass sie wieder etwas zu essen hatten. Natürlich wollte er in den Nächten nicht frieren. Doch mit leerem Magen ließ sich auch kaum gut jagen.
Mit gezogenem Schwert verschwand indes Frethnal im Unterholz. Dünne, feste, möglichst gerade Äste musste er finden, um ein Tragegestell für das Fleisch zu fertigen. Es musste trocknen, während sie weiterwanderten. Sebastian hoffte, dass sich sein Diener, der sich nicht immer als sehr geschickt erwiesen hatte, bei dieser Aufgabe nicht die Knochen brach, oder versehentlich seine Ohren abschnitt.
Sebastian war ausgeschickt worden, um weiter nach Flintstein und Salz zu suchen, denn auch ihre Salzbeutel waren zur Nahrung der Flammen geworden. Antarona hatte ihn darüber aufgeklärt, wo diese notwendigen Dinge am ehesten zu finden waren. Dazu musste er bis nahe an die Abstürze zum großen Tal wandern, wo solche Ablagerungen und Sinterungen vorkamen.
Für den Feuerstein musste er weit in einen Bodenspalt hinabsteigen, bis er eine entsprechende Gesteinsschicht erreichte. Die Steine zu brechen, war allerdings nicht ohne kleinere Verletzungen möglich, die von herumspritzenden Steinsplittern verursacht wurden.
Das Auffinden von Salz bedurfte allerdings einiger Phantasie. Ablagerungssalz gab es allenfalls im Talboden, der sich als riesiger Canyon über mehrere Zeitalter hinweg in den Boden gefressen hatte, und der sowieso ihr Ziel war.
Dort hinabzusteigen würde mit Rückweg zwei Tage in Anspruch nehmen. Und die Gefährlichkeit einer solchen Aktion rechtfertigte kaum das Bedürfnis. Also suchte er nach Ausblühungen von Mineralsalzen im Fels.
Sebastian fand sie erstaunlicherweise direkt über schmalen Quarzschichten weit unter der Abbruchkante der Felsen. Für ihn als Bergsteiger war es keine Unmöglichkeit, hinabzusteigen und ein Lederbeutelchen davon zusammenzukratzen. Jeder andere hätte sich jedoch bei dem Unterfangen die Knochen gebrochen.
Dennoch brauchte er für dieses Unternehmen mehrere Stunden, und kam erst gegen Mittag zum Lager zurück. Antarona und Vesgarina hatten inzwischen einen übel riechenden Brei angerührt, mit dem sie das Fell in mehreren Arbeitsschritten gerben wollten.
Zuvor hatten beide mit scharfen Steinsplittern Haut- und Fleischreste von der Innenseite der Haut geschabt, eine Arbeit, die an ihren zarten Händen ihre Spuren hinterlassen hatte, und wirklich ekligen Charakter besaß.
Sebastian fand es zuviel Aufwand für ein so borstiges, relativ kleines Fell. Doch sie besaßen so gut wie nichts mehr, und jeder Gegenstand, der zur Jagd, oder zum Wärmen diente, zählte. Um so mehr wurde der Flintstein und das feine Salzpulver geschätzt, welches Basti mitgebracht hatte.
Das Feuermachen mit diesen Steinen war jedoch alles andere, als einfach, und er wünschte sich seine Feuerzeuge her, die in seinem Bündel am Strand des Festlandes vergraben lagen. Jene, die er in der Tasche hatte, waren mit seiner Kleidung verbrannt.
Beinahe schlug er sich die Finger und Handknöchel blutig, bei dem Versuch den Steinen ein par Funken zu entlocken. Aber er machte verbissen weiter, war zu stolz, Antarona zu fragen, welchen Trick sie gewöhnlich dabei anwandte.
Irgendwann kam er auf den Einfall, nicht zwei Steine aneinander, sondern einen Flintstein an Metall zu schlagen. Aber auch das blieb erfolglos. Sebastian spürte, dass Eisen einfach viel zu weich war, um Funkenschlag zu erzeugen. Es stank nur nach Steinstaub.
Natürlich war ihm die Methode bekannt, mit der Australische Buschmänner Feuer machten. Die drehten einen harten Holzstab mit hoher Geschwindigkeit zwischen den Händen, der in einem eingeritzten Holzstück rieb, bis sich die feinen Späne entzündeten. Doch seine Hände würde er danach nicht mehr gebrauchen können.
Es war zum aus der Haut fahren! Ein gewaltiges Feuer, dem sie nur mit knapper Not lebend entkamen, vernichtete ihre ganze Habe, und nun quälte er sich damit ab, eine Feuer zu entzünden. Wenn das nicht Paradox war.
Nach einer Weile, der Wind hatte inzwischen mehrfach den Zunder aus der Feuermulde geweht, kam ihm eine rettende Idee. Er nahm sich Antaronas Schwert Nantakis, das mit den anderen Waffen im Gras lag. Damit wiederholte er den Versuch. Das Ergebnis war verblüffend!
Die Funken sprühten nur so, und nach einigen Schlägen, die der Klinge des Schwertes nicht den geringsten Kratzer zufügten, entzündete sich der Zunder aus Baumwollflöckchen, getrocknetem Gras und zerbröselter Baumrinde.
Vorsichtig, fast liebevoll blies er das Feuer an, indem er zwei, drei trockene, dünne Zweige dazulegte. Das schwächliche Flämmchen erfasste das Holz, wurde größer, verlangte nach mehr Nahrung. Basti schob langsam ein par Zweige nach und das Feuerchen nahm sie dankbar an.
Einige Minuten später brannte ein lustiges, knisterndes Feuer. Um die Feuerstelle herum trieben Antarona und Vesgarina schmale, längliche Steinschuppen in den Boden, und ließen nur auf einer Seite eine größere Lücke.
Eine große dünne Steinplatte, die Frethnal gefunden hatte, legten sie darüber, so dass ein einfacher Ofen entstand, der zwar keinen Abzug besaß, sich aber über Zugluft nicht beklagte. Das Feuer geriet richtig in Fahrt und die Steinplatte sowie die Säulen auf denen sie lag, heizten sich mächtig auf.
Es zischte und qualmte, als Vesgarina die Fleischstücke, die sie zuvor großzügig mit dem Salpeter und einem Kräuterbrei eingerieben hatte, auf die bloße Steinplatte legte. Dazu legte sie einige Wurzeln, in große Blätter gewickelt, die Antarona gesammelt hatte.
Während das Essen garte, bauten Frethnal und Sebastian ein Tragegestell für das Fleisch, sowie ein Gestell für das Fell zusammen, das noch einige Zeit gespannt getrocknet, also ebenfalls luftig getragen werden musste.
Von dem Fleisch und von diversen Wurzeln und wilden Früchten konnten sie drei bis vier Tage leben. Bis dahin würde sie der Dschungel unten im breiten Canyon verschluckt haben. Sebastian dachte darüber nach, wie es weitergehen würde.
Das Problem war nicht, zur Burg zurückzukehren. Die Siegel mochte sonst wer entwendet haben, und Bental brauchte jeden Verbündeten, den er bekommen konnte. Außerdem wollte er seine Tochter nicht verlieren, egal wie eigensinnig und ungehorsam sie war.
Aber das Volk und der Achterrat im Val Mentiér warteten auf ihre Rückkehr. Mit den Siegeln war Sebastian in der Lage, jedem Dokument, das dem Tal die Autonomie garantierte, eine legitime Note zu verleihen. Im Grunde waren sie nicht mehr auf den König angewiesen, konnten, wenn es ihnen beliebte, von Mehi-o-ratea aus zum Festland zurückkehren.
Das Einzige, was ihm Sorgen bereitete, war Arrak. Wie sollte der ihn darüber informieren, was er im Norden Zarollons vorgefunden hatte, wenn er ihn nicht finden konnte? Basti zuckte für sich mit den Achseln. Das würde sich noch finden. Vielleicht fand er jemanden, der bereit war, als Bote für ihn zur Burg zu gehen, und durch Genrath etwas über Arraks Verbleib zu erfahren.
»Worüber denkt ihr nach, Ba - shtie?« wollte Antarona wissen. Sein Achselzucken war ihr nicht entgangen.
»Ich habe überlegt, ob wir überhaupt zur Himmelsburg zurückgehen sollten«, gestand er ihr, »wir sollten vielleicht direkt ins Val Mentiér zurückkehren, und den Widerstand gegen Torbuks Truppen vorbereiten. Bis Bental und der Rat einen Beschluss gefasst haben, wird es möglicherweise zu spät sein.«
»Denkt ihr, er wird bald die Dörfer angreifen?« fragte Antarona ängstlich. Sebastian wusste, dass sie sich nicht vor einer Auseinandersetzung mit Torbuks Reitern fürchtete. Doch die Sorge um ihren Vater Hedaron vermochte sie nicht zu verbergen.
Er wollte ihr gegenüber nichts dramatisieren, aber auch nichts beschönigen. So erwähnte er den Holzer erst gar nicht, sondern antwortete ziemlich emotionslos:
»Nun, wenn auf dem Festland der Winter vorüber ist, wird Torbuk reagieren müssen. Wir haben ihm ganz schön zugesetzt, das wird er nicht so einfach hinnehmen. Wenn er auch nicht einen Eroberungszug beginnt, so wird er doch einige Truppen zur Bestrafung das Tal hinaufschicken.«
Er machte eine nachdenkliche Pause, als stellte er sich das Szenario bildlich vor, wie einige kleinere Einheiten wiederum mordend und plündernd durch das Tal zogen. Er erinnerte sich an den ausgebauten Weg zum Tor zum Reich der Toten.
Wenn die schwarzen Reiter links und rechts des Weges das Land erkundeten, konnten sie womöglich auf Högi Balmers Alm stoßen. Der Alte wäre ihnen hilflos ausgeliefert. Sebastian fühlte sich ihm immerhin noch verbunden.
»Wollen wir tatenlos zusehen, wie seine Reiter wieder aufs Neue über die Dörfer herfallen, die Jungen erschlagen, die Frauen und Mädchen schänden, und die Männer in die Sklaverei führen?« Er schüttelte energisch mit dem Kopf.
»Diesmal will ich vorbereitet sein! Ich will diesem Hohlkopf mit seinen wilden Horden Feuer unter'm Hintern machen! Die sollen so eine Niederlage erleiden, dass uns Zeit bleibt, eine Armee aufzustellen, oder Bentals Truppen heranzuführen. Vielleicht können wir sie ja von zwei Seiten in die Zange nehmen, wir vom Tal her, und der König von der Küste aus.« Antarona sah ihn zweifelnd, beinahe schon spöttisch an.
»Ba - shtie, habt ihr nicht die vielen Heerlager um Quaronas gesehen, als wir über die Berge gingen? Wie wollt ihr die aufhalten? Mit den wenigen Söhnen und Vätern des Val Mentiér? Mit Sensen, Sicheln, und Heugabeln?«
»Ja, und mit Knüppeln und Äxten, wenn es sein muss!« erwiderte er mit flammendem Mut. Etwas ruhiger fügte er hinzu:
»Du weißt, wie ich vorgehen will! Angreifen und verschwinden, immer wieder, und immer aus dem Hinterhalt. Keine offene Schlacht, sondern verdeckt von den Wäldern aus. Die Îval im Val Mentiér kennen ihr Tal, Torbuk jedoch nicht! Und er ist nicht darauf vorbereitet, sondern glaubt, wie immer eingeschüchterte Bewohner in den Dörfern vorzufinden. Die Überraschung wird auf unserer Seite sein!«
»Fürchtet ihr nicht, dass König Bental dem Tal die Hilfe verweigern wird, wenn das Volk ohne ihn handelt?« fragte sie besorgt. Basti tat entrüstet.
»Na, die Menschen in den Tälern werden sich und ihr Land doch wohl verteidigen dürfen, oder? Was hattest du denn all die Jahre getan? Warst du nicht auch ohne das Wohlwollen des Königs hinter den schwarzen Reitern hergeschlichen, und hast die Töchter der Îval aus den Händen der wilden Horden befreit?« Antarona nickte bedächtig, erwiderte dann aber:
»So war es, Ba - shtie. Doch Bental brauchte Sonnenherz nicht zu fürchten.« Sebastian sah sie entgeistert an und sie fuhr fort:
»Wenn ihr aber eine eigene Armee aufstellt, und Torbuk vielleicht besiegt, so mag er glauben, dass ihr als sein Sohn den Thron fordert. Die Îval stünden hinter euch, das habt ihr bereits erfahren!«
»Aber das ist doch Unsinn«, entgegnete er, »wir werden natürlich für König Bental kämpfen, und für das Volk!« Ihre Zweifel waren aber noch nicht ausgeräumt.
»Sonnenherz weiß das«, sprach sie wie eine Diplomatin, »doch hattet ihr nicht gesagt, ihr wolltet die Macht der Herrschaft dem Volk, jedem Îval geben?« Sie wartete Sebastians Antwort gar nicht ab, sondern sagte weiter:
»Der König wird seine Macht nicht an jene abgeben wollen, welche die Abgesandten des Volkes sind. Wollt ihr dann gegen jenen Mann und seine Truppen weiterkämpfen, welcher vor dem Volk euer Vater und König ist?«
Ihre Frage klang provokant und sorgenvoll gleichermaßen. Antarona fühlte sich hin und her gerissen, von einerseits dem reizvollen Gedanken an eine Art der Selbstbestimmung, andererseits aber von der Angst, gegen den König, der solange sie zu denken vermochte, immer da war, und bestimmte, was zu tun war.
Sie konnte sich nicht vorstellen, dass Entscheidungen des Achterrats einfach ohne das Wohlwollen Falméras ausgeführt werden. Sie kannte keine freie Entscheidung einer Mehrheit des Volkes.
Die Götter hatten den Königen die Macht gegeben. Sie waren dazu bestimmt, das Volk zu führen, und niemand hatte ihre Entscheidung anzuzweifeln. Und nie hatte ein rechtmäßiger Herrscher das Volk schlecht behandelt. Sie hatte Angst vor einer solch großen Veränderung.
Sebastian legte seine Hand behütend auf ihre nackte Schulter und zog sie zu sich heran, als wollte er sie vor etwas Unsichtbarem beschützen.
»Ich versichere dir, mein Engelchen, wenn wir es einmal schaffen, Torbuk in die Flucht zu schlagen, so werde ich danach dem König nicht die Gefolgschaft verwehren. Dennoch gilt es mit ihm darüber zu beraten, ob den Tälern in ihren Entscheidungen nicht mehr Freiheit zugestanden werden kann. Möglicherweise durch einen Fürsten, welchen das Volk selbst wählt, welcher aber dem König gehorsam verpflichtet ist.«
Antaronas Blick verriet Sebastian, dass sie kaum verstand, wovon er sprach. Allmählich wurde ihm klar, dass es nicht so leicht sein würde, ein Volk, welches nie etwas anderes, als willkürliche Monarchie erlebt hatte, zu demokratisieren.
Aus der Geschichte seiner eigenen Welt wusste er nur zu genau, dass ein mit Gewalt plötzlich herbeigeführter Umbruch kaum gelingen würde. Das Volk würde dadurch von einem Krieg in den nächsten stürzen. Das konnte von niemandem gewollt sein, wenn nicht ein unerträgliches Leid dazu zwang.
Aber soweit waren sie noch nicht. Es war nicht einmal sicher, ob sie eine Chance besaßen, den Truppen Torbuks erfolgreich entgegenzutreten. Wozu also Pläne für das Danach machen, wenn das Davor noch gar nicht begonnen hatte?
Zunächst sollte Sebastians Aufgabe darin bestehen, die Küsten Falméras gegen eine drohende Invasion von Torbuks Armee auf Oranuti- Schiffen zu sichern. So hatte er es mit Bental besprochen. Doch ob diese Absprache noch galt?
Seinen Vorschlag, die Himmelsburg mit dem abgelegensten Teil der Insel durch Signaltürme zu verbinden, um rasch Nachrichten übermitteln zu können, und anschließend Truppen heranzuführen, hatte er aufgrund der Ereignisse nicht weiter verfolgt.
Ebenso war er nicht mehr dazu gekommen, ein Heerlager aufzustellen, das eine provisorische Küstensicherung stellte. Möglicherweise lag es aber auch daran, dass Bental die Gefahr nicht sehen wollte, die Falméra bedrohte.
Sollten sie also auf die Himmelsburg zurückkehren, so hatte er nichts weiter erreicht, als die Küsten der Insel in Augenschein zu nehmen, und ihre Schwachstellen festzustellen. Dazu musste er einen bericht abfassen, der dann dem Rat des Königs vorgelegt werden würde.
Eine Entscheidung, die ungesicherten Küsten durch ein neues Heerlager überwachen zu lassen, mochte dann Wochen, wenn nicht Monate auf sich warten lassen. Wenn Arrak zurückkäme, oder wenn sie den Spion lebend hätten zur Burg bringen können... Zu viele Spekulationen!
Nachdenklich sah Sebastian zu Antarona. Sie saß neben ihm, die Beine im Schneidersitz verschränkt, leicht vorübergebeugt, und konzentrierte sich auf ihre Arbeit, die auf ihren Knien lag. Ihr Bronzefarbener, nackter Körper mutete im späten Sonnenlicht an wie die Statue einer Göttin. Ihre langen Haare fielen ungebändigt herab und verdeckten ihr Gesicht. Absichtlich?
Vielleicht dachte sie ebenfalls über die unsichere Zukunft nach, wollte es aber nicht zeigen. Ihre Finger arbeiteten mit ruhiger Routine an einem Oberteil aus weichen Pflanzenfasern, die sie mit einer lockeren Knotentechnik zusammenknüpfte.
Sebastian lächelte verträumt. Ihre Schönheit berauschte ihn immer wieder, und er genoss es sie zu beobachten, wenn sie nur mit ihrem winzigen Lederschurz vor ihm herumlief. Doch auf dem Marsch durch die unwegbare Wildnis, durchwirkt von Sträuchern und Büschen mit teils giftigen Dornen, musste sie ihre Brüste schützen.
Er bezweifelte, dass jenes lockere Geflecht, an dem sie gerade arbeitete, das vermochte. Doch bis es ihnen gelang, ein Nagetier mit dichtem, weichem Fell zu erlegen, aus dem sie sich dann ein Oberteil nähen konnte, musste es gehen.
Vesgarina, von Frethnal ebenso gierig mit Blicken verschlungen, hatte einen Rock, den sie vor den Flammen retten konnte, auseinandergetrennt, und war dabei, sich daraus einen kurzen Rock und ein ärmelloses Hemdchen zurechtzuschneiden.
Antarona spürte Bastis Blicke, die auf ihr lagen, sah von ihrer Arbeit auf und tat so verwundert, als begegneten sie sich zum ersten Mal.
»Ist etwas mit Sonnenherz?« fragte sie ein wenig gereizt. »Was starrt ihr Sonnenherz so an, wie einen Baum voller Elsiren?«
»Du bist so schön, dass ich den Blick nicht von dir nehmen mag, weil ich fürchte, dass es nur ein wunderbare Mutter der Nacht ist, welche mir die allerschönste Mär erzählt!« gestand er ihr offen. Beschämt blickte sie wieder auf ihre Arbeit. Doch dann ließ sie das geknüpfte Muster fahren und legte ihm die Arme um den Hals.
»Oh, Ba - shtie, Sonnenherz ist so voller Glück, sie mag nie mehr ohne euch sein. Wo auch immer ihr geht und steht, was immer ihr tut, sie wird an eurer Seite sein!«
»Und ich will dich froh und zufrieden machen, solange mein Atem geht und mein Herz schlägt«, versicherte er ihr.
Nur schwer vermochte sie sich von ihm zu lösen, und sich wieder ihrer Arbeit zu widmen. Sebastian versuchte indes mit einem gefundenen Bimsstein die Klinge seines Schwertes noch mehr zu schärfen. Eigentlich war das nicht nötig, doch er legte Wert auf eine möglichst perfekte Waffe.
Später holte er sein provisorisches Tagebuch aus seinem kleinen Bündel, und schrieb die Ereignisse der letzten Tage auf. Außerdem versuchte er eine möglichst genaue Karte ihrer Wanderroute zu erstellen, die er irgendwann mit den Karten der Burgbibliothek abgleichen wollte.
So verbrachten sie den Nachmittag, während sie das erlegte Fleisch, Wurzeln und Beeren verzehrten. Nachdem sie sehr früh ihr Lager bereitet hatten, legten sie sich kurz nach Sonnenuntergang schlafen.

Der Morgen weckte sie mit schräg einfallenden Sonnenstrahlen, die durch leichten Morgennebel fielen, und aussahen, wie leuchtende Lanzen, die gefächert durch die Bäume stachen. Sebastian kam nur schleppend in die Höhe, reckte sich und taumelte zur Feuerstelle.
Sein Rücken schmerzte, und der Druck zog sich über Schultern, Nacken und Hals bis in die Schläfe. Seit er in Antaronas Welt gekommen war, hatte ihn der Verspannungskopfschmerz, der ihn früher oft gepeinigt hatte, in Ruhe gelassen.
Nun meldete er sich zum ersten Mal zurück, zeugte von den Anstrengungen der letzten Tage. Antarona, die ebenfalls gerade aufgestanden war, sah ihn besorgt an, sie kannte solche Leiden nicht.
»Ist noch nicht jeder Knochen im Leib wach geworden...« kommentierte er spaßig seine Unpässlichkeit.
»Sonnenherz wird euch einen Trank brauen«, legte sie fest, »er wird euch beleben, und neue Kraft geben!« Er wusste, dass es zwecklos war, dagegen zu protestieren. Wenn sich das Krähenmädchen etwas in den Kopf gesetzt hatte, konnte keine Macht der Welt sie wieder davon abbringen.
Er nickte nur, ging zu einem niedrigen Baum mit mächtigem Stamm hinüber, packte einen der kräftigen Äste und ließ seinen Körper wie einen nassen Sack daran hängen. Das tat gut! Doch es musste dermaßen komisch aussehen, denn Antarona begann verhalten zu kichern.
»Was lachst du so versteckt, hast du noch nie jemanden seinen Rücken aushängen sehen?« entfuhr es ihm mit voller Entrüstung. Nun gab es für Antarona kein Halten mehr. Lauthals prustete sie los und begann so heftig zu lachen, dass ihr die Tränen über die Wangen kullerten. Sie bog sich vor Lachen, klatschte sich seitlich auf die nackten Schenkel, und wollte sich nicht mehr einkriegen.
Das rief natürlich auch die beiden Freunde Vesgarina und Frethnal auf den Plan, die sofort in den Ausbruch des ausgelassenen Humors mit einstiegen; völlig übertrieben, wie Sebastian fand. Doch die drei fanden kein Ende ihrer Schadenfreude, zeigten abwechselnd auf ihn, stießen sich gegenseitig an und fingen immer wieder von neuem an, in unkontrolliertes Gelächter auszubrechen.
Bald glaubte Basti, dass es ihre Art war, den Stress der letzten Ereignisse zu verarbeiten. Sie mussten einfach mal Dampf ablassen!
»Verzeiht, doch wie ihr da so hängt, Ba - shtie, seht ihr aus wie ein gezüchtetes Wühltier, dass zum Ausweiden aufgehängt wurde!« presste Antarona zwischen zwei Lachattacken heraus. Alle drei warfen sich zu Boden und wälzten sich vor Lachen im Dreck, kaum dass sie noch genug Luft zum Atmen bekamen.
Das reichte nun aber! Sebastian ließ sich etwas ungelenk zu Boden plumpsen und löste damit eine neue Flut der Heiterkeit aus.
»Wie ein prall gefüllter Wasserbeutel!« kommentierte seine Frau glucksend das Ende seiner Hängepartie.
»Oder wie ein Sack voller Mehl, nur dass es nicht so gestaubt hat!« fiel Vesgarina übermütig mit ein, indem sie sich die Lachtränen aus dem Gesicht wischte. Nur Frethnal hielt sich ein wenig zurück. Um die beiden Mädchen wieder von ihrer Wolke des Übermutes auf den Boden zu holen drohte er nicht ganz ernst gemeint:
»Ich werde einmal euer König sein, also zeigt etwas mehr Respekt, wenn ich bitten darf!« Das aber löste nur noch heftigere Lachwehen aus.
»Jaaa, ein feiner König seid ihr«, hustete Antarona, weil sie keine Luft mehr bekam, »ein reifer König, der am Baume hängt, und herabfällt, wenn man kräftig genug schüttelt!« Während Frethnal allmählich zur Ruhe kam, kringelten sich die Mädchen vor Albernheit, und fanden keine Grenze mehr.
»Ein gefallener König«, schluchzte sie aus ihrem überlasteten Zwerchfell heraus, »der gestürzte Held aller Frauen im Lande, und besonders der Oranuti- Töchter!«
So, nun war es aber endgültig genug! Sebastian stürmte auf die beiden sich am Boden ringelnden Mädchen zu, schnappte mit Kräftigen Armen Antarona, hob sie hoch, und warf sie sich wie ein erlegtes Wild über die Schulter.
Sie strampelte mit den Beinen, ihre kleine Fäuste hämmerten auf seinen Rücken, aber ihr Lachanfall wollte nicht enden. Mit dem kleinen explosiven Bündel auf den Schultern marschierte er von der Lichtung. Um Vesgarina mochte sich Frethnal kümmern.
Er spürte, wie ihr Körper von Lachanfällen geschüttelt wurde. Dabei gebärdete sie sich wie eine Irre, die nicht mehr wusste, was sie tat. Treten, Kneifen, Kratzen und Boxen; sie bot, zwar nicht ganz ernsthaft, ihr ganzes Repertoire auf. Sein Arm, der sich wie eine eiserne Klammer um ihren schlanken Körper gelegt hatte, musste alle Kräfte mobilisieren, um das ausgeflippte Mädchen zu bändigen.
Zielstrebig steuerte er einen kleinen Tümpel im Wald an, den er am Vortag bei der Suche nach Flintstein unweit des Lagers entdeckt hatte. In hohem Bogen warf er Antarona in das Wasser, dann hechtete er hinterher.
Prustend tauchte sie wieder auf, blies ihm eine Fontaine Sprühwasser ins Gesicht, und schrie außer sich vor Überraschung:
»Was fällt euch ein, ihr Möchtegernkönig! Wie wagt ihr es, die Prinzessin von Falméra zu behandeln?« Ihre Augen hatten von einer Sekunde zur anderen das typische, gefährliche Flackern angenommen, und Sebastian war verunsichert, wusste nicht, wie ernst er ihre Empörung nehmen sollte.
»Pah! Prinzessin von Falméra«, höhnte er nun seinerseits lachend, »eine nasse Prinzessin, die man erst aus dem Wasser fischen muss! Wie ein begossener Robrum sieht sie aus, die große Prinzessin!« Er wollte sich wieder auf sie stürzen, um sie zu umarmen, doch er hatte in dieser Situation nicht mehr mit ihrer Gewandtheit gerechnet.
Wie ein Delphin tauchte sie plötzlich ab und war verschwunden. Er vermutete sie dort, wo noch ein par kleine Bläschen nach oben stiegen, und wollte ihr gerade nachtauchen, als sie wie von einem Katapult beschleunigt wieder aus dem Wasser schoss.
Im nächsten Moment wurde Sebastians Haupt schmerzhaft von einem Hagel kleiner Steinchen eingedeckt. Er hatte viel zu spät reagiert. Sie hatte ihn mit dem Pfeilspiel überrascht!
»Na, ihr Herrscher über Falméra? Oder sollte Sonnenherz sagen: Lahmer König, der vom Baume fiel?« spottete sie lachend.
»Na warte, du kleine, hinterlistige Schlange, jetzt sieh dich vor!« warnte Basti im Spaß, stieß sich vom Grund ab, vollführte eine Wasserrolle und tauchte. Aber er kam gleich wieder hoch. Er ahnte, dass sie ebenfalls wieder zum Grund tauchte, um eine Hand voll neue Munition zu holen, und wollte sie austricksen.
Doch als er seinen Kopf aus dem Wasser streckte, prasselte eine weitere Ladung Steinchen auf ihn herab. Das kleine Luder hatte sich beim ersten Tauchen bereits mit zwei Händen voll Steinchen bewaffnet!
Bevor er sich verteidigen konnte, war sie schon wieder abgetaucht. Basti folgte ihr auf den Grund, hoffte sie zu finden, und ihr die nächste Ladung Steinchen abjagen zu können, damit sie ohne "Pfeile" wieder auftauchen musste. Doch das Wasser des Teiches war so trübe, dass er trotz Lichteinwirkung der Sonne nichts sehen konnte.
Also schwamm er unter Wasser einen weiten Bogen, solange es seine Atemluft zuließ, bis er sich in ihrem Rücken glaubte. Dabei nahm er gleich zwei Hände voll Steinchen mit nach oben. Da er versuchte, ganz langsam aufzutauchen, um möglichst kein Plätschern zu verursachen, drohten ihm fast die Lungen zu bersten.
Tatsächlich kam er hinter dem Krähenmädchen hoch. Doch entweder hatten ihre Sinne sie gewarnt, oder ein winziges Geräusch hatte ihn verraten. Augenblicklich wirbelte sie herum, und hob den Arm. Beinahe gleichzeitig ließen sie ihre Geschosse durch die Luft sausen. Antarona gelang es jedoch, schneller wieder unter der Wasseroberfläche zu verschwinden.
Sebastian rechnete sich aus, dass sie seitlich nach Süden, zum Schilfbewuchs hin ausbrechen würde. Er kannte sie und wusste, dass sie voller Finessen steckte. Vermutlich versuchte sie eine Position zu erreichen, bei der er nach dem Auftauchen gegen die Sonne blicken musste, während sie ihr Ziel wunderbar beleuchtet vorfand.
Kräftig stieß er sich ab, hechtete unter Wasser und schwamm in die Richtung, in er sie nun vermutete. Basti hatte richtig kombiniert! Er bekam ihre Taille zu fassen, noch bevor er sie richtig sehen konnte. Antarona versuchte sich aus seinem Griff zu winden, und bewies dabei eine Akrobatik, die der eines wild gewordenen Hais gleichkam.
So zierlich seine Frau auch gebaut war, er hatte seine liebe Mühe, sie festzuhalten. Immer wieder musste er nachfassen, damit sie ihm nicht entglitt. Ein Aal mochte nicht schwerer zu fassen sein. Schließlich drängte er sie gegen das Ufer, denn er wusste, dass ihm viel früher, als ihr die Luft ausgehen würde.
Das Ufer war schlammig und mit Wassergräsern bewachsen. Als das Wasser seichter wurde, schob er sie über den glitschigen Boden hinauf. Die Uferböschung bestand aus Lehmboden, und verhinderte, dass sie sich aus dem Wasser ziehen konnten. Immer wieder rutschten sie zurück, was Antarona zupass kam, denn im Wasser war sie ihm eindeutig überlegen.
Es entspann sich eine kleine Rangelei zwischen ihnen. Sebastian versuchte sie die Böschung hinaufzuschieben, und sie bemühte sich weiter, seinem Griff zu entkommen. Der schmierige Lehm, der rasch an beiden Körpern haftete, begünstigte Antaronas Gegenwehr. Sie war einfach nicht zu packen, entglitt immer wieder seinen Händen.
»Naa, O groooßer Kööönig, war das schon alles, was ihr aufzubieten habt?« spottete sie, immer noch lachend. Sebastian zögerte, seinen Angriff fortzusetzen.
Aber er ließ sie auch nicht zurück ins tiefe Wasser. Er setzte auf seine naturgemäße körperliche Überlegenheit. Antarona wand sich, gebärdete sich wie eine wild gewordene Furie, strampelte, und versuchte mit schnellen Hieben seine Rippen zu erwischen. Er setzte darauf, dass ihr früher oder später die Kraft ausgehen musste, und sie sich erschöpft ergeben musste.
Gesiegt hatte, wer als erstes aufgab, ob nun im Wasser mit Steinchen, oder am Ufer mit dem Fixieren des Gegners. Sebastian gestattete ihr stets einige kleine Tricks, die nicht ganz fair, und entgegen der Regel waren.
Er selbst beschränkte sich darauf, ihr auf keinen Fall weh zu tun, oder sie zu verletzen, und nahm dafür taktische Nachteile in Kauf. Dazu bewog ihn allein schon der Gedanke, dass sie ja schwanger war, und er sie nicht allzu derbe anfassen wollte. Stets brachten ihm ein zuviel an Vorsicht und Rücksichtnahme deutliche Nachteile im Kampfspiel. Aber er nahm es mit gutem Gefühl hin.
»Das wirst du schon sehen, O schöööne Prinzessin von Falmeeera!« konterte er ihre höhnische Bemerkung, umfasste sie an der Taille und verhakte die Hände hinter ihrem Leib.
Da er sie aber am Rücken hielt, hatte sie die Arme und Beine frei. Antarona nutzte diesen kleinen Vorteil sofort aus, stieß sich mit den Füßen von der Böschung ab, so dass sie beide zurück ins Wasser kippten. Eine heftige Windung ihres biegsamen Körpers, und Sebastian vermochte sie nicht mehr zu halten. Im nächsten Moment war sie seinem Griff und Blick entschwunden.
Nun begann das Spiel von neuem. Unverzüglich tauchte Sebastian zum Grund, um sich mit neuen Steinchen zu bewaffnen. Als er danach auch nur seinen Haarschopf aus dem Wasser hob, hagelte es steinerne Pfeile. Sie hatte sein Auftauchen schon erwartet.
Diese Runde hatte er verloren. Das letzte Geschoss war noch nicht auf das Wasser geschlagen, da hatte er sich wieder absinken lassen. Aber seine beiden Hände hielten noch die Steinchen fest umklammert, und so stieß er sich sofort wieder vom Boden ab und tauchte auf.
Eine spiegelglatte Wasserfläche erwartete ihn. Nichts regte sich. Nicht einmal ein Bläschen verriet, wo das Krähenmädchen tauchte. Sich langsam um sich selbst drehend, wartete er. Ab und zu wischte er sich das Wasser aus den Augen, das aus den Haaren immer wieder nachtropfte. Er wartete weiter, aber alles blieb ruhig.
Hatte sie ihn wieder genarrt? War sie längst zum Ufer geschwommen, und ins Lager zurück gegangen? Er traute ihr zu, dass sie ihn hier im Tümpel ahnungslos zurückließ und sich mit Vesgarina und Frethnal köstlich über seine Tölpelhaftigkeit amüsierte.
Doch so schnell konnte selbst sie nicht sein! Es waren ja nur Sekunden vergangen, bis er wieder aufgetaucht war. Er wartete, denn er wusste ja, wie lange sie die Luft anhalten konnte. Im See vor ihrer Höhle hatte sie es bewiesen. Er beneidete sie um diese Fähigkeit, obwohl er sich immer wieder gefragt hatte, wo eine so zierliche Frau eine so große Lunge haben mochte.
Mittlerweile wunderte er sich aber doch, wie lange sie unter Wasser blieb. Inzwischen brach sie wohl ihren eigenen Rekord! Während er wartete, wurde er zusehens nervöser. Eine bedrückende Angst machte sich allmählich in ihm breit. Hatte sie sich etwa unter Wasser in Schlingpflanzen verfangen und kam nicht mehr hoch?
Eigentlich hielt er das für ausgeschlossen, denn Antarona schwamm so gut, wie ein Seehund, oder Fisch. Aber wo blieb sie? Langsam wurde im klar, dass selbst sie nicht so lange die Luft anhalten konnte. Panisch blickte er sich um. Aber wo sollte er suchen? Noch dazu, wo man unter Wasser kaum die Hand vor Augen sah!
Dann vermutete er, dass sie sich in dem schmalen Streifen versteckt hielt, der mit Schilf und Wassergras bewachsen war. Gebannt beobachtete er die Halme, die sich ruhig im Wind wiegten. Nichts! Kein schwarzer Schopf lugte zwischen ihnen hervor. Nun wurde Sebastian heiß und kalt vor Angst. Ihm schwirrten die Sinne, und er musste sich sehr zusammennehmen, um noch einigermaßen rationell handeln zu können.
Wieso mussten sie auch immer wieder die Zeit mit solchen Abenteuerspielchen vertreiben? Irgendwann musste es ja mal schief gehen! Was sollte er jetzt tun? Kurz entschlossen tauchte Sebastian ab, schwamm unter Wasser ziellos hin und her, versuchte irgendetwas zu erkennen, tauchte wieder auf, suchte die Wasseroberfläche nach aufsteigenden Blasen ab, holte tief Luft und ließ sich erneut hinabsinken.
Immer wieder suchte er den Grund ab, und meinte bereits den ganzen Teich durchpflügt zu haben. Nichts! Antarona blieb verschwunden. Bald hatte er das Gefühl, eine geschlagene halbe Stunde gesucht zu haben, und Tränen schossen ihm in die Augen, als sich die Befürchtung in ihm manifestierte, das schönste Glück, das Höchste, was er vom Leben erwarten durfte, durch einen dummen Streich verloren zu haben.
Den Blick immer noch auf die Wasserfläche gerichtet, wanderte er am Schilfgürtel entlang, holte mit den Beinen über dem Seegrund aus, betete, gegen Antaronas Leib zu stoßen. Allmählich wurde ihm aber klar, dass er sie nicht mehr lebend würde bergen können. Gedanken wie Bilder schossen ihm durch den Kopf.
Vor seinem geistigen Auge sah er sie unter den Wasserfall tauchen, der sich über den Eingang zu ihrer Höhle im Val Mentiér ergoss. Dann sah er sie mit erhobener Klinge auf sich zugehen, mit mordlüsternem Funkeln in ihren Augen, dem Funkeln, das er später so an ihr liebte! Und immer wieder drängte sich das Bild in seine Erinnerung, in dem sie im Elsirenkleid ihrer Mutter vor ihm tanzte, mit nichts als diesem Stoff auf der Haut, der eher wie ein Nebel wirkte, als denn ein verhüllendes Kleidungsstück.
Es konnte nicht sein, dass die Götter ihm dieses wundervolle, sein Herz mit Glück erfüllende Wesen wieder genommen hatten! Das war nicht möglich! Das war ganz und gar nicht fair!
Augenblicklich kochte eine unbändige Wut in ihm hoch, ein Zorn, der seine pure Verzweiflung zum Ausdruck brachte. Wie ein Irrer begann er mit den Armen, mit flachen Händen auf die Wasserfläche einzuschlagen, er schrie, als risse ihm jemand die Beine aus, warf sich in die stillen Fluten, schlug und trat um sich, als könnte er den Teich dazu zwingen, sie wieder herauszugeben.
Auf einem Mal war ihm alles egal. In seinem Wahn achtete er nicht darauf, dass die Schilfhalme, die er in tiefer Verachtung aus dem Teichgrund riss, seine Hände zerschnitten. Er wollte nur Schmerzen zufügen! Dem See, dem Schilf, dem Wasser, sich selbst. Er war selbst nur noch Schmerz, eine schreiende, wehklagende, Hülle, die ausbrannte!
Tränen und Blut vermischten sich mit dem Wasser des Sees, seine Kräfte ließen langsam nach, sein Brüllen wurde zu einem schluchzenden Winseln, das nur noch zu den Göttern flehte, sie mochten doch ein Einsehen haben, nur dieses eine Mal, eine letzte Chance, ihm ein winziges Stückchen Gnade erweisen, und ihm seine Prinzessin und seine Tochter wiedergeben!
Sonst wollte er sterben. Ohne Antarona wollte er nicht weiterleben! In Sekundenbruchteilen wurde ihm klar, welch sinnloses Leben er in seiner alten Welt geführt, und was er in dieser gefunden hatte. Antarona und dieses Land; sie waren sein Leben! Ohne sie würde er diesen Teich nicht mehr verlassen!
»Ihr Götter, gebt sie mir zurück, oder ich werde euch verfluchen, bis in die letzte Zentare meines Lebens, und noch darüber hinaus!« schrie er in die Stille hinein.
»Bitte gebt sie mir zurück, sie ist das einzige, was ich auf dieser irdischen Welt habe.., bitte...« setzte er leise und tonlos hinzu, indem er kraftlos die Arme sinken ließ.
In diesem Moment fuhr plötzlich etwas aus dem Wasser auf, direkt neben ihm, am Rande des Schilfgürtels. Im ersten Augenblick dachte er an ein Monster, einen Sis-tà-wàn, eine Kreatur, die bereits Antarona in die Tiefe gerissen hatte.
Doch dann blieb er mit offenem Mund stehen und blickte ungläubig. Antarona selbst war es, die aus dem Teich auftauchte. Nackt und rein, wie polierte Bronze glänzend, stand sie bis zur Taille im Wasser vor ihm, kleine Bäche rannen ihr aus den langen Haaren über die Brüste und an den Armen hinab, und erschufen mit ihrem Plätschern die süßesten aller Klänge, die Sebastian je in seinem Leben gehört hatte.
Ein Traum? Bildete er sich das nur ein? Spielte das Gehirn mit den Wünschen des Herzens, sah er nur, was er sich erhoffte? War sie weiter nichts, als ein Geist, eine Halluzination? Langsam streckte er die Hand nach ihr aus, berührte sie ehrfürchtig, als glaubte er nicht, welch Mysterium seine Augen ihm da vermittelten.
»Wie.., wie kannst du..?« Er brachte nur ein Stammeln zustande, überwältigt vom Wunder ihrer Auferstehung und ihrer bezaubernden, betörenden Schönheit.
»Wie kann Sonnenherz was?« fragte sie lachend, und ihre Stimme drang in ihn ein, wie das Feuer des Lebens, das schon zu verlöschen drohte.
»Wie kann Sonnenherz so lange die Luft anhalten?« sprach sie beinahe das aus, was er dachte, und fügte in unbekümmerter Vergnügtheit hinzu:
»Baaa - shtie! Hatte der groooße Kööönig etwa Angst? Der Held von Falméra, der aus dem Reich der Toten zurückgekehrt ist? Ja, hattet ihr Angst um euer En-gel-sen?« Dabei hob sie den rechten Arm und zuerst dachte Basti an eine Rute, die sie in der Hand hielt, um ihm seine Dummheit und Naivität auszutreiben.
Doch dann sah er die drei dicken Schilfhalme, die zu zwei Dritteln nass, und zu einem Drittel trocken waren. Sein Kopf summte, und er verzog das Gesicht, um seine Gedanken neu zu ordnen. Die kleine Hexe hatte ihn ausgetrickst! Sie hatte mit seinen Gefühlen gespielt, als wären es Murmeln! Sie hatte ihm tatsächlich Glauben gemacht, sie wäre ertrunken! Unfassbar!
»Sag mal, bist du noch bei Sinnen?« schrie er sie an, packte sie bei den Schultern und schüttelte sie so heftig, dass ihr die pechschwarzen, nassen Haare wild um den Kopf flogen.
»Das ist nicht witzig! Weißt du eigentlich, welche Angst ich ausgestanden habe? Ich dachte, ich sehe dich niemals wieder!« Doch dann umarmte er sie, zog sie heftig an sich, und küsste sie. Antarona ließ die Schilfhalme fahren, schlang ihre Arme um seinen Hals und erwiderte den Kuss. In einer kurzen Atempause hinein sagte er:
»Ich bin fast vor Angst gestorben, tue so etwas nie wieder! Aber der Einfall war wirklich gut!« Das Krähenmädchen lächelte ihn süß an, stieß sich von ihm ab, und ließ sich ins Wasser gleiten.
»Wer als zuerst drüben am anderen Ufer ist!« rief sie ihm zu und schwamm los. Obwohl er sich kaum eine Chance ausrechnete, schwamm er mit aller Kraft hinterher. An der Uferböschung angekommen, versuchte Antarona vergeblich, sich hinaufzuziehen. trotzdem sie ihre Zehen wie krallen in den Lehmboden schlug, rutschte sie immer wieder zurück.
Schon war Sebastian bei ihr, und ahnte, dass sie genau wusste, dass sie ihm auf dieser Seite des Teiches nicht entkommen konnte.
»So, siehst du, jetzt hab' ich dich!« stellte er spielerisch drohend fest, stemmte seine Arme links und rechts von ihr in die Böschung, und drückte sein Knie zwischen ihre Beine, so dass sie nicht mehr entfliehen konnte.
»Ja, jetzt habt ihr Sonnenherz, Mann mit den Zeichen der Götter. Und was wollt ihr nun mit ihr tun?« fragte sie provozierend.
»Das, was ich schon mit dir hätte tun sollen, als wir das erste Mal an diesem Ufer standen!« antwortete er leise und geheimnisvoll.
»Dann tut es doch endlich, und redet nicht wie das Wasser, welches vom Berg fällt!« Antarona hauchte es ihm ins Ohr, als befürchtete sie ein Seeungeheuer zu wecken. Entschlossen zogen seine kräftigen Arme ihren leichten Körper an sich.
Ihre Augen funkelten erwartungsvoll, sie ließ es ohne Widerstand geschehen und sie schien nur darauf gewartet zu haben. Ihre Lippen fanden sehnsüchtig zueinander, wie zwei starke Magneten, und ihre Sinne sperrten alles um sie herum aus.
Die Bäume seufzten leise, die Vögel hielten in ihrem Gesang inne, und der Teich beschützte ihre Zweisamkeit, so empfanden sie es, als sie von ihm sanft in den nassen Lehm gedrückt wurde, bereit, ihr Verlangen mit ihm auszuleben...
Dann ließen sie sich eng umschlungen ins tiefere Wasser gleiten. ließen sich auf dem Rücken treiben. sahen verträumt zu den Baumkronen hinauf, die mit ihren dichten Blätterdächern den Teich teilweise überragten.
Die Vögel sangen liebliche Weisen, wie ein Orchester kleiner Flöten, in einem Auf und Ab vieler Solisten. Das Knarren der Bäume gab als Kontrabass des Waldes seinen gemächlichen Takt dazu, unterbrochen vom hellen Hämmern eines Spechtes, das einem Trommelwirbel gleichkam, der eine neue Strophe einleitete. Das Murmeln und Plätschern irgendeines Baches, der sich in den Teich ergoss, lieferte zusammen mit dem Summen und Brummen der Insekten den Hintergrundklang dazu.
Wie Tausende von Amphibien bewegten sich die Blätter vor dem Himmelsmeer im leichten Wind, zitterten, wedelten, lebten in ständiger Ruhelosigkeit. Die Blicke der beiden Verliebten verloren sich in der Faszination des leisen Raschelns und Rauschens, das trotz der Unruhe im Detail einen tiefen Frieden ausstrahlte.
Ein großes Greifvogelpaar flog darüber hinweg mit majestätischer Erhabenheit seine ruhigen Kreise. Unregelmäßig zogen sie ihre Bahnen über den Teich, dessen scheinbare Schwerelosigkeit die beiden vereinten Menschenwesen trug, die von ihrem Glück träumten, sich im Schoße seines Wassers friedlich und geborgen fühlten.
In der Mitte des Teiches fielen Licht und Wärme der Sonne durch den Kranz der Blätterwerke, schmeichelte ihren nackten Körpern, wärmten sie und schenkten ihnen Momente der Unbeschwertheit und Glückseligkeit. Sie hielten sich an den Händen, fühlten sich, und hofften, ewig in diesem Traum weiterschweben zu können.
»Ist alles gut bei euch?« unterbrach Frethnals Ruf die verträumte, geheimnisvolle Stille ihrer Zweisamkeit.
»Wir hatten einen Schrei gehört«, erklärte er, »es war gar nicht so einfach, euch zu finden, der See liegt so verborgen im Dickicht, dass wir ihn zweimal übersehen hatten!«
Vesgarina und Frethnal waren am Ufer aufgetaucht, beschrimten die Augen mit den Handflächen gegen die Sonne, und schienen sichtlich besorgt. Antarona und Sebastian sahen sich enttäuscht an. Das Träumen in der friedlichen Stille war vorbei.
Unschlüssig stand das Dienerpaar oben auf der Uferböschung und sah fragend auf die Spiegelfläche des Teiches herab, aus der Antaronas und Sebastians dahintreibende Körper nur knapp hervortraten.
»Es ist vorbei!« seufzte Basti leise und traurig. Antarona richtete sich auf, winkte den beiden zu, ebenfalls ins Wasser zu kommen und sagte zu ihrem Mann:
»Seid guter Dinge, Ba - shtie, es wird noch viele junge Sonnen geben, die Sonnenherz und Glanzauge einen ruhigen Ort und eine stille Zeit der Liebe bescheren! An jedem Tag, welchen die Götter den Menschenwesen schenken!« Sebastian nickte zustimmend, und rief zum Ufer hin:
»Na, worauf wartet ihr denn noch? Kommt ins Wasser, es sei denn, ihr fürchtet unsere Pfeile, die euch schneller ereilen, als ihr zu tauchen vermögt!«
Vesgarina, wie Antarona nur mit dem knappen Lederschurz der Îval- Mädchen bekleidet, tastete mit nackten Füßen nach sicherem Halt auf der lehmigen Böschung. Ihre Augen suchten einen Weg hinunter zum Teich.
Während Frethnal sich noch seines Waffenrocks entledigte, schob Sebastian seine Handfläche so heftig über die Wasserfläche, dass ein Sprühregen auf dem Uferhang niederging, und den Lehm durchnässte.
»Lasst euch einfach fallen, der Boden ist so glatt, ihr werdet wie auf Eis ins Wasser rutschen, ohne euch zu verletzen«, versprach er der zögernd dreinschauenden Wenderin. Das Mädchen vertraute ihm, hob die Arme und ließ sich über die Kante gleiten.
Sie klatschte mit dem Gesäß auf den weichen Lehm, der Schurz schob sich über ihre Taille, mit blanker Haut rutschte sie auf dem glitschigen Untergrund abwärts, und fuhr in einer aufspritzenden Fontaine ins Wasser.
Sie hatte daran einen solchen Spaß, dass sie sofort wieder ans Ufer schwamm, ihre Zehen entschlossen in den weichen Grund krallte, und sich wieder die Böschung hinauf mühte. Dann wiederholte sie das Spiel, und war darauf bedacht mit möglichst großem Spritzen ins Wasser zu rauschen.
Antarona schien die Art des Vergnügens genauso zu gefallen. Sie schloss sich ihrer Dienerin an, erklomm ebenfalls die inzwischen nasse Böschung, und ließ sich wie auf einer Wasserrutsche ins Wasser katapultieren. Schließlich reihten sich auf Frethnal und Sebastian in das spritzige Vergnügen ein.
Als ihnen die Wasserbahn zu langweilig wurde, begannen sie eine Runde nach der anderen das Pfeilspiel. Es wurde ein richtiges Turnier, jeder gegen jeden, im Ausscheidungs- System. Gegen Mittag konnte Antarona die häufigsten Gewinne für sich verzeichnen. Ihre Gabe, lange zu tauchen, erwies sich zweifellos als Vorteil.
Vesgarina schnitt auch nicht schlecht ab, und lag mit ihren Siegen noch weit vor Sebastian und Frethnal, der das schlechteste Ergebnis aufwies. In der übermütigen Ausgelassenheit entspann sich in Antaronas Phantasie ein makaberer Scherz.
Mitten in einem Spiel hielt sie plötzlich zwei Schilfhalme in der Hand, und winkte Sebastian auffordernd damit zu. Er begriff sofort, worauf sie hinaus wollte. Vesgarina und Frethnal hingegen wussten nichts damit anzufangen, und hegten keinerlei Verdacht.
Das blonde, stumme Mädchen hatte gerade eine Ladung imaginärer Pfeile auf Antarona abgeschossen, und mit Genugtuung registriert, dass ihre Herrin unter dem Hagel der Steinchen abgetaucht war. In ihrer zweiten Hand warteten noch weitere Geschosse darauf, dass sie wieder auftauchte. Ruhig konzentrierte sie sich auf die Stelle, wo sie das Krähenmädchen im Wasser verschwinden sah, und wartete.
Sebastian lieferte sich inzwischen ein Gefecht mit Frethnal, der allmählich die kleinen Tricks zu begreifen schien. Nebenbei hatte Sebastian mitbekommen, dass Antarona verschwunden war, und beobachtete nun Vesgarina, wie die darauf reagieren würde. Dabei vernachlässigte er seine Konzentration, und empfing schmerzhaft Frethnals nächste Pfeilattacke. Viel zu spät tauchte er weg.
Als er wieder hochkam, um auf seinen Diener zu zielen, war dieser gerade unter der Wasserfläche verschwunden. Vesgarina nahm ihn gar nicht wahr. Sie wartete noch immer auf Antaronas Auftauchen. Sie warteten nun beide, wobei Basti das blonde Mädchen heimlich beobachtete.
Sie wurde unruhiger, drehte sich im Wasser um sich selbst, sah ziemlich ratlos aus, und wurde immer nervöser. Antarona war nun schon ein par Minuten unter Wasser. Doch weder eine Welle, noch ein Bläschen verriet ihre Existenz. Für Vesgarina musste es inzwischen so aussehen, als hätte der Teich ihre Freundin für immer verschluckt.
Gerade tauchte Frethnal auf, und warf seine Steinchen noch bevor er ganz aus dem Wasser heraus war. Er hatte sich den Standort seines Gegners eingeprägt, und da sich Basti durch die Aufmerksamkeit auf Vesgarina nicht bewegt hatte, landete Frethnal einen vollen Treffer. Aus dem Handgelenk erwiderte Sebastian die Attacke und erwischte Frethnal mit ein oder zwei Steinchen, bevor er abtauchte.
Sebastian hielt Frethnals Volltreffer für eine gute Gelegenheit, Antaronas Posse nun zu unterstützen. Mit Händen und Füßen berührte er beinahe den Grund, als er zum Schilfgürtel hinüber schwamm. Er bewegte sich ruhig, versuchte keine Welle und keine verräterischen Blasen zu verursachen.
Die ersten stabilen Schilfhalme, die er greifen konnte, brach er vorsichtig ab, steckte sie sich in den Mund, blies sie kräftig aus, und hoffte, dass weder Frethnal, noch Vesgarina die kleine Fontaine Sprühwassers wahrnahm.
Behutsam drehte er sich auf den Rücken, und atmete durch die Halme ein und aus. Es klappte vorzüglich. Natürlich durfte er die Halme nicht heftig bewegen, sonst hätte er rasch seinen Standort verraten.
Dennoch versuchte er noch weiter in den Schilfgürtel vorzudringen, um bessere Deckung zu haben. Aber schnell berührte sein Rücken den schlammigen Boden im seichten Wasser. Er war auf Grund gelaufen, wie ein schwerfälliges, altes Segelschiff. So hielt er diese Position bei, und bewegte sich nicht mehr.
Unterdessen hatte Antarona eine bequeme Stellung am Rande des Bewuchses im Wasser eingenommen und wartete. Sie vermochte im nicht ganz klaren Wasser kaum drei Meter weit sehen, doch sie schärfte ihre Sinne und hörte, dass die heftigen Bewegungen im Wasser aufgehört hatten. Diese Tatsache erzählte ihr, dass nun mittlerweile auch Basti dauerhaft abgetaucht war.
Frethnal und Vesgarina standen nun allein bis zur Brusthöhe im Wasser und sahen sich besorgt um. Ein unbeteiligter Beobachter mochte vermuten, dass sie darauf warteten, dass ihnen ein Fisch ins Netz ging, dass sie unter Wasser bereithielten.
Doch für die beiden war die Situation ernsthafter. Das Mädchen bedeutete ihrem Freund in Zeichensprache, dass sie schon eine längere Weile, jedoch mindestens sechzehn mal Tauchen, auf Antaronas Auftauchen wartete. Ihre besorgten Mienen verwandelten sich mit jeder weiteren Sekunde in angstvolle Gesichter.
»Da ist etwas Schreckliches geschehen, die müssten längst wieder aufgetaucht sein«, rief Frethnal schließlich mit überschlagender Stimme dem stummen Mädchen zu. Vesgarina, unschlüssig was sie tun sollte, machte eine langsame Bewegung mit der Handkante an ihrem Hals vorbei, und hob fragend die Schultern. Ihr Gesicht drückte nun blankes Entsetzen aus. Frethnal geriet indes schnell in Panik.
»Los, mach, dass du aus dem Wasser raus kommst«, forderte er seine Geliebte hektisch auf, »irgendetwas ist in dem Teich irgendetwas hat sie umgebracht, irgendein Vieh, eine Bestie, los, Garina, raus aus dem Wasser!«
Er selbst ließ keine Sekunde verstreichen, watete hastig mit mächtiger Bugwelle vor seinem Bauch dem Ufer zu. Vesgarina aber zögerte. Sie fühlte sich ihrer Freundin und ihrem künftigen König zu sehr verpflichtet, als einfach den Rückzug anzutreten, ohne den Versuch, deren Schicksal ergründet zu haben.
Sie begann, den See abzusuchen, indem sie, soweit sie stehen konnte, in großen Kreisen herumzuwandern, mit dem Kopf unter Wasser zu tauchen, in der Hoffnung, irgendeinen Hinweis auf die Verschwundenen zu entdecken.
»Was tust du denn da?« brüllte Frethnal völlig außer sich vor Angst von der hohen Böschung herab, die er gerade erreicht hatte.
»Sei doch nicht so verrückt, komm aus dem Wasser raus! Die waren viel zu lange unten, die sind ertrunken, du kannst nichts mehr für sie tun! Komm jetzt, sonst erwischt es dich auch noch, hörst du? Ich will dich nicht verlieren, Garina, bitte, komm her, mach schnell!«
Wie ein durchgedrehter Hofnarr tanzte Frethnal auf der Uferböschung hin und her, hoffte, seine Liebste auf diese Weise zum verlassen des verfluchten Wassers bewegen zu können.
Doch Vesgarina blieb unbeeindruckt. Ihr Pflichtgefühl den Freunden gegenüber überwand die große Angst. Sie suchte weiter im See herum und ließ sich nicht beirren. Zu Frethnal hinüber machte sie eine entschlossene, eindeutige Handbewegung, ihr bei der Suche zu helfen.
Sie wiederholte das Zeichen ihrer Aufforderung zum Schluss so energisch, dass Frethnal sich zögernd wieder zum Ufer begab, dort aber ängstlich stehen blieb. Noch einmal ermahnte sie ihn mit bösem Blick und ungeduldigem Winken, ihr zu helfen, und unterstrich ihre Forderung mit einem zornigen Schlag ihrer flachen Hand auf die Wasserfläche.
Antarona und Sebastian lagen noch immer auf dem Grund und warteten. Den Schlag Vesgarinas auf das Wasser konnten sie deutlich hören. Doch sie rührten sich nicht. Sollten die beiden ruhig einmal mit einer Situation konfrontiert werden, die ihnen deutlich machte, welcher gefahren sie auf einer solchen Reise ausgesetzt werden konnten.
Langsam und vorsichtig begab sich Frethnal wieder ins Wasser, stakste herum, wie ein Storch, der über glühende Kohlen ging, und wagte kaum sich zu bewegen. Vesgarina hingegen tauchte immer wieder ihren Oberkörper unter Wasser, und ruderte mit den Armen so tief wie möglich darin herum, hoffte irgendetwas zu ertasten.
Bald wurde ihr die Sinnlosigkeit ihres Tun bewusst. Sie sah sich um, und der Schilfgürtel fiel ihr ins Auge. Sogleich bedeutete sie dem ängstlichen Freund, der inzwischen gegen sein Widerstreben fast bis zur Teichmitte vorgedrungen war, ihr zu folgen.
Zielstrebig schwamm sie auf den Uferbewuchs zu, wollte sich mit zwei kräftigen Halmen bewaffnen, und damit nach den Freunden stochern. Antarona sah aufwühlenden Schlamm und Blasen auf sich zukommen, verhielt sich aber still.
Endlich erkannte sie Vesgarinas Beine. Die Füße des Mädchens gruben sich kräftig in den Grund, und sie kam schnell näher. geistesgegenwärtig griff das Krähenmädchen nach drei weiteren Schilfhalmen, und wartete. Als die Wenderin bis auf Reichweite herangekommen war, packten Antaronas Hände ihre Fußgelenke, und riss sie von den Beinen.
Frethnal, der seiner geliebten zögernd gefolgt war, sah mit Entsetzen, wie sie plötzlich unter Wasser gezogen wurde. Das stumme Mädchen ruderte panisch mit den Armen, wehrte sich verzweifelt, Wasser spritzte auf, Wellen wirbelten umher, und sie blickte ihn mit weit aufgerissenen Augen an. Im nächsten Augenblick war sie verschwunden.
Stocksteif, zitternd und gelähmt vor Angst starrte er auf die Stelle, wo seine Freundin untergetaucht war. Irgendein Ungeheuer hatte sie, wie die anderen beiden Freunde, in die Tiefe gerissen! Dass der Teich an dieser Stelle gar nicht sehr tief sein konnte, daran dachte er in seiner Aufregung gar nicht.
Fassungslos blickte er auf ein par Blasen, die zum Abschied aufstiegen, und hielt den aufgewirbelten Schlamm, der das Wasser verfärbte, sogar für Blut. Unfähig zu irgendeiner Handlung, völlig bar jeden rationellen Denkens stierte er wie geistesabwesend auf die Wasseroberfläche, und bemerkte gar nicht, wie am Rande des Schilfgürtels vier abgebrochene Schilfhalme wie von Geisterhand aus dem Wasser wuchsen, kleine Sprühwölkchen ausstießen, und leicht gegen den Wind wankten. Sie gingen optisch in der menge des Schilfs unter.
Dass unter Wasser tatsächlich ein verzweifelter, heftiger Ringkampf stattgefunden hatte, ahnte er nicht. Antarona hatte Vesgarina gepackt, ihre Arme um die Taille des Mädchens geschlungen und sie auf den schlammigen Grund gedrückt. Aber sie hatte nicht damit gerechnet, dass ihre Dienerin sich mit ungeahnter Kraft, mit Kratzen, Beißen und ernst zu nehmenden Tritten zu wehren wusste.
Die Mädchen kämpften lautlos und verbissen, wirbelten Wasser und Dreck auf, was für Frethnal nur um so dramatischer aussah. Antarona, die länger die Luft anhalten konnte, gewann rasch die Oberhand, hielt der Wenderin die Hand auf den Mund, und berührte sie in der weise, wie sie es getan hatte, als die beiden Mädchen die Männer am See in der ebene provozierten.
In diesem Moment erkannte Vesgarina ihre Herrin, und begriff sehr schnell, dass sie sich fügen sollte. Zwei Sekunden später steckte Antarona dem stummen Mädchen zwei Schilfhalme in den Mund, und hielt sie weiter unter Wasser gedrückt. Sie bekamen Blickkontakt und Vesgarina vertraute ihrer Herrin, ohne sofort zu wissen, dass sie nun Teil eines makabren, filmreifen Schauspiels geworden war.
Frethnal jedenfalls hatten die Freunde einen gewaltigen Schreck versetzt. Und der stand nun bis zum Bauch im Wasser und wagte sich zunächst nicht zu rühren. Was auch immer auf dem Grund des Teiches lauern mochte, es hatte seine Freunde auf dem Gewissen, und wartete nur darauf, auch ihn in das Reich der Toten zu holen!
Doch dann wurde in ihm etwas geweckt, das man mit tief empfundener Liebe, und verzweifelter Wut gleichermaßen bezeichnen konnte. Sein Verstand sagte ihm, dass die Freunde tot waren, doch sein Herz weigerte sich zu glauben, dass er seine große Liebe verloren haben sollte.
Plötzlich, aus dem Stand stürmte er vorwärts, auf die Stelle zu, wo Vesgarina in verzweifeltem Todeskampf unter Wasser gezogen wurde. Er brüllte wie ein wild gewordener Stier, wühlte im Wasser herum, als wollte er den ganzen Teich nach oben krempeln.
Antarona, Vesgarina und Sebastian hörten seinen emotionalen Ausbruch. Antarona aber, die mit Vesgarina dem Tobenden am nächsten war, befürchtete, dass er sie schier zertrampeln würde, sollte er ihnen noch näher kommen. Sie fand es außerdem genug des groben Spaßes, und wollte es beenden, bevor wirklich noch etwas ernstes geschah. Sie fasste Vesgarina am Handgelenk, und drückte dreimal kräftig zu. Ein eindeutiges Zeichen.
Frethnal drehte, stampfte und pflügte wie ein urzeitlicher Lindwurm durch das Wasser, schlug wie irr auf die Wasserfläche, quirlte mit den Armen herum und schrie, dass die Bäume erzitterten:
»Verfluchter Teich, gib das Ungeheuer frei, so dass ich ihm den Halse umdrehen kann! Mit den bloßen Händen will ich dich vernichten! Los zeig dich, komm heraus, hole auch mich! Aber ich werde dich mit in den Tod reißen, wie du mir das Liebste unter dem Throne der Götter geraubt hast! Komm schon, hier stehe ich, hier warte ich, hast wohl Angst?«
Mit einem Mal fuhren an drei verschiedenen Stellen des Teiches drei gestalten aus dem Wasser auf. Es spritzte und wirbelte, und Frethnal fiel vor Schreck rücklings hin, tauchte kurz unter. Doch sein Zorn war so gewaltig und tief, dass er wie von einer mächtigen Feder geschnellt wieder empor sprang.
Schon wollte er auf die aufgetauchten Wesen losstürmen, als er Vesgarina erkannte, die triefend vor ihm stand. Abrupt hielt er inne, als wäre er gegen eine unsichtbare Wand gelaufen, und starrte sie an. Offenbar war ihm nicht ganz klar, ob er einen Geist, oder seine Geliebte in Fleisch und Blut vor sich hatte.
»Frethnal, schaut nicht so, wollt ihr eure Geliebte nicht in die Arme nehmen? Freut euch, dass ihr nichts böses widerfahren ist!« rief Antarona ihm zu, und begann zu lachen.
Sebastian hatte mehr Mitleid mit dem geschockten Freund und Diener. Er hob die Schilfhalme zum Zeichen, dass er getrost glauben konnte, was er sah. Und Vesgarina, die zuvor den gleichen Schrecken erfahren hatte, watete mit offenen Armen auf ihn zu.
Ein par Sekunden noch blieb der völlig überraschte Diener im Teich stehen, dann hieb er mit der flachen Hand auf die Wasserfläche und stürmte, ohne ein Wort zu sagen, die Böschung hinauf, und verschwand im Dickicht.
»Au, au, ob der jetzt wohl beleidigt ist?« Sebastian ließ die Frage im Raum, halb im Spaß, halb mit Sorge gefüllt, dass sie es sich möglicherweise mit ihm verscherzt hatten. Vesgarina blickte ihre Freunde ernüchtert und etwas vorwurfsvoll an, und wollte hinter ihrem Liebsten herstürmen. Doch Sebastian hielt sie am Arm zurück.
»Lasst ihn einen Moment nachdenken«, empfahl er ihr, »Antarona hat mit mir dieselbe Posse getrieben, und ich habe zuerst ebenso empfunden wie er. Der Schrei, den ihr gehört habt, erinnert ihr euch? Morgen wird auch Frethnal darüber lachen, glaubt mir!«
Antarona ging zu ihrer Freundin hinüber, hakte sie ein und führte sie tröstend die Böschung hinauf. Basti aber betrachtete den Spaß nun auch etwas nüchterner. Jeder reagierte eben anders, und seinem Diener musste die Todesangst in die Hosen gefahren sein, so wie ihm selbst, als er glaubte Antarona wäre ertrunken.
Möglicherweise hatten sie den Bogen in ihrem Übermut etwas überspannt. Andererseits wunderte es ihn, dass sich jemand wie Frethnal, der bereits in Torbuks Gefangenschaft gewesen war, derart verängstigen ließ. Vielleicht gerade deshalb?
Er hatte mit seinen Eltern schon einmal geliebte Menschen verloren. Wenn er dies emotional nie verarbeitet hatte, so erklärte sich seine Reaktion. Doch für die bevorstehenden Abenteuer, auch hinsichtlich der Bedrohung durch Torbuk und Karek, sollte er sich rasch an persönliche Verluste gewöhnen!
Doch bereits indem Sebastian dies dachte, wurde ihm bewusst, dass er selbst noch gar nicht dazu bereit war, dass wahrscheinlich niemals jemand für so etwas bereit war. Ein langer, grausamer Krieg stand bevor. Jeder Krieger, jeder Bauer, jeder Fischer, fürchteten um ihre Familie, oder ihre Geliebte, und jede Mutter bangte um das Leben ihres Mannes, ihrer Söhne und Töchter.
Basti wusste, dass selbst Antarona sich große Sorgen um ihren Vater machte, der auf seinem Hof nahe Fallwasser jederzeit Opfer eines Spähtrupps Torbuks werden konnte. Gerade ein Mitglied des Achterrats musste besonders im Fokus des Feindes stehen, und war vor allen anderen gefährdet.
Im Geiste malte Sebastian sich die Szenerie aus, Antarona würde von Karek gefangengenommen und zu Tode gefoltert. Etwas ähnliches hatte er einmal geträumt. Es war fürchterlich, so unerträglich, dass es tief in ihm ohnmächtigen Schmerzen bereitete! Nur darüber nachzudenken trieb ihm bereits die Tränen in die Augen.
Es war nur natürlich, dass Frethnal die Angst um Vesgarina durch Mark und Bein ging! Und auf einem Mal wusste Sebastian, was sein Diener durchgemacht hatte. Antarona in ihrer jugendlichen Ausgelassenheit, und als kampferprobte Kriegerin, mochte mit den Grausamkeiten ihrer Zeit vertraut sein, und sie als zum leben dazugehörig betrachten.
Doch Basti erinnerte sich daran, wie sie selbst gelitten hatte, als sie den geschändeten, halb verkohlten Körper ihrer Freundin gefunden hatten. Nein, auch an der Kriegerin vom Val Mentiér ging so etwas nicht emotionslos vorüber. Sie hatten mit dem perfiden Spiel ihren Übermut einfach über die Maßen übertrieben!
Als Sebastian ins Lager kam, fand er Vesgarina Tränen überströmt, und Antarona ihre Dienerin mütterlich tröstend vor. Fragend sah er seine Frau an. Sie schüttelte verständnislos den Kopf:
»Frethnal hat all seine Sachen genommen, und ist fort«, erklärte sie leise. Sebastian schlug sich die flache Hand gegen die Stirn.
»Na, das hätte ich mir ja denken können. Der ist aber auch wirklich schnell beleidigt!« Versöhnlich hockte er sich zu den beiden Frauen, legte Vesgarina verständnisvoll die Hand auf den Arm und versprach:
»Macht euch mal keine Sorgen. Ich werde ihn suchen, und zu euch zurückbringen! Weit kann er ja noch nicht gekommen sein, nicht wahr?« Er lächelte sie aufmunternd an, und das stumme Mädchen quittierte seinen Zuspruch mit einem zaghaften Lächeln.
Basti nahm sich sein Schwert, Pfeil und Bogen, und ging in jene Richtung aus dem Lager, in welche sein Diener nach Aussage Antaronas verschwunden war. Frethnals Fährte zu finden war nicht schwer. Offenbar war seine Gefühlswelt so sehr aufgewühlt, dass er nicht darauf achtete, wie er sich bewegte.
Hier fand Sebastian einen abgeknickten Zweig, an anderer Stelle war sein Diener in eine Pfütze getreten, wieder ein anderes Mal hatte er im dichten Gestrüpp das Gelege eines Vogels übersehen, der auf dem Boden brütete.
Bald zeichnete sich die Route ab, der Frethnal folgte. Beharrlich hielt er die Richtung bei, die zur Ebene zurück führte. Nun war es für Sebastian ein Leichtes, ihn einzuholen, denn er brauchte ja nicht mehr seine Spuren zu suchen.
Noch im Wald, keine Stunde vom Lager entfernt, fand Basti seinen Diener auf einem umgestürzten Baum sitzend, sich den rechten Fuß massierend. Offensichtlich hatte er sich den Knöchel verstaucht, oder war mit dem Fuß gegen eine Wurzel gestoßen.
Sebastian gab sich nicht sofort zu erkennen, wartete, und beobachtete. Frethnal befühlte noch eine Weile seinen Fuß, dann ließ er sein Gesicht in beide Hände sinken, als wollte er seinen Blick vor allen Dingen der Welt verschließen.
Da er ihn nicht überraschen, ihm aber auch nicht das Gefühl geben wollte, ausspioniert zu werden, brach Sebastian einen kräftigen Ast entzwei, um sich anzukündigen. Der Kammerdiener machte keinerlei Anstalten, sich zu verbergen. Also trat Basti offen aus seiner Deckung, und setzte sich wortlos neben ihn.
»So sagt es schon, Herr, ihr haltet mich für einen beleidigten Narr, unfähig, einen Spaß zu ertragen, nicht wahr?« begann er mit niedergeschlagenem Blick zu reden. Er schien von seinem eigenen Verhalten peinlich berührt, und Sebastian wurde rasch klar, dass er niemals wirklich vorgehabt hatte, die Gruppe zu verlassen.
»Nein, Frethnal, ich halte euch nicht für einen unfähigen Narr«, beruhigte er seinen Diener, »und ihr habt ganz recht, wenn ihr meint, dass diese Art des Scherzes unangebracht war.« Frethnal blickte wie um Entschuldigung bettelnd auf, und sagte:
»Es war ja nur, weil... Versteht ihr, Herr, das ausgerechnet sie mir das antun musste, mir einen solchen Schreck ins Herz zu jagen, ausgerechnet Garina!« Vor lauter Ungläubigkeit hob er die Hände an seine Brust. Sebastian legte ihm freundschaftlich eine Hand auf die Schulter.
»Verurteilt sie nicht, Frethnal, es war Antaronas Einfall. Sie hat mit mir dieselbe Posse getrieben, und ich war fast gestorben vor Angst. Ihr habt meinen Schrei ja gehört, welcher euch ja erst zum Teich geführt hatte. Glaubt mir, mein Freund, ich weiß genau, was ihr fühltet, und ihr müsst euch dessen nicht schämen. Im Gegenteil!« Sebastian unterbrach seine Worte, um die Reaktion seines Dieners zu ergründen, fuhr dann aber sogleich fort:
»Wenn ihr nämlich keine Regung eures Herzens gezeigt hättet, dann wäre ich von euch enttäuscht gewesen! Und ihr dürft versichert sein, dass Vesgarina ebenso denkt. Nun lasst euch noch dieses sagen, die Wenderin liebt euch so sehr, dass sie sich in diesem Augenblick in Antaronas Arme flüchtet, und sich die Augen aus dem Kopfe weint, weil sie es bedauert, dass sie euch einen solch üblen Streich gespielt hat!« Frethnal hob zweifelnd das Haupt.
»Ihr meint, sie sieht mich nicht wie einen lächerlichen, ängstlichen Wasel, der sich bei Gefahr sogleich in seinen Bau verkriecht?« Lachend erwiderte Basti:
»Aber was dünkt ihr, Frethnal! Das stumme Mädchen liebt euch! Ihr seid sein Held! Ihr seid wie ein wild gewordener Robrum auf das vermeintliche Untier im Wasser losgegangen, um eure Geliebte zu retten, um sie aus den nassen Fängen zu befreien! Dafür habt ihr nicht nur Antaronas und meine Achtung. Das weiß auch Vesgarina und das Mädchen liebt euch dafür noch um so mehr!«
»Doch ich hatte lange gezögert, Herr, viel zu lange!« warf der immer noch beschämte Diener ein. Sebastian musste all seine Kunst zu reden anwenden, um Frethnals innere Sicherheit wieder aufzubauen.
»Frethnal, mir ist kaum mit einem Kammerdiener und Freund gedient, der sich unbedacht und ohne Achtung vor jeglicher Gefahr in einen aussichtslosen Kampf stürzt. Und wären wir tatsächlich von einem Ungeheuer getötet worden, so wäre es mehr als töricht von euch gewesen, euch ebenfalls sinnlos zu opfern. Bei allem Zögern habt ihr doch letztlich bewiesen, dass es euch an Mut nicht fehlt, einem unbekannten, grausamen Feind gegenüberzutreten. Ihr seid kein Angstwasel, und das reicht uns! Auch ein Krieger mag erst lernen, ein Kämpfer zu sein!«
»Glaubt ihr, dass es so ist, Herr?« fragte Frethnal vorsichtig. Sebastian sah ihn mit festem Lächeln an und versicherte:
»Frethnal, ich weiß, dass es so ist! Und ich brauche euch so, wie ihr seid! Mag ich einen groben Klotz um mich haben, der gleich mit dem Schwerte drein schlägt, so kann ich mich ganzer Kohorten bedienen. Und einen Klotz, dessen seid versichert, mag auch Vesgarina nicht zum Manne nehmen!« Sebastian schlug seinem Diener aufmunternd auf die Schulter, stand abrupt auf und bestimmte:
»Und nun spannt euren Bogen. Wir wollen doch nicht ohne Beute ins Lager zurückkehren, nicht wahr? Sonst denken unsere Mädels noch, wir hätten uns lediglich gegenseitig bedauert, anstelle für frisches Fleisch zu sorgen, deretwegen ihr ja nur das Lager verlassen habt. So ist es doch, Frethnal?« Ein leichtes, verschmitztes Lächeln huschte über des Dieners Gesicht, und Basti lobte:
»So gefallt ihr mir! Vesgarina soll staunen, welch tüchtigen Jäger sie in ihr Herz geschlossen hat! Also los, enttäuschen wir sie nicht!« Damit schlug Sebastian die Richtung zur nächsten Lichtung ein.
Es war zwar noch nicht die Zentare, in welcher die Dämmerung heraufzog, doch die Einsamkeit der Gegend veranlasste ihn zu der Hoffnung, dennoch Wild aufzuspüren. War wenig Raubzeug unterwegs, so ließen sich ab und an Antilopen, oder andere Paarhufer an den Waldrändern blicken, um die guten Kräuter abzuweiden.
An der engsten, unübersichtlichsten Stelle zwischen Wald und Graslichtung legten sich die beiden Jäger auf die Lauer. Die Jagd war stets ein Geduldsspiel. Selbst, wenn Wild auf der Lichtung erschien, garantierte das noch lange keinen Erfolg auf Beute. Das richtige Tier musste es sein, nicht zu alt, nicht zu jung, kein rauschiger Bock, auch kein trächtiges Muttertier.
Und dann mussten die Tiere günstig vor dem Winde stehen. Traten sie in jenem Wind auf die Waldoase, der die ihnen die Witterung der Jäger zutrug, so waren sie schnell wieder verschwunden. Es lag also in der Fähigkeit und Gewandtheit der Jäger, dies zu erkennen, und so leise und unbemerkt ihren Standort zu wechseln, dass ihre Beute neutrale Witterung bekam.
Einige der jagdbaren Arten hörten im wahrsten Sinne des Wortes das Gras wachsen. Ein unterdrücktes Niesen, ja bereits ein schweres Atmen konnte einen Jäger verraten, und das Wild war auf nimmer Wiedersehen auf und davon.
Regungslos lagen Sebastian und Frethnal im Dickicht des Waldrandes und warteten. Die Sonne brannte ihnen gnadenlos auf den Rücken, doch sie wagten nicht, sich zu rühren. Wild, das beabsichtigte aus dem Schutz des Waldes zu treten, verharrte zunächst in Deckung. Empfand es nur einen Laut, oder eine leise Regung als störend, so würde es die Lichtung meiden.
Sicherlich gab es die Möglichkeit, mit gespanntem Bogen durch den dichten Wald zu pirschen, um das Wild dort aufzuspüren. Doch die besonnene Auswahl eines geeigneten Tieres war dann kaum möglich. In der Regel endete eine solche Pirsch mit einer aufregenden Hatz, die sich unvorteilhaft auf das Fleisch des Tieres auswirkte. Ein im Stress erlegtes Wild lieferte weniger gutes Fleisch.
So forderte die Jagd von ihren Jägern Geduld und Durchhaltevermögen. Sebastian hatte seine Hände gefaltet, und sein Kinn drauf gelagert. So döste er vor sich hin, den Blick aber stets über die Wiesenfläche zwischen den Bäumen hin und her schweifend. Frethnal hatte eine Kiefernnadel zwischen Daumen und Zeigefinder genommen, und ärgerte zum Zeitvertreib ein par Ameisen, die auf dem Waldboden auf Nahrungssuche waren.
Etwa eine Stunde harrten sie in dieser Stellung aus, als ein einzelner Jungbock, vorsichtig nach allen Seiten witternd, auf die Lichtung trat. Wie zu Stein erstarrt blieb er am Waldrand stehen. Sebastian kannte das schon. Das Tier würde so lange dort wie angewurzelt stehen bleiben, bis es davon überzeugt war, dass kein feind in der Nähe lauerte.
Auch Frethnal war der scheue Besucher nicht entgangen. Nervös nestelte er an seinem Bogen herum. Ganz ruhig legte ihm Basti eine Hand auf den Arm, und schüttelte langsam, aber unmissverständlich den Kopf. Wenn sie jetzt etwas überstürzten, war die ganze Mühe umsonst.
Ganz offensichtlich war der Bock nur die Vorhut einer Herde, die einen sicheren Weideplatz suchte. Die Minuten zogen sich dahin. Endlos. Doch dann, endlich, senkte das Tier sein Haupt und begann die saftigen Kräuter zu fressen. Dabei wagte es sich immer weiter in die Lichtung hinaus. Nur Momente später wagte sich der Rest der Herde aus dem schützenden Wald. Erst die älteren Tiere, dann die Muttertiere mit ihrem Nachwuchs.
Sebastian wollte die Herde bis auf zwanzig Meter an ihr Versteck heranlassen. In der Zwischenzeit konnte er in Ruhe ein geeignetes Tier auswählen. Er machte Frethnal ein deutliches Zeichen, zu warten. Das Schwierigste daran war, dafür zu sorgen, dass ihre Gelenke weiter durchblutet wurden, ohne, dass sie die Tiere aufschreckten.
Mit steifen und eingeschlafenen Gliedern ließ sich auch der beste Bogen nicht ruhig spannen. Langsam bewegte Sebastian den Arm am Körper auf und ab, ebenso spielte er mit den Fingern. Pfeil und Bogen lagen bereit vor ihm. Frethnal bemühte sich, es ihm nach zu tun.
Je länger die Herde graste, desto argloser wurde sie. Möglicherweise verließ sie sich auch auf die Vögel des Waldes, die ihr mit ihrer Stimmung sofort einen Feind ankündigen würden. Immer näher zogen die Tiere dem Versteck der Jäger zu. Noch verdeckte eine Ricke mit ihrem Kitz die freie Schussbahn auf einen einjährigen Bock, den Sebastian sich ausgesucht hatte.
Zwischen Daumen und Zeigefinger ließ er die leichten, wollenen Samen eines Busches rieseln, um den Wind abzuschätzen. So gut wie nicht Wahrnehmbar kam ein leichter Luftzug von vorn rechts, der den Pfeil kaum ablenken würde. Wenn nur die Ricke mit ihrem Kitz...
Basti hatte seinen Gedanken noch nicht beendet, als ein älterer Bock aufmerksam sein Haupt hob, und die Ohren forschend in den Wind stellte. Was störte ihn? Ein Blick zu Frethnal versicherte ihm, dass dieser nicht die Ursache für die plötzliche Aufmerksamkeit war. Sein Diener traktierte immer noch die Ameisen mit der Nadel einer Bergkiefer.
Mittlerweile waren auch die anderen Tiere misstrauisch geworden, hörten auf, das Gras zu rupfen, und standen regungslos da. Hatte der Wind gedreht und sie verraten? Hatten die Tiere am Ende doch das Atmen der lauernden Jäger gehört? Doch dazu stand der Wind für die Herde zu ungünstig.
Noch bevor Basti die plötzliche Unruhe ergründen konnte, stieß eines der Tiere unvermittelt einen pfeifenden Laut aus, und zwei Sekunden später war die ganze Bande weg. In panischer Flucht stoben die Tiere an ihm und Frethnal vorbei, in den Wald. Kurz hörten sie noch das Knacken von Zweigen, dann herrschte eine unnatürliche Stille. Die beiden Jäger sahen sich verwundert an.
»Also, was immer die vertrieben hat, kommt definitiv von der anderen Seite des Waldes«, stellte Sebastian fest. Er prüfte nochmals die Windrichtung und meinte dann:
»Uns können die weder gewittert, noch gehört haben, das steht fest! Irgendetwas anderes muss sie aufgeschreckt haben.« Frethnal sah ihn fragend an, und wollte schon aufstehen. Basti aber hielt ihn fest, und drückte ihn zu Boden zurück.
»Wartet, Frethnal, wir wollen doch mal sehen, was uns das Wild davongejagt hat, nicht wahr? Man sollte immer wissen, wer sich in der Nähe herumtreibt, wenn man keine Überraschung erleben will!« Also übten sie sich wiederum in Geduld, und warteten.
Es vergingen etwa zehn Minuten, da hörten sie, dass etwas Großes durch das Unterholz brach. Es knackte, rauschte und Sebastian dachte schon an einen Raubsaurier. Nach Drachen, Yeti artigen Robrums und kleinen, brennenden Elfen hielt er so etwas nicht mehr für ausgeschlossen.
Doch es waren Pla-kas, die sich unvorsichtig ihren Weg durch den Urwald bahnten. Auf ihnen saßen finster dreinblickende Reiter in der üblichen Kleidung der Bauern. Fünf Männer auf Reittieren hielten auf der Lichtung, stiegen ab, und schickten sich an, Rast zu machen.
Allesamt waren sie bis an die Zähne bewaffnet. Sie trugen einheitlich Schwerter aus offensichtlich der gleichen Herstellung, ebenso die Schilde und Nagelkeulen, die sie mitführten. Die Schilde waren mit dunklem Stoff bespannt, so dass Sebastian ihre Wappen nicht erkennen konnte. Alles an diesen Gestalten erinnerte ihn jedoch an die schwarzen Reiter, an die wilden Horden Torbuks.
Die Männer waren zwar wie Bauern gekleidet, doch schon die Waffen passten nicht zu Männern, die solche einfachen Hosen, Hemden und Westen trugen. Manch einer des Landvolkes trug wohl ein Schwert, doch sicher keinen Schild! Außerdem konnte sich ein Bauer kaum einen Pla-ka leisten, der von der Statur her eher einem Tier glich, das weniger harte Arbeit, denn eher wendig und schnell war.
Sebastian war sicher, verkleidete Reiter des Feindes vor sich zu haben. Eindringlich ermahnte er Frethnal, ja kein Geräusch zu machen, das die Pla-ka beunruhigen konnte. Gegen fünf Reiter, die ihr Kriegshandwerk verstanden, hatte er mit Frethnal keine Chance.
Aber er wollte sie beobachten. Die frage war, woher sie kamen, und wohin sie wollten. Sie schienen von den weiten, flachen Stränden der Flussmündungen zu kommen. Der Richtung nach, die sie eingeschlagen hatten, war Falméra ihr Ziel. Doch was war ihre Aufgabe?
Entweder sie sollten die Himmelsburg und die Stadt mit ihrem Hafen auskundschaften, oder die Invasion hatte bereits begonnen, anders freilich, als Sebastian sich das vorgestellt hatte. War es möglich, permanent, in kurzen Abständen, kleine Kohorten an Land zu setzen, die sich von Land her durch die Wälder zur Stadt durchschlugen?
Dann gab es wiederum zwei taktische Varianten. Einmal mochte Torbuk auf diese Weise über Wochen, oder Monate eine große Armee in den undurchsichtigen Wäldern sammeln, um dann gegen Falméra vorzurücken. Andererseits konnten kleine Gruppen in die Stadt einsickern, sich eventuell in den Häusern der Oranuti verbergen, um am Tage des Angriffs, um die Infrastruktur zu sabotieren, oder die Stadt- und Hafenwachen auszuschalten.
Es konnten aber auch nur Spione sein, welche die Gepflogenheiten wie Wachwechsel, den Verkehr zur Burg, oder die Stärke der Heerlager auskundschaften wollten. Doch an die letzte Option mochte Basti nicht recht glauben. Wenn seine Theorie bezüglich der Absichten der Oranuti stimmte, so hatten diese eher die Möglichkeit, die notwendigen Informationen zu besorgen. Immerhin konnten sich die Oranuti frei im Land bewegen, ohne besonders aufzufallen.
Waren die Männer dieses Trupps etwa nur Boten? Spione, welche die Informationen zwischen Stadt und Küste transportierten? Aber warum dann eine kleine Kohorte? Ein einzelner Mann fiel weniger auf, und konnte sich auch besser verbergen! Basti schüttelte verständnislos den Kopf. Frethnal blickte ihn fragend an.
»Das sind jedenfalls keine Bauern, wie sie vorgeben wollen«, flüsterte er ihm zu. »Sehen wir, was sie tun, und wohin sie reiten!« Er ließ diesen Vorschlag wie einen Befehl klingen, und Frethnal nickte nur dazu.
Wenigstens einer der Reiter, davon war Basti überzeugt, trug einen Beutel, vollgestopft mit goldenen Quarts bei sich, wie jene Spione, die sie auf dem Plateau zur Strecke gebracht, und gefangen genommen hatten. Es reizte ihn natürlich, die Bande anzugreifen, und sich des Goldes zu bemächtigen.
Das allerdings nicht, um des Goldes wegen, denn er kannte ja das Geheimnis der Hallen von Talris. Doch die goldenen Quarts würden die gleiche Herkunft der Männer beweisen. Eine Tatsache, die dann auch Bental nicht mehr ignorieren konnte.
Die Reiter nahmen die Decken und leichten Sättel von den Tieren, und pflockten sie auf der Wiese an, um sie grasen zu lassen. Sie selbst entledigten sich ihrer Waffen und Oberbekleidung, und flezten sich ins Gras, um ihren Proviant zu verzehren.
Sie stellten keine Wachen auf, und bewegten sich auch sonst ziemlich unbekümmert. Offenbar fühlten sie sich in den Wäldern unbeobachtet und sehr sicher. Sie lachten, scherzten, und bissen gut gelaunt in kalte Wafankeulen. Die Bissen spülten sie mit Flüssigkeiten aus Kürbisflaschen hinunter. Sebastian mochte schwören, das der Inhalt Mestas war, denn mit zunehmendem Genuss gebärdeten sich die Reiter immer lauter und ausgelassener.
Aber sie machten kein Lagerfeuer, was Sebastian erzählte, dass sie an dieser Stelle nicht übernachten wollten. Anscheinend hatten sie vor, den Nachmittag abzuwarten, um sich dann am späten Abend, oder in der Nacht in die Stadt zu stehlen. Was sie mit den Pla-ka machten, war ihm nicht ganz klar, denn kamen sie mit den Reittieren in die Stadt, so mussten sie den Wachen unweigerlich auffallen.
Zwei Stunden lang lagen die beiden Freunde im Gebüsch verborgen, und beobachteten die Reiterschar. Sie aßen, tranken und rissen derbe Witze über Frauen, über Fischer und, wie Basti hören konnte, auch über Mehi-o-ratea. Und obwohl die Männer sich völlig sicher fühlten, vermochte er nichts aus ihren Gesprächen herauszuhören, was sicher darauf schließen ließ, dass sie Spione Torbuks waren.
Ab und zu sprachen sie respektlos von einem schwabbeligen Fettwanst, den sie zu treffen beabsichtigten, und von welchem sie weitere Anweisungen zu erwarten hatten. Doch es fiel kein Name, der Sebastian hätte verraten können, wem sie verpflichtet waren.
Irgendwann, nachdem sie genug in der Sonne gedöst, und der leiblichen Völlerei gefrönt hatten, regten sie sich umständlich zum Aufbruch. Mittlerweile stand die Sonne schon so tief, dass ihr Licht einen goldenen Schimmer bekam. Ziemlich angetrunken mühten sie sich mit den Pla-kas ab. Einer hatte sogar Schwierigkeiten, seinen leichten Sattel auf den Rücken seines Tieres zu bekommen. Seine Kameraden halfen ihm unter höhnischem Gelächter.
der Aufbruch der Reiter gestaltete sich recht chaotisch, denn die Reittiere schienen vor den trunkenen Reitern jeglichen Respekt zu verlieren. Sie drehten und wanden sich, so dass es die Männer nur unter Flüchen und harten Handgriffen schafften, ihre Tiere mit dem wenigen Gepäck zu beladen.
Einmal beobachtete Basti, dass sich etwas Kleines, Glänzendes von einem Reiter, oder seinem Tier löste, und zu Boden fiel. Der Mann bemerkte es nicht einmal. Die Reittiere gerieten ein ums andere Mal heftig durcheinander, ihre Zügel verhedderten sich, und forderten den Reitern konsequentes Eingreifen ab, das sie nach dem großzügigen Genuss von Mestas nur noch schwer aufbringen konnten.
In dem ganzen Chaos und Durcheinander gelang es ihnen dennoch irgendwie, ihre Pla-ka zu besteigen. In gemächlichem Gang trieben sie die Tiere auf der Seite in den Wald, wo Sebastian und Frethnal im Gebüsch lagen. Die Tiere hätten aber auf sie treten müssen, um entdeckt zu werden. Einige Meter entfernt verschwanden die Bauern, welche keine waren, zwischen den Bäumen.
Als sie außer Hörweite waren, sprang Sebastian auf, lief zu der Stelle, an der die fremden Männer gerastet hatten, und suchte den Boden ab. Dazu musste er auf allen Vieren herumkriechen, und das lange Gras mit den Händen durchforsten. Endlich fand er das Gesuchte, und war kaum erstaunt.
Als Frethnal dazu kam, hielt er eine grob geschmiedete Kette in der Hand, an der eine blank polierte Scheibe hing. Das große Amulett zeigte zwei gekreuzte Schwerter und einen Drachenreiter. Es war das gleiche Medaillon, welches er seinerzeit am Totenpfahl am Wegrand von Högi Balmers Alm nach Imflüh einem aufgehängten Skelett abgenommen hatte. Nun bestand kaum mehr ein Zweifel; die als Bauern getarnten Reiter waren Torbuks Krieger!
Frethnal streckte neugierig die Hand nach dem Fundstück aus. Geistesgegenwärtig gab Basti es ihm, und drehte sich nachdenklich zu der Stelle um, wo die Reiter im Wald verschwunden waren. Auf einem Mal fuhr ihm ein Schreck durch die Glieder!
Er riss Frethnal das Medaillon aus der Hand, und stieß ihn grob mit dem Handrücken in die Seite.
»Bei allen guten Göttern, Frethnal, die reiten genau auf unser Lager zu!« entfuhr es ihm. Er überlegte kurz, sah noch einmal dorthin, von wo die Männer gekommen waren, dann wieder zu dem niedergetrampelten Unterholz, wo sie in den Wald geritten waren. Entsetzt über die Vorstellung, die Reiter konnten Vesgarina und Antarona überraschen, klärte er seinen Diener auf:
»Wenn die ihre Richtung nicht ändern, stolpern die geradewegs in unser Lager! Unsere beiden Mädchen sind allein dort! Los, wir müssen sehen, dass wir hinterher kommen, bevor die Kerle unser Feuer riechen, oder sehen!«
Ohne zu zögern, und Frethnals Reaktion abzuwarten, steckte er das Amulett in die Tasche, nahm er seine Waffen auf, und rannte los. Beruhigt stellte er fest, dass ihm sein Diener dicht auf den Fersen folgte, als er in den Wald hineinlief.
Sebastian verlor keine Zeit. Er rannte, wo es ging, zwischen den Bäumen hindurch, sprang über Wurzeln, kleine Büsche und Rinnsale, und achtete kaum darauf, dass er sich an Dornen und Zweigen die Haut aufriss. In kurzen Abständen hielt er abrupt inne und lauschte. Nicht, dass sie noch die betrunkenen Reiter überholten, und den Feind plötzlich im Rücken hatten!
Doch von den Männern war weder etwas zu hören, noch zu sehen. Sebastian befürchtete schon, dass sie bereits in ihr Lager eingefallen waren, und die beiden Mädchen in ihre Gewalt gebracht hatten. Dieser Gedanke ließ Basti noch schneller werden, so dass Frethnal beinahe nicht mehr mitkam. Doch darauf konnte er keine Rücksicht nehmen.
Kurz vor ihrem Lagerplatz wurde er langsamer, pirschte schließlich nur noch vorwärts. Waren die Schurken bereits im Lager, so sollten sie ihn nicht auch noch überrumpeln. Noch durch diese Rinne, dann um den Felsen dort, da musste es sein, wo er Vesgarina und Antarona zurückgelassen hatte.
»Was tut ihr da, Ba - shtie, warum schleicht ihr euch an, als wolltet ihr Sonneherz und die Wenderin überfallen?« Die Stimme Antaronas durchschnitt die Stille, wie ein Peitschenhieb. Sie schien von irgendwo über ihm zu kommen, und er blickte erst erschrocken, dann erstaunt auf.
Antarona hockte, bis auf ihren Schurz nackt, oben auf einem Vorsprung des Felsens, so gut getarnt, dass er sie glatt übersehen hatte. In ihre langen Haare war Moos geflochten, so dass sie ihr Gesicht verdeckten und herabhingen, wie Pflanzen über eine Felskante, an denen Wasser abtropfte.
Ihr ganzer Körper war mit dunkelgrauem Lehm und Steinmoos beschmiert. Damit hob sie sich optisch nicht mehr vom Hintergrund des Felsens ab. Ihre Arme und Beine glichen an Farbe und Struktur jenen kräftigen Wurzeln, die oft aus abgebrochenen Felskanten hervortraten. Lediglich ihre Augen waren als weiß schimmernde, große Punkte zu erkennen.
Erst, als sie sich zu bewegen begann, ließ sich das Auge davon überzeugen, dass sie ein lebendes Wesen war. Wie eine fast unsichtbare Schlange glitt sie vom nassen Fels herab, und kam vor ihm auf die Füße.
»Was bei den Göttern tust du da?« fragte nun Basti seinerseits. »Wieso versteckst du dich, und wo ist Vesgarina?« Antarona klatschte in die Hände und rief scheinbar in den Wind:
»Garina, ihr könnt herauskommen, es sind Frethnal und Ba - shtie!« Sekunden später bewegte sich der Boden unter einem nahen Gebüsch, alte Blätter und Erdkrümel fielen nach allen Seiten, und das, was Sebastian für Erdreich gehalten hatte, erhob sich, wuchs in die Höhe, und entpuppte sich als das stumme, blonde Mädchen.
Als hätte die Erde sie neu geboren, war sie aus dem Humus gefahren, streifte nun Erde, Blätter, Moos, und andere Dinge von ihrem Körper ab, die normalerweise unbeachtet vom menschlichen Auge den Grund des Waldes bedeckten.
Erstaunt blickten er und Frethnal zwischen Vesgarina und Antarona hin und her. Antarona klärte ihn auf:
»Nachdem ihr das Lager verlassen hattet, rief Sonnenherz Tekla und Tonka. Die beiden Schwarzvögel berichteten ihr, dass Reiter sich dem Lager näherten. Da ihr aber Sonnenherz ohne Pla-ka verlassen hattet, war sie gewarnt, und so verbargen sich Sonnenherz und die Wenderin im Schoß ihrer Mutter Erde!«
Antarona wies dorthin, von wo aus Frethnal und Sebastian gekommen waren, und schwenkte ihren Arm in die entgegengesetzte Richtung.
»Es waren so viele Reiter, als Finger an einer Hand«, berichtete sie weiter, »seltsame Reiter, welche wie das Volk gekleidet waren, sich jedoch nicht in dieser Weise bewegten, und dort, zwischen den Bäumen verschwanden.« Sie zeigte nun wieder zur anderen Seite, und Sebastian fiel auf, das nicht einmal ein zerbrochener Zweig davon zeugte, dass sie selbst hier gelagert hatten.
»Dann kamt ihr, Ba - shtie«, fuhr sie fort. »Sonneherz hörte euch bereits, kurz nachdem die Reiter fort waren. Ihr habt euch bewegt, wie Robrums auf der Flucht!« fügte sie tadelnd hinzu.
»Wir hatten die Reiter verfolgt, weil wir befürchteten, dass sie euch überraschen könnten«, entschuldigte er sein unvorsichtiges Verhalten, »außerdem waren es keine Reiter des Volkes.« Antarona hatte das bereits vermutet, und blickte ihn interessiert an.
»Woraus schließt ihr das, Ba - shtie?« wollte sie wissen. Er fischte das gefundene Medaillon aus der Tasche und hielt es ihr hin. Seine Frau besah es sich von allen Seiten, und gab es ihm mit enttäuschter Miene zurück.
»Ba - shtie, Sonnenherz kennt dies bereits, es ist jener Schmuck, welchen Torbuks Krieger unter dem Waffenhemd tragen, und welchen ihr auf dem Weg zum Reich der Toten...« Sebastian unterbrach sie ungeduldig:
»Ja, es ist ein solcher Schmuck, doch habe ich diesen erst seit einer Zentare. Er war einem der Reiter zu Boden gefallen. Und diese Männer waren ganz sicher Krieger Torbuks, und obendrein hatten sie sich tüchtig am Mestas bedient. Da war es gut, dass ihr zwei euch versteckt, und unseren Lagerplatz unsichtbar gemacht habt.«
Noch einmal sah sich Basti um, und stellte fest, dass er wahrscheinlich selbst an diesem Ort vorübergelaufen wäre, hätte ihn Antarona nicht aufgehalten. Die Mädchen hatten die Ahnung ihrer Anwesenheit verschwinden lassen! Eine perfekte Täuschung! Und er überlegte schon, wie diese Taktik gegen Torbuks Truppen angewandt werden konnte.
»Wo hattet ihr die Reiter entdeckt, und was taten sie?« unterbrach Antaronas Frage seine Gedanken. Er berichtete, wie sie auf Wild lauerten und statt dessen Besuch von diesen Kerlen bekamen, die sie schließlich verfolgten.
»So sind sie allenfalls fremd auf Falméra«, stellte Antarona nachdenklich fest, »denn sie zogen nicht in einer Richtung, sondern änderten diese mehrmals, um den Weg zu finden. Und sie waren im Verborgenen unterwegs, da sie nicht jene Wege benutzten, auf welchen die Menschenwesen üblich unterwegs sind! So mögt ihr recht annehmen, dass es Spione Torbuks waren.« Sebastian nickte zustimmend.
»Und sie scheinen sich ziemlich sicher zu fühlen, abseits der Wege und Straßen, wenn sie bis zum Halse voll Mestas durch die Gegend reiten!« bestätigte er mit bitterem Unterton. Dann bekam seine Stimme einen sorgenvollen Klang.
»Irgendetwas kommt da auf uns zu, und ich glaube, schneller, als uns lieb ist! Ich habe das unbestimmte Gefühl, dass Torbuk und die Oranuti bereits zum großen Schlag gegen Falméra ausholen. Und wir streiten uns mit einem König herum, der jegliche Anzeichen einer Gefahr einfach nicht wahrnehmen will!«
»Was wollt ihr tun, Ba - shtie?« fragte Antarona besorgt. Sebastian wusste, dass ihre Sorge weniger dem Thron von Falméra galt, als ihrem Volk im Val Mentiér, und dem neuen leben, das in ihrem Leib heranwuchs.
»Für das Volk von Falméra seid ihr Areos, Bentals Sohn, und ihr seid der Heerführer! ihr seid aber auch vor dem Achterrat vom Val Mentiér in der Fron. Wie wollt ihr entscheiden?« Antarona sah ihn fragend, ja beinahe lauernd an.
Offenbar befürchtete sie, dass er sich für die Verteidigung Falméras und der Himmelsburg verpflichten ließ, und das Val Mentiér, ihren Vater, ihre Freunde, Arrak, und nicht zuletzt das Tal, in dem sie aufwuchs, vernachlässigte. Und tatsächlich war das Ansinnen, weshalb sie nach Falméra gekommen waren, die Autonomie für das Val Mentiér zu erreichen, immer mehr in den Hintergrund gerückt.
Das Krähenmädchen zeigte die deutliche Angst, dass ihre Mission im Nichts verlief. Doch in dem Tal ihrer Heimat warteten die Menschen, ihre Brüder und Schwestern, auf ein Zeichen von Falméra, entweder in Form von helfenden, beschützenden Truppen des Königs, oder aber zumindest auf die Präsenz des Mannes, der ihnen von den Göttern gesandt worden war, und der ihnen zusammen mit Sonnenherz ein Symbol des Widerstandes, zur Hoffnung geworden war.
Sebastian gelangte immer mehr zu der Erkenntnis, dass er in Falméra einen aussichtslosen Kampf focht. Er mochte wohl ein Volk hinter sich sammeln, es begeistern, und es zum Kampfe führen, doch wenn eine Krankheit es lähmte, die er nicht einzudämmen vermochte, so würden all seine Bemühungen wie Schall und rauch im Winde verwehen.
Diese Krankheit hatte viele Namen. Sie hieß Bental, Tieton, Elwha; sie hieß auch Blindheit, Ignoration und Bequemlichkeit. Mit einem so übermächtigen Feind in den eigenen Reihen war es ziemlich fragwürdig, ob er einer Machtübernahme Torbuks und der Oranuti mit Erfolg verhindern konnte.
Instinktiv umfasste er den Lederbeutel, den ihm Antarona gerade wiedergegeben hatte, und in dem er die gestohlenen Machtsiegel des Königs bei sich trug. Sonnenherz hatte die Waffen und ihre restliche Habe, die nicht vom Feuer vernichtet wurde, unter einem Felsen verborgen, als ihr von den beiden Krähen die Reiter angekündigt worden waren.
Dieser Lederbeutel war im Augenblick Bastis größter Schatz. Die Macht der Siegel vermochte zumindest, dass er das Volk des Val Mentiér hinter sich vereinen konnte. Mit Arrak und den Windreitern war er damit in der Lage, die Täler am Rande des ewigen Eises vor Torbuks Wilden Horden zu schützen, so glaubte er.
Der Beutel enthielt aber auch sein Tagebuch, die Aufzeichnungen von den Inschriften der magischen Schwerter, sowie das kleine, blaue Licht, das er von Antaronas Tante Zinthia erhalten hatte. Auch die von den Spionen erbeuteten goldenen Quarts verbargen sich darin. Dieser Beutel war nun ein wichtiger Meilenstein auf seinem Weg geworden. Brauchte er mehr?
Auf einem Mal besann sich Sebastian wieder seines Versprechens, dass er dem Achterrat, dem Holzer, und seiner Frau selbst gegeben hatte. Es stand vor allem anderen. Der Schutz des Val Mentiér! Und damit wurde auch er zum Hüter des großen Geheimnisses vom Val Mentiér, den heiligen Hallen von Talris und ihrem Vermächtnis, dem Ursprung des Volkes der Îval, und der Menschenwesen.
Um dieses Versprechen zu erfüllen, brauchte er König Bental und den Rat von Falméra zunächst nicht. Er besaß mit den Siegeln der Städte und Stände Volossodas die Legitimation, im Val Mentiér die Autonomie auszurufen. Damit war der Weg bereitet, einen Widerstand im Namen der Krone zu organisieren.
Wer hielt sie eigentlich auf? Was vermochte zu verhindern, dass sie sich ein Boot nahmen, und zum Festland zurückkehrten? Bental und Falméra zu stützen war sicherlich eine Option, das Val Mentiér zu retten. Doch sie dauerte zu lange! Torbuk wartete nicht ewig, das bewiesen die Spionagetätigkeiten, die sie immer wieder aufdeckten.
Nun mussten sie erst einmal Mehi-o-ratea erreichen. Dort, so nahm sich Basti vor, würde er eine Entscheidung treffen. Aber was immer er auch dort an der Küste vorfand, das Val Mentiér, das Versprechen, hatte in jedem Fall Vorrang! Von diesem Ziel wollte er sich nicht mehr abbringen lassen.
»Ich schlage vor, wir bleiben noch in dieser schlafenden Sonne hier, und brechen zu Beginn der neuen Sonne nach Mehi-o-ratea auf«, überlegte Sebastian, während er mit Genugtuung zusah, wie Frethnal seine Vesgarina in die Arme schloss, und kein Groll mehr die Harmonie störte.
Antarona stimmte zu, und er war sehr gespannt, wie es dort aussah. Vor allem die Küste interessierte ihn. Es war wichtig zu erfahren, ob sich dort vorzugsweise Truppen anlanden ließen. Wenn sie sich auch dafür entschieden, wieder zum Festland zurückzukehren, so konnte er Bental doch noch eine entsprechende dringende Warnung zukommen lassen.
Den Abend verbrachten sie an einem bescheiden kleinen Lagerfeuer, das zwischen den Felsen im Wald brannte. Sie wollten nicht riskieren, vielleicht doch noch von umherstreunenden Spionen Torbuks überfallen zu werden. Das Kopfgeld, das der Tyrann von Quaronas auf Antaronas Ergreifung ausgesetzt hatte, mochte manchen mit Mestas vernebelten Geist dazu verleiten, mit seinem Mut die eigenen Fähigkeiten zu überschätzen.
Waren sie erst einmal in den Canyon und in den Dschungel und den weitläufigen Grund der Schlucht gelangt, so konnten sie etwas sorgloser sein. Dort unten verbarg sie der sehr viel dichtere Wald vor ungebetenen Augen.
Die Nacht wurde erbärmlich kalt. Erst jetzt trat den Gefährten der Verlust ihrer Felle und Decken empfindlich ins Bewusstsein. Beide Paare wärmten ihre Körper aneinander, und nahmen mit dem Vorlieb, was ihnen geblieben war. Die Müdigkeit war irgendwann stärker, als die Kälte der Nacht...
Am Morgen sprangen sie alle vier als erstes wieder in den Teich. Das Wasser hatte etwas von der Wärme des Vortags gespeichert, und die Spiele sorgten dafür, dass sich ihre Körper rasch aufheizten. Erst als die Sonne wärmend durch die Bäume lugte, beendeten sie ihr Spaßbad, nahmen ihre Habseligkeiten zusammen, und machten sich auf den Weg.
Sie folgten erst einmal den Wäldern parallel zur Abbruchkante in den Canyon. Föhren, Kiefern, und widerstandsfähige, dickblättrige Bäume, die wie Olivenbäume aussahen, begleiteten sie. Sie durchschritten eine Landschaft, die Sebastian aus dem mediterranen Raum kannte, wie beispielsweise auf Korsika.
Wilde, bizarre Felsformationen wechselten mit steppenartigen Landstrichen. Dazwischen begegneten ihnen immer wieder Oasen mit grünen Wiesen, kleineren Sümpfen und dichtem Laubwald. In diesen grünen Augen des ausgetrocknet anmutenden Landes fanden sie stets einen, oder mehr Teiche und Seen, die sie dazu nutzten, sich abzukühlen und eine erfrischende Rast einzulegen.
So verging der Tag, ohne dass ihnen ein einziges Stück Wild über den Weg lief, das es wert gewesen wäre, zu jagen. Abends, inzwischen weit abseits irgendwelcher Wege, fühlten sie sich so sicher, dass sie das Feuer die ganze nacht durchbrennen ließen, um nicht frieren zu müssen.
Anderntags, es war um die Vormittagszeit, standen sie plötzlich vor dem Abgrund einer steil abbrechender Kante. In der Tiefe erblickten sie ein Meer von üppig grünen Baumkronen. der Canyon, oder wenigstens ein Seitenarm der riesigen Schlucht.
Sebastian prägte sich das Bild bis zum Horizont gut ein. Er besaß die Gabe, sich später an den Erinnerungen zu orientieren. Sie folgten nun der Kante im rechten Winkel zu ihrer bisherigen Richtung. Das Gelände wurde karger, die Bäume kleiner und zerzauster, und der Boden steiniger. In der zweiten Hälfte des Tages fanden sie auch kein Wasser mehr.
Die folgende Nacht verbrachten sie an einer zerklüfteten Felsformation, nahe einem breiten Erdriss, aus dessen finsteren Tiefe es unablässig gurgelte und rauschte. Tief unten in der Klamm musste ein Bach durch das Felsgestein brausen.
Sebastian machte sich auf, in die dunkle Welt der Erde, bewaffnet mit allen Wasserbeuteln, die er zu tragen vermochte. Allein der quälende Durst beflügelte ihn zu solchem wagemutigen Alleingang. Wegen seiner bergsteigerischen Fähigkeiten erklärte er sich freiwillig bereit, in den Bauch von Mutter Erde zu steigen.
Die Felswand, die nach unten ins schwarze Unbekannte führte, war brüchig, feucht und teilweise mit Moos bewachsen. Sebastian konnte sich auf keinen Griff, oder Tritt wirklich verlassen. Der halsbrecherische Weg nach unten hing mehr als einmal von seinem Glück ab.
Vielfach wurde das Rauschen und Blubbern, aus der Tiefe heraus an den Felswänden zurückgeworfen, und schien sich zu einem infernalischen Lärm zu steigern. Bald fragte er sich, ob das Wasser für die nächsten stunden ein solches Risiko wert war.
Aber es war auch Neugier, die ihn weitertrieb. Floss der unterirdische Bach etwa in den Seitenarm des Canyons? Konnte man sich einfach vom Wasser in einen austretenden Bach, oder See spülen lassen, und sich eine tagelange Wanderung durch dürre Einöde sparen? Doch auf diesem Weg waren Vesgarina und Frethnal nicht hinab zu bringen!
Als Sebastian das Tageslicht nur noch in Form eines langen hellen Streifens erkennen konnte, gelangte er an eine Stelle, an der eine Wasserader mitten aus der Felswand heraus entsprang. In einem weiten Bogen, offenbar mit mächtigem Druck, schoss das klare Wasser aus einer schmalen Öffnung, donnerte gegen die gegenüberliegende Felswand und rauschte in einer sprühenden Kaskade in die Tiefe.
Hier war der Weg für ihn zu Ende. Über die nassen Felsen, und unter ständigem Guss von oben, weiter abwärts zu klettern, wäre glatter Selbstmord gewesen. Sebastian musste die Lederbeutel also am herausschießenden Strahl füllen, was sich aber als schwieriger herausstellte, als er es sich vorgestellt hatte.
Mit einer Hand am Fels verkrallt, versuchte er mit der anderen den Wasserbeutel in den Strahl zu halten. Sein Arm war aber zu kurz. Er musste näher heran! Wenn er nur mehr Halt, und infolgedessen mehr Kraft gehabt hätte! Der unglückliche Stand rächte sich.
Der Strahl erfasste den ersten Beutel und riss ihn schier aus seiner Hand. Vorsichtshalber hatte er sich das Lederband am Beutel ums Handgelenk geschlungen, sonst hätte die Gewalt des Wassers das Behältnis mit sich fortgerissen. So wurde ihm der Beutel nur aus der Hand, und gegen die Felsen geschleudert. Doch das Leder war nun beschädigt, und als Wasserbeutel unbrauchbar geworden.
Den nächsten Beutel hielt Basti nicht mehr direkt in den Strahl, sondern knapp darunter, wo das Wasser aus einem Riss strömte, sprühte und in der Luft zerstob. Den Sprühregen aufzufangen war wesentlich anstrengender, kostete Zeit, Kraft, und war ziemlich anstrengend. Immer öfter musste er eine Pause einlegen, weil sein Arm erlahmte. Dafür wurde der Beutel allerdings nicht vom Wasser zerfetzt.
Es dauerte fast eine Stunde, bis er die drei restlichen Lederblasen gefüllt waren. Dann erwartete ihn ein ganz anderer Spaß! Sebastian lernte, dass es sich mit den schweren Wasserbeuteln am Hüftgurt nicht gut klettern ließ. Sie schwangen hin und her, schlugen ihm gegen die Beine, behinderten ihn. und brachten ihn an einigen ausgesetzten Stellen beinahe zum Absturz.
Seit er in dieses Land gekommen war, hatte er nicht so viel und schlimm geflucht, als bei diesem Aufstieg. Jede Bewegung, jeden Tritt musste er ausbalancieren, damit ihn die pendelnden Wasserbehälter nicht aus der Wand warfen.
Schließlich erreichte er die Kante, wurde vom schräg einfallenden Licht der Nachmittagssonne geblendet, und zuckte zusammen, als ein Schatten das Blendlicht plötzlich unterbrach.
»Wo wart ihr so lange, Ba - shtie? Sonnenherz hat sich um euch gesorgt, und wollte gerade hinabsteigen, um nach euch zu sehen!« Antarona reichte ihm die Hand, half ihm über die Kante und nahm ihm die Wasserbeutel ab.
»Es war gut, dass du hier oben geblieben bist«, kommentierte Basti ihre Absicht, »ohne Sicherung am nassen Fels zu klettern, das war das Idiotischste, was ich je getan habe!« In diesem Moment fiel ihm ein, dass er einmal vor Jahren aus persönlichem Frust allein und ohne große Sicherung in die Eigernordwand eingestiegen war.
Bis zum ersten Pfeiler war er gekommen. Dann jagte ihn ein hinterhältiger Steinschlag wieder aus der Wand, gerade, dass er mal die Basis der Wand erklommen hatte. Doch der Fels damals lag im Tageslicht. Dennoch war er geflohen, wie ein verschreckter Hase, und hatte diese düstere Felswand nie wieder betreten.
Wie die Sicht auf die Dinge und Verhältnisse sich doch änderten, sobald sich die gesamte Lebenssituation wandelte. Diese Klettertour in den engen Erdspalt hinab, war wesentlich bedenklicher, als sein einstiger Versuch, eine tausendneunhundert Meter hohe Wand mit zumindest theoretisch bekannter Route zu bezwingen.
»Es hat so lange gedauert, weil mir das Wasser nicht freiwillig in die Beutel gesprungen ist, ich musste es nämlich erst dazu überreden«, fügte Sebastian bezüglich Antaronas Bemerkung mit bitterem Unterton hinzu.
Antarona sah ihn fragend an, und er wusste, dass sie kaum verstand, wovon er sprach. Doch sie hatten nun Wasser für mindestens zwei Tage, was reichen sollte, um den Grund des Canyons zu erreichen, wo Basti aufgrund der üppigen Vegetation reichlich Bäche, Flüsse und Seen vermutete.
Den ganzen nächsten Tag wanderten sie über felsiges, wüstenähnliche Land, ohne Wasser oder Wild zu finden. Zu Mittag des zweiten Tages wurde der Wald dichter. Nadelbäume, die karge Böden bevorzugten wechselten allmählich mit Laubbäumen.
Und am dritten Tag fiel das Gelände permanent ab, bis sie zu einem Bach gelangten, der sauberes, kühles und klares Wasser führte. Zuversichtlich folgten sie dem Lauf des Baches, der sie geradewegs in den weiten Canyon führte.
Die folgende Nacht verbrachten sie am Fuße einer Felswand. Die steile Steinflucht im Rücken, den Bach vor sich, lagerten sie in lichtem Baumbestand. Sebastian hatte das Gelände zuvor genau in Augenschein genommen. Er wollte vermeiden, dass ihnen des Nachts die Steine von oben auf die schlafenden Leiber fielen.
Er hatte einen Blick dafür, wo solche Gefahren lauerten. War der Waldboden übersät mit Felsen und unbemoosten Steinen, so ging regelmäßig Steinschlag ab. Doch außer ein par Felsbrocken, die an ihrer Schattenseite mit grünem Moos behaftet waren, fand er keine Anzeichen für Steinschlag.
Weiter unten, ein par Steinwürfe von ihrem Lagerplatz entfernt, hatte sich ein kleiner Teich gebildet. Vermutlich wurde er bei jedem Unwetter, wenn der Bach Hochwasser führte, von diesem mit neuem Wasser gespeist.
Die Freunde nutzten die Gelegenheit, und sprangen, von übermütiger Freude getrieben hinein. Doch ihnen stockte sofort der Atem. Das Wasser war eiskalt! Naturgemäß wurde das kleine Gewässer nur eine kurze Zeit am Tag von der Sonne beschienen. Die hohen Felsen schirmten den Talgrund am Morgen und Nachmittag vor den schräg einfallenden Sonnenstrahlen ab.
Dennoch ließen sie es sich nicht nehmen, die von der Wanderung erhitzten Körper im kühlen Nass zu erfrischen. Doch in der Nacht wurde es so erbärmlich kalt, dass sie altes Laub zusammenraffen, und hineinkriechen mussten.
Als sich oben in den Felsen die ersten Sonnenstrahlen brachen, und die Vögel zu einem lebhaften Morgenkonzert anstimmten, krochen noch dichte Nebelschwaden über den Talgrund, umschlichen die Bäume wie flüchtige Wesen, die sich an alles zu klammern schienen, was mehr als eine Hand breit über dem Boden lag.
Der Laubhaufen, in dem sich die Gefährten verkrochen hatten, hielt zwar warm, doch hin und wieder rann ein Tropfen des nässenden Nebels hinein, und verursachte ein Gefühl der Schutzlosigkeit. Entsprechend früh rüsteten sich die Wanderer zum Aufbruch.
Ihr Weg führte sie immer tiefer in den Canyon hinein, obwohl ihnen die Optik der Landschaft suggestierte, dass sie in einen Wald mit riesiger Ausdehnung eintraten. Die Felswände rückten immer weiter von ihnen ab, waren im Dunst des Talbodens bald nur noch als schemenhafte Schatten zu erkennen.
Die Bäume wurden üppiger und höher, und bald vermochten sie die hohen Felsen, auf deren Kanten sie gewandert waren, nur noch zu erkennen, wenn sie einen der mächtigen Bäume erklommen. Einige der Bäume, unter deren Kronen sie dahin schritten, waren mehrere hundert Jahre alt.
Ein, oder zwei Mal an diesem Morgen gingen sie unter den freiliegenden Wurzeln geradezu gigantischer Bäume hindurch. Es waren Bäume in der Art, wie sie Sebastian oberhalb von Högi Balmers Alm gefunden hatte. Dort allerdings gab es einen ganzen Wald jener Himmel ragenden Gewächse.
Im Laufe des Tages aber trafen sie immer öfter auf solche Monsterbäume, deren Stamm als Wohnraum ausgehöhlt, einer ganzen Familie Platz bieten durfte. Aber auch niedere Bäume erreichten im zunehmend dichter werdenden Dschungel Ausmaße am Stamm und Krone, die Nephtir, dem Baum der Wahrheit, am See hinter Hedarons Hof gleichkamen.
Rasch war der Plan gefasst, die Nächte im unübersichtlichen Urwald auf den hohen, breiten Ästen eines dieser Baumriesen zu verbringen. Sebastian war nicht erpicht darauf, als Nachtmahl für irgendeine unbekannte Spezies zu enden.
Auf der Suche nach dem geeigneten Lagerplatz in luftiger Höhe, lief ihnen überraschend eine kleine Herde Ka-ra-dons über den Weg. Ein Ka-ra-don, so erklärte ihm Antarona, war ein reiner Pflanzenfresser, und lebte ausschließlich in feuchten, sumpfigen Wäldern warmer Regionen.
Sebastian hatte so ein Tier noch nie zuvor gesehen. Es war so etwas wie die Kreuzung aus einem Flusspferd und einer großen Antilopenart, etwas kleiner, schlanker, offenbar auch wendiger. Die Tiere trugen keine Hörner, oder Geweihe, besaßen dafür aber mächtig große Ohren, was ihm verriet, dass sie selbst eine flüsternde Ameise hören konnten.
Sie besaßen eine glatte, hellbraune Haut ohne Fell, und Sebastian vermutete, dass sich diese Art oft im Wasser aufhielt und gut schwimmen konnte. Dafür sprachen auch ihre kräftigen Beine und die seltsam, wie große, dicke Zehen geformten Füße. Sie spreizten sich auf weichem Boden, und sorgten im Wasser wahrscheinlich für ein gutes Vorankommen.
»Ihre Haut ist glatt und weich«, erklärte Antarona flüsternd, während sie einen Pfeil an die Sehne ihres Bogens legte, » Sonnenherz wird euch daraus einen bequemen Schurz machen, Ba - shtie, über ihm werdet ihr der Waffenrock nicht mehr lästig empfinden!«
»Ach, das ist nicht nötig«, versuchte Sebastian den Eifer seiner Frau zu bremsen, denn er hatte sich endlich an die groben Leinenhosen unter dem derben Lederrock gewöhnt. Antarona aber ließ nicht locker, zumal seine Hosen bei dem Steppenbrand vernichtet wurden.
»Seid nicht töricht, Ba - shtie« tadelte sie ihn, »eine Ka-ra-don Haut spürt ihr so gut wie gar nicht; ihr mögt mit ihr ins Wasser gehen, schwimmen, sie in der Sonne tragen, oder in der Kälte, welche euch beißt. Stets wird sie euch ein angenehmes Gefühl bescheren.« beinahe pries sie das Kleidungsstück an, wie der Verkäufer einer Bekleidungsboutique.
»Ich nehme an, euer Hüftschurz und der Vesgarinas sind ebenfalls aus der Haut der Ka-ra-dons«, vermutete er im Flüsterton. Antarona nickte nur, spannte ihren Bogen halb, und gebot ihm gleichzeitig mit lautlosem Zeichen, ihr zu folgen. Frethnal und Vesgarina machte sie mit einer Geste ihrer Hand deutlich, dass sie in Deckung bleiben und warten sollten.
Wie ein angreifender Sis-tà-wàn wand sie sich durch das Dickicht, und über den weichen, feuchten Boden. Die nasse erde blieb an ihrer Haut haften, und schnell hatte sie eine perfekte Tarnung angenommen. Sebastian schüttelte verzweifelt den Kopf, dann tat er es ihr nach, und ignorierte, dass er augenblicklich aussah, wie ein durch den Dreck gezogener Wischlappen.
Mehr sich auf dem Bauch vorwärts schiebend, als kriechend, näherten sie sich der Herde, die von den üppigen Blättern der jungen Bäume fraß. Antarona schob sich einen Ersatzpfeil in das dünne Band ihres Lederschurzes, spannte im Liegen den Bogen, und ließ das Geschoss von der Sehne schnellen.
Eines der jüngeren Tiere, die ihnen am nächsten standen, knickte in den Vorderbeinen ein, verharrte einen Moment zitternd in dieser Haltung, fiel dann auf die Seite und rührte sich nicht mehr. Die übrigen Tiere schreckten auf und galoppierten mit viel Lärm durch das Unterholz davon.
Sofort sprang Antarona auf, zog wie mechanisch ihr Messer, rannte zur Beute, setzte sich rittlings auf den Körper des Ka-ra-don und durchschnitt ihm mit einer sicheren, schnellen Bewegung die Kehle. Während das Tier ausblutete, verrichtete das Krähenmädchen ihr Ritual, um den Göttern für das Jagdglück, und dem Ka-ra-don für seine Güte zu danken, dass er ihnen mit seinem Fleisch das Leben erhielt.
Anschließend mussten alle mit anpacken, um das schwere Tier an einem Baum aufzuhängen, um es auszunehmen, und ihm in mühevoller Arbeit Schnitt für Schnitt die Haut abzuziehen. Wider erwarten stellte Sebastian fest, dass die Haut zwar weich, dennoch fest und kräftig war.
Während Antarona und Vesgarina das Fleisch portionierten, bogen und banden Frethnal und Basti aus jungen Bäumchen einen Rahmen zurecht, auf den sie mit viel Kraftaufwand die Haut spannten. In der feuchtwarmen Luft des Dschungels war das eine schweißtreibende Aufgabe, und Sebastian sehnte sich nach den Winden, die oben auf der Kante des Canyons geweht hatten.
Auf einem Mal begriff er, dass ein knapper Lederschurz in dieser Lage gar nicht so schlecht sein konnte. So ein wohl ziemlich unkleidsamer, jedoch äußerst praktischer Fetzen mochte bei jeder Bewegung weniger hinderlich sein.
Den halb verbrannten Leinenstoff, der mit Feuchtigkeit und Nässe am Körper haftete, spannte, und den Handgriffen im Weg war, hätte er gern sofort gegen einen Lederschurz eingetauscht, der luftiger war, und mit seiner knappen Körperbedeckung offensichtlich mehr Beinfreiheit bot.
Nicht ohne Grund trugen die Naturvölker am Amazonas ähnliche, spärliche Kleidungsstücke. Sebastian erinnerte sich an derartige Fernsehreportagen, die er meist mit skeptischen Blicken verfolgt hatte, die er sich nun aber vor einem anderen Hintergrund, und mit mehr Verständnis ins Gedächtnis rief. Was er als primitiv beurteilt hatte, erwies sich nun als praktisch und lebensnotwendig.
Bald fanden sie auch einen geeigneten Baum zum Lagern. Mächtige, weit ausladende Astgabeln boten reichlich Platz für Mensch und Habseligkeiten. Sebastian hängte die frisch erbeutete Haut so auf, dass Antarona und Vesgarina sie bequem bearbeiten konnten.
Das Fleisch, das sie nicht sofort verzehrten, rieb er großzügig mit dem restlichen Salz ein, und hängte es an Lederstreifen in die dünneren Zweige, so dass größere Vögel nicht heran kamen. Dazwischen hängte er Büschel von jenem Kraut, das Antarona ihm gezeigt hatte, und welches den Befall von fliegendem und krabbelndem Ungeziefer verhindern sollte.
Das Fell, das sie ein par Tage zuvor gegerbt hatten, wurde auf einer breiten Astverzweigung ausgelegt. Die Gemeinschaftsstube. Sebastian und Antarona "bezogen" das nach westen ausgerichtete Zimmer, Frethnal machte es sich mit Vesgarina nach Osten hin gemütlich. Ihr Baum besaß einen so dicken Stamm, dass man zwischen den Wohnstätten gut und gerne hätte eine Durchgangstür aushöhlen können.
Unter den Ästen sprudelte ein Bächlein dahin, und in Sichtweite funkelte die glitzernde Wasserfläche eines kleinen Sees, der von eben diesem Bach gespeist wurde. Im Grunde konnten sie es an diesem Ort eine unbestimmte Zeit aushalten, konnten jagen, Felle gerben, und sich neue Pfeile schneiden.
Doch die Bedrohung durch Torbuk saß ihnen als ständige Triebfeder im Nacken. Andererseits betrachtete Sebastian ihre müßige Reise nach Mehi-o-ratea auch als ein Stück des Ausstiegs aus seinen Verpflichtungen als Areos, als des Sohn des Königs, aus jener Rolle, die er zwangsläufig nur angenommen hatte, um Antarona und ihrer Volksgruppe im Val Mentiér zu helfen.
Freilich war auch sein Eigenschutz als Sebastian Lauknitz ein Grund. Er lebte lieber mit den unbequemen Verpflichtungen eines Areos von Falméra, als dass er sich als Sebastian Lauknitz einkerkern lassen wollte.
Was Antarona betraf, so schien sie sich in die Rolle der Kriegerin Sonnenherz zu flüchten. Die Identitätskrise, als Tochter Hedarons und Bentals gleichermaßen, überstieg bei weitem ihren Horizont des Verständnisses. Sie kannte nur den Vater Hedaron, den Holzer von Fallwasser.
Plötzlich sollte sie Bentals Tochter, die Prinzessin von Falméra sein, eine Identität, die ihr die Liebe zu dem Mann verbot, welcher von den Göttern gekommen war, weil dieser mit einem Male ihr leiblicher Bruder sein sollte.
Für ihr Herz gab es nur Ba - shtie, den sie liebte, und dessen Tochter Herz sie unter ihrem Herzen trug. Doch ihr Verstand kannte auch Areos, den Sohn des Königs, dessen Ruf als Krieger und künftiger König sie verehrte. Sie fand keinen gangbaren Weg, beide Ansichten zu vereinbaren, war verunsichert, in ihren Gefühlen hin und her gerissen, überfordert.
Als Kriegerin, die einen Krieger liebte, fühlte sie sich wohl in ihrer Haut. Diese Rolle war für sie überschaubar, damit bewegte sie sich im Rahmen ihrer Gefühle und Fähigkeiten.
Und Sebastian, losgelöst von den früheren Zwängen seiner technisierten Zivilisation, kam das einfache, freie Leben mit der offenherzigen, wunderschönen und jungen Frau nur recht. Er wollte das zügellose, wilde Dasein, das Abenteuer, nicht mehr aufgeben. Für ihn war Antarona und das wilde, freie Land, jene neue Gelegenheit, etwas neues, eigenes zu schaffen, für seine Liebe, für seine eigene Familie.
Doch um für sich und Antarona und ihre ungeborene Tochter ein Zuhause zu schaffen, musste er unmittelbare Gefahren, wie Torbuk beseitigen, und den Ansatz einer Demokratie schaffen, um künftig selbst ernannte Diktatoren verhindern zu können.
Nur so war eine Zukunft, ein freies Leben in Glück und Zufriedenheit, zu ermöglichen. Antarona war der einzige Grund für ihn, für dieses Ziel zu kämpfen und persönliche Opfer zu erbringen. Die Liebe zu ihr war seine Kraft, sein Mut und sein Antrieb.
Ohne die Liebe zu diesem Krähenmädchen nur die Rückkehr aus dieser Welt in seine eigene Zivilisation Priorität gehabt. Nun wollte er gar nicht mehr zurück. Nie wieder! Sein neues Zuhause war das Val Mentiér.
Sebastian stellte für sich selbst klar, dass er, um das zu erreichen, sogar zeitweilig die Rolle eines Königssohnes übernehmen wollte, auch wenn daran eine Lüge und eine gehörige Portion Betrug geknüpft waren. Allein ein glückliches, friedliches Leben mit Antarona war ihm ein solches Handeln entgegen seiner moralischen Überzeugung wert. Außerdem hatte Bental ihn bereits in diese Rolle gezwungen!
Nachdem das Lager eingerichtet war, gingen sie zum See hinüber. Das Wasser war angenehm kühl, und lud zum Spiel mit den Steinchen ein. Damit vertrieben sie sich die Zeit, bis die Dämmerung sie unter den Baum zurücktrieb, wo ein kleines Feuer das Fleisch und einige Wurzeln garte.
Da der Beutel mit dem Salz so gut wie leer war, schmeckte das Fleisch etwas fade, was aber dem Hungergefühl nicht im mindesten etwas ausmachte. Die Wurzeln, von denen Antarona wusste, wo sie zu finden waren, erinnerten Sebastian an die Schwarzwurzeln, die er aus seiner Welt kannte.
War auch nur wenig mit dem identisch, was er aus seinem früheren Leben gewohnt war, so ähnelte doch manches der Natur abgerungene Produkt den alltäglichen Nahrungsmitteln seines vergangenen Daseins. Lediglich der Geschmack vieler Dinge, die sie auf ihrer Wanderschaft zu sich nahmen, war für ihn immer noch gewöhnungsbedürftig.
Die Nacht verbrachten sie in der Höhe des Baumes, vermeintlich sicher vor jeglichem Raubzeug. Doch so unangreifbar fühlte Sebastian sich nicht. Die Borke des Baumes war rau, zerfurcht und von Knubbeln, Rissen und Buckeln übersät, so das sie den Stamm zu ihrem Astlager bequem erklettern konnten.
Doch wo sie problemlos hinauf stiegen, war es auch anderen Geschöpfen möglich, empor zu klettern. Doch es war die einzige Alternative zu einem Lager auf dem Boden, wo sie für jedes Raubtier als einladender Appetithappen auf dem Präsentierteller lagen.
So fanden sie alle in einen erholsamen, tiefen Schlaf, und eine ungestörte Nacht. Offenbar gab es wenig Wild, das auf Filets aus Menschenwesen stand.
Der Morgen begrüßte Sebastian mit einem grellen, schmalen Sonnenstrahl, der permanent und lästig auf seinen Augenlidern tanzte. Immer noch müde drehte er sich um, schlang seinen Arm um Antaronas Taille, schmiegte sich an ihren Rücken, und vergrub sei Gesicht in ihren langen Haaren.
Das Krähenmädchen spürte seinen Atem und drängte sich ihm mit ihrem Hinterteil entgegen, seufzte tief und schlief weiter. Im Halbschlaf suchten sie beide die gegenseitige Wärme und Nähe. Doch im Gegensatz zu Antarona fand Sebastian keinen tiefen Schlaf mehr, obwohl er auch nicht bereit war, das angenehme Gefühl ihres warmen Körpers aufzugeben.
Er blieb still liegen, lauschte den zaghaften Gesängen der erwachenden Vögel, welche mit einem schwachen Nachhall erklangen, als säßen die kleinen gefiederten Freunde in einer riesigen blechernen Halle.
Eine Vogelart schien außerordentlich talentiert zu sein. Sebastian hörte heraus, dass diese Art Umweltgeräusche nachahmte, deren Klänge sich dann, von einem Tier an das andere weitergegeben, im Wald akustisch fortpflanzte, bis es irgendwo leise verhallte.
Neugierig geworden, wagte Basti einen kleinen Test. Er pfiff deutlich eine kurze, prägnante Melodie, und musste nicht lange warten. Unmittelbar darauf erklangen seine eigenen Töne wie ein Echo aus den Kehlen der Vögel, den morgendlichen Wald hinauf und hinab, bis das Lied irgendwo weit entfernt verstummte.
Er fand das einfach genial, und probierte eine neue, etwas kompliziertere Tonfolge. Wieder gaben die irgendwo im Blätterwerk der Bäume verborgenen Tiere seine Melodie an die Artgenossen weiter, wiederholten diese ein par Mal, Minuten lang, bis es schließlich zwischen den Bäumen erstarb.
Fasziniert pfiff Sebastian immer neue Takte, und lauschte den Nachahmern, bis Antarona sich mürrisch und verschlafen regte. Offenbar hatte er sie durch sein Pfeifen geweckt. Noch nicht wirklich bereit, wach zu werden, drängte sie sich Wärme suchend an ihn.
»Ba - shtie, was tut ihr? Hört auf, die Stimmen des Waldes nachzuahmen, und kümmert euch besser um euer En-gel-sen! Sonnenherz ist kalt, wollt ihr sie nicht wärmen?« Damit rollte sie sich wie ein Schutz suchendes Kätzchen bei Gewitter noch mehr zusammen, um das kleine Stück Fell, dass sie beide bedeckte, vorteilhafter ausnutzen zu können.
Sebastian kam das nur recht. Er war ebenfalls noch nicht dazu aufgelegt, seinen Körper der morgendlichen Kälte auszusetzen. Aber auch die Stimmen des Waldes mochten noch warten, bis er seine Studie an ihnen fortzusetzen gedachte.
Seine ganze Aufmerksamkeit fixierte sich nun auf sein Krähenmädchen, das sich, aus dem Schlaf gerissen, unruhig hin und her räkelte, um eine bequemere Liegeposition ohne Wärmeverlust zu erlangen. Basti verstand ihre Unruhe als Aufforderung, und so nahmen die sehr schnell erweckten Gefühle des vermeintlichen Thronfolgers und seiner Prinzessin ihren ganz natürlichen Lauf...
Einige Zeit später, Sebastian hielt den zerbrechlich wirkenden Körper seines Krähenmädchens immer noch beschützend in seinen Armen, nahm er die Kommunikation mit den Laute nachahmenden Vögeln wieder auf.
Aus Angst Antaronas friedlichen Schlummer zu unterbrechen, pfiff er nur leise durch die Zähne. Zuerst folgte keine Reaktion. Doch dann schien sich auf einem Ast ganz in seiner Nähe ein Nachahmervogel niedergelassen zu haben, denn plötzlich wurde seine leise Botschaft weithin laut weitergegeben.
Neugierig war Basti versucht, auszutesten, ob diese Tiere auch in der Lage waren, die Sprache der Menschenwesen nachzumachen. Doch das hätte Antarona ganz sicher geweckt. Diese Studie also, wollte er sich für später aufheben.
Aber als die Sonne mit ihrer Hitze bereits auf dem Vormittag lastete, und alle endlich wach geworden waren, und sich zum See begaben, um sich in seinem klaren Wasser zu erfrischen, hatte er sein Vorhaben vergessen.
Das begehrte Pfeile- Spiel forderte seine volle Aufmerksamkeit. Danach suchte er mit Antarona einen Weg zu den Felsen, welche den Canyon begrenzten. Sie kletterten zu den Nischen hinauf, die sie von ihrem Schlafbaum aus beobachtet hatten, und in die große Vögel flogen, und wieder herauskamen. Ein par frische Eier schien ihnen das Risiko, abzustürzen, wert zu sein.
Ohne dass sie es recht wahrnahmen, vertrödelten sie den ganzen Tag.., und den nächsten, und den übernächsten, bis sie allmählich begannen, das Zeitgefühl zu verlieren. Mal durchstreiften sie den Dschungel in alle Richtungen nach Beute, da ihr Fleischvorrat zur Neige ging, ein anderes Mal zogen sie zu einem Hang, auf dem Bäume wuchsen, die saftige Früchte trugen, welche Sebastian mit einer Mischung aus Pfirsich und Melone verglich.
Am vierten Tag bezog sich der Himmel, und es begann zu regnen, als hätten die Götter sämtliche Schleusen geöffnet. Es goss zwei Tage und Nächte lang so heftig, dass sie die Hand nicht vor Augen sehen konnten.
In der Geräuschkulisse eines ständigen Rauschens schwoll der Bach zu Füßen ihres Baumes so stark an, dass er sich zu einem ernst zu nehmenden, reißenden Fluss entwickelte. Die Freunde warfen regelmäßig ängstliche Blick nach unten, befürchteten, das Wasser könnte mit seiner steten Gewalt die Wurzeln unterhöhlen, und ihren hohen Schlafplatz zu Fall bringen.
Ihr Baum hatte jedoch offensichtlich schon öfter solche Unwetter unbeschadet überstanden, denn der wild gewordene Bach vermochte nicht, ihn auch nur zum erzittern zu bringen. Die deutlich größere Herausforderung erwuchs sich für die vier Gefährten aus dem Problem, sich vor der stetig vom Himmel rauschenden Nässe zu schützen.
Der rettende Einfall war wieder Antarona zuzuschreiben. Sie wusste von einer Pflanze, die in sumpfigem Gelände wuchs, und übergroße, lange Blätter ausbildete, die in Form von Palmwedeln angeordnet waren. Nackt, nur mit den Lederschürzen bekleidet, machten sie sich auf, die Pflanze zu suchen.
Irgendwelche Kleidung anzulegen, machte kaum Sinn. Zum einen war es nach wie vor so warm, dass sie auch ohne Kleider schwitzten, zum anderen war der Regen so warm, wie ein angenehme Dusche, und letztlich wäre jedes Kleidungsstück in Sekunden durchnässt worden.
Es bedurfte einer satten Stunde, das Gewächs im Dschungel zu finden, und als sie endlich vor den monströsen Blättern standen, waren sie vom strömenden, permanenten Regen derart begossen, dass sie ebenso gut den Tag im See hätten verbringen können. Der Unterschied wäre kaum spürbar gewesen.
Frethnal und Sebastian schnitten die riesigen Blätter von den Stauden, Antarona und Vesgarina suchten die dünnen, langen Fasern der Rinde eines bestimmten Baumes, mit denen sie das künftige Dach zusammenbinden wollten.
Die Arbeit zwischen den Büschen und Sträuchern, auf durchweichtem, morastigem Boden war anstrengend, da sie ständig im Regen standen. Ihre nackten Körper dampften, und nach einer Stunde sahen sie allesamt aus, wie Schweine, die frisch aus der Suhle kamen.
Bevor sie das Baumaterial in den Baum schafften, sprangen sie noch in den See. Die von Nässe durchweichte Haut war eine Sache. Doch mit Schlamm und Erde beschmiert wollten sie sich an diesem Tag nicht zur Ruhe begeben.
Unter Antaronas sachkundiger Leitung ordneten sie die Blätter in drei Schichten so zwischen den Zweigen des Baumes an, dass der Regen seitlich ablaufen konnte. Sie schufen ein beachtliches Dach rings um den mächtigen Stamm herum, so dass sie sowohl auf ihrem Schlaf- Ast, als auch in der Gemeinschaftsstube einen kleinen Bereich hatten, der von dem strömenden Niederschlag nicht mehr erreicht werden konnte.
Von der Anstrengung ausgepumpt, und vom Wetter triefend nass, hockten sie sich dann unter ihre dürftigen Felle, und aßen etwas Dörrfleisch sowie ein par süß schmeckende Wurzeln, die zwar holzig, aber nahrhaft waren.
Die Lederschürze waren so mit Wasser vollgesogen und aufgequollen, dass sie diese zusätzlich mit Schnüren sichern mussten, damit sie ihnen nicht über die Hüften rutschten. Sie konnten ihre spärliche Bedeckung jedoch nicht ausziehen, da sie in Bewegung trocknen musste, um nicht stocksteif zu werden.
Sebastian wunderte sich anfangs, warum das Leder bei regelmäßiger Nässe und Trocknung nicht bretthart und brüchig wurde. Antarona verriet ihm einmal das Geheimnis, das so simpel, wie praktisch war. Das Leder wurde einfach nach Fertigstellung mehrfach intensiv durchgeräuchert.
Dank dieser Methode blieb der angenehm zu tragende Schurz stets geschmeidig und anschmiegsam, wie eine zweite Haut. War das Gefühl des nassen Leders auch für den Augenblick gewöhnungsbedürftig, so trocknete es doch schnell durch die eigene Körperwärme.
Den Rest des Tages verbrachten die vier Gefährten damit, die Nachahmer- Vögel mit neuen Tonfolgen zu füttern. Sebastian hatte seinen Freunden von seiner vermeintlich neuen Entdeckung berichtet, die für Antarona freilich keine mehr war. Das Krähenmädchen, das wie eine Wilde in den Wäldern aufgewachsen und zu Hause war, kannte natürlich die Gabe dieser Vogelart und wunderte sich über die Faszination, mit der die anderen dieses Phänomen bedachten.
Immer neue Tonkombinationen, abenteuerlich sogar kleine Melodien, wurden von den Vögeln trotz des anhaltenden Regens unermüdlich wiederholt. Bald widerhallte der Regenwald von einer frisch komponierten Musik, die sich teilweise überlagerte, in den Richtungen hin und her wanderte, und in der Wiedergabe einer Surrsound- Anlage aus Sebastians Welt beinahe Konkurrenz machte.
Sofern kein Wind aufkam, der das Blätterdach durcheinander brachte, hockten die Freunde im Trockenen, beschäftigten sich mit dem Nähen von neuer Lederkleidung, mit dem Gerben der zuletzt erbeuteten Haut, und dem Herstellen kleiner Gebrauchsgegenstände, die bei dem großen Feuer verloren gegangen waren.
Während dieser Zeit brachte Antarona den anderen bei, wie man Pfeile herstellt, Sehnen für Bogen, und eine Steinschleuder, die ähnlich einer Bola funktionierte. Sebastian führte sie sogar noch tiefer in die Kräuterkunde ein. Dabei beschrieb sie das Aussehen und die Zubereitung von heilenden Pflanzen so genau, als hätte er sie in einem gut illustrierten Buch nachgeschlagen.
Auf die eher nicht ganz ernst gemeinte Frage, ob es ein Wunderkraut gab, das auch lebensbedrohliche Krankheiten und Verletzungen zu heilen vermochte, ein Mittel das die letzte Hoffnung war, wenn selbst die Kräuterkunde der alten Waldlerin versagte, antwortete Antarona nicht gleich.
Allein ihr Zögern brachte Basti auf den Gedanken, dass es da noch ein geheimes Kraut geben musste, das den Alchimisten und Heilkundlern dieser Welt als letzten Ausweg bekannt, aber offenbar nicht immer von Nutzen war. Antarona schien zu überlegen, wie sie ihm das Mittel erklären sollte. Sebastian sah sie fragend, mit bohrendem Blick an.
»Die Alten in den Dörfern des Val Mentiér erzählen von der Medizin der Götter«, begann sie zögernd, und Basti spürte, dass es ihr höchst unangenehm war, darüber zu sprechen. Antarona ihrerseits war verunsichert, da sie sich nicht erklären konnte, warum Sebastian nach einer so außergewöhnlichen Heilmethode fragte.
Befürchtete er in nächster zeit so schwer verletzt zu werden, dass nur eine solche Medizin ihn retten konnte? Ahnte er bereits, was ihm widerfahren würde? Seine Frage wiederum machte ihr Angst.
»Warum fragt ihr das, Ba - shtie?« forschte sie ängstlich. »Tragt ihr eine Ahnung in eurem Herzen, welche euch etwas ankündigt, wonach ihr einer solchen Medizin bedürft?«
Das Krähenmädchen wagte kaum, ihre Vermutung auszusprechen. Sie wusste, welche macht jene Bilder besaßen, welche die Mutter der Nacht den Menschenwesen zeigte. Sie wusste auch, dass bisweilen die Wahrheit aus ihnen sprach.
»Ich habe keine Ahnung von Irgendetwas«, beruhigte er sie, »ich wollte es einfach nur wissen, ich wollte nur die heilenden Möglichkeiten kennen lernen, welche hier zu Lande den Menschenwesen gegeben sind.« Antarona musterte eine Weile seine Augen, als suchte sie nach einem Hinweis, dass er ihr nicht die wahren Gründe nannte, bevor sie antwortete:
»Die Alten berichteten, dass ein kräftiger Mann ausgeschickt wurde, eine Medizin von den Göttern zu holen, wenn ein König, oder ein Fürst am Tore zum Reich der Toten stand. Die Medizin der Götter vermag selbst jene zu heilen, welche bereits vom Tod gezeichnet sind. Dies geschah noch nicht sehr oft, und selten war jemand zurückgekehrt, der sich aufmachte, den Thron der Götter zu suchen.«
»Wo befindet sich dieser Thron der Götter?« wollte Sebastian wissen, und registrierte einen kurzen erschrockenen Ausdruck in den Augen seiner Frau. Anscheinend hatte sie sich aber damit abgefunden, dass er nicht locker lassen würde, und nur widerwillig versuchte sie zu erklären:
»Jener, welcher die Götter sucht, muss zunächst durch das Tor in das Reich der Toten gehen. So erzählen es all jene, welche davon wissen. Dort ist alles Eis und Stein, es wächst kein Baum, kein Strauch, kein Halm des Grases, und es gibt kein Wasser, um den Durst zu stillen. Es gibt auch keine Lebewesen, außer den Eishunden, welche das Reich der Götter schützen, und jeden zerreißen, der es wagt, seinen Fuß in dieses Reich zu setzen...«
»Aber wie gelangt man dann zum Thron der Götter, wenn dort eine wilde Horde von Eishunden lauert, um jeden Eindringling zu töten?« wunderte sich Sebastian und unterbrach ihre Schilderung.
»Ba - shtie, Sonnenherz war noch nicht dort, wie kann sie es wissen?« fragte sie fast vorwurfsvoll. Dann aber überlegte sie und fuhr fort:
»Als Kind hörte Sonnenherz einmal ihren Bruder Tark davon erzählen, dass vor unzähligen Zentaren ein mutiger Sohn aus dem Hause der Könige diese Reise wagte«, berichtete sie.
»Er trug ein geheimnisvolles Licht bei sich, das Licht der Götter und des Himmels, welches ihn beschützte, und ihm Zugang zum Thron der Götter gewährte, welcher sich bei den drei Türmen im ewigen Eis befindet.« Sebastian fand diese Geschichte höchst verwunderlich und fragte:
»Dieser Bote der Könige musste sich also seinen Weg mit Fackeln suchen?« wunderte er sich. Antarona schüttelte zögernd den Kopf, und erklärte:
»Nein, er besaß ein Licht, welches die Farbe des Himmels hatte, und niemals verlöschen sollte.« Sie zuckte mit den Achseln, als Zeichen, dass sie auch nicht genau wusste, was damit gemeint war.
Unwillkürlich tastete Sebastian mit einer Hand nach dem goldenen Anhänger mit dem blauen Licht, das er von Antaronas Tante Zinthia bekommen hatte, und das er nach wie vor um den Hals trug. Gleichzeitig dachte er an die Blitze in den Hallen von Talris, die sie beinahe getötet hatten, wenn Sebastian nicht auf den Einfall gekommen wäre, sie mit Nantakis, Antaronas Schwert, abzulenken.
In seiner Phantasie entspann sich eine wahrhaft abenteuerliche Vorstellung. Was, wenn all diese Dinge irgendwie miteinander verbunden waren? Die vier Schwerter der Götter, die heiligen Hallen, welche das Vermächtnis der Îval hüteten: Das blaue Licht, das auf so seltsame Weise mit Antaronas unerklärlichem Verschwinden im Kindesalter zusammenhing, und dann zusammen mit ihr wieder auftauchte. Anscheinend waren alle diese Gegenstände durch das geheimnisvolle blaue Licht miteinander verknüpft.
War das blaue Licht der Schlüssel zu all seinen Fragen, die er sich stellte, seit er in diese Welt gelangt war? War das Geheimnis um dieses Phänomen die Antwort, die er suchte? War es auch der Weg zurück in seine Welt? Sebastian erschrak. Das, was er sich noch vor gar nicht all zu langer Zeit wünschte, machte ihm nun Angst!
Was war, wenn dieses blaue Licht ihn unfreiwillig wieder in seine Welt zurückbeförderte, wo er doch nun um keinen Preis mehr zurück wollte? Entschieden etwa andere Mächte darüber? Hatte er gar keinen Einfluss auf diese Entscheidung? War es anfangs die Angst, dass er nicht wieder in seine Welt zurück konnte, so befürchtete er nun, dass er irgendwann zurück musste, und nichts dagegen tun konnte.
Die Vorstellung, in sein altes, gesichertes und tristes Leben zurückkehren zu müssen, und Antarona mit seiner ungeborene Tochter nie wieder zu sehen, ließ ihm beinahe die Sinne schwinden. nein, er wollte hier bleiben, in dieser Welt, wo immer sie lag, was immer sie war. Denn hier war seine Liebe, hier war sein neues Leben, hier lag seine Zukunft!
Antarona war sein für einen kurzen Moment zum Schrecken entgleister Gesichtsausdruck nicht entgangen. Sie sah ihn fragend an, als zweifelte sie an seinem Verstand.
»Was habt ihr, Ba - shtie, was beängstigt euch so?« fragte sie mit einigem Entsetzen im Blick. Sebastian schüttelte den Kopf. Er hatte nicht mehr daran gedacht, dass seine Frau bereits nach seiner ersten Frage nach einer ultimativen Medizin skeptisch und sensibilisiert reagiert hatte.
»Ach, ich habe mir nur vorgestellt, wie es wäre, die Götter um Hilfe zu bitten, beim Kampf gegen Torbuk und die Oranuti«, log er unsicher.
»Das Schicksal der Îval sollte den Göttern nicht ganz gleichgültig sein«, hoffte er, »und wenn man zu ihnen gehen kann, wenn es einen Weg gibt...«
»Ba - shtie, hört auf zu träumen«, ermahnte sie ihn erschrocken, »ihr würdet niemals zu den drei Türmen gelangen, das ist aussichtslos! Bereits in den alten Schriften steht geschrieben, dass der Weg dorthin viele Sonnenreisen dauert, und ihr kennt nicht einmal den Weg! Das ewige Eis ist unendlich, es hört niemals auf, es tötet euch! Wenn ihr euch dort verirrt, werdet ihr erfrieren, und eure Tochter niemals kennen lernen!«
O ja, Antarona wusste zu argumentieren, die Worte so zu wählen, dass sie sein Herz erreichten! Dennoch war er neugierig geworden. Er glaubte nicht an irgendwelche Gottheiten, auch wenn er sie manchmal unbedacht anrief. Was aber war dann das Geheimnis? Was war dort im ewigen Eis, das es geschafft hatte, solche Mythen entstehen zu lassen? Ein Stückchen Wahrheit war meist an jeder Geschichte.
Wie sah diese Wahrheit aus? Er würde es niemals herausfinden, wenn er es nicht versuchte. Wenigstens einmal einen Blick auf das ewige Eis werfen, das in dieser Welt schon selbst Mythos war. Nur mal schauen, irgendwann, rein Interesse halber! Für den Augenblick jedoch verwarf er diese Idee. Darauf mochte er zurückkommen, wenn Zeit dafür war. Dann wollte er sich dieser Studie widmen!
Mittlerweile erlangte eine andere Studie höhere Priorität. Mit jeder Zentare tropfte und rann mehr Regenwasser durch das Blätterdach. Der Wind brachte das sensible Gefüge durcheinander, öffnete Durchlässe, und bald mussten die Freunde in die höheren Äste ausrücken, um die Lücken wieder zu schließen.
Ihre Körper trockneten nur noch für kurze Zeit. Nach jedem Zurechtrücken des grünen Daches trieften sie wieder vor Nässe. Bald gaben sie es auf, sich unter die kleinen, verbliebenen Felle zu flüchten, riskierten sie doch, dass auch dieser letzte, trockene Schutz durchweichte.
Mit einer raffinierten Wickeltechnik rollten sie die Felle in die restlichen Blätter ein, um sie so vor dem Regen zu schützen. Statt dessen wärmten sie ihre nassen Körper, indem sich die Paare eng aneinander schmiegten, Haut an Haut pressten, sich eng umschlungen wanden, um so zu versuchen, sich aufzuheizen, und trocken zu reiben.
Freilich nützte das nur wenig, und besaß nur den in der Situation zweifelhaften Erfolg, ihr Verlangen nacheinander zu steigern. Doch es war kaum der Schutz vor einer Lungenentzündung in der immer mehr abkühlenden Luft. Erst jetzt drang ihnen der Verlust ihrer Decken und Felle mit aller Konsequenz ins Bewusstsein.
Vom Baum herabzusteigen, und nach einer Felshöhle, oder einem trockenen Erdloch zu suchen, machte ebenso wenig Sinn. Wie lange sollten sie suchen? Wo sollten sie suchen? Bis dahin waren ihre Leiber durchweicht und ausgekühlt. An ein wärmendes Feuer war bei diesem Regen auch nicht zu denken, wenn sie es unter freiem Himmel anzünden wollten. Es gab kein trockenes Holz mehr.
Sebastian kam irgendwann auf den Einfall, das labile Blätterdach mit den biegsamen, langen und dünnen Ästen eines gerade wachsenden Busches zu verstärken, den er im Dschungel gesehen hatte. Der Vorschlag wurde von allen dankbar angenommen. Es war zweifelsohne besser, sich körperlich zu betätigen, und warm zu bleiben, als in Untätigkeit allmählich auszukühlen.
Die Aktion brachte einen erstaunlichen Erfolg. Die langen, elastischen Stangen ließen sich gut in das Blättergefüge einflechten, verstärkten und fixierten das Dach und garantierten eine höhere Dichtigkeit. Nach der ersten Nacht unter dem neuen dach wachten die Gefährten zwar frierend, aber trocken auf.
Zwischendurch ließ der Regen etwas an Heftigkeit nach, so dass sie ihren Baum verlassen, und nach Wurzeln und Früchten suchen konnten. Viel Zeit blieb ihnen jedoch nicht. Schon bald nahm der Niederschlag wieder zu, und sie waren froh, wieder unter ihr Blätterdach flüchten zu können, gerade, dass sie es schafften, noch von den großen Blättern mitzunehmen.
Es regnete vier Tage ununterbrochen. Der Bach zu Füßen ihres Baumes wuchs zu einem beachtlichen Strom an, welcher wohl eines der großen Sumpfgebiete nährte, das Sebastian auf den Karten der Bibliothek gesehen hatte. Eines lag auf der dem Festland zugewandten Seite der Insel, das andere nahe Mehi-o-ratea.
Sebastian spielte bereits abenteuerlich mit dem Gedanken, ein Floß zu bauen, und sich auf dem rasch fließenden Gewässer bis zur Küste treiben zu lassen. Jedoch verwarf er den Einfall wieder, denn angesichts der Unkenntnis der geologischen Gegebenheiten, konnte eine solche Aktion zu einem weiteren, gefährlichen und unerwünschten Abenteuer führen.
Also saßen sie die Regenperiode einfach auf den Ästen ihres Heimbaumes geduldig aus. Beschäftigung gab es indes genug. Die beiden neuen Häute mussten bearbeitet, und gegerbt werden, aus den bereits fertigen Häuten mussten Hüftschurze geschnitten und zusammengenäht werden, und die Herstellung von Pfeilen durften sie ebenfalls nicht vernachlässigen.
Aus den gesammelten Flintsteinen schlug Sebastian neue Pfeilspitzen, die Frethnal mit Bastfasern und Baumharz an den Pfeilschäften befestigten. Die Arbeit mit den spitz und scharf splitternden Steinen fügte ihm einige Schnittverletzungen an Händen und Fingern zu, die Antarona mit einer Salbe behandelte. Im feuchtwarmen Klima des Dschungels war die Gefahr einer Infektion und Entzündung so groß, wie sonst nirgendwo.
Vesgarina erwies sich als wahre Künstlerin im Schneidern. Sie nahm sich den zerlumpten Hüftschurz jedes Gefährten vor, kürzte ihn, und gab ihm eine zwar noch knappere, aber saubere Form, was das Aussehen wie neu erscheinen ließ.
Am vierten Tag ließ der Regen am Nachmittag nach, und hörte am Abend ganz auf. Plötzlich stand die Luft vor Feuchtigkeit und Wärme, trieb den Freunden, selbst in Bewegungslosigkeit den blanken Schweiß aus den Poren, so dass sie sich bald den kühlenden Regen zurückwünschten.
Die Chance auf trockene Haut, erfüllte sich nicht. Sie war von einem ständigen, kalten Schweißfilm überzogen. Erleichterung verschaffte ihnen nur der nahe See, der nun allerdings vom einfließenden Wasser des durch den Regen entstandenen Flusses, eine trübe, hellbraune Färbung angenommen hatte, Außerdem vermochte niemand zu sagen, welches Viehzeug dabei in den See gespült wurde. Aber jedes noch so kurze Bad verschaffte angenehme Abkühlung.
Dafür sandten ihnen die Götter ganze Schwärme von gefräßigen Moskitos. Es waren winzig kleine Mücken, kaum wahrnehmbar, deren Stiche aber dicke, punktartige Schwellungen auslösten. Antarona suchte verzweifelt nach einer bestimmten Pflanze, deren Saft aus dem Stängel auf die Haut aufgetragen, die hinterlistigen Attacken der kleinen Blutsauger abwehren sollte.
Die Ausflüge der Freunde in die nähere Umgebung ihres Heimbaumes brachten keinen Erfolg. In der schwülen Luft wurde jede Suche zur anstrengenden Belastungsprobe. Und je mehr sie schwitzten, desto heftiger fielen die Moskitos über sie her. Letztlich waren sie nicht einmal im See sicher vor den fliegenden Parasiten.
Ihre Körper vermochten sie wohl vor den Angriffen der Moskitos zu schützen, wenn sie im Wasser abtauchten, doch die kleinen Sauger waren so aggressiv, dass sie ihnen die Gesichter zerstachen, sobald sie wieder auftauchten.
Schon entstand der Gedanke, wieder zum Canyonrand hinaufzusteigen, als Antarona mit einem Alternativvorschlag aufbot. Die größte Gefahr, gestochen zu werden ließ sich ihrer Ansicht nach damit bannen, sich bis zum Auffinden des gesuchten Abwehrmittels mit Schlamm, oder Lehm einzureiben.
Frethnal protestierte und wollte sich unter gar keinen Umständen mit Erde beschmutzen. Sebastian zuckte gleichgültig mit den Schultern.
»Es steht euch natürlich frei, verehrter Frethnal, euch weiterhin stechen zu lassen. Ihr mögt von mir aus gerne auch im See übernachten.«
Der knappe Hinweis genügte, um den Diener zur Einsicht zu bringen. Brav strich er sich anschließend, wie alle anderen den Lehm auf die Haut. Dann machten sie sich erneut auf die Suche nach jener Pflanze, welche den ultimativen Schutz vor den kleinen Plagegeistern versprach.
Unterwegs stießen sie auf die Spuren eines ziemlich großen Tieres. Eine Fährte wie diese hatte Basti noch nie gesehen. Der Abdruck sah aus, wie eine in die Breite gezogene Drei, wie zwei ineinander gewachsene Hufe.
»Was für ein Tier ist das?« fragte er Antarona. Die legte sich zum Zeichen, keinen Lärm zu machen, ihre Hand auf den Mund. Flüsternd gab sie zu verstehen, dass jenes Wesen, dessen Hufspur sie gerade betrachteten, noch in der Nähe sein musste. Während sie Bogen und Pfeil schussbereit machte, erklärte sie leise:
»Es ist ein Xebron, Ba - shtie. Es besitzt ein gutes, langhaariges und großes Fell. Xebrons zu jagen ist aber nicht einfach«, gestand sie, »der Pfeil muss eine Stelle im Hals des Tieres treffen. Xebrons haben feste Knochen, an welchen Pfeile einfach abprallen.«
»Ist es dann nicht einfacher, ihnen mit Lanzen aufzulauern, und diese ihnen direkt ins Herz zu stoßen?« überlegte Basti. Antarona lächelte ihn hintergründig an, und flüsterte:
»Besser ihr kommt diesen Tieren nicht zu nahe, Ba - shtie! Sie mögen das gar nicht, und mit ihren Hörnern vermögen sie ganze Buschreihen umzupflügen, ja sogar Bäume zu fällen. Geht einem Xebron stets aus dem Weg«, riet sie den Gefährten, »es mag sonst eure letzte Begegnung mit ihm sein! Doch wollt ihr ihn jagen, so haltet großen Abstand, und flieht, wenn er euch angreift, am besten ins Wasser, denn das mögen sie nicht!«
Nun war Sebastian erst recht gespannt auf dieses Tier, das so mächtig sein sollte, dass es Bäume entwurzeln konnte. Ein wenig Angst schwang in seiner Anspannung mit, doch die zeigte er nicht. Sie brauchten dringend schützende und wärmende Felle. Die Jagd auf große Tiere war eine Frage des Überlebens!
Antarona ging voran, pirschte sich durchs Unterholz, und ließ sich offenbar mehr von ihren geistigen Sinnen leiten, als von Augen und Ohren. Sebastian folgte ihr in einigem Abstand, ebenfalls mit schussbereitem Bogen, dahinter die beiden Freunde.
Er ahnte, dass sein Bogen nur pure Dekoration war. Sollten Antaronas ersten beiden Pfeile ihr Ziel verfehlen, konnten sie ihr Heil nur noch in der Flucht suchen, hatte das Krähenmädchen ihnen deutlich eingeschärft.
Beinahe lautlos schlichen sie auf der Fährte der Doppelhufe zwischen Sträuchern hindurch, um ein par Felsen herum, die irgendwann von den Wänden des Canyons gestürzt waren, und an einem kleinen Sumpf entlang.
An einer Stelle waren armdicke Büsche einfach aus dem Boden gerissen worden, als hätte eine riesige Schaufel mit einem einzigen Hieb eine Bresche in das Land geschlagen. Basti ahnte langsam, was für ein gewaltiges Monster sie da verfolgten.
Die Spur führte weiter auf eine kleine Lichtung, die von hohen Gräsern überwuchert war, aus denen mächtige Stängel mit großen Blättern ragten, die Sebastian an Rhabarber erinnerten.
Inmitten des dichten Bewuchses sah er einen braunen Berg sich gemächlich, nicht schneller als eine Schildkröte, vorwärts bewegen. Wenn das ein einzelnes Tier war, so hatte es annähernd die Größe von zwei prähistorischen Wollmammuts.
Sofort ging Antarona in die Hocke und bedeutete den Freunden per Handzeichen, sich ebenfalls im Unterholz zu verbergen. Sie kam zu ihnen zurück geschlichen und verkündete vielversprechend:
»Sonnenherz und ihre Gefährten mögen den Göttern danken! Sie haben ihnen gleich zwei Geschenke beschert. Einen großen Xebron und jene Pflanze, welche die kleinen Plagegeister zu vertreiben vermag!« Sebastian nickte zur Wiese hinüber, auf der das mächtige Muskelpaket friedlich äste.
»Du meinst, diese großen Blätter sind die Lösung für unser Moskitoproblem?« fragte er erstaunt, nicht wenig zweifelnd. Antarona nickte und hauchte ihm ins Ohr:
»Mit dem Saft aus den Stängeln wird die Haut eingerieben. Die kleinen Plagegeister mögen den Geruch nicht, welchen die warme Haut dann verströmt.«
Sebastian mutmaßte in Gedanken, dass der Geruch vielleicht auch für den Menschen nicht gerade anziehend wirken mochte. Er fragte sich, ob sich das neue Aroma negativ auf ihr Liebesleben auswirken konnte. Antaronas verführerisch sinnlich duftenden Körper wollte er nicht entbehren müssen.
Zunächst aber mussten sie das gigantische Huftier erlegen, ohne dass dieses Gelegenheit bekam, sie auf die Hörner zu nehmen. Sebastian spähte zur Wiese hinüber, konnte aber nur den mächtigen Rücken des Tieres erkennen, der wie eine Insel im wogenden Meer des Grases hin und her schaukelte. Er sah weder seinen Kopf, noch seine Beine, oder gar die Hörner, von denen Antarona gesprochen hatte.
Der Wind stand günstig gegen sie, und der Xebron hatte sie noch nicht wahrgenommen. Es würde für Antarona schwierig werden, einen guten Schuss anzubringen, weil auch der Hals des Xebron vom hohen Gras verdeckt wurde. Wenn sie aber warteten, bis das Tier wieder im Wald verschwunden war, wurde es auch nicht einfacher. Zwischen den Bäumen hindurch ließ sich genauso wenig ein Pfeil abschießen.
Antarona kroch bis zum Waldrand zurück, und ging in die Hocke, so dass sie gerade eben zwischen den oberen Grasspitzen hindurch sehen konnte. Der Xebron hielt seinen Kopf zum Fressen gesenkt, so dass sie nicht einmal erahnen konnte, wo sich sein Hals befand. Wie Sebastian sah sie nur den braunen, zottigen Berg seines Rückens.
Doch wie sollte sie ihn dazu bringen, seinen bulligen Kopf zu heben, ohne dass sie selbst in Erscheinung trat, und das Tier provozierte, und es dazu reizte, auf sie los zu stürmen? Das schwüle Wetter musste auch einem Xebron schon genug zusetzen. Ein übel gelauntes Wesen dieser Größe sollte man nicht zusätzlich ärgern, wenn es nicht nötig war!
Da kam ihr ein genialer Einfall, eine Möglichkeit, die sie schon früher oft angewandt hatte. Sie schlich zu den drei Gefährten zurück, um sie in ihren Jagdplan einzuweihen.
»Tekla und Tonka werden ihn ablenken«, erklärte sie den Freunden, »wenn er den Kopf hebt, werden Sonnenherz Pfeile seinen Hals durchbohren«. Das Krähenmädchen sah die anderen eindringlich an, bevor sie fortfuhr:
»Der Xebron wird nicht sofort tot umfallen. Er mag noch ein par Zentaren auf den Beinen bleiben und wild umherstampfen«, warnte sie.
»Wenn also Sonnenherz Pfeile ihn getroffen haben, doch auch wenn nicht, so lauft einzeln in den Wald, eine jeder in eine andere Richtung, um ihn zu verwirren. Springt in das nächste tiefe Wasser, dorthin folgt er euch nicht!« Sebastian nickte zustimmend, sah dann aber seine Frau mit hochgezogenen Augenbrauen fragend an.
»Und was ist mit dir, wenn du ihn verfehlst, und er so richtig wütend wird, und seinen Ärger an dir auslassen möchte? Wohin willst du dann so schnell fliehen? Auch du kannst dich nicht in Luft auflösen, nicht wahr?« Antarona lächelte. Es war jenes hintergründiges Lächeln, das ihm erzählte, dass sie sich längst Gedanken darum gemacht, und einen Plan gefasst hatte.
»Die beiden Schwarzvögel, Sonnenherz Freundinnen, werden ihn ablenken, und Sonnenherz die Zentare geben, um auf den Felsen zu klettern, welcher auf dem Wege hierher lag«. Sebastian blickte zweifelnd zurück in die Richtung, wo sie die Felsformation im Wald passiert hatten.
»Meinst du, du schaffst es bis dorthin?« fragte er besorgt. Sie quittierte seine Frage mit einem tadelnden Blick und versicherte ihm:
»Sonnenherz vermag zu laufen, wie der Wind, Ba - shtie! Sie vermag zu fliegen, wenn es vonnöten ist! Nun muss Sonnenherz ihre Sinne auf Bogen und Pfeile tun, bevor der Xebron fort ist« beendete sie das Gespräch.
Es gab nichts mehr zu sagen, und sie schlich mit schussbereitem Bogen zum Waldrand zurück. Einen zweiten Pfeil hatte sie sich quer in den Mund gesteckt, um ihn nach dem ersten Schuss sofort bei der Hand zu haben. Dort, wo das hohe Gras begann, machte sie noch zwei Schritte, überzeugte sich davon, dass ihre Jagdbeute noch ahnungslos graste, dann tauchte sie im wogenden Meer der Halme ab, hockte sich hin, und schien in eine Art Trance zu verfallen.
Tatsächlich aber konzentrierte sie ihre Sinne auf die beiden Krähen Tekla und Tonka, die wer weiß wo sein mochten. Doch Basti wusste, dass ihre beiden gefiederten Freundinnen stets irgendwo in der Nähe waren. Jedenfalls waren sie meist nach kurzer Zeit zur Stelle, wenn Antarona sie rief.
Sebastian kniff die Augen zusammen und beobachtete mit scharfem Blick die Szenerie. Es waren etwa zwei Minuten vergangen, als zwei schnelle Schatten über die Köpfe der drei wartenden Freunde huschten. Die beiden Vögel landeten zu Füßen ihrer menschlichen Freundin, die mit ihrer stummen Sprache mit ihnen kommunizierte.
Kurz darauf ließen sich Tekla und Tonka vom Wind wieder in die Höhe tragen, sie machten nur einen Hopser, breiteten die Schwingen aus, und nutzten die Thermik ohne großes Flügelschlagen.
Sie flogen tief über die Wiese und knapp am Kopf des Fleisch verheißenden Ungetüms vorbei. Anschließend umkreisten sie das Tier und flogen erneut an. Sebastian erinnerte diese Aktion an einen Angriff von Militärjets auf ein bestimmtes Ziel. Beim zweiten Mal hob das Ungetüm missmutig den Kopf, um festzustellen, wer es wagte, ihn beim Fressen zu stören.
Was sich Sebastian nun offenbarte, hatte er nicht erwartet. Ein bulliger Kopf, wie der eines Wasserbüffels, nur viel breiter, hob sich aus dem Grasmeer. Das Maul glich dem einer Kuh, jedoch größer. Die Hörner aber, ein Paar Doppelhörner, wuchsen ihm wie eine Mutation aus dem Schädel, schräg nebeneinander, und bogen sich gut zweieinhalb Meter über sein Maul hinweg. Wahrscheinlich dienten sie nicht nur zur Verteidigung, sondern nützten dem Tier auch als hervorragende Instrumente zum Graben.
Mit einer langen Zunge, die sogar die Hörner erreichte, leckte sich das Tier um das Maul. Offensichtlich hatte die Götter diesem Monster absichtlich eine so lange Zunge geschenkt, denn ohne sie würden die langen Hörner diese Tiere bei der Nahrungsaufnahme behindern. Und noch etwas hatte die Schöpfung dieser Spezies mit auf den Weg ins Leben gegeben. Ein gewellter Kranz aus Hornplatten, der den Kopf vom Hals trennte, verlieh dem Xebron etwas von der Mystik der Saurier. Basti konnte sich nur erklären, dass dieser Kranz den ungeschützten Hals vor einem tödlichen Frontalangriff bewahren sollte.
Darum also war es so schwierig ein Xebron zu erlegen! Das durch Antaronas Krähen nervös gewordene Geschöpf stampfte unruhig mit den Vorderhufen auf den Boden, und drehte seine Ohren hin und her, die so gar nicht zu ihm passen wollten. Es waren kleine, runde Horchmuscheln, ähnlich denen eines Flusspferdes. Ob der Xebron nun besser hören, oder riechen konnte, blieb für Sebastian erst einmal unergründlich. Unmutig schüttelte er seinen massigen Kopf, und die Hörner vollführten eine drohende Gebärde.
Doch gerade diesen Augenblick nutzte Antarona, erhob sich kurz aus der Deckung des hohen Grases, spannte den Bogen, zielte kurz, und ließ den Pfeil von der Sehne schnellen. Noch bevor das Tier reagieren konnte, lag ein weiteres Geschoss an ihrem Bogen und fuhr wie von Zauberhand in den Hals des Riesen. Sebastian hatte nicht einmal Gelegenheit, seinen eigenen Pfeil in Anschlag zu bringen. Das mächtige Huftier stand einen Augenblick still, doch dann begriff es offenbar, dass es attackiert wurde, brüllte laut, und wandte sich zu Antarona um, die sofort zu laufen begann. Dann ging alles so schnell, dass Sebastian hinterher nicht mehr genau sagen konnte, wie es sich abgespielt hatte.
Als Antarona anfing zu laufen, fuhren auch Frethnal und Vesgarina aus ihrer Deckung auf, und rannten jeweils in eine andere Richtung, aber gezielt auf den See zu. Basti hatte sich mit schussbereitem Bogen halb aus seinem Versteck erhoben und hatte registriert, dass Antaronas Pfeile ihr Ziel erreicht hatten. Er bekam aber keine Gelegenheit, selbst einen Schuss anzubringen, denn in diesem Augenblick setzte sich der getroffene Xebron mit unglaublicher Schnelligkeit in Bewegung. Solche Gewandtheit hatte er diesem Berg aus Fleisch nicht zugetraut. Nun erst begriff er, warum Antarona sie vor dem Zorn des Tieres gewarnt hatte.
Das Krähenmädchen rannte leichtfüßig in den Wald hinein, gefolgt von ihrer wütenden, verwundeten Jagdbeute, die stampfend und fauchend durch das Unterholz brach, wie eine Dampfwalze. Ob Strauch, Baum, oder Bodenwelle, der Xebron trampelte alles nieder, was sich in seinem Weg befand. Sebastian, dessen Beschützerinstinkt ausgeprägter war, als seine Angst, folgte dem wild gewordenen Tier auf seiner Schneise der Verwüstung, um ihm den Rest zu geben, bevor es Antarona einholen konnte.
So sehr er sich aber bemühte, er vermochte das waidwunde Wild nicht einzuholen. Seine Füße flogen über platt gewalztes Grün, er sah Blutflecken hier und da und den massigen Schatten vor sich, der trotz des tagelangen Regens mächtig Staub aufwirbelte. Das Brüllen des Xebrons ließ den ganzen Wald erzittern. Dabei warf das Tier im Lauf wild seinen Kopf hin und her, so dass Äste, Zweige und Blätter wie in einem Sturm durcheinander wirbelten.
Schon bald außer Atem hetzte Basti hinter dem Ungetüm her, verwundert darüber, wie viel Durchhaltevermögen das getroffene Tier noch besaß. Da hielt der Xebron abrupt an, warf wütend seinen Kopf in die Höhe, und Sebastian sah nur, wie etwas Hellbraunes wild durch die Luft gewirbelt wurde.
»Antarona, neeiiin!« Entsetzt fuhr ihm der laute Schrei aus der Kehle, als er glaubte, Antarona durch die Luft fliegen zu sehen. Ein großer Fehler! Der riesige Kopf mit den furchteinflößenden Hörnern flog herum. Große schwarze Augen glotzten Sebastian funkelnd an. Zunächst unentschlossen stand der Xebron da, schnaufte schwer, brauchte wohl ein par Momente, um zu begreifen, dass der Feind plötzlich in seinem Rücken aufgetaucht war.
Ebenso unsicher stand Sebastian da, mit schussbereitem Bogen in der Hand, der ihm allerdings nicht viel nützte, da er dem Tier frontal gegenüber stand. Während er sich langsam rückwärts gehend entfernte, dachte er fieberhaft darüber nach, wohin er fliehen sollte. In einem Bogen um die Felsen herum zum nächsten See, oder Teich. Aber würde er ihn erreichen, bevor das Monster ihn erreicht hatte?
Der Xebron nahm ihm die Wahl ab. Ohne Vorwarnung ging das riesige Tier auf einem Mal auf Sebastian los. Er hatte nicht gedacht, dass diese Masse Fleisch und Fell so schnell und wendig sein konnte. Der Waldboden erzitterte, und Basti begann zu laufen. In seinem Rücken hörte er das Trampeln und Schnaufen näher kommen.
Die Geräusche von berstendem Holz und knickenden Sträuchern erzählten ihm, mit welcher Gewalt sich das Untier seinen Weg durch den Wald bahnte. Einen schlecht gelaunten Xebron schien nichts aufhalten zu können.
Sebastian rannte um den Felsen herum, das Tier folgte ihm. Er sprang durch Dornenbüsche, zerriss sich die Haut dabei, doch die einstige Beute blieb ihm gnadenlos auf den Fersen. Selbst, als er unter einem umgestürzten Baumstamm hindurch huschte, hörte er am Krachen, dass sein Verfolger einfach durch die Barriere hindurch marschiert war. Wie lange hielt so ein massiges Vieh durch?
Er hatte diese Frage noch nicht zuende gedacht, da hörte er hinter sich einen entsetzlichen, schweren Plumps, als wäre ein Felsbrocken vom Himmel gefallen. Dann war es still. Ein par Meter hetzte Basti noch weiter, doch als er nichts mehr hörte, wurde er langsamer, blieb stehen, und drehte sich um. Ein Trick? Lauerte der Gigant im Schatten irgendeines Baumes, um ihn nun mit seinen Hörnern aufzuspießen?
Von dem Xebron war nichts zu sehen. Hatte der Riese am Ende doch aufgegeben? War das Tier es leid, durch den Dschungel zu hetzen? Den Bogen gespannt, einen Pfeil an der Sehne, schlich Sebastian auf dem Weg zurück, den er gekommen war. Vorsichtig sprang er von Baumstamm zu Baumstamm, der einzigen Deckung, die einem solchen Koloss noch standhalten mochte.
Kurz bevor er den Felsen erreichte, den er auf seiner Flucht umrundet hatte, sah er den Xebron am Boden liegen. Tatsächlich sah es so aus, als machte sich das Tier gerade zum Sprung bereit. Doch sein Kopf lag auf den Boden gesenkt, leicht zur Seite gekippt, er schnaufte schwer und rasselnd, und schien am ganzen Körper zu zittern.
Nun erst sah Sebastian die Menge Blut, die aus seinem Hals strömte, dort, wo ihn die vier Pfeile getroffen hatten. Vier Pfeile? Basti musste die Augen zusammenkneifen und genauer hinsehen. In der Tat, vier Pfeile steckten in seinem Hals, ließen ihn zur Ader, raubten ihm allmählich den Lebenssaft.
Der Xebron, der eben noch friedlich auf einer ruhigen Wiese sein Gras fraß, würde nicht mehr aufstehen. Mit eingeknickten Beinen hockte er da, als hätte er sich gerade zum Schlafen gebettet. Ein bebender Berg, der sein Leben aushauchte.
Langsam ging Sebastian auf das verendende Tier zu. Plötzlich tat es ihm leid. Er war kein Fleischfresser, und somit keine Bedrohung für sie gewesen, wenn sie ihn nicht angegriffen hätten. Mit etwas Wehmut dachte er daran, dass es nun einen friedlichen Koloss weniger in Falméras Wäldern geben würde, ihretwegen!
Aber sie brauchten das Fleisch, das Fell und möglicherweise die mächtigen Hörner, um selbst zu überleben. In dieser Welt rechtfertigte das die Jagd auf ein Tier. Freilich nur aus der Sicht der Menschenwesen. Sebastian sah in ein paar große schwarze, gebrochene Augen, als er sich näher heran traute.
»Geht nicht zu dicht heran, Ba - shtie, er ist immer noch gefährlich und unberechenbar, solange sein Herz schlägt!« warnte ihn Antarona, die plötzlich wie aus dem Nichts aufgetaucht war. Der Hinweis kam gerade noch rechtzeitig. Sebastian war stehen geblieben. Im nächsten Lidschlag ruckte eine letzte Kraftanstrengung durch den Körper des Tieres, es warf seinen Kopf herum, die langen Hörner fegten über den Boden und rissen eine tiefe Furche in die Erde.
Wäre Basti nur ein par Zentimeter weiter gegangen, hätte ihm das Tier mit großer Wucht beide Beine unter dem Leib fortgerissen. Erschrocken wich er ein par Schritte zurück und hielt nun respektvollen Abstand. Aber schon war Antarona an ihm vorbei, und ehe das Tier noch einmal reagieren konnte, hatte sie ihm die Klinge Nantakis durch den Hals gestoßen.
In einem endlosen Schwall strömte dem Xebron das Blut aus der Wunde, und nach kurzer Zeit verloren seine Augen den Glanz des Lebens. Ein mächtiges Herz hatte zu schlagen aufgehört. Antarona kniete sich vor den Kopf des Tieres und dankte den Göttern für die Gabe, die ihnen das Überleben sicherte.
Basti hockte sich dazu, legte dem Xebron die Hand auf die Stirn und sprach ebenfalls einen Dank. Das erste Mal fand er dieses Ritual noch ziemlich befremdlich. Inzwischen jedoch wusste er, dass es eine Gnade war, einem Tier das Leben nehmen zu dürfen, um selbst leben zu können. Und mittlerweile war diese Geste mehr, als nur ein Antarona gegenüber bekundetes Zeichen der Solidarität.
Er hatte gelernt, das Wohlwollen der Natur, das sie ihnen mit solchen Gaben tagtäglich entgegenbrachte, zu schätzen. Eine Geste des Dankes bezeugte immerhin den Respekt vor jedem Geschöpf, welches sie im Kampf ums Überleben töteten.
Da lag er nun. Ein Riesenberg Fleisch. Eine Beute, die ihnen alle Hände voll zu tun gab, um sie zu bewältigen. Allein das Häuten stellte sich für alle als ein kaum zu beschreibender Kraftakt dar. Der große, zottelige Pelz des Tieres sollte schließlich unbeschadet und in einem Stück erhalten bleiben.
Nachdem sie das Ungetüm hatten ausbluten lassen, zerrten sie es auf ein trockenes Stück des Waldbodens. Antarona ging sofort daran, Schnitte an den Läufen anzubringen, und sie zum Bauch des Tieres zu führen. Alle mussten mit anpacken, um dem Wild die große Haut abzuziehen. Dabei mussten sie das Tier ein par Male auf die jeweils andere Seite wälzen, um die Haut vom Fleisch zu trennen.
Noch während sie die Beute häuteten, begann Vesgarina damit, große Blätter unter das Tier zu legen, damit das Fleisch nicht den Boden berührte. Gleichzeitig rieb sie das blutige Fleisch mit einem von Antarona bestimmten Kraut ein, welches Fliegen und andere Eier legende Parasiten vom Fleisch fern hielt. Das war wichtig, und musste gründlich geschehen, da die Eier von Insekten das ganze Fleisch verderben konnten.
Wie unerlässlich das war, zeigte sich bereits beim Häuten. Schwärme von Fliegen und Moskitos, angelockt vom süßlichen Duft des Blutes, umsummten sie bei ihrer schweren Arbeit. Auch Vögel, wie Krähen und kleine Aasfresser stellten sich ein, warteten geduldig auf das, was die Menschenwesen nicht verwerten würden. Sebastian mochte schwören, dass auch Tekla und Tonka unter den wartenden Gierschlünden waren.
Als das Fell endlich vom Leib des Tieres getrennt war, zogen sie es über den Felsen und pflockten es zunächst an allen vier Enden mit Holzstückchen in Felsrissen und Spalten fest, damit es sich beim Antrocknen nicht zusammenziehen konnte. Später würden sie es mit einem Gerbbrei einreiben, der es solange elastisch hielt, bis Vesgarina und Antarona es von verbliebenen Fett- und Fleischstückchen reinigen konnten.
Zunächst aber mussten sie sich um das Fleisch kümmern. Antarona trennte die Bauchdecke des behuften Riesen auf, und Sebastian musste sich angeekelt abwenden, als ihm der ungewohnte Geruch in die Nase stieg.
»Warum dreht ihr euch fort, von jenem, was euer Leben erhält?« fragte Antarona fast vorwurfsvoll. Für sie, die es von Kindertagen an gewohnt war, Fleisch zu jagen und zu verarbeiten, war sein Verhalten mehr als befremdlich. Doch wie sollte er ihr erklären, dass es in seiner Welt gereinigte, abgepackte und vor äußeren Einflüssen geschützte Filetstücke aus dem Kühltresen gab?
Die besten Stücke, sowie die Leber und das Herz wickelten Antarona und Vesgarina in große Blätter und legten sie zwischen aufgeschichteten Steinen in den Bach, dort wo das Wasser beruhigt und klar war. Der Kühlschrank der Wildnis! Begierig sog Sebastian das Wissen auf, das ein Überleben in dieser Welt garantierte.
Dazu gehörte auch, zu unterscheiden, welches Fleisch am ehesten verdarb, welches sich zum Räuchern, und welches sich zum Trocknen an der Luft eignete. Antarona schnitt die Stücke mit einer erstaunlichen Gewandtheit, Sicherheit und Erfahrung aus der Beute und erklärte Sebastian Nutzen und Verwendung. Er stellte fest, dass es bei großen und kleinen Tieren ein gleichermaßen Prinzip war.
Kurz darauf ging er mit Frethnal daran, dünne, lange Stangen aus niedrig wachsenden Bäumen zu schneiden, um ein Tragegestell für das Fleisch zu bauen, das die Mädchen mit Fasern einer bestimmten Baumrinde daran befestigten. Während die beiden weitere Fleischstücke zum Trocknen aus dem Beutetier schnitten, machten sich die Männer auf den Weg, die erste Ladung Fleisch zu ihrem Wohnbaum zu tragen.
Bei dieser Arbeit lernte Sebastian, wie bequem und ignorant sein bisheriges Leben in der norddeutschen Großstadt gewesen war. Er hatte sich nie Gedanken darüber gemacht, wie seine tägliche Nahrung in die Regale des Supermarkts gekommen war. Nun wusste und spürte er es! Die Trageriemen des schwer beladenen Gestells schnitten ihm in die Schultern, rieben die Haut auf und das Gewicht drückte so auf seinen Rücken, dass er diesen nach kurzer Zeit nur noch als tauben Muskel spürte.
Die Plackerei hatte aber noch lange kein Ende. Am Baum angekommen, mussten die beiden Männer das Fleisch einsalzen, in die Höhe tragen und an Bändern zwischen den Ästen aufhängen, sowie die Bänder mit einem Baumharz bestreichen, damit krabbelnde Insekten nicht über ihren Vorrat herfielen.
Dann vollzog sich die ganze Arbeit mit der nächsten Lage Fleisch aufs neue. Dafür schufen sie sich einen guten Vorrat, der für den Rest des Weges nach Mehi-o-ratea reichen sollte. Das große Fell würde ihnen nach Fertigstellung als dichtes Dach bei Unwetter dienen können.
Die Freunde arbeiteten ohne Pause bis zur Dunkelheit. Die besten Fleischstücke hatten sie auf ihrem Baum in Sicherheit gebracht. Von dem was an dem Kadaver noch verblieben war, würden die Bewohner des Waldes bis zum nächsten Morgen nicht viel übrig lassen. Heimliche, glühende Augen beobachteten sie bereits in der Dämmerung. Sobald sie von ihrer Beute abrückten, würden die lauernden, geifernden Kiefer über den Rest des Xebrons herfallen.
»Horn und Knochen werden in der neuen Sonne von allem Fleisch und Haut befreit sein«, bemerkte Antarona beiläufig, »Sonnenherz und ihre Freunde werden dann wiederkommen, und holen, was sie verwenden können!«
Sebastian ahnte, dass eine Menge Raubzeug dafür sorgen würde, dass sie am Morgen ein blankes Gerippe vorfanden. Er wunderte sich nur, dass kein Felsenbär, oder anderer großer Räuber bisher versucht hatte, ihnen die Beute streitig zu machen.
Zuletzt holten sie das Frischfleisch aus dem Bach, und quälten sich damit ab, das riesige Fell in den Baum zu ziehen, wo sie es mühevoll zwischen den Ästen aufspannten, damit Vesgarina und Antarona es am nächsten Tag bearbeiten konnten.
Den Tag ließen sie mit einem großzügigen Feuer unter ihrem Wohnbaum ausklingen. In seinen Flammen garte das Fleisch, und Sebastian fand, dass es das köstlichste Fleisch war, das er jemals die Gelegenheit hatte, genießen zu dürfen. Sie aßen so viel, dass sie später Mühe hatten, ihre Schlafplätze im Geäst zu erreichen. Aber dies war keine Sünde. In dieser Welt wusste man nie, wann der Magen wieder etwas zu tun bekam...

Der nächste Morgen brachte Sonnenschein und leichten Wind. Die Götter waren mit ihnen. Von der Schwüle und dem Dampf des Regenwaldes waren nur noch ein par Tropfen auf den Blättern geblieben. Wenn es so blieb, würde das Fleisch des Xebron rasch getrocknet sein. Mit dem Gewichtsverlust durch das entzogene Wasser konnten sie einen Vorrat für beinahe drei Wochen transportieren.
Beflügelt von dem schönen Wetter verbrachten sie den Tag mit den Vorbereitungen für den Weitermarsch. Vesgarina und Antarona quälten sich mit dem riesigen Fell ab, das von den inzwischen übel riechenden Fleisch- und Fettresten befreit, und mit dem stinkenden Brei des Gerbmittels behandelt werden musste. Die beiden Mädchen schabten sich beinahe die Hände wund.
Sebastian und Frethnal besserten ihr Blätterdach aus, hängten das Trockenfleisch um, und bauten neue, bequemere Gestelle zum Tragen des großen Fells und des noch nicht ganz trockenen Fleisches. Als die Hitze des Mittags fast unerträglich auf dem Wald lastete, und auch oben auf dem Baum durch den Wind kaum Abkühlung zu spüren war, stieg Basti hinauf und holte die Mädchen von ihrer Arbeit fort.
In einer spielerischen Hetzjagd liefen sie um die Wette durch den Wald bis zum See, dessen kühles Wasser sich beruhigt hatte und wie eine klare Glasplatte eingebettet im schattigen Schoß der Bäume lag. Ohne anzuhalten sprangen sie nacheinander von einer flachen Felskanzel in das fünf Meter tiefer liegende Wasser.
Übermütig planschten sie herum, bespritzten sich gegenseitig und begeisterten sich an ihrem Pfeile- Spiel. Die Sonne lugte stellenweise durch das Blätterwerk der Bäume, trennte Schatten von Licht, und schuf eine friedliche Idylle, die sie am liebsten nie wieder verlassen wollten.
Ohne es sich selbst eingestehen zu wollen, war Sebastian dankbar für jeden Tag, den das Fortsetzen ihres Weges aufschoben. Sie genossen das freie Leben mit den Vorzügen, tun und lassen zu können, was ihnen beliebte. Noch in der Burg hatte er bei jeder Gelegenheit darauf gedrungen, die Arbeit für die Verteidigungsbereitschaft Falméras voranzutreiben, und hatte sich selbst bei dem Bemühen kaum geschont.
Doch die Burg und die Sorge vor einer Invasion durch Torbuks Truppen waren hier im Wald weit entrückt. In der süßen Freizügigkeit des wilden, ungezwungenen Lebens ließ sich die Bedrohung vom Festland leicht vergessen. Auch Frethnal und Vesgarina schienen all das in ihrem geistigen Auge zurückgelassen zu haben.
Allein für Antarona blieb wohl das Leid ihres Volkes im Val Mentiér allgegenwärtig. Sebastian beobachtete sie. Gab sie sich auch ebenso ausgelassen, wie die anderen, so war sie in einsamen, stillen Momenten, und oft auch bei der Arbeit, sehr in sich gekehrt, reagierte auf Zuruf erst beim zweiten, dritten Mal, war beim Abschaben des Fells oft unkonzentriert und nachdenklich.
Sebastian spürte ihre Sorge, ihre Angst, ihren Brüdern und Schwestern am Rande des ewigen Eises nicht rechtzeitig zu Hilfe zu kommen. So sehr sie auch die Ausgelassenheit und Lebensfreude in jenen Tagen im großen Wald genoss, im Hinterkopf jedoch blieb stets ihre selbst auferlegte Verpflichtung ihrem Volk gegenüber. Eine wahre Prinzessin!
»Du denkst an die Brüder und Schwestern, an die Söhne und Töchter im Val Mentiér, nicht wahr?« fragte Basti seine Frau, nachdem sie sich außer Atem auf den von der Sonne verwöhnten Grasstreifen des Ufers gezogen hatten, um sich vom Wind trocknen zu lassen. Antarona nickte kaum wahrnehmbar und antwortete leise:
»Ja, Ba - shtie, Sonnenherz fühlt sich schlecht. Sie vergnügt sich im Spiel, während ihr Volk geknechtet wird und leidet. Sonnenherz und Glanzauge kamen nach Falméra, um das Recht zu erbitten, unter der Führung jenes Kriegers, den uns die Götter sandten, selbst das Land vor den wilden Horden zu schützen. Doch statt dessen lassen sie die Sonnen und Monde tatenlos verstreichen. Die Îval haben Sonnenherz vertraut, doch sie tut nichts! Inzwischen mögen Torbuks Krieger in den Tälern stehen, und die Îval ihre Hoffnung verloren haben. Und jene, welche der Achterrat im vertrauen zum König gesandt hatten, sind schuld daran! Die Götter fragen Sonnenherz, ob ihr Herz noch dem Volk gehört.«
Betreten schwieg Sebastian. Sie hatte ihn mit ihren Worten tief beschämt. Schließlich war er es ja gewesen, der sich mit dem König arrangiert hatte, der viel Zeit mit dem Verteidigungsplan Falméras verbracht hatte, der Antarona gedrängt hatte, mit ihm in das Tal der roten Flühen zu gehen, der die Reise nach Mehi-o-ratea für ihre ungestörte Zweisamkeit egoistisch für unerlässlich hielt.
Tatsächlich konnte Torbuk inzwischen die kaum zu irgendeiner Gegenwehr fähigen, und führerlosen Täler des Val Mentiér überrannt haben. Im Abenteuer dieser neu entdeckten Welt, in der süßen Verführung einer neuen Liebe, im Erfolgsrausch einer neuen Idee, hatte Sebastian die Mission, für die er und Antarona ausgewählt wurden und sich verpflichtet hatten, beinahe vergessen.
Selbstkritisch musste Basti sich eingestehen, sich schleichend aus seinem Versprechen den Îval des Val Mentiér gegenüber, herausgestohlen zu haben. Anstatt seinen Status als imaginärer Sohn des Königs dafür zu nutzen, hatte er begonnen, müßig mit den Vorzügen dieser Stellung zu leben, ohne ihr hohes, verantwortungsvolles Ziel, das sie eigentlich angestrebt hatten, weiter konsequent zu verfolgen. War er mittlerweile zu einem Verräter am Volk geworden? War jetzt der Zeitpunkt für die letzte Gelegenheit einer Umkehr gekommen? Es war ihm, als erlebte er gerade zu dieser schönen, unbeschwerten Stunde ein entscheidendes Aufwacherlebnis.
Später gingen sie noch einmal zum Kadaver des Xebron. Sauber, wie gereinigt, gebleicht, und poliert lag das Skelett da. Welche Tiere auch immer sich in diesem Wald um das Aas kümmerten, sie hatten perfekte Arbeit geleistet. Was sie irgendwie verwerten konnten, nahmen sie vom Gerippe mit. Aus den Hörnern ließen sich, wenn sie gut ausgehöhlt waren, gute Köcher für Pfeile machen, oder Zunderbüchsen, oder feste Scheiden für Dolche.
Die kräftigen, röhrenartigen Beinknochen eigneten sich für die Einfassung von Spitzen an den Schäften der Speere. Aber auch Ringgeld ließ sich mühevoll daraus schnitzen. Die Quarts aus Beinknochen waren wertvoll und begehrt, insbesondere, wenn der Schnitzer sie zusätzlich mit Verzierungen versehen hatte.
Aus den kleinen Rippenknochen ließen sich Ahle für grobe Lederarbeiten, aus den größeren Griffe für Messer machen. Da ein Xebron keine Reißzähne, sondern nur Mahlzähne besaß, waren diese als Trophäe eher unattraktiv. Den übrigen Berg Knochen ließen sie liegen, wo das große Tier gefallen war.
Als sie am späten Nachmittag ihren Wohnbaum wieder erreichten, lastete eine unerträglich heiße, stickige Schwüle auf dem Land, dass jede ihrer Bewegungen sie zum Schwitzen brachte. Sebastian hatte nicht vermutet, dass sich in diesem riesigen Canyon die Wärme so sehr aufstauen würde. Die Sonne verwandelte das zwischen den Hochebenen liegende Waldland in einen wahren Brutkasten.
Zwangsläufig beschlossen sie, die Zeit bis zum Sonnenuntergang im See zu verbringen. Doch als sie das Wasser mit dem letzten Lichtstrahl verließen, fielen die Moskitos völkerweise über sie her. Gegenseitig mussten sie sich dick mit der nicht gerade angenehm duftenden Paste einreiben, welche Antarona zum Schutz vor den kleinen Blutsaugern angemischt hatte.
Zwar blieben ihnen die Mücken nun vom Leib, doch die Schutzschicht fühlte sich auf der Haut lästig an und alle fühlten sich schmutzig und unwohl. Das Feuer unter ihrem Baum ließen sie weiterglühen, als sie sich zur Ruhe begaben. Der aufsteigende Rauch der Glut mochte noch das eine oder andere Insekt vertreiben. Mit dem Mückenabwehrmittel auf der Haut, war auch das Bedürfnis nach Liebe für diese Nacht ausgesetzt.
Am Morgen, nach einer drückend heißen Nacht, die nur einen unruhigen Schlaf zuließ, stellten die Freunde fest, dass ihr Fleischvorrat gut durchgetrocknet war. Das beflügelte die Vorbereitungen, ihren Weg fortzusetzen. Im Laufe des Vormittags hatten sie ihren Fleischvorrat auf Tragegestelle verpackt, ihre par Habseligkeiten zu handlichen Bündeln geschnürt, und die Waffen umgehängt.
Einzig das neue, große Fell stellte ein Problem dar. Es war noch nicht fertig geschabt, und hatte erst eine von vier Behandlungen mit dem Gerbbrei bekommen. Es musste gespannt bleiben, damit es sich beim Trocknen nicht zusammenzog. Sebastians Kreativität erwies sich als nützlich. Er konstruierte mit Frethnal eine Art ovaler Reuse mit einem Durchmesser von etwa fünfunddreißig Zentimetern, die mittels Schultergurte auf dem Rücken getragen werden konnte.
Alle mussten mit anfassen, um das große Fell gedehnt um das runde Gestell zu wickeln und schließlich festzuzurren. Dort wo das Fell in seiner Windung auf der Haut lag, wurden die großen Blätter eingefügt, um ein Verkleben zu verhindern. Eine solche Transporttechnik war selbst Antarona fremd, und sie zollte Bastis Einfall großen Respekt.
In der Mittagsstunde brachen sie auf, gerade, als die Hitze am schwersten auf dem Tal und dem Wald lastete. Allein die Hoffnung, bald eine kühlere, vom Wind heimgesuchte Region zu erreichen, ließ sie diese Belastung ertragen. Andererseits wollten sie auch nicht des Nachts durch den dichten Dschungel schleichen. Zwar vermochte Antarona ihren Weg zu denken, doch ein verstauchter Fuß, verursacht durch das Loch eines Waselbaus, konnte ihren Weg schnell unterbrechen.
Am Abend fanden sie einen Lagerplatz an einer zusammengewürfelten Felsgruppe nahe eines klaren Baches. Die Steinformation im Rücken, den Bach vor sich, fühlten sie sich einigermaßen Sicher. Ihre Schlafplätze richteten sie sich auf den Felsplatten ein. Was sie im Schlaf überraschen wollte, musste zunächst die Steinhindernisse überwinden.
Der Morgen, kalt, klar und sonnig, begrüßte sie mit dem Duft nach frischem Gras, Blüten und der Luft, die von den Hochebenen herabzog. Die Vögel sangen friedlich, und die Sonnenstrahlen schossen wie Lichtlanzen durch das Blätterdach der Bäume, schienen sich zu bewegen, wenn der Dunst des Bodens durch sie hindurchwanderte.
Sebastian kannte diese Stimmung. Als Kind erlebte er sie, wenn er nach einer Gewitternacht im Sommer in den garten der Großeltern trat, oder später, in seinem Ferienort im Schweizer Wallis zu früher Stunde zu einer Bergwanderung aufbrach. Es roch nach Erneuerung, es entstand ein Gefühl der tiefen Befriedigung und gespannten Erwartung gleichermaßen.
Auch den Gefährten stand die Wanderung in eine Erneuerung bevor. Sie würden an diesem Tag wiederum Neues entdecken, doch immer mit dem Ziel ihrer Sehnsucht: Mehi-o-ratea, dem Dorf der ewigen Jugend, dem Ort, an dem sie in einer Gemeinschaft Gleichgesinnter allen Zwängen entfliehen konnten.
Den ganzen Tag über wanderten sie guter Dinge und ohne Zwischenfälle, um gegen Mittag einen von Vulkanfelsen umrahmten See zu finden, der kühles, klares Wasser in seinem Schoße behütete. Dankbar und voll überschwänglicher Freude sprangen die Freunde in die geschützten Fluten, tobten, spritzten und spielten, bis die Sonne ihnen das Licht versagte.
So vergingen einige Tage, in denen sie ohne nennenswerte Aufenthalte vorankamen, und Sebastian Lauknitz lernte, wie groß die Insel Falméra tatsächlich war. Seine Einschätzung, die auf der Ansicht jener Karte basierte, die er in der Burgbibliothek gefunden hatte, musste er grundlegend revidieren.
Je weiter sie nach Süden vordrangen, desto angenehmer wurde das Klima. Ab und zu wehte ein erfrischender Wind, die lastende Schwüle nahm ab, und mit ihr die Masse an Moskitos.
Aber auch die Landschaft veränderte sich. Die hohen Canyonwände wurden niedriger und rückten immer weiter von der Mitte des Tals ab, bis sie ganz verschwunden waren. Der dichte Regenwald wurde offener, und bald stellten die Gefährten fest, dass Laubbäume vorzuherrschen begannen, die gewöhnlich auch die Täler im Val Mentiér bewuchsen.
Immer häufiger mussten sie nun weite Hügel überqueren, auf deren Kämmen Arven und eine Sebastian unbekannte Kiefernart wuchs. Irgendwann stießen sie auf einen unbefestigten Weg. Die Spuren waren deutlich zu lesen und erzählten ihnen, dass nicht nur Fußvolk auf ihm unterwegs war. Karren- und Wagenspuren waren unmissverständlich zu erkennen.
In der Deckung des Waldes folgten die Freunde dem Weg in einigem Abstand, mehr aus Neugier, als aus praktischem Nutzen. Nach einigen Kilometern, die sie im Verborgenen neben der Straße herschlichen, trafen sie auf einen Kontrollpunkt, der offenbar von einer Kohorte der königlichen Heerlager besetzt war.
Ein provisorisch errichteter Unterstand diente als Schutz vor Regen. Davor patrouillierten die Krieger, als warteten sie auf einen wertvollen Transport. Frethnal und Vesgarina bereiteten in geschützter Entfernung das Nachtlager, während Antarona und Sebastian den Kontrollpunkt beobachteten.
Auf der Straße herrschte nur mäßiger Betrieb. Zumeist Bauern waren es, die den Weg mit ihren Karren und leichten Fuhrwerken befuhren. Sie brachten ihre Erzeugnisse und Fahrgäste nach Falméra und fuhren Tauschwaren und wiederum Fahrgäste zurück. Jene, zum größten Teil jungen Leute, die auf den Wagen mitfuhren und die Beine von den Ladeflächen baumeln ließen, waren zweifelsohne Besucher und Bewohner von Mehi-o-ratea.
Basti und dem Krähenmädchen fiel sofort auf, dass nur jene Wagen und Wanderer kontrolliert wurden, die in Richtung Süden unterwegs waren. Dass gerade junge Frauen, denen die Ähnlichkeit mit Antarona nicht unbedingt abzusprechen war, von den Straßenwachen festgehalten und ausgefragt wurden, bestätigten ihre Vermutung.
»Die suchen dich, Antarona«, stellte Sebastian ohne große Verwunderung fest. »Bental scheint es also ernst damit zu sein, dich den Augen des Volkes zu entziehen. Aus welchem genauen Grund, und wie weit er diese Absicht zu treiben gedenkt, ist mir nicht ganz klar. Kannst du es dir erklären?« fragend sah er seine Frau an. Die hob verständnislos die Schultern und antwortete beinahe beleidigt:
»Ba - shtie, Sonnenherz war die ganzen Zentaren mit euch zusammen! Sie wird nicht mehr wissen, als ihr. Doch Sonnenherz weiß, dass jener, welcher sie in der Burg einsperren lassen mag, nicht ihr Vater sein wird!«
Zustimmend nickte Sebastian. Nichts anderes hatte er von Antarona erwartet. Mochte sie gebürtig tatsächlich eine Prinzessin der Îval sein, als Tochter Bentals sah sie sich nicht, solange dieser sie aus Angst vor Torbuk in den Dachkammern der Burg verbergen wollte!
Sie hatten genug gesehen. Vorsichtig entfernten sie sich von der Straßensperre, und kehrten zu ihren beiden Dienern zurück, die inzwischen ein kleines, rauchloses Feuer unter einem mächtigen Baum entfacht hatten. Antarona hatte ihnen zuvor eingeschärft, ein Feuer nur unter einem Blätterdach anzulegen, damit der Rauch von den Blättern verteilt wurde, und nicht weithin sichtbar war.
Zufrieden begutachtete sie die Feuerstelle, und hängte ihre Waffen an einen Baum, vor dem sie sich setzte und die Beine verschränkte, wie eine Indianerin, die einer großen Beratung beiwohnte. Und beinahe so tat sie ihre Absichten kund:
»Sonnenherz weiß, dass der bequeme Weg dazu einlädt, besser voranzukommen. Doch sie weiß auch, dass sie und ihre Freunde Mehi-o-ratea vielleicht nicht erreichen werden, wenn sie einer Kohorte Bentals in die Arme laufen. Sonnenherz zieht es vor, den Weg durch die Wälder fortzusetzen.« Sebastian unterstrich ihre klare Ansage mit einem deutlichen Kopfnicken und fügte für Frethnal und Vesgarina bindend hinzu:
»Bentals Krieger haben vermutlich den Auftrag, Sonnenherz zur Burg zurück zu bringen. Ohne sie werden wir aber nicht weitergehen. Darum werden wir tun, was sie vorschlägt. Vor den Zugriffen Bentals sind wir wahrscheinlich erst in Mehi-o-ratea geschützt. Da aber auch das nicht sicher ist, sollten wir in jedem Fall vorsichtig sein, und uns erst gründlich umsehen, bevor wir in das Dorf gehen.«
»In der vergehenden Sonne liegt der Weg, welcher überwacht wird«, erklärte Antarona daraufhin, »er kommt von Val Nieort und teilt sich am See von Anderlecht, von wo er nach Mehi-o-ratea führt. Doch in der wandernden Sonne gibt es ebenfalls einen See, welcher durch die Wälder nach dem Dorf der ewigen Jugend abfließt. Diesen Weg durch die Täler und über die Berge meiden die Soldaten, denn ihre Pla-ka können ihn nicht gehen, da er zu unwegsam ist.«
»Dann ist das unser Weg!« stellte Sebastian entschieden fest. Nachdenklich legte er etwas Holz nach, um das Feuer am Leben zu halten. Anschließend nahm er sein Bündel zur Hand, in den der große Lederbeutel eingewickelt war, in dem er unter anderem die goldenen Quarts und seine Aufzeichnungen aufbewahrte.
Umständlich entfaltete er ein Pergament, auf dem eine Karte zu sehen war. Antarona sah zunächst neugierig darauf, wendete ihren Blick dann aber gelangweilt davon ab. Sie konnte mit den für sie undefinierbaren Linien, Flecken und Punkten nicht viel anfangen. Allerdings stach ihr Orientierungssinn jede noch so gut gezeichnete Karte aus.
»Wenn wir diesen Weg gehen«, kommentierte Basti ihren Vorschlag, »kommen wir einen Tagesweg in der schlafenden Sonne vor dem Dorf an die Küste. Nicht weit von Mehi-o-ratea liegen zwei kleine Inseln, und auf der kleineren der beiden muss sich eine Bastion, oder eine Burg befinden.« Antarona blickte erst ihn verwundert, dann schon interessierter die Karte an und fragte:
»Dies alles sagt euch das Papier mit den Zeichen, welche so sind wie die Rinde alter Bäume?« Ihr Erstaunen war nicht gespielt.
Tatsächlich wusste sie von vielen Pergamentrollen und Schriften, die von den Gelehrten angefertigt wurden, doch sie selbst hatte in der Wildnis kaum Verwendung dafür gehabt. Was sie zum Überleben in den Wäldern wissen musste, sagten ihr die Bäume, die Tiere, Bäche und Seen, ja sogar die Winde.
»Ja, das alles steht hier auf diesem Pergament«, bestätigte Basti, »dies und noch vieles mehr!« Er breitete die Karte so aus, dass er Antarona die Einzelheiten erklären konnte. Das Krähenmädchen beugte sich über das große Pergament und fuhr respektvoll, ja fast ehrfürchtig mit dem Finger über die Linien und Beschreibungen. Sebastian nahm ihre Hand und führte sie über die Karte.
»Das sind die beiden Seen, von denen du sprachst, und diese Linien hier stellen die Berge dar«, erklärte er geduldig.
»Hier, diese Linien sollen die Bäche und Flüsse sein, und hier«, er drückte ihren Finger auf das Papier, »ist unser Ziel: Mehi-o-ratea. Diese Flecken«, er wanderte mit ihrem Finger weiter, »sind die Inseln Falrock und Falcóra. Was du dazwischen siehst, diese Linien, die aussehen, wie Fische, das sind die Strömungen des großen Wassers. Irgendjemand hat sie wohl mit einem Stück Treibholz ausprobiert und dann hier eingezeichnet«, vermutete er.
Antarona war sichtlich beeindruckt. Sie ließ ihre Fingerspitzen behutsam über das Papier gleiten, als fürchtete sie, es zerstören zu können, und fragte:
»Vermag das große Pergament auch zu sagen, wo das Wild zieht, welches Sonnenherz und Glanzauge jagen können? Oder wo jene Pflanzen wachsen, die zur Heilung und anderen guten Dingen nützen?« Sebastian lächelte und erklärte ihr:
»Nein, das vermag diese Karte nicht, denn es hat niemand hinein geschrieben. Das Pergament zeigt nur Dinge, die zuvor jemand mit Tinte hinein geschrieben hat. Es gibt nur das Wissen jener wieder, welche sich die Mühe machten, es dem Pergament anzuvertrauen.«
»Das weiß Sonnenherz«, gab sie beleidigt zurück, »sie wollte eben dies wissen, ob jemand jene Orte darin geschrieben hat, an welchen er heilsame Kräuter, Wild, oder andere wichtige Dinge, wie Quellen und Seen gefunden hat.« Sebastian schüttelte mit enttäuschter Miene den Kopf.
»Leider nicht. Ich wünschte mir ebenfalls, dass mehr in diesen Karten stehen würde. Zum Beispiel, an welcher Stelle Torbuk eines Tages beabsichtigt, auf Falméra zu landen, oder wo sich Spione von Quaronas und Oranutu aufhalten. Leider hat diese Karte nicht die wundervolle Eigenschaft von deinem Stein der Wahrheit, und dieser liegt sicher auf dem Grund des Sees im Val Mentiér.«
Sebastian machte kein Geheimnis daraus, dass es für ihn reine Verschwendung war, Antaronas Kristallkugel im See verborgen zu halten, anstatt ihre Eigenschaften zu nutzen. Andererseits musste er sich eingestehen, das er selbst es war, der Antarona geraten hatte, die Kugel im See zu belassen, damit sie nicht in falsche Hände geriet, oder beschädigt wurde.
Er musste zugeben, dass es auf ihrer Wanderung nach Falméra, oder selbst in der Burg hundert Gelegenheiten gegeben hatte, wo die Kugel hätte beschädigt, oder gestohlen werden können. Im Val Mentiér jedoch würden sie eines Tages sicher auf den Stein der Wahrheit angewiesen sein, um das Volk zu schützen, oder zu retten. Basti hob entschuldigend die Schultern.
»Du hast recht, Antarona, ich sollte alle wichtigen Ereignisse und Orte auf dem Pergament verzeichnen. Es mag uns, oder anderen später helfen, wenn sie einen Weg durch die Wälder suchen. Aber ich werde eine feine, eine sehr feine Feder brauchen, um so viele Einzelheiten, wie Felsen, Tümpel, Erdspalten und besondere Bäume einzeichnen zu können!« Antarona sah ihn fest an, nickte bedächtig und sagte:
»Ihr werdet bekommen, was ihr dazu benötigt. Sonnenherz wird euch die dünnste Feder machen, die eure Augen bislang sahen!«
Es fiel Sebastian nicht ein, an ihren Worten zu zweifeln. Es wusste, dass sie stets meinte, was sie sagte. Grundsätzlich nahm er sich auch ohne ihr Versprechen vor, Karten, sowohl von Falméra, als auch vom Val Mentiér anzufertigen, in die er alle Einzelheiten eintragen wollte, die ihm auffielen. Solcherlei Tun hatte den Menschen seit je her geholfen, sich sicher und gezielt in ihrer Welt zu bewegen.
Sollte er zudem talentierte Îval finden, die in der Lage waren, solche Werke zu kopieren, konnte er mit solchen Karten eine Verteidigungsarmee koordinieren und war Torbuk gegenüber deutlich im Vorteil. Bastis Phantasie machte einen großen fiktiven Sprung nach vorn. Antarona holte ihn in die Gegenwart zurück.
»Wenn Sonnenherz und ihre Gefährten den See erreichen, sollten sie dort lagern, und zunächst das Dorf Mehi-o-ratea beobachten. Es ist gut zu wissen, was sie dort erwartet, bevor sie hineingehen«, gab sie zu bedenken. Sebastian sah sie erstaunt an.
»Ich denke, das Dorf ist ein freies Dorf, wo die absolute Freiheit herrscht, und wo der König keine Macht besitzt? Glaubst du, dass es dort eine Falle geben kann?« Mit wiegendem Kopf brachte das Krähenmädchen ihre Unsicherheit hinsichtlich ihrer Kenntnisse über das Dorf zum Ausdruck.
»Es mag viel geschehen sein, während Sonnenherz und ihre Freunde in den Wäldern wanderten. Niemand vermag zu sagen, welche Geister jenen Ort der Freiheit inzwischen besuchten, oder dort auf Ba - shtie und Sonnenherz warten«, antwortete sie vorsichtig.
»Dann werden wir es so machen«, legte Basti fest. Er wusste Antaronas Ahnungen ernst zu nehmen, und es bedurfte keiner großen Anstrengung, sich einen Überblick zu verschaffen, bevor sie das Dorf besuchten.
An diesem Abend aßen sie rasch und löschten dann das Feuer. Auch hielten sie ihr Lager klein, breiteten nur die nötigsten Dinge aus, und gingen früh schlafen. Ein bequemes Lager war das Risiko, entdeckt zu werden, nicht wert.

Die nächsten Tage wanderten sie durch die Wälder, die ihr Gesicht mal zu Nadelbäumen hin, mal zu Laubbäumen veränderten, je nach dem in welcher Höhe sie sich bewegten. Bewaldete Hügel wechselten mit Dschungelhaften Tälern, satter Waldboden löste felsigen Grund ab. Und sie ließen sich Zeit.
Unterwegs nutzten die Gefährten jede Gelegenheit, um Kampftechniken, sowie ihre Schussgenauigkeit mit Pfeil und Bogen zu verbessern. Antarona unterwies Vesgarina und Sebastian in Kräuterheilkunde, sobald sie ein neues, wertvolles Pflänzchen entdeckte. Basti machte sich die Mühe, jedes Landschaftsmerkmal, jeden wichtigen Fund, und jede Geländebeschaffenheit in seine Karte einzutragen.
Ab und zu trafen sie auf einen kleineren, oder größeren See, der zum erfrischenden Bad einlud. Natürlich übten sie dabei sehr gerne ihr Pfeile- Spiel, nichtsahnend, wie wichtig das für sie noch einmal werden sollte.
Die Straße nach Anderlecht und Mehi-o-ratea mieden sie bewusst, und manchmal waren sie sogar durch einige Hügel, oder Berge von ihr getrennt. Das erlaubte ihnen unbeschwerte Nachtlager, und wärmende Feuer, die sich auch während des Schlafens nicht zu löschen brauchten.
Doch jedes Mal, wenn sie der einzigen, von Nord nach Süd führenden Verkehrsachse nahe kamen, schlichen Antarona und Sebastian bis auf Sichtweite heran, und beobachteten die Bewegungen auf dem Weg. Meist waren Bauern und junge Leute auf ihr unterwegs.
Einige Male aber sahen sie auch Kohorten zweier Heerlager vorübermarschieren. Die zugehörigen Heerlager, das wusste Sebastian als Heerführer sehr genau, lagen südöstlich der Stadt Falméra, in den stadtnahen Hügeln. Offensichtlich wurden in regelmäßigen Abständen Kohorten zur Ablösung ausgesandt. Wohin diese Krieger gingen, und welchen Auftrag sie hatten, blieb Basti und dem Krähenmädchen zunächst ein Rätsel.
An einem frischen, sonnigen Morgen stiegen die Freunde von einer felsdurchsetzten Bergflanke herab, in der sie ungestört die Nacht verbracht hatten. Durch einige Lücken im Bergwald erspähten sie tief unten im Tal eine spiegelnde Wasserfläche. Gespannt beschleunigten sie ihre Schritte.
Wider erwarten gelangten sie aber erst einmal in ein enges Tal, in dem links und rechts eines reißenden Baches undurchdringliches Strauchwerk wuchs. Mühsam mussten sie sich am Ufer entlang hangeln, wurden von Dornen und peitschenden Zweigen gepeinigt, und versuchten über glitschige, Algen behaftete Steine abwärts zu gelangen.
Neben ihnen rauschte der Wildbach mit entfesselter Gewalt. Das Wasser schoss mit rasender Geschwindigkeit zwischen mächtigen Felsen dahin, ab und zu von quer über den Wasserlauf liegenden Baumstämmen gebremst.
Den Gefährten war rasch klar, dass sie nicht abrutschen durften. Die Gewalt des Wassers würde sie gegen einen der scharfen Felsen schleudern, oder unter einen der umgestürzten Baumstämme drücken. Bei einem Fehltritt hatten sie kaum eine Chance, diesen Unachtsamkeit ohne gebrochene Knochen, oder eingeschlagenem Schädel zu überleben. Teilweise mussten sie sich gegenseitig sichern, um über ausgesetzte Passagen zu gelangen.
Nach einigen Stunden der Schinderei wurde das Tal endlich breiter, der Bach verlor sich in einem weiten Schwemmboden, verzweigte sich in viele, flache Arme, die durch Ablagerungen mit kleinen, rund geschliffenen Steinen friedlich dahinflossen.
Nicht nur links und rechts säumte nun der Wald das Wasser. Auch zwischen den breit auseinander gezogenen Wasserarmen waren Inseln entstanden, auf denen sich Bäume mit ihren Wurzeln verwegen in den kargen Steinboden verkrallt hatten. Auf einer dieser Inseln machten sie Rast.
»Hier ist es doch geschützt und gut«, bemerkte Frethnal, »vielleicht sollten wir hier die Nacht verbringen. Wir können ein Feuer machen, und sind durch die vielen Wasserarme vor wilden Tieren geschützt.« Sebastian sah ihn zweifelnd an, und warnte mit Blick auf alle:
»Der Platz ist wunderbar, solange die Sonne scheint. Aber in der Nacht wird das Wasser, das von den Bergen kommt, unangenehme Kälte mitbringen. Außerdem kann es gefährlich werden!« Er machte eine weit ausholende Geste, und erklärte:
»Wenn es irgendwo oben in den Bergen ein Gewitter gibt, wenn es auch nur leicht zu regnen beginnt, dann wird das gesammelte Wasser aus den höheren Regionen hier entlang fließen. Der Wasserspiegel kann so schnell steigen, dass uns nicht einmal mehr Zeit bleibt, unsere Sachen zusammenzusuchen.« Vesgarina und Frethnal sahen ihn ungläubig an. Nur Antarona nickte zu seinen Ausführungen.
»Was eben so friedlich dahinplätschert«, machte er deutlich, »wird dann mit einer Wucht daherbrausen, wie wir sie oben im Tal erlebt haben, nur noch gewaltiger. Das kann uns locker bis in den See spülen, und von dort direkt in das Reich der Toten!«
Um seinen Hinweis zu unterstreichen, deutete er auf einige Felsbrocken am Rande der Insel, an denen man deutlich die Spuren früherer Wasserstände erkennen konnte. Die Interpretation überließ er den Skeptikern selbst.
Sie setzten ihren Weg fort, durch eine Welt, die urzeitlicher nicht aussehen konnte. Hier und dort bestimmte noch der steinige Schwemmboden das Bild, machte aber immer mehr einem sumpfigen Seedelta Platz, das links und rechts von alten knorrigen Bäumen und von hohen, zerklüfteten Felsen gesäumt war, die in blendend hellem Grau in den blauen Himmel stachen.
Anfangs wateten sie halbnackt durch die seichten Arme des aufgeteilten Baches. Die Sonne lastete auf dem zwischen den Bergen eingebetteten Delta, und es tat gut, mal bis zu den Knien, mal bis zur Hüfte durch das friedlich dahingurgelnde Wasser zu streichen.
Nach und nach aber wurde die Mündung unübersichtlicher, es bildeten sich langgezogene Inseln, die mit hohem Schilf bewachsen waren. Eine Orientierung war bald nur noch anhand der Felsformationen möglich, die sich jedoch immer weiter entfernten.
Bald wurden die Wasserläufe so tief, dass sie bis auf Brusthöhe in den Fluten standen, und kaum noch über den im Wind dahinwiegenden Schilf hinweg sehen konnten. Der Entschluss, am Rande des Deltas weiterzugehen, kam beinahe zu spät. Die Millionen von hin und her wankenden Halmen wurden bereits vom warmen Licht einer sich neigenden Sonne beleuchtet.
Immer wieder mussten die Freunde Uferböschungen der langgezogenen Inseln erklimmen, um nach ein par Metern durch unwegsames Gestrüpp wieder ins tiefe Wasser zu steigen. Sebastian hatte dabei eine besondere Technik entwickelt, um sein kleines Bündel mit Karte, Tagebuch und den Quarts, mit seinem Amulett der alten Xxxx und dem blauen Licht von Antaronas Tante trocken zu halten.
Wie einen Helm hatte er sich das zu schützende Fellknäuel mit Lederriemen auf den Kopf gebunden, und sah nun aus, wie ein nackter, kanadischer Trapper, der ein unfreiwilliges Bad nahm. Das Gitter mit dem Trockenfleisch trugen sie stets zu zweit hoch über den Köpfen. Die Akrobatik, die dazu nötig war, nicht in den Fluten umzukippen, und die Nahrung zu verlieren, entbehrte nicht einer gewissen Komik.
Sebastian verfluchte die Idee, nur um der Abkühlung willen, durch das Wasser zu waten. Das rächte sich jetzt! Noch bevor sie das eigentliche Ufer erreichten, waren sie sichtlich erschöpft. Auf jedem Inselchen mussten sie eine Pause einlegen. So war es beinahe dunkel, als sie endlich an den Rand des Deltas gelangten, und zu spät, um noch einen geeigneten Lagerplatz im Wald zu suchen.
Auf dem Uferstreifen, der mit gelbbraunem, trockenen Gras bewachsen war, richteten sie sich provisorisch für die Nacht ein. Es war trocken, unerträglich warm und eine hohe Luftfeuchtigkeit lastete auf der Niederung. Mit Regen war jedoch eher nicht zu rechnen. Kaum hatten sie die Felle ausgebreitet, warf sich Sebastian darauf und streckte alle Glieder von sich. Er wollte wenigstens das Gefühl haben, zumindest an der Haut wieder etwas zu trocknen.
Die anderen taten es ihm nach, und sie blickten erleichtert zum Himmel, wo sich hier und dort ein Sternlein traute, durch die Wolkendecke zu spähen. Doch lange hielt der Frieden nicht an. Vesgarina bemerkte als erste, dass sie Besuch bekommen hatten. Unter den amüsierten und verwunderten Blicken ihrer Gefährten begann sie plötzlich sich selbst zu ohrfeigen.
Die anfänglichen Frotzeleien von Frethnal und Sebastian, verging denen aber sehr rasch, als sie merkten, das ganze Armeen von Moskitos über sie herfielen. Gegen solche Feinde half kein Schwert, kein Pfeil und Bogen. Sie waren den Angreifern hilflos ausgeliefert.
Antarona beeilte sich, ihre kleine Kürbisflasche mit dem Anti-Mücken-Mittel aus ihrem Bündel zu holen. Das kleine Behältnis machte so schnell die Runde, wie eine letzte Wasserflasche inmitten einer Wüste zur Mittagsstunde. Nachdem sich alle mit dem Moskitoschutz eingerieben hatten, glänzten ihre Leiber wie blank poliertes Metall. Antarona hatte Auszüge des Mittels in Öl konserviert, um es für längere Zeit haltbar zu machen.
Der Nachteil lag darin, dass dennoch die eine oder andere Mücke, die sich an ihre Körper wagte, auf der Haut kleben blieb, dort elendig verreckte, und sie dadurch bald von totem Getier überzogen waren. Gingen sie aber ins Wasser, um sich von der ekeligen Schicht zu befreien, fielen anschließend wieder die großen Geschwader winziger Angreifer über sie her.
Nach Antaronas Einschätzung blieb das so, bis sich die Luft in fortgeschrittener Nacht abgekühlt hatte. Dann sollten die Plagegeister von selbst verschwinden. Basti war inzwischen versucht, feuchtes Holz ins Feuer zu legen, um eine stärkere Rauchentwicklung zu erzeugen. Seiner Meinung nach, musste auch das erfolgreich gegen Moskitos helfen. Doch Antarona war von der Sinnlosigkeit dieses Versuchs überzeugt.
»Ba - shtie, wir werden alle nur husten und es unsere Augen werden ohne Schmerz weinen! Die kleinen Plagegeister wird das nicht schrecken, jedes Kind des Volkes weiß das!«
Also blieb nur abzuwarten, bis sich alle ihrer kleinen, unzähligen Peiniger auf ihrer Haut niedergelassen hatten, und im Öl ersoffen waren. Dann mochten sie sich in jenem Gewässer von ihren winzigen Leichen reinigen, das bereits heimlich die nächste Moskitogeneration beherbergte.
Missmutig saßen die Gefährten im Gras. Mal von den Männern, mal von den Mädchen hörte man in regelmäßigen Abständen klatschende Geräusche, wenn wieder einmal eine Mücke eine Stelle entdeckt hatte, die nicht vom Öl benetzt war, und ihren Stechrüssel zum Angriff ausgefahren hatte.
Sebastian begann insgeheim die Klatscher zu zählen. Vielleicht hatten sie die gleiche Wirkung wie virtuelle Schafe. Etwas Schlaf war in dieser Situation nicht das Schlechteste. Doch die warme, feuchte Luft ließ ihn schon ohne Bewegung schwitzen. Das mochte eine Nacht werden! Gerade, als er der Schwere seiner Augenlider nachgeben wollte, sah er einen winzigen Lichtpunkt in der Dunkelheit über dem Delta.
Eine weit entfernte Fackel? Das Glimmen einer Pfeife, oder Zigarette? Nein, wer kroch schon in stockfinsterer Nacht durch den Sumpf und rauchte? Aber bewegte sich das Licht nicht? Richtig, es schien auf und ab zu schwingen, wie, wenn jemand sich sehr schwerfällig fortbewegte.
Noch behielt er seine Entdeckung für sich. Er wollte die anderen nicht beunruhigen, wenn er einer Halluzination aufgesessen war. Wenn tatsächlich jemand von ihrer Anwesenheit Wind bekommen hatte, und suchte nach ihnen, dann würde er sich in der Dunkelheit kaum allein durch das Delta wagen. Doch keine Fackel?
Er behielt den Leuchtpunkt im Auge, als dieser plötzlich auf und ab zu tanzen begann, und sich vor die Silhouetten Bäume jener Flussinsel schob, die sie am Nachmittag zuletzt überquert hatten. Also keine Fackel. Das Lichtlein musste winzig sein. Elsiren!
Im Moment, da ihm dieser Gedanke durch den Kopf schoss, gesellte sich zu dem ersten Lichtlein ein zweites. Sie begannen sich gegenseitig zu umtanzen, fuhren unregelmäßig auf und ab, immer nur ein par Zentimeter, wie Basti es von den Mücken her kannte. Diese waren eigenartigerweise plötzlich verschwunden. Vorsichtig beugte Sebastian sich zu Antarona hinüber und flüsterte ihr leise zu:
»Elsiren, sie sind wieder da, dort drüben, bei den Bäumen im Wasser!« Das Krähenmädchen fuhr langsam auf und blickte in die angegebene Richtung. Sebastian sah aus den Augenwinkeln gerade noch, wie die kleinen Leuchtwesen zwischen den Bäumen der gegenüberliegenden Insel verschwanden. Antarona starrte angestrengt in die Nacht hinaus.
»Was redet ihr da von Elsiren, Ba - shtie? Sonnenherz vermag nichts dergleichen zu sehen. Habt ihr bereits geschlafen? Hat die Mutter der Nacht euch sehen lassen, was ihr euch wünscht?«
Natürlich glaubte sie ihm nicht. Die Elsiren waren verschwunden. Elsiren lebten in großen Sümpfen, breiten Schilfgürteln, nicht aber in Flussdeltas. Das zumindest hatte seine Frau ihn gelehrt. Aber er hatte nicht geträumt! Er wusste, was er gesehen hatte! Es konnten nur zwei Elsiren gewesen sein. Zwei, die sich verirrt hatten?
Antarona sank wieder in die Felle zurück, seufzte schwer, und fächelte sich Luft zu. Es war schwül, und die Sterne glommen in gelbem Licht, was auf eine hohe Luftfeuchtigkeit hindeutete. Sebastian beobachtete sie dabei, wie sie leicht ihren Hüftschurz lupfte. Das nasse Leder wollte nicht so rasch trocknen und klebte ihr lästig zwischen den Beinen.
Wie glänzende Bronze schimmerte ihr Körper im Licht der Gestirne, und wäre es nicht so unerträglich warm gewesen, wäre Basti dieser süßen Versuchung hoffnungslos erlegen.
Als er den Blick hob, da sah er sie wieder: Elsiren! Kein Zweifel, es waren die kleinen, Glück verströmenden Feuerelfen, die in den Köpfen der Menschenwesen die schönsten Phantasien auslösten. Doch diesmal hielt er sich zurück, wollte sicher gehen, dass die kleinen Lichter nicht wieder hinter den Bäumen verschwanden.
Mittlerweile hatten sich noch drei weitere Pünktchen dazugesellt. Sie tanzten durcheinander, mal verschwand eines zwischen den schwarzen Stämmen, mal tauchte es wieder auf, und brachte noch weitere mit. Dann, mit einem Schlag waren sie plötzlich alle wieder fort. Basti vermutete, dass sie sich mal auf der einen Uferseite der winzigen Insel, mal auf der anderen sehen ließen.
»Es werden mehr, und sie sammeln sich mal auf dieser Seite, dann wieder auf der anderen Seite der Bäume«. Er sprach es leise und langsam aus, so dass es für Antarona nicht unbedingt als Aufforderung klang, hinzusehen. Dennoch erhob sie sich, wischte sich den Schweiß von ihren Brüsten und dem Bauch, legte schwer atmend die Unterarme auf ihre angewinkelten Knie und starrte mehr gelangweilt auf die dunkle Wasserfläche hinaus.
Dort schimmerte nur das Sternenlicht einmal auf, wenn ein Fisch nach einem Insekt schnappte, die glatte Oberfläche des Wassers durchbrach, und kleine Ringe schuf, die sich langsam ausbreiteten. Was wollte Ba - shtie? Hatte er Lust sich mit ihr zu vereinen? Ausgerechnet in dieser Nacht, wo selbst Nichtstun Schweißausbrüche auslöste?
»Ba - shtie, es ist zu warm!« beklagte sie sich. »Unsere Leiber werden aneinander kleben, wie die honigartigen Wunden der Bäume! Lasst uns ruhen, die neue Sonne wird sehr heiß werden!«
Als er ihr keine Antwort gab, und weiter mit zusammengekniffenen Augen auf den Flussarm hinaussah, legte sie ihm ihre kaltfeuchte Hand auf die Schulter, und sagte:
»Wenn ihr meint, so schwimmt hinüber. Zeigen sich Elsiren, wird Sonnenherz die Nässe nicht scheuen, und euch folgen!« Sie sagte es emotionslos, angestrengt, und ohne sich zu bewegen. Jede ihrer Gliedmaßen, die den leib berührten klebten unangenehm feucht daran fest, produzierten neuen Schweiß, der aus jedem Hautfältchen rann.
Ein Schweißtröpfchen wagte sich aus der Vertiefung ihres Bauchnabels, kitzelte so lange auf der Haut, bis Antarona genervt mit der Hand darüber fuhr. Allein diese Bewegung fiel schwer. Als sie wieder aufsah, hatte Ba - shtie den Platz neben ihr verlassen.
Verwundert sah sie sich um, und entdeckte ihn am Ufer, wo er sich anschickte, ins Wasser zu steigen. Ärgerlich und deutlich genervt stand sie auf und folgte ihm. Was hatte er nun wieder vor? Er wollte doch wohl nicht inmitten der schlafenden Sonne zur Insel hinüberwaten? Niemand, selbst sie nicht, wusste, welche Gefahren im Wasser dieses Deltas lauerten. Einige Tiere jagten ausschließlich während der Dunkelheit!
»Was habt ihr vor, Ba - shtie?« rief sie ihm nach, als er in das optisch schwarze Wasser stieg. Sebastian drehte sich nicht um, rief ihr nur über die Schulter zu:
»Ich suche nur die Elsiren, die du nicht sehen willst!« Zögernd tastete er sich in tieferes Wasser vor, versuchte die Linie zu finden, auf der sie am Nachmittag gekommen waren.
»Kommt zurück, Ba - shtie, es ist gefährlich, sich während der schlafenden Sonne in unbekannten Seen und Flüssen zu bewegen«, ermahnte sie ihn, »die Elsiren kommen auch an dieses Ufer, Ba - shtie, sie wissen, dass Sonnenherz und ihre Freunde da sind!«
Ihr Versuch, ihn aufzuhalten, trieb ihr nur den Schweiß auf die Haut, und sie war versucht, sich ebenfalls in die stillen Fluten zu werfen. Doch die Vernunft bezwang ihren Trieb, sich abzukühlen. Sie wollte warten, bis Basti am Ufer der Insel angekommen war. Sollte ihn irgendeine feindliche Kreatur, vielleicht ein Shistawhan bedrohen, so konnte sie ihm zu Hilfe eilen, was kaum möglich war, wenn sie sich selbst der Gefahr aussetzte.
Wie konnte er nur so unvernünftig sein? War es die belastende Hitze, die ihn dazu getrieben hatte? Sie selbst sehnte sich nach Abkühlung, spürte, wie sich Schweißperlen auf ihren Brüsten bildeten, sich sammelten, und über den Bauch in ihren Schoß rannen, wo sie vom Hüftschurzes gebremst wurden. Oben am Hüftband saugte sich das Leder voll, und bildete einen dunklen Rand, der ihr unangenehm auf der Haut hing.
Wie gerne hätte sie das lästige Lederstück ausgezogen, aber sie erinnerte sich daran, wie Frethnal sie manchmal ansah, und wollte ihn nicht unnötig provozieren. Vesgarina würde es kaum mit überschwänglicher Freude quittieren, wenn sie den ihr Versprochenen mit fremden Verlockungen reizte.
Lächelnd sah sie kurz zu den beiden hinüber, die am kleinen Feuer eng aneinander gelehnt dasaßen, und träumten. Dann lenkte sie ihr Augenmerk wieder auf den Flussarm und Basti. Aber wo war er? Sie strengte ihre Augen und Sinne an, versuchte die Dunkelheit der Wasseroberfläche zu durchdringen, vermochte aber ihren Mann mit den Zeichen der Götter nicht mehr zu erspähen.
Statt dessen sah sie nach einer Weile des fortwährenden Hinausstarrens in die Dunkelheit zwei Lichtpünktchen zwischen den Bäumen der kleinen Insel auftauchen. Das beruhigte sie, denn sie wusste, dass Sebastian, wie sie selbst, Gutes im Herzen trug, und dass Elsiren Menschenwesen mit gutem Herzen schützten.
Wo aber Basti abgeblieben war, vermochte sie sich nicht zu erklären. Als hätte ihn das schwarze Wasser verschlungen. Gerade wollte sie sich ebenfalls in den Fluss stürzen, um nach ihm zu suchen, als sie am rechten Ende des Inselchen eine Gestalt im Licht der Gestirne wahrnahm. Offenbar suchte er nach den Elsiren.
Die kleinen Feuerelfen aber traten inzwischen viel weiter links aus dem Wald, so dass er sie gewiss nicht sehen konnte. Immer mehr dieser kleinen Leuchtwesen sammelten sich am Ufer, tanzten durcheinander, wie ein Moskitoschwarm, und bewegten sich immer weiter auf die Wasserfläche hinaus.
Antarona war versucht, Sebastian mit vorsichtigem Zuruf auf die Elsiren aufmerksam zu machen, unterließ es jedoch, weil sie befürchtete, die scheuen Wesen, und somit das den Menschenwesen heilige Glück zu stören. Möglicherweise hätte sie die Elsiren vertrieben. So blieb sie stumm, ging vorsichtig zu ihren Fellen zurück und setzte sich still darauf, um weiter zu beobachten.
Für sie war klar, dass die Elsiren von der Anwesenheit der Menschenwesen wussten. Diesen kleinen Elfen blieb kaum ein Geschöpf in ihrer Nähe verborgen. Sie besaßen noch talentiertere Sinne, als Antarona das von sich behaupten konnte. Sie unterließ es auch, Vesgarina und Frethnal auf den Tanz der Elsiren hinzuweisen.
Die beiden waren so sehr mit sich selbst beschäftigt, und würden irgendwann von selbst das sich nahende Glück entdecken. Antarona hoffte, dass Sebastian rechtzeitig zurückkommen würde, damit sie den Segen der Elsiren gemeinsam empfangen durften.
Sebastian suchte inzwischen durch dichtes, dorniges und dunkles Unterholz nach einem Weg auf die andere Seite des Inselchen, da er die Feuerelfen dort vermutete. Auch er hoffte, dass das Krähenmädchen ihm folgen würde, und sie das Glück der Elsiren zusammen in einem Liebesrausch erleben konnten.
Mittlerweile waren die Glühwürmchen nicht unähnlichen Geschöpfe bis zur Flussmitte gewandert, und leuchteten durch die Wasseroberfläche in die Tiefe, so dass es aussah, als hätte jemand in der Tiefe des Wassers ein Licht angezündet.
Jedes Mal, wenn ein Insekt die spiegelnde Wasserfläche störte, oder ein Fisch nach Luft schnappte, reflektierten die kleinen Wellen das Leuchten der Elsiren und inszenierten einen sprühenden Feuerzauber auf dem Wasser. Die Zikaden, die für kurze Zeit ihr permanentes Konzert unterbrochen hatten, ließen wieder ruhig ihr Zirpen erklingen. Allein die Moskitos blieben verschwunden. Wahrscheinlich fürchteten sie, im Schwarm der Elsiren schlicht zu verglühen. Bei dem Gedanken musste Antarona still in sich hinein lächeln.
Als die Elsiren dem Ufer und dem Nachtlager der Menschenwesen immer näher kamen, stand das Krähenmädchen auf, starrte wie in Trance auf die sich nähernde, glühende Wolke, und ging langsam bis zur Böschung vor. Im Gehen löste sie die Bändchen ihres Lederschurzes, nahm kaum wahr, dass das die beiden winzigen, von der Feuchtigkeit schwer gewordenen Lederstückchen raschelnd im Gras landeten.
Wie die Götter sie geschaffen hatten, wollte sie das versprühte Glück der Elsiren empfangen, das berauschende Gefühl, das ihr jedes Mal suggerierte, neu geboren zu werden. Aufrecht, im Licht der Sterne und der Elsiren wie eine jungfräuliche, kupfern glänzende Bronzestatue stand sie da, erwartete den Segen jener Geschöpfe, die von den Göttern selbst entsandt schienen.
Je näher die tanzende, rotgelb leuchtende Wolke der Elsiren dem Ufer kam, desto deutlicher und intensiver spürte Antarona das Kribbeln in ihrem Leib, die Schauer, die über ihren Körper rasten und das Summen und Flattern in ihrem Schoß, das sie erfahrungsgemäß bis in eine all ihre Sinne fortspülende Ekstase treiben konnte.
Als wollte sie eine göttliche Gabe empfangen, breitete sie die Arme aus, streckte den Elsiren die Hände entgegen, und ließ ihre Sinne sich ganz auf die kleinen Feuerwesen konzentrieren.
Da! Eine Elsire kam neugierig heran, setzte sich auf ihren Arm, lockte weitere an, und rasch versammelte sich die kleine, glühende Armee auf ihrem Haupt, ihren Schultern und Armen, und überall dort, wo sie Halt fanden.
Ein auf und nieder tanzender Schwarm von Feuerelfen umschwärmte Antarona, und ließ sie aus der Entfernung aussehen, wie mit einem Heiligenschein gesegnet. In ihrem Körper aber begann das Blut zu kochen. Sie spürte, wie ihr Herz leicht wurde, als wollte es selbstständig fliegen...
Nach und nach verließen die Elsiren Antaronas völlig ausgelaugten, zitternden Körper, suchten nach einem weiteren Wesen, das sie mit ihrem Glück betören konnten. Das Krähenmädchen lag schwer atmend im Gras. Nur allmählich sickerte der Verstand zurück in ihren Kopf, und sie begriff, was ihr wiederfahren war.
Sie war erleichtert, aber auch tieftraurig, dass das Gefühl des höchsten Glücks schon vorüber war. Dass mittlerweile eine Zentare vergangen war, hatte sie indes kaum realisiert. Ihr Körper fühlte sich verschwitzt an, abgekämpft, aber auch so, als wäre sie gerade eben geboren worden, als hätte sie in diesem Moment den schützenden, warmen Leib ihrer Mutter verlassen.
Vorsichtig befühlte sie ihre Haut, die mit kaltem Schweiß überzogen war, spürte die abebbende, innere Aufruhr, der sie erlegen war, und streckte langsam die Glieder im Gras von sich. Nur zögernd wich die Hitze aus ihrem Körper und beruhigte sich ihr Atem. Gleichmäßiger und ruhiger hoben und senkten sich ihre Brüste bei jedem Atemzug.
Ihr Blick wanderte hinauf in die unendliche Tiefe der Sternenwelt, die eine Wolkenlücke freigab. Sie sah nicht das heimliche Augenpaar, das sie mit dem Blick der Begierde aus dem hohen Ufergras heraus verschlang...
Sebastian hatte unterdessen das Ufer der gegenüberliegenden, kleinen Flussinsel erreicht, und sich über die glitschige Uferböschung und das dichte Gestrüpp zum Waldrand emporgearbeitet. Klatschnass verhielt er, um sich zu orientieren. Doch von den Elsiren fehlte jede Spur.
Er sah sich um, blickte zurück zum anderen Ufer, konnte aber vor dem Hintergrund der schwarzen Silhouette der Bäume nichts erkennen. Unschlüssig verharrte er. Doch das nutzten die Moskitos für einen Angriff auf seine ungeschützte Haut aus.
Kurz entschlossen arbeitete sich Sebastian am Ufer entlang durch das Unterholz. Die Flussinsel war lang, aber nicht sehr breit. Irgendwo mussten die Elsiren ja geblieben sein. Wenn er die Insel umrundete, würde er sie schon finden!
Bis zur Spitze des kleinen Eilands drang Basti vor. Dort war von Jahrzehnte langen Hoch- und wieder Niedrigwasser eine weit in den Fluss hineinreichende Sandbank entstanden. Als Badestrand an einem heißen Sommertag war dieser Streifen wohl geeignet. Elsiren fand er indes dort nicht.
Auch als er die andere Seite des Inselchen erkundete, war nicht ein Lichtpünktchen zu sehen. War er tatsächlich einer Fatahmorgana aufgesessen? Das warme Wetter, die hohe Luftfeuchtigkeit, und der Sumpf vermochten einem schon Illusionen vorgaukeln. Hatte er sich dermaßen täuschen lassen?
Nun musste Basti sich fragen, ob er bereits wie die meisten Îval nach dem Glück der Elsiren süchtig geworden war. Warum sonst war er mitten in der Nacht über den Flussarm geschwommen? War es nur das Bewusstsein, dass diese kleinen Feuerelfen heilig waren, was ihn trieb? Oder war es doch das durch jede Körperfaser dringende Glücksgefühl, dem er schon hörig war?
Enttäuscht trat er den Rückweg an. Um die Sache abzukürzen, nahm er den direkten Weg durch das Wäldchen, um das andere Ufer zu erreichen. Es waren nur ein par Bäume, die ihn davon trennten. Im Dunkeln wurde aus dem kleinen Hain ein Wäldchen.
Bereits nach ein par Schritten sah er das Wasser im Licht der Gestirne schimmern. War inzwischen der Mond aufgegangen? Aber es war beinahe Neumond! Vermochte die himmlische Sichel so viel Licht auf das Wasser zu werfen? Verwundert trat Basti aus den Bäumen ans Ufer und war überrascht.
Eine wahre Wolke von kleinen Leuchtpunkten bewegte sich auf das gegenüberliegende Ufer zu. Der Anblick erinnerte ihn an ein Bild von der Milchstraße, das er einmal in einem Bildband gesehen hatte. Eine Aura von warmem, gelben Licht umgab das kleine Elsirenvolk, das da unterwegs war. Aber noch etwas weckte seine Neugier.
Drüben am Ufer stand aufrecht, ja geradezu würdevoll eine schlanke Gestalt. Sebastian kannte den bronzenen Schimmer Antaronas Haut in nächtlichem Schein, und wusste, dass sie es war. Wie grazil, wie schön sie war! Eine Prinzessin in ihrer ganzen, vollkommenen, natürlichen Schönheit! Fasziniert starrte er hinüber, und vergaß ganz, dass er ja ebenfalls das Glück der Elsiren gesucht hatte.
Wie durch eine göttliche Fügung war Antarona das Menschenwesen, dass sich die kleinen Glückswesen in dieser Nacht aussuchten. Basti beobachtete, wie sie die Arme hob, als wollte sie die Elsiren einladen, zu ihr zu kommen. Gebannt starrte er hinüber, allein schon von Antaronas Anblick berauscht.
Tatsächlich näherten sich die kleinen Lichtwesen dem Krähenmädchen. Schon ließen die ersten Elsiren sich auf ihren Armen und Schultern nieder. Von weitem sah es so aus, als umgab Antarona plötzlich der Schein einer überirdischen Kraft. Sie schien in eine leuchtende Nebelwolke gehüllt, die mal heller, mal etwas weniger intensiv strahlte.
Dann sah es so aus, als hätte der erste Schauer des Glücks seine Frau erfasst, denn sie begann sich selbst in eindeutiger Weise zu berühren. Die Szene, die sich vor seinen Blicken abspielte, erinnerte ihn an gewisse exotische Tänzerinnen, die in schummrigen Lokalen seiner Welt gut zahlenden Männern die Köpfe verdrehten.
Doch hier hatte das Bild etwas von einer sakralen, heiligen Erscheinung, etwas Ehrfürchtiges, wie eine Geburt, oder Taufe. Freilich vermochte sich auch Sebastian dem erotisierenden Gefühl nicht entziehen, welchen er beim heimlichen Betrachten seines Krähenmädchens empfand.
Rasch stieg er ins Wasser und kämpfte sich mit kräftigen Bewegungen zum anderen Ufer hinüber. Er wollte die Elsiren mit Antarona zusammen erleben! Schon ertappte er sich dabei, wie eine bohrende Eifersucht in ihm hoch kochte, die sich bei jedem Blick auf Antarona noch verstärkte. Er konnte es nicht ertragen, dass seine Frau das Glück erfuhr, ohne ihn mit einzubeziehen.
Viel zu lange brauchte er aber, um bei ihr zu sein. Inzwischen hatten die Elsiren ihren Verstand vernebelt und verborgene Sehnsüchte in ihr geweckt. Die Begierden, die unter dem Einfluss der Elsiren in den Menschenwesen beinahe animalisches Verlangen auslösten, hatten von Antarona längst Besitz ergriffen, als er das Ufer erreichte.
Als er sich die Böschung hinauf gekämpft hatte, war Antarona verschwunden. Wo war sie geblieben? Sie konnte sich in der kurzen Zeit kaum in Luft aufgelöst haben? Basti rieb sich das Wasser aus den Augen, und sah den milchigen Schein der Elsiren zwischen dem hohen Gras des Uferstreifens leuchten.
Verdeckt vom Gras und Gesträuch näherte er sich einer kleinen Senke und traute seinen Augen nicht. Antarona war ins Gras gesunken, umschwärmt von Hunderten von Elsiren, und gab sich den Phantasien hin, welche die kleinen Feuerelfen in ihr auslösten. Ungeniert ließ sie ihren eigenen Händen freien Lauf, und Sebastian wagte nicht, sie zu stören.
Er konnte sich diesem Anblick aber auch nicht entziehen, duckte sich heimlich in die dichte Vegetation und sah seiner Frau fasziniert zu. Er und das kleine Elsirenvolk waren die einzigen Zeugen dessen, welches Verlangen die kleinen Lichtwesen in den Köpfen der Menschenwesen auszulösen vermochten.
Die Sinne aus der Gefangenschaft ihrer Phantasie befreit, konzentrierte sich Antarona wieder auf die Umgebung, und erlangte ihre Wachsamkeit für äußere Einflüsse zurück. Sie spürte, dass sie beobachtet wurde, dass etwas sie verlangend fixierte. Im Herzen und in ihrem Bauch fühlte sie, dass ihr keine Gefahr drohte, dass etwas sie mit reinem Glück erfüllen wollte. Kamen die Elsiren noch einmal zurück? Das wäre wahrlich ungewöhnlich gewesen!
Antarona rollte sich herum, richtete sich auf den Knien ihrer gespreizten Beine auf, gerade, dass sie über das Gras sehen konnte, lauschte angestrengt, und spähte in die Runde. Kurz schloss sie daraufhin die Augen, begann mit ihren Sinnen zu sehen, und sprach dann leise:
»Ba - shtie, wieso verbergt ihr euch vor Sonnenherz?« Ertappt und beschämt, aber auch ziemlich überrascht, erhob Sebastian sich aus der Deckung des Grases, und ging zu ihr. Noch bevor er Gelegenheit hatte, sich auf seine Knie zu hinunter zu lassen, umschlangen ihre Arme seine Beine.
»O, Ba - shtie, Sonnenherz hat euch so sehr vermisst, sie war so leer, so einsam ohne euch!« beteuerte sie mit flehender Stimme. Nun, diesen Eindruck hatte er nicht gehabt. Doch das sagte er ihr nicht. Statt dessen stellte er beinahe vorwurfsvoll fest:
»Na ja, Einsam ist ja wohl nicht ganz richtig, oder hattest du die Elsiren gar nicht wahr genommen, die dich in das Reich des Glücks entführt hatten?« Ihre großen Augen sahen ihn flehend an, beinahe schon entschuldigend. Bettelnd klammerte sie sich an ihn, wie ein Kind, das fürchtete, seine Mutter zu verlieren.
»Mit euch, Ba - shtie, wäre das Glück vollkommen gewesen, nur mit euch ist Sonnenherz wirklich im Glück«, gestand sie ihm mit bebender Stimme. Eigentlich war Sebastian eifersüchtig, enttäuscht und ein wenig wütend gewesen, weil er das Glück der Elsiren nicht mit ihr teilen konnte. Doch nun wurde er flüssiges Wachs in ihren zierlichen Händen...
Später lagen sie eng umschlungen im Gras, spürten den leichten Hauch eines Windes auf ihrer Haut, und ließen sich vom Rhythmus des Blutes in ihren Adern, und dem ruhigen Rauschen ihres eigenen Atems in einen tiefen Schlaf entführen...
     
  Wichtiger Hinweis: Die Texte des Autors Frank Adlung, insbesondere die des Romans "Das Geheimnis von Val Mentiér", sind durch notarielle Hinterlegung urheberrechtlich geschützt. Ein Herunterladen und Ausdrucken ist nur für den privaten Zweck des Lesens gestattet. Kommerzielle Nutzung, öffentlicher Vortrag, oder Vervielfältigung und Verfälschung des Inhalts, sowie öffentliche Verbreitung ohne Genehmigung des Autors sind untersagt und werden zur Anzeige gebracht.
 
 
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