Das Geheimnis von Val Mentiér
 
33. Kapitel
 
Verschleppt
 
m Morgen hatte sich die Luft kaum abgekühlt. Es roch süßlich und schwer nach blühenden Gräsern, Kräutern und Bäumen. Kein Wind regte sich, und es schien, als hätte die Welt einfach aufgehört, sich zu drehen. Über dem ganzen Delta lag ein milchiger Dunst, der sich nicht bewegte, als wäre er dort in der Nacht abgestellt und vergessen worden. Die Sonne sandte ihre Strahlen durch die getrübte Luft, und ließ den Dunstteppich leicht lachsfarben schimmern.
Ebenso, wie die vier Freunde, schienen auch die Tiere keine Motivation zu haben, den Tag zu beginnen. Irgendwo gluckste lustlos ein Wasservogel, und das Konzert der Waldvögel begnügte sich an diesem schwülwarmen Morgen mit verhaltenem Gesang.
Im Nebel, der mit leichtem Modergeruch über dem Wasser und den Ufern lag, meinte Sebastian noch mehr schwitzen zu müssen, als dort, wo die Sonnenstrahlen ungehindert den Boden erreichte. Auf seiner Haut bildete sich ein unangenehmer, kalter Schweißfilm.
Antarona lag noch regungslos unter dem großen Fell. Er hatte es vorsichtig über ihren nackten Körper gezogen, um die Moskitos davon abzuhalten, über das Krähenmädchen herzufallen. Von Vesgarina und Frethnal war ebenso wenig zu hören und sehen. Möglich, dass auch die beiden Besuch von den Elsiren bekommen hatten.
Um seinen verschwitzten Körper zu waschen, sprang Sebastian erst einmal in den Fluss. Das Wasser floss träge dahin, war aber einigermaßen kühl. Allerdings hatte er das Gefühl, dass der Wasserstandspegel in der Nacht gestiegen war. Vielleicht hatte es oben auf der Ebene wieder ein heftiges Gewitter gegeben.
Trotz der langsamen Strömung musste Basti aufpassen, dass er nicht zu weit abgetrieben wurde. Ständig war er gezwungen, seine Position zu korrigieren, und gegen den permanenten Zug des Wasser ankämpfen. Trieb er auch nur einen halben Kilometer ab, was sehr rasch geschah, und kaum zu bemerken war, so musste er die Strecke durch unwegsamen Wald zurücklaufen.
Sein Planschen und Prusten im Wasser rief auch bald die anderen auf den Plan. Als erstes erschien Antarona am Ufer. Plötzlich, hockte sie oben auf der Böschung, wie hingezaubert. Eben noch hatte Basti hingesehen, und eine leere Böschung vor sich gehabt. Einen Lidschlag später sah ihm seine Frau zu, als hockte sie bereits seit einer Stunde dort. Wie machte sie das?
»Sonnenherz hat euch vermisst, als die Mutter der Nacht sie freigab«, beklagte sie sich. Doch ein freches Grinsen auf ihrem Antlitz verriet Basti, dass der Vorwurf wohl nicht ganz ernst zu nehmen war. Er wischte sich das Wasser aus den Augen und antwortete herausfordernd:
»Na, dann komm doch rein, das Wasser ist angenehm kühl, und du musst mich dann nicht mehr vermissen, wenn du mich kriegst!« Die letzten vier Worte sagte er mit einer unterschwelligen Geringschätzung hinsichtlich ihrer Fähigkeiten, ihn zu besiegen. Freilich verstand er das im Spaß, um sie zum Pfeil-Spiel herauszufordern.
Anstatt zu antworten, oder mit Taten zu reagieren, hockte sie weiter oben auf der Böschung, so nackt, wie die Götter sie geschaffen hatten, mit herabhängender, strähniger Mähne, und starrte scheinbar wie gebannt hinter Basti auf die Wasserfläche, als hätte sie dort etwas Spektakuläres entdeckt.
Sebastian dachte spontan an ein Krokodil, oder an eine Schlange, und drehte sich erschrocken um. Das war sein Fehler. Er hörte nur ein heftiges Aufschlagen auf die Wasserfläche und ein Spritzen hinter sich. Als er sich wieder zurückdrehte, sah er nur noch die Ringe und Blasen, wo das Krähenmädchen in den Fluss getaucht war. Sie hatte ihn wieder einmal ausgetrickst!
In dem trüben Gewässer hatte er kaum eine Chance, ihre Position auszumachen. Antarona wusste das und machte sich diesen Umstand zunutze. Sie hingegen hatte den Vorteil, ihn mit ihren Sinnen spüren zu können, ohne ihn zu sehen, ohne auftauchen zu müssen.
Zielstrebig schwamm sie an ihn heran, umschlang seine Waden fest mit ihren Armen und zog ihn kurz in die Tiefe. Doch die Beine, die sie gefangen hielt, begannen so heftig zu treten und auszuschlagen, dass sie diese wieder frei gab und sich rasch entfernte, um nicht noch unglücklich getroffen zu werden.
Basti war darauf vorbereitet, irgendwann mit Steinchen in der Hand aufzutauchen, und seine Geliebte mit den virtuellen Pfeilen zu beschießen, oder selbst unter Beschuss zu geraten. Dass ihn eine unbekannte Kreatur angriff, kam ihm ebenso wenig in den Sinn, wie die Möglichkeit, dass Antarona die Spielregeln geändert hatte.
In panischer Angst begann er zu strampeln, und sich gegen die vermeintliche Riesen- Wasserschlange zu wehren, die versuchen wollte, sich ihn mit Haut und Haaren als Frühstück einzuverleiben. Seine Hände gaben die Kiesel frei, die er vom Grund aufgesammelt hatte, er ruderte verzweifelt mit den Armen und schluckte einen gehörigen Schwall des unappetitlichen Wassers.
So plötzlich, wie es angegriffen hatte, ließ das unbekannte Tier wieder von ihm ab. In heilloser Angst schoss er nach oben, nur heraus aus der beklemmenden Tiefe, um so schnell er konnte, aufzutauchen. Kaum hatte sein Kopf die Wasseroberfläche durchstoßen, sogen sich seine Lungen voll Luft, als wäre es der letzte Atemzug seines Lebens.
Doch kaum hatte er sich das Wasser aus den Augen gewischt, da prasselten eine ganze Ladung Kiesel auf sein Haupt nieder. Überrascht zuckte er unter dem gespielten Pfeile- Schauer zusammen. Als er sich endlich umsah, zeigten sich ihm nur noch ein paar Wellenringe, wo das Krähenmädchen wieder in der trüben Brühe abgetaucht war.
Noch überlegte er, wie er seinerseits nun sie täuschen konnte, da schoss sie neben ihm bereits erneut aus dem Wasser. Fast gleichzeitig ließ er sich absacken. Die Kiesel, die sie wiederum auf ihn geschleudert hatte, verfehlten ihr Ziel.
Sebastian wusste, dass sie länger tauchen konnte, als er, und sie würde es schamlos ausnutzen, und erst im letzten Augenblick wieder hoch kommen. Also tauchte er noch einmal ohne Munition auf, um noch einmal tüchtig Luft zu holen. Mit vollen Lungen ließ er sich ein weiteres Mal absinken. Diesmal aber drehte er sich und ruderte mit weit ausladenden Armen. So glaubte er zu verhindern, dass sie ihn erneut aus dem Nichts attackieren konnte.
Und ihm fiel eine weitere List ein. Ohne sich mit Kiesel zu bewaffnen, setzte er seine ganze Kraft ein, um ans Ufer zu gelangen. Dort erklomm er so schnell es ihm gelang, die Böschung. Oben angekommen las er sich die kleinen Steinchen aus dem Boden. Dabei beobachtete er mit Adleraugen die Wasserfläche des Flusses.
Da! War dort nicht eben ein Luftbläschen aufgestiegen? Manchmal entstanden Bläschen, wenn man die Kiesel vom Grund aufnahm. Einem guten Beobachter verrieten sie die Position des Gegners. Basti konzentrierte sich auf diese Stelle, ließ aber auch den Rest des Flusses nicht aus den Augen. Ohne weiteres traute er Antarona zu, auch dieses Bläschen als pure Ablenkung verursacht zu haben.
Dort, ein Wirbel an anderer Stelle! Jetzt oder nie, dachte Sebastian und warf die Steinchen zielgenau einen Halben Meter weiter stromauf, denn er rechnete die Abdrift der Strömung mit. Direkt unter dem Pfeile- Hagel tauchte Antarona auf, spürte die stechenden Treffer auf ihrem Kopf und verschwand wieder, ohne Luft zu holen.
Ein Stück näher am Ufer schoss sie dann aus dem Wasser. Zorn spiegelte sich auf ihrem Gesicht wieder und ihre Augen funkelten wild unter dem Vorhang ihrer triefenden, langen Haare hervor. Sebastian ahnte, was jetzt kommen würde, denn er kannte diesen Gesichtsausdruck an ihr nur zu gut.
»Müsst ihr euch solch hinterlistiger Taten bedienen, um Sonnenherz zu besiegen?« fauchte sie und schnaubte das letzte Wasser aus ihren Atemwegen. Prustend stampfte sie durch das hüfthohe Wasser auf ihn zu, was sehr komisch aussah, und ihn an einen wild gewordenen Besen mit zu lang geratenen Borsten erinnerte.
»Ihr habt gegen die Regeln gehandelt, es ist verboten, das Wasser während des Spiels zu verlassen«, tobte sie lautstark, erklomm wie eine Krabbe mit hölzernen Beinen die Böschung und baute sich vor ihm auf, als könnte sie ihn mit ihrer puren Anwesenheit im Boden versinken lassen. Wütend strich sie sich die nassen Haare hinter die Ohren.
Sebastian musste schmunzeln. Süß sah sie aus, wie sie sich vor ihm aufplusterte, die kleinen Fäuste in die Hüfte gestemmt, zierlich, kaum ein Gramm Fett auf den Rippen, triefend nass, und so nackt, wie die Götter sie geschaffen hatten. Wie ein kleines, gerupftes Vögelchen, dass vor einem Bären auf und ab hüpfte, dachte er still für sich. Dennoch würde sie den Sieg davon tragen. Denn ihrer Schönheit und ihren Reizen war er hoffnungslos erlegen.
So einfach aber wollte er es ihr nicht machen, setzte eine gespielt entrüstete Miene auf, winkte mit einer Hand ihre Vorwürfe ab und konterte:
»Ach, nun hör schon auf, was soll das? Im Wasser aus dem Verborgenen angreifen, wie ein Sis-tà-wàn ist auch nicht erlaubt! Dabei kann man ja einen Herzschlag kriegen. Außerdem, was beklagst du dich? Hast doch gar nicht so schlecht abgeschnitten dabei. Kannst wohl nicht verlieren, was?« unkte er. Anstelle einer gepfefferten Antwort von seinem nassen Krähenmädchen erklang eine verschlafene Stimme hinter ihm.
»Bei den Göttern, was macht ihr für einen Lärm an einem so friedlichen Morgen, an dem noch nicht einmal die Vögel erwacht sind?« Frethnal und Vesgarina waren hinter ihnen aufgetaucht. Man konnte ihnen ansehen, dass sie eine lange und heiße Nacht erlebt hatten. Offenbar waren sie ebenfalls von den Elsiren heimgesucht worden. Sie sahen beide übermüdet, aber unendlich glücklich aus.
»Nun, so wie es aussieht, hat eure zukünftige Königin ein Problem damit, auch mal eine Niederlage einzustecken«, kommentierte Basti auf humorvolle Weise den Grund für den Lärm.
»Niederlage?« keifte Antarona aufgebracht dazwischen, »dieser hinterhältige Recke hier hält sich nicht an die Regeln, weil er sonst seine kleine Frau nicht bezwingen kann, das trifft es wohl eher, nicht wahr?« Nun hatte Sebastian genug von den Kindereien und machte einen Schritt auf seinen wilden Besen zu.
»Aber so hört doch auf, ihr schreit herum, als wollte man euch an die Kehle« dokumentierte Frethnal die Szene und fügte noch hinzu:
»Ist ja kein Wunder, wenn alle Tiere in der Umgebung verstummen. Die trauen sich schon gar nicht mehr, die Sonne zu begrüßen.«
Sebastian wollte gerade seine kleine Frau mit seinen kräftigen Armen schnappen, hielt aber inne und lauschte. Tatsächlich. Es war totenstill. Keiner der vielen Wasservögel war zu hören, die Stimmen des Waldes waren verstummt, ja nicht einmal die Singvögel, die noch vor einer halben Stunde, zwar verhalten, aber zuverlässig ihr Morgenlied angestimmt hatten, gaben einen Ton von sich.
Die Stille, die inzwischen über dem Flussdelta lag, war geradezu gespenstisch. Antarona aber war so in Fahrt, dass sie die plötzliche Ruhe gar nicht wahr nahm. Sie deutete Sebastians plötzliches Innehalten als Schwäche, und trumpfte auf:
»Ach, es ist wohl doch nicht so weit her mit eurer Überlegenheit, O' großer Götterkrieger, was? Hat euch plötzlich der Mut verlassen, oder gebt ihr zu, dass ihr Sonnenherz mit hinterlistiger Tücke um den Sieg prellen wolltet?« Sie machte einen Schritt auf ihn zu und stieß ihn mit drei Fingern vor die Brust.
Es war offensichtlich. Sie wollte ihn herausfordern. Aber gerade das zeigte ihm, dass ihr wahrer Zorn bereits verraucht war. Grinsend drehte er sich zu seinem Diener und dessen stummen Geliebten um und sagte provokativ:
»Was meint ihr, Frethnal und Vesgarina, wollen wir das vorlaute Geschöpf hier in hohem Bogen ins Wasser werfen? Mal sehen, wie die Sonnenkriegerin mit drei Feinden fertig wird«.
»Lasst’s mal gut sein, Herr, wir sind noch zu müde, um jetzt schon ins Wasser zu springen«, beteuerte sein Diener und Vesgarina nickte beipflichtend dazu. Abwinkend erklärte er:
»Wir bleiben hier in der blassen Sonne sitzen und werden darüber wachen, dass ihr beide nicht betrügt!« Antarona hatte ihn kaum ausreden lassen, stupste ihren Mann mit den Fäusten vor die Brust, so dass er immer weiter zurückwich und zischte:
»Ein vorlautes Geschöpf, ja? So seht ihr Sonnenherz? In der Nacht habt ihr das aber noch anders gesehen, oder irrt Sonnenherz da? Ihr könnt Sonnenherz zurück ins Wasser folgen, dann wird sich schon zeigen, wer...«
Weiter kam sie nicht. Sebastian packte das kleine, nackte Mädchen, das kaum eine Belastung für seine Arme darstellte, und hob sie hoch. Sie strampelte wie ein Fisch auf dem Trockenen und hieb ihm ihre kleinen Fäuste auf den Rücken, doch er hatte sie fest im Griff.
»Zurück ins Wasser?« wiederholte er mehr wie eine Feststellung, »das kannst du gleich haben, hier, das kühlt dein Gemüt wieder etwas ab!«
Damit warf er sie in hohem Bogen über die Böschung ins Wasser, das so hoch aufspritzte, als wäre ein Meteor vom Himmel in den Fluss geschlagen. Ohne zu zögern sprang ihr Basti nach. Er wollte ihr nicht noch einmal die Gelegenheit geben, sich im trüben Wasser Unsichtbar zu machen, um ihn dann aus dem Hinterhalt anzugreifen.
Gerade noch registrierte er die Wasserringe, wo das Krähenmädchen in die Fluten getaucht war. Schon ließ er sich absacken, hielt die Luft an, und füllte seine Hände mit kleinen Kieseln vom Grund. Er wartete solange, bis ihm die Lungen zu platzen drohten, bewegte sich aber diagonal zur Strömung, um eine Abdrift zu verhindern.
Antarona mochte annehmen, so schätzte er, dass er ein paar Meter weit abtrieb. Die sollte sich wundern! Nachdem er so lange gewartet hatte, bis es fast schon zu spät war, nahm er all seine Kraft zusammen und ruderte mit kräftigen Armschlägen an die Oberfläche.
Trotz knapper Atemluft disziplinierte er sich aber so weit, ganz langsam aufzutauchen, um kein Geräusch zu verursachen. Das Wasser lief ihm aus den Augen, und da sah er sie. Wie vermutet lauerte Antarona etwas Stromab, etwa auf der Position, die er selbst errechnet hatte, und fixierte den Wasserspiegel.
Sofort holte Basti aus und schleuderte ihr beide Ladungen Steinchen entgegen. Dieses Geräusch aber hörte sie, wirbelte herum und ließ ihrerseits die Kiesel durch die Luft sausen. Patt! Beide mussten sich unter dem schmerzhaften Hagel ducken. Augenblicklich tauchte Sebastian wieder ab.
Doch er ließ sich nicht zum Grund sinken, um neue Munition zu fassen, sondern tauchte gleich wieder auf, um noch einmal tief Luft zu holen. Dann verschwand er in der Tiefe und probierte eine neue Taktik. Mit den Händen krallte er sich in den Grund und zog sich Meter für Meter, Elle um Elle die Strömung hinauf. Mit wild paddelnden Füßen unterstützte er sein Bemühen, ungesehen Stromaufwärts zu gelangen.
Diesmal sollte Antarona staunen, wo er auftauchte! Mit der zwischendurch getankten Luft rechnete er sich noch zusätzlich einen Vorteil aus. Als er meinte, weit genug entfernt zu sein, stemmte er sich mit den Beinen kräftig vom Grund ab, und schoss hoch.
Falls sie ihn bereits erwartete, sollte sie durch sein plötzliches Auftauchen zu einer vorschnellen Reaktion verleiten. Dabei wollte er sich sofort zur Seite werfen, sobald er aufgetaucht war.
Er kam so schnell hoch, dass er bis zu den Hüften aus dem Wasser glitt. Auf Brusthöhe ließ er sich dann zurücksacken, warf sich wahllos zur Seite, um ihren Steinchen auszuweichen, und sah sich dann um. Keine Antarona. Sie war noch unter Wasser. Aber wo?
Mochten etwa Frethnals und Vesgarinas Blicke ihren letzten Standort verraten? Gewiss beobachteten die beiden den Wettkampf. Sebastian drehte sich der Böschung zu... Und erstarrte.
Dort, wo die beiden Freunde auf der Böschung gesessen hatten, standen, wie aus dem Boden gewachsen, und still wie versteinert, eine lange Reihe schwarzer Reiter. Stumm und reglos standen die Krieger wie Statuen in Reih und Glied und sahen auf Basti herab. Von Frethnal und Vesgarina keine Spur.
Bevor Basti die Anzahl der bedrohlich wirkenden Wand feindlicher Reiter abschätzen konnte, sirrten schon Pfeile durch die Luft. Dieses Geräusch hatte sich in seinem Gedächtnis manifestiert. Erst jetzt registrierte er, das zwischen zwei Reitern jeweils ein Bogenschütze positioniert war. Da die Schützen knieten, hatte er sie zunächst gar nicht wahrgenommen.
Noch beim Abtauchen spürte er einen stechenden Schmerz in seiner rechten Schulter. Ein Pfeil hatte ihn doch noch erwischt. Ein echter Pfeil, kein Kiesel! Sebastian ließ sich bis zum Grund sinken, und gleichzeitig stieg die Angst um Antarona in ihm hoch.
Wo war das Krähenmädchen? War sie noch getaucht, und hatte gar keine Ahnung von der Gefahr? Wo waren all diese schwarzen Krieger plötzlich hergekommen? Wo waren Frethnal und Vesgarina? Fragen, die ihm in Sekunden durch den Kopf schossen. Darüber vergaß er fast, seine Position zu verändern. Die Pfeile der Reiter würden ihn voll erwischen, wenn er die Bogenschützen nicht austrickste.
Was bislang Spaß war, was sie so oft im Spiel zur eigenen Belustigung und im spielerischen Wettkampf geprobt hatten, war plötzlich blutiger Ernst geworden. Und hätte Basti nicht die List gebraucht, sich unmittelbar nach dem Auftauchen zur Seite zu werfen, so würde er inzwischen mit dem Bauch nach unten und aus unzähligen Wunden blutend den Fluss hinab treiben.
Was sollte er jetzt tun? Die Luft wurde rasch knapp, schneller, als im Spiel. Er war zu aufgeregt, und musste sich unbedingt zur Ruhe zwingen. Den Schmerz in der Schulter ignorierte er erst einmal.
Irgendwo musste er auftauchen, wo ihn die Reiter nicht vermuteten, wo ihn Deckung schützen konnte. Sofort viel ihm das Inselchen im Fluss ein, wo er in der Nacht die Elsiren gesucht hatte. Konnte er es bis dorthin schaffen? Einen Versuch war es Wert. Doch er musste sich diagonal zum Strom bewegen, um nicht hoffnungslos abzutreiben.
Sebastians Gedanken kreisten immer noch um Antarona, während er sich mit den Händen im Grund verkrallt, vorwärts zog. Seine Angst um das Krähenmädchen lenkte ihn von der knappen Atemluft ab, spornte ihn sogar zu höherer Leistung an. Als seine Hände in die ersten Schilfhalme des gegenüberliegenden Ufers griffen, fuhr ihm zunächst ein riesiger Schreck durch Mark und Bein. Er meinte, die Lanze eines der Reiter zu berühren.
Doch dann kam ihm instinktiv der rettende Einfall. Die List, mit der ihm Antarona einmal gehörig Angst eingejagt hatte. Voll konzentriert befühlte er die Schilfhalme, brach drei von ihnen an geeigneter Stelle ab, und zog sie langsam unter Wasser. Schnell brach er auch die Spitzen, steckte sich die dicken Enden in den Mund und drehte sich auf den Rücken.
Die Wasseroberfläche schimmerte knapp über seinem Kopf, und verschwommen sah er die drei Stängel über ihm aus dem Wasser ragen. Hoffentlich sahen das nicht auch seine Feinde. Bedächtig blies er ganz langsam das Wasser aus den Halmen, zuletzt, mit letzter Luft, blies er sie ganz frei.
Erleichtert holte er Luft, zwang sich zum ruhigen Atmen, damit die Halme nicht unnatürlich wackelten oder vibrierten. Als auch nach ein par Sekunden noch keine Pfeile in seinen Bauch eindrangen, konnte er sicher sein, dass ihn die fremden Krieger aus den Augen verloren hatten. Wenn er sich eine Weile ruhig verhielt, mussten die annehmen, ihn getroffen und getötet zu haben.
Eine Weile hatte er Mühe, sich in der Rückenstellung knapp unter dem Wasserspiegel zu halten. Das erforderte eine gewisse Konzentration. Doch seine Sorge um Antarona und die beiden Freunde lenkte ihn immer wieder ab. Irgendwie zwang er sich aber zu rationeller Überlegung.
Erst einmal musste er aus dieser beengten Lage heraus. Wenn er nur in das Dickicht des Inselchen gelangen könnte. So schärfte er seine Sinne und wagte es. Langsam schob er sich gegen die Strömung am Ufer entlang, mit den Fersen im Grund als Antrieb, mit den Armen das Gleichgewicht haltend, Stückchen für Stückchen, denn er durfte sich nicht zu schnell bewegen, um nicht doch noch aufzufallen.
Mit dem gleichzeitigen Balancehalten, gestaltete sich das Vorhaben als reine Akrobatik, und er hatte das Gefühl, unter Wasser in Schweiß ausbrechen zu müssen. Immer wieder ermahnte er sich selbst, langsam zu machen, keine hastigen Bewegungen zu riskieren, und ruhig zu atmen.
Ein par Mal streifte er mit seiner getroffenen Schulter einen versunkenen Baumstamm, oder einen größeren Stein. Der Schmerz trieb ihm dann jedes Mal die Tränen in die Augen. Unter Wasser! Er hatte nicht gedacht, dass so etwas möglich wäre.
Im Geiste vollzog er den Weg, den er auch in der Nacht zurückgelegt hatte, um die Elsiren zu finden. Bald meinte er weit genug gekommen zu sein. Vorsichtig hob er den Kopf aus dem Wasser, die Schilfhalme mit einer Hand festhaltend, denn die würde er vielleicht noch brauchen.
Geradewegs war er in den Schilfgürtel am Strom aufwärts befindlichen Ende des Inselchen gerudert. Die Halme standen an dieser Stelle nicht sehr dicht, verbargen ihn aber so weit, dass er es wagen konnte, im seichten Wasser weiterzukriechen, um bessere Deckung zu erreichen.
Erst als er sich in das Uferdickicht hinaufgezogen hatte, riskierte er einen Blick zurück zum Waldrand gegenüber. Noch immer standen die Reiter und die Bogenschützen lauernd und spähend auf der Böschung. Blass schimmerten ihre Waffen in der Sonne, was bei den durchweg schwarzen Rüstungen und der ebenfalls dunklen Kleidung ziemlich futuristisch und furchteinflößend aussah.
Offenbar waren sich die Reiter nicht sicher, ob sie Basti ins Reich der Toten geschickt hatten. Oder hatten sie bereits Antarona im Visier? War sie ihnen entkommen, und ebenfalls abgetaucht? Zu viele Wenn’s und Abers. Sebastian tastete an seiner Seite herunter, der automatische Griff nach der Waffe. Aber nicht einmal sein Bowie- Messer trug er bei sich.
Außer seinem Lederschurz, der nun unangenehm nass an seinen Beinen klebte, und ihm in der gebückten Haltung im Unterholz lästig erschien, trug er nichts am Leib. Angestrengt spähte er zu dem Punkt hinüber, wo Antarona und er ihre Waffen und Felle in einer Senke im Schutz eines Felsen liegen hatten.
Die Reiter standen noch ein gutes Stück weit davon entfernt. Gedanklich betete Sebastian zu den Göttern, der Feind möge ihre letzte Habe noch nicht entdeckt haben, und auch nicht mehr finden. Nantakis, Antaronas Schwert in den Händen dieser Barbaren, eine nicht auszudenkende Katastrophe!
Fieberhaft dachte Sebastian nach, was er tun konnte. Ohne Waffen eigentlich gar nichts, das war ihm bereits klar. Im Grunde blieb ihm nichts weiter übrig, als abzuwarten, bis die Reiter abgezogen waren. Dann konnte er zum Lagerplatz zurückkehren, um zu sehen, was noch da war. Und er musste Antarona und seine Freunde finden, wenn sie bis dahin nicht wieder aufgetaucht waren.
Da von Antarona noch immer nichts zu sehen war, befürchtete er das Schlimmste. Mittlerweile suchten ihn die Moskitos heim und begannen ihn aufzufressen. Das still im Ufergebüsch hockende Menschenwesen, war geradezu eine Einladung für sie. Basti wagte aber nicht, sie zu vertreiben. Jede heftige Regung konnte vom anderen Ufer aus gesehen werden.
Wie einer inneren Eingebung folgend, begann er mit langsamen Bewegungen seinen Körper, die Gliedmaßen und das Gesicht mit Schlamm einzureiben. Dieser bot den besten Schutz gegen die kleinen Plagegeister. Früher hätte ihn nichts dazu bewegen können, auch nur die Finger mit dem Dreck zu benetzen. Nun folgte er wie ganz selbstverständlich Antaronas Überlebensstrategien, die sie ihm beigebracht hatte.
Nur im ersten Moment drang der moderig- fischige Geruch des Schlamms in seine empfindliche Nase. Als er sich daran gewöhnt hatte, und das Material auf seiner Haut zu trocknen begann, stellte er fest, dass diese Packung, die Frauen in seiner Welt für viel Geld in Drogeriemärkten kauften, zusätzlich seiner Tarnung dienten. Er wurde eins mit dem dunklen Hintergrund des Uferdickichts.
Außerdem kühlte das Zeug seine Wunde an der Schulter. Er befühlte die Stelle, konnte aber außer frischem Blut und einem stechenden Schmerz nichts feststellen. Wahrscheinlich hatte er Glück gehabt, und der Pfeil war gar nicht erst tief eingedrungen. Möglicherweise hatte er selbst die Verletzung noch vergrößert, als er unter Wasser einige Hindernisse touchiert hatte.
Nun versuchte er die Stellung zu wechseln, um noch besser die gegenüberliegende Böschung beobachten zu können. Geräuschlos schlich er durch das Unterholz, den Blick auf den Boden und gleichzeitig auf die düstere Reihe der Reiter drüben gerichtet, die immer noch in ihrer Position ausharrten.
Wie stumme Wächter eines bösen Ortes standen sie da, suchten die Wasseradern des Deltas ab, und schienen kein weiteres Ziel zu haben. Wieso hielten die sich damit auf, ein par armselige Wanderer aufzuspüren? Wussten sie, wer Sebastian, Antarona und ihre Gefährten waren? Oder wollten sie einfach nur sicher gehen, dass keine Zeugen von ihrer Anwesenheit auf Falméra berichten konnten?
Sein Gedanke darüber wurde unterbrochen, als plötzlich etwas wie ein schmerzhafter Peitschenhieb gegen seine Wade schlug. Im ersten Augenblick dachte er an den hinterhältigen Biss einer Schlange. Doch es war nichts zu sehen. Seine Hand tastete nach der Stelle, doch er konnte keine Verletzung feststellen.
Da zwickte der gleiche Schmerz in seinen Handrücken, so dass er seinen Arm schnell zurückzog. Was war das? Angestrengt blickte er in das Dickicht, das im Schatten der Bäume lag, und kaum Einzelheiten preisgab. Er suchte den Boden nach etwas ab, das ihn möglicherweise angegriffen hatte. Nichts. Nur Erde, Blätter, Sträucher, ein Wirrwarr aus grauer, vermoderter Vegetation.
Doch unverhofft, direkt vor ihm, leuchtete in dem eintönigen Dunkel des Unterholzes ein weißes Augenpaar auf, das ihn offen anstarrte. Sebastian erschrak dermaßen, dass er beinahe rücklings aus der Deckung heraus und in den Fluss stürzte. Im letzten Moment griff er nach einem Ast, und zog sich zurück in die dichte Vegetation.
»Pssst! Macht nicht solchen Lärm, Ba - shtie!« zischte es aus der Wand von Blättern, Geäst und Gräsern. Ba - shtie? So nannte ihn nur ein einziges Menschenwesen!
»Antarona?« flüsterte er, und tastete sich durch das Unterholz in Richtung der Augen, die ihn angeglotzt hatten. Da packte ihn blitzschnell die kleine Hand des Krähenmädchens am Arm, und aus der optisch einheitlichen Gefüge des dichten Bewuchses löste sich der schmale Körper Antaronas wie ein Stück lebendig gewordener Kulisse. Ebenso wie er selbst war sie von oben bis unten dick mit Lehm und Schlamm bedeckt, so dass sie vor dem natürlichen Hintergrund so gut wie unsichtbar wurde.
Erleichtert atmete er auf. Die Sorge um seine Frau und die Überraschung schlug in Freude um. Flüsternd fragte er:
»Wie bist du denen entkommen, und was ist mit Frethnal und Vesgarina?« Ermahnend legte sie ihm ihre Finger auf den Mund, und bedeutete ihm, nur in der Zeichensprache zu kommunizieren. Offenbar befürchtete sie immer noch, entdeckt zu werden.
Stumm deutete sie auf die Schilfhalme, die er immer noch in der Hand hielt, und nickte mit dem Kopf. Sie hatte also den gleichen Einfall gehabt, um den feindlichen Pfeilen zu entkommen. Allmählich wurde ihm klar, dass ihnen ihre Wasserspiele mit den Kieseln das Leben gerettet hatten.
Ohne dass es ihm wirklich bewusst geworden war, hatten sie im Spiel eine Kampftechnik eingeübt, die zum Ziel hatte, feindlichem Pfeilhagen zu entgehen. Ihre ständigen Spiele waren ein gutes Training, das ihnen sogar gegen viele Bogenschützen einen Vorteil verschaffen, und beinahe unsichtbar machen konnte.
Sebastian machte das Zeichen von Mann und Frau, und wies zur gegenüberliegenden Böschung, dort wo Vesgarina und Frethnal gesessen, und ihnen zugeschaut hatten. Antarona hob die Schultern zum Zeichen, dass sie über deren Verbleib nichts wusste.
Ebenso ratlos war sie, als er das Zeichen für Nantakis machte. Dafür bedeutete sie ihm, dass sie warten wollten, bis die Reiter ihre Suche aufgegeben hatten. Mit zwei auf der Handfläche laufenden Fingern und einer ausholenden Bewegung mit der Hand erklärte sie ihm, dass sie einen großen Bogen um die Reiter machen wollte, um dann zu dem Platz zu gehen, an dem sie Waffen, Proviant und Felle zurückgelassen hatten.
Basti nickte zustimmend, federte aber mit den Handflächen in der Luft. Sie sollten nichts überstürzen. Damit, dass sie den schwarzen Kriegern in die Falle tappten, konnten sie ihren Freunden nicht helfen. Antarona gab ihm ein deutliches Zeichen, sich leise vom Ufer in das Innere des Inselchen zurückzuziehen.
Leise schlichen sie durch das mit dichtem Unterholz bestandene Wäldchen, bis sie auf der anderen Seite wieder Wasser durch die Büsche schimmern sahen. Vorsichtig pirschten sie sich an das Ufer heran. Es war höchst unwahrscheinlich, doch sie wollten sicher gehen, dass nicht auf einem der vielen Flussarme der Feind mit Landungsbooten, oder Flößen herumpaddelte.
Nachdem sie sich davon überzeugt hatten, dass die Umgebung sicher war, bewegten sie sich fast geräuschlos nahe dem Ufer durch den Wald, bis sie das Ende der kleinen Insel mit der Sandbank erreicht hatten. Da sie auf dem Schwemmboden ein leichtes Ziel abgeben würden, ließen sie sich bereits einige Meter zuvor wieder ins Wasser gleiten.
Anschließend brachen sie die Schilfhalme kürzer, damit sie nicht so weit aus dem Wasser ragten, nahmen sie wieder in den Mund und ließen sich unter dem Wasserspiegel mit der Strömung mitziehen. Die Reiter schienen sich eher Strom aufwärts zu konzentrieren, weshalb sie nach einiger Zeit unbehelligt eine weitere Insel im Delta erreichten. Diese war etwas größer, und wies noch undurchdringlichere Vegetation auf.
Flink krochen sie an Land und steiften durch das Unterholz, bis sie auf der Rückseite des Eilands eine kleine Lichtung fanden, die in einer geschützten, flachen Mulde lag. Hier konnten sie sich endlich wieder frei bewegen. Auf dem trockenen Gras ließen sie erst einmal ihre Körper von der Sonne trocknen.
Immer wieder mussten sie aber mit Farnwedeln die lästigen Moskitos abwehren, die in Scharen über sie herfielen. Kaum zu Atem gekommen, suchte Antarona nach jenem kraut, dass ihnen die kleinen Blutsauger vom Leibe halten sollte. Doch das wuchs im Schatten von Felsen und hohen Bäumen. In den Birkenwäldchen auf den Deltainseln fanden sich nur einige Wurzeln, die in sehr abgeschwächter Form dieselbe Wirkung hatten, die aber nicht lange vorhielt.
»Meinst du, das ist schon die Invasion Torbuks Truppen, die Reiter meine ich, dass die schon so etwas, wie eine Vorhut sind?« Basti stellte die Frage für sich und Antarona gleichermaßen. Das Krähenmädchen zuckte unschlüssig mit den Schultern, strich sich die feuchten Haare nach hinten, und band sie mit einem Geflecht aus Grashalmen im Nacken zusammen.
Sebastian konnte sich nicht erinnern, dass sie ihre Haare jemals zusammengebunden hatte. Stets trug sie ihre Mähne so, als wollte sie darunter ihr Gesicht verbergen. Und er liebte die wilde, ungezähmte Erscheinung an ihr. Fragend sah er sie an.
»Wenn Torbuk jetzt angreift, können Sonnenherz und Glanzauge sowieso nichts dagegen ausrichten«, sagte sie beinahe teilnahmslos.
»Du hast recht, außer einen schnellen Boten nach Falméra zu senden, könnten wir nicht viel tun«, pflichtete er ihr bei, »und ob Bental so eine Botschaft ernst nehmen würde, stünde noch auf einem ganz anderen Pergament«, schob Basti seine Gedanken hinterher.
Verständnislos sah Antarona ihn an. Für sie sprach er wieder einmal in Rätseln. Das einfache Naturkind besaß wohl einen wachen, außerordentlich intelligenten Geist, doch mit den aus seiner Welt importierten Redewendungen konnte sie nicht viel anfangen. Nur allzu oft vergaß Basti, dass der Sinn seiner Worte im direkten Verständnis oft ein anderer war.
Resigniert winkte er ab, zog seinen Lederschurz zurecht, der nass und schwer auf seinen Hüften lag, und im allmählichen Trocknungsprozess unangenehm zu riechen begann. Das und den Gedanken an Falméra ignorierte er zunächst einmal. Die Sorge um Vesgarina und Frethnal, die einzigen zuverlässigen Gefährten, die sie hatten, stand nun im Vordergrund.
Wie mit einem unsichtbaren Band verbunden schien Antarona seine Gedanken zu erraten. »Sie haben sie nicht getötet, Ba - shtie, das tun sie erst, wenn sie glauben, dass sie von ihnen nichts mehr erfahren werden«, überlegte sie laut. Sebastian sah sie mit zusammengekniffenen Augen an, versuchte herauszufinden, wie weit sie von ihrer Aussage überzeugt war.
»Sollten wir die schwarzen Reiter verfolgen, und die beiden aus ihren Klauen zu befreien?« fragte er unsicher. Das Krähenmädchen schüttelte langsam und bedächtig den Kopf und hob dann entschlossen ihr Kinn an.
»Dazu sind Sonnenherz und Glanzauge zu wenige Arme und Hände«, stellte sie fest. Sebastian nickte zustimmend. Sie hatte den Nagel auf den Kopf getroffen. Ohne Hilfe und ohne Waffen konnten sie gar nichts ausrichten. Im Augenblick vermochten sie sich nicht einmal gegen ein wild gewordenes Waldschwein erwehren.
»Du denkst daran, erst einmal zu versuchen, an unsere Waffen heranzukommen?« fragte er unsicher, und als seine kleine Frau bestimmt nickte, forschte er weiter:
»Und wie willst du das anstellen? Was, wenn denen dort drüben einfällt, am Ufer ihr Lager aufzuschlagen? Dann werden sie früher oder später über unsere Waffen und die Felle, und auch über meine Aufzeichnungen stolpern!«
Vorwurfsvoll sah sie ihn an, und er wusste, dass sie ihm stumm vorwarf, diese wichtigen Informationen überhaupt mitgenommen zu haben. Für sie waren seine fremden Zeichen in den verbundenen Blättern ein Zauber, den sie nicht verstand, der nur Unglück brachte. Dennoch sagte sie beschwichtigend:
»Ba - shtie, sie werden dort nicht lagern. Die Krieger Torbuks mögen die kleinen Plagegeister, welche das Blut aus der Haut saugen, ebenso wenig wie ihr. Sie werden sich vom Waldrand. wo die Waffen liegen, fern halten, denn dort lauern die meisten derer, welche die Haut jucken machen«.
Zweifelnd wiegte Basti den Kopf hin und her. Sie mochte mit ihrem Urteil wohl richtig liegen, doch wer garantierte ihnen, dass nicht auch Gevatter Zufall mitspielte? Andererseits hatten sie momentan keine andere Möglichkeit, als auf das Wohlwollen des Schicksals zu hoffen.
Nachdem sie sich kurz ausgeruht hatten, bahnten sie sich erneut einen Weg durchs Unterholz. Kurz darauf erreichten sie das Dickicht am Ufer und spähten hinüber. Die Reiter waren inzwischen von ihren Pla-ka abgesessen, hatten teilweise ihre Rüstung abgelegt, und flezten sich auf der Uferböschung in der Sonne. Einige liefen lustlos auf dem Böschungskamm hin und her, verteilten offenbar Proviant und Wasser.
Niemand mehr beobachtete das Wasser. Es sah tatsächlich so aus, als glaubten sie daran, die beiden Badenden mit ihren Pfeilen getötet zu haben. Von Frethnal und Vesgarina sahen sie allerdings auch nichts. Eine Sache jedoch betrachtete Basti mit genugtuender Zufriedenheit, die seinem Gesicht sogar ein kurzes Lächeln bescherte.
Er beobachtete, wie mal der eine, mal der andere wütend mit irgendeinem Gegenstand, meist mit einem Zweig, nach den Moskitos schlug, die offensichtlich die ganze Horde und die Pla-kas umschwärmte.
»Los, ihr kleinen Mistviecher, gebt es denen ordentlich«, raunte er leise, als glaubte er daran, dass die flinken Sauger ihn hören konnten. Antarona hatte sich indes ein par Meter weit entfernt, hockte in sicherer Deckung, und murmelte ihrerseits einen leisen Singsang vor sich hin.
Für Sebastian war das nichts Neues, obwohl es bei ihm immer noch ein gewisses Befremden auslöste, wenn seine Frau von irgendwelchen telepathischen Kräften gebrauch machte, die er nach wie vor mit einer gesunden Skepsis betrachtete. Vermutlich hatte sie seine Gedanken erraten, und versuchte nun die Mücken so zu beeinflussen, dass sie die Reiter drüben auf der anderen Seite in den Wahnsinn trieben.
Ab und zu ging einer der schwarzen Krieger zum Waldrand, wohl um sich dort zu erleichtern. Dabei kamen sie dem unentdeckten Lagerplatz gefährlich nahe. Jedes Mal hielt Basti den Atem an und betete, Antarona möge mit ihrer Beschwörung Erfolg haben.
Und den hatte sie tatsächlich, allerdings anders, als er es vermutet hatte. Nach gar nicht allzu langer Zeit kamen entlang des Flussarms gemächlich zwei Krähen herangesegelt. Tekla und Tonka. An diese beiden Tiere, die Antaronas erweiterte Augen waren, hatte er schon nicht mehr gedacht.
Die gefiederten Freundinnen schwenkten ein, landeten zunächst auf einem der kleinen Bäume, und beobachteten die Umgebung. Ein ganz natürliches Bild. Das glaubten auch die Reiter der wilden Horden, denn sie nahmen keinerlei Notiz von den Rabenvögeln.
Unauffällig hüpften die in der fahlen Sonne schwarzblau glänzenden Schwestern von Ast zu Ast, bis sie den Boden zu Antaronas Füßen erreichten. Das Krähenmädchen kommunizierte auf ihre geheimnisvolle Weise mit den düster wirkenden Vögeln mit den schwarzen, wachen Knopfaugen.
Basti hielt sich abseits, denn immer noch hegten die beiden Tiere ihm gegenüber ein gewisses Misstrauen. Ihre natürliche Vorsicht vermochte auch Antarona nicht zu zerstreuen. In diesem Moment dachte Sebastian an Rona und Reno, die beiden Hunde, die seine Freunde geworden waren, und die sie am Strand des Festlands zurücklassen mussten.
Was mochten die wohl inzwischen angestellt haben? Waren sie den langen, einsamen Weg ins Val Mentiér und zu Väterchen Balmer zurückgelaufen? Oder warteten sie geduldig am Strand auf Bastis und Antaronas Rückkehr? Hatte sie vielleicht irgendeiner von Torbuks Kriegern entdeckt, und sie an sich gewöhnt? Jagten sie etwa inzwischen flüchtende Îval, die vor den wilden Horden flohen?
Im Unverständnis über seine eigene Phantasie schüttelte er den Kopf, und verwarf den Gedanken, wie einen absurden Traum. Statt dessen sah er, wie die beiden Krähenvögel die Zweige und Äste hinaufhüpften, und sich schließlich vom Wipfel einer kleinen Birke in die Luft gleiten ließen.
In einem weiten Bogen umrundeten sie die kleine Insel, flogen dann in großer Höhe über den Flussarm, über dem Lager der Reiter dahin, und landeten schließlich auf einem der hohen Bäume am Waldrand. Nach einer Weile, die Sebastian wie eine Ewigkeit vorkam, breiteten sie wieder die Schwingen aus, hoben sich in die Luft und verschwanden im dichten Gewirr der Blätter, Äste und Baumkronen.
Fragend sah Basti zu Antarona hinüber, die noch immer wie paralysiert am Boden hockte, auf Fersen und Ballen hin und her wiegte, und geduldig wartete. Von ihr würde er in diesem Zustand keine Erklärung erwarten können. Also beobachtete er weiter die gegenüberliegende Böschung und den Waldrand.
Aus der dunklen Mauer der Bäume schossen plötzlich die beiden Vögel wieder hervor, stiegen hoch in die Luft, zogen ein par Kreise und ließen sich dann über dem provisorischen Lager der schwarzen Krieger vom Luftstrom in einem weiten Kreis tragen. Keiner von Torbuks Soldaten hegte Argwohn gegen die beiden Krähen. Sie gehörten zur Natur, zur Landschaft. Diese Vögel waren allgegenwärtig, gehörten zum gewohnten Bild.
Doch was dann geschah, musste selbst die hartgesottenen Krieger der wilden Horden aus der Ruhe bringen. Tekla und Tonka schossen plötzlich im Sturzflug herab, attackierten die angepflockten Pla-ka und stiegen so schnell wie ihre Schatten über die ahnungslosen Reittiere gekommen waren, wieder in die Lüfte.
Sebastian konnte nicht sehen, ob die beiden Vögel nur ihre Krallen über das glatte Fell der Pla-ka gezogen, oder diese sogar mit den Schnäbeln verletzt hatten. Jedenfalls reagierten die Pla-ka, völlig überrascht von diesem Angriff, als hätte ihnen jemand ein glühendes Eisen über den Rücken gezogen.
Wiehernd bäumten sie sich auf, rissen die Pflöcke aus dem Boden, und rasten los, direkt auf die gemütlich in der Sonne liegenden Reiter. Während die fluchend und schreiend aufsprangen, kamen weitere Krähen über den Wald herangeflogen, die zusammen mit Tonka und Tekla die anderen Tiere angriffen.
Die Vögel schossen auf das Lager zu, und verschreckten mit ihrem ungewöhnlichen Verhalten nicht nur die Lasten- und Reittiere der schwarzen Soldaten. Vor Wut brüllend, und schreiend vor Überraschung stoben die furchtlosen Krieger auseinander, wie eine Schar verängstigter Hühner. Dazwischen trampelten die aufgeschreckten Pla-ka alles nieder, was nicht rechtzeitig in den Fluss sprang, oder sich auf einen Baum rettete.
Sebastian vermutete zwanzig bis dreißig Krähen in der Luft, die sich in einem heillosen Chaos immer wieder auf flüchtende Krieger und durchgehende Pla-ka stürzten. Zählen konnte er Teklas und Tonkas Freundinnen nicht, denn sie wirbelten über den Köpfen ihrer völlig verstörten Opfer wie ein Schwarm Libellen. Bei dem bildlichen Gedanken musste Basti unwillkürlich lachen.
Einige der Krieger sprangen ins Wasser, meinten so den Attacken der Krähen zu entgehen. Doch kaum ragten ihre Köpfe aus dem unfreiwilligen Nass, so wurden auch sie zum Ziel von Antaronas Freundinnen. Erst nach Minuten des chaotischen Durcheinander ließen die schwarzen Vögel von ihren Opfern ab.
Nach und nach erklommen die triefnassen Reiter das Ufer, halfen sich gegenseitig auf die Böschung, weil sie immer wieder auf dem Uferschlamm zurückrutschten. In diesem Moment erschien ein weiterer Reiter auf der Bildfläche. Wild gestikulierend schrie er die Krieger an, die sich in einen heillosen, unkoordinierten Haufen wild durcheinander hetzender Männer verwandelt hatte.
Offenbar war der neue Reiter der Kohortenführer der Gruppe, der sich wohl sehr wunderte, seine Soldaten in diesem Zustand vorzufinden. Auf seine lautstarken Befehle hin stoben die Krieger fluchend und stolpernd auseinander, versuchten die Pla-ka wieder einzufangen, die immer noch verstört vor ihren Herren flohen.
Unterdessen waren Tonka und Tekla wieder zu Füßen ihrer menschlichen Gefährtin gelandet, putzten sich das bläulich glänzende Gefieder und sonnten sich in Antaronas leisen Lobreden. Aus einiger Entfernung sah es tatsächlich so aus, als sprachen Mensch und Tier miteinander. Und obwohl Sebastian wusste, dass diese Kommunikation auf geistiger Ebene stattfand, war er geneigt ein anderes Bild zuzulassen.
Eine ganze Weile später erhoben sich die beiden Krähen wieder in die Lüfte, zogen einige Kreise um die kleinere Insel, wohl um die Krieger von Bastis und Antaronas Versteck abzulenken, und flogen schließlich über den Wald davon.
Inzwischen hatte es der Kohortenführer drüben am anderen Ufer geschafft, seine orientierungslose Bande neu zu ordnen. Die meisten Pla-ka waren zum Teil wieder eingefangen, und die Reiter hatten ihre Rüstungen und Waffen wieder angelegt. Trotzdem brüllte der Scharführer weiter herum, bis irgendwann auch der letzte Reiter auf seinem Pla-ka saß, und seinen Platz in Reih und Glied neben den Bogenschützen eingenommen hatte, die ihre Formation etwas schneller wiedergefunden hatten.
Anscheinend hatte es der Führer der Gruppe ziemlich eilig, von diesem Ort fort zu kommen, denn er gab sogleich den Befehl zum Abrücken. Sebastian war davon überzeugt, dass die Moskitoplage und der Angriff der Krähen dazu beigetragen hatte, den Kriegern diesen Lagerplatz gründlich zu verleiden.
Die Reiter zogen mit ihrem Tross am Waldrand Strom aufwärts, und eine halbe Stunde später lag die gegenüberliegende Uferböschung friedlich in der fahlen Sonne, als hätte sie nie eines Menschenwesen Fuß betreten. Antarona und Basti warteten noch eine weitere halbe Stunde. Es war nicht ungewöhnlich, dass dem Trupp noch ein Meldereiter folgte. Dem wollten sie tunlichst nicht über den Weg laufen, denn sie hätten ihn töten müssen, um sich nicht zu verraten.
Als genügend Zeit verstrichen war, ließen sich die beiden leise ins Wasser gleiten, und schwammen ans andere Ufer. Dort gingen sie im Schutz des Waldrands gegen den Strom, bis sie ihren Lagerplatz hinter dem Felsen in der Mulde erreichten. Zu ihrer Erleichterung stellten sie fest, dass ihre Waffen und armseligen Habseligkeiten unverändert im Schutz der Senke lagen. Auch Sebastians Bündel mit dem Tagebuch, den Karten, und den Aufzeichnungen über die geheimnisvollen Schwerter waren unangetastet geblieben.
Sebastian ging noch ein Stück weiter, wo er das Lager Frethnals und Vesgarinas wusste. Auch dort lagen noch alle Dinge beieinander. Inzwischen hatte sich Antarona ihren Hüftschurz angelegt, und sich ihre Waffen umgehängt. Das schmuddelige, winzige Kleidungsstück war auf der Böschung liegen geblieben, und von den Pferdesoldaten keines Interesses gewürdigt worden. Sicher hielten sie ihren Lederschurz für ein weggeworfenes Stück altes Leder.
Aufmerksam und konzentriert untersuchte das Krähenmädchen die Spuren im feuchten Boden. Sie ging hierhin und dorthin, hockte sich an anderer Stelle hin, untersuchte und befühlte das Gras, und sah sich weiter um. Sebastian beobachtete sie und fragte sich, wie sie aus dem chaotisch aufgewühlten Boden überhaupt etwas herauszulesen vermochte.
Als die Krähen den Trupp attackiert hatten, waren die Pla-ka und ihre Reiter so wild durcheinander geraten, dass sie schlicht die ganze Böschung zertrampelt hatten. Doch jeder Abdruck schien dem Krähenmädchen eine eigene Geschichte zu erzählen. Sie studierte jedes noch so unscheinbares detail und verband es im Geiste mit ihren Beobachtungen, die sie beide von ihrem Versteck aus machen konnten.
Schließlich stand sie auf, und schilderte ihrem Mann den Ablauf des Geschehens, als hätte sie es von der Ankunft der Reiter bis zu ihrem Abrücken wie ein Drehbuch verinnerlicht.
»Von dort kamen die Reiter, sie waren dort, wo der dem Wasser zugeneigte Baum steht, aus dem Wald immer zu zweit herausgeritten. Die Bogenschützen gingen ihnen voran«, erklärte sie einem staunenden Basti.
Beide waren sie getaucht, und hatten das Eintreffen der Krieger gar nicht visuell wahrnehmen können. Um so beeindruckender fand Basti ihre sichere Interpretation des Geschehens.
»Aber wo haben sie Vesgarina und Frethnal überrascht, und kannst du sagen, was mit ihnen passiert ist?« fragte er unsicher. Antarona stützte ihre Hände in der Hüfte ab, schritt wie der Torwart eines Profifußballclubs das Gelände ab und blieb an einer Stelle über dem Ufer stehen, die lediglich niedergedrücktes Gras erkennen ließ.
»Hier«, stellte sie fest, »hier hatten Garina und Frethnal die Reiter bemerkt und waren aufgestanden.« Mit den Zehen beschrieb sie einen Bogen um die Stelle, bevor sie ein Stück weiter ging.
»Sie versuchten den Waldrand zu erreichen, doch die Reiter waren zu rasch heran«, führte sie weiter aus, als schilderte sie einen Augenzeugenbericht. Den Blick auf den Boden geheftet, fuhr sie fort:
»Frethnal stellte sich schützend vor Garina. Er stand zwei oder drei Zentaren dort. Sonnenherz glaubt, dass er mit den Reitern sprach. Dann ging alles sehr schnell. Die Pferdesoldaten waren nicht von ihren Pla-ka abgestiegen, doch mehrere Bogenschützen überwältigten die beiden und schleppten sie...«
Antaronas Erkenntnis des Hergangs stockte, und Sebastian sah sie erwartungsvoll und fragend an. Das Krähenmädchen ging vorsichtig ein par Meter Strom abwärts. Dabei setzte sie bewusst Fuß vor Fuß, schob hier und dort mit den Zehen das Gras auseinander und kam schließlich zurück.
»Sie haben Frethnal rücksichtslos niedergeschlagen«, interpretierte sie das Geschehen weiter, »Vesgarina haben sie gefesselt und vorwärts gestoßen.« Antarona bezeichnete mit ihrem Fuß eine Stelle, an der das Gras kaum erkennbar Blut aufwies, sowie eine andere Stelle, an der das Gras niedergedrückt und die Halme zum Teil gebrochen waren. Sie ließ ihre Zehen darüber hinaus hüpfen, tippte sie auf den Boden, als würde sie einen Weg bezeichnen.
»Frethnal haben sie über den Boden geschleift, Garina stolperte hinterher, sie war aber nicht verletzt. Sie haben beide in die Richtung fortgebracht, aus der sie gekommen waren«, beendete Das Krähenmädchen ihre ziemlich aufschlussreiche Darstellung und wies mit der Hand auf eine Lücke im dichten Unterholz des Waldrands.
»Und was schlägst nun vor, was wir tun sollen«, fragte er unschlüssig. Antarona hob gleichmütig die Schultern, als redeten sie darüber, ob sie am Abend Wafan, oder Gazelle essen wollten. Doch er wusste, dass sie innerlich vor Zorn kochte, und gegenüber ihren Feinden nur abgrundtiefen Hass verspürte. Mit der Ruhe, die sie gerade ausstrahlte, zwang sie sich selbst zu rationeller, überlegter Handlung.
»Sonnenherz und Glanzauge werden sie verfolgen und feststellen, wo sie ihr Lager haben. Aber es werden viele sein, Ba - shtie. Ohne Hilfe werden sie nicht zu befreien sein.«
»Woher weißt du, dass sie die beiden nicht töten werden?« wollte Basti wissen, obwohl er sich die Antwort bereits hätte selbst geben können. Antarona hob wieder die Schultern zum Zeichen, dass auch sie das nur vermuten konnte.
»Wenn sie vorgehabt hätten, Garina und Frethnal zu töten, dann hätten sie es bereits hier getan. Die Pferdesoldaten der Wilden Horden handeln oft ohne Plan und Denken, sie folgen ihrer Laune, welche meist aus roher Gewalt besteht«, überlegte sie laut, »sie haben daher noch etwas mit ihnen vor, sonst würden sie sich kaum die Mühe machen, sie irgendwohin fortzubringen.«
Basti nickte bestätigend. Zu dem gleich Schluss war er auch gekommen. Allerdings vermutete er, dass sie die beiden nur deshalb fortgeschleppt haben, um mit Folter Informationen aus ihnen herauszupressen. Wie es dabei der stummen Wenderin ergehen würde, konnte er nur mit echter Sorge mutmaßen.
»Und was werden wir tun, wenn wir sie gefunden haben?« fragte Basti. »Wir zwei werden kaum mit mehreren Kohorten fertig. Und dass Torbuk nicht nur einen Trupp gelandet hat, davon müssen wir ausgehen.«
»Ba - shtie, lasst Sonnenherz sie vorerst finden«, bremste sie seinen Enthusiasmus, »dann werden Glanzauge und Sonnenherz überlegen, was zu tun ist. Halten sie Vesgarina und Frethnal gefangen, so ist es vielleicht einfach, sie zu befreien. Doch bringen sie die beiden nach Quaronas...« Sie ließ den Satz offen. Basti wusste auch so, was sie meinte.
Wurden ihre Freunde auf ein Schiff, und nach Quaronas aufs Festland gebracht, so waren die Chancen gering, sie je wieder aus Torbuks Klauen zu befreien. Also mussten sie sich beeilen, die beiden zu finden, um genau das zu verhindern.
Antarona verlor keine Zeit. Während Sebastian noch überlegte, nahm sie ihr Bündel auf, und folgte der deutlichen Fährte, die im Wald verschwand. Torbuks Reiter hatten kaum Wert darauf gelegt, sich möglichst unauffällig durch das Land zu bewegen.
Das machte Sebastian Sorgen. Wer es nicht nötig hatte, seine Anwesenheit zu verbergen, musste sich stark genug fühlen, gegen jeden Feind zu bestehen. Hatten die Wilden Horden diesen Teil der Insel bereits unter ihre Kontrolle gebracht?
Das Blatt hatte sich gewendet. Nun waren er und Antarona diejenigen, die wie flüchtige Geister durch den Wald schleichen mussten, ständig auf der Hut vor umherstreifenden Trupps der Pferdesoldaten. Und hätte Antarona nicht die Gabe gehabt, potentielle Feinde mit ihren Sinnen zu sehen, so wäre er wohl verängstigt von Baum zu Baum gesprungen, um sich in steter Deckung fortzubewegen.
Aber auch das Krähenmädchen vertraute nicht nur blind auf ihre Gabe. An einem Felsen, der von hohen Laubbäumen umgeben war, hockte sie sich zu Boden, breitete die Arme aus und schien das Blätterdach der Bäume anzubeten. Tatsächlich aber erschienen erneut Tekla und Tonka auf der Bildfläche und krächzten froh vom Felsen herab.
Wie schon einige Male zuvor, übertrug Antarona ihnen die Aufgabe, Feinde rechtzeitig zu melden. Sebastian musste unwillkürlich an Rona und Reno denken. Die beiden Hunde Balmers hatten ihnen stets gute Dienste geleistet, wenn es darum ging, ihnen andere Menschenwesen, Robrums, oder Gore anzukündigen, bevor sie ihnen über den Weg gelaufen waren.
In diesem Moment wünschte Basti sich die beiden Hunde an seine Seite. Er musste still in sich hineinlächeln, als er daran dachte, dass er früher, in seiner Welt, Hunde jeglicher Art, Farbe und Rasse nicht ausstehen konnte. Doch nachdem diese beiden ihn unter Einsatz ihres Lebens vor den Fängen eines Gors bewahrt hatten, sah er sie als seine Freunde an. Ihr Schicksal allerdings war ungewiss, seit sie die beiden am Strand des Festlands zurückgelassen hatten.
Tekla und Tonka breiteten ihre Schwingen aus, hoben sich schwerfällig durch die Zweite und Äste der Bäume in die Lüfte, und verschwanden über dem grün leuchtenden Himmel aus Blättern. Antarona stand auf, reckte sich ungeniert und begann dann den Waldboden zu untersuchen.
Das feuchte Wetter hatte das Laub auf dem Boden aufgeweicht, und jede Spur von Mensch und Pla-ka zeichnete sich sogar für Sebastian deutlich ab. Doch die vertieften Abdrücke waren nur ein kleiner Teil, den das Krähenmädchen aus den Fährten herauszulesen vermochte.
»Nicht alle Männer ritten auf Pla-kas«, stellte sie fest, indem sie im Zickzack hin und her wanderte, die Augen auf den Grund geheftet. Ihr Blick wanderte zu dem Felsen hinauf, auf dem kurz zuvor ihre beiden gefiederten Freundinnen gesessen hatten.
»Zwei sind dort hinaufgestiegen, und haben dort eine Weile gewartet«, schloss sie aus den Zeichen am Boden, die für Basti zum großen Teil Rätsel blieben.
»Die haben wahrscheinlich die Nachhut gebildet, wollten sehen, ob ihnen jemand folgt«, schlussfolgerte er ihre Beobachtung. Dabei sah er sich ängstlich um, ob nicht einer der Strauchdiebe noch irgendwo im Gebüsch steckte. Doch Antarona beruhigte ihn:
»Die haben nicht lange gewartet, Ba - shtie, hier, seht, diese Ban-tu-ra, sie ist zerdrückt worden, und bereits getrocknet, trotzdem es hier sehr feucht ist.« Staunend besah sich Basti die zerquetschte Ameise im Moos auf dem Stein, die ihm kaum aufgefallen wäre. Nach diesem Indiz war es wenigstens zwei Stunden her, seitdem die Späher den Felsen wieder verlassen hatten.
Nachdenklich rechnete er nach. War das schon so lange her? Die Reiter hatten eine Stunde nach ihm und Antarona gesucht, und sie wiederum hatten sich mindestens eine Stunde verborgen gehalten. Das Durcheinander, das die Krähen verursacht hatten, schlug mindestens mit einer halben Stunde zu Buche. Eine weitere Stunde bis zu ihrem Aufbruch. Drei Stunden. Mindestens. Torbuks Männer mussten ihre beiden Gefangenen gleich zu Beginn fortgeschafft haben.
Noch während sie die Spuren nach weiteren Hinweisen absuchten, kehrten Tonka und Tekla von ihrem Erkundungsflug zurück.
»Torbuk hat Reiter mit vielen Zelten geschickt«, berichtete ihm seine Frau, nachdem sie mit ihren Krähen kommuniziert hatte, was auf eine Weise geschah, die Sebastian immer noch nicht recht nachvollziehen konnte.
»Sie lagern auf einer Lichtung, in einem Wald einige Zentaren von Mehi-o-ratea entfernt, und sie haben viele Wachen aufgestellt, und Zäune für das Vieh gezogen.« Was Antarona da von ihren Schwarzvögeln übermittelte, klang nicht gerade ermutigend.
Basti versuchte die vielen Informationen in ein passendes Schema einzuordnen. Wenn Torbuk die Invasion bereits gestartet hatte, so würde er einen Brückenkopf direkt an der Küste bilden, und seine Trupps nicht im Wald verstecken. Andererseits war die Einheit für einen Erkundungstrupp viel zu groß. Wo also lag Bastis Denkfehler? er wollte einfach nicht hinter die Taktik zu kommen.
Konnte es sein, dass der Schreckensherrscher von Quaronas nur eine Scheininvasion durchführte, um die Truppen Bentals in den Elsirensümpfen der Insel zu binden? Wenn dies gelang, würde er bei einem offenen Angriff auf die Bucht von Falméra leichtes Spiel haben. Die Invasoren stünden dann vor der Himmelsburg. Wozu aber die Viehgatter, von denen seine Frau sprach? Wollten die etwa im Wald siedeln?
Den Gedanken wieder verwerfend, schüttelte Basti still für sich den Kopf. Wenn das Torbuks Taktik war, warum versuchte er dann mit allen Mitteln ihre Anwesenheit in diesem Teil der Insel zu verbergen? Hatte er noch nicht genug Truppen für eine Scheininvasion gelandet?
Wieder schüttelte er den Kopf. Er musste das feindliche Lager und die Küste selbst besichtigen, um realistische Schlüsse ziehen zu können. Antarona, die sein Kopfschütteln bemerkt hatte, sah ihn verständnislos an.
»Antarona, ich frage mich, was genau diese Trupps hier planen, die Vesgarina und Frethnal entführt haben«, ließ er seinen Gedanken freien Lauf.
»Das alles passt nicht zusammen! Immer, wenn ich zu wissen glaube, was Torbuk beabsichtigt, stellt eine Tatsache meine Annahme wieder in Frage.« Das Krähenmädchen hob unwissend die Schultern und sagte:
»Für Sonnenherz ist seine Absicht klar, Ba - shtie. Er lässt junge Îval aus Mehi-o-ratea auf das Festland verschleppen, um durch Folter aus ihnen herauszubekommen, was er über Falméra wissen will. Die jungen Menschen Mehi-o-rateas vermisst niemand. Es fällt nicht auf, wenn sie nicht mehr da sind.«
Die nüchterne Erkenntnis Antaronas ließ Basti erst einmal den Mund offen stehen. Dann schlug er die Faust in die Handfläche, wie, um sich selbst einen Denkanstoß zu geben.
»Natürlich, das ist es!« rief er lauter aus, als beabsichtigt. »Die Trupps bilden ein Gefangenenlager! Die Entführten werden dort festgehalten, bis ein Wasserwagen sie zum Festland und nach Quaronas bringt. Deshalb auch die Zäune! In Quaronas landen sie dann im Folterkerker der Burg.« Antarona nickte, und spann die Theorie weiter:
»Die Trupps jagen die Îval Pärchenweise, so fällt niemandem auf, wenn sie fort sind. Es geschieht oft, dass sich Pärchen von der Gemeinschaft des Dorfes der ewigen Jugend entfernen, um mit ihren Herzen allein zu sein, um sich zu vereinen, und um den Segen der Elsiren zu erlangen. Manchmal gehen sie dann nach Falméra, oder in die Dörfer zurück. Sie werden von der Gemeinschaft nicht vermisst. Und ihre Eltern glauben, dass sie noch in Mehi-o-ratea sind, wie sie selbst, als sie jung waren.«
Was seine Frau da mutmaßte, erschreckte Sebastian. Die Trupps waren Menschenjäger! Und je mehr er darüber nachdachte, desto deutlicher sah er das Szenario vor sich, das Hunderten von jungen Menschen, wie Tariz und ihren Freunden zum grausamen Schicksal wurde.
Die Reiter fingen sie mit dem Wissen ein, dass sie so rasch nicht entdeckt werden würden, weil ihre Opfer nicht sofort vermisst wurden. Und wenn sie die Folterkerker Quaronas überlebten, wurden die jungen Frauen zu den Vergnügungsobjekten der gelangweilten Soldaten, und die Männer zu Sklaven in den versteckten Bergwerken im Norden des Landes.
Wer nicht fliehen konnte, wurde wahrscheinlich irgendwann, irgendwo verscharrt, den Eishunden zum Fraß vorgeworfen, oder er starb an Schwäche, Hoffnungslosigkeit und Folter.
Dabei mussten Torbuks Männer nicht einmal groß in Erscheinung treten. Sie konnten getrost warten, bis sich ein Pärchen für eine stille Zweisamkeit in den Wald zurückzog, oder auf dem einsamen Weg nach Mehi-o-ratea unterwegs war, oder einfach nur das Dorf zum Wasser holen verließ. Wer sich aus der Gemeinschaft entfernte, kam nicht wieder.
»Wir müssen das Lager finden, in welchem die Banditen ihre Gefangenen verbergen«, sagte Sebastian, mehr für sich selbst. Antarona nickte zustimmend.
»Wenn Sonnenherz das Lager gesehen hat, wird sie wissen, wie die Gefangenen befreit werden können«, sprach sie zuversichtlich. Mit einer wegwischenden Handbewegung unterbrach Basti ihre gedanklichen Pläne.
»Denk nicht einmal daran! Du wirst schön ruhig bleiben und nichts tun, bis wir Hilfe herbeigeholt haben. Ich will dich nicht noch in Quaronas suchen müssen.«
»Wenn Sonnenherz zu lange wartet, ist es vielleicht zu spät«, argumentierte sie trotzig dagegen. Sebastian packte sie an den Schultern und schüttelte sie leicht.
»Mensch Mädchen, wach mal auf! Wenn Sonnenherz zu mutig ist, wird sie womöglich sogar tot sein, und mit ihr ihre Tochter!« widersprach er vorwurfsvoll. Dann etwas versöhnlicher:
»Ich werde nicht zulassen, dass du mit falschem Mut unser Leben zerstörst, hörst du? Was tue ich, wenn du nicht mehr da bist? Was tun die Îval, wenn du sie nicht mehr im Glauben an eine bessere Zeit bestärkst? Was tun die Menschen dann, denen du ein Vorbild des Widerstands geworden bist, die in dir bereits eine Heilige sehen?« Entschlossen schüttelte Basti den Kopf, bevor er weitersprach.
»Nein! Du musst am Leben bleiben, du hast inzwischen die Verpflichtung, dich nicht unnötig in Gefahr zu bringen. Nicht nur für mich und unsere Tochter, nein, noch vielmehr für das Volk! Du bist ihre Prinzessin, ihre künftige Königin. Das Volk braucht dich!«
Das Argument zog! Sebastian wusste, dass ihr das Volk der Îval, ihr Volk, vor allem anderen am Herzen lag. Antarona würde jedes Opfer bringen, um das Volk zu retten. Sie schwieg betreten, blickte wie um eine Antwort suchend zu Boden, und dachte offenbar über seine Worte nach.
»Was soll Sonnenherz dann tun, Ba - shtie?«, gab sie nach einer Weile ratlos zurück. »Soll sie die jungen Männer und Frauen einfach aufgeben, sie dem Schicksal überlassen, das Torbuk und Karek für sie bestimmt haben? Das ist auch ein Verrat am Volk!«
»Das sagt ja gar keiner, dass du sie aufgeben sollst«, beschwichtigte er, »aber wir müssen genau überlegen, wie wir vorgehen sollen. Vor allem müssen wir dafür sorgen, dass bei der Befreiung der Gefangenen keiner von den Wilden Horden zu fliehen vermag. Egal, was Torbuk letztlich plant und vorhat, aber wir sind deutlich im Vorteil, wenn er nicht gewarnt ist.«
Sebastian sah das Krähenmädchen eindringlich an, bis er sicher war, dass sie sich auf seine Einwände einließ. Dann fuhr er fort:
»Wir brauchen Hilfe, das ist klar. Allein können wir nichts ausrichten, ohne dass Gefangene verletzt werden, oder Schwarze Reiter über das große Wasser fliehen, und Torbuk ihre Entdeckung melden.« Antarona hob ratlos die Schultern.
»Und was schlagt ihr vor, Ba - shtie? Eure Truppen sind weit entfernt, zu weit weg, um Sonnenherz und Glanzauge helfen zu können. Die Bauern der umliegenden Dörfer? Wie sollte das werden? Heurechen und Mistgabeln gegen Schwerter und Lanzen? Wenn Sonnenherz nichts unternehmen soll, dann, Ba - shtie, dann lasst euch rasch etwas einfallen!« Mit einem Mal klang ihre Stimme leicht verbittert und vorwurfsvoll.
»Mehi-o-ratea«, überlegte Basti, »wir gehen nach Mehi-o-ratea.« Antarona zog fragend die Augenbrauen hoch, und stemmte sich ihre kleinen Fäuste in die Hüfte, wie sie es immer tat, wenn sie einer Sache kontrovers gegenüberstand. Doch er ließ sich von ihrer Geste nicht einschüchtern.
»Wir werden uns die Gemeinschaft von Mehi-o-ratea zu Hilfe holen, bis meine Kohorten hier sind«, dachte er laut. Das Krähenmädchen sah ihn an, als hätte er nun komplett den Verstand verloren.
»Und womit sollen die Mädchen und jungen Männer kämpfen?« fragte sie mit Entrüstung in der Stimme. »Sie haben keine Waffen, sollen sie die Reiter mit Blumenkränzen von den Pla-kas stoßen? Wie stellt ihr euch das vor, großer Heerführer?«
»Das weiß ich noch nicht, das wird sich ergeben. Und wenn sie die Schwarzen Reiter nur ablenken, den ganzen Haufen durcheinander bringen, damit wir die Gefangenen befreien können, dann ist das immer noch besser, als nichts zu tun, oder allein die Helden spielen zu wollen«, entgegnete er und fügte noch hinzu:
»Wir sollten wir erst einmal feststellen, wie viele es sind, und wie sie sich eingerichtet haben. Ich wollte ja nur vorher klarstellen, dass wir uns zu keinen unüberlegten Handlungen hinreißen lassen.« Sebastian vermied es tunlichst, diese Befürchtung an Antaronas alleinige Adresse zu richten. Was sie nun am allerwenigsten gebrauchen konnten, war ein sinnloser Streit untereinander.
»Ja, gehen wir, reden wir nicht!« gab seine Frau kurz angebunden zurück und setzte sich wieder in Bewegung. Ihre spärliche Antwort erzählte Bände, und Basti vermutete, dass er knapp einer ihrer impulsiven Ausbrüche entgangen war, die sie oft bei solchen Gelegenheiten freisetzte.
Um die Fährte des Trupps zu finden, mussten sie sich keine Mühe geben. Die Schwarzen Reiter und ihre Bogenschützen machten sich nicht einmal die Mühe, ihre Spuren zu verwischen. Entweder fühlten sie sich so sicher, dass sie es nicht für nötig erachteten, oder sie ließen absichtlich deutliche Spuren zurück, um etwaige Verfolger in eine Falle zu locken.
Antarona schien das gleiche zu denken, denn angesichts der einladenden Spuren beschleunigte sie ihr Tempo nicht etwa, sie wurde statt dessen langsamer und vorsichtiger. Hinter jedem Baum, Gebüsch, oder Felsen mochte ein Bogenschütze versteckt sein, mit dem zweifelsfreien Auftrag, jeden in das Reich der Toten zu schicken, der sich dem Lager näherte.
Alle zwanzig bis dreißig Meter hielt das Krähenmädchen an, hockte sich mit geschlossenen Augen in bekannter Manier auf die Fersen, und wippte langsam auf den Fußballen vor und zurück. Sie versuchte mit ihren Sinnen zu ertasten, was vor ihnen war. So zog sich ihr Weg durch den Wald drei bis vier Stunden hin, ohne dass sie etwas auffälliges erkennen konnten.
Nachdem Sebastian sich beinahe an den Rhythmus des Vorwärtsschleichens und Stehenbleibens gewöhnt hatte, stand sie einmal unverhofft auf und zog ihren ahnungslosen Mann in die Deckung einiger strauchähnlich wachsender Bäume.
»Zwei, oder drei Krieger lauern im Verborgenen, oder halten über das Lager Wache«, verkündete sie nüchtern. »Außerdem ist das Lager der Wilden Horden nicht mehr weit, Sonnenherz kann die Feuer und Pla-ka riechen. Es wird gut sein, die Wachen zu umgehen, und nicht zu töten«, stellte sie zu Bastis Überraschung fest.
»Ach, diesmal nicht wie die Axt durch den Wald?« witzelte er in Erinnerung an frühere Zusammenstöße mit Torbuks Leuten, wo sie wie ein Sturm unter die Gegner gefahren war, und ohne Pardon das Schwert hatte wirbeln lassen. Antarona blieb ernst:
»Wenn die Wachen im Lager vermisst, und mit durchschnittener Kehle gefunden werden, so sind die Schwarzen Reiter gewarnt«, mahnte sie. Sebastian zuckte gleichgültig mit den Schultern.
»Wenn sie gefunden werden«, antwortete er mit deutlicher Betonung auf das Wenn. Er hockte sich hin, und machte damit deutlich, dass er nicht einfach weitergehen wollte.
»Nun stell dir mal vor, die vermissen ihre Wachen, können sie aber nicht finden«, stellte er in Aussicht und sah ihr auffordernd in die Augen. Geheimnisvoll sprach er weiter:
»Nun stell dir weiter vor, sie vermissen immer mehr Krieger und können auch diese nicht finden. Was meinst du, wie würden die darauf reagieren?« Antarona bestätigte mit einem ganz langsamen Kopfnicken, dass sie seinen Gedanken folgen konnte. Sebastian spann seinen Plan weiter:
»Ich denke nach den ersten zehn bis zwölf Kriegern, die sie vermissen, werden die ganz schön nervös. Und wenn wir es schaffen, ihnen dann noch etwas Unheimliches vorzuführen, das sie in Angst und Schrecken versetzt, und das sie als Ursache für das Verschwinden ihrer Leute ansehen, dann zittern sie bald vor Furcht, und wir haben leichtes Spiel, wenn wir sie angreifen, und die Gefangenen befreien.«
Antarona drückte ihm unverhofft einen flüchtigen Kuss auf die Lippen, bekam ein strahlendes Gesicht und er wusste, dass er ihre Neugier geweckt hatte.
»Ihr seid einmal mehr ein weiser und listiger Krieger, Ba - shtie, doch wie wollt ihr das anfangen? Die Zentaren drängen, und ihr wisst nicht...« Er ließ die kleine Kriegerin an seiner Seite nicht ausreden, sondern ersann weiter laut seine Taktik:
»Als erstes müssen wir mal einen Ort finden, an dem wir die Krieger so sicher verstecken können, dass sie auch tatsächlich nicht gefunden werden können. Ich denke da an eine Höhle, oder an eine der kleinen Inseln im Delta, oder...«
»...ein Sumpf!« ergänzte Antarona kaltschnäuzig. Nun war sie es, die ihn nicht ausreden ließ, und zudem noch von Anfang an den Tod der Feinde als selbstverständlich in Kauf nahm, während Basti noch an eine Gefangennahme der Gegner dachte.
»Du willst sie alle umbringen?« fragte er das zierliche Mädchen fassungslos und starrte sie ungläubig an. Antarona bekam wieder das angriffslustige Funkeln in die Augen und erwiderte:
»Na, was glaubt ihr denn, was die mit uns täten, wenn wir ihnen in die Falle gehen würden? Und wenn sie erst mal im Reich der Toten sind, können sie uns nicht mehr bedrohen, und auch die anderen Krieger nicht mehr warnen.« Sie stemmte ihre Hände in die Taille und fügte überzeugt hinzu:
»Feinde, wie diese bleiben immer eine Bedrohung, ob sie dem Volk nun in der Schlacht gegenüberstehen, oder gefangen sind. Es ist besser, wenn man nicht mehr an sie denken muss.« Damit war diese Frage für sie offenbar geklärt. Sebastian aber haderte mit dem Gedanken dieser endgültigen Lösung.
Andererseits war er nicht mehr den Gesetzen seiner humanen Zivilisation verpflichtet. In dieser Welt, in die er wer weiß wie gestolpert war, herrschte das Gesetz des Stärkeren. Wenn er auch anstrebte, dem Volk ein besseres, menschlicheres Gesetz und das demokratische Recht der Selbstbestimmung zu verschaffen, was hinderte ihn daran, Feinde zu töten, um den Weg dafür zu ebnen?
Antarona und er selbst waren die Garanten für eine Demokratie, die irgendwann einmal dem Volk der Îval ein Leben in Frieden bescheren konnte. Er durfte diese winzige Hoffnung in dieser rauen, mitleidlosen Welt nicht dadurch riskieren, indem er an falscher Stelle Gnade walten ließ. Sebastian nickte bedächtig, und sagte leise:
»Wie es aussieht, gibt es im Moment wohl keine andere Wahl.« Damit stand er auf, spannte seinen Bogen auf und überprüfte sein Schwert. Antarona sah im zweifelnd zu.
»Was tut ihr da, Ba - shtie? Vergesst die Waffen, sie werden Glanzauge und Sonnenherz nichts nützen«, sagte sie und erklärte:
»Krieger, welche lautlos töten wollen, benutzen die Waffen des Waldes!« Was sie darunter verstand, sollte Sebastian schnell klar werden. Damit ging sie ein Stück weit auf dem Weg, den sie gekommen waren zurück. Dann änderte sie die Richtung, und bewegte sich wieder dem See zu.
Ab und zu blieb sie stehen, hob die Nase in die Luft und schnupperte wie ein Raubtier auf Beutezug. Schließlich steuerte sie zielstrebig eine kleine Senke an, deren tiefstem Punkt sie sich vorsichtig näherte. Plötzlich blieb sie stehen.
»Der Boden, welcher alles verschlingt«, kommentierte sie, nahm einen schweren Ast und warf ihn auf eine unscheinbare, gerade Fläche weit vor sich. Der Boden, über den Sebastian ahnungslos hinweggetrottet wäre, bewegte sich plötzlich, als wäre er flüssig. Treibsand!
Es war offensichtlich, dass Antarona ihre Äußerung mit dem Sumpf wörtlich genommen hatte. Während Basti darüber nachdachte, was nun folgen würde, zog der bodenlose Morast den dicken Ast mit stoischer Gleichmäßigkeit in die Tiefe. Zwei, drei Bläschen stiegen auf, zerplatzten, dann lag die Fläche da, als hätte sie seit Jahrzehnten nichts berührt. Antarona nickte zufrieden, und trat den Rückweg zur Fährte an.
Unterwegs hielt sie ein par Mal an uralten Bäumen an, und hangelte sich bis zu den ersten Ästen hinauf. Zunächst meinte Basti, sie wollte von dort oben nach den Wächtern des feindlichen Lagers Ausschau halten. Das Krähenmädchen aber hatte es auf Schlingpflanzen abgesehen, die in langen Fäden, wie Luftwurzeln von den Ästen herabhingen.
Einige der dünneren Stränge schnitt sie ab, und warf sie Sebastian von oben vor die Füße. Noch konnte er sich keinen Reim darauf machen, viel weniger erkennen, was sie vorhatte. Mit federnden Beinen kam Antarona wieder auf dem Boden auf und sah sich um.
»Wenn du deine Ernte suchst, hier ist sie«, sagte Basti, wollte witzig sein und hielt ihr die abgeschnittenen Lianen hin. Doch seine Frau beachtete ihn gar nicht, sondern suchte weiter den Boden nach etwas ab, das es nicht zu geben schien.
»Sag mal, kannst du mir verraten, wonach du eigentlich suchst?« fragte er genervt, »Wenn du unsere Feinde suchst, dort geht es lang.« Dabei zeigte er in die Richtung, in die sie schon einmal gegangen waren.
»Sonnenherz weiß, wo der Feind ist, Ba - shtie«, antwortete sie erstaunlich ruhig, »aber wisst ihr, wie ihr die Wachen überwältigen wollt, ohne dass sie den Rest dieser stinkenden Brut warnen?«
Noch im Sprechen schwang sie Nantakis über ihren Kopf und hieb kleine Aststücke aus einem kräftigen Gebüsch. In die Mitte der Handgelenk dicken Stücke schnitt sie jeweils ringsherum eine Kerbe. Anschließend nahm sie Basti einen der Stränge aus der Hand, und knüpfte an jedes Ende eines der gekerbten Hölzer.
Nun schwante ihm, was seine kleine Frau vorhatte. Als er mit achtzehn Jahren seine Militärausbildung in einer Fernspähkompanie absolvierte, hatte er Ähnliches gelernt. In die Enden der dünnen Saiten einer Westerngitarre, die mit Metallösen ausgestattet waren, wurden einfache, fünfundsechziger Drahtstifte gesteckt.
Mit dieser Konstruktion konnte ein Gegner durch kräftiges Zuziehen nicht nur erdrosselt werden, ihm wurde zudem sauber die Kehle durchschnitten. Natürlich nur, wenn es einem gelang, unbemerkt und nahe genug an das Opfer heranzukommen.
Demonstrativ überschlug er eine der fertigen Schlingen, die Antarona ihm gereicht hatte, und zog sie mit einer schnellen, kräftigen Bewegung zu. Der anerkennende Blick seiner Frau sagte ihm, dass er verstanden hatte, was sie plante. Es musste nichts weiter gesagt werden. Über den Tod eines Menschenwesen schon gar nicht.
Nachdem sie ihren Weg fortgesetzt hatten, suchten Antaronas Blicke immer noch unruhig das Gebüsch ab, das zwischen den hohen Bäumen wuchs. Endlich fand sie das Gesuchte und löste bei ihrem Mann weiteres Erstaunen aus. Die langen Stängel mit den traubenartig besetzten, violetten Blüten, die sie nun nahe einem Felsen abbrach, waren ihm nicht unbekannt.
Oft war er als Alpinist zu Trainingsausflügen in das Norddeutsche Mittelgebirge, den Harz, aufgebrochen. Auf Steinhalden, Felsen und auf kargen Bergwiesen wuchsen genau diese Pflanzen, wenn auch nicht in dieser üppigen Größe. Stets hatte er die einzelnen, kleinen Blüten der Trauben bewundert, die wie kleine Pantöffelchen aussahen, und als bunte Tupfer vor dunklen Tannen standen.
Antarona streifte die Blüten von den Stängeln, zerrieb sie mit zwei flachen Steinen zu einem Brei, und vermischte das ganze mit Baumharz zu einer klebrigen Paste, die Sebastian stark an einen in seiner Welt gebräuchlichen, stark riechenden Teppichkleber erinnerte. Die Masse wickelte sie in große, überlappende Blätter ein, und verstaute sie in ihrer Kräutertasche.
Zuletzt rieb sie sich mit dem grauschwarzen Schlamm einer nahen Tiersuhle ein. Das Zeug stank fürchterlich, so, als ob eines der Tiere darin verreckt wäre. Sebastian zögerte, sich mit dem Dreck einzuschmieren. Doch ein tadelnder Blick seines Krähenmädchens klärte die Situation. Widerwillig verteilte er den übel riechenden Lehm auf seinem ganzen Körper, und präsentierte sich dann seiner Frau.
Die fasste ihm an den Bauch und schob ihm den Dreck noch hinter den Lederbund seines Schurzes, wo noch ein weißes, schmales Hautband zu sehen war. In entspannterer Situation wären ihm dabei angenehmere Gefühle gekommen. Antarona betrachtete ihren Krieger von oben bis unten und nickte zufrieden.
»Sonnenherz ist nun bereit, die Wachen des feindlichen Lagers zu suchen«, verkündete sie beinahe emotionslos. Sie wartete, bis Basti seine Waffen und Bündel aufgenommen hatte, und ging los. Sie bewegte sich leichtfüßig und schnell, bis sie den ort erreichten, wo sie vor einer Stunde umgekehrt waren.
Von dieser Stelle an, schlichen sie nur noch vorwärts, von Felsen zu Baum, von Baum zu Gebüsch, von Gebüsch zum nächsten Felsen. Nach jeder Etappe legten sie eine kleine Pause ein, beobachteten das Gelände vor sich, versuchten den dichten Wald mit ihren Augen zu durchdringen, achteten auf jede Regung in den Blättern und Gräsern, bereit, sich von einem Augenblick zum nächsten dicht an den Boden zu drücken.
So arbeiteten sie sich Stunde um Stunde vorwärts. Erst, als die Sonne schon ein Stück weit tiefer stand, hielt Antarona plötzlich Bastis Arm fest. Ihre Blicke deuteten vorwärts. Sebastian sah aber nur einen mächtigen, Moos bewachsenen Baum, der irgendwann vom Wind gefällt worden war, und dessen Stamm quer im Wald lag. Er wusste nicht, was seine Frau ihm mitteilen wollte und zuckte mit den Schultern.
Antarona deutete noch einmal auf den Stamm. Da! jetzt sah er es. Die mächtige Wurzel des Stammes lag hinter einem Strauch, dessen Blätter sich auffällig bewegten, obwohl im Moment kein Wind ging. Dieses winzige Detail war Antarona aufgefallen.
Sofort drückten sie sich so weit auf die Erde, dass sie gerade eben noch zum Baumstamm hinüber sehen konnten. Irgendetwas bewegte sich dort, doch sie konnten außer Bäumen, Sträuchern und Blättern nichts erkennen. Sebastian bediente sich eines uralten Tricks, der immer wieder funktionierte.
Er hob einen Stein auf, der bequem in seinen Finger lag, wog ihn ein par Mal in der Hand und schleuderte ihn dann in hohem Bogen rechts vom Baumstamm zwischen die Bäume. Mit einem hohlen Klacken schlug er gegen irgendeinen Stamm und fiel mit dumpfem Geräusch zu Boden.
Zunächst geschah gar nichts, und sie wollten schon daran glauben, sich die Bewegung im Gebüsch eingebildet zu haben, als ein Kopf, dann ein Oberkörper hinter dem Stamm auftauchte, der sich langsam in die Richtung des lauten Geräuschs bewegte. Kurz darauf tauchte noch eine zweite Gestalt auf, die der ersten folgte.
Deutlich konnten Basti und Antarona die Rüstungen der Schwarzen Reiter erkennen. Wie viele aber genau sich hinter dem großen Baumstamm aufhielten, vermochten sie nicht zu sagen. Aber sie mussten sie ausschalten, wenn sie diese Krieger bei ihrem weiteren Vorgehen nicht im Rücken haben wollten.
In der Zeichensprache, die Antarona ihm beigebracht hatte, stimmten sie sich ab. Sie wollten sich im Schutz der linken Sträucher an den Feind heranpirschen. Je nach dem, welche Situation sie vorfinden würden, wollten sie wahlweise die Schlingen, oder den Bogen einsetzen, um die Reiter zu überwältigen.
Waren es nur zwei oder drei, so konnten sie es wagen, gezielte Pfeile abzuschießen. Doch wenn es mehrere waren, dann mussten sie diese trennen, und einzeln mundtot machen. Um ungesehen an sie heran zu kommen, mussten sie außerdem ihre Tarnung vervollständigen.
Antarona begann damit, sich nochmals mit der feuchten Erde einzuschmieren, und sie achtete peinlichst darauf, kein Stückchen Haut zu vergessen. Sebastian ging noch einen Schritt weiter. Wie er es in seiner Militärausbildung gelernt hatte, band er sich mit Lederschnüren Zweige der umstehenden Büsche an Kopf, Arme und Beine. Stolz präsentierte er sein Werk dem Krähenmädchen.
Anerkennend nickte Antarona und machte es ihm nach. Dabei achteten sie darauf, dass ihre Bewegungsfreiheit nicht eingeschränkt wurde. Danach unterschieden sie sich tatsächlich nicht mehr von den Sträuchern, und verschmolzen optisch fast vollständig mit ihrer Umgebung. Sie waren perfekt vorbereitet.
Ihre Bündel und Kleidung verbargen sie unter einer ausgehöhlten Baumwurzel, die sie mit Laub bedeckten. Für den Fall, dass sie sich zurückziehen mussten, konnten sie sich die Sachen später wieder abholen.
Nun galt es, sich absolut geräuschlos an die Männer der wilden Horden heranzuschleichen. Je näher sie an sie herankamen, desto sicherer war ihnen der Sieg. Jede Deckung ausnutzend, in kleinen Etappen, und beinahe tastend setzten sie die Schritte ihrer nackten Füße lautlos auf den weichen, feuchten Waldboden.
Das Krähenmädchen ging voran, denn sie vermochte zusätzlich den Weg mit ihren Sinnen zu sehen. Ihre Füße berührten erst gar keinen am Boden liegenden Zweig, der sie mit einem knackenden Geräusch verraten konnte. Sie ahnte jegliches verräterisches Hindernis.
Sebastian folgte ihr dennoch nicht im blinden Vertrauen. Er legte seinen Ehrgeiz in das bemühen, ihre Fähigkeiten zu erlernen, auch wenn er zugeben musste, von ihrer Gabe noch Dimensionen weit entfernt zu sein. Ihre Pirsch führte sie um einige Buschreihen herum, und durch eine kleine Senke, die ziemlich nahe an der riesigen Wurzel des umgestürzten Baumstamms endete.
Vorsichtig, so langsam, dass es ihnen selbst vorkam, als bewegten sie sich gar nicht, schoben sie ihre Köpfe über den Rand der Senke, nur so weit, dass sie das Gelände vor ihnen einsehen konnten. Hinter dem mächtigen Baumstamm befand sich so etwas, wie ein kleines Lager. Offensichtlich hatten sich die zur Wache eingeteilten Soldaten im Schutz des Stammes häuslich eingerichtet.
Einer der Krieger lag mit dem Rücken an den Baum gelehnt, die Hände hinter dem Kopf verschränkt. Basti konnte nicht feststellen, ob er vor sich hin döste, oder wachte. Zwei weitere Männer hockten an einer erloschenen Feuerstelle. Anscheinend bereiteten sie diese zum erneuten Anzünden vor.
Die beiden anderen Krieger, die Sebastian mit seinem Stein aufgeschreckt hatte, waren nicht zu sehen. Wahrscheinlich hatten sie sich etwas vom Wachlager entfernt, um der Ursache für das durch den Wald hallende Klacken auf den Grund zu gehen. Ob noch weitere Gegner zu erwarten waren, konnten sie nicht herausfinden.
Und nun mussten sie schnell handeln. Im Augenblick hatten sie es mit drei Gegnern zu tun. Kamen die anderen beiden überraschend zurück, konnten die Chancen sich gegen sie wenden. Antarona erfasste die Lage genauso und machte Sebastian ein Zeichen, dass er sich um den am Baum lehnenden kümmern sollte.
Sie selbst legte einen Pfeil an die Sehne, den sie in die vorher zusammengerührte Paste getaucht hatte und nahm noch einen zweiten und dritten in die Bogenhand. Sie wartete, bis auch Sebastian seinen Pfeil mit der geheimnisvollen Substanz bestrichen, und an die Sehne gelegt hatte. Als Startzeichen nickte sie kurz und spannte den Bogen. Sebastian konzentrierte sich auf die Brust des vor sich hin dösenden Mannes, obwohl er wusste, dass ein Pfeil auch durchaus von den Rippen abprallen konnte.
Die beiden anderen Krieger unterhielten sich leise mit missmutigen Gesichtern. Vermutlich sprachen sie über die miese Bezahlung, für die sie ihren Kriegsdienst verrichten mussten. Langsam und bedächtig atmend spannten die beiden Angreifer ihre Bogen.
Den ersten Pfeil schoss Antarona ab. Sebastian hörte ihn nur, seine Augen lagen auf sein eigenes Ziel geheftet. Nun ließ er sein Geschoss von der Sehne schnellen. Gleichzeitig hörte er, wie Antaronas zweiter Pfeil durch die Luft sauste. Der Reiter am Baum fasste sich erschrocken an die Brustseite, als hätte ihn unverhofft ein Sis-tà-wàn gebissen.
Basti fingerte nach einem weiteren Pfeil, um sein mörderisches Werk zu beenden, da sah er, wie der Mann tonlos zur Seite kippte, und liegen blieb. In diesem Moment hörte er, wie das Krähenmädchen einen dritten Pfeil abschoss, und er hörte seinen gedämpften Aufschlag. Sein Blick löste sich von seinem Ziel und er sah die beiden Männer an der Feuerstelle liegen.
Der erste Pfeil seiner Frau hatte dem vorderen Krieger glatt den Hals durchschlagen. In irrsinniger Schnelligkeit hatte Antarona einen zweiten Pfeil in Schussposition. Doch als dieser sein Ziel erreichte, hatte der zweite Reiter reflexartig die Arme gehoben, als er seinen Kameraden zur Seite kippen sah. Der Pfeil durchbohrte nur seinen Oberarm.
Erst der dritte Pfeil, den Antarona zusätzlich aus dem Köcher zupfen musste, schlug in seine Brust ein, und warf ihn hintenüber, wo er regungslos liegen blieb. Dass der Mann nicht noch geschrien, und die beiden Kameraden irgendwo zwischen den Bäumen gewarnt hatte, war wohl weniger dem dritten Pfeil, als denn mehr dem Umstand zu verdanken, dass er von der Überraschung geschockt war.
Die Blicke auf die Bäume gerichtet, huschten zwei auf Füßen wandelnde Sträucher zu den gefallenen Kriegern hinüber. Antaronas Gegner hatten ihr Lebenslicht ausgehaucht. Sebastians Mann lag auf der Seite und zitterte im Todeskrampf. Er sah, wie ihm das Blut aus der Nase trat, und jeder Atemstoß blutige Blasen aus seinem Mund sprudeln ließ. Ungläubige, von panischer Angst und blankem Entsetzen aufgerissene Augen sahen ihn an, und Sebastian begann selbst zu zittern.
Was sollte er nun tun? Es sah nicht so aus, als würde der Krieger seine Kameraden noch warnen können. Aber er konnte ihn auch nicht einfach so daliegen lassen, und auf seinen Tod warten. Er musste es beenden! Basti vermied den Gedanken, den Mann töten zu müssen, er redete sich ein, lediglich die Sache zu beenden.
Später erinnerte Sebastian sich, dass er wohl mehr Angst hatte, diesem Mann endgültig das Leben aus dem Leib zu quetschen, als dieser sie empfand, als er vor seinen Schöpfer trat. Noch lange Zeit danach wurde Basti die bösen Träume nicht mehr los, in denen er immer wieder die Schlinge aus Lianen zuzog, und wieder los ließ, und erkennen musste, dass der Mann immer noch lebte, ihn mit anklagenden, fragenden Augen anblickte.
Mit verzerrtem Gesicht und aller Kraft zog Sebastian die Schlinge um des Mannes Hals zu. Einer der hölzernen Griffe brach, und er wickelte sich die Schlinge kurzerhand um die Hand, und zog weiter zu, biss ihm die Knöchel weiß hervortraten.
Doch nach wie vor sah der Mann ihn grinsend an. Sebastian biss die Zähne zusammen, zog und zog immer noch fester, und meinte, sehen zu können, wie der Krieger unter seinen Händen zu lächeln begann. Er lachte ihn aus! Erschrocken zog er noch einmal zu, so fest er vermochte, und allmählich schienen ihm selbst die Sinne zu schwinden. Leise drang eine Stimme an sein Ohr:
»Baaa - shtie! Der Mann ist tot, ihr könnt aufhören!« Antaronas Hände packten ihn kalt am Arm und rüttelten ihn. Langsam kehrte sein Geist aus einem flüchtigen Nebel in den Wald zurück, in dem er seinen ersten bewussten, vorsätzlich geplanten Mord begangen hatte.
Er blickte in starre, leblose Augen, dann in Antaronas entschlossenen Blick. Rein mechanisch zog er die Lianenschlinge unter dem Hals seines Opfers hervor, legte sie zusammen und verstaute sie in seinem Jagdbeutel. Er zitterte immer noch, als hätte ihn eine fiebrige Erkältung heimgesucht.
»Ba - shtie, die Toten müssen von hier verschwinden, bevor die anderen beiden Krieger zurückkehren!« Ihre Stimme klang eindringlich, ermahnend, fordernd, und er empfand sie als unangenehm störend. Gleichzeitig drang ihm der Geruch nach frischen Urin in die Nase. Hatte er sich eingenässt? Er sah an sich herab. Dabei streifte sein Auge die nasse Hose des toten Kriegers unter dessen Waffenrock.
»Ba - shtie, kommt endlich hoch, die Toten müssen weg!« zischte das Krähenmädchen ihn an. Die Stimme hatte sich nun in Wut und Verzweiflung gewandelt. Sebastian erhob sich mit wackligen Beinen. Wie mechanisch folgte er seiner Frau zur Feuerstelle hinüber und fasste den ersten Toten an den Füßen. Zusammen schleiften sie die Leiche über den Rand der Senke und ließen sie achtlos dort liegen.
Ebenso verfuhren sie mit dem zweiten Mann. Sebastian empfand nichts für die Toten. Es waren eben Tote. Er hatte das zweifelhafte Gefühl, dass der Gegner, den er in das Reich der Toten geschickt hatte, nicht ganz so tot war, wie diese beiden, die von Antaronas Pfeilen in die Ewigkeit geschickt wurden. Und er hatte Angst davor, ihn anzufassen und in die Senke zu zerren. Aber dazu kam es nicht mehr.
Sie hatten gerade den zweiten Gegner Antaronas in der Mulde abgelegt, als sie die zwei übrig gebliebenen Krieger kommen hörten. Alle Vorsicht außer Acht lassend, kamen die zwei sich laut unterhaltend und lachend näher, als müssten sie weder Feind noch Truppführer fürchten.
In Windeseile hatte Antarona einen Pfeil an die Sehne gelegt. Mit zornigem Blick stieß sie Basti mit dem Ellenbogen an, als sie sah, dass er immer noch tatenlos zu seinem toten Gegner hinüber starrte. Geistesgegenwärtig spannte auch er den Bogen, und musste sich zwingen, sich auf die neue Bedrohung zu konzentrieren.
Die beiden Reiter kamen zum Lagerplatz und sahen sich zunächst verwundert um. Dann sahen sie ihrem Kameraden am Baum, der zur Seite gekippt dalag. Sebastian hatte vermutet, dass sie sofort alarmiert zu den Waffen greifen würden. Doch anstelle einer solchen Reaktion, begannen die beiden herzhaft zu lachen. Offenbar meinten sie, der Kamerad hätte zu tief in die Mestasflasche geblickt, und befände sich im Land der Träume.
Sie hatten keine Chance, jemals die Wahrheit zu erfahren. Der erste Pfeil, von Antaronas Sehne geschnellt, traf den linken Krieger voll in die Brust. Gleichzeitig fuhr dem zweiten Mann Bastis Pfeil knapp unter der Schulter ebenfalls in die Brust. Während Antaronas Gegner wie ein Klappmesser zusammenfiel und liegen blieb, schwankte der andere mit erstauntem Blick hin und her, blieb stehen, die Hände an den Pfeil gelegt, als ob er ihn mit einem Ruck herausziehen wollte.
Du musst es beenden, schoss es Sebastian durch den Kopf. Er nahm gar nicht wahr, dass Antarona bereits einen zweiten Pfeil am Bogen hatte, mit dem sie den Mann zu Fall bringen wollte. Basti warf seinen Bogen fort, zog sein Schwert und stürmte auf den verdutzten Krieger zu, der sich kaum erklären konnte, wieso er von einem kleinen Baum angegriffen wurde.
Ungläubig sah ihm der Reiter entgegen. Er hatte noch nie von Waldgeistern gehört, die Menschenwesen töteten. Er war ein harter, unerbittlicher Krieger, doch nun sah er sich einer Macht gegenüber, die ihn erschreckte und lähmte. Ein lebendig gewordener Strauch mit der Gestalt eines Menschenwesen sprang in bizarren Verrenkungen auf ihn zu.
Sebastian zögerte keine Sekunde. Wie sie es oft Stunden lang im Tanz geübt hatten, drehte er sich im Lauf, um die Fliehkraft auf sein Schwert zu übertragen. Der Gegenüber indes regte sich nicht, starrte ihm nur fassungslos entgegen. Bastis Klinge traf den Mann mit einer solchen Wucht hart am Hals, dass er sich überschlug und kopfüber zur Seite purzelte.
Sein Blut bespritzte alles, was nicht mehr drei Meter entfernt war. Sebastian sprang dem Gefallenen nach und stieß ihm von oben das Schwert in die Brust. Er hörte das gedämpfte knirschende, knackende Geräusch, als die mit Kraft niedergedrückte Klinge Rippen und Wirbelsäule im Fleisch brach.
Die Hände am Griff seiner Waffe abgestützt, so kniete Basti eine gedachte Ewigkeit vor der Leiche seines Gegners. Körperlich war die Attacke ein Tanz, doch psychisch hatte sie ihm die letzte Kraft geraubt. Was taten sie hier eigentlich? Hatte das noch etwas damit zu tun, das Volk der Îval zu befreien und zu verteidigen?
Unendlich müde, abgekämpft und versunken in einem Strudel der Ziellosigkeit und Abscheu starrte er auf die Wunde in der Brust des Mannes, in der noch sein Schwert steckte. Immer weiter trat Blut hervor, frisches, hellrotes Blut, das warm nach rostigem Eisen roch, und in seinem Gaumen eine Übelkeit entstehen ließ, die zu unterdrücken er Mühe hatte.
»Was habt ihr euch dabei gedacht, Ba - shtie?« Antarona war neben ihm aus dem Boden gewachsen und ihr Blick verriet Entrüstung. Das Krähenmädchen drehte sich im Kreis und deutete mit ihrem Bogen in alle Richtungen.
»Seht euch das an, überall habt ihr sein Blut verteilt! Ebenso hättet ihr es vor dem Lager der Wilden Horden verspritzen können. Es wird viel Mühe machen, die Blätter der Büsche und die Baumfüße zu reinigen, wertvolle Zeit wird es kosten...« Sebastian sah nur kurz auf, schluckte das würgende Gefühl vor seinem Magen hinunter und fuhr sie verzweifelt an:
»Halt den Mund! Antarona, ich sage dir, halt den Mund, oder ich vergesse mich. Sei einfach still, ja? Sag kein Wort mehr!« In solch einem Ton hatte er noch nie zuvor mit der Frau, die er liebte, gesprochen, und seine Worte, verbittert hervorgestoßen, erschreckten ihn selbst.
Mit verwunderten Augen sah Antarona ihn an, und es brauchte eine Weile, bis sie begriff. Sie biss sich auf die Unterlippe, verunsichert, wie sie nun reagieren sollte, und hockte sich neben ihn und starrte nun ebenfalls bedrückt auf das in seinem Blut liegende Menschenwesen.
Plötzlich erinnerte sie sich daran, wie es war, als sie selbst ihren ersten Menschen getötet hatte. Im Kampf ums Überleben hatte sie früh angefangen, zu töten. Sie hatte nie darüber nachgedacht. Es war selbstverständlich, sie war mit dieser Notwendigkeit als Überlebensstrategie aufgewachsen. Es war nichts Besonderes, wenn sie und ihre Freundinnen ihre Väter verabschiedet hatten, die in eine schlacht zogen. der Tod war allgegenwärtig.
Das hier aber war etwas anderes. Als sie das erste Mal allein die Wilden Horden verfolgt hatte, um die Schwestern ihres Volkes aus deren grausamer Hand zu befreien, hatte sie geplant, mit Überlegung getötet. Es ging nicht anders. Sie musste es tun, um ihre Schwestern vor einem grausamen Schicksal zu bewahren.
Dennoch fiel sie anschließend in eine Lethargie der Hoffnungslosigkeit. Sie fühlte sich schlecht, glaubte, sich mit dieser Tat gegen die Götter selbst gestellt zu haben. Sie hatte sich gehasst, und sich selbst zur Strafe die Haare kurz geschnitten. Doch all das hatte nichts genützt. Ein Gefühl der Übelkeit suchte sie Tagelang heim, und sie brachte keinen Bissen mehr hinunter, bis sie zu verhungern drohte.
Bilder kehrten in ihren Kopf zurück, die sie längst begraben glaubte. Sie erinnerte sich daran, dass sie sich selbst als widerwärtig, als aussätzig betrachtete. Danach hatte sie eine geraume Zeit in der Einsamkeit der Wälder verbracht. Ihr einziger Kontakt war die Waldlerin gewesen, eine alte Kräuterhexe, die ihr das Selbstwertgefühl zurückgab.
Das Volk und die Götter hatten ihr schließlich verziehen. Mehr noch, sie hatten sie zur Kriegerin gemacht, mit dem Auftrag, ihr Volk zu schützen. In diesem Moment sickerte ihr ins Bewusstsein, dass sie bereits viel zu lange unter dem Segen ihrer selbst auferlegten Berufung Feinde getötet hatte, ohne dieser Taten wirklich bewusst zu werden.
Nun fiel es ihr wie Schuppen von den Augen, dass ihr Geliebter sich am Beginn in eben dieser Marter befand. Hatte sie diese Möglichkeit ignoriert, hatte sie angenommen, als Krieger von den Göttern gesandt, wäre er gegen die Abscheu des Tötens gewappnet? Versöhnlich legte sie ihren Arm um seine Schultern und neigte ihren Kopf in seine Halsbeuge.
»Sonnenherz tut es leid, diese Worte gesprochen zu haben, Ba - shtie«, begann sie ehrlich, aber auch etwas verunsichert.
»Es ist niemals gut, Menschenwesen töten zu müssen, auch wenn es oft sein muss, um selbst zu überleben, um als Volk frei leben zu dürfen.« Sebastian sah sie an, und in diesem Augenblick gelang es ihm wieder aufzuwachen, aus einem Alptraum, der ihn in die Dunkelheit zu ziehen drohte.
»Auch mir tut es leid, mein Engelchen«, beteuerte er, »aber auf einem Mal hatte ich mich gefragt, ob es richtig ist, was wir tun, ob es richtig ist, wie wir es tun.« Er hob entschuldigend die Schultern und fuhr fort:
»In der Welt, aus welcher ich komme, darf man ein Menschenwesen nur töten, wenn man nur dann verhindern kann, selbst getötet zu werden. Wir aber haben diese fünf Männer getötet, ohne dass sie uns direkt bedroht hatten.«
Antarona nickte. Sie wusste es. Im Reich der Götter war das Töten grundsätzlich nicht erlaubt. Natürlich war es dann auch Ba - shtie verboten.
»Aber das ist es nicht allein«, sprach Sebastian mit leerem Blick weiter, »es ist auch.., all das Blut.., und der Geruch, all das.., sollte so nicht sein. Und ich schäme mich dafür, dass es so gekommen ist.«
Er vergrub sein Gesicht in den Händen, und massierte sich die Augen, als wollte er dieser grauenhaften Realität entfliehen, die ihn immer noch umfangen hielt. Dabei merkte er gar nicht, wie er sich das Blut des Getöteten ins Gesicht schmierte. Dass er nun mit dem Lehm und dem Blut im Gesicht, wie ein leibhaftiger Teufel aussah, fiel ihm freilich nicht auf.
»Ba - shtie, es ist nicht eure Schuld«, versuchte das Krähenmädchen ihn zu beruhigen. »Und dies hier war nötig. Wie sonst wolltet ihr Vesgarina und Frethnal retten?«
»Ja, das war es wohl.., notwendig. Vielleicht. Ich hoffe auch, es hat sich gelohnt, und wir bekommen die beiden unversehrt wieder.« Seine Stimme klang tonlos, ohne jegliche Überzeugung, und er fragte sich, ob diese Art des Tötens so weitergehen würde, bis in diesem land endlich Frieden herrschte.
Antarona erhob sich schwerfällig, sah sich um und ging in dem fremden Lager umher, scheinbar ziellos, unschlüssig, was sie nun tun sollten. Sie wollte sich gerade die an ihren Leib und ihre Gliedmaßen gebundenen Zweige und Blätter abrupfen, als sie wie versteinert stehen blieb.
Sebastian gewahrte ihre plötzliche Starrheit aus den Augenwinkeln, und wandte sich um. Am Rand des Lagers stand, wie aus dem Boden gewachsen, ein weiterer Krieger Torbuks. Irritiert, fassungslos und stumm sah dieser über das Lager, sah all das Blut, erblickte die toten Kameraden, und sah die zwei teuflischen Höllenwesen, die offenbar dieses Blutbad angerichtet hatten.
Er war seit vielen Jahren ein Krieger der Wilden Horden, und an so einige Abscheulichkeiten gewöhnt. Doch diese beiden Geister, die den Tiefen der Erde entsprungen sein mussten, überforderten sein Verständnis. Kreidebleich, wie angenagelt, stand er da, rührte sich nicht, hoffte, dass diese beiden Erddämonen ihn nicht sehen konnten. Aber sie konnten.
Zuerst löste sich Antarona aus ihrer verharrenden Stellung. Sie sprang in die Luft, vollführte eine akrobatisch ausgereifte Drehung, und zog dabei Nantakis aus der Scheide. Sebastian indes stand langsam auf, als vermochte er damit zu verhindern, dass er den unvermittelt aufgetauchten Reiter zu verschrecken.
Bevor das Krähenmädchen den Mann attackieren konnte, ließ dieser mit vor Entsetzen verzerrtem Gesicht seine Waffen fallen und rannte stolpernd und stumm davon. Mit den Dämonen, die aus der Finsternis kamen, das wusste er, konnte man sich nicht anlegen. Die konnte man nicht töten, ja nicht einmal verletzen!
Seinem Truppführer würde er in einer Zentare berichten, dass zwei wilde, grauenhafte Walddämonen alle seine Kameraden auf grauenhafteste Weise dahingemetzelt hatten. Ob dieser Truppführer sich von zwei angeblich nackten, schwarzen Teufeln einschüchtern ließ, war noch zu bezweifeln. Diesen Gedanken hatte offenbar auch Antarona.
»Die Leichen müssen fort, Ba - shtie, damit die denken, die schwarzen Dämonen der Erde haben sie in die dunkle Tiefe mitgenommen!«
Sie ließ ihre Absicht wie einen Befehl klingen, um einer etwaigen Diskussion zu entgehen. Das war allerdings nicht nötig, denn Basti dachte ebenso. Dennoch fragte er sich, warum sie dem Fliehenden nicht noch einen Pfeil in den Rücken geschossen hatte. Zu anderer zeit hätte sie es getan, und sie wäre leicht dazu in der Lage gewesen, obgleich sie keinen Pfeil an der Sehne hatte.
Als erstes sammelte Sebastian die Waffen des geflohenen Kriegers ein. Schwert und Messer waren ganz brauchbar. Er wollte sich gerade den Waffen der Toten zuwenden, als er etwas hörte, das nicht in die gewöhnlichen Geräusche des Waldes passte. Lauschend hielt er inne, und erregte damit auch Antaronas Aufmerksamkeit.
Es klang, als würde irgendwo in der Nähe ein Pla-ka schnauben. Natürlich! Die Reiter waren wohl kaum zu Fuß zu ihrem Außenposten gelangt. Sicher hatten sie ihre Reittiere im Schutz eines großen Felsens, oder einer dichten Baumgruppe zurückgelassen. Nun erklärte sich auch, woher der Krieger gekommen war, der nun in heilloser Flucht begriffen war. Er hatte auf die Pla-kas aufgepasst.
Basti und Antarona mussten nichts sagen. Ihre Blicke trafen sich, und sie wussten, was sie tun würden. Mit blank gezogenen Waffen schlichen sie in die Richtung, aus der das Schnauben gekommen war. In einer flachen Senke, hinter einer Reihe mannshoher Steine, standen friedlich sechs Pla-ka und blickten ihnen neugierig entgegen.
»Die gehören nun Sonnenherz und Ba - shtie«, stellte das Krähenmädchen wie ganz selbstverständlich fest. »Sie werden nützlich sein, bei der Befreiung von Vesgarina und Frethnal«, stellte sie weiter in Aussicht.
Sie machten die Tiere los, die an einer zwischen zwei Bäumen befestigten Stange angebunden waren. Antarona beruhigte die Tiere mit ihrem Singsang, mit dem sie schon oft verschreckte, skeptische Tiere gezähmt hatte. Anschließend ließen sich die Pla-kas, trotz Antaronas und Bastis wilden, fürchterlichen Anblicks mühelos fortführen, ohne auch nur einmal zu bocken. Jeder von ihnen nahm drei Tiere an die lange Leine und brachten sie zum Lager der Krieger, die stumm umherlagen, als hätte sie ein Blitz getroffen.
»Die Toten müssen weg, Ba - shtie«, stellte Antarona fest, indem sie die Pla-ka an einen Baum band.
Sebastian sah sich um. Freilich konnten die Leichen nicht so liegen bleiben. Jedem halbwegs intelligenten Truppführer musste rasch klar werden, dass hier nicht irgendein fürchterliches Monster Hand angelegt hatte, sondern ein Menschenwesen mit Waffen. Aber mit dieser Erkenntnis vermochten sie niemandem das Fürchten zu lehren.
Er musste jedoch auch nicht fragen, was sein Krähenmädchen vor hatte. Sie war bereits dabei, Stricke aus dem Hab und Gut der Wachsoldaten zu suchen, und sie den Toten um die Leiber zu schlingen. Mit einiger Entrüstung sah sie ihn an, wie er so tatenlos herumstand und sagte vorwurfsvoll:
»Wenn ihr mit anfassen würdet, O edler Krieger der Götter, so wären die Toten bald von Mutter Erde getilgt!« Immer wieder überraschte ihn, wie selbstverständlich, ja geradezu pragmatisch sie mit dem Tod umging, um sich dann ebenso schnell wiederum in ein sanftmütiges, ängstliches und zerbrechliches Wesen zu verwandeln.
Zuweilen gingen ihm ihre Stimmungswechsel zu rasch vonstatten. Nie blieb ihm genug Zeit, sich auf ihre jeweilige Stimmung einzustellen. Doch auch das machte einen Teil ihrer Reize aus, denen er immer wieder verfiel. Ihre Spontaneität, die er selbst nicht besaß, faszinierte ihn.
Nun sah er seiner Frau dabei zu, wie sie mit Nantakis in die Büsche hieb, und kleine Bäumchen mit Zweigen und Laub abschlug. Sie arbeitete wie eine Verrückte, und ihr gebräunter Körper glänze wie von Bronze überzogen. Allmählich erwachte Basti aus seiner Tatenlosigkeit.
»Was tust du da?« Erstaunt verfolgte er, wie das Krähenmädchen die Sträucher auf einen Haufen warf.
»Na was wohl?« Deutlich zeigte sie ihm mit ihrer schnippischen Antwort, was sie davon hielt, dass er ihr nicht half. Ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen, fügte sie hinzu:
»Die Toten müssen weg, Ba - shtie. Wenn die einen weiteren Trupp schicken, sollen sie getrost denken, die Dämonen hätten ihre Kameraden geholt...«
»...dann werden die Krieger unruhig, bekommen Angst, und die Truppführer haben ihre Mühe mit ihnen«, spann Sebastian anstelle Antaronas weiter.
Schnell verdrängte er, dass er die Wachen grausam ermordet hatte. Der Taktiker und Pragmatiker Sebastian Lauknitz brach wieder aus ihm hervor. Er packte Antarona am Arm, und eröffnete ihr aufgeregt seinen Plan:
»Das ist es! So können wir sie besiegen. Wir schnappen sie uns einzeln, und lassen sie verschwinden. Dazu müssten wir noch irgendetwas tun, etwas, das ihnen solche Angst einjagt, dass sie freiwillig die Gefangenen freilassen und ihr Heil in der Flucht suchen.«
Antarona hielt in ihrer schweißtreibenden Arbeit inne, sah ihn ob seiner plötzlichen psychischen Verwandlung mit verwunderten Augen an und meinte dann:
»Ja, Ba - shtie, das mögt ihr wohl tun, doch nun solltet ihr Sonnenherz mit diesen hier helfen.« Dabei wies sie mit dem Kopf auf die Toten, auf denen sich inzwischen die ersten Aasfliegen niedergelassen hatten.
Mit einer Zielstrebigkeit, als hätte sie niemals etwas anderes getan, band sie die dicken Enden der Sträucher je einen links und rechts an den Sätteln der Pla-ka fest. Hinter den Zugtieren verknüpfte sie die Konstruktion aus Büschen und Blättern.
Die ganze Konstruktion sah aus wie ein stark geneigter, skurriler Handkarren ohne Räder. Auf die beiden biegsamen Stämme hinter dem Pla-ka schnürten sie jeweils einen Toten auf. Diese Arbeit war mühevoll und zeitraubend zugleich.
Die Leichen der ausgewachsenen, wohlgenährten Wachmänner waren so schwer, dass sie diese immer nur ein kleines Stück weit unter Aufbietung all ihrer Kräfte fortschleifen konnten. dazu kam noch, dass die Pla-kas beim Aufbinden nervös hin und her tänzelten, und die Arbeit unnötig erschwerten.
Es kam ihnen vor, als wäre eine Ewigkeit verstrichen, als sie endlich die ersten drei Leichen auf den Tragen befestigt hatten. Antarona nahm eines der Tiere an den Zügeln, flüsterte ihm in die großen Ohren, und führte es auf den unsichtbaren Pfad durch den Wald.
Sebastian hatte mit seinem Tier etwas mehr Mühe. Mit einem Hüh, los mach schon wollte er den Pla-ka antreiben. Das Tier aber glotzte ihn nur mit großen, schwarzen Augen an, als hätte es zum ersten Mal ein Menschenwesen erblickt, und hielt es für eine Misslaune der Natur.
Wer wusste schon, mit welchen Versprechen das Krähenmädchen ihre Tiere bestochen hatte, dass sie ihr gehorsam folgten. Jedenfalls schien sich sein Tier ohne verheißungsvolle Worte nicht bewegen zu wollen.
»Ba - shtie, ihr müsst ihm die Angst nehmen, sein Vertrauen gewinnen, ihn spüren, dann wird er euch folgen«, belehrte sie ihn über ihre Schulter hinweg.
»Denkt an jenen Pla-ka, welcher euch durch die Ebene zum Tal der roten Flühen trug!« rief sie ihm noch nach, und verschwand mit ihren Tieren langsam zwischen den hohen Bäumen.
Was sollte das nun wieder? Warum sollte er sich an diese peinliche Episode seiner Reiterlaufbahn erinnern, als der Pla-ka auf dem Weg in das freie Tal mit ihm durchgegangen war? Er schüttelte widerwillig den Kopf, doch im gleichen Augenblick fiel ihm ein, was Antarona meinte.
Als wäre das Tier sein Bruder, so sprach er leise in dessen großes Ohr hinein, streichelte ihm den Hals und versprach ihm neue, freundliche Reitpartner, die ihn gut behandeln würden. Sebastian staunte selbst über das Ergebnis. Nach einer Weile ließ sich der Pla-ka widerstandslos in den Wald führen.
Basti folgte Antarona und dem Pfad, der zu dem alles verschlingenden Sumpf führte. Gemeinsam nahmen sie dort die Soldaten ihres gehassten Feindes von den Schleppgestellen, schwangen sie drei Mal hin und her und ließen sie dann in die modrige Brühe klatschen.
Hatte Sebastian seine Zweifel daran, das Sumpfloch würde all diese Leichen aufnehmen und verbergen, so konnte er sich nun davon überzeugen, dass die Toten wie von einem unersättlichen Maul der Erde restlos verschlungen wurden.
Zuletzt sah nur noch eine Hand aus dem Schlamm, anklagend, als wollte die Seele des Reiters sich an das Irdische krallen, um an die Tat zu erinnern, die Basti und Antarona begangen hatten. Doch schließlich verschwand auch sie im Schlund des Loches.
Was blieb, waren die Gedanken, die Sebastian beherrschten, die zwar sein Handeln nicht mehr beeinträchtigten, wohl aber seine Seele belasteten. Antarona schien seine Zweifel zu spüren. Sie hielt kurz an, nachdem sie ihre Pla-ka für den Rückweg an kurzer Leine gefasst hatte und rechtfertigte ihr Tun:
»Ihr solltet es euch nicht zu schwer machen, Ba - shtie. Es ehrt euch, dass ihr das Leben eines Wesens nicht leichtfertig nehmt, doch denkt stets daran, dass wir Vesgarina und Frethnal, und all die anderen niemals lebend wiedersehen werden, wenn wir diese gemeinen Halunken nicht ausschalten.«
Sebastian aber weigerte sich zu glauben, dass alle Soldaten Torbuks gemeine Mörder waren. Viele von ihnen waren eben nur Söldner, die in Quaronas oder Zarollon eine Frau und Kinder hatten. Möglicherweise handelten sie sogar unter dem Druck und der Androhung, dass ihrer Familie Repressalien drohten, wenn sie nicht taten, was Torbuks Heerführer von ihnen verlangten.
Er wollte nicht glauben, dass Tausende kampferfahrene Krieger allesamt böse waren. Es gab sicherlich viele unter ihnen, die der täglichen Grausamkeiten längst müde geworden waren. Vielleicht mochte ja der eine oder andere von ihnen mit seiner Familie überlaufen, in der Aussicht, irgendwann ein friedliches Leben ohne Gewalt führen zu können.
Fast wäre Sebastian auf Antaronas Pla-ka aufgelaufen. Das Krähenmädchen war plötzlich stehen geblieben. Seine aufwühlenden Gedanken hatten ihn derart gefesselt, dass er es nicht bemerkt hatte.
»Sonnenherz ist vorsichtig, sie weiß nicht, ob Torbuks Männer inzwischen zum Lager ihrer wachen zurückgekehrt sind«, dokumentierte sie ihren Halt. Das leuchtete ein. Es wäre naiv von ihnen gewesen, wären sie einem alarmierten und herbeigeeilten Trupp ahnungslos in die Arme gelaufen wären.
Also banden sie die Pla-ka an einen Strauch und pirschten sich mit gespannten Bogen an das Lager heran. Schon von Weitem sahen sie die Bewegung. Eine oder mehr Personen gingen an der Stätte des Todes auf und ab, schienen etwas zu suchen.
Das kam Sebastian etwas seltsam vor, denn Torbuks Leute mussten von dem geflohenen Soldaten mittlerweile erfahren haben, was dem Wachtrupp widerfahren war. Suchten sie nun etwa nach den fehlenden Leichen?
Antarona und Sebastian schlichen sich näher heran, um besser sehen zu können. Dabei nutzten sie jede Deckung, die der Wald ihnen bot. Die Zweige, die sie sich zur Tarnung umgebunden hatten, trugen sie längst nicht mehr.
Aber der Schlamm, der ihre Körper zumindest farblich dem Wald anglich, hatten sie sich noch nicht vom Leib gewaschen. So kamen sie unentdeckt sehr dicht an das Lager heran. Zwei halb nackte, dürre Gestalten schlichen zwischen den beiden verbliebenen Toten und den Habseligkeiten der Reiter umher, hoben hier etwas auf, begutachteten dort etwas, das sie dann wieder achtlos fallen ließen.
»Es sind Îval aus Mehi-o-ratea«, flüsterte Antarona Basti zu, »sie tragen das Arbeitsgewand der jungen Frauen aus den Tälern unter dem ewigen Eis«, erklärte sie weiter.
»Woher willst du wissen, dass diese dort aus Mehi-o-ratea sind?« fragte Sebastian leise zurück. Antarona wies auf die Wesen, die aus der Entfernung wie dunkle, zerbrechlich wirkende, dünnknochige Teufel aussahen, die sich Stroh auf die Köpfe gehängt hatten.
»Die jungen Frauen in Mehi-o-ratea kleiden sich oft wie die unverheirateten Frauen im Val Mentiér. Sie zeigen damit, dass sie frei sind, dass sie den Gesetzen und strengen Sitten von Falméra nicht mehr gehorchen, solange sie im Dorf der freien Liebe verweilen«, erklärte sie.
»Was meinst du, was tun die dort?« fragte Basti weiter, obwohl er wusste, dass auch Antarona nur vermuten konnte, warum die zwei sich in ein Wachlager der schwarzen Reiter verirrt hatten.
»Ob die auf Beute aus sind, zwei kleine Diebinnen, die sich mehr zutrauen, als sie selbst einschätzen können?« Den letzten Gedanken ließ er mehr wie eine Frage an sich selbst klingen.
»Vielleicht suchen sie Freunde, die aus Mehi-o-ratea verschwunden sind, und sind nur zufällig in das Lager der Wilden Horden geraten« spekulierte Antarona, indem sie weiter das Gelände hinter dem Wachlager beobachtete.
»Nun, das lässt sich ja leicht feststellen«, antwortete Basti, richtete sich auf, und ging offen auf das Lager und die beiden verwildert aussehenden Frauen zu. Antarona wollte ihn noch zurückhalten, doch die beiden Îval hatten ihn bereits entdeckt.
Wie versteinert verharrten sie in der Bewegung. Offenbar wussten sie nicht, wie sie nun reagieren sollten. Am ehesten hatten sie an diesem Ort Soldaten der Wilden Horden erwartet. Auf Wesen zu treffen, die ihnen selbst ähnlich waren, darauf waren sie augenscheinlich nicht vorbereitet.
Ihre Haltung verriet eine innere wie äußerliche Anspannung, bereit zum Sprung, zur Flucht vor einer Bedrohung. Sebastian hängte sich den Bogen um die Schulter, hob die Hände zum Zeichen, dass er keine Waffe auf die beiden anlegte, und sprach laut und deutlich:
»Ihr müsst keine Furcht haben, wir sind Îval, wie ihr!« So richtig schien seine Begrüßung die beiden jedoch nicht zu überzeugen. Sie wichen ein par Schritte zurück, und waren drauf und dran, sich für eine heillose Flucht zu entscheiden.
Allein Antaronas Worte hielt sie auf. Das Krähenmädchen war neben Basti getreten und stellte sich so in das durch die Blätter und Zweige fallende Sonnenlicht, dass die Frauen deutlich ihr Äußeres erkennen konnten.
»Die Schwestern von Sonnenherz müssen nicht davonlaufen, mögen sie aus der weißen Stadt kommen, oder aus dem Val Mentiér, aus dem Sonnenherz selbst stammt. Die Schwestern müssen sich auch nicht vor jenem fürchten, welcher Areos, der Sohn Bentals ist, der künftige Vater aller Brüder und Schwestern Volossodas!«
Die beiden Frauen entspannten sich etwas, blieben aber dennoch wachsam. Während Basti und seine Frau offen und langsam auf sie zugingen, ließ Antarona immer noch ihren Blick über die Umgebung gleiten. Jederzeit konnten sie von den gewarnten Soldaten Torbuks überrascht werden, was wahrscheinlicher wurde, je mehr Zeit verstrich.
Sie traten in den Kreis des Lagers und Sebastian blieb verwundert stehen. Ebenso überrascht zeigten sich die beiden Mädchen, was bei Antarona einiges Erstaunen auslöste, als sie das Lächeln gewahrte, das ihr Mann den beiden jungen Îval zuwarf.
Die Blicke, die sie austauschten, besaßen etwas sehr Vertrautes, viel zu vertraut für Antaronas Verständnis. Und beinahe angriffslustig funkelten ihre Augen, als Basti die beiden leicht bekleideten Mädchen mit Namen ansprach:
»Permina und Femra, was tut ihr hier? Woher kommt ihr? Wisst ihr nicht, dass es gefährlich ist, sich hier herumzutreiben? Wo sind eure...«
»Wenn ihr sie nicht zu Wort kommen lasst, Ba - shtie, so werden sie euch kaum antworten können«, unterbrach ihn Antarona, und er spürte, dass es sie massiv störte, dass er so vertraut mit den beiden jungen Frauen sprach, die sie nicht einmal kannte.
Er spürte ihre wachsende Eifersucht, und fühlte sich diesem Phänomen hilflos ausgeliefert. Würde er nun auch nur ein falsches Wort sagen, so war ein Streit kaum noch zu vermeiden. Etwas, das sie im Moment am allerwenigsten gebrauchen konnten.
Sebastian bemühte sich, wie ein väterlicher Freund zu klingen, um in Antarona von vornherein ein mögliches Misstrauen zu zerschlagen. Da die Mädchen jedoch nicht sehr viel jünger waren, als Antarona selbst, mochte sein Bemühen auf das Krähenmädchen nicht sehr beruhigend wirken.
»Wissen eure Eltern davon, dass ihr so weit fort von Falméra herumstreunt?« Er musste das sagen, obwohl er wusste, wie hohl es für die beiden klang. Und seine Frau hatte nicht die Geduld für lange, gespielte Vorträge. Sie unterbrach Basti und wandte sich nun ihrerseits an die beiden Îval:
»Sonnenherz mag gar nicht wissen, woher der mit ihr verbundene Areos euch kennt. Doch in jeder weiteren Zentare kann an diesem Ort ein Trupp der Wilden Horden auftauchen. Also wer seid ihr, und was tut ihr hier?« Die beiden Mädchen wichen unsicher zurück.
Antaronas Stimme klang schroff und befehlend, und in Anbetracht ihrer Gestalt ungewöhnlich rau und autoritär. Rein äußerlich unterschied sie sich kaum von Femra und Permina. Allein ihre Waffen und ihr Auftreten zeugten davon, dass sie gegenüber den Mädchen erfahrener und sicherer war.
Femra, obwohl die zierlichere von beiden, fand als erste ihre Stimme wieder. Sie wich jedoch Antaronas Blicken aus und wandte sich mehr Sebastian zu, als sie kurz berichtete:
»Halem, Simas und Miranor waren in den Wald gegangen, um zu jagen. Tariz hatte sie begleitet, ihr kennt sie ja, Herr, es war ihr nicht auszureden.«
»Das war vor zwei Monden, Herr«, mischte sich nun auch Permina in das Gespräch ein. Femra fuhr nun fort:
»Es geschah in den letzten Monden oft, dass welche aus unserem Volk auszogen und nicht zurückkamen.« Antarona wurde nun aufmerksam, horchte auf und fragte erstaunt:
»Euer Volk? Ihr seid Îval und befindet euch auf dem Land der Îval. Welches Volk meint ihr denn?« Femra sah ihr unsicher in die Augen, wagte jedoch nicht, den Blick von Sonnenherz abzuwenden.
»Wir sind vom Volk der ewigen Jugend und der freien Liebe«, erklärte das blonde Mädchen beinahe trotzig, »und wir kommen aus dem Ort Mehi-o-ratea, jenem Dorf, das die Elsiren schützen, und das uns so sein lässt, wie wir möchten.«
Wenn die beiden Mädchen auch nicht viel über das Leben wussten, und über die Politik ihres Königs, und über die komplizierten Handelsbeziehungen zwischen den Oranuti und den Îval, aber von Sonnenherz hatten sie gehört!
Sie wussten, dass es eine mächtige Kriegerin in den Tälern unter dem ewigen Eis, jenseits der warmen Wasser gab, die den Wilden Horden das Fürchten lehrte. Sie hatten viele Geschichten über Sonnenherz gehört, die man auch Krähenmädchen nannte.
Alle in Falméra kannten die Abenteuer jener, die mit den Tieren sprechen konnte. Freilich vermochte niemand zu sagen, wie Sonnenherz aussah. Dennoch hatten zumindest Permina und Femra eine andere Vorstellung von dieser Kriegerin, die nach einer erst kürzlich bekannt gewordenen Erzählung, dreißig der stärksten Krieger Torbuks und Kareks allein in die Flucht geschlagen hatte.
Diese Frau, die ihnen nun gegenüber stand, hatte so rein gar nichts von einer Kriegerin, von einer älteren, großen und kräftigen Frau, und einem groben, rohen Gesicht, wie sie sich die Mädchen vorgestellt hatten. Diese hier war wie eine der Ihren, eine aus Mehi-o-ratea, eine, wie sie selbst, unschuldig in ihren Zügen, ja fast elsirengleich in Gestalt.
Aber wie sie sprach, wie sie ihre Waffen trug, und wie selbstverständlich sie neben den Sohn des Königs trat, sie musste es sein. Sonnenherz, das Krähenmädchen, um die sich all diese abenteuerlichen Geschichten rankten.
Inzwischen hatten Sebastian und Antarona vielsagende Blicke ausgetauscht. Drei junge Burschen und ein Mädchen waren verschwunden. Das deckte sich mit den Vermutungen, die Basti hinsichtlich der Schwarzen Reiter angestellt hatte.
»Und ihr zwei seid aufgebrochen, die Vier zu suchen«, ergriff Antarona wieder das Wort und ließ ihre Feststellung wie eine Frage klingen.
»...ohne Waffen, ohne Schutz, und ohne eine Ahnung, was euren Freunden womöglich widerfahren ist?« Die Mädchen sahen betreten und eingeschüchtert zur Erde. Sebastian versuchte zu erklären:
»Es sind Schwarze Reiter im Land. Noch wissen wir nicht wie viele es sind, noch mit welchen Absichten sie sich hier aufhalten. Aber nachdem, was wir gesehen haben und vermuten, ist jeder in Gefahr, der sich ohne Schutz außerhalb der Dörfer bewegt.« Antarona sprach nun weiter, in etwas sanfterem Tonfall, als zuvor:
»Ihr konntet dies nicht wissen. Aber Glanzauge und Sonnenherz vermuten, dass die Wilden Horden eure Freunde verschleppt haben, und sie irgendwo zwischen diesem Ort und dem großen Wasser in einem Lager gefangen halten. Sonnenherz such dieses Lager, um zu überlegen, wie eure Freunde und andere Gefangene befreit werden können.«
Femra und Permina sahen sich irritiert zu den beiden toten Wachen um, die noch immer in ihrem Blut lagen.
»Diese dort gehörten zu jenen, die wahrscheinlich eure Freunde gefangen nahmen«, klärte das Krähenmädchen die beiden auf und hob gleichgültig die Schulterblätter.
»Und ihr habt sie...« Femra wagte nicht, den Satz ganz auszusprechen. Antarona funkelte das Mädchen mit sprühendem Blick an und antwortete:
»Natürlich hat Sonnenherz sie...« Dabei fuhr sie mit ihrem Bogen dicht an ihrem Hals vorbei, bevor sie weiter sprach:
»Diese Männer sind die Feinde des Volkes der Îval! Was glaubt ihr, hätten sie getan, wenn ihr ihnen in die Hände gefallen wärt? Die hätten euch nicht einfach nur getötet. Die hätten sich ihren Spaß mit euch gemacht, so lange, bis ihr den Verstand verloren hättet!«
Antarona verzichtete darauf, noch deutlicher zu werden. Permina und Femra verstanden sie auch so deutlich genug. Sie besaßen wohl nicht Sonnenherz Erfahrung, doch sie hatten bereits furchtlose Männer mit Schaudern von den Gräueltaten der Wilden Horden erzählen hören.
»Wir werden dann wieder in das Dorf Mehi-o-ratea zurückkehren«, verkündete Femra nun schüchtern, und nahm ihre Freundin an die Hand, um sie mit sich fortzuziehen. Basti trat zwei Schritte auf die beiden zu und bestimmte:
»Ihr zwei werdet nirgendwohin gehen. Jedenfalls nicht allein. Und wir, Sonnenherz und ich, sind hier noch nicht ganz fertig. Ihr werdet uns also begleiten, und uns zur Hand gehen. Anschließend bringen wir euch nach Mehi-o-ratea, denn das ist auch unser Ziel.«
Mit etwas zornigem Blick bedachte das Krähenmädchen ihren Mann. Ihre Eifersucht schien noch nicht ganz verraucht. Aber sie wusste auch, dass es kaum eine Alternative gab. Sie konnten die beiden Mädchen nicht einfach zurücklassen, und riskieren, dass sie einem Trupp Torbuks Männer über den Weg liefen.
Andererseits konnten sie die beiden nicht sofort in das Dorf bringen. Sie mussten noch die zwei verbliebenen Leichen verschwinden lassen, und das feindliche Lager auskundschaften, solange die Gegner damit beschäftigt waren, ihren Schrecken zu verdauen.
Also nickte Antarona zögernd, und drückte den Mädchen je ein paar Zügel der Pla-ka in die Hand.
»Haltet sie gut fest, und haltet sie so kurz, dass sie nicht mal mit den Ohren wackeln können«, befahl sie Permina und Femra. Dann machten sie und Sebastian sich daran, die beiden Toten auf die Traggestelle zu zerren.
Nachdem das geschafft war, machten sie sich noch einmal auf den Weg zum Sumpfloch. Antarona und Sebastian führten je einen der Pla-ka, die mit den Toten beladen waren, den beiden Mädchen aus Mehi-o-ratea hatten sie die drei anderen Tiere anvertraut.
Angewidert sahen Permina und Femra zur Seite, als Antarona und Basti die Leichen in hohem Bogen in den Sumpf warfen. Blubbernd und glucksend versanken die Toten im Morast. Für die beiden Mädchen, die von einer zur nächsten Zentare aus der Welt ihrer Illusionen gerissen wurden, und sich der nackten, grausamen Tatsachen ausgesetzt sahen, musste all dies ein Alptraum sein.
Stumm trotteten sie hinter Antarona und Sebastian her, auf dem Weg zurück zum Wachlager derer, die sie gerade wie Abfall in einem Moderloch versenkt hatten. Die heile, unbekümmerte Welt von Mehi-o-ratea hatten sie sich anders vorgestellt.
Die Pla-ka der getöteten Schwarzen Reiter ließen sie angebunden in einer Senke hinter dem Morast zurück. Die Tiere konnten sie möglicherweise durch Geräusche verraten, wenn sie in die Nähe des Feindes kamen. Im unwirtlichen Gestrüpp des Sumpfes waren die Pla-ka gut aufgehoben, bis sie von ihrer Erkundung zurückkehrten.
Kurz vor dem nun verlassenen Lager beobachteten Antarona und Basti wiederum einige Momente die Umgebung, bevor sie sich erneut an den Ort des Tötens wagten. Der Platz lag immer noch verlassen da. Mittlerweile wunderte sich Sebastian, warum bislang kein Trupp erschienen war, die Meldung des geflohenen Soldaten zu überprüfen.
Möglicherweise war der geflohene Reiter gar nicht in das Lager gerannt, aus Furcht, dem Heerführer die schlechte Nachricht bringen zu müssen, dass ein ganzer Wachtrupp von Walddämonen ausgelöscht worden war. Oft scheuten sich Untergebene, ihren Vorgesetzten unliebsame Tatsachen zu berichten, weil sie deren zornige Reaktionen fürchteten.
Minuten später hielt Sonnenherz das verlassene Lager für sicher. Sie traten noch einmal in die Stätte des einseitigen Kampfes und sahen sich um. Sebastian befand, dass sie alles so stehen und liegen lassen sollten, wie es war.
Wenn wilde Tiere die Wachabteilung angegriffen hätten, so mussten zumindest abgenagte Knochen liegen geblieben sein. Bei einem Überfall durch Menschenwesen mussten die Leichen herumliegen und Hab und Gut geplündert sein.
Waren die Soldaten aber von Dämonen geholt worden, so waren eben nur sie und die Tiere fort. An Waffen, Ausrüstung und anderen gegenständlichen Dingen hatten Dämonen kein Interesse.
Antarona beseitigte noch einige Spuren, die hätten auf menschliche Angreifer schließen lassen, dann gingen sie vorsichtig weiter in die Richtung, in der sie das Lager der Invasoren vermuteten. Die beiden Mädchen nahmen sie in die Mitte, um bei Gefahr rechtzeitig reagieren zu können, und sie zu schützen.
Zwischendurch kamen Antaronas Krähen angesegelt, und ließen sich vor den Füßen ihrer menschlichen Freundin nieder. Permina und Femra wurden Zeugen einer Unterhaltung zwischen einem Menschenwesen und Tieren.
Sebastian vermutete, dass die beiden dafür sorgen würden, dass die Legenden über das Krähenmädchen Sonnenherz um einige neue Episoden erweitert wurden. Die beiden Mädchen betrachteten Antarona, während sie mit den zwei Schwarz gefiederten sprach, wie etwas Exotisches, etwas, das weit außerhalb ihrer Vorstellungskraft lag.
Im Val Mentiér war Antaronas Gabe nichts besonderes mehr. Die Menschen dort hatten ihre Verwunderung abgelegt, hatten sich an die seltsame Neigung des Mädchens vom Holzer gewöhnt, und akzeptierten sie. Ja, oft wurde das Krähenmädchen sogar zu Hilfe gerufen, wenn es galt, ein unliebsames Wildtier aus dem Bereich des Dorfes zu bekommen, oder wenn eines der Haustiere erkrankt war.
In diesem Fall beobachteten die beiden Stadtkinder das gleichaltrige Mädchen aus den Wäldern, das ihnen so sehr erwachsen vorkam, mit einigem Respekt und unverhohlener Bewunderung. Deshalb war Sebastian auch wenig verwundert, als sich die beiden mit der Bitte an ihn wandten, ihnen eine Waffe zu geben.
Aus dem eroberten Sortiment der Schwarzen Reiter suchte er ihnen zwei besonders lange Dolche heraus, die sie sich stolz und repräsentativ in den Schnürbund ihrer Hüftschurze steckten. Basti musste still grinsen, als er sah, dass sie sich fortan mit einem leichten Hüftschwung bewegten, als hätten sie mit den Waffen augenblicklich und endgültig ihre Kindheit abgelegt.
Andererseits hatte er auch keinen Zweifel mehr daran, dass sie mit ihren beiden Oranuti- Freunden bereits die Decken und Felle teilten. Mochten sie sich auf dem Talris- Fest auf Burg Falméra, unter den wachsamen Augen ihrer Eltern noch zurückgehalten haben, in Mehi-o-ratea, dem Dorf der ewigen Jugend und freien Liebe, verflogen solche Hemmungen rasch, wie Basti von jedem vernehmen konnte, mit dem er darüber sprach.
Nachdem Antarona Krähen durch die Lüfte wieder entschwunden waren, klärte das Krähenmädchen ihre Begleiter auf:
»Die Pferdesoldaten lagern zwei Zentaren in der vergehenden Sonne. Sonnenherz und ihre Freunde sollten sich eilen, wenn sie das Lager noch vor der ruhenden Sonne erkunden wollen.«
Sebastian nickte zustimmend und sah dann zum Himmel, um den Stand der Sonne zu ergründen. Seit er in diesem Land war, hatte er es noch nicht geschafft, diese eigenwillige Art der Zeit- und Entfernungsrechnung der Îval verständlich zu durchschauen. Zeit und Entfernungen wurden in der gleichen Maßeinheit angegeben, zu der es jedoch keinen festen Bezug gab.
Weder hatte er eine Vorstellung davon, wie weit eine Zentare war, noch, wie lange sie in Form von Zeit andauerte. Antarona vermochte ihm auch kein Beispiel zu nennen, wonach sich dieses Maß abschätzen ließ. Eine Zentare, so hatte er es bisher erfahren, war eben eine geschätzte, undefinierte Weile von einer halben bis zu zwei Stunden. Die Zeit also, in welcher die Schatten vor Sonne einen Fuß lang zu wandern imstande war.
Danach hatten sie noch etwa vier Stunden Tageslicht, bis die Dämmerung mit ihrer fast übergangslosen Weise den Tag der Nacht übergab. Allein diese Tatsache hatte Basti von der ersten Stunde an, die er in dieser Welt verbrachte, erzählt, dass er sich in der Nähe des geografischen Äquators befinden musste, in was für einer Welt auch immer. Mittlerweile nannte er diese Welt im Geiste nur noch Antaronas Land.
Von der Entfernung her schätzte er das angekündigte, feindliche Lager in etwa eineinhalb Kilometern Entfernung. Er hatte sehr schnell gelernt, dass eine Entfernungs- Zentare etwa so weit war, wie man zu gehen in der Lage war, während die Sonne brauchte, die Schatten einen Fuß lang fortzubewegen. Freilich beeinflussten Geländeform und Wetter, sowie die eigene physische Stärke die ohnehin schon grobe Schätzung.
Auf jeden Fall konnte jederzeit wieder ein Trupp Torbuks Männer ihren Weg kreuzen. In jeder Sekunde mussten sie in der Lage sein, mit dem Gelände rechts und links optisch zu verschmelzen. Antarona erneuerte ihre Tarnung aus Erde, Lehm, Blättern und Zweigen.
Um die beiden Mädchen dazu zu bringen, sich ebenfalls unsichtbar zu machen, bedurfte es einiger Überredungskunst. Sie sahen nicht ein, ihre Schönheit, mit der sie ihre Geliebten fesseln wollten, einer imaginären Gefahr zu opfern. Erst durch den Hinweis Antaronas, dass sie ansonsten ihre Männer vielleicht niemals wiedersehen würden, überredete sie.
Wie wirkliche Waldgeister schlichen sie nun von Baum zu Baum, von Busch zu Strauch, durch Rinnen und Senken, bis sie den Rauch eines Lagerfeuers in den Nasen hatten. Von diesem Moment an, huschten sie nur noch vorwärts, wenn sie zuvor das Gelände vor und neben ihnen gründlich beobachtet hatten.
Ganz sicher hatten die Wilden Horden Wachen aufgestellt. Und wenn sie nicht komplett verdummt waren, so hatten diese sich gut getarnt. Andererseits war davon auszugehen, dass sie kaum durchgehend auf die monotone Szenerie der sich im Wind bewegenden Blätter und Äste starren würden. Das Lagerleben würde sie zumindest ablenken.
Ein par hundert Meter etwa schlichen sie noch durch dicht bewachsenes Terrain, dann lichtete sich der Wald. Antarona und die Mädchen waren am ganzen Körper von Zweigen und Dornen zerkratzt, und selbst Sebastians Haut brannte an den Stellen, wo die scharfen Finger des Waldes durch die Lehmschicht auf seiner Haut gedrungen waren. Doch die Anspannung ließ sie den oberflächlichen Schmerz ignorieren.
Zwischen mächtigen, schattigen Bäumen, die nun immer mehr ohne Unterholz, dafür aber im hohen Gras standen, krochen sie hindurch, bis sie das Licht des Waldrands erkennen konnten. Gleichzeitig entdeckte Antarona die Wachen.
Zwei Mann lehnten gelangweilt an der von der Sonne beschienenen Seite zweier Bäume. Sie schienen in der Nachmittagssonne dahinzudösen. Wie erwartet galt ihr Blick mehr dem Lager, als dem dichten Wald in ihrem Rücken. Offenbar fürchteten sie keinen Angriff, was Sebastian angesichts des geflohenen Soldaten aus dem Lager befremdlich fand.
Es stärkte aber seine Theorie, dass dieser sich nicht getraut hatte, seinem Kohortenführer die unpopuläre Nachricht zu überbringen, dass ihre Wacheinheit aufgerieben wurde. Sebastian und die Mädchen konnten also davon ausgehen, dass die Wachen ahnungslos waren, ein Vorteil, der sie jedoch nicht zu unüberlegten Handlungen aufmuntern durfte.
Antarona bedeutete den beiden aufgelesenen Mädchen keinen Muckser von sich zu geben. Zu Basti machte sie ein Zeichen ihrer Unschlüssigkeit, ob sie sich rechts oder links an den Wachen vorbeischleichen sollten. Er besah sich sorgfältig die Umgebung, soweit das aus der Deckung heraus möglich war.
Nach links fiel das Gelände etwas ab, wurde vom Bewuchs her aber etwas dichter. Rechts stieg es kaum merklich an und war nur noch dünn von kleinen windzerzausten Bäumchen, kaum brusthoch, bewachsen. Bei längerem Hinsehen erkannte Basti zudem eine Bewegung. Noch zwei Wachen!
Nun wurde klar, dass die Invasoren ihren Brückenkopf besser gesichert hatten, als erwartet. Selbst rückwärts ungesehen an die Wachen heranzukommen, barg ein unkalkulierbares Risiko. Sie mussten es dort versuchen, wo die Vegetation dichter war. Basti deutete also nach links.
Die vier Waldkobolde zogen sich leise einige Meter zurück, um dann weiter abwärts erneut zum Waldrand vorzustoßen. Doch auch an dieser Stelle machten sie zwei Wachmänner aus, die sich leise unterhielten. Auch sie hielten den Blickkontakt zum Lager, obwohl Gefahr eher aus dem unübersichtlichen Wald drohen musste.
Sebastian vermutete, dass rund ums Lager so viele Wachtposten aufgestellt waren, dass sie untereinander Sichtkontakt hatten. So vermochte nicht einmal ein Wasel durch ihre Lücken zu schlüpfen, ohne, dass sie es bemerkten. Tatsächlich aber nur, wenn die wachen sich auf ihre Aufgabe konzentrierten.
Jedoch schienen Torbuks Männer ihres Dienstes überdrüssig, denn sie nahmen ihre Aufgabe nicht sehr ernst. Das erleichterte Antarona und Sebastian ihr Vorhaben, an sich an das Lager heranzupirschen. Allerdings nicht, ohne zumindest zwei Wachmänner außer Gefecht zu setzen.
»Wir können nur sehen, was dort vor sich geht, wenn wir nahe genug heran kommen«, flüsterte Basti seiner Frau ins Ohr, »dazu müssen wir die beiden überwältigen.« Aus den Augenwinkeln sah er gerade noch, dass Antarona ihren Bogen spannte. Mit sanfter Gewalt drückte er ihren Arm herunter.
»Nein, so geht das nicht«, wandte er ein, »wenn die Wachen links und rechts zufällig sehen, dass die einfach umkippen, dann haben wir hier einen Aufruhr, wie ein gestörtes Nest von Gal-ná-ròs. Wir müssen das anders anfangen.
Mit fragendem Blick führte Antarona ihre Handkante an ihrem Hals vorbei. Sie hatte offenbar kein Problem damit, auch diesen zwei Pferdesoldaten die Hälse abzuschneiden. Sebastian aber hatte keine Muße, noch zwei Leichen bis zum Sumpf zu schleifen, wenn es sich vermeiden ließ.
Er machte ein Zeichen, sich noch ein Stück weit zurückzuziehen. Als er sicher war, dass niemand sie hören konnte, sagte er leise:
»Wir werden sie schlafen schicken, und solange wir uns das Lager ansehen, werden Femra und Permina ihren Platz einnehmen, damit die anderen Wachen keinen Verdacht schöpfen.« Dabei sah er die beiden jungen Mädchen an, deren Aufregung trotz der Tarnverkleidung zu spüren war.
»Wie wollt ihr das machen?« fragte Antarona flüsternd. Basti wies auf das auf der linken Seite ziemlich hoch wachsende Gras.
»Da gehen wir durch, schleichen uns an, ganz langsam.., mit den Mädchen. Wir schlagen ihnen die Beine weg, und einen Stein an den Schädel. Dann ziehen sich Permina und Femra ihre Kleider an, und stellen sich an ihrer statt hin, so, dass die anderen Wachen sie sehen können. Solange sich das Bild nicht verändert, werden sie keinen Argwohn hegen. Er blickte erneut zu den beiden Mädchen.
»Ihr traut euch das zu?« fragte er, ließ es aber wie eine Feststellung klingen, denn sie hatten weder die Möglichkeit von Kompromissen, noch die Zeit, das Vorhaben lange zu diskutieren. Es war denkbar, dass die Wachen vor der Dämmerung noch einmal ausgewechselt wurden.
Die Mädchen bejahten das aufgeregt, und es war ihnen anzumerken, dass sie stolz darauf waren, für eine Mission auserwählt zu sein, die für das Volk der Îval wichtig war, die sie in der Achtung ihrer Freundinnen und Familien steigen ließ. Sebastian machte sich jedoch nichts vor. Es durfte nichts Unvorhergesehenes dazwischen kommen, ansonsten hatten sie noch zwei Gefangene mehr.
Das größte Problem aber war, so dicht an die Wachen heranzugelangen, dass sie diese schnell, und ohne Aufsehen niederstrecken konnten. Auch den Mädchen schärfte Basti ein, die Waffenröcke zügig und ohne auffällige Bewegungen anzulegen.
Je tiefer die Sonne stand, desto mehr drängte die Zeit. Die entschlossenen Freunde zögerten nicht mehr. Vorsichtig, Stück für Stück, schoben sich Sebastian und Antarona im hüfthohen, gelblichen Gras vorwärts, vermieden heftige Bewegungen, und ließen die Augen nicht von den Wachen.
Als sie schon einen Steinwurf an die beiden Männer herangekommen waren, registrierte Antarona aus den Augenwinkeln, dass sich ein Mann von der nächsten, rechts liegenden Wache trennte, und herüberkam. Mit einem leisen Zischlaut machte sie Basti darauf aufmerksam.
Der erstarrte angesichts der neuen, drohenden Gefahr, und hoffte, dass auch die Mädchen, die am Waldrand warteten, die Bedrohung wahrnahmen. Gleichzeitig stellte er sich die Frage, ob sie sich trotz aller Vorsicht so auffällig fortbewegt hatten, dass ihr Anpirschen dort drüben von den anderen beiden Wachmännern gesehen werden konnte.
Kam der Soldat nun herüber, um seine Kameraden zu warnen? Oder suchte er nur die Geselligkeit der Wachkameraden? Wie auch immer, mit einem dritten Mann hatten sie nicht gerechnet, zumal der vierte Mann, der auf seinem Posten verblieben war, nun interessiert zu seinen Freunden herüberblickte.
Sich nun plötzlich zurückzuziehen, war nicht möglich, ohne die Aufmerksamkeit des Hinzukommenden auf sich zu ziehen. In schweigendem Blickkontakt einigten sich Antarona und Basti, erst einmal still zu halten. Sie verharrten zunächst in ihrer Stellung.
Sebastian hoffte, dass sie nicht genötigt waren, länger in dieser bewegungslosen Position auszuharren. Sich nicht zu regen, war noch anstrengender, als sich leise und langsam vorwärts zu schieben. Die Sonne brannte auf ihre Leiber, ließ sie unter der feinen Tarnschicht aus Lehm schmoren, und bald meldeten sich ihre Glieder, die im stillen Ausharren allmählich verkrampften.
Der Soldat ließ sich großzügig viel Zeit, um zu seinen Kameraden zu kommen. Fast gelangweilt schlenderte er auf einem schmalen Sandstreifen daher. Die beiden Männer, die Antarona und Basti ausschalten wollten, erwarteten ihn mit gleichgültiger Ruhe, machten auch keine Anstalten, ihm entgegen zu kommen.
Antarona blieb starr, schloss ihre Augen, und verfiel in eine Art Trancezustand, in dem sie die Wachen nur noch mit ihren geistigen Sinnen wahrnahm. So waren das einzige an ihr, das sich noch bewegte, die Zweige und Blätter ihrer Tarnung, die vom leichten Wind berührt worden.
Dagegen hatte Basti Mühe, sich in der hockenden Position zu halten. Zuerst taten ihm die Füße weh. Er ignorierte den Schmerz, und nach einer Weile gelang das auch. Dafür bemerkte er, dass zunächst aus seinen Waden, dann auch aus den Füßen jegliches Gefühl entwich.
Er befürchtete das Gleichgewicht zu verlieren, oder einfach hinzufallen, sollte er versuchen, sich wieder zu erheben. Seine Haltung zu verändern war jedoch nicht möglich, denn die kleinste Bewegung mochte sie verraten.
Plötzlich durchschnitt ein zischender Laut die Luft, und weit vor den Wachen, in Richtung ihres Lagers war ein klapperndes Geräusch zu hören. Nicht so weit entfernt, als dass es aus dem Lager selbst gekommen wäre, aber auch nicht so nahe, dass sie selbst es verursacht haben konnten.
Ohne sich sonst zu regen, schlug Antarona die Augen auf. Sie kannte das Geräusch, sie wusste, was da gerade durch die Luft geflogen war. Oft hatte sie diesen Laut gehört, wenn sie sich als Kind im Bogenschießen übte, und der Pfeil unkontrolliert gegen einen Felsen, oder auf steinigen Grund schlug. Und sie ahnte die Ursache.
Sebastian hingegen, drang nur das Klappern in sein Gehör, ohne dass er eine Vermutung hatte, was die Ursache war. Er sah aber, wie die beiden Wachmänner sich von ihrem Baum lösten, an den sie sich gelehnt hatten, und neugierig in Richtung des Geräuschs gingen. Auch der herübergekommene Krieger änderte seine Richtung dorthin, von wo das Klappern gekommen war.
Diese Ablenkung nutzte Basti, um seine Position so zu verändern, dass er seine Beine und Füße entlastete und die Durchblutung wieder gewährleistet war. Die drei Männer waren kurz außer Sichtweite, und er überlegte schon, Antarona dazu zu bewegen, ein gutes Stück weiter nach vorn zu schleichen. Doch in diesem Moment tauchten die Wachen wieder auf.
Die Männer unterhielten sich unbeschwert, lachten, und schienen sich über irgendetwas köstlich zu amüsieren. Keiner von ihren achtete mehr auf das Gelände in ihrem Rücken. Nach einer Weile trennte sich einer der beiden Wachmänner von der Gruppe und ging zum nächsten Wachposten hinüber. Der Hinzugekommene aber blieb, und unterhielt sich angeregt mit seinem Kameraden.
Sebastian vermutete, dass es eine gebräuchliche Gepflogenheit war, die Männer unter den Wachteams zu wechseln, um der aufkommenden Langeweile zu begegnen. Als der dritte Mann drüben bei dem einzeln verbliebenen Wachtposten angekommen war, und die beiden Wachen vor ihnen laut lachten und miteinander sprachen, schlug Antarona abermals ihre Augen auf.
Sie war hellwach. Doch nicht eine Regung an ihr verriet Leben unter der wie ein Busch aussehenden Tarnung. Das Krähenmädchen stieß einen kurzen, leisen und zischenden Laut aus, und Basti sah aus den Augenwinkeln, dass sie unmerklich nach vorn nickte.
Sie spannten ihre Muskeln an, warteten einen Zeitpunkt ab, wo die beiden Männer vor ihnen von ihren eigenen Erzählungen gefesselt waren, und sahen noch einmal flüchtig zur nächsten Wache hinüber. Dort unterhielt man sich offensichtlich genauso begeistert.
Beinahe gleichzeitig schlichen sie los, sehr langsam, zu langsam für ein oberflächliches Auge, das mit Anderem beschäftigt war. Ohne bemerkt zu werden, gelangten sie in kurzen Etappen bis etwa acht Meter an die beiden Krieger heran, die an den Baum gelehnt, ins Gespräch vertieft waren. Auch die beiden Wachen vom nächsten Posten unterhielten sich und achteten nicht auf die beiden Bäumchen, die das Laufen gelernt hatten.
Antarona und Sebastian griffen sich einen der vielen, herumliegenden Steine und warteten auf eine günstige Gelegenheit. Ihre Blicke stimmten sich ab. Das Krähenmädchen würde links und Basti rechts um den Baum herumstürmen. Es musste schnell gehen.
Insgeheim hoffte Basti, dass die beiden Mädchen ihren Einsatz nicht verpassten. Er hatte ihnen eingeschärft, sofort tief geduckt loszulaufen, wenn er und Antarona um den Baum huschten. Noch ein Blick zu seiner Gefährtin, dann hetzten sie los.
Zuerst erreichte Antarona die beiden Wachen, verlangsamte ihren Schritt etwas, um Basti aufholen zu lassen. Die beiden Männer bemerkten nichts, ihre Blicke waren auf das Lager gerichtet, ihre Sinne durch ihre Konversation gebunden. Gleichzeitig wirbelten sie um den Baum herum.
Sebastian vermochte später nicht mehr zu sagen, welcher der beiden Männer einen dümmeren Gesichtsausdruck zeigte. Sie mussten wohl angenommen haben, etwas zu viel Mestas und Sonne abbekommen zu haben. Jedenfalls waren sie völlig überrascht.
Die beiden Krieger rissen ungläubig und entsetzt die Augen auf, als plötzlich zwei kleine Bäumchen vor ihren Füßen aus dem Boden wuchsen. Doch ihnen blieb keine Möglichkeit zur Reaktion. Bastis Stein knallte einem der Männer gegen die Stirn, und mit einem Grunzen sackte der im Sichtschatten des Baumes zusammen.
Aus Angst, nicht genug Kraft zu entwickeln, schlug Antarona mit voller Wucht zu. Ihr Stein war so groß, dass sie ihn kaum in der Hand halten konnte. Wie von einem Dampfhammer wurde der kräftige Soldat von den Beinen gehauen und lang hingestreckt. Sein Schwert schlug gegen den Schild und verursachte einen lauten, metallischen Klang.
Sofort unterbrachen die beiden Wachen drüben am Horizont ihr Gespräch und spähten herüber. Doch schon waren Femra und Permina zur Stelle, zogen den Gefällten die Oberbekleidung aus und legten sie sich an. Das ging so schnell, dass Sebastian sich fragte, wie unschuldig die beiden wohl noch waren, wenn sie einen Mann in Rekordzeit zu entkleiden vermochten.
Basti und Antarona hielten sich im hohen Gras geduckt, und überließen den Mädchen die Bühne. Und obwohl die beiden um einiges kleiner waren, als die niedergestreckten Gegner, hegten die Wachen drüben keinen Verdacht. Sie sahen zwei Figuren in Waffenröcken an dem Baum gelehnt und nahmen beruhigt ihr Gespräch wieder auf.
Dass die Sonne bereits tief stand, und den beiden Wachen in die Augen scheinen musste, war wohl ein entscheidender, begünstigender Umstand. Die Silhouette ihrer Kameraden genügte ihnen, um alles in Ordnung zu befinden. Ebenso gut hätten sie anstelle der niedergeschlagenen Krieger auch zwei Pappsoldaten aufstellen können.
Auf den Knien rutschend zerrten Antarona und Basti die beiden Bewusstlosen tiefer in das hoch stehende Gras hinein und fesselten ihnen Hände und Füße. Sebastians Gegner hatte eine violette Beule am Kopf, die ihn an eine aufgeleimte Kohlrabihälfte erinnerte.
Der Mann, der an Antarona geraten war, hatte weniger Glück gehabt. Er hatte eine mächtige Platzwunde am Kopf, die stark blutete. Basti nickte seiner Frau respektvoll zu, als er das Ergebnis ihres Schlages sah. Die zuckte nur gleichgültig mit den Schultern, was wohl soviel heißen sollte, wie: Kolalateralschaden war eingeplant!
Würde der Mann nicht bald behandelt werden, konnte er durchaus an den Folgen Antaronas Felsenfaust sterben. Aber sie konnten sich nicht darum kümmern. Sie wussten nicht, wie groß ihr Zeitfenster sein würde, und mussten sich beeilen. Sebastian wies die beiden Mädchen noch an, den Kerlen mit einem Stein einen weiteren Scheitel zu ziehen, sollten sie vorzeitig aufwachen.
Dann passten sie einen Moment ab, wo die Wachen links zum nächsten Posten hinüberblickten und spurteten los. Sie liefen synchron, um den Augen ihrer Gegner nur eine möglichst kleine Silhouette zu bieten. Blitzschnell überwanden sie den Sandstreifen und warfen sich jenseits in das hohe Gras, das einen Graben, oder ein ausgetrocknetes Bachbett überwuchert hatte.
Einige Büsche standen vereinzelt auf steppenartigem Grasland, dahinter lag das feindliche Lager. Antarona und Sebastian pirschten sich bis zu einer leichten Erhebung an die provisorisch errichtete Umzäunung heran. Torbuks Männer hatten das gesamte Lager mit einer Einfriedung aus roh abgehauenen, dünnen Baumstämmen umgeben, die weder Sicherheit, noch Sichtschutz bieten konnte.
Von dem kleinen Hügel aus, auf dem sie im hohen Gras und zwischen unzähligen Sträuchern optisch in der Landschaft verschwanden, hatten Basti und die Îval- Prinzessin einen guten Überblick, der bis an die nahe Küste reichte. Sie staunten nicht schlecht, mit welch großem Aufgebot Torbuk gelandet war. offenbar hielt er die Krieger seines Bruders für unfähig, die große Insel zu kontrollieren.
Bis zu fünfzig Zelte zählte das Lager, die kreisförmig, aus der Mitte heraus nach Rang der Bewohner angeordnet waren. Dort, wo Pferche für die Pla-ka eingerichtet wurden, befanden sich auch grob zusammengezimmerte Käfige, schwer bewacht, in denen Menschen hockten. Sie mussten nicht erst überlegen, wer dort eingesperrt war.
Das ganze Lager, einschließlich des Gefangenenbereichs lag auf einem trockenen, von strohigem Gras bewachsenen Schwemmboden aus Sand, der wohl nur selten bei Hochwasser überflutet wurde. Dahinter verlor sich das Gelände in Sumpfland, das durchzogen war von Kanälen, Bach- und Flussläufen, die als breit gefächertes Delta ins Meer mündeten. Ein idealer ort für eine groß angelegte Mission, die geheim bleiben soll.
Nicht weit hinter dem Lager, dort, wo das Gras grüner und saftiger wurde, ragten die Masten zweier Schiffe über den Horizont. Sebastian vermochte im flachen Blickwinkel nichts genaues zu sehen, doch er vermutete, dass die Wasserwagen einen breiten, tiefen Arm des Deltas heraufgefahren waren, um so nah wie möglich am Lager zu ankern.
Da er die geologischen Einzelheiten Falméras nur unzureichend kannte, wusste er nicht, ob die Schiffe auf Gezeiten angewiesen waren, um ein- oder auszulaufen. Vermutlich aber hatten sie eher Stunden, statt Tage Zeit, die Gefangenen zu befreien.
Ganz genau sahen sich Antarona und Basti alles an, prägten sich jede Einzelheit ein, um einen Befreiungsversuch koordinieren zu können. Dabei stellten sie fest, dass Sumpf und Delta mit an Wahrscheinlichkeit grenzender Sicherheit mit jenem See und Delta verbunden sein musste, an dem sie auf den Spähtrupp gestoßen waren, der Vesgarina und Frethnal verschleppt hatte.
Sie hatten genug gesehen. Insgesamt, also mit den Schiffsbesatzungen und dem Spähtrupp, der noch irgendwo unterwegs war, hatten sie es mit etwa zweihundert bis zweihundertfünfzig Gegnern zu tun. Und nach Bastis Ansicht kam eine Befreiung der Gefangenen nur durch eine einzige Taktik in Frage:
Blitzschnell, soweit dies möglich war, aus dem Hinterhalt angreifen, größtmögliche Verwirrung stiften, und mit den Gefangenen den sofortigen Rückzug antreten, bevor sich Torbuks Männer formieren konnten. Dabei mussten sie einen günstigen Zeitpunkt abpassen, wie die Dämmerung, das erste Grau des Tages, oder die zeit, in der die Krieger ihr Essen einnahmen.
Eine Nachtaktion kam nur dann in Frage, wenn alle anderen Möglichkeiten auszuschließen waren. In der Dunkelheit würde die Orientierung schwierig werden, und es bestand eher die Gefahr, in eine Sackgasse zu laufen. Das war Sebastians Plan. Es war aber nicht der Antaronas.
Das Krähenmädchen befürwortete gerade die Nacht für einen Angriff. Sie hielt das Risiko für ungleich geringer, schon beim Anpirschen entdeckt zu werden. Ihrer Meinung nach konnten sie bei Dunkelheit bis weit in das Lager vordringen, ohne erkannt zu werden. Auch bei der anschließenden Flucht hielt sie die Chancen für wahrscheinlicher, den Verfolgern zu entgehen, wenn sie sich in der Finsternis des Waldes verbargen.
Verwirrung zu verbreiten, hielt sie erst dann für ratsam, wenn die Gefangenen erreicht, und befreit waren. Sie wollte ein heilloses Durcheinander der Soldaten lediglich dafür nutzen, mit möglichst wenigen Verlusten wieder aus dem Lager zu kommen.
Aber noch stand nicht einmal fest, wie viele helfende Seelen sie für diese wagemutige Operation würden gewinnen können. Allerdings war die Nachtvariante vorzuziehen, wenn sie mit nur eine Handvoll Gesinnungsgenossen finden würden.
Inzwischen hatten sie sich so weit zurückgezogen, dass sie schon wieder im ausgetrockneten Bachbett hockten, und auf die Gelegenheit zum Sprung über die freie Sandschneise warteten. Die Sonne stand mittlerweile sehr tief, und es war zweifelhaft, ob die Wachtposten drüben noch genug geblendet würden. Doch es half nichts, sie konnten nicht warten, bis die Sonne vollends untergegangen war.
Also sprangen sie auf und huschten hinüber zu den tapfer ausharrenden Mädchen, als die beiden Wachmänner sich für einen Augenblick abwandten. Noch immer lagen die beiden Wachtposten wie gefällte Eichen im hohen Gras und rührten sich nicht. Gewiss träumten sie von kleinen, hässlichen Bäumchen, die sie umzingelten, und über sie herfielen.
In Windeseile rissen sich Permina und Femra die fremde Kleidung von den Körpern und warfen sie achtlos auf jene, denen sie gehörte. Dann, bevor den anderen Wachen auffiel, dass niemand mehr vor dem Baum stand, schlichen die Mädchen von den Baumgestalten Bastis und Antaronas gedeckt, zurück in den Schatten des Waldes.
Die Sonne stand mittlerweile so tief, dass ihre Strahlen den Waldboden nicht mehr berührten. Lediglich die höheren Baumstämme leuchteten hier und dort in einem beinahe rötlichen Licht, was die Augen daran hinderte, sich auf das Dunkel am Waldboden einzustellen. In diesem Licht war der Weg weniger gut zu sehen, als im Schein des Mondes.
Trotzdem tasteten sie sich zurück zu dem Sumpfloch, in dem die fünf Reiter den Frieden vor ihrem Schöpfer gefunden hatten. Dahinter wateten geduldig die Pla-ka. Die Tiere empfanden die rückkehrenden Menschenwesen als Störung, denn sie zupften genüsslich an den Blättern der dornigen Sträucher herum.
Während sie die Tiere für den Abmarsch fertig machten, bedankte sich Antarona für die plötzliche, einfallsreiche Hilfe der Mädchen, indem diese die feindlichen Krieger abgelenkt hatten, und hoch über ihre Köpfe hinweg einen Pfeil in die Felsen geschossen hatten.
Dieser Pfeil hatte das Geräusch verursacht, dass Basti und Antarona Gelegenheit gab, ihre Position zu verändern, ohne von den Wachen wahrgenommen zu werden.
Zunächst schlugen sie die grobe Richtung ein, in der Mehi-o-ratea liegen musste, und folgten einem schmalen, kaum ausgetretenen Pfad, der vergehenden Sonne entgegen, bis die beiden Mädchen sich an Details des Weges erinnern konnten, und die Führung übernahmen.
     
  Wichtiger Hinweis: Die Texte des Autors Frank Adlung, insbesondere die des Romans "Das Geheimnis von Val Mentiér", sind durch notarielle Hinterlegung urheberrechtlich geschützt. Ein Herunterladen und Ausdrucken ist nur für den privaten Zweck des Lesens gestattet. Kommerzielle Nutzung, öffentlicher Vortrag, oder Vervielfältigung und Verfälschung des Inhalts, sowie öffentliche Verbreitung ohne Genehmigung des Autors sind untersagt und werden zur Anzeige gebracht.
 
 
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