Das Geheimnis von Val Mentiér
 
36. Kapitel
 
Das Dorf der ewigen Jugend
 
ntarona berichtete ihrem Mann, den die Götter gesandt hatten, dass sich kein Jo-lie mehr im Sumpf befand. Basti wusste, dass ihre Krähen die weite Schilflandschaft ausgespäht, und ihrer Freundin berichtet hatten. Von den Kriegern Torbuks sprach sie nicht. Er beließ es dabei. Mochten jene, die sich retten konnten, nach Quaronas entkommen.
Wichtiger waren nun die Jo-lie, die so tapfer mit ihnen gekämpft hatten, ohne Erfahrung, aber mit dem Mut verantwortungsbewusster Mitglieder einer Gemeinschaft. Es gab viele Verletzte, Verwundete und traumatisierte Mädchen und Jungen, die nun vordringlich die Hilfe und den Beistand ihres Heerführers brauchten.
Die Wanderung durch den Wald bis zum Dorf war angenehm. Die Sonne, die sich durch diesige Schichten von hoher Luftfeuchtigkeit kämpfen musste, entwickelte doch so viel Kraft, dass auch keine Bewegung schon Schweißausbrüche verursachte. Doch unter dem Blätterdach der Bäume, unter dem, wie in einem Tunnel, ein leichtes Lüftchen wehte, war das schwülwarme Wetter des Tages gut auszuhalten.
Entsprechend ließen sie sich großzügig Zeit, um nach Mehi-o-ratea zu kommen. Unterwegs begegneten sie immer wieder kleinen Trupps von schwer bewaffneten Jo-lie, die entweder noch vom anderen Ende des Schlachtfeldes zurückkamen, oder jenen, die erneut ausgezogen waren, um Beute zu machen.
Soviel hatten selbst die jungen Kriegerinnen und Krieger bereits gelernt. Die Pla-ka und Waffen der Feinde nicht einfach sich selbst zu überlassen. Kleine Gruppen waren von Tomrack und seiner Tochter Eisilia ausgeschickt worden, um die umherstreunenden Pla-ka der geschlagenen Truppe Torbuks einzufangen und ins Dorf zu bringen.
Andere sollten die umherliegenden Waffen einsammeln und der Gemeinschaft zuführen. Denn niemand vermochte zu sagen, ob Torbuk nicht einen Vergeltungsfeldzug gegen das Dorf startete. Dies war zwar kaum zu erwarten, doch die Jo-lie wollten nun auf alles vorbereitet sein. Außerdem besaßen die gut geschmiedeten Waffen aus Quaronas einen kommerziellen Wert. Was nicht gebraucht wurde, konnte den jungen Îval auf jedem Markt ein nettes Taschengeld einbringen.
Kaum hatten Antarona und Sebastian das Dorf erreicht, wurden sie sofort von allen Seiten bestürmt. Die Jo-lie brachten ihnen Getränke und Speisen entgegen, ließen sie hoch leben, umtanzten sie und mache oder manche luden sie ein, die kommende Nacht in ihrem Zelt oder Lager zu verbringen.
Wie beim ersten Eintreffen in dem Dorf, wurden die beiden mit viel Aufmerksamkeit, lautstarker Begleitung und gestenreich zum Versammlungsplatz geführt. Überschwänglich wurde die Befreiungsaktion von den Jo-lie als erfolgreicher Feldzug gegen Quaronas gewertet. Selbst schwer Verwundete standen am Weg durch das Dorf und jubelten ihrem König Areos und der legendären Sonnenherz zu.
Am Versammlungsplatz erwarteten sie Eisilia mit Tomrack, Temrin, Femra und Permina, sowie Frethnal, der einen dicken Verband trug. Auch Femra und Permina wurden verletzt. Eine hatte das linke Bein, die andere den Arm verbunden. Sebastian fiel sofort auf, dass Vesgarina fehlte, und sah sich suchend um.
»Wo ist das stumme Mädchen, die man die Wenderin nennt? Ist sie..?« Tomrack legte freundschaftlich seine Riesenpranke auf Bastis Schulter, so dass dieser ein Stück weit in die Knie ging, und versicherte beruhigend lächelnd:
»Seid unbesorgt, Herr, jene mit der schweigenden Zunge ist im Dorf unterwegs. Sie ließ sich nicht davon abhalten, die Verwundeten zu versorgen. Wir wollten sie hier behalten, denn sie hat sich bereits völlig verausgabt, doch sie bestand darauf, so lange zu helfen, bis alle verletzten Jo-lie versorgt sind.«
Antarona vernahm diese Worte, drehte sich wortlos um und ging fort. Die fragenden Blicke der anderen kommentierte Sebastian verständnisvoll lächelnd:
»Nun haben wir zwei barmherzige Schwestern, die nicht eher ruhen werden, bis jede Kriegerin und jeder Krieger verbunden sind.«
Die Gruppe sah dem Krähenmädchen nach, und sie stellten mit erstaunen fest, dass ihr einige Frauen und Mädchen folgten. Sebastian wusste, dass Antaronas Ausstrahlung dafür sorgte, dass viele sich mit ihr identifizierten, und ihr nach Kräften helfen würden. Er musste lächeln. Dieses Dorf hatte in diesem Augenblick eine Klinik bekommen.
Ebenso wie für die Mädchen, die sich nun zur Aufgabe gemacht hatten, die Verwundeten und Kranken des Dorfes zu betreuen, war auch für Sebastian mit dem Sieg über Torbuks Truppe der Krieg noch nicht beendet. Er hatte aus der Sache etwas gelernt. Falméra, das sich als Insel inmitten widriger Strömungen sicher glaubte, war angreifbar und verwundbar.
Für Basti bedeutete dies, sich Gedanken darüber zu machen, wie kurzfristig sicherzustellen war, eine überraschende Invasion oder Stoßaufklärung künftig zu verhindern, oder gar auszuschließen. Zunächst musste König Bental von der Besetzung des Küstenstreifens und der Befreiung der Jo-lie erfahren. Haderte der ignorante Monarch bisher damit, solche Möglichkeiten in Betracht zu ziehen, nun hatte er den unfehlbaren Beweis. Sein Bruder Torbuk hatte durchaus die Mittel und Energie, auch Falméra anzugreifen.
Sebastian selbst wollte wegen der Differenzen zu Bental vermeiden, an den Hof zurückzukehren. Schon um Antaronas Willen. Doch Bental musste genauestens unterrichtet werden, damit seine Berater gezwungen waren, endlich die nötigen Schutzmaßnahmen zu ergreifen.
Dafür brauchte Basti zwei absolut zuverlässige, schnelle Boten, die dem König eine Depesche überbringen, aber auch selbst berichten konnten. Doch wen konnte er mit einer so wichtigen Aufgabe betrauen? Alle Jo-lie, die in der letzten nacht treu an seiner Seite gekämpft hatten, hielt er für vertrauenswürdig. Doch genau kannte er niemanden in diesem Dorf.
Da kam ihm ein Gedanke, der sicherlich nicht bei allen Zustimmung ernten würde. Aber manchmal war die unkonventionellste Methode die beste. Er trat an Femra und Permina heran, und bat die beiden Mädchen ihn hinter das Haus Temrins zu folgen. Natürlich fühlten sich die beiden mehr als geehrt, vom Helden mehrer Schlachten aus Vergangenheit und Gegenwart gebeten zu werden.
Hinter dem Haus des von den Jo-lie auserwählten Führer ihrer Gemeinschaft führte ein stabiles Tor in einen separaten Bereich. Dort geriet Sebastian erst einmal ins Staunen. Ein riesiger, üppig angelegter Garten erstreckte sich bis ans Ufer des ruhig vorbeiziehenden Flusses. Sauber angelegte Wege und bunte Blumenbeete fassten Ruhezonen ein, die mit Liegen, Bänken, oder einfach nur mit Fellen ausgestattet waren.
Ordentlich zurechtgeschnittene Bäume spendeten Schatten über gepflegtem Rasen, den Sebastian nicht einmal auf der Burg Falméra gesehen hatte. Dazwischen setzten immer wieder farbliche Tupfer in Gestalt von Blumen und Sträuchern lebendige Akzente.
An einer Seite des riesigen Parks war ein großzügiger Garten angelegt worden. Dort gediehen Gemüse und Früchte aller Art. Beeren, Äpfel und viele andere Früchte, die Sebastian zwar nicht kannte, an deren Verzehrtauglichkeit er aber nicht den geringsten Zweifel hegte, säumten die Wege und die schattige Mauer.
Neben dem Garten duckte sich ein steinerner Ofen mit Öffnungen an zwei Seiten, die aber zentral von einer Stelle befeuert werden konnten. Die eine Seite bot einen hervorrgenden steinernen Backofen mit einer offenen Feuerstelle daneben. Die andere Seite aber war verschlossen. Am Duft erkannte Basti aber, dass es sich dabei um einen Räucherofen handelte.
Garten und Park waren durch eine kurz geschorene Wiese getrennt, die mit hohen Hecken zu einer Art Labyrinth ausgestaltet war. Ein kurzer Blick hinein verriet ihm die Absicht, die hinter der Anlage zu vermuten war. Wie Oasen waren kleine Plätze in den Irrgarten eingefügt, die mit Fellen, oder frischen Heu ausgelegt waren.
Ein künstlich angelegter See mit klarem, sauberem Wasser bildete das Zentrum des kleinen Paradieses. Einige, nach allen Seiten offene Pavillons, eckige und runde, säumten die wie mit einer Schnur gezogenen geraden Wege. Das ganze Areal war von einer zwei Mann hohen Mauer umzogen, die von außen durch dichten Bewuchs kaum als solche erkennbar war.
Das Grundstück besaß einen eigenen Zugang zum Fluss, der aber ebenfalls von einer hohen Mauer geschützt wurde. Lediglich ein kleiner Zugang ermöglichte den Weg zum Wasser. Direkt an der Mauer bei der Pforte lag ein schön gearbeitetes Boot kieloben. Beinahe mochte man den Eindruck gewinnen, die Eigentümer dieses Paradieses hatten bereits ihre Flucht über den Fluss vorbereitet. Für alle Fälle.
So armselig und heruntergekommen die Hütte Temrins und Eisilias von außen auch anmutete, dahinter tat sich ein kleiner Palast auf. Selbst das Haus war so angelegt, dass es optisch von draußen als etwas größere Hütte erschien, sich jedoch hinter der Fassade als geräumiges, für diese Verhältnisse luxuriöses Heim entpuppte.
Sebastian war so überrascht, dass er ganz vergaß, warum er eigentlich hinter das Haus gegangen war. Auch Femra und Permina blickten sich erstaunt um. Sebastian und Antarona hatten die Hütte am Tag zuvor mit der Veranda, dem Flur und den ersten Räumen kennengelernt. Doch nie hätten sie vermutet, was noch dahinter lag.
Das flache Haus war nach hinten hufeisenförmig ausgebaut. Hinter der Mauer war die Fassade etwas eingerückt, so dass man von außen nicht sehen konnte, dass sich das Gebäude nach hinten fortsetzte. Es war großzügig gebaut, mit großen, nach außen aufklappbaren Schilf- Fenstern, die Sebastian von den Gesellschaftsinseln her kannte. Sie waren abwärts überlappend, also so gearbeitet, dass starker Regen nicht eindringen, die Luft aber großzügig zirkulieren konnte.
Die Ausdehnung war so groß, dass die Bezeichnung Kleiner Palast durchaus berechtigt war. Sebastian konnte nicht in die herunter geklappten Fenster hinein sehen, doch er vermutete auch innen eine ebenso üppige Ausstattung, wie in der Außenanlage. Er überlegte, wie viel Personal es bedurfte, ein solches Areal zu pflegen und sauber zu halten. Also mussten Temrin und Eisilia zumindest hierfür Verbündete haben, die nicht über diese Residenz sprachen.
Sebastian bezweifelte, dass die Jo-lie vom feudalen Leben ihrer Anführer hinter der Mauer wussten. Augenscheinlich nach außen, lebten sie wohl etwas besser, doch nicht minder ärmlich, wie das ganze Dorf. Permina und Femra schien der überraschende Luxus ihrer Anführer nicht weiter zu stören. Sie schienen glücklich allein mit ihrer Freiheit, die sie in der Gemeinschaft Mehi-o-rateas erfuhren.
Trotz all des verborgenen Prunks fiel Basti bald wieder ein, weshalb er die beiden Mädchen in das abgeschiedene Grundstück gebeten hatte. Die beiden himmelten ihn an, als erwarteten sie ein sehr persönliches Angebot. Deshalb wollte er sich beeilen, ihnen den Grund für das geheime Treffen zu verraten. Allerdings wollte er auch nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen und erkundigte sich zunächst:
»Was ist mit Tariz und den Jungs, Halem, Simas und Miranor? Sind sie wohlauf?« Die Mädchen blickten betroffen zu Boden. Femra berichtete:
»Simas, Miranor und Halem geht es gut, sie waren in einem der Käfige im Lager der Wilden Horden gefangen. Sie haben tapfer gekämpft, Herr.«
»Tapfer gekämpft habt ihr alle, und von eurem Mut wird noch oft an den Feuern des langen Schnees erzählt werden«, sagte Basti, »doch was ist mit Tariz? Ist sie verwundet worden?« Femra zuckte mit den Achseln und bekam Tränen in die Augen.
»Wir haben sie nicht gefunden, Herr. Wir wissen nicht, was mit ihr ist. Mag sein, sie wurde bereits nach Quaronas oder zur schlafenden Sonne hin gebracht, wie viele unserer Schwestern. Vielleicht werden wir sie nie wiedersehen«. Sebastian nickte bedächtig, sagte dann aber:
»Die Hoffnung, die dürft ihr niemals aufgeben. Was nicht möglich erscheint, wird dennoch manchmal wahr, denkt immer daran. Vielleicht wird sie an anderem ort, zu anderer Zeit befreit werden. Sonnenherz und ich werden nicht eher ruhen, bis Torbuk und Karek vernichtet sind. Und ihr könnt Großes dazu tun.« Nun kam Sebastian zum Kern seines Anliegen.
»Ich brauche jemanden, der schnell, wendig, klug und verschwiegen ist« eröffnete er den jungen Frauen, »vor allem verschwiegen!« Er setzte sich mitten auf ein Rasenstück unter einen Schatten spendenden Baum, um forderte die beiden mit einer Geste auf, seinem Beispiel zu folgen. Dann fuhr er fort:
»Irgend jemand muss für mich eine Botschaft zu König Bental bringen. Dieser muss aber auch selbst erklären können, wie er die Lage hier einschätzt. Er muss kämpfen können, falls er angegriffen wird, er muss Beziehungen in Falméra haben, sollte ihn Bental oder seine Wachen nicht einlassen, und er muss klug genug sein, damit der König ihn ernst nimmt.«
Die beiden Mädchen sahen ihn an, als wussten sie nicht, wovon er sprach. Sebastian aber wusste, dass sie ihn nur provozieren wollten. Sie waren sehr jung, und für sie stellte sich alles nur als ein großes Spiel dar. Die vielen Toten und verwundeten der Nacht verdrängten sie, wie die meisten der jungen Jo-lie. Sie hatten gesiegt. In ihren Augen rechtfertigte das jenes Übel des Leids. Sebastian wurde deutlicher.
»Ich dachte an euch beide, denn ich denke, dass ich euch vertrauen kann. Ihr seid nicht nur von bezaubernder Schönheit, sondern auch mutige und kluge Kriegerinnen.« Sebastian schämte sich für diese Äußerung, denn sie war so unangemessen und übertrieben schmeichelhaft, dass sie schon wieder peinlich war. Doch die beiden Mädchen sogen das Lob auf, wie kühle Luft in einem Glutofen und reagierten entsprechend empfänglich.
»Wir würden euch niemals enttäuschen, Herr«, flötete Femra, und Permina versprach: »Was immer ihr uns auftragt, Herr, auf uns beide mögt ihr euch getrost verlassen. Wir würden alles für euch tun, Herr. Ihr seid unser wahrer König!« Sebastian zog bei den letzten Worten erstaunt die Augenbrauen hoch.
Dass er bei den Jo-lie ein so hohes Ansehen genoss, war ihm nicht bewusst geworden. Nun schätzte er die Lage neu ein, und vermutete, dass es nach dem Sieg über die Wilden Horden unter den Jo-lie sicher einige junge Frauen gab, die ihn inzwischen bewunderten und Alles für ihn tun würden. Er wischte den vermeintlich verlockenden Gedanken fort und sprach weiter:
»Ihr sollt nicht allein gehen. Ihr könnt eure Freunde mitnehmen. Wenn Miranor, Halem und Simas dazu bereit sind, so mögen sie euch begleiten. Ihr seid dann ein kleiner, wehrhafter Trupp, der im Auftrag des Königs unterwegs ist.« Femra sah Sebastian forschend an und fragte kess und provokant:
»Im Auftrag welchen Königs?« Auf diese Frage war Basti nicht ganz vorbereitet. Er sah das Mädchen irritiert an, das da mit fast nichts bekleidet vor ihm stand und ihn herausfordernd anblinzelte. Erst jetzt fiel ihm auf, dass die beiden Mädchen keine Kinder mehr waren. Und sie wussten sehr wohl ihre weiblichen Formen so in Position zu drehen, dass ein Mann schwach werden konnte.
Sebastian ertappte sich dabei, wie er unsicher wurde. Abrupt drehte er sich um, als wollte er das Gespräch beenden und eine Nuance zu schroff gab er zurück:
»Es gibt im Augenblick nur einen König, das solltet ihr nicht vergessen. Und das wird solange so bleiben, wie Torbuk es wagen kann, seine Truppen dorthin zu schicken, wo es ihm beliebt. Und noch etwas...«
Er drehte sich wieder den beiden jungen Frauen zu und sah gerade noch, wie die beiden sich belustigte Blicke zuwarfen. O ja, sie wussten um ihre Reize und ihre Wirkung auf Männer. Sie waren in einem Alter, wo ihnen nichts Besseres einfiel, als ihre Grenzen auszutesten.
Insgeheim musste Basti lächeln. Und er fiel auf das übermütige Spiel dieser beiden Amazonen herein, wie ein kleiner Schuljunge. Ernsthafter fuhr er aber fort:
»Tomrack von Kandar wird euch begleiten«, platzte er mit seiner überraschenden Botschaft heraus. Er wusste, dass es den Mädchen keinesfalls gefallen würde. Für sie war der rothaarige Riese das Sinnbild für die Feinde, für das Böse. Sie hatten nicht vergessen, wie er Syrielle und andere ihrer Schwestern aus den Käfigen fortgebracht hatte, die dann nicht wiedergekehrt waren. Ihre Erfahrung reichte noch nicht für die Erkenntnis, dass sich ein Menschenwesen zu ändern vermochte und eine strategische Sicht ein anderes Licht auf eine Situation warf.
»Tomrack, dieser grobe Klotz der Wilden Horden, der Gefangene, der sein Leben nur dem Glück verdankt, dass er Eisilias verloren geglaubter Vater ist?« Femras Entrüstung steckte auch ihre Freundin Permina an, die bisher eher schweigsam gewesen war.
»Wir tun alles für euch, Herr, wir würden für euch in das Reich der Toten gehen, doch verlangt nicht von uns, diesen.., diesen niederträchtigen Dämon mitzunehmen.« Plötzlich gingen die beiden Mädchen, die eben noch versucht hatten mit ihrem Heerführer zu flirten, auf deutliche Distanz. Femra ergriff wieder das Wort:
»Herr, wenn ihr mit uns ginget, so erfüllte uns diese Aufgabe mit Stolz und Freude. Wir wollten euch die Reise so angenehm machen, wie einen wunderbaren Traum. Doch mit jenem Monster, welches mordend in unser Land einfiel, wollen wir nicht das Lager teilen. Wir würden ihm in der schlafenden Sonne das Haupt vom Rumpfe trennen. Diesen stinkenden Robrum würden wir...«
Sebastian gebot den Mädchen mit einer erhobenen Hand Einhalt in ihren Phantasien, wie der fremde Krieger ermordet werden konnte. Er bekam ihre feingliedrigen Hände zu fassen und zog sie mit sanfter Gewalt wieder zu sich herab auf den Rasen, achtete aber peinlichst darauf, ihnen bei dieser Geste keine weiteren Hoffnungen auf tiefere Vertrautheiten in Aussicht zu stellen.
Die beiden setzten sich ihm gegenüber und er zwang sich, nicht direkt auf ihre verführerischen, unbedeckten Reize zu blicken. Statt dessen fixierte er ihre Blicke und erklärte ihnen mit eindringlicher Stimme die Wichtigkeit dieser Mission.
»Femra, Permina, es geht hier um viel mehr, als nur um Zu- und Abneigungen gegen Freund oder Feind, und wenn Tariz bei uns wäre, ich glaube, sie hätte mich verstanden.«
Mit dieser Einleitung versuchte er die beiden, ihm beinahe hörigen Mädchen zu überzeugen. Wenn er sie glauben machen konnte, dass er an ihrem Verständnis zweifelte, mochte ihre Trotzreaktion vielleicht das bewirken, wozu seine Erklärungskünste nicht ausreichten.
»Ich würde mit Sonnenherz gern selbst gehen. Doch sie wird diesen Ort nicht eher verlassen, bis all jene, die treu und mutig mit uns gekämpft haben, wieder gesund sind. Und ich gehöre an ihre Seite, das haben die Elsiren so beschlossen.«
Auch damit versuchte Basti die beiden umzustimmen, denn er wusste, dass sie trotz aller zwischenmenschlichen Abenteuerlust und Freiheit sehr wohl die Treue eines Mannes und den Glauben an den Willen der kleinen, leuchtenden Glücksbringerinnen achten würden.
»Ich brauche also jemanden, der stark ist, und dem ich vertrauen kann. Euch vertraue ich. Und mit Tomrack an eurer Seite habt ihr einen starken, erfahrenen Krieger, der den Feind gut kennt. An ihm ist es zu beweisen, dass sein Schwert fortan treu unserem Volk dient. Doch er braucht eure Fürsprache, König Bental würde ihn sonst in den Kerker werfen lassen, ohne ihn anzuhören.«
»Was wäre denn schon schlimm daran«, gab Femra trotzig zurück. Er war es, der Syriel geholt hatte, und wir haben sie nie wieder gesehen! Das Volk der Jo-lie braucht ihn nicht, wir wollen ihn nicht, und wir würden ihn am liebsten davon jagen. Doch viele von uns wollen ihn tot sehen«, entgegnete das Mädchen in atemloser Rede.
»Darum ist es gut, wenn er das Dorf verlässt«, hakte Sebastian nach, »doch er ist nützlich. Er weiß Vieles über Torbuk und seine Heerscharen, das für Falméra wichtig ist, um sich gegen den Feind zu rüsten. Außerdem sollten die Jo-lie und die Îval wie ein Volk denken und handeln. Nur gemeinsam können wir einer angreifenden Streitmacht auf Falméra entgegen treten.« Basti machte eine Pause und ließ seine Worte auf die beiden Mädchen wirken, bevor er weiter sprach:
»Ich brauche Tomrack und ich brauche euch«, gab er zu, »darum muss ich euch an diesem Tage bitten, mit ihm Frieden zu schließen. Nehmt ihn als Kampfgefährten, und sei es nur für diese eine Sache. Ihr müsst ja nicht die Felle miteinander teilen, reist nur zusammen mit ihm und tretet gemeinsam vor den König, damit er ihn anhört. Mehr verlange ich nicht, und ich bitte euch darum.«
Die Mädchen sahen betreten zu Boden und spielten verlegen an den Bändern ihrer Hüftschürze, während sie nachdachten. Offensichtlich kostete es sie eine grenzenlose Überwindung, einer Zusammenarbeit mit dem Überläufer zuzustimmen. Sebastian versuchte ihnen Mut zu machen.
»Tomrack wird sein Leben dafür verpfänden, euch auf dem Weg nach Falméra zu schützen. Sollte er, woran ich nicht glaube, abtrünnig werden, so mögt ihr ihn in meinem Namen töten. Aber ich denke, das wird nicht nötig sein. Er ist ein großes Risiko eingegangen, sich gegen seine eigene Truppe zu stellen, obwohl er nichts von Eisilia wusste. Ich glaube er hatte die Frevel erkannt, welche Torbuk und sein Heer den Îval und den Jo-lie angedeihen lässt. Ihr habt ihn nicht mehr zu fürchten.«
»Vielleicht hat er aber uns zu fürchten«, gab Permina kess zu bedenken, und es klang eindeutig provokant. Basti wusste, dass sich die beiden Mädchen seiner Bitte beugen würden, doch er wusste auch, dass sie ihren Trotz und Unmut dagegen noch eine Weile zur Schau tragen würden.
Er verzichtete daher auf weiteres Schönreden dieser Unternehmung. Femras und Perminas stille Zustimmung war ein filigranes Gebilde. Eine unvorhergesehene Sache, die ein negatives Licht auf das Vorhaben warf, und sie würden sich mehr an die Verpflichtung gegenüber den Jo-lie erinnern, als an die ihres erdachten Helden.
Sie verließen den paradiesischen Garten und das Lager der Jo-lie kam Sebastian plötzlich so vor, wie ein Flüchtlingslager in den Armutszonen Afrikas. Was seinen Blick bis dahin romantisch verfärbt hatte, sah nach dem aufgeräumten Park und einem Rundblick über das Dorf Mehi-o-ratea plötzlich verwildert, schmutzig und heruntergekommen aus. Ein wahllos zusammengesetzter Haufen Armut und Dreck.
Allein die gute, ausgelassene Stimmung in den Clans und zwischen den Zelten und Hütten verdrängten etwas den endzeitigen Eindruck. Und wenn Sebastian genauer hinschaute, kam die glückliche Einfachheit zum Vorschein, in der die Jo-lie ihre Freiheit lebten.
Ziellos wanderte Basti auf der Suche nach Tomrack durch das ausgedehnte Dorf. Im Haus Eisilias und Temrins hatte er niemanden angetroffen. Wahrscheinlich gingen die gewählten Führer von Lager zu Lager, von Clan zu Clan, um sich ein Bild von den Verwundeten und Verletzten zu machen.
Basti kam zu dem Schluss, dass Tomrack sie begleitete, denn allein in diesem großen Lager war er kaum sicher. Zu viele Jo-lie wussten inzwischen, dass Syrielle von dem fremden Krieger geholt worden war, bevor ihre Schreie über das Heerlager der Wilden Horden gellte und den Gefangenen das Blut in den Adern gefrieren ließ.
Ein Pfeil aus dem Hinterhalt, gezielt geworfene Steine, oder ein Becher Wasser, oder ein Stück Fleisch, das vergiftet worden war. Abgrundtiefer Hass kannte jede Menge Phantasie zum Töten, jedoch selten Gnade. In diesem Moment fragte sich Sebastian, was mit den Gefangenen geschehen war, zu denen Tomrack ebenfalls gehört hätte, wenn Eisilia von Kandar nicht seine Tochter gewesen wäre.
Ziemlich deutlich hatte er angewiesen, die Männer Torbuks ins Dorf zu bringen und zu bewachen. Nun erinnerte er sich daran, dass er gefordert hatte, dass die Männer noch in der Lage sein mussten, zu sprechen. Ihm schwante nichts Gutes, denn über den weiteren Zustand der Gefangenen hatte er sich nicht festgelegt. Gerieten die Jo-lie erneut in einen Rausch des Sieges und der neu erfahrenen Macht, so mochte es gut möglich sein, dass sie ihm nur noch die sprechenden Köpfe der Männer präsentierten.
Basti nahm sich vor, sofort nach den Gefangenen zu sehen, sobald er Tomrack und auch Antarona gefunden hatte. Doch das stellte sich als ganz eigene Herausforderung dar. Wo er auch auftauchte und nach dem Krähenmädchen, oder Eisilia und Temrin fragte, erhielt er als Antwort, dass man es nicht wusste, oder dass die Gesuchten gerade eben weitergezogen waren, zum nächsten Clan, zum nächsten Dorfteil, zum nächsten Versammlungsplatz.
Dabei erfuhr Sebastian, wie groß dieses zusammengewürfelte Dorf war, und dass in ihm nicht nur junge Menschen lebten. Es gab auch "Alte". Er traf einen Mann, der offenbar homosexuell, und aus der Gesellschaft Falméras ausgegrenzt war. Bei den Jo-lie fand er die Möglichkeit, unbehelligt und wegen seiner Neigung ohne äußeren Druck in Frieden zu leben.
Da war auch die ältere Frau, Basti schätzte sie auf fünfzig Jahre, die als Kräuterfrau bei den Jo-lie lebte. Sie half bei Krankheit, bei Verletzungen, und nicht selten brachte sie das Kind eines Kindes zur Welt, wenn die freie, zwanglose Liebe Früchte getragen hatte.
Es gab zwei Jäger, die ab und zu im Dorf vorbeischauten, jene Jo-lie mit Fleisch und Fellen versorgten, die nicht das Talent besaßen, eine erfolgreiche Jagd zu bestreiten. Als Gegenleistung genossen sie das freie Leben Mehi-o-rateas, das ihnen in Falméra, oder einem der umliegenden Dörfer nicht vergönnt war.
Auch ein par Krieger hatten sich schon in Mehi-o-ratea für längere Zeit versteckt, die des Dienstes in des Königs Heerlagern überdrüssig geworden waren, und sich ihrer Verpflichtung unerlaubt entzogen hatten. Sebastian hörte das Gerücht, dass diese sich irgendwo im großen Sumpf verborgen hielten, sich als Fischer betätigten und die Jo-lie regelmäßig mit frischem Fisch versorgten. Freilich verriet dem Heerlagerführer des Königs niemand, ob es sich um eine Tatsache, oder nur um eine ersponnene Geschichte handelte.
Irgendwann führte jemand Basti hinter das Hauptzelt eines Clans. Ein par kleinere Hütten, oder das, was man dafür halten mochte, und ein par winzige Zelte standen im Kreis. Innerhalb dieses Kreises lagen zwei verwundete Mädchen und vier Jungen auf Felllagern auf dem festgetretenen Boden.
Eisilia, Temrin und Tomrack bemühten sich um die Kranken, während die Mitglieder des Clans einen großen Metallkessel angeheizt hatten, in dem sie Verbände mit einem Kräuterzusatz auskochten, der stark nach Baldrian roch. Sebastian staunte über die verhältnismäßig modernen Erkenntnisse der medizinischen Versorgung, die er an dieser Stelle nicht erwartet hatte.
Im Stillen überlegte er, ob es das Ergebnis von Andreas, Falméras Medicus war. Da er im wahrsten Sinne der Worte ein reisender Arzt war, mochte es als wahrscheinlich gelten, dass er selbst an diesen abgelegenen Ort gekommen war, und seine Kenntnisse preis gegeben und dauerhaft manifestiert hatte.
Sebastian sah sich die Verwundeten seines Krieges genau an. Und obgleich er wusste, dass Opfer notwendig waren und künftig noch mehr zu beklagen sein würden, verabscheute er die Folgen des Kampfes für Freiheit und Gerechtigkeit. An dieser Stelle wurde deutlich, welche persönlichen Schicksale durch die Entscheidung des Aufbegehrens gegen die Unterdrückung gefügt wurden.
Eines der Mädchen hatte einen Schwerthieb am Oberarm erhalten, der bis auf den Knochen ging. Ihre Kameradin hatte weniger Glück. Die scharfen Krallen eines Morgensterns hatten ihren Unterleib so schwer getroffen, dass sie sehr schwer heilende Wunden davongetragen hatte.
Einige innere Organe schienen verletzt, und sie würde wohl nie mehr Kinder bekommen können. Basti schüttelte seinen Kopf über den Gedanken, gegen den er sich nicht erwehren konnte, ob es ein Segen oder Fluch war, wenn das Mädchen überlebte.
Noch aussichtsloser stand es um einen jungen Mann, der seine Geliebte im Kampf schützen wollte. Ein Schwert war ihm in den Bauch gefahren. Welche lebenswichtigen Organe wie schwer verletzt waren, ließ sich kaum bestimmen. Doch man sah deutlich, wie die Kraft von Minute zu Minute aus seinem Körper wich.
Das Mädchen, für das er dieses Opfer auf sich genommen hatte, saß still weinend neben ihm, hielt seine Hand und strich ihm ab und zu liebevoll über den Kopf, um ihn aufzumuntern. Offenbar wagte niemand ihr zu sagen, dass sie ihren Geliebten verlieren würde. Wahrscheinlich aber spürte sie es selbst.
Einem weiteren Jungen war das Bein zerfetzt worden. Um ihn am Leben zu erhalten, musste es abgetrennt werden. Dann entschied seine eigene körperliche Konstitution darüber, ob er den Kampf gegen den Wundbrand würde gewinnen können. Zu Bastis erstaunen bereitete sich ausgerechnet Tomrack darauf vor, dem Jungen das Bein zu amputieren.
Der riesenhafte Rotschopf, dessen mächtigen Händen man so einen Eingriff kaum zutrauen mochte, erklärte Sebastian, dass er oft bei solchen unliebsamen Maßnahmen dabei war, und so gelernt hatte, wie man dabei vorging. Er hatte Dutzende verwundete Krieger festhalten müssen, wenn der Wunddoktor Hand an sie legte, ohne sie betäuben zu können.
Diesmal stellte sich die Situation anders dar, erklärte Tomrack. Es gab genügend Mestas, um einen Xebron einschläfern zu können. Freilich fragte sich Sebastian, woher plötzlich in diesem Dorf der ewigen Jugend eine größere Menge Mestas auftauchte. Kriegsbeute?
»Du bist naiv«, schalt er sich in Gedanken selbst. Natürlich hatten auch die Jo-lie ihre Quellen, was dieses Zeug anbelangte. Es war töricht anzunehmen, dass die jungen Menschwesen völlig Abstinenz lebten, wenn ihnen die Erwachsenen doch seit ihrer Geburt den Konsum der flüssigen Droge vorlebten. Vermutlich stellten sie das Gesöff sogar selbst her.
Sebastian wagte unter diesen Umständen nicht, Tomrack zu stören. Doch er wünschte sich, dass alle Jo-lie sehen konnten, wie sehr er sich nun für ihre Gemeinschaft einsetzte. Vielleicht würde das die Stimmung gegen ihn etwas heben. Basti fühlte sich aber in seiner Meinung bestätigt, dass er in diesem Mann einen neuen, treuen Verbündeten gefunden hatte, dem er sogar vertrauen konnte.
Anstatt Tomrack in die Aufgabe einzuweihen, die er ihm zugedacht hatte, strich er weiter durch das ausgedehnte Lager der Jo-lie, und suchte nach Antarona. Unterwegs wurde ihm das ganze Ausmaß des Sturmangriffs auf Torbuks Heerlager augenfällig.
Die meisten Verwundungen, die in seiner hochtechnisierten Welt mit ein par Tagen Aufenthalt in einem Krankenhaus erledigt gewesen wären, würden in Mehi-o-ratea noch viele junge Menschen der Jo-lie in das reich der Toten einziehen lassen.
Wenn auch viele junge Frauen und Mädchen bereits in die Heil- und Kräuterkunde ihrer Großmütter eingeweiht waren, und tatsächlich gute und unverzichtbare Arbeit leisteten, so waren die hygienischen Gegebenheiten katastrophal. Oft wurde das Wasser zum reinigen der Wunden und Verbände nicht abgekocht, also direkt aus dem Fluss verwendet, und die Verwundeten ohne Schutz vor Ungeziefer gelagert.
Sebastian erblickte mehr als einmal, wie aus einem schmutzigen Verband ein Kakerlaken ähnliches Vieh gekrabbelt kam. Inwieweit noch andere für die Gesundheit bedenkliche Lebewesen im Dorf zu finden waren, entzog sich seiner Kenntnis. Schließlich hatte er kaum Zeit gehabt, sich gründlich in Mehi-o-ratea umzusehen.
Nach einer ersten Einschätzung durch Aussagen und Meldungen der Clanführer der Jo-lie zählte Basti zwanzig bis fünfundzwanzig Tote, jedoch dreimal so viele Schwerverletzte und unzählige Jo-lie mit leichten Verwundungen, die bereits wieder im Dorf umher liefen. Darüber, wie die Sache ausgegangen wäre, wenn sich Torbuks kampferfahrene Männer nicht vor fiktiven Geistern und Dämonen gefürchtet hätten, mochte sich Basti nicht vorstellen.
Mit Sicherheit war auch die Überraschung hilfreich gewesen, mit der sie das Heerlager überfallen hatten. Gewiss hätte der Schlag gegen die Invasoren noch plötzlicher sein können. Doch das Schüren der natürlichen Ängste der Krieger wäre dann ausgefallen. Egal, in welche Richtung Sebastian die Sache auch auszuwerten versuchte, das Ergebnis blieb gleich.
Vorteilhafter hätte die Schlacht nicht ausgehen können. Er versuchte den Gedanken zu verdrängen, die Opfer mit einer anderen Taktik hätte reduzieren können. Andererseits wären noch mehr Opfer zu beklagen gewesen, wenn seine Phantasie nicht einen so ausgeklügelten Plan geboren hätte.
Natürlich, und das wollte er nicht schmälern, wäre das ganze Unternehmen ohne den euphorischen Einsatz, den jugendlichen und abenteuerlichen Mut sowie den verschiedenen Gaben und Fertigkeiten der zusammengewürfelten Gemeinschaft der Jo-lie niemals durchzuführen gewesen. Die vielfältige Herkunft der Bewohner Mehi-o-rateas, und die sich daraus ergebenden breit gefächerten Fähigkeiten der jungen Krieger hatten die Krieger Torbuks zusätzlich überrascht, und die Gegenwehr gelähmt.
Sebastian Lauknitz ahnte nicht, dass bereits zu diesem Zeitpunkt die spektakuläre Botschaft vom Sieg der jungen Geisterkrieger über ein ganzes Heerlager Torbuks die Reise über die Grenzen Falméras hinaus antrat. Auch wenn es in dieser Welt kein Telefon gab, so flogen solche Nachrichten doch mit beeindruckender Geschwindigkeit über weite Landstriche hinweg, wie durch geisterhafte Zauberei.
Endlich, nach nahezu zwei Stunden, begegnete Sebastian einem Trupp Kräutermädchen, die zu wissen schienen, wo sich seine engagierte Frau aufhielt. Sie führten ihn in den dicht stehenden Kreis ärmlicher Hütten, die aus Schilf, Weidengerten und altem Holz errichtet waren. Manche waren mit abenteuerlich aufgebauten Zelten verbunden, so dass ein Bauwerk entstanden war, für das es noch keine Bezeichnung in Bastis Wortschatz gab.
Im inneren Kreis dieser Behausungen, auf festgetretenem Boden lagen dicht an dicht Verletzte, Kranke und Verwundete auf Fellen, Decken, oder auch nur auf Reisig. Antarona und Vesgarina waren gerade dabei, die entzündete Beinwunde eines jungen Kriegers zu versorgen. Andere Mädchen, die sich als Helferinnen bemühten, tupften den in der sengenden Sonne liegenden Kriegerinnen und Krieger den Schweiß von der Stirn, oder reichten die hölzernen Schöpfkellen mit Wasser herum.
Frethnal bereitete inzwischen neue Liegestätten vor, denn immer noch kamen Jo-lie, deren eigentlich harmlose Wunden sich entzündet hatten, oder es wurden jene gebracht, welche noch am Rande des Schlachtfeldes, oder im Wald aufgegriffen wurden. In einer Ecke, zwischen zwei Hütten, Kochten Kessel über mehreren Feuern. Der Geruch nach medizinischen Kräutern stieg Basti in die Nase. Mit dicken Knüppeln rührten einige jüngere Mädchen den Sud, unermüdlich und stumm.
Als Antarona Sebastian sah, stand sie auf und ließ sich dankbar in seine Arme sinken. Sie sah müde, abgeschlagen und schmutzig aus. Für ihn aber wirkte sie so faszinierend und anziehend, wie nie zuvor. Er drückte sie an sich und hielt sie fest, wie eine zerbrechliche Kostbarkeit. Sie fühlten sich so stark zueinander hingezogen, dass sie am liebsten alles um sie herum vergessen, und sich ihrer Liebe hingegeben hätten.
Doch beide vermochten sich nicht von dem Leid abwenden, das es zu lindern galt. Sebastian blickte über die Schultern seines Krähenmädchen und flüsterte ihr ins Ohr:
»Ihr habt einen schweren Stand hier mit den vielen Verletzten. Mein Engelchen, wie kann ich euch helfen? Kann ich irgendetwas tun?« Antarona löste sich aus seiner Umklammerung und wies mit ausholendem Arm über das große Krankenlager.
»Es gibt viele Lagerstätten wie diese hier, Ba - shtie, kleine und große, über das ganze Dorf verteilt, in fast jedem Clan gibt es Verwundete«, erklärte sie mit verzweifelter Resignation in der Stimme.
»Die Wunden sind oft nicht sehr schlimm, doch wenn sie so eng beieinander auf dem Boden liegen, und Schmutz hinein gelangt, so kämpfen wir gegen einen neuen Feind, welcher mächtiger ist, als die Wilden Horden. Wenn alle Kranken an einem Platz wären, so hätten es die Heilerinnen einfacher. So aber müssen sie von Clan zu Clan ziehen, Kräuter und Sude durch das Dorf tragen und viel Zeit vertun.«
Sebastian dachte daran, wie vorteilhaft es wäre, wenn sie so etwas wie ein Krankenhaus hätten. Einen Ort, an dem alle Kranken zentral behandelt und gepflegt werden könnten. Sie alle nach Falméra zu bringen, war nicht möglich. Und in diesem Dorf aus zusammengewürfelten Hütten und Zelten ein Haus, oder ein Gelände zu finden, dass solchen Ansprüchen genügte, war ebenso utopisch.
Doch so wie es zurzeit aussah, mochte es noch gehen, solange es trocken war. Doch wenn es zu regnen begann? Wenn sie wenigstens eine kurz geschnittene Wiese... Sebastian starrte in die Luft. Eine Wiese, ein großes, sauberes Haus. Es gab einen solchen Ort in Mehi-o-ratea! Das geheime Areal, das Temrin und Eisilia vor den Jo-lie verborgen hielten. Bastis Gedanken drehten sich, sein Gehirn begann fieberhaft zu arbeiten.
»Antarona, wie lange würde es dauern, alle Verletzten an einen Ort zu bringen«, rief Basti ihr nach. Das Krähenmädchen hatte sich bereits wieder ihren Schützlingen zugewandt. Sie drehte sich um, und sah ihn erstaunt an. Dann zuckte sie mit den Schultern.
»Sonnenherz und ihre Schwestern könnten es im Lauf einer Sonne schaffen, wenn alle Jo-lie helfen, wenn alle Krieger Tragegestelle bauen, beim Tragen helfen, und alle Schwestern dazu tun, ein Lager zu richten«, antwortete sie zögernd. Immer noch blickte sie ihn skeptisch an.
»Ich weiß einen schattigen, sauberen Ort mit einem großen Haus, wo ihr alle Kranken gesund pflegen könnt. Und ich werde nach einem Medicus schicken lassen«, eröffnete ihr Sebastian. Mit einer ausholenden Geste über die auf dem Boden Liegenden, setzte er hinzu:
»Meinst du, ihr schafft es, all die Verwundeten so vorzubereiten, dass wir sie durch das Dorf tragen können?« Antarona sah ihn herausfordernd an und lächelte.
»Meint ihr, O großer Krieger von den Göttern, ihr schafft es, genügend Tragen herzustellen und einen guten Ort für jene zu finden, die unserer Hilfe bedürfen?«
Sebastian wunderte sich nicht darüber, dass Antarona keine weiteren Fragen stellte. Sie vertraute ihm, und ihm wurde in diesem Moment bewusst, dass er mittlerweile voll in das Leben dieser Welt integriert war. Für einen Augenblick dachte er flüchtig darüber nach, ob er jemals wieder fähig wäre, sich an seine eigene Welt zu gewöhnen. Verglichen mit dem Val Mentiér und Falméra war seine Welt ein Gefängnis gewesen, aus dem er nie hätte ausbrechen können.
Ausgerichtet auf eine gerade Schiene aus sozial gesicherter Struktur, sturer Pflichterfüllung, und Perspektivlosigkeit in Veränderung, war er in stets gleichem Alltagskostüm auf dem langen, monotonen Weg zur Rente und seinem Tod unterwegs gewesen.
Nun gab es Ziele, Wünsche, Hoffnungen, Lebendigkeit und Abenteuer. Wie leicht es war, die Gefahren und Risiken dieses neuen Lebens zu ignorieren. Wie einfach es war, sich auf ständig neue Lebenssituationen einzulassen, wenn das Leben selbst jenes Gut war, das man zu behüten und beschützen bereit war. In seiner Welt war Sebastian nur darauf ausgerichtet, seine Wohnungseinrichtung und sein Bankkonto zu schützen. Totes Gut.
Hier spielten das leben und die Menschenwesen, allen voran Antarona und ihre ungeborene Tochter, die allem übergeordnete Rolle. Sebastian wurde klar, wie wertvoll sein Leben an diesem Ort war. Beflügelt von dieser Erkenntnis, weihte er Frethnal in seinen gerade geborenen Plan ein, suchte eine kleine Armee von jungen Männern und Mädchen zusammen, die ihm gerade über den Weg liefen, und teilte sie in Arbeitsgruppen ein.
Zwei Stunden später hatte ein geschäftiges Treiben auf dem nahen Thingplatz immer mehr Freiwillige Helfer angelockt, die an der neuen Aufgabe teilhaben wollten. Als erstes ließ Sebastian Tragen fertigen. Er sandte die Jo-lie aus, Stangen, Lanzen, gerade Äste und Flechtwerk zu holen.
Angespornt von Sebastians glorreichem Feldzug gegen Torbuks Truppe, und der Witterung nach neuem Abenteuer, zogen die Jungen und Mädchen bereitwillig los, schlugen Äste aus dem Wald, sammelten ungenutzte Zeltstangen und alle Lanzen und Speere zusammen. Die Mädchen brachten Bänder, Schnüre und lange Fasern aus Schilf, Lianen und Flachs.
Binnen einer weiteren Stunde hatte sich der Platz zu einer Stätte begeisterter Arbeiterinnen und Arbeiter entwickelt, die nach Bastis Anweisung emsig werkelten. Immer mehr junge Männer packten mit an, schlugen Äste, schleppten Stangen und Lanzen herbei, und hielten diese zusammen, während die flinken und geschickten Finger vieler eifriger Mädchen das Gerüst mit Bändern und Schnüren zusammenknüpften.
In der vierten Stunde standen dreißig mehr oder weniger stabile Tragegestelle bereit. Einige hatten Griffe an den Enden, andere waren so konstruiert, dass sie mit Seilen über den Schultern angehoben werden konnten. Mit Erstaunen stellte Sebastian fest, dass die Jo-lie ihr Werk unverhohlen mit Stolz und Freude präsentierten. Die jungen Menschen, die es bisher nur gewohnt waren, ihre Freiheit und Ungebundenheit ohne Struktur und Gemeinschaftssinn zu gestalten, hatten plötzlich eine Aufgabe, die sie erfüllte.
Für das Dorf der grenzenlosen Freiheiten war das eine ganz neue Erfahrung. Die Jo-lie nahmen die Gestelle auf und folgten Sebastian mit wichtigem Gehabe zum Verbandsplatz, wo Antarona und die anderen bereits warteten. Wenn sich das Krähenmädchen darüber gewundert hatte, wie Basti es angestellt hatte, den Tross von Trägern und Tragen zu organisieren, so zeigte sie es nicht.
Statt dessen dirigierte sie mit Vesgarina professionell den Abtransport. Nicht alle Tragegestelle waren belegt. Das aber machte den jungen Leuten nichts aus. Diejenigen, welche eine leere Trage schleppten, taten das mit demselben Enthusiasmus, wie ihre Kameradinnen und Kameraden, die Verletzte trugen.
Der Zug der Verwundeten kam auch an dem Clan vorüber, an dem Temrin, Eisilia und Tomrack ihre hilfreichen Hände zum Einsatz brachten. Die leeren Tragegestelle wurden rasch mit den Verletzten belegt, und die Karawane der Kriegsopfer zog weiter durch das Dorf.
Je näher sie jedoch dem größten Thingplatz des Dorfes, und damit dem Haus Eisilias und Temrins kamen, desto nervöser wurde zumindest das rotblonde Mädchen. Temrin zeigte hingegen keinerlei Regung. Entweder begriff er schlichtweg nicht, wohin sie zogen, oder es war ihm egal.
Unterwegs schlossen sich ihnen noch Dutzende Schaulustige und freiwillige Helfer an, die ohne zu fragen in die Tragegestelle griffen und sich in den Zug einreihten. Sebastian führte den Aufmarsch über den Dorfplatz und vor das von außen bescheiden erscheinende Haus Temrins.
Noch bevor sie zum Stehen gekommen waren, löste sich Eisilia aus dem Zug und stellte sich provozierend und mit entschlossener Haltung vor das Tor zu ihrem feudalen Heim. Alle Jo-lie sahen sich fragend an und selbst Antarona warf ihrem Ba - shtie einen skeptischen Blick zu. Der aber trat vor den Zug und verkündete zu aller Erstaunen:
»Hinter diesen Mauern sind genug Platz und sauberer Boden, um allen Verwundeten Mehi-o-rateas ein geschütztes Lager zur Pflege und Genesung zu geben. Es gibt Plätze mit einem festen Dach gegen die Sonne und den Regen. Es gibt Plätze die weich und bequem sind für jene, welche schwere Verletzungen erlitten haben. Und es gibt genügend Felle und Decken, um das Wundfeuer zu heilen!«
Eisilia aber zog ihr Schwert und ließ keinen Zweifel daran, dass sie ihr Heim notfalls mit der Waffe verteidigen würde.
»Jo-lie, Volk von Mehi-o-ratea, hört mich an«, rief sie der verunsicherten, wartenden Menge mit den Kranken vor ihrem Haus zu.
»Ihr alle kennt mich, Eisilia von Kandar, und Temrin, als der von Euch selbst erwählte Führer unseres Dorfes«. Dabei forderte sie Temrin mit energischer Geste auf, sich neben sie zu stellen. Der blickte verunsichert zwischen Sebastian und seiner Eisilia hin und her, bis er schließlich zögernd und schüchtern der Forderung seiner Geliebten nachkam, und sich an ihrer Seite platzierte. Durch Temrin gestärkt, setzte sie ihre Rede fort.
»Wir wissen um die Not, die durch den Angriff auf das feindliche Lager unter unser Volk gekommen ist. Doch auch wir brauchen unsere kleine Hütte. Wir können nicht all die vielen Verwundeten beherbergen, die es nicht geben würde, wenn dieser hier, Areos von Falméra«, dabei wies sie anklagend auf Sebastian, »diese Schlacht nicht begonnen hätte!«
Alle umstehenden wandten sich nun Sebastian und Antarona zu. Das Krähenmädchen nahm eine drohende Haltung ein, und ihre Augen blitzten mit Funken sprühend in Richtung Eisilia. Die ließ sich davon kaum beeindrucken. Sie stützte sich auf die Tatsache, dass sie im Grunde bislang die mächtigste Person im Dorf war, und dass alle Jo-lie sie als die einzige, unangefochtene Führerin der Gemeinschaft akzeptierten.
»Wenn ihr nicht wisst, wohin mit den vielen Verwundeten«, fuhr sie fort, »so fragt doch einmal diesen dort, Areos von Falméra, jenen, der die Gesetze seines Vaters, des König Bental in unser Dorf tragen will, jene Gesetze, die wir hier nicht haben wollen, weshalb wir hier in Mehi-o-ratea als Volk der Jo-lie leben. Er wollte die Schlacht gegen die Reiter Torbuks, nun soll er auch zusehen, wie er die Verletzten versorgt. Warum gerade sollen alle in unser Haus gebracht werden? Warum...«
»Weil euer Haus und der riesige Lustgarten dahinter am meisten Platz in Mehi-o-ratea bieten!« unterbrach Bastis laute Stimme das eigensinnigen Mädchen. Sein Ruf hallte über den Platz. Ein gespanntes, überraschtes Raunen ging durch die Reihen der versammelten Jo-lie.
»Erklärt doch einmal dem Volk der Jo-lie, warum ihr so fürstlich lebt, so herrschaftlich und großzügig, während alle hier in Bescheidenheit und Einfachheit glücklich sind«, warf er ihr vor. Eisilia präsentierte mit einer bedeutsamen Geste hinter sich ihre Hütte und entgegnete siegessicher:
»Das Volk der Jo-lie kennt unser bescheidenes Heim. Alle wissen, dass Temrin und Eisilia von Kandar das fürstliche Leben verschmähen, dessenthalben wir von Falméra fortgingen. In dieses Haus werden nicht alle Verletzten jener Schlacht einziehen, welche die Jo-lie nicht gewollt haben!« verkündete Eisilia bestimmt.
»Sieh da, auf einem Mal haben die Jo-lie diese Schlacht nicht gewollt, ja? Was haben sie dann gewollt?« Bastis Stimme hallte über den Platz, und er wandte sich nun den jungen Menschen zu, die angesichts dieser Auseinandersetzung hin und her gerissen schienen.
»Hättet ihr eure Brüder und Schwestern den Schergen Torbuks überlassen wollen?« rief er in die Menge und ließ seine Worte wirken. Hier und da wurden einzelne zustimmende Rufe laut.
»Hättet ihr die euren im Stich gelassen? Hättet ihr euer Dorf, eure Gemeinschaft verleugnet? Nein. Jo-lie hört mich an!« Sebastian spürte, dass sein Einfluss auf die jungen Menschen in den Stunden der Schlacht mächtig gewachsen war, und er machte sich diesen Vorteil zunutze.
»Ihr habt gemeinsam entschieden, eure Brüder und Schwestern zu befreien, ihr habt gemeinsam, Seite an Seite gekämpft, habt gesehen, wie eure Freunde in das Reich der Toten gegangen sind, und ihr habt gemeinsam einen Sieg errungen, und mehr erreicht, als das Heer des Königs.«
An dieser Stelle unterbrach er kurz seine Rede, drehte sich um und ließ seinen Arm ausholend und wie fürsorglich über den Tross mit den Verwundeten wandern, bevor er weiter sprach:
»Und nun wollt ihr nichts weiter, als jenen, die mit euch gekämpft haben, und nicht das Glück hatten, wohlgemut aus der Schlacht zurückzukehren, gemeinsam Linderung und Genesung zu verschaffen. Und dort, hinter dieser Mauer, die eure große Führerin so auffällig bewacht, findet ihr den besten Ort, um eure Verletzten gesund zu pflegen.«
Eisilia hatte während Sebastians Mahnrede deutlich an Gesichtsfarbe verloren. Die Blässe in ihrem Antlitz währte jedoch nicht lange. Allmählich wurde ihr Kopf so rot, dass sein Leuchten beinahe die Farbe ihrer rötlichen Haare übertrumpfte. Und ihr Brustkorb hob und senkte sich auffällig unter der Schnappatmung, die Sebastians nächste Worte auslösten:
»Jo-lie, habt ihr jemals hinter diese Mauer gesehen? Fragt Eisilia von Kandar doch einmal, was sich hinter der Mauer, hinter ihrem bescheidenen Heim befindet, in das sie euch so verbissen den Zutritt verwehrt. hat sich je einer von euch gefragt, was dahinter liegt? Ihr seid eine große Gemeinschaft, die im Vertrauen und im gleichen Ansinnen zusammen lebt. Ist es unter den Jo-lie Brauch, eigenes Land einzumauern, um es vor den Blicken der Freunde, der Gemeinschaft zu verbergen?«
Einen Moment schwieg Basti, um das junge Volk darüber nachdenken zu lassen. Dann sagte er nur den einen Satz, der den Geist aller Jo-lie aufrüttelte:
»Wenn ihr das gut heißt, so seid ihr nicht besser, als die Reichen in Falméra, dann belügt ihr euch selbst, dann braucht ihr nicht hier zu sein!«
Stimmen wurden laut, forderten Eisilia auf, den Weg freizugeben und zu offenbaren, was sich hinter der Mauer befand. Als sich das rotblonde Mädchen mit deutlicher Geste dagegen stellte, machte sich allgemeine Empörung breit, und die Zurufe beschränkten sich nicht mehr nur auf die bloße Forderung.
Drohend drängte die Menge dichter an das Anwesen heran, zog den Kreis enger und jene, die zuvorderst standen, wurden von der Masse noch weiter vor geschoben. Die Zurufe aus der Anonymität der Versammelten wurden deutlicher:
»Los. öffnet das Tor und zeigt uns, was ihr dort verbergt!« und: »Was euer ist, ist auch unser, das habt ihr stets uns kund getan!« und: »Wir haben euch erwählt, wir vermögen euch das Recht, uns zu führen, auch wieder fortzunehmen! Gebt heraus, was ihr uns genommen habt!«
Doch wirklich tätig wurde niemand. Es gab nur Proteste aus der Masse heraus. Schon mit Rücksicht auf die Verletzten, die auf den Tragen in der brennenden Sonne lagen, und von der angespannten Lage nicht gerade gesünder wurden, dachte Sebastian nach, wie man die Sache friedlich zu beschleunigen war, ohne, dass es zu Gewalttätigkeiten kam.
Er machte einen Schritt auf Eisilia zu, um ihr einen Vorschlag zu unterbreiten, doch das gereizte, und mit der Situation inzwischen überforderte Mädchen reagierte impulsiv und entsprechend ihrer Jugend etwas zu temperamentvoll. Damit nahm sie ihm die Entscheidung ab, und die Entwicklung der Situation nahm ihren eigenen Lauf.
Eisilia hatte offensichtlich Angst davor, den Jo-lie ihre unverhältnismäßig überschwängliche Lebensweise einzugestehen, und es war gewiss mehr Scham, als Aggression, die sie dazu veranlasste, mit zwei, drei Sätzen vorzuspringen. Vermutlich wollte sie nur weniger laut sprechen müssen, damit nicht alle versammelten Jo-lie die peinliche Auseinandersetzung mitbekamen.
Noch bevor Basti reagieren konnte, flog ein Schatten an ihm vorbei. Wie vom Himmel gefallen stand Antarona plötzlich zwischen ihm und Eisilia, Nantakis abwehrbereit in den Händen. Stumm, der jeweils anderen vernichtende Blicke zuwerfend, standen sich die beiden Mädchen gegenüber. Ein überraschtes Raunen ging wie eine Welle durch die Reihen der zuschauenden Jo-lie, während die beiden wild aussehenden Mädchen sich wie zu allem entschlossene Wölfinnen belauerten.
»Eisilia von Kandar, gebt den Weg frei und lasst sehen, was hinter dieser Mauer ist«, forderte das Krähenmädchen die Konkurrentin auf, »alle Jo-lie haben das Recht, zu sehen, was dort ist!« Doch Eisilia dachte nicht daran. Sie veränderte ihre Position, stemmte sich breitbeinig in den Boden, um Antaronas Angriff notfalls abfangen zu können. Sie fühlte sich in die Enge getrieben, sah ihre Macht schwinden, und wahrscheinlich wurde ihr innerhalb von Sekunden bewusst, dass sie nichts mehr zu verlieren hatte.
»Sonnenherz, die sie Krähenmädchen nennen, ihr mögt in eurem Tal hinter dem großen Wasser mächtig sein. Doch hier habt ihr nichts zu befehlen. Niemand betritt mein Heim, wenn ich ihn nicht dazu auffordere, ohne mein Schwert zu spüren!« Augenblicklich war klar, dass Eisilia nicht weichen würde. Nicht vor jener, die aus dem Nichts kam, und von Temrin heimlich angehimmelt wurde.
Sebastian überlegte, wie er die angespannte Situation beenden konnte. Er befürchtete, dass die beiden aufgeheizten Gemüter der Mädchen alles um sich herum vergaßen, und sie schließlich aufeinander losgehen könnten. Und er wusste, wenn dies geschah, würde zwar Antarona durch Nantakis im Vorteil sein, doch wie es letztendlich ausgehen würde, war ungewiss. Es war jedoch wahrscheinlich, dass zumindest eine der beiden Kontrahentinnen mit schweren Verletzungen im Staub des Platzes liegen bleiben würde. Er suchte verzweifelt nach einem Ausweg, bevor die Feindlichkeiten eskalieren würden.
Doch dann ging alles so schnell, dass niemand mehr einzugreifen vermochte. Eisilia hob nur wenig ihre Waffe, in welcher Absicht, sollte für immer unklar bleiben. Antarona reagierte blitzschnell, Nantakis Klinge fuhr zur Abwehr hoch, was von der rotblonden Gegnerin als Angriff interpretiert wurde. In der Schnelligkeit stand Eisilia dem Krähenmädchen kaum nach.
Knallend schlugen die Klingen aneinander, ein par Funken flogen, dann trat ein kurzer Moment der Ruhe ein, in der die beiden Mädchen ihre Kräfte maßen und die Parierstangen aneinander, Metall gegen Metall drückten. Eisilia war etwas kräftiger als das Krähenmädchen, auch etwas größer. Doch das machte der Vorteil Nantakis, der wundersamen Waffe wieder wett.
Bastis befehlender Ruf, das Theater zu beenden, ging im plötzlich losbrechenden Gejohle und Anfeuern der Masse unter. Den Jo-lie, die nach der Anspannung der Schlacht immer noch überreizt waren, kam ein solches Duell auf Leben und Tod gerade recht, um seelischen Dampf abzulassen. Und Sebastian wunderte sich einmal mehr, wie eine große Menge von Menschen auf eine Weise entgleisen konnte, was ihnen als einzelne Personen niemals einfallen würde.
Ehe Basti sich versah, wurde er von der sensationslüsternen Menge zur Seite gedrängt, die ihren Kreis enger und dichter um die beiden Kriegerinnen zogen. Verzweifelt versuchte er sich eine Schneise durch die eng zusammen gedrängten Schaulustigen zu bahnen.
Eisilia beendete inzwischen das Patt, indem sie, ihre Größe ausnutzend, ein Bein hinter Antaronas Beine stellte und in einem unverhofften Kraftakt vorwärts drängte. Das Krähenmädchen verlor den Halt, stolperte nach hinten, wurde aber sofort von der Wand der Zuschauer wieder in den imaginären Ring gestoßen.
Diese abrupte Vor und Zurück brachte sie aus dem sicheren Konzept ihrer Kampftechnik und sie fiel unkontrolliert ihrer Gegnerin entgegen. Die rechnete nicht damit, und verpasste, ihr Schwert in Stellung zu bringen. So traf die Klinge Eisilias nur mit der Seitenfläche, aber mit voller Wucht Antaronas Schulter.
Lähmender Schmerz fuhr Antarona durch den Arm. Doch der Schwung, den sie vom Stoß der Zuschauer erhalten hatte, sorgte dafür, dass Nantakis Klinge heftig gegen Eisilias Rippen prallte. Die erklärte Führerin der Jo-lie knickte ein, stolperte am Krähenmädchen vorbei und ihre Hände verloren den Griff ihres Schwertes, das klirrend zu Boden fiel.
Sebastian, der nach einer Gelegenheit suchte, die Streithennen zu trennen, gab seine Absicht auf, weil er den Kampf zugunsten Antaronas entschieden glaubte und wusste, dass seine Frau keine Wehrlose attackieren würde. Leichtsinnig ließ er es zu, dass die Jo-lie ihn erneut weiter nach hinten drängten und sich zu den Streitenden vorschoben.
Siegessicher trat Antarona auf Eisilia zu, die im Staub saß, und sich mit den Händen nach hinten abstützte. Nantakis auf den Boden gerichtet, blieb das Krähenmädchen vor seiner Kontrahentin stehen, und wollte sie auffordern wieder aufzustehen und den Kampf friedlich zu beenden. Doch sie rechnete nicht mit der Entschlossenheit und Verschlagenheit ihrer Gegnerin.
Eisilia dachte gar nicht daran, aufzugeben. Die, auf welche ihr Temrin heimliche Blicke warf, wollte sie ein für alle Mal aus Mehi-o-ratea fort wissen. Ihre Hände krallten sich in den Boden, sie ließ Sonneherz ruhig herankommen, tat, als konnte sie sich nicht wieder erheben.
Antarona sah nicht wirklich eine Todesfeindin in dem rotblonden Mädchen. Und geschuldet der Tatsache, dass diese ihre Waffe verloren hatte, sah sie auch keine Gefahr mehr in ihr. Sie senkte ihr Schwert und wollte ihr die Hand reichen, um ihr aufzuhelfen. Diese Schwäche nutzte Eisilia aus, ließ ihre Hände, die mit dem Sand des Platzes gefüllt waren nach vorn schnellen und schleuderte ihrer Gegnerin den Inhalt in die Augen.
Von einem auf den anderen Augenblick sah Antarona nichts mehr. Allein ein kratzender Schmerz begleitete ihre plötzliche Blindheit. Intuitiv ließ sie Nantakis fallen und hielt sich die Hände vor die Augen. Verzweifelt versuchte sie durch den körnigen Schleier etwas zu erkennen, nahm aber nur noch einen Schatten wahr, der auf sie zuflog.
Eisilia von Kandar sprang nach der Staubattacke auf die Beine, riss ihren Dolch aus dem Bund ihres Schurzes und sprang ihre blinde und hilflose Feindin an. Die erschrockenen Aufschreie und erstaunten Rufe der Zuschauer, die eindeutig für das fremde Mädchen Partei ergriffen, schürten noch den heimlichen Hass, den Eisilia gegen die Frau des Areos empfand, die in ihr Dorf kam, und ihr die Vorherrschaft streitig machte. Nun sollte jene, die ihr in den Weg getreten war, sterben.
Sebastian erkannte nur an den Ausrufen der Schaulustigen, dass der Kampf der beiden Mädchen noch nicht vorüber war. Er konnte über die Köpfe der Menge hinweg nicht viel sehen, setzte aber sofort rücksichtslos seine Ellenbogen ein, um zu seiner Frau zu gelangen, die offenbar in arge Bedrängnis geraten war.
Wenn sie ihn am dringendsten brauchte, war er nicht zur Stelle. Dieser Gedanke schoss ihm durch den Kopf, während er die vor ihm Stehenden brutal zu Seite stieß. Dennoch gelang es ihm nur mühsam, sich durch den Mob zu wühlen.
Indessen spürte Antarona überraschend die Füße ihrer Gegnerin auf ihren Bauch prallen, wurde von den Beinen gerissen, ruderte mit den Armen und knallte mit dem Rücken auf den Boden. In der nächsten Sekunde blieb ihr der Atem weg und für Sekunden schwanden ihr die Sinne. Doch das laute, anfeuernde Gebrüll der Zuschauer weckte sofort wieder ihre Instinkte. Sie wusste, dass es nun ernst wurde, dass sie nun einen Kampf auf Leben und Tod bestreiten musste.
Mit zusammengekniffenen, höllisch brennenden Augen versuchte sie sich zu konzentrieren, den nächsten Schritt ihrer Kontrahentin zu erahnen. Sie sah das vor Hass rasende Mädchen mit ihren Sinnen auf sich zustürmen, hob reflexartig die Hände und packte zu.
Eisilia verlor keine Zeit. Sie hatte ihre Gegnerin in einem akrobatischen Sprung zu Boden getreten, und sie wollte ihr keine Chance mehr lassen, sich wieder gegen sie zu erheben. Den Dolch in der Hand stürzte sie sich auf die am Boden liegende Heldin des Volkes. Auch das war ihr ein Dorn im Auge, dass dieses Krähenmädchen bereits eine Legende war, während sie, die Tochter von Kandar, ihre Macht in Mehi-o-ratea nur auf einer Lüge aufbauen konnte.
Antarona fing den Angriff ab, doch sie vermochte nicht zu verhindern, dass das um wenige Kilo schwerere Mädchen der Jo-lie sie erneut in den Dreck des Platzes drückte. Sie spürte die Waffe, mit der Eisilia sie bedrohte und sie fühlte den Hass, mit der das Mädchen sie in das Reich der Toten wünschte.
Trotz der abgewehrten Attacke wusste Antarona, dass sie dem Druck des Körpers ihrer Gegnerin nicht lange würde standhalten können. Obwohl ihr an Zähigkeit kaum eine Frau das Wasser reichen konnte, war sie im Gegensatz zu ihrer Nebenbuhlerin beinahe zierlich gebaut und besaß dementsprechend weniger Kraft und Ausdauer. Sie musste der vor Hass Geblendeten die Waffe entwinden, wollte sie weiterleben.
In einem verzweifelten Akt setzte Antarona all ihre Energie ein, winkelte ihr Bein an und rammte es dem Körper über sich entgegen. Sie spürte ein Nachlassen des Drucks und nutzte die Gelegenheit, sich mit dem anderen Bein im Sand abzustoßen, den Oberkörper herumzuwerfen, und das verfeindete Mädchen nun ihrerseits auf den Boden zu pressen.
Nun war es das Krähenmädchen, dass ihre Konkurrentin mit ihrer Körperkraft von oben bedrängte. Doch sie spürte immer noch die Bedrohung durch das Messer, das Eisilia nach wie vor mit einer Hand umklammerte. Antarona wusste, dass sie im Moment zwar im Vorteil war, dass sie diesen aber gar nicht zu nutzen vermochte.
Wollte sie irgendetwas versuchen, um sich einen weiteren Vorteil zu verschaffen, musste sie damit rechnen, von Eisilias Dolch lebensgefährlich verletzt zu werden. Andererseits konnte sie die rotblonde Furie nicht ewig am Boden halten. Wenn diese neue Kraft geschöpft hatte, konnte sie Antarona mit einer gezielten Überraschung wieder herumwerfen. Aber etwas musste sie tun!
Während es Sebastian fast geschafft hatte, die inzwischen begeisterte Menge zu durchdringen, setzte Antarona alles auf eine Karte. Sie ließ den Arm ihrer Gegnerin los, in dessen Hand sie die Waffe nicht vermutete, und griff ihr mit gespreizten Fingern ins Gesicht. Sie wandte alle Kraft auf, grub ihre Fingernägel in die Augen Eisilias und fuhr nach unten, bis sie den Widerstand ihres Oberteils spürte.
Mit einem Ruck riss das Krähenmädchen das dünne Leder entzwei und fuhr mit ihren Krallen quer über Brüste und Bauch ihrer Widersacherin. Die quittierte die hinterlassenen, blutigen Spuren mit einem wütenden Schrei. Entgegen Antaronas Erwartungen mobilisierte der Schmerz in Eisilia neue Kräfte.
Sie rang Antarona herum, nagelte sie mit ihren Schenkeln an den Boden und positionierte sich so, dass sie die Taille der verhassten Sonnenherz in den Staub drückte, und ihr die Luft zum atmen nahm. Langsam und mit Hass verzerrtem Gesicht holte Eisilias Hand mit dem Dolch aus, um erbarmungslos zuzustoßen.
Inzwischen hatte sich Sebastian durch die vor Sensationslust geifernde Menge gedrängt, und wollte sich auf die beiden Kämpferinnen stürzen, um sie zu trennen, als etwas seine Füße festhielt. Der Länge nach stürzte er hin. Bevor der Mob über ihn hinwegstieg, sah er noch, wie einer seinen Fuß zurückzog. Man hatte ihm tatsächlich ein Bein gestellt, um ein Beenden des spektakulären Duells zu verhindern.
Zur gleichen Zeit beugte sich Antarona mit letztem Atem vor, und stieß Eisilia blitzschnell ihre beiden geballten Hände ins Gesicht. Das lähmte die Angreiferin so lange, dass sich Antarona halb aus der Umklammerung der kräftigen Beine befreien konnte. Sie wand sich wie eine Schlange unter der kräftigeren Gegnerin und konnte sich so weit frei strampeln, dass sie mit dem Oberkörper hochkam.
Aber auch Eisilia hatte rasch ihre kurze Benommenheit überwunden. Nur war Antarona diesmal schneller. Aufgrund ihrer Biegsamkeit vermochte sie ihren Oberkörper mit all ihrer Kraft gegen die Rotblonde zu werfen, bekam erneut deren Handgelenke zu packen, und warf sie nun ihrerseits auf die Schultern.
Eisilia gebärdete sich jedoch so wild und kraftvoll unter ihr, dass Antarona auf ihrer Gegnerin immer weiter nach vorne rutschte. Sie drückte die Arme ihrer Intimfeindin nach hinten, um dem Dolch zu entgehen, und glitt mit ihrem Schoß auf Eisilias Hals.
Zunächst sah es so aus, als hätte Antarona eine Position erreicht, in der sie ihre Gegenspielerin soweit fixiert hatte, dass sie einen Moment Atem holen konnte. Sie hatte das Mädchen der Jo-lie am Boden fest genagelt, so, wie sie es oft mit Ba - shtie bei Rangeleien getan hatte. Sie konnte jedoch nicht riskieren, die Gegnerin wieder loszulassen, denn ihre Augen waren immer noch stockblind und brannten, als hätte jemand ein Feuer auf ihnen entzündet.
Doch die körperliche Kraft derer von Kandar schien ungebrochen. Ihr wehrloser Oberkörper hinderte sie nicht daran, den Unterleib einzusetzen. In einer erstaunlich akrobatischen Leistung schwang Eisilia ihre gespreizten Beine hoch, nahm Antaronas Schultern in die Zange und zog den Oberkörper des Krähenmädchens nach hinten.
Dann fasste sie blitzschnell nach, ihre Beine umschlossen nun Antaronas Hals, verhakten sich an ihrer Kehle, und zogen Antarona gnadenlos nach hinten. Antaronas Gelenkigkeit brachte Eisilia fast an die Grenze des Möglichen, doch sie zog den Kopf des Krähenmädchens so beharrlich über dessen Schultern herab, bis diese Eisilias Handgelenke freigeben musste.
Sofort kam die Führerin Mehi-o-rateas hoch, warf ihren Arm mit dem Dolch nach vorn und wollte mit diesem Schwung augenblicklich ihre Tötungsabsicht vollenden, indem sie dem verfeindeten Mädchen die Waffe in den ungeschützten, nach außen gebogenen, nackten Bauch stoßen wollte. Doch um den Bruchteil einer Sekunde war Antarona schneller.
Das Krähenmädchen rutschte auf ihrer Rivalin nach hinten, um erneut deren Beine nieder zu drücken, und um sich selbst in eine bessere Lage zu bringen. So erwischte sie die Klinge Eisilias nur am Oberschenkel. Antarona spürte das warme Blut über ihre Haut rinnen, konnte sich aber nicht darum kümmern. Jede Zentare Ablenkung konnte ihren Tod bedeuten.
Sofort aber griff das Krähenmädchen zu und bekam wiederum die Handgelenke der Widersacherin zu fassen. Ihre Krallen bohrten sich so fest in die Haut Eisilias, dass diese zornig aufschrie.
Eisilia versuchte Antarona abzulenken, um ihre Waffe wieder frei zu bekommen, beugte sich ruckartig vor, und wollte sich in der Schulter ihrer Konkurrentin verbeißen. Doch Antarona spürte rechtzeitig die Anspannung der Sehnen Eisilias und ahnte die Attacke voraus. Sie drehte sich für einen Moment seitlich weg und die Zähne der anderen griffen in das Band, das Antaronas Oberteil hielt.
Als sie sich von der Anstrengung kurz zurückfallen ließ, riss sie Antarona das Fell von den Schultern, das ihren Oberkörper bedeckte. Durch den Schwung flog es Eisilia ins Gesicht und plötzlich war sie ebenso blind, wie ihre Gegnerin. Eisilia schüttelte heftig den Kopf, um das Kleidungsstück Antaronas abzuwerfen. Das nutzte Antarona aus.
Sie winkelte die Beine an, stieß sich ab und beide Mädchen prallten mit den Oberkörpern zusammen. Antaronas Kraft aus den vom Elsirentanz trainierten Beinen traf die Konkurrentin mit voller Wucht, und warf sie zurück auf den Boden. Doch deren dadurch frei gewordene, kräftige Schenkel legten sich sogleich erneut wie Eisenklammern um die schmale Taille des Krähenmädchens, und augenblicklich wälzten sich die beiden Kämpferinnen wie zwei sich umeinanderwindende Schlangen im Staub des Platzes.
Die eine bemüht, der anderen den Dolch in die Rippen zu stoßen, die andere verzweifelt ihre Kraft aufwendend, um genau das zu verhindern. Die einzige Waffe, die Antarona noch einsetzen konnte, waren ihre Fingernägel. Und während Eisilia sich darauf konzentrierte, ihre tödliche Waffe in eine vorteilhafte Position zu bringen, fügten ihr die Krallen des kräftemäßig unterlegenen Mädchens lange, blutige Wunden zu.
Die Mädchen rangen wild miteinander, mal lag die eine oben, mal die andere, mal sah es so aus, als hätte Eisilia das Krähenmädchen tödlich verwundet, dann wieder gewannen die Zuschauer den Eindruck, als habe Antarona die Rotblonde im dauerhaften Würgegriff, bis der die Luft ausging.
Doch immer wieder formierten sich die beiden Kämpfenden neu, bekamen sich gegenseitig in den Griff, verloren sich wieder, fanden sich erneut und verharrten in weiterem Kräftemessen, bis wieder eine der beiden einen Versuch startete, die andere mit einer gewagten Bewegung zu unterwerfen.
Stöhnend, keuchend und völlig ineinander verbissen rollten die beiden Frauen im Staub, bis irgendein Schaulustiger entweder aus Sensationslust, oder aber, um den Kampf zu beenden, einen Bottich Wasser den beiden fast nackten Leibern entleerte.
Doch auch die unverhoffte Abkühlung bewegte die beiden Streithennen nicht dazu, voneinander abzulassen. Im Gegenteil, machte der kurze Schreck Eisilia nur um so wütender. Antarona jedoch konnte vom Zeitpunkt an, da sie der Wasserschlag voll ins Gesicht getroffen hatte, wieder sehen. Verschwommen zwar, und unter großem Schmerz, doch schemenhaft vermochte sie nun ihre Widersacherin zu erkennen.
Außerdem gewann Antarona einen weiteren Vorteil. Der lehmige Staub wurde durch den Wasserguss zum Schlamm und ermöglichte es dem physisch wendigeren Krähenmädchen, sich aus den jeweiligen, kraftvollen Griffen und Umklammerungen ihrer Gegnerin leichter zu befreien.
Eisilia spürte, dass sie Antarona immer schwerer zu fassen bekam, und oft genug schoss ihr Dolch nur Millimeter an Sonnenherz vorbei in den Boden. Der Schlamm auf der Haut der Kontrahentinnen wirkte wie eine Gleitschicht und ließ keinen sicheren Griff mehr zu. Eisilias Einfallsreichtum und Skrupellosigkeit allerdings war eine eigene Waffe.
Als Sebastian wieder auf die Beine kam, sah er gerade noch, wie Eisilia Antaronas lange Haare zu greifen bekam, sie blitzschnell mit einigen Drehungen ihrer Hand aufwickelte und das Krähenmädchen daran brutal nach hinten riss.
Antarona konnte sich nicht mehr zur Wehr setzen, sich nicht umdrehen, sich nicht mehr bewegen, ohne dass ihre Kopfhaut so fürchterlich schmerzte, als würde ihr der Schädel platzen. Sie ruderte hilflos mit den Armen und Beinen, während Eisilia sie mit einer Hand an den Haaren niederhielt, um mit der anderen und ihrem Dolch endgültig und zielsicher zuzustoßen.
Basti erfasste mit einem Blick die Gefahr, in der sich seine Geliebte befand, und stürmte ungeachtet der vielen Umstehenden blind vorwärts, um sich zwischen die beiden Mädchen zu werfen. Bevor er sie jedoch erreichen konnte, trat ihm ein mächtiger Schatten in den Weg, an dem er einfach abprallte, und zurückgeworfen wurde.
Wie ein Bulldozer durch einen Regenwald stampfte Tomrack von Kandar in den Ring. Mit Schrecken erkannte Sebastian den rothaarigen Riesen, der gewiss nichts anderes im Sinn hatte, seine Tochter zu schützen, und ihre Gegnerin auszulöschen. Doch wieder einmal irrte Sebastian.
Tomracks wuchtiger Körper beugte sich unaufhaltsam über die ausgeuferte Eskalation zwischen den beiden Frauen, packte seine Tochter mit den riesigen Pranken, wie eine Löwin ihr Junges am Genick, ungeachtet der Gefahr, dass er den Dolch zu spüren bekommen könnte, und zog sie wie ein mächtiger Kran von ihrer Widersacherin herunter. Im allerletzten Augenblick, wie Sebastian später befand.
Eisilia begann wild zu fluchen, mit Armen und Beinen zu strampeln und verlor in den Augen der Schaulustigen abrupt an Gefährlichkeit, Spektakularität und Achtung. Tomrack handelte konsequent. Als wäre es nur eine Nebensache, schlug er seiner Tochter den Dolch aus der Hand, was nur einer fahrigen Geste glich.
Von Buh- und Schmährufen der Zuschauer begleitet, trug er das plötzlich hilflos wirkende Töchterchen zu einem Wassertrog hinüber, steckte ihren ganzen Leib tief in das kalte Nass und tauchte sie so lange unter, bis sie verzweifelt mit den Armen und Beinen strampelte und das Wasser nach rechts und links verspritzte.
Kurz bevor sie zu ersticken drohte, hob Tomrack sein Kind wieder aus dem Wasser und hielt sie wie einen nassen Lappen am ausgestreckten Arm. Wie sie so da hing, am dünnen Bund ihres Schurzes, an nassen Haaren tropfend, hatte sie alle Gefährlichkeit und Gemeinheit verloren.
»Bist du nun genug abgekühlt, mein Kind«, donnerte Tomracks Stimme über den Platz, bewusst so laut, dass ihn jeder hören konnte.
»Oder muss dich dein alter Vater noch einmal ins Wasser stecken?« Der große Hüne ließ eine Antwort erst gar nicht zu. Er stellte Eisilia hart auf den Boden, wo sie zuerst schwankend stehen blieb, dann aber einknickte und als ein zur Schau gestelltes, mitleidiges Häuflein Elend in einer Pfütze sitzen blieb. Verwirrt strich sie sich die nassen Haare aus dem Gesicht und starrte wie geschlagen zu Boden.
Mittlerweile war Basti zu Antarona hinüber geeilt, hatte sein Krähenmädchen aufgehoben und wollte sie aus dem Kreis der Schaulustigen tragen, die noch immer darüber murrten, dass ihnen ein spektakulärer Kampf auf Leben und Tod entgangen war.
Antarona aber befreite sich von seiner Fürsorge, wankte in die Arena zurück, und hob Nantakis auf. Ihr Schwert lag noch halb in Staub und Schlamm begraben. Sie verschwendete nicht einen Blick an ihre Gegnerin, welche sie beinahe in das Reich der Toten befördert hatte.
Stumm nahm sie ihre Waffe auf, und ging stolz erhobenen Hauptes und mit sicherer werdenden Schritten aus der gedachten Arena auf das Tor in der Mauer zu, die Eisilia mit ihrem Leben verteidigen wollte. Respektvoll machten ihr diejenigen Platz, die ihren, oder Eisilias Tod eben noch als Unterhaltung gebilligt und offenbar mit Beifall bedacht hätten.
Ohne zu zögern stieß das Krähenmädchen das Tor mit nacktem Fuß auf, tastete sich mit Nantakis vor, und betrat das geheimnisvolle Grundstück.
Als Sebastian unterdessen auf Tomrack zuging, herrschte plötzlich wieder gespannte Stille, als erwarteten die Versammelten eine neue Auseinandersetzung.
»Tomrack von Kandar, ihr habt euch einmal mehr als meines Vertrauens würdig erwiesen, indem ihr ein weiteres Blutvergießen verhindert habt«, hörte man Sebastians Stimme über den Zelten und Hütten Mehi-o-rateas.
»Ich danke euch für die Unversehrtheit dieser beiden Leben, die gewiss noch schätzen lernen, was ihr für sie getan habt«, sprach er weiter. Tomrack machte eine wegwerfende Handbewegung, die sein Eingreifen als etwas Selbstverständliches bewertete.
»Vergebt mir, Areos von Falméra, Herr«, erklärte der große Mann, der jeden Feind einzuschüchtern vermochte, »doch ich dachte, dass bereits genug Blut geflossen war, und fand es über die Maßen unnötig, für einen Streit unter Weibern eure Frau oder meine Tochter zu verlieren. Wir sollten uns nicht gegenseitig bekämpfen, wenn dort draußen, hinter dem großen Wasser ein Feind lauert, der unser aller Leben bedroht!«
Tomrack räusperte sich lautstark, als wollte er sich für seine offenen Worte entschuldigen. Doch besser hätte es Sebastian nicht auszudrücken vermocht. Er drehte sich zu jenen um, die von Krankenträgern zu Sensationslüsternen geworden waren und verkündete:
»Seht diesen hier, Tomrack von Kandar, der das, wonach wir alle uns sehnen, nämlich Frieden und Freiheit, selbst über die Ehre seines eigen Fleisch und Blut stellt. Dieser Mann hat es verstanden!«
Als Lob und gleichsam als Mahnung ließ Basti seine Worte klingen. Er schritt die Front der wartenden ab, sah allen scharf in die Augen und sprach anklagend:
»Und nun zu euch. Um neues Blut zu sehen, habt ihr das alte bereits begraben. Eure Brüder und Schwestern, die eurer Hilfe bedürfen, liegen neben euch, und ihr habt nichts Besseres zu tun, als einen sinnlosen, weiteren Kampf gut zu heißen.« Sebastian ließ seine Worte wirken und sah mit Genugtuung, dass viele Gesichter sich betreten zu Boden neigten. Zufrieden fuhr er fort:
»Nun folgt Sonnenherz und tragt eure Verwundeten durch dieses Tor dort, und ihr werdet sehen, wie jene gelebt haben, die sich eure Anführer nennen. Doch ich bitte euch, seht es ihnen nach, denn nun gibt uns das die Möglichkeit, die Opfer unseres Sieges angemessen zu pflegen, damit sie rasch wieder mit uns an den Feuern sitzen, und wir gemeinsam feiern können.«
Basti machte eine einladende Geste zur Mauer hin, vor die sich noch vor ein par Minuten Eisilia schützend gestellt hatte. Die Versammelten verharrten immer noch schweigend, wie ihre Schuld anerkennend. Sie zögerten, das zu betreten, das ihre Anführerin ihnen verwehrt hatte. Da versprach Sebastian:
»Wenn der Letzte der Verwundeten aufrecht aus diesem Tor wieder herausgetreten ist, so werden wir alle gemeinsam unseren Sieg über Torbuks Truppen mit einem besonderen Elsirenfest feiern, das so lange andauern mag, bis die letzten Tänzerinnen und Tänzer vor Erschöpfung umgefallen sind!«
Dies war Ansporn genug, die Jo-lie aus ihrer Lethargie der Schuld herauszureißen. Sebastian und Tomrack sahen sich kurz an und nickten einander zu. Dann hoben sie die erste Trage an und schritten mit der stöhnenden Last darauf dem Tor in der hohen Mauer zu.
Eisilia saß noch immer dort, wo sie zusammengesunken war, blickte apathisch zu und ließ geschehen, was sie ursprünglich sogar in einem Kampf auf Leben und Tod hatte verhindern wollen. Dass sich sogar ihr eigener Vater gegen sie gestellt hatte, raubte ihr die letzte Motivation, noch irgendetwas zu versuchen.
Antarona war durch die Pforte getreten und blieb wie angewurzelt stehen. Sie vermochte nicht zu sagen, was sie erwartet hatte, doch was sie nun sah, ganz gewiss nicht. Am Beispiel Falméras kannte sie bereits die künstlichen Nutzlos- Gärten, wie sie diese zu nennen pflegte. Doch an diesem Ort so etwas vorzufinden, das sie, wie die meisten Îval, mit Reichtum und Feudalismus assoziierte, empfand sie als befremdlich, ja sogar abstoßend.
An ihr vorbei drängten nun die Jo-lie mit den Tragen und den Verletzten in den Garten. Der Zug geriet am Tor zunächst ins Stocken, denn auch die Bewohner Mehi-o-rateas waren überrascht, hinter jener Mauer, der sie nie große Beachtung geschenkt hatten, das Sinnbild des Reichtums der Oranuti in Falméra vorzufinden.
Nachdem sie ihre Verwunderung bewältigt hatten, begannen Antarona und Vesgarina damit, die Verwundeten nach Art und Schwere ihrer Verletzungen im Park Eisilias unterzubringen. Jene, die ständiger Pflege bedurften, wurden in die Pavillons und auf die rückseitige Veranda des Hauses gebettet. Die, welche nur kurz behandelt werden mussten, fanden auf dem wie ein Teppich wirkenden Rasen platz.
Rasch war so etwas wie ein Lazarett eingerichtet. Mädchen und Jungen eilten mit Wasserschalen hin und her, Einige kamen mit Fenstervorhängen aus dem Haus geeilt, die sie für Wundverbände in Streifen rissen und in einen aufgestellten Kochkessel stopften. Auch der Ofen, in dem üblicherweise gebacken wurde, kam zum Einsatz und wurde zum Wasserkochen angeheizt.
In all dem geschäftigen Treiben, das der Genesung der Kranken diente, sah man auch Temrin. Ebenso wie Tomrack setzte er sich ein, half, wo eine stützende Hand vonnöten war und störte sich nicht daran, dass beinahe das ganze Mobiliar aus dem Haus geschafft wurde. Er selbst war es schließlich, der dafür sorgte, dass die am schwersten Verletzten ins Haus gebracht wurden, um sie auch während der Nacht besser versorgen zu können.
Inmitten des Engagements für die Opfer der Freiheit stand Vesgarina plötzlich mit Verbandszeug neben Antarona, die sich gerade um einen jungen Mann bemühte, dessen Bein von einer Streitaxt zerschmettert worden war, und nicht heilen wollte. Die Wenderin deutete auf Antaronas Wunde am Bein, wo Eisilias Dolch eine deutliche Spur hinterlassen hatte. Antarona schüttelte wie beiläufig den Kopf. Der Schnitt würde schon wieder heilen.
Vesgarina jedoch ließ sich nicht beirren und abweisen. Sie drückte ihre Freundin sanft zu Boden, legte ihr ein Kräuterbeutelchen auf die Wunde und umwickelte alles mit dem Verbandsstoff, den die Jo-lie in emsiger Unendlichkeit auskochten und zum Trocknen aufhängten.
Das stumme Mädchen begutachtete sein Werk, befand es für gut, und nickte zufrieden. Antarona warf ihr dankbare Blicke zu. Obwohl sie den Verband als Behinderung und für überflüssig empfand, wusste sie doch, dass er wichtig war. Gemeinsam gingen sie anschließend wieder daran, die anderen Verwundeten zu versorgen.
Sebastian staunte nicht schlecht. Es dauerte gerade mal drei Stunden und jeder Verletzte hatte seinen Platz, die Versorgung war organisiert, und für die schweren Fälle waren bereits Jo-lie eingeteilt, diese während der Nacht zu betreuen. Diese jungen Menschen, die sonst nur in den Tag hinein lebten und feierten, gingen in ihrer neuen Aufgabe auf, wie eine Rose bei Sonnenschein.
Er selbst kümmerte sich inzwischen um ein Nachtlager für Antarona und sich. Neben dem Areal Temrins und Eisilias lag eine wild wachsende Wiese auf einer breiten Landzunge, die in die Biegung des Flusses hineinreichte. Drei mächtige Bäume schienen das ins Wasser ragende Land von der übrigen Welt abzugrenzen. Etwas ausgesetzt, wurde die kleine Halbinsel von den Jo-lie gemieden, obwohl irgendwann einmal jemand eine kleine Hütte darauf gebaut hatte.
Das Häuschen war deutlich baufällig. Die Tür war aus ihrer Verankerung gefallen, ebenso die Läden, die vor den glaslosen Fenstern gehangen hatten. Das Schilfdach, auf einem Untergrund aus Baumrinde geflochten, war undicht und wies faustgroße Lücken auf. Auch die Lehmziegelwände schienen bessere Tage gesehen zu haben.
Für Basti war es aber der ideale Unterschlupf. In Rufweite des Dorfes, jedoch so weit entfernt, dass sie aufdringliche Nachbarn nicht zu fürchten brauchten. Außerdem besaß das Ufer an der Fluss abwärts gelegenen Seite einen kleinen, durch Wirbel entstandenen Sandstrand.
Vom zentralen Treiben des Dorfes entfernten, idyllischen Flecken war er so fasziniert, dass er sogleich damit begann, altes, verrottetes Holz zu entfernen und auf einen Haufen zu werfen. Sebastian arbeitete nur im Lederschurz des Waffenrocks, war aber in kürzester Zeit von einem feinen Schweißfilm überzogen, der sich an Stellen, wo ihn der leichte Wind berührte anfühlte, als hätte man ihm dort die Haut abgezogen.
Sein geschäftiges Treiben blieb natürlich nicht unbeobachtet. Bald stellten sich ein par Beeren suchende Mädchen der Jo-lie ein. Zuerst beobachteten sie ihn nur neugierig, dann tuschelten sie miteinander, als hätten sie einen Skandal entdeckt. Schließlich kicherten sie und alberten herum, um ihn herauszufordern. Doch Basti tat, als bemerkte er die beiden gar nicht.
Freilich war es die Absicht der beiden, beachtet zu werden. Deshalb kamen sie wie rein zufällig immer näher, bis sie vier Meter vor dem schwer arbeitenden Areos stehen blieben und gafften. Darauf hatte Sebastian nur gewartet. Urplötzlich drehte er sich zu ihnen um. Sie waren so überrascht, dass sie gar nicht mehr daran dachten fort zu laufen. Statt dessen blickten sie erst beschämt, dann übertrieben keck zu ihm herüber.
»Was ist? Wollt ihr mir helfen, oder nur so dastehen und Löcher in die Luft starren?« sprach Sebastian sie an. Mit so einer Frage hatten sie nicht gerechnet. Völlig überrumpelt stotterten sie herum, bis eines der Mädchen mit hochrotem Kopf antwortete:
»Wir wollten nur einmal schauen, ob ihr uns sehen lasst, was in der Jaen-tè ist. Wir können sie für euch schön machen, so dass ihr euch darin wohl fühlen könnt. Vielleicht.., können wir euch ein schönes Heim bereiten..?«
Sebastian wusste genau, was die beiden wollten. Er wusste aber auch, dass sie nur erste, vorsichtige Abenteuer suchten. Mehi-o-ratea. Darum waren sie hier.
»Mein Heim bereitet jene, die ihr Sonnenherz nennt«, stellte er bestimmt richtig, »denn sie ist es, die mit mir durch die Macht der Elsiren verbunden ist.« Er lächelte die beiden offen an und lud sie ein:
»Wenn euch das nicht stört, und ihr mir dennoch helfen mögt, so seht euch in aller Ruhe um. Fleißige Hände sind mir stets willkommen.« Basti holte weit aus und wies auf die baufällige Hütte.
»Allerdings sind eure Hände eher dazu geeignet, die Jaen-tè innen zu verbessern. Aber das hier draußen muss erst einmal hergerichtet werden, damit nicht alles zusammenfällt. Dazu braucht es die kräftigen Arme eines Mannes. Hier, seht ihr, die ganzen Halbstämme sind schwammig und müssen ausgebessert, oder ersetzt werden. Dann ist das Dach abzudichten, die Wände auszubessern, und die Fenster und Tür wieder...«
Kopfschüttelnd blickte Sebastian den beiden Mädchen nach, die mit aufreizendem Hüftschwung davonliefen, bevor er seine Erklärung beendet hatte. Sie hatten ihm einfach nicht mehr zugehört. Basti nahm sein Schwert wieder auf und spitzte einen Pfeiler an, der den Türbalken auf den wackeligen, lückenhaften Wänden stützen sollte. Zu sich selbst sagte er leise:
»Was hast du erwartet, großer, kleiner Krieger? Die wollten ihren Spaß, die ersten Erfahrungen mit ihren Gefühlen, und keine Schwielen an den Händen, für einen Krieger, der bereits verbunden ist.«
Ein wenig enttäuscht rammte er das angespitzte Ende des Pfahls in den Boden und wuchtete das Holz unter den Balken. Mit seiner ganzen Kraft warf er sich dagegen, um den Querbalken Stück für Stück mit der Stütze anzuheben. Millimeterweise hob sich das schwere Holz, bis es seine ursprüngliche Lage wieder erreicht hatte.
Sebastian überlegte gerade, wie er die erreichte Position des Holzes fixieren konnte, damit es nicht wieder zurück rutschte, als unter den großen Bäumen, welche die Landzunge optisch vom Dorf trennten, eine Gruppe Jo-lie auftauchte. Von zu vielen Überraschungen in diesem Land geprägt, nahm Sebastian sein Schwert zur Hand und stellte sich ihnen entgegen.
In der Schar von etwa zwanzig jungen Männern erkannte er auch die beiden Mädchen, die ihn gerade erst demonstrativ verlassen hatten. Vermochten die beiden ihre Enttäuschung nicht verwinden, und kamen nun mit einem Trupp Verbündeter zurück, um ihm einen deutlichen Denkzettel zu verpassen?
Auf alles vorbereitet, spannte Sebastian jede Faser seines Körpers, um sich zu verteidigen. Sollten sie nur kommen, er würde es den Gegnern nicht leicht machen. Doch dann fiel ihm auf, dass die Jo-lie weder mit Schwertern, noch mit Speeren, oder Knüppeln bewaffnet waren. Einige trugen lediglich Werkzeuge und Baumaterial mit sich. Langsam ließ Basti das Schwert sinken, und erwartete die Ankommenden.
Ein hoch gewachsener, junger Mann mit dem makellosen, naiv wirkenden Gesicht eines Kindes trat vor Sebastian hin.
»Unsere Schwestern berichteten, dass ihr Hilfe beim Bau eurer Jaen-tè braucht«, erklärte er offen und freundlich, »wir wollen uns geehrt fühlen, wenn wir dem Areos von Falméra helfen können, der unsere Brüder und Schwestern aus den Händen der Wilden Horden befreite. Und wir helfen gern Sonnenherz, die sich wie eine Mutter um all jene kümmert, welche bei der Befreiung verwundet wurden.« Die beiden Mädchen traten mit einem verschmitzten, herausfordernden Lächeln vor und verkündeten stolz:
»Ihr seht, Areos Herr, wir Jo-lie starren nicht nur Löcher in die Luft, wir können auch helfen, können ebenso alles tun, was die Erwachsenen können.« Die beiden waren wahrhaftig nicht auf den Kopf gefallen. Sie traten neben die jungen Männer und stupsten sie ungeduldig vorwärts.
»Los, macht schon, ihr seht doch, wo es Not tut. Fangt schon an!« Zögerlich erst, etwas verunsichert, schließlich mit der Entschlossenheit der Jugend, strebten sie an Basti vorbei und fielen über die Arbeit her, wie ein Schwarm Heuschrecken über einen grünen Busch.
»Sollen wir uns mal um den Türbalken kümmern?« fragte der groß Gewachsene beinahe schüchtern, und nickte mit dem Kopf zu Bastis angebrachter Stütze hin.
»Wir haben zwei unter uns, die in Falméra bei ihren Vätern gelernt haben, kleine Wasserwagen zu bauen, sie vermögen vortrefflich mit der Axt umzugehen, ihr werdet sehen, Herr.«
Damit winkte er zwei Jungen heran. Er musste ihnen nicht einmal erklären, was sie tun sollten. Die beiden erfassten sofort das Problem, und machten sich an die Arbeit, das Holz zu richten und zu befestigen. Überhaupt begannen alle eine Betriebsamkeit, die einem Ameisenvolk glich. Jeder suchte sich selbst eine Arbeit, von der er etwas verstand. Und in kürzester Zeit arbeiteten alle Hand in Hand.
Sebastian wurde sehr schnell klar, wie Mehi-o-ratea in seiner Größe entstehen konnte. Die Gemeinschaft, die nichts ausließ, um zu leben und sich in Annehmlichkeiten treiben zu lassen, verstand es aber ebenso, sich gegenseitig zu helfen, kollektiv anzupacken, und in kürzester Zeit etwas zu erreichen. Basti erlebte in diesem Augenblick, wie effizient die jungen Menschen sich für die Gemeinschaft einzubringen wussten.
Es wurde gehämmert, gesägt, geschnitzt, es wurde gehoben, geschoben und gezogen, dass es eine Freude war, zuzusehen. Doch Sebastian wollte die Entstehung seines und Antaronas Heim nicht tatenlos nur anderen überlassen. Wo er konnte, packte er mit an, und sein handwerkliches Geschick aus einer anderen Zivilisation fand rasch Anerkennung.
Die ganze Sache wuchs sich zu einem wahren Lehrprojekt aus. Basti lernte mit Stroh und Lehm große Baumstammhälften zu Wänden zusammenzufügen, eine Dachkonstruktion mit Stangen und Weidengeflecht zu bauen, und einen Kamin aus Lehm und Natursteinen zu mauern.
Dafür konnte er den Jo-lie das Gefühl für Statik vermitteln, zeigte ihnen, wie Holzbalken mechanisch besser zu verbinden waren, und wie flache Steinschuppen ein haltbareres Dach schufen, als es Schilf vermochte. Auch der Einsatz von einem Flaschenzug mit Umlenkrolle war den Jo-lie nicht bekannt und die jungen Leute staunten nicht schlecht, als die Balken nur noch mit halber Muskelkraft bewegt werden konnten.
Die beiden Mädchen holten noch zwei Freundinnen hinzu, und mit acht talentierten Händen verzauberten sie den muffigen Innenraum der Hütte in ein helles, gemütliches und annehmliches Zuhause. Sie putzten, flickten, schleppten Geschenke anderer Jo-lie von wo auch immer herbei, und richteten die Jaen-tè mit viel Geschick und weiblicher Intuition ein.
Ihre fleißigen Hände bauten ein gemütliches Bett und bestückten es mit Fellen, gewebten Decken und Tüchern. Vor die Fenster hängten sie Leinenvorhänge, während draußen ihre Brüder die Läden neu zimmerten und montierten.
Für Sebastian entstand ein wunderschönes Häuschen, für das er kaum ein angemessenes Dankesgeschenk zu bieten hatte. Für die Jo-lie aber schien diese spontane Hilfe den Charakter eines Volksfestes zu haben. Sie plauderten und lachten bei der Arbeit, sie flirteten, tauschten sich aus, und zwei Pärchen fanden beim gemeinsamen Engagement ihre Gefühle füreinander.
Die kleine Gemeinschaft von Hilfsbereiten brachte es bis zum Abend fertig, eine fast fertige Hütte mit kleinem Brunnen zu schaffen. Als die Sonne sank verabschiedete sich die fröhliche Gruppe, der Sebastian eine redliche Freude an ihrem Werk ansah. Schnatternd und ausgelassen lachend verließen sie die Halbinsel, jedoch nicht, ohne vorher anzukündigen, am Morgen wiederkommen und weitermachen zu wollen.
Sebastian setzte ihnen nach und bedankte sich bei jedem der jungen Leute, was bei ihnen einen überraschten Gesichtsausdruck hervor rief. Die Jo-lie waren es gewohnt füreinander da zu sein, einander zu helfen. Sie kannten es nicht anders. Und solche Hilfe bedurfte in ihrem Verständnis keines Dankes.
Nachdenklich, aber auch sehr glücklich blickte Basti ihnen nach. Fühlte er sich anfänglich auch fremd unter all den vielen, unbekannten jungen Menschen, so wusste er nun, dass er schon einige von ihnen als Freunde gewonnen hatte. Nun schämte er sich dafür, dass er sie anfänglich mit seinem Schwert in der Hand empfangen hatte. Doch sie schienen es ihm nicht nachzutragen.
Eine Weile bewunderte er das Tagwerk seiner neuen Freunde, wie es im warmen Abendlicht da lag. Hinter der Hütte spielte die untergehende Sonne mit den kleinen Wellen des Flusses, ließ ihren Schein wie einen riesigen Schwarm goldener Vögel mit langsam sich auf und ab bewegenden Schwingen über das Wasser gleiten, erzeugte einen weichen Schimmer, den Sebastian allenfalls einmal in einem Fotokalender in seiner Welt gesehen hatte.
Dieser Anblick aber war echt. Er gehörte nun zu seinem Haus, zu seinem Glück, das er mit Antarona erfuhr. In diesem Augenblick fiel ihm ein, dass es das Höchste wäre, diesen Anblick zusammen mit seiner Frau zu genießen. Eilig machte er sich zum Anwesen von Temrin und Eisilia auf, um sie in ihr neues Zuhause zu holen.
Das Krähenmädchen hockte zusammen mit Vesgarina bei einem Verwundeten, dessen Wunden keine Anzeichen von Heilung zeigten. Frethnal stand mit hochrotem Kopf und einigen anderen Jo-lie an den Kesseln und kochte Verbände aus. Mit unermüdlicher Muskelkraft rührte er die Stoffstreifen in der brodelnden Lauge, deren Dampf ihm unablässig ins Gesicht stieg.
Andere Mädchen und Jungen betteten wund gelegene Kranke um und bereiteten neue, frische Lager. Wieder andere standen am großen, außen liegenden Ofen, kochten Suppe und backten Brot, um die vielen Verletzten mit Nahrung zu versorgen.
»Sonnenherz freut sich, dass Ba - shtie kommt um zu helfen«, kommentierte sie sein Erscheinen, ohne ihn lange anzusehen. Sie war ganz eingebunden in die Aufgabe, ihrem Patienten einen frischen Verband anzulegen. Doch ihre offensichtliche Übernächtigung und Abgeschlagenheit vermochte sie nicht vor ihm zu verbergen.
Sebastian wusste, dass er sie mit Vernunftgründen und guten Worten nicht dazu bewegen würde, eine längere Pause einzulegen. Er packte zu, schnappte sich das Mädchen und hob sie in seine Arme.
»Jetzt ist mal für eine Weile Schluss«, sagte er laut hörbar für alle, »jetzt wirst du auch mal an dich denken, und dich etwas ausruhen!«.
Wie erwartet, dachte Antarona gar nicht daran, den Verwundeten zu verlassen. Sie wehrte sich gegen seinen Griff und fauchte ihn böse an:
»Ba - shtie - laug - nids, diese Jo-lie des Volkes der Îval brauchen Hilfe, und Sonnenherz wird nicht eher ruhen, bis sie allesamt versorgt sind und...«
»...und bis du selbst unter ihnen liegst, weil du vor Übermüdung einfach umkippst, nicht wahr?« ergänzte er ihren Satz so laut, dass alle in ihrer Nähe neugierig aufhorchten. Der Aufmerksam der anderen gewiss, setzte er nach:
»Was glaubst du, nützt du den Jo-lie, wenn du dich so lange auf den Beinen hältst, bis du selbst krank danieder liegst? Ich sehe deine Augen und ich sehe die Ermattung darin. Und ich werde nicht zulassen, dass meine Frau ihr Kind, dass sie unter ihrem Herzen trägt, in Gefahr bringt, weil sie unvernünftig handelt!«
Das Krähenmädchen wollte unter massiver Gegenwehr protestieren, doch Lauknitz erhielt unerwartete Hilfe. Tomrack stand plötzlich hinter ihnen. Sanft legte er seine riesige Pranke auf Antaronas Arm und versicherte:
»Wir haben alles, was wir brauchen, um den Kranken zu helfen. Und es sind genug Jo-lie da, um Verbände zu wechseln und Wunden zu reinigen. Ihr habt euch Zentare um Zentare um das Wohl aller hier gekümmert. Nun sorgt erst einmal für euer eigenes Wohl!«
Beipflichtende Stimmen wurden laut und angesichts dieser Bestärkung fiel eine heimlich angestaute Last von Antarona ab, die sie sich selbst aufgebürdet hatte. Versöhnlich legte sie ihre Arme um Bastis Hals und ließ sich widerstandslos aus dem Kreis der selbst ernannten Samariter tragen.
Auf den Treppenstufen zur Veranda von Eisilias Haus setzte er seine Frau ab und tat etwas verschwörerisch:
»Du wartest hier auf mich, bin gleich zurück, hab nur rasch etwas zu erledigen.« Damit ging er noch einmal in das neue Lazarett zurück. Er brauchte nur wenige Zentaren, um Tomrack und den beiden Mädchen Femra und Permina die Aufgabe zu erklären, die er ihnen zugedacht hatte. Tomrack versprach Basti auf die Hand, dass er mit den beiden Mädchen und deren Freunden am Morgen nach Falméra aufbrechen wollte, und dass er gut auf seine neuen Schützlinge Acht geben wollte.
Beruhigt durch diese Zusage ging Basti zu Antarona zurück. Sie saß noch immer auf der hölzernen Treppe, wirkte nun im Licht der untergehenden Sonne gezeichnet, erschöpft und müde. Er hob sie auf und trug sie über den Platz vor Temrins Haus, und sie kam ihm noch leichter vor, als sonst.
»Ich werde dich in unser Haus tragen und dafür sorgen, dass du dich ausruhst«, bestimmte er, als wäre das bereits seit langem beschlossen. Antarona war zu müde um zu widersprechen. Wieder schlang sie ihre Arme um seinen Hals, ließ sich die kleine Geste der Fürsorge gefallen und sagte lediglich:
»Was redet ihr da, was für ein Haus, Ba - shtie, Sonnenherz Haus ist in Falméra, nicht in Mehi-o-ratea«, bemerkte sie ohne großes Interesse.
»Wirst schon sehen, mein Engelchen, eine Jaen-tè mit Wasserblick in Exklusivlage, wart's nur ab!« Basti amüsierte sich über ihren Blick, der Unverständnis und Zweifel an seinem Geisteszustand ausdrückte.
Mit seiner Ausdrucksweise, die einer anderen, fremden Zivilisation entstammte, vermochte sie nicht viel anzufangen. Doch sie hatte sich inzwischen an seine Worte aus dem Mund der Götter, wie sie es zuweilen nannte, gewöhnt.
Voll gespannter Vorfreude trug er sie den Pfad mit den hohen Bäumen entlang, der auf die halb verborgene Halbinsel führte. Ab und zu neigte Antarona skeptisch den Kopf, und blickte ihn mit hochgezogenen Augenbrauen fragend an. Ansonsten schien sie sich ermattet, aber sicher in seine Fürsorge zu ergeben.
Sebastian schritt würdevoll, als gelte es, seine liebevolle Last einem Traualtar entgegenzutragen, durch die Baumreihe und über die Wiese zur beinahe fertigen Hütte, wo er sie betont langsam herum trug und schließlich auf der Bank hinter der Jaen-tè absetzte. Die Angst, der Sonnenuntergang und das Farbenspiel auf dem Wasser konnten bereits vorüber sein, war unbegründet.
Gelb und rot tanzten die kleinen Wogen und Strudel in leuchtendem Schimmer auf dem Wasser. unterbrochen von den langen Schatten, die von den ufernahen Bäumen auf der gegenüber liegenden Seite bis in Flussmitte geworfen wurden.
Irgendwo ließ ein Wasservogel seinen klagenden Laut durch die Dämmerung klingen, der Duft von vielen Holzfeuern und Gebratenem lag in der Luft, und ein warmer Wind wehte leicht von Süden heran und brachte trockenere Luft aus den Wüsten Oranutus herauf. Ruhig, als ruhte er sich ebenfalls aus, zog der Fluss seine Bahn. Sebastian meinte bei diesem Anblick, dass nichts jemals die Ruhe stören konnte.
Er machte eine weit ausholende Armbewegung, als präsentierte er ein eigenes, kleines Königreich, um fasste Antaronas Taille und zog sie noch dichter zu sich heran.
»Dies ist nun unser Zuhause, wann immer wir in Mehi-o-ratea sein werden«, verkündete Basti stolz und legte Antarona ein Fell um die Schultern, als er spürte, wie sie trotz der Wärme am ganzen Körper erschauderte.
Da inzwischen alle Anforderung von ihr abgefallen war, und sie sich in die starken Arme ihres Ba - shtie hatte fallen lassen, fühlte sie plötzlich die schwere Mattigkeit, die sie bis dahin unter der Anspannung ihrer Aufgaben ignoriert hatte.
Sie widmete ihm einen dankbaren und anerkennenden, zugleich glücklichen Blick, bettete ihren Kopf zwischen Bastis Hals und Schulter und raunte ihm verträumt zu:
»Ba - shtie, ihr macht Sonnenherz sehr glücklich. Wie habt ihr das gemacht, wem gehört diese kleine Jaen-tè?« Er küsste sie liebevoll und sah ihr dann tief in die Augen.
»Uns, sie gehört uns, wenn du sie auch willst. Es ist ein Geschenk der Jo-lie. Sie haben den ganzen Tag daran gearbeitet, damit wir ein gutes Nachtlager haben. Und sie werden morgen daran weiter arbeiten, bis es ein wunderschönes Zuhause ist«, versprach er ihr.
Antarona kuschelte sich wie ein Schutz suchendes Kätzchen an ihn, blickte verträumt der sich verabschiedenden Sonne nach, die blinkend hinter den Bäumen verschwand und sagte leise:
»Ja, Sonnenherz will diesen Ort und dieses Heim mit euch, Ba - shtie. Und es ist bereits ein schönes Zuhause. Sonnenherz wird stets glücklich sein, wenn sie und Ba - shtie hier sind.«
Dann sagte sie nichts mehr. Sie schwieg auch nicht. Ihre Hände suchten nach mehr Halt an Bastis Körper, ihre Wange grub sich zärtlich und harmonischer in seine Halsbeuge ein, ihr ruhiger Atem strich warm seinen Hals entlang. Sie sprach auf diese Weise. Sie erzählte ihm, dass sie sich glücklich und geborgen an seiner Seite fühlte.
Sebastian hatte sich erhofft, mit ihr eine erste, stürmische Liebesnacht in der neuen Hütte verbringen zu können. Diese Hoffnung schwand. Und sie erstarb für diesen Abend, da er feststellte, dass sein erschöpftes Krähenmädchen friedlich in seinen Armen eingeschlafen war.
Sachte hob er sie hoch, trug sie vorsichtig in die Hütte und bettete sie behutsam auf das Lager, das die Mädchen des Dorfes bereitet hatten. Nachdem er seine Frau mit Fellen großzügig zugedeckt hatte, trat er noch einmal vor die Jaen-tè.
Allmählich kehrte friedliche Ruhe ein. Die Sonne war endgültig hinter den Wald am anderen Ufer gesunken. Die verzerrten, entfernten Geräusche aus dem Dorf, die vielen Stimmen, wurden von den Klängen der aktiven Nachtvögel, dem beruhigenden Intervall der Zikaden und dem unregelmäßigen Rauschen der Bäume im immer mal wieder auflebenden Wind, abgelöst.
Ein wenig erinnerte Basti diese Kulisse an Högi Balmers Hütte. Seine Gedanken gingen auf die Reise, nicht nur in die Vergangenheit. Er fragte sich, wie es dem Alten ergangen war, nachdem er fluchtartig sein Refugium verlassen hatte, und sie sich nur einmal kurz beim Treffen des Achterrats gesehen hatten.
Er überlegte, ob die beiden Hunde Väterchen Balmers, Reno und Rona, den Weg zum Alten zurück gefunden hatten, nachdem Antarona und er sie am Strand Quaronas zurückgelassen hatten. Auch beschäftigte ihn die Frage, wie es im Val Mentiér aussah, wie wohl gegenwärtig die Lage dort war. Zweifelsohne erwartete man ihn und Sonnenherz täglich zurück, freilich mit einer vom König gebilligten Autonomieerklärung.
Davon, dass Torbuk noch im beginnenden Winter eine Offensive starten und in die Tiefe des Tales vordringen würde, ging er nicht aus. Nach den inzwischen erlangten Erkenntnissen glaubte Basti, dass Quaronas zusammen mit den Oranutis überall gleichzeitig losschlagen würde.
Die Sorge, dass dies geschehen könnte, solange er mit Antarona in Mehi-o-ratea süße Stunden verbrachte, lag ihm auf der Seele. Andererseits hatten sie bis vor ein par Stunden nur für die Zukunft des Landes gelebt, hatten gekämpft, entbehrt, und selbst gelitten.
Sebastian schüttelte den Kopf. Sie hatten sich nichts vorzuwerfen. Auch ihre junge Liebe hatte ein Recht auf eine Chance, ein Leben. Die Grenze der Belastbarkeit war erreicht. Es wurde Zeit, für eine Weile an sich selbst zu denken, Kraft und neue Ideen zu tanken, die Seelen sich beruhigen zu lassen.
Mit dieser Rechtfertigung schlich Basti zurück in die Jaen-tè, verriegelte die Tür von innen, denn es mochten vielleicht noch immer versprengte Krieger Torbuks in der Gegend herumschleichen, und kroch zu Antarona unter den Berg von Fellen. Schützend legte er einen Arm um ihren zierlichen, warmen Körper und registrierte noch, wie seine Frau die Geste mit einem zufriedenen Seufzer quittierte. Dann ließ er sich von ihrem friedlichen Aus- und Einatmen anstecken und schlief sofort tief und fest ein.

Am nächsten Morgen wurde Sebastian unsanft geweckt. Ein Rumpeln und Rumoren auf dem Dach der kleinen Jaen-tè hatte ihn aus dem Schlaf gerissen. Staub und kleine Rindenteile rieselten von der Decke in seine Augen, die er gerade öffnete. Antarona hatte sich so tief unter den Fellen eingegraben, dass sie von der morgendlichen Störung nichts mitbekam.
Mit einem Satz war Basti vom Lager aufgesprungen, hatte das Schwert aus der Scheide gerissen und war aus der Hütte gestürmt, in der Annahme, ein wildes Tier, oder einen Robrum zu überraschen, der oder das sich Zugang zu seinem Frühstück verschaffen wollte.
Statt dessen sahen ihn eine Schar von Jo-lie mit verwunderten Blicken an. Das hatte er ganz vergessen. Die helfenden Hände vom Vortag hatten sich ja bereits angekündigt. Sebastian hatte nur nicht damit gerechnet, dass sie vor dem Aufstehen, wie er meinte, auftauchen würden. Doch am Stand der Sonne erkannte er eindeutig, dass es bereits Vormittag sein musste.
Freundlich winkte er die fleißigen jungen Leute vom Dach herunter und erklärte ihnen, dass Sonnenherz nach der Erschöpfung der letzten Tage noch etwas Ruhe brauchte. Da Antarona und er inzwischen höchsten Respekt unter den Jo-lie genossen, zeigten diese grenzenloses Verständnis, versprachen am nächsten Tag erneut zu kommen, und zogen unter fröhlichem Geschnatter ab. Ihr Werkzeug ließen sie unter dem Vordach einfach stehen.
Sebastian wanderte einmal fröstelnd um die kleine Jaen-tè, denn er trug nicht mehr als seinen Lederschurz und das Unterteil seines Waffenrocks. Das trübe schwül- warme Wetter war über Nacht einer klaren, frischen Luft gewichen. Die Sonne strahlte vom wolkenleeren Himmel, und es schien, als hätten die Götter Hausputz gehalten.
Doch er befand, dass es die Götter mit der Reinigung von Luft und Himmel etwas übertrieben hatten. Und so schlich er in die Hütte zurück, schloss die Tür und kroch wieder zu seinem Krähenmädchen unter die waren Felle. Die Glieder schienen ihm schwer und er meinte, nach siegreicher Schlacht durfte ein Held auch mal länger schlafen.
Das Schwert stellte er griffbereit neben sich an den Pfosten des tiefliegenden, einfachen Bettkastens. So rasch wie er geweckt worden war, schlief er auch wieder ein.
Als er das nächste Mal erwachte, waren es Geräusche innerhalb der Hütte, die ihn aus den Träumen riss. Ein leises Kratzen, ein kaum hörbares Tapsen, stilles Hantieren, als gab sich jemand alle erdenkliche Mühe, keinen Laut von sich zu geben.
Erst jetzt bemerkte er, dass er unter dem Fellhaufen schwitzte. Die Augen noch geschlossen, tastete er nach der weichen, warmen Haut seiner Frau. Nichts. Mit einem Ruck fuhr er hoch. Im nächsten Moment blinzelte er in das schräg durch die Fenster einfallende Sonnenlicht und in das strahlende Gesicht Antaronas.
Nur mit dem winzigen Lederschurz bekleidet stand sie von dem Lager und lächelte ihn süß an. Sie hielt ihm einen ihrer selbst gebrauten, würzigen Tees hin, sowie ein Stück Trockenfleisch und altes Brot.
»Seid ihr endlich aufgewacht, o großer Held mit den Zeichen der Götter?« spottete sie, während Basti den Tee in seine ausgetrocknete Kehle goss, und müde begann, auf dem Streifen hartem Fleisch herumzukauen.
»Talris hat beinahe seinen Tageslauf beendet, solange habt ihr geschlafen«, stellte sie fest, und Basti meinte einen vorwurfsvollen Klang aus ihrer Stimme herauszuhören.
»Du musst gerade reden«, konterte er, »hast ja nicht einmal mitbekommen, dass am Beginn des Sonnenlaufs die Jo-lie da waren, um unsere Hütte fertig zu bauen. Hast geschlafen, wie ein Felsenbär in der Zeit des langen Schnees!« Antarona grinste ihn frech an, und präsentierte ihm nicht ganz ohne Absicht ihre weiblichen Formen, offenbar um ihn herauszufordern und zum Aufstehen zu bewegen.
Inzwischen hatte sie verstanden, mit welchen Reizen sie ihn provozieren konnte, und nutzte ihre Erfahrung schamlos aus, um zum Ziel zu kommen, um ihn zu verwirren, oder sein Verlangen nach ihr zu schüren. Sie beugte sich tief über ihn, um ihm den Teebecher abzunehmen; tiefer, als nötig gewesen wäre. Sofort verspürte er eine ziehende Sehnsucht nach ihr. Und als sie sich umdrehte und ihr Gesäß ihn wie zufällig streifte, war es mit seiner Beherrschung vorbei.
»Willst du deinen Ba - shtie wirr im Kopf machen und ihn dann hier einsam lassen? Schön hier geblieben!« Er packte sie in der Taille und warf sie neben sich auf die Felle. Dann begann er sie zu kitzeln, wo sie besonders empfindlich war.
Antarona kicherte ausgelassen, krümmte und wand sich unter seinen Fingern, bis er eine Zone erwischte, die nicht empfänglich für seine Attacken war. Diesen Moment nutzte das Krähenmädchen aus, denn auch sie wusste um seine Stellen, die ihn nahezu wehrlos machten, wenn sie mit den Fingern über diese Partien krabbelte.
Während Sebastian zusammenzuckte und sie abzuwehren versuchte, sprang sie wie von einer Feder getrieben vom Lager auf und war schon bei der groben Holztür. Mit lautem Klacken schob sie den Riegel zurück und drehte sich noch einmal spöttisch zu ihrem Liebsten um.
»Ihr seid ein lahmer Wafan, Ba - shtie. So schmutzig von der Arbeit bekommt ihr euer En-gel-sen nicht. Versucht doch Sonnenherz einzufangen«, stachelte sie ihn an, und schlüpfte durch die Tür nach draußen.
Fluchend wälzte Basti sich vom Lager herunter, steckte sich zur Sicherheit noch sein Bowiemesser in den Schnurbund des Lederschurzes und wollte hinter ihr her stürzen. Doch er übersah den schweren Kessel, den ihnen die Mädchen der Jo-lie als Hausstand mitgebracht hatten. Der Schmerz trieb ihm die Tränen in die Augen, als er mit seinen Zeh daran stieß.
»Du kleine Hexe, das werde ich dir heimzahlen, warte, bis ich dich erwischt habe!« rief er hinter ihr her, bezweifelte aber, dass sie ihn hören konnte.
Wie Antarona, nur mit dem Schurz bekleidet, humpelte er aus der Jaen-tè. Hatte er erwartet, das flinke Mädchen draußen schnappen zu können? Er hätte es besser wissen müssen. Antarona stand, einer göttlichen und engelhaften Gestalt gleich, aufreizend am hohen Uferrand des Flusses und winkte ihm provokativ zu.
»Diese kleine, gewitzte Schlange...« stieß er halb bewundernd, halb ärgerlich, nur für sich hervor. Dann setzte er dem Krähenmädchen nach. Sie ließ ihn herankommen und Basti glaubte schon, sie in den weichen Schwemmsand des Flussbettes werfen zu können. hatte er vergessen, wie schnell und wendig sie war?
Eine Drehung und ein kleiner Sprung zur Seite ließ ihn ins Leere laufen. Belustigt machte Antarona drei weitere Sätze und stand im Handumdrehen bis zu den Oberschenkeln im Wasser, das ruhig und gleichmäßig dahinfloss, als träumte der Fluss. Sebastian spurtete ihr nach und als seine Füße aufspritzend in das Nass traten, ließ Antarona sich nach hinten kippen. Basti sah sie kurz wie eine entspannte Robbe in den Fluss hinaustreiben, dann verschwand sie unter der Wasseroberfläche.
Er wusste, dass es nichts brachte, blind hinter ihr her zu tauchen. Also wartete er und beobachtete die schillernde Fläche, suchte nach Blasen und kleinen Strudeln, die sie früher oder später verraten würden. Er wartete, blickte stromabwärts, bereit, sich jederzeit ihr hinterher in die Fluten zu werfen.
Erst in diesem Moment bemerkte er, dass es bereits Nachmittag sein musste. Die Sonne hatte ihren höchsten Punkt schon verlassen und neigte sich gen Westen. Sie hatten den halben Tag verschlafen. Dafür hatte sich das sonnige Wetter gehalten. Außer ein par vereinzelten, weißen Wolken störte nichts das Blau des Himmels. Die Kälte vom Morgen war einer angenehmen, trockenen Wärme gewichen. Der große, von Süden nach Norden ziehende Meeresstrom hatte neue, klare Luft, aber auch die heißen Winde der Wüsten Oranutus heraufgetrieben.
Immer noch suchte Sebastian angestrengt die Wasserfläche nach verdächtigen Bewegungen ab. Nichts. Als hätte der Fluss seine Frau verschluckt. Noch vor ein par Monaten wäre er unter diesen Umständen vor Angst ein par Tode gestorben. Inzwischen wusste er, dass sich Antarona im Wasser besser bewegen konnte, als ein Fisch.
Langsam watete er bis zur Hüfte in die Flussmitte, hielt an und wartete wieder. Urplötzlich tauchte Antarona unter lautem Spritzen und Prusten keine acht Meter Fluss aufwärts neben ihm auf. Im nächsten Moment prasselte eine Ladung kleiner Steinchen auf sein Haupt und ließ um ihn herum hundert kleine Wasserringe entstehen.
»Sonnenherz sagte es euch, ihr seid ein lahmer Wafan, Ba - shtie!« Sie strahlte und lachte übermütig, schien ihre große Schau zu genießen, bevor sie wieder abtauchte.
Basti rechnete damit, dass sie in den ersten Sekunden mit dem Fluss abtrieb, bis sie eine Richtung wählen konnte. Er hechtete mit weitem Sprung genau an die Stelle, an der er sie vermutete. Blind packte er zu. Tatsächlich bekam er ihr Fußgelenk zu fassen. Bevor er aber nachfassen und fester zugreifen konnte, war sie ihm wieder entglitten. Flink wie ein Fisch, dachte er anerkennend.
Er glaubte nicht, dass sie den gleichen Trick noch mal versuchen würde, und schnappte noch mal nach Luft, bevor er abtauchte und eine Handvoll Steinchen vom Grund herauf holte. Dann stieg er bis unter die Wasserfläche auf, und stieß die andere Hand nach oben. Sogleich spürte er den Steinhagel über sich auf das Wasser schlagen, das untrügliche Zeichen, dass Antarona bereits auf sein Auftauchen gewartet hatte.
Zeitgleich tauchte er auf, registrierte im Sekundenbruchteil das Krähenmädchen und warf. Sie reagierte sofort, konnte aber nicht verhindern, dass ein Großteil Bastis Steinchen auf ihrem Haupt niedergingen. Sofort ließ er sich wieder zum Grund sinken, um neues Wurfmaterial aufzunehmen. Antarona erwartete gewiss, dass er seine Position veränderte. Die sollte sich wundern!
Er wartete nicht so lange, bis ihm die Luft ausging, tauchte auf, sah sich um, konnte das Krähenmädchen nirgends entdecken, und tauchte sogleich wieder ab. Anschließend begann er das Spiel von neuem. Auftauchen, schauen, weg. Irgendwann würde er sie überraschen, glaubte er.
Als er zum vierten Mal auftauchte, spürte er sogleich ein Klatschen auf seinem Kopf, ehe er sich noch umdrehen konnte. Antarona war direkt hinter ihm und drückte ihm beide Hände voll Steinchen ohne Mühe auf den Kopf. Hatte sie doch tatsächlich den Strudel gesehen, mit dem er im Wasser versank. Beinahe unglaublich.
»Na warte, das kostet jetzt aber...« schnaufte Basti, drehte sich zu ihr um und hechtete mit aller Kraft auf sie zu, weil er aus Erfahrung wusste, dass sie sofort aus seiner Reichweite gleiten würde. Dieses Mal bekam er beide Füße zu packen, dann ihre Waden, schließlich ihre Oberschenkel.
Antarona versuchte sich ihm mit all ihrer Kraft und Biegsamkeit zu entwinden, doch sofort griff Basti nach und wie Klammern legten sich seine Arme um ihre Taille, während er mit den Beinen versuchte, ihr Strampeln zu unterbinden.
Eng umschlungen rollten sie im Wasser hin und her, drehten sich, versuchten sich gegenseitig die Glieder zu blockieren, kämpften spielerisch um die Überlegenheit und bemerkten nicht, dass sie immer weiter in die Flussmitte gerieten, und mit der starken Strömung abgetrieben wurden.
Irgendwann hatte Sebastian seine wehrhafte Frau unter Kontrolle gebracht, hielt ihre Arme und ihren Leib fest im Griff, was nur ihrer grazilen Gestalt wegen möglich war. Aber Antarona gab nur zum Schein auf. Als sie spürte, das Basti mit den Beinen versuchte, in der Strömung zu rudern, drückte sie ihren Rücken durch, umklammerte mit ihren Schenkeln seine Beine und blockierte sie, so dass sie beide in der Strömung untergingen. Sie wusste, dass sie den längeren Atem hatte, und dass er sie los lassen musste, wollte er seine Lunge nicht voll Wasser bekommen.
Nun war es Basti, der wie ein Wilder strampelte. Sofort erfasste er die Situation, lockerte seinen Griff, um ihr vorzutäuschen, dass er aufgab. Er rechnete mit einem Ruck in Antaronas Leib, mit dem sie sich befreien wollte, fasste nach, und hatte sie wieder in der Klammer. Erneut rollten sie sich wie zwei kämpfende Krokodile durch die Fluten, bis Sebastians Kraft über Antaronas Gewandtheit siegte, und er sie fest umklammert hielt.
»Ergibst du dich deinem Mann, Prinzessin von Falméra, oder soll ich dich auf den Schultern aus dem Wasser tragen?« fragte er prustend und völlig außer Atem. Antarona wand sich mit nachlassender Kraft in seinem Griff und antwortete keck:
»Wenn ihr es schafft, eure Frau zu beglücken, bevor sie euch wieder entwischt, dann habt ihr gewonnen, nicht vorher!«
Sofort löste sie ihre Beinklammer, winkelte die Beine an und stieß sich gegen Bastis Oberschenkel ab. Beinahe wäre sie ihm entwischt, hätte er nicht in einer Reflexbewegung ihr rechtes Fußgelenk zu fassen bekommen. Seine andere Hand erwischte zufällig ihr Handgelenk. So begann ein neues Ringen, das sich eher als Tanz unter Wasser entwickelte.
Immer wieder versuchte Sebastian Antaronas Taille zu umfassen, jedes Mal entwand sie sich seinem Griff und war ihrerseits bestrebt, seinen Händen zu entkommen. Inzwischen hatte sie völlig die Orientierung verloren. Sie ließen sich einfach im Wasser und in ihrem kämpferischen Spiel treiben. Nach unendlichem Katz- und Maus- Spiel ergaben sie sich allmählich in dem ziehenden Gefühl des Verlangens nacheinander.
In diesem Augenblick berührten Bastis Füße sandigen Grund. Dieser Zufall kam ihm gerade recht. Er grub seine Zehen in den Boden, stemmte seine Beine gegen die Strömung, fuhr mit einem Arm zwischen Antaronas Oberschenkel hindurch und hob sie hoch.
Antarona legte ihre Arme um seinen Hals, schlang ihre Beine um seine Lenden und stützte sich auf seinen Schultern ab. Sie dachte nicht mehr an das Spiel, an die Gegenwehr, mit der sie ihren Mann zu spielerischem Eroberungskampf animiert hatte. Ihr Empfinden sehnte sich nun vielmehr nach seiner Nähe, nach seiner Stärke, und sie leistete nur noch gespielten, passiven Widerstand.
Sebastian bemerkte sehr wohl, dass seine Frau ihre zur Schau gestellte Kratzbürstigkeit aufgegeben hatte, und sich mehr und mehr an ihn schmiegte. Er tastete sich zum Ufer vor, und sah sich um.
Eine völlig fremde Landschaft umgab sie, als wären sie durch ein unsichtbares Tor in eine andere Welt geschwommen, ein Gedanke, dem Basti mit gemischten Gefühlen begegnete. Schließlich hatte er auf diesem Gebiet bereits zweifelhafte Erfahrung.
Vor ihnen wurde das Wasser des Flusses ruhiger, einige Untiefen mit freiliegenden Sandbänken erstreckten sich bis zum Ufer, den ein Strand aus weißem, pulverigem Sand säumte. Dichter Wald begrenzte den an dieser Stelle den breit auseinandergefächerten, flacher gewordenen Strom.
Vor seinem geistigen Auge stellte sich Sebastian die akribisch gezeichneten Karten vor, die er in der Bibliothek der Himmelsburg gefunden hatte. Dann schätzte er ihre Abdrift durch die Strömung, und kam zu dem Schluss, dass sie sich im Delta des Flusses befanden, vielleicht schon an der Mündung zum großen Wasser, wie die Îval das Meer nannten.
Antarona hingegen schien ihr derzeitiger Standort weniger zu beeindrucken. Sie befreite sich aus Bastis Armen, als sie eine der Sandbänke überquerten. ließ sich auf Hände und Knie nieder und untersuchte mit scheinbar großem Interesse den angespülten und aufgeschwemmten Schlick.
Sie robbte durch den feinen, nassen Sand, untersuchte hier ein Steinchen und sammelte dort eine Muschel auf. Sebastians Blick war hin und her gerissen von der Faszination der verzweigten Strandlandschaft, die im nachmittäglichen, goldenen Licht lag und den Rundungen seiner Frau, die ihm anscheinend unbewusst ihre Reize präsentierte.
Der Anblick heizte Basti mächtig ein, und das raffinierte Krähenmädchen wusste das. Ab und zu hob sie etwas auf, setzte sich auf die angewinkelten Beine und betrachtete das Fundstück genauer. Dabei drehte sie sich so in die Sonne, dass ihre Rundungen vorteilhaft beleuchtet zur Geltung kamen.
»Schaut, Ba - shtie, solche Muscheln hat Sonnenherz auch an den Stränden Quaronas gefunden«, sagte sie ohne sich umzudrehen. Es war klar, dass sie nur einen Grund suchte, mit dem sie sein Interesse auf sich lenken konnte. Doch das war kaum nötig. Sebastian Lauknitz hatte mittlerweile nur noch Antarona Holzer im Fokus.
Wie ein Vorhang hingen ihre langen, schwarzen Haare vor dem Objekt, dem er sein Interesse widmen sollte. Sanft strich er ihre unbändige Mähne zur Seite. Antarona neigte sie sich etwas zur Seite, und als er hinter ihr sein Kinn über ihre Halsbeuge streckte, um besser sehen zu können, wandte sie den Kopf und schenkte ihm einen zaghaften, kaum seine Lippen berührenden Kuss.
Die vorüberziehenden Wasser des Flusses mochten die Einzelheiten der romantischen nächsten Stunde mit sich fort nehmen, ins nahe Meer tragen, und als die Geschichte zweier sich liebender Menschenwesen dem ewigen Strom dieser Welt übergeben, oder es für immer in ihren stillen Wellen und Strudeln verbergen und als Vermächtnis der Liebe hüten, es würde so und so ein Geheimnis bleiben.
Sehnsüchtig sah Basti irgendwann zu seiner erschöpft neben ihm liegenden Frau. Ihr schweißnasser Körper glänzte kupfern in der mittlerweile tief stehenden Sonne. Ihr makelloser Körper wirkte unnatürlich plastisch im tief einfallenden Licht. Sie lag da wie eine Bronzestatue, die unfreiwillig umgekippt war. Als spürte sie seine Blicke, winkelte Antarona ein Bein an und wirkte augenblicklich wie das Bildnis einer entspannten Touristin, die sich zu lange der Sonnenstrahlung ausgesetzt hatte.
Fasziniert betrachtete Basti das Mädchen, das sein Kind im Leib trug. Täuschte er sich, oder wölbte sich bereits eine kaum wahrnehmbare Erhebung auf ihrem Bauch? Und ihre Brüste, hatten sie nicht etwas an Üppigkeit zugenommen? Nun fixierte er ihre Hüfte, um zu ergründen, ob sie auch dort etwas breiter geworden war.
»Warum seht ihr Sonnenherz an wie ein Gut, welches ihr zu erwerben wünscht, Ba - shtie?« Ihre Frage riss ihn aus seinen Gedanken. Immer wieder vergaß, oder verdrängte er, dass sie mitunter die Sinne anderer Wesen treffend interpretieren oder gar ergründen konnte.
»Ich muss dich ansehen, mein Engelchen, weil du so schön bist, wie eine Blume am Beginn des Sonnenlaufs«, antwortete er und ärgerte sich über sich selbst, dass ihm nichts Besseres eingefallen war, als so ein abgedroschener, schmalziger Spruch. Doch das Krähenmädchen nahm sein Bekenntnis mit strahlender Freude an. Lag es an der geneigten Sonneneinstrahlung, oder wurde sie vor Verlegenheit sogar ein wenig rot?
Sie nahm die Unterbrechung ihrer Träumerei zum Anlass, sich der Länge nach auszustrecken, als wollte sie damit eine innere Feder spannen, um Müdigkeit und Tatenlosigkeit aus ihrem Körper zu katapultieren. Sebastian schaute ihr verliebt zu. Welch eine Schönheit im Mantel ungebrochener Jugend.
Er rollte sich halb auf sie und beschenkte ihren nackten Körper mit sanften Küssen. Ihr Bauch war weich und warm, und er meinte sein Töchterchen bereits spüren zu können, das ihnen von der alten Kräuterhexe aus dem Grund Falméras angekündigt worden war. Würde sie ein ebenso wunderschönes und außergewöhnliches Mädchen werden, wie ihre Mutter? Würde sie ihre wechselhafte Natur zwischen Sensibilität, Sanftmut, und Wildheit sowie Klugheit erben? Insgeheim wünschte er sich ein Abbild Antaronas, eine wahre Prinzessin für dieses im Aufbruch befindliche Land.
Antaronas Bauchnabel bedachte er mit besonders intensiven Küssen und sog gleichzeitig gierig ihren Duft ein. Das Krähenmädchen legte sachte ihre Hände auf seinen Kopf, strich zärtlich durch sein borstiges Haar und raunte ihm zu:
»Sie wird ein wunderschönes Mädchen werden, und eine stolze Îval, die ihr Volk lieben und achten wird.« Basti hob den Kopf und fragte sich wieder einmal mehr verwundert, wie sie es anstellte, sich in die Gedanken- und Gefühlswelt von Mensch und Tier zu schleichen, Stimmungen und Gemütszustände zu ergründen, ohne auch nur eine Regung zu zeigen.
»Veniaphalis wird ebenfalls die Gabe von Sonnenherz besitzen, sie wird mit ihren Sinnen noch mehr sehen, als Sonnenherz, denn sie ist von den Göttern berührt«, flüsterte Antarona nun.
Sebastians Blick zwischen Verblüffung und Empörung darüber, dass sie bereits einen Namen für ihr Kind ausgesucht und offensichtlich festgelegt hatte, bohrte sich in ihr Gesicht.
»Veni-a-phalis? Du hast schon.., sag' mal, woher willst du bereits jetzt wissen, wie unsere Tochter sein wird, man kann ja kaum erkennen, dass du...«
»Ba - shtie«, ihre Stimme klang tatsächlich ein wenig vorwurfsvoll, »eine Frau der Îval fühlt so etwas. Habt ihr es vergessen? Sonnenherz hatte mit euch bereits diesen Namen erwählt, Veniaphalis, schöne Blume am Morgen. Eine Frau, welche ein Geschenk der Liebe unter ihrem Herzen trägt, weiß, welch ein Wesen in diesem neuen Herzen schlägt und auf welchen Klang es hören sollte!«
Nun war Sebastian vollends perplex. Er konnte sich zwar nicht mehr genau daran erinnern, mit ihr über einen Namen für ihr gemeinsames Glück nachgedacht zu haben, nahm es aber zunächst einmal so hin. Doch dass Antarona bereits das Wesen ihrer Tochter spürte, fand er schon ziemlich abenteuerlich.
»Sag mal, kannst du eigentlich bereits die Gefühle und die Gedanken von unserem Töchter.., ich meine, von Veniaphalis verstehen?« Seine Frage kam ihm selbst außerordentlich naiv vor, aber wie sollte er so etwas anders ausdrücken?
Er war in einer modernen Zivilisation aufgewachsen, in der Männer gemeinsam mit ihrer Frau Geburtentraining betrieben, der Geburt ihres Kindes beiwohnten, und die Erkenntnis akzeptiert hatten, dass bereits das Ungeborene eine Seele und ein Wesen besaß, dass es schon im Mutterleib seine Umwelt wahrzunehmen vermochte.
Doch Antaronas unbekümmert und lapidar klingende Aussage zu diesem Thema, brachte seine Vorstellungen vom Kinderkriegen etwas durcheinander. Woher wusste sie von Erkenntnissen, denen in seiner Welt eine jahrzehnte lange Forschung vorausgegangen war? Ihre Antwort ließ ihn von seinem Gedanken an Zauberei oder Übersinnlichem wieder etwas abrücken. Sie hob gleichgültig die Schultern und erklärte:
»Sonnenherz vermag nicht die Stimme von Veniaphalis zu vernehmen. Doch sie spürt, was sie fühlt, was ihre Sinne umtreibt und ob sie guten Gemütes ist.«
In Gedanken sinnierte Basti darüber nach, ob diese deutlich einfühlsamere Gabe, als jene die er aus seiner Welt kannte, im Grunde auch dort einmal eine normale Eigenschaft gewesen, und nur im Laufe der Evolution verloren gegangen war.
Antarona setzte sich auf, fing das Sonnenlicht auf ihrem gebräunten Körper ein und strich sich die langen Haare aus dem Gesicht. Nun sah es Sebastian ganz deutlich. Sie wirkte nicht mehr so zerbrechlich, wie an jenem Tag, als sie sich zum ersten Mal am See begegneten. Ihr Bauch schien nicht mehr so flach, und ihre Brüste wölbten sich deutlich nach außen.
Er lächelte sie glücklich an. In seinem Herzen breitete sich eine zwiespältige Wehmut aus. Mit dieser Frau wünschte er sich eine Familie. Doch würden sie irgendwo auch in Frieden leben können? Hier im Volossoda, oder in seiner Welt, an einem Ort, an dem niemand ihr Glück bedrohte?
Bisher sah es so aus, als würden sie sich diese Welt erst erkämpfen müssen. Würde sein Töchterchen inmitten eines grausamen, erbarmungslosen Krieges zur Welt kommen und aufwachsen? Gelang es ihm, seine kleine Familie an einen Ort zu bringen, wo sie vor solchen Gefahren geschützt war?
Das Krähenmädchen spürte auch diese bedrückendste seiner Sorgen. Sie kam zu ihm heran, schmiegte sich an seine Seite:
»Seid ohne Sorge«, besänftigte sie ihn, »Sonnenherz und Ba - shtie werden einen Platz finden, wenn es soweit ist. Einen Platz in den Tälern und Bergen des Val Mentiér, wohin Torbuks Krieger nicht gelangen.«
Augenblicklich dachte Sebastian an das verborgene Tal, das er oberhalb von Högi Balmers Alm gefunden hatte, und dessen Zugang einzig durch eine schwer zu findende Klamm möglich war. In Gedanken sah er Antarona und sein kleines Töchterchen in den blumigen Wiesen dieses Hochtals umher wandern.
»Ja, mein Engelchen«, stimmte er ihr zu, »das werden wir, dafür werde ich sorgen.« Damit stand er auf, zog sie hoch, und sammelte ihre spärliche Kleidung ein, die sie in ihrer stürmischen Liebe achtlos hatten fallen lassen.
Hand in Hand, und nackt, wie die Götter sie erschaffen hatten, gingen sie über die Sandbänke der unbekannten Uferseite und der untergehenden Sonne zu. An einer seichten Stelle ohne große Strömung badeten sie noch einmal ausgiebig, bis es höchste Zeit war, den Rückweg anzutreten.
Die Strömung des Flusses hatte sie sehr weit abgetrieben. Als sie endlich den Waldrand am jenseitigen Ufer erreichten, hatte sich die Sonne bereits hinter die hohen Bäume verabschiedet. Unverhofft wurde es kühler und beide begannen zu frösteln, denn sie trugen nichts am Leib, als ihre spärlichen Lederschürze, die gerade mal ihre Genitalen bedeckten.
Der Rückweg entlang des Flusses mochte je nach Beschaffenheit des Ufers Stunden in Anspruch nehmen. Antarona kam auf einen anderen, praktischeren Einfall. Sie lenkte ihre Schritte Strom abwärts. Auf Bastis fragenden Blick prophezeite sie:
»Sonnenherz und Ba - shtie suchen den Strand des großen Wassers. Dort hat Talris den Sand für die schlafende Sonne gewärmt. In ihn kann sich ein frierendes Menschenwesen eingraben, bis die Sonne ihren neuen Lauf beginnt.«
Mit zurückhaltender Skepsis bewertete er ihre Idee. Sie waren im Grunde nackt, und hatten zum Schutz nichts weiter, als sein Bowie- Messer und Antaronas Fischdolch, der unscheinbar am Schnürbund ihres Schurzes baumelte.
Dennoch vertraute er auf ihr Wissen über dieses Land und ihre Erfahrungen im Überleben in der Wildnis. Sie marschierten mit weit ausgreifenden Schritten am Ufer entlang, um sich warm zu halten. Dabei fiel Sebastian beim Beobachten ihrer Bewegungen auf, dass seine Frau zwar nicht mehr ganz so zierlich wirkte, dennoch eine Eleganz ausstrahlte, die ihn in ihren Bann zog.
Sie wurde kräftiger, das war unübersehbar. Aber auch sehniger. An jenen Stellen, an denen Frauen gewöhnlich Polster für die Schwangerschaft anlegten, erkannte Sebastian mehr Muskeln und Sehnen, die beim Gehen deutlich hervortraten, und ihn an eine kräftige Antilope erinnerten. Vermutlich würde sie bald lediglich einen ausgeprägten Ballon vor sich her tragen.
Im Geiste rechnete er die Zeit nach, von jenem Tag an, als er von ihrem Glück erfahren hatte. Dabei zog er die wesentlich längere Schwangerschaftszeit in Betracht, die bei Frauen in dieser Welt üblich war. Mit Genugtuung kam er zu dem Schluss, dass sie noch reichlich Zeit hatten.
Zwar kam es ihm wie eine Ewigkeit vor, seit Antarona ihm die freudige Botschaft eröffnet hatte, aber es war inzwischen auch viel geschehen, so viel, dass er das Gefühl nicht los wurde, bereits ein halbes Menschenleben in dieser Welt zugebracht zu haben.
Ihm fiel auf, dass er nur noch selten an das Leben dachte, das er vorher geführt hatte. Die Welt, aus der er gekommen war, hatte er vergessen. Nun war Antarona schwanger und trug sein Kind unter dem Herzen. Damit war eine unsichtbare, aber unüberwindliche Grenze überschritten. Selbst wenn sich ein Weg zurück in die vermeintliche Zivilisation auftun ließe, er würde an der Seite Antaronas bleiben.
Egal, in was für eine Welt er geraten war, sie war inzwischen sein Zuhause geworden. Das Leben, das er davor geführt hatte, war ihm so fremd, wie ein oberflächlicher Traum in der Nacht. Die Realität war das Hier und Jetzt.
Rüde wurde er aus seinen Gedanken gerissen, als er gegen seine Frau stolperte, die plötzlich stehen geblieben war. Antarona legte sofort die Finger auf ihre Lippen und ermahnte ihn mit einem Zischen zur Ruhe. Anscheinend hatte sie etwas gehört, geahnt, oder entdeckt, das Gefahr bedeuten konnte.
»Dort vorn, Ba - shtie, seht ihr es, dort unter den Bäumen?« Flüsternd erklärte sie ihm, wohin sie mit ihrem Arm deutete.
Basti blickte in die angegebene Richtung, vermochte aber nur die Bäume zu erkennen, die das Ufer säumten, sowie einen hohen, mächtigen und geraden Schatten darüber, wahrscheinlich ein Felsplateau, das über dem Wald aufragte.
Aber noch etwas drang an seine Sinne. Ein leises Rauschen war zu hören, das intervallartig anschwoll und wieder verklang. Angestrengt blickte er in die dunkle Kulisse, die das Gegenlicht der Dämmerung erzeugte. Doch so sehr er sich bemühte, er konnte eben nur den Wald erkennen.
Und da erst fiel ihm auf, dass die Landschaft sich deutlich verändert hatte. So sehr war er mit seinen Gedanken beschäftigt, war blind hinter seinem Krähenmädchen her gelaufen, dass er den Wechsel von der Flusslandschaft zur Küste gar nicht wahrgenommen hatte. In breitem, flachem Strom, unterbrochen von vielen, hell schimmernden Schwemmböden, mündete der Fluss dort vorn ins Meer.
Auf der Seite, von der sie gekommen waren, wuchsen weite, undurchdringliche Farn- und Schilfwälder weit in das Wasser hinaus. Auf ihrer Seite jedoch hatte sich ein breiter, mit Faust großen, rund geschliffenen Steinen bedeckter Strand gebildet. Obwohl er seit geraumer Zeit mit nackten Füßen über die Steine gelaufen war, hatte er die Veränderung nicht realisiert.
»Dort wo der Wald endet, erkennt Sonnenherz eine Jaen-tè, oder ein Haus, seht doch, es steht am Hang über dem Ufer!« Antarona raunte es ihm zu, als ob sie befürchtete, von feindlichen Kriegern gehört zu werden. Dabei hatte der Wind, wohl wegen der unmittelbaren Nähe zum Meer, etwas zugenommen, wehte in ihre Richtung, und musste jeden Ton verschlucken.
Nun aber sah auch er, was seine Frau erspäht hatte. Eine schwarze Silhouette war das einzige, das den Horizont begrenzte. Ein gewiss zwei- bis dreihundert Meter hoher Plateauberg, der zum Meer hin steil abfiel, seinen glatt strukturierten Schatten an die gezackten Umrisse von Bäumen übergab, und dort, wo der Wald optisch ans Wasser grenzte, zeichnete die Schattenlinie etwas Kleines, Eckiges. Dahinter bewegten sich lange, weiße Linien auf dunklem, blau- grauem Grund: Die Schaumkronen auf den Wellen des großen Wassers.
Ob das Objekt am Rande des Waldes tatsächlich eine Hütte war, konnte Sebastian nicht sicher bestimmen. Gewiss war hingegen, dass es sich um etwas handelte, das von Menschenhand erschaffen worden war. Die Natur baute gewöhnlich nicht in geraden, lot- und waagerechten Linien.
»Was es genau ist, werden wir wohl nur herausfinden, wenn wir hingehen, oder?« Basti ließ seine Bemerkung bewusst nicht wie eine Frage klingen, sondern eher als Feststellung.
Antarona nickte stumm und begann vorsichtig weiter zu gehen. Bedächtig setzte sie ihre nackten Füße Schritt für Schritt auf die größeren Steine, die fest im Boden lagen, um Geräusche von aneinander schlagendem Stein zu vermeiden. Graziös wie ein Flamingo schritt sie dahin, gleichzeitig schleichend, wie eine Pantherin.
Das kleine ausgefaserte, spitz zulaufende Lederstückchen ihres Hüftschurzes wippte dabei auf ihrem Po auf und ab, und zu anderer Zeit hätte sich Sebastians Phantasie dabei in Ausschweifungen verloren. Nun aber hatte er das Gefühl, das dünne Leder könnte ihre Annäherung an das unbekannte Objekt verraten.
Konzentriert versuchte Basti es ihr gleich zu tun. Schnell stellte er jedoch fest, dass er nicht die Gabe seiner Frau besaß, den Unterschied von festen und lockeren Steinen mit dem Geist zu erfassen. So kam es hin und wieder vor, das ein Klackern die natürliche Stille unterbrach, was ihm jedes Mal einen vorwurfsvollen Blick einbrachte.
Antarona versuchte, die Deckung des Waldes auszunutzen, doch das gestaltete sich schwierig, wollten sie ihr Ziel nicht aus den Augen verlieren. So bewegten sie sich entsprechend langsamer, um einem zufällig hinschauenden Auge so wenig Bewegung wie möglich zu verraten.
Trotzdem näherten sie sich überraschend zügig, was Basti erzählte, dass sie die Entfernung falsch eingeschätzt hatten. Vermutlich war die Schattenwirkung der Dämmerung Schuld an ihrem Fehlurteil. Nun aber konnten sie deutlich erkennen, dass es sich um eine kleine Jaen-tè handelte.
Was sie zwischendurch als eine sich auf und ab beugende Frau gehalten hatten, entpuppte sich als harmloses Fischernetz. Es hing zum Trocknen auf einem schräg zwischen Boden und Hüttenwand angebrachten Rundholz und bewegte sich im Wind.
Das kleine Fischerhaus stand verlassen und etwas erhöht über dem Strand, auf einer gedachten Ecke zwischen Flussufer und Meeresstrand. Von hier aus hatte man uneingeschränkte Sicht sowohl auf den Fluss, als auch auf das Meer. Dazu lag das gesamte Delta mit den Schwemmböden und den Schilffeldern im Blickfeld.
Auf der imaginären Trennlinie von Fluss und Meer wechselte der steinige Strand zu einem feinen Sandstrand, als hätte die Evolution eine unüberwindbare Grenze für die Ewigkeit gezogen. Tatsächlich aber mochte dieses Phänomen mit Hochwasser und Meeresgezeiten zusammenhängen.
Eine winzige Veranda, auf der eine kaputte Holzbank stand, öffnete den Eingang zum Wasser hin, während die Jaen-tè hinten vom Wald und dem aufstrebenden Bergplateau geschützt war. Wer auf diesem Flecken Erde saß, dem entging nichts, was Stromauf, Stromab, die Küste hinauf und hinab geschah.
Sebastians Blick glitt den Schattenhang hinauf, und der strategische Teil seines Gehirns begann zu arbeiten. Ein Fort, oder eine Festung dort oben auf dem Absatz des Plateaus, konnte sowohl den Fluss, als auch die Küste kontrollieren. Er nahm sich vor, beim neuen Sonnenlauf kurz hinauf zu steigen, um den Platz zu begutachten.
Mehr für das Häusliche interessierte sich Antarona. Sie hatte mittlerweile vorsichtig die Hüttentür aufgestoßen, ihr Fischmesser zur Abwehr bereit in der kleinen Faust. Am Knarren der Tür erkannte Basti, dass die Hütte bereits seit einiger Zeit verlassen war. Fischer hatten die Möglichkeit, die Scharniere mit Tran zu ölen. Es mochte also schon eine ganze Weile her sein, da ein Fischer seinen Fuß über diese Schwelle gesetzt hatte.
Skeptisch blickte Basti noch ein par Mal in die Runde, ob nicht doch irgendwo der Eigentümer dieses halb verfallenen Häuschens auftauchte, dann folgte er seiner Frau in die Jaen-tè. Alles war mit Zentimeter dickem Staub bedeckt. Sogar auf den Dielen verursachten ihre behutsamen Schritte kleine Wölkchen, die sich rasch wieder zu Boden senkten.
Fischerutensilien, wie Netze, Seile, Reusen, Haken und Speere, sowie Lanzen, wie man sie für den Walfang verwendete, hingen an den Wänden und Deckenbalken. In zwei Regalen fanden sich irdene Krüge, deren Inhalt wohl den Besitzer der Hütte ernährt hatte, der nun aber zu undefinierbar mumifizierten Gebilden zusammengeschrumpft war.
Ein kleiner, gemauerter Kamin beherbergte nur noch ein kleines Häuflein feiner Asche, die ebenso gut hätte Staub sein können. Das Dach war an der Stelle, wo der schlanke Schornstein es durchbohrte, undicht geworden, wie an anderen Stellen auch, und mochte bei starkem Regen und Sturm die Benutzer der Hütte zur Verzweiflung bringen.
Sebastian begutachtete die beiden kleinen Fenster, eines neben der Tür zur Seeseite hin, das andere zur Flussseite gerichtet. Die trüben Gläser waren zwar zum Teil gesprungen, aber noch alle vorhanden. Windschief hingen die Läden davor, und Basti vermutete, dass sie einfach herabfielen, wenn er sie berührte. Er versuchte es gar nicht erst.
Inzwischen hatte Antarona ein Lager auf einem einfachen, roh zusammengezimmerten Bettgestell entdeckt. Ein par alte, hart gewordene Felle lagen darauf, die nicht gerade sehr frisch rochen. Die Duftnote erinnerte Sebastian an etwas, das ein halbes Jahrhundert lang in der Erde verbuddelt gewesen war.
Trotzdem machte sich das Krähenmädchen mit unerschütterlichem Eifer daran, das Innere dieser Behausung notdürftig für eine Nacht herzurichten. Der Staub, den sie dabei unweigerlich vom Tisch in der Mitte der Hütte, von den zwei Stühlen, dem Regal und dem Fußboden aufwirbelte, legte sich auf ihre feuchte Haut und verwandelte sie in kürzester Zeit in ein graues Wesen, das einem Robrum nicht unähnlich war.
Während sie weiter dem Dreck trotzte, sah sich Basti in der Umgebung der Hütte um. Sie brauchten Feuerholz; mit etwas Glück hatte der einstige Besitzer irgendwo einen Holzvorrat angelegt. Aufatmend trat er vor das baufällige Holzhaus. Von See her wehte ein leichter, kühler Wind. Ob die Nacht unter freiem Himmel angenehm geworden wäre, wagte Basti zu bezweifeln.
Unter der erhöhten Böschung schimmerte der weiße Sand des Strandes. Drüben jedoch, wo sich der Fluss Land einwärts erstreckte, erschien das Ufer dunkel. Vorsichtig schlich Sebastian um die Hütte herum. Mächtige, hohe Nadelbäume streckten sich unmittelbar hinter der Behausung wie geheimnisvolle Wächter in den dunklen Abendhimmel. Der Wind rauschte durch ihre Wipfel und verlieh dem Moment etwas Unheimliches, Mystisches.
Zwischen zwei meterdicken Stämmen hatte jemand Holzscheite aufgeschichtet. Sie waren mit Moos überzogen, was erahnen ließ, dass schon lange kein Feuer mehr in der Hütte gebrannt hatte. Basti fragte sich, ob der Schornstein überhaupt noch zog, und nicht schon mit Tannennadeln, Laub, und anderen Dingen verstopft war, die der Wind so mit sich trug.
Drei bis vier Holzscheite lud er sich auf die Schultern, trug sie in die Jaen-tè und wunderte sich, dass Antarona noch Luft bekam. Dichter Staub waberte wie Nebel durch das Holzhaus. Und mittendrin wirbelte seine Frau mit einem Besen herum. Ihr Vorsicht Ba - shtie kam etwas zu spät, denn er tappte völlig ahnungslos in einen Schwall Dreck, den sie mit Schwung aus der Hüttentür fegte. Hustend warf er die Scheite auf den Boden und flüchtete wieder nach draußen.
»Ich suche noch etwas Reisig zum Feuer machen«, rief er in die schwarze Öffnung in der Hütte hinein, aus der eine Wolke quoll, die eher an einen Brand erinnerte, als an einen Hausputz.
Damit lief er zum Strand hinunter. An irgendeiner Stelle würden die Bäume sicherlich so weit vom Hang herunter stehen, dass er unter ihnen bequem Zweige und dünnes Geäst finden konnte. Vordringlich aber wollte er aus der Schusslinie von Antaronas Besen herauskommen.
Das Meer rauschte mit weißen Kronen auf den Wellen an den Strand. Die Wasseroberfläche glitzerte im Mondlicht geheimnisvoll und wie verzaubert. Basti war völlig entgangen, dass es schon wieder Vollmond war. Entweder trat dieser Zyklus in kürzeren Abständen als in seiner Welt auf, oder er hatte durch die vielen Ereignisse ein kurzlebigeres Zeitgefühl bekommen.
Wie auch immer; er setzte sich auf eine kleine Sanddüne und sah auf die schimmernde Fläche des sich bewegenden Wassers hinaus. Der Wind, den er zunächst als kühl empfunden hatte, war aber eher warm. Allgemein schien das Wetter wieder wärmer und schwüler zu werden. Andererseits mochte auch der Wind gedreht haben, und die heiße Luft der Wüsten von Oranutu von Süden herauftragen.
Jedenfalls freute er sich, in seiner knappen und dürftigen Kleidung nicht frieren zu müssen. So wanderte er eine Weile den Strand entlang, bis dieser sich weit in das Meer hinein verbreiterte. Aus einigen vorgelagerten Sandbänken ragten bizarre Felsen als zackige Silhouetten aus dem nass glänzenden Sand. Einige der Klippen lagen weiter draußen und wurden von den Brandungswellen heftig umspült, was Basti an den spritzenden Fontainen erkannte, die um sie herum tobten.
Als er aber an dieser Stelle Land einwärts sah, gewahrte er zwei Baumstamm dicke Pfeiler, etwa zwei Mann hoch, die im Abstand von etwa zehn Metern kurz vor dem Waldrand im Sand steckten. Dies war eindeutig das Werk von Menschen. Hatte einst der Fische diese mächtigen Pfähle in den Strand gerammt, um daran seine netze zum Trocknen aufzuhängen? Sebastian trat näher heran, um die wie dunkel aufragende Türme aussehenden Dinger zu begutachten.
Erstaunt stellte er fest, dass sie aus relativ neuem Holz waren. Die Stämme waren sauber von ihrer Rinde befreit worden, und wirkten wie glatt geschliffen, oder lackiert. Oben an ihren Spitzen waren mit Stricken jeweils eine Laterne angebracht worden. Sebastian blickte hinauf und stand vor einem Rätsel.
Wer stellte in einer Menschenleeren Gegend zwei Pfähle mit Beleuchtung auf, ließ aber die nahe gelegene Hütte unbeachtet und ließ sie verfallen? Gab es entgegen seiner Kenntnis doch Bewohner in dieser abgeschiedenen Landschaft? Aufmerksam sah er sich um und sein Augenmerk fiel erneut auf die Felsen im Meer. Sollten die Laternen an den Pfählen die Untiefen markieren? Doch welches Wasserfahrzeug außer einem Fischerboot navigierte fernab eines Hafens so dicht unter Land?
Außerdem wurden mit einem Leuchtturm gewöhnlich jene Stellen markiert, die schiffbar waren. In seiner Welt. Sebastian musste zugeben, dass er die Möglichkeit außer Acht gelassen hatte, dass es in Antaronas Welt anders sein konnte. Die hoch hängenden Laternen sollten also die gefährlichen Klippen weithin sichtbar machen, soviel stand fest. Doch für wen?
In Basti keimte ein ungeheuerlicher Verdacht auf. Die Invasion der Insel Falméra sollt an dieser Stelle beginnen! Wie konnte er nur so blind gewesen sein? Dieser Ort war ideal. Er war abgelegen, besaß einen breiten Strand zum anlanden, ein Fluss bot die Möglichkeit, mit Wasserfahrzeugen ins Landesinnere vorzustoßen, und in den weiten Schilffeldern ließen sich Landungsboote hervorragend vor den Blicken allzu Neugieriger verbergen.
Dazu ragte hoch darüber das Felsplateau auf, von dem aus man weithin über das Meer sehen konnte, und mit einem Vorauskommando die Landung gut koordinieren konnte. Basti vermutete auf dem Plateau irgendeine weitere Einrichtung, um Signale auf das Meer hinaus zu geben. Am Morgen wollte er mit Antarona hinaufsteigen und nachsehen.
Er wollte sich schon umwenden und zurück gehen, als sein Blick durch die beiden Pfähle hindurch auf etwas anderes fiel. Dort, wo der Wald und der Hang zum Plateau begann, stand ein etwa zwei bis drei Meter hoher Stein. Unter einem Hang war das sicher nichts ungewöhnliches, konnte doch jeder Regen Steine aus dem Erdreich lösen und sie an seinem Fuße liegen lassen. Allein die Form war es, die Basti als ungewöhnlich auffiel.
Langsam ging Basti auf das Gebilde zu. Je näher er dem Wald kam, der finsteren, unheimlichen Mauer aus undurchdringlichem Pflanzengewirr, hinter der alles Mögliche lauern konnte, desto unbehaglicher wurde ihm zumute. Ein inneres Gefühl warnte ihn, allzu neugierig zu sein. Das Mondlicht, das den Strand silbern überflutete, machte ihn zusätzlich nervös. Er war weithin sichtbar, während etwas, das ihn möglicherweise im Schutz der Bäume belauerte, nicht auszumachen war.
Sebastian tröstete sich damit, dass Torbuks Krieger nach dem Angriff der Jo-lie fluchtartig mit dem verbliebenen Wasserwagen das Weite gesucht hatten. Wer also sollte ihn nun noch bedrohen? Dennoch setzte er so vorsichtig einen Fuß vor den anderen, dass man durchaus von Schleichen sprechen konnte. Plötzlich ertappte er sich dabei, dass seine Hand krampfhaft den Griff seines Bowie- Messers umklammerte. Die Angst vor dem Unbekannten ließ sich nicht mehr leugnen.
Überrascht stand er dann vor dem steinernen Gebilde, das er zunächst nicht deuten konnte, weil das Mondlicht seine Schatten unvorteilhaft projizierte. Dass dieser Stein aber von Menschenhand behauen war, konnte er sofort erkennen. Aber erst nach einer Weile vermochte er zu sagen, was dieser Gedenkstein darstellte. Es war ein in sich umwundener, in seine Gliedmaßen verschlungener Drache. Hier stand ein steinerner Gor.
Und das war nicht alles, was das Mondlicht seiner Neugier offenbarte. Gleich hinter dem in Stein gemeißelten Gor führte ein Pfad in den Wald hinein, der sogleich in eine sauber angelegte, zwischen den Schatten der Bäume verschwindende Treppe überging. Sebastian hatte nicht unbedingt das drängende Bedürfnis, diesem Weg in die unbekannte Dunkelheit zu folgen.
Also trat er mit dem Gedanken den Rückweg an, dass seine Entdeckungen am Morgen auch noch da sein würden. Bei Tageslicht wollte er diesen Absonderlichkeiten auf den Grund gehen. Unbehagen beschlich ihn, als er den Strand entlang zurück lief. Er fühlte sich ständig beobachtet, vermochte aber nicht zu sagen, von wem, oder was.
Erst als er die kleine Jaen-tè erreichte, aus deren kleinem Fenster Licht schimmerte, wähnte er sich wieder in Sicherheit. Antarona hatte inzwischen wahre Wunder bewirkt. Sauber und gemütlich war freilich etwas anderes, aber das Mädchen hatte es geschafft, die Hütte so herzurichten, dass sie sich vor einer Übernachtung darin nicht ekeln mussten.
Im Kamin brannte ein kleines Feuerchen, und auf dem Tisch verbreitete eine alte Tranfunzel warmes, diffuses Licht. Antarona stand mitten im Raum, sichtlich überrascht, dass er schon wieder zurück war, denn sie sah ihn etwas erstaunt an. Allerdings konnte es auch sein, dass Basti ihre Verwunderung nur interpretierte, denn ihr Aussehen ließ einiges an Phantasie zu.
Über und über war das Mädchen mit Staub überzogen. Nur an Stellen, die offenbar bei der Reinigungsarbeit irgendetwas berührt hatten, ließen ihre gebräunte Haut durchleuchten, so dass sie einem Tier mit gestreiftem Fell ähnelte. Ihr Gesicht, ebenfalls eine Staubmaske, hatte sich um den Mund sowie um die Augen herum schmutzfreie Zonen erhalten, und sah nun aus, wie das Gesichtchen eines Rhesus- Äffchens.
Als Sebastian sie so dastehen sah, brach er in schallendes Gelächter aus, das ihn gleichzeitig von der Anspannung des draußen Erlebten befreite, und deshalb etwas übertrieben wirkte. Antarona konnte sich freilich nicht erklären, was an ihrer Gestalt so komisch sein sollte, und ihre Miene verfinsterte sich zusehens, während über Bastis Wangen die Tränen des Humors kullerten.
»Was ist so komisch an Sonnenherz, dass ihr euch so albern aufführt, he?« zischte sie ihn an und stemmte ihre kleinen Fäuste in die Taille.
Sofort bemerkte Sebastian den untrüglich ernsten Unterton in ihrer Stimme, der aufkommenden Zorn verriet, und ihn warnte. Der letzte Lacher erstarb in einem Glucksen und er ging zur Offensive über. Seine Arme legten sich unerwartet um ihre Taille, zogen sie trotz ihrer anfänglichen Gegenwehr an sich heran und küsste sie leidenschaftlich.
»Es ist alles gut, du siehst wunderbar aus und ich liebe dich!« Basti ließ seine Arme lockern und sah sie amüsiert an. In Antarona aber war die Skepsis erwacht. In ihren Augen entzündeten sich die bei Basti gefürchteten Blitze, die ihren Gemütszustand in Richtung Gewitter dokumentierten.
Doch plötzlich zauberte sich erneut ein Ausdruck von Erstaunen auf ihr Gesicht, als sie ihren Mann ansah. Nun war es Basti, der eine dumme Miene machte. Er blickte an sich herab, und stellte fest, dass er, wo das Krähenmädchen ihn berührt hatte, ebenfalls mit dem Schmutz der Hütte verschmiert war. Da fingen beide spontan zu lachen an, und Antaronas Zorn war rasch verflogen.
»Sonnenherz und Ba - shtie werden baden gehen«, bestimmte sie, ergriff seine Hand und zog ihn mit sich aus der Jaen-tè. Das Mondlicht empfing die beiden fast nackten, verdreckten Menschenwesen und beleuchtete ihre Körper, die wie Gespenster über den Strand huschten. Sie betrachteten sich gegenseitig und befanden, dass sie eine gute Tarnung, oder Kriegszeichnung trugen. Wieder mussten sie lachen, während sie das Leder ihrer Schürze losbanden und achtlos auf den Strand fallen ließen.
Auf dem letzten Stück des Weges zum Meer, berichtete Sebastian seiner Frau von seinen geheimnisvollen Entdeckungen. Antarona stimmte seinem Vorhaben zu, den Pfad mit der Treppe und das Plateau zu untersuchen. Dann warfen sie sich den Wellen entgegen und tollten ausgelassen in den rauschenden Wogen des Meeres herum.
Einen Moment lang ging Sebastian die Frage durch den Kopf, welche Kreaturen dieses Meer wohl in seinen Tiefen beherbergte, doch die unbekümmerte, kindliche Art, mit der Antarona diesen Moment genoss, wollte er nicht kaputt machen. Das große Wasser wusch den Dreck von ihnen ab und nachdem sie ausgiebig herumgeschwommen waren, zogen sich ihre nassen Körper, die im Mondlicht golden glänzten, gegenseitig magisch an.
Mit dampfenden Körpern wateten sie im Brust hohen Wasser aufeinander zu, als begegneten sie sich zum ersten Mal. Sebastian sah das erwartungsvolle Funkeln in Antaronas Augen und wusste, was sie wollte. Die stille Sehnsucht, die schlagartig in seinem Leib zu ziehen begann, verwandelte sich in wildes Verlangen. Die Welt um sie herum sank ins Nichts hinab, löste sich auf und verflüchtigte sich, existierte von einer Zentare zur nächsten nicht mehr, und ließ die beiden Verliebten unter einer kleinen, unsichtbaren Glocke der Glückseeligkeit zurück.
Irgendwann ließ Antaronas Verkrampfung nach und der verklingende Rausch entließ sie in eine entspannte Ermattung. Sie ließ sich in Bastis kräftige Arme sinken, ihr Körper erschlaffte, und schmiegte sich weich und leicht wie eine Feder an ihn. Fürsorglich fing er sie auf und trug sie an den Strand, wo er ihre Lederschürze aufsammelte, bevor die Flut sie mit sich forttragen konnte.
Dann wanderten sie Hand in Hand durch das silbrige Nachtlicht ein Stück den Fluss hinauf, um sich das Salzwasser vom Körper zu waschen. Dabei bemerkte Sebastian überrascht, dass der Fluss wesentlich kühler war, als das Meer. Der warme Strom des großen Wassers musste also in dieser Gegend nahe unter Land vorüberziehen. Wahrscheinlich war auch diese Tatsache ein Grund dafür, dass Torbuk dieses Delta für seine Invasion ausgesucht hatte.
Es war für eine angreifende Armada ein immenser Vorteil, sich von der Strömung an die feindliche Küste ziehen zu lassen. Das kostete weniger Aufwand und machte nicht so viel Lärm. Vermutlich waren die Jo-lie den Invasoren im Weg.
Ob Torbuk nun vorgehabt hatte, die frei lebenden jungen Menschen einfach so lange zu dezimieren, bis sie von selbst das Dorf verließen, oder ob sie nach und nach alle versklavt werden sollten, darüber würde Sebastian wohl für immer im Dunkeln tappen. Selbst Tomrack von Kandar würde ihm diese Fragen nicht beantworten können, da kaum wahrscheinlich war, dass die Führung in Quaronas ihre Kohortenführer in alle Einzelheiten einbezog.
Nach dem abkühlenden Bad im Fluss froren Antarona und Sebastian dermaßen, dass sie sich mächtig beeilten, die schützende Hütte zu erreichen. In diesem Moment vermisste Basti die Vorzüge seiner verwöhnten, technisierten Welt, in der stets ein nach Blüten duftendes, trockenes, weiches Badetuch verfügbar war.
Selbst in Falméra gab es Tücher, wenn auch nicht in Frottee- Qualität. Doch in der Wildnis, in Mehi-o-ratea, oder im Val Mentiér, trocknete das Wasser auf der Haut im Wind. Womöglich auch ein Grund dafür, dass die Mädchen und jungen Frauen in ihrer jugendlichen Hitze nur den traditionellen Hüftschurz aus Leder trugen.
Antarona und Sebastian freuten sich jedenfalls über das flackernde Feuer im alten Kamin der Jaen-tè, das den Trocknungsprozess ihrer Haut deutlich beschleunigte. Sie legten noch ein par grobe Holzscheite nach und als schließlich auch das Leder ihrer Hüftschürze zu dampfen begann, hängten sie es in den Rauch des Feuers, was nach Antaronas Kenntnis das Naturmaterial weich und geschmeidig halten sollte.
Den zaghaften Hinweis auf die Tatsache, dass sie am Morgen duften würden, wie eine geräucherte Leberwurst, behielt Basti für sich. Er lebte ohnehin seit geraumer Zeit mit Gerüchen, an die er sich erst hatte gewöhnen müssen, und die in seiner Welt dafür gesorgt hätten, dass er sich angewidert abgewandt hätte.
In der angenehmen Wärme trat nun ihre Müdigkeit in den Vordergrund. Ihr ausgelassenes Spiel im Fluss, die Bäder im Meer und im Delta, alles forderte Energie. Mit leeren Bäuchen und an den Magenwänden zerrendem Hungergefühl gingen sie schlafen.
Eng umschlungen, um sich gegenseitig zu wärmen, rollten sie sich auf dem fremden Lager zusammen, denn sie mussten sich das einzig verbliebene Fell teilen, das nicht nach Erbrochenem, Vermodertem und totem Fisch stank.
Trotzdem entführte sie das ruhige Ein- und Ausatmen des jeweilig anderen bald in die Welt der Träume.
Sebastian Lauknitz Seele war hin und her gerissen zwischen den Welten. Er saß in seinem Wohnzimmer hinter der großen dicken Glasscheibe, die den Verkehrslärm der Ringstraße nach draußen verbannte und sah zu, wie Antarona das Essen auftrug. Eine heile Welt zwischen Teller mit Messer und Gabel und einem weichen, sauberen Teppich unter den Füßen, sowie umgeben von weiß dekorierten, glatten Wänden, die selbst bei seitlich einfallendem Licht kaum Struktur verrieten.
Aber irgend etwas bedrohte diese sterile Idylle. Basti ahnte es. Und schon nahm das Unheil seinen Lauf. Irgendwer hämmerte mit brachialer Wucht gegen die massive Wohnungstür, die ihm nie massiv genug vorgekommen war. Nun drohte sie von außen eingeschlagen zu werden.
Intuitiv wusste Sebastian, dass es der Verwalter der Eigentümergemeinschaft war, und sein Gehirn suchte in rasender Eile nach dem Grund. Hatten die herausgefunden, dass er die Wasseruhr manipuliert hatte, oder seine Waschmaschine im Waschkeller mit einem Verlängerungskabel betrieb, um Strom zu sparen?
Das Hämmern wurde unerträglich laut und gleich darauf hörte Sebastian wie das Holz zerbarst. Antarona, die wiederum nur ihren Hüftschurz aus Leder trug, drückte sich mit angstvoll aufgerissenen Augen zitternd in die Sofaecke.
»Natürlich«, schoss es ihm durch den Kopf. »Sie war der Grund! Sie durfte gar nicht in seiner Wohnung sein, sie durfte nicht einmal in seiner Welt sein. Er hatte sie einfach aus seinem Traum geholt, und dafür mussten sie beide nun büßen.«
Die ganze Eigentümerversammlung, die noblen Damen und Herren, die biederen, gestrengen Wächter der Moral dieses Hauses standen vor der Tür. Durch das zerschlagene Holz hindurch erhoben sie ein Geschrei, das durch Mark und Bein ging. Sie wollten das wilde, unmoralische, anstößig gekleidete Natur- Mädchen, das er liebte, das er sich in seine Welt geholt hatte.
Sie wollten Antarona. Sie sollte weg, vernichtet werden, zurück in die Welt, aus welcher sie gekommen war. Der Mob griff mit vielen, grabschenden Armen und Klauen durch das zersplitterte Holz der Tür und begann so grässlich zu schreien, dass Sebastian sich zu Boden werfen musste, um nicht von dem kreischenden Laut umgeworfen zu werden...
Er schlug heftig mit der Schulter auf den rauen Dielen auf. Er spürte den Schmerz, der lähmend durch seinen Oberkörper fuhr. Nur langsam sickerte die Realität in seinen Kopf zurück. Da hörte er wieder dieses Kreischen und noch einmal kamen die Traumbilder zurück und zeigten ihm die bösen Fratzen der Hauseigentümer, die sich geifernd über ihn und sein Krähenmädchen beugten.
»Ba - shtie, was ist das?« hörte er Antarona fragen. Seine Sinne versuchten sich wieder in der Wirklichkeit zurecht zu finden. Es war dunkel, nur der rot glühende Schein des Kamins spendete diffuses Licht. Er brauchte einen Augenblick, um Traum und Realität voneinander zu trennen.
Antaronas Frage aber bestätigte ihm, dass er den Schrei tatsächlich gehört hatte. Noch nicht ganz wach, fragte er dennoch:
»Was meinst du? Was ist was?« Im Grunde wollte er nur Zeit gewinnen, um zu rekapitulieren, was er gehört hatte, was sein konnte, oder was er seinem Traum zuschreiben musste.
»Ba - shtie«, kam es vorwurfsvoll und ungeduldig aus Antaronas Mund, »der Schrei, habt ihr den Schrei nicht gehört? Ihr müsst es doch auch gehört haben!«
Starr saß Antarona auf dem schmalen Bettgestell und lauschte. Ihr nackter Körper glänzte kastanienbraun im Widerschein der Glut und ihr Haar verschmolz mit dem nachtschwarzen Hintergrund. Draußen war es still. Zu still. Selbst das Meer schien sein ruhiges Konzert der Wellen beendet zu haben.
Aber irgend etwas war da. Sebastian wusste nun, dass er zumindest diesen Schrei nicht geträumt hatte. Und er hatte das Gefühl, dass er dieses Kreischen schon einmal gehört hatte.
Geräuschlos und so langsam, als bewegte sie sich in Zeitlupe, erhob sich Antarona. Auf leisen Fußsohlen schlich sie zum Fenster. Doch das milchig gewordene Glas ließ nicht mehr erkennen, außer dem Schimmer des Mondlichts.
Kopfschüttelnd machte das Krähenmädchen einen Schritt zur Seite, stand vor der Tür, und schickte sich an, diese zu öffnen.
»Warte, nicht aufmachen!« hielt Basti sie auf. Sein Traum hatte ihn gewarnt. Nicht umsonst, wie er meinte. Trotz seines Schmerzes in der Schulter war er im Handumdrehen auf den Beinen und neben seiner Frau. Er konnte nicht sagen, was sie draußen erwartete.
»Willst du dir nicht erst etwas anziehen?« Die Frage kam ihm gleich darauf ziemlich lächerlich vor. Das Stückchen Leder, das sie als Kleidung mit sich führten, machte kaum einen Unterschied zu ihrer Nacktheit.
Doch ihre Messer, die einzigen Waffen, die sie im Augenblick besaßen, hielten nun einmal nur in den Schnurbünden ihrer Hüftschürze. Antarona schlüpfte in ihren Schurz und Sebastian tat es ihr nach. Vorsichtig schoben sie den Türriegel ihrer einstweiligen Behausung zurück. Schon wollte das Krähenmädchen die Tür aufziehen, da drückte Basti sie zurück in den windschiefen Rahmen.
»Halt, warte noch, ich glaube ich weiß jetzt, was das war«, raunte er ihr zu. Sicherheitshalber schob er wieder den Riegel vor.
»Es klang wie der Schrei eines Gor«, erklärte er ihr. Antarona blickte ihn halb skeptisch, halb belustigt an.
»Ba - shtie, Gore sind in dieser Zeit in den trockenen Bergen von Oranutu, wo sie ihre Jungen groß ziehen. Und auf Falméra sind sie noch niemals gesehen worden, das solltet ihr mittlerweile wissen!« gab sie bestimmt zurück. Doch ihm entging nicht das kleine Quäntchen Unsicherheit in ihrer Stimme.
»Sag, was du willst, aber ich weiß, was ich gehört habe«, konterte er, »dieser Schrei, das war ein Gor, glaub' mir. Ich weiß, wie der klingt.« Antaronas Gesichtszüge ließen erhebliche Zweifel erkennen.
»Doch«, beteuerte Sebastian, »ich hatte bereits auf Högi Balmers Alm das Vergnügen mit einem dieser Viecher, und diesen Schrei, glaub' mir, den vergesse ich bestimmt nicht wieder.«
Antarona verharrte und schien zu überlegen. Sich unschlüssig in der Hütte zu verkriechen, und zu warten, bis das Biest an die Tür klopfte, war natürlich keine Lösung. Sie sahen sich an und verstanden sich auch ohne Worte.
»Wir werden es nur wissen, wenn wir hinausgehen, richtig?« Seine Frage war eigentlich mehr die Feststellung, die sie beide gemacht hatten. Sie nickten sich stumm zu und er schob wiederum die Riegel zurück.
Klackend schlug das Ding gegen die Halterung und Sebastian biss sich fast auf die Lippen. Musste das Mistding gerade jetzt so laut zurückschnappen? Als ob das nicht genügte, knarrten die Dielen der alten Veranda so laut, als schrieen sie vor Schmerzen auf, sobald eines Menschenwesens Fuß sie belastete.
Basti hielt den Atem an, bis ihre Füße den Sand vor der Hütte berührten. Bewegungslos standen sie da und sahen sich um. Der Mond war inzwischen bis knapp über den Horizont des Meeres gewandert und hatte eine breiter werdende Spur silbrigen Glitzerns über das Wasser geworfen. Als hätte das Meer einen Teppich aus Tausenden funkelnden und sich bewegenden Fischen bis zum Land ausgebreitet, so schimmerte das breite Band unter dem Licht des Trabanten.
Ganz ruhig brachen sich die Wellen am Strand und das leise Rauschen drang nun wieder beruhigend an ihre Ohren. Dennoch lag etwas fremdes, etwas Unheimliches und Gefahrvolles in der Luft, dass sie sich nicht erklären konnten.
Hatte ein Gor nur seine Orientierung verloren, vielleicht wegen de intensiven Mondlichts, war nur über die Insel hinweg geflogen, und längst wieder über alle Berge? Intuitiv bückte sich Basti und hob ein par Faust große Steine auf. Antarona beobachtete ihn etwas belustigt.
»Wollt ihr wieder einmal alles mit Steinen tot schmeißen, Ba - shtie?« Trotz des offensichtlichen Spotts hatte sie ihre Stimme so weit gesenkt, dass sie kaum das Meeresrauschen überdeckte. Entschuldigend zuckte Basti mit den Achseln.
»Bisher hat das doch ganz gut funktioniert, nicht wahr?« Dann zeigte er auf das Fischmesser, das in ihrem Schnürbund steckte und fügte hinzu:
»Allemal besser, als einem Gor mit so einem Nagelpieker entgegen zu treten, oder?« Eine Antwort erwartete er nicht, sondern schlich langsam ein Stück den Strand hinab.
Seine vorsichtigen Bewegungen waren eigentlich überflüssig, denn im Mondlicht waren sie sowieso weithin sichtbar, und hätte ein Gor sie tatsächlich zu seinem Nachtessen auserkoren, so wären sie ihm kaum entkommen.
Als Basti die Mitte des Strandes erreicht hatte, riss er vor erstaunen die Augen auf. In der dunklen Silhouette des Waldes, die wie eine schwarze Mauer über dem mit Mondlicht überflutetem Sand schwebte, funkelten zwei Lichter in kurzem Abstand nebeneinander.
»Das müssen die beiden Laternen auf den Pfählen sein, von denen ich dir erzählt habe«, flüsterte Basti seiner Frau zu.
Die nickte nur zustimmend und bedeutete ihm in Zeichensprache wieder dichter unter die Bäume zurückzukommen. Solange sie nicht wussten, wer weshalb in tiefer nacht Laternen am Strand anzündete, war es klug vorsichtig zu sein.
Im Schatten der Bäume bewegten sie sich weiter, hatten nun aber den Nachteil, dass sie die Lichter nicht mehr sahen, da die Küste an dieser Stelle einen Bogen beschrieb. Wie Diebe stahlen sie sich von Baum zu Baum, nutzten jede Deckung, die sich bot, und gerieten trotz der kühlen Nachtluft und ihrer spärlichen Bekleidung bald ins Schwitzen.
Da, endlich, weit vorn tauchten die beiden Lichter auf. Einsam, von Wind und nacht umweht, hingen die Lampen hoch oben an den Enden der Pfeiler und flackerten geheimnisvoll vor sich hin. Das mystische an ihnen war jedoch eher der Umstand, dass die beiden sich Nähernden nicht wussten, wer oder was diese Signale angezündet hatte, und zu welchem Zweck sie dort oben aufgehängt wurden.
Da Sebastian an dieser Stelle die Invasion von Torbuks Truppen mit der Unterstützung der Oranutis vermutete, spähte er immer wieder links und rechts der felsigen Untiefen hinaus aufs Meer. Doch weder ein Segel, noch irgend ein Wasserfahrzeug war zu sehen.
Fand die Anlandung etwa an einem ganz anderen Ort statt? Waren die Laternen nur ein Wegweiser, so etwas wie ein Entfernungszeichen? Er musste zugeben, dass er sich in dieser Sache nur allzu rasch in falsche Spekulationen verirren konnte.
Antarona machte sich nicht diese Mühe. Sie verließ sich lediglich auf Fakten. Nahe der Pfähle ging sie in die Hocke und untersuchte den Boden. Ihre Finger tasteten den Sand ab, also könnte sie mit ihnen sehen.
»Ein Menschenwesen ist hier entlanggelaufen, das ist weniger als eine Zentare her«, las sie aus der imaginären Fährte, die Basti nicht zu sehen vermochte.
»Woher weißt du das, wie kannst du das in diesem Licht erkennen?« fragte er sie flüsternd und starrte auf den Sand, der nur einige undeutliche Vertiefungen aufwies. Antarona hielt ihm ein kleines, schwarzes Pünktchen zwischen Daumen und Zeigefinger unter die Augen.
Nun erkannte er es auch. Ein kleiner, zerquetschter Sandfloh. Wie konnte sie aus so einem Fund so sichere Schlüsse ziehen? Er sah sich um, konnte aber keinerlei Spuren entdecken. Dafür verriet ihm seine Frau mehr:
»Es war ein leichter Mensch, eine junge Frau. Seht, Ba - shtie, ihr Lauf ist gerade und leicht, ihre Schritte federnd, sie berührt kaum den Boden. Sie ist gewohnt, wie eine Kriegerin zu gehen. Ihre Füße sind unbekleidet.«
»Und was bedeutet das?« wollte Sebastian wissen. Für ihn waren solche unsichtbaren Zeichen etwas, das er wohl nie würde verstehen können. Antarona erklärte:
»Sie hatte einen kurzen Weg zu dieser Stelle, oder hat ihre Beinkleider irgendwo verborgen. Außerdem trägt sie ein großes Schwert. Seht her, Ba - shtie, ihre Fußabdrücke sind auf dieser Seite tiefer als auf der anderen.«
Sebastian sah gar nichts. Statt dessen fragte er das Krähenmädchen, wieso sie auf ein Schwert tippte, denn es mochte ja auch eine Tasche, oder ein Bündel sein.
»Es war ein Schwert, Ba - shtie«, raunte sie ihm bestimmt zu, »ein Bündel hätte sie auf einer Seite beim Laufen behindert. Ein Schwert hindert nicht, sonst verletzt sich sein Träger.« Sebastian staunte:
»Das alles vermagst du aus Nichts zu erkennen?« Zweifelnd sah er seine Gefährtin an, vertraute aber auf ihr Urteil. Leise fragte er:
»Kannst du auch sagen, wohin diese geheimnisvolle Kriegerin gegangen ist?« Antarona erhob sich anstelle einer Antwort und ging Schritt für Schritt betonend weiter, als müssten ihre Füße einen Weg auf glühenden Kohlen finden.
Die unsichtbare Fährte führte direkt zu den Pfeilern mit den Laternen. Basti war kaum überrascht, denn irgend jemand musste die Dinger ja angezündet haben. Bevor sie aber offen an die Pfähle heran traten, entließ Antarona ihre Sinne in den Wind, der ihr anscheinend zutrug, ob unmittelbare Gefahr lauerte. Dann nickte sie zufrieden und ging zu den einsam stehenden Stämmen hinüber.
»Mag Ba - shtie wissen, wohin die Spur führt, die er nicht zu sehen vermag?« fragte sie leise. Trotz der angespannten Situation triumphierte er innerlich und antwortete:
»Ich vermute mal, sie führt dort hinüber, zu dem sonderbar aussehenden Stein, nicht wahr?« Antarona sah ihn mit großen Augen an. Sebastian hingegen amüsierte sich, denn er hatte versäumt ihr von dem Stein und dem Pfad mit der Treppe zu erzählen. Er hatte richtig kombiniert, dass jene Unbekannte, welche die Laternen angezündet hatte, anschließend über den Pfad den Hang hinauf gegangen war.
Später konnte er Antarona immer noch verraten, dass er den Pfad bereits kannte. Die war inzwischen geduckt zu dem Steindenkmal hinüber gehuscht und hatte es von allen Seiten betrachtet.
»Dies ist ein Zeichen der Gorreiter«, stellte sie leise fest, und er hatte den Eindruck, dass diese Tatsache sie nicht nur ziemlich verwunderte, sondern auch sehr beunruhigte.
»Was hat das zu bedeuten?« wollte er wissen. Nun war er plötzlich wieder der Unwissende. Ungeduldig sah er seine Frau an, die ihn am Arm fasste und in das dichte Dickicht neben dem Bergpfad zog.
»Ba - shtie, dies ist das Zeichen des Bösen, es bedeutet seit jeder Zeit nur Unheil.« Sie zeigte aus dem Dunkel des Unterholzes auf den Mondlicht beschienenen Gedenkstein.
»Dieses Zeichen ist neu, Ba - shtie, der Stein ist sauber und glatt. Er steht noch nicht sehr lange dort.«
»Und was hat das zu bedeuten, was sagt dir das?« forschte Basti bohrend nach. Antarona begann zu erzählen:
»Trámon, der Vater Bentals und Torbuks hatte vor vielen Zentaren Gore für den Krieg gezüchtet, den er einst mit Zarollon führte. Einige Krieger ritten und kämpften auf ihnen und waren bald die wichtigsten und mächtigsten Krieger unter Trámon. Doch einige nutzten ihre Macht für das Böse. Die Gorreiter entzweiten sich in gute und böse Krieger. Nach dem Krieg überfielen die Abtrünnigen mit den Goren Dörfer und Siedlungen, sie brachten Tod und Verderben über das Land. Bevor Trámon starb und Bental den Thron überließ, verbot er die Zucht der Gore und das Reiten auf ihnen.« Sebastian hatte gespannt zugehört, nickte nun gewichtig, und hakte nach:
»Darf ich mal raten? Es haben sich nicht alle Gorreiter daran gehalten, habe ich recht?« Antarona nickte zögernd:
»Es gibt Bauern, Jäger und Reisende, die berichtet haben, dass sie einen Gor mit Reiter gesehen haben. Es mag nicht mehr viele im Volossoda geben, welche mit einem Gor fliegen können. Sonnenherz glaubt nicht, dass es noch welche gibt, doch wenn einige noch fliegen, so denkt sie, dass diese sich in Lehen Torbuks finden.« Sebastian legte seine Hand auf Antaronas Arm und beschwor sie:
»Antarona erinnere dich! Als wir auf dem Weg vom Val Mentiér nach Falméra waren, auf den Bergen, da hatte ich zwei Gore gesehen, und vermutet, dass sie von irgend jemandem gelenkt wurden. Und in der Himmelsburg hatten wir mit Hilfe Frethnals entdeckt, dass Medunzia das Zeichen der Gorreiter trägt, jenes Zeichen aus dem Metall des Mondes, das einen in sich verschlungenen Gor zeigt.« Als Antarona nicht gleich antwortete, fuhr er fort:
»Es ist also wahrscheinlich, dass es noch Gorreiter gibt, und zwar welche von den Abtrünnigen. Und weiter wahrscheinlich ist, dass Torbuk sie für seine Invasion einsetzen will, oder was glaubst du?«
Eigentlich erwartete er keine Antwort, denn sein ungeheuerlicher Verdacht manifestierte sich in seinen Gedanken bereits als Tatsache. Antarona hingegen wollte sich nicht festlegen. Sie raunte ihm leise zu:
»Ba - shtie und Sonnenherz werden es wissen, wenn sie dem Pfad dort folgen, welcher auf den Berg führt, und nachsehen.« Sebastian stimmte zu und flüsterte grinsend zurück:
»Werden wir wohl nicht drum herum kommen, vermute ich.« Sie spähten aus der Finsternis des Gebüschs auf den Pfad, der aber nur stellenweise vom Mondlicht berührt wurde, und schlüpften schließlich aus ihrer Deckung heraus.
Einmal mehr würden sie sich auf Antaronas Sinne verlassen müssen. Dennoch war äußerste Vorsicht geboten. Notfalls mit einem Fischmesser und einem Bowie- Messer gegen ein Schwert anzutreten, konnte für sie möglicherweise unvorteilhaft enden.
Antarona ahnte sich den Weg hinauf. Hier und da drang das Gestirnelicht durch das Blätterdach der Bäume und ließ auf dem Pfad helle Flecken entstehen. Licht und Schatten. Dieser Kontrast, so meinte Basti, behinderte ihre Augen mehr, als er sie sehen ließ. Jede visuelle Struktur lag Finsternis und Helligkeit zugrunde, so dass es schwer wurde, eine Wurzel, einen Stein, oder einen quer über dem Weg liegenden Baumstamm zu erkennen.
Mehr als einmal stolperte Sebastian, schlug sich das Schienbein an, holte sich am Oberschenkel eine Schramme, oder stieß mit den Zehen an einen im Schatten lauernden Stein, der plötzlich und unerbittlich vor seinen Fuß sprang. Sein Fluchen zu unterdrücken gelang ihm noch, doch die Geräusche, die seine Fortbewegung verursachte, schienen geradezu durch den Wald zu brüllen.
Einige Male blickte sich Antarona tadelnd zu ihm um und legte ermahnend die Finger auf ihre Lippen. So tasteten sie sich den Pfad hinauf, der mal über Felsstufen ging, mal durch dichtes Gestrüpp, dann wieder ein Stück weit auf matschigem Boden, und wieder über Baumwurzeln, die wie eine natürliche Treppe über den Weg gewachsen waren.
Hin und wieder erlaubte der Bewuchs einen Blick hinunter. Sie sahen am schmalen Band des Strandes und am schimmernd daliegenden, weiten Meer, dass sie schon eine ganz beachtliche Höhe erklommen hatten. Gelb stand der Mond über dem Wasser und schien darüber nachzudenken, ob er nun hinabtauchen sollte, oder nicht.
Unablässig arbeiteten sie sich höher, begannen zu schwitzen, und spürten, wie der leichte, warme Wind den Schweiß auf ihrem Körper trocknete, sobald sie einmal innehielten. Da sie den Weg nicht kannten, musste Antarona immer wieder anhalten und sich weiterdenken, denn sie wollten nicht plötzlich am Ende des Steigs aus dem Wald stolpern, direkt in die Arme möglicher Feinde.
Einmal glaubte Basti windverwehte Stimmen zu hören, doch dann vernahm er wieder nur das Rauschen und Wispern der Blätter im Wind. Noch einmal ging es über schroffe Felsen hinauf, und ohne Antaronas Gabe hätte sich Sebastian an dieser Stelle hoffnungslos verlaufen.
Dann wurde der Weg breiter und flacher, das Gebüsch nahm ab und die mächtigen Stämme der Bäume standen wie schwarze Säulen im silbernen Licht, das beinahe waagerecht vom Meer her einfiel, und den Wald so gespenstisch erscheinen ließ, als wäre er von Menschenhand für die Kulisse eines Gruselfilms geschaffen worden.
Ein plötzliches, knarrendes Geräusch ließ Sebastian zusammenfahren, und der Schreck fuhr ihm in die Glieder. Er blieb wie versteinert stehen, wagte nicht einmal zu atmen. Da. Wieder dieses klagende, Knarren, das ein wenig klang, wie ein leises Ächzen und Stöhnen. Von weiter vorn kam es.
Ungeduldig drehte Antarona sich zu ihm um, und hob in fragender Geste ihre Hände. War sie so darauf fixiert, den Weg zu erfühlen, dass sie die knärzende Stimme nicht gehört hatte? Er zeigte auf sein Ohr, legte den Kopf schief, und wies mit der Hand unbestimmt voraus in den Wald. Das Krähenmädchen winkte gleichgültig ab, streckte dann aber einen Oberarm in die Höhe, fasste ihn mit der Hand und bewegte ihn hin und her. Anschließend zeigte sie auf die in die Nachtschwärze ragenden Baumstämme.
Erneut erklang das leise Wimmern und Knören. Doch diesmal atmete Basti erleichtert auf. Er hatte begriffen. Es waren die uralten Bäume, deren Stämme sich im leichten Wind hin und her wiegten, und deren Holz in verschiedensten Tönen quietschte und knarrte, als protestierten sie gegen ihr eigenes Wanken.
Wie konnte er sich nur so ins Bockshorn jagen lassen? Er, der große Bergsteiger, der soundso viele Male vor Sonnenaufgang in Wäldern unterwegs gewesen war, um einen Einstieg, eine Scharte, oder einen Hochgebirgspass zu erreichen. Tausend Mal hatte er die Stimmen des Holzes gehört, wenn der Wind in die Wipfel der Bäume fuhr.
Auf leisen Sohlen schlichen sie weiter, inzwischen durch dichten Kiefernwald. Die Stämme der Bäume wurden schlanker und wuchsen nicht mehr so hoch. Als unvermittelt ein grässlicher, schriller Schrei durch den Hochwald hallte, rutschte Sebastians Herz bis in seine Kniekehlen. Wie eine Welle rollte der schaurige Klang durch die Bäume, und Basti meinte sogar ein Echo zu hören. Diesmal war auch Antarona stehen geblieben. Er trat neben seine Frau und flüsterte ihr zu:
»Das war kein Baum. Das war definitiv ein Gor. Und wenn du mich fragst, klang der ganz schön sauer.« Dass Antarona die Redewendungen aus seiner Welt nicht kannte, und ihn deshalb fragend ansah, daran hatte er sich im Laufe der Zeit gewöhnt. Fahrig winkte er ab.
»Ist nicht so wichtig. Aber ein Gor sitzt dort oben, das ist mal sicher«, bemerkte er besorgt, »und ich weiß nicht, ob der uns wittern kann.« Antarona sagte nichts, versuchte unterdessen den dunklen Wald mit ihren Augen zu durchdringen. Doch sie vermochten ja nicht einmal zwanzig Meter weit zu sehen. Sebastians raunende Stimme klang unsicher:
»Weißt du, ob diese Biester besser hören und sehen, oder besser riechen können? Weißt du überhaupt etwas über diese Wesen? Nicht, dass wir noch direkt in seine Klauen laufen. Wir wären bestimmt ein willkommenes Frühstück, der müsste noch nicht mal lange auf unseren Klamotten herumkauen.«
Mit seinem Sarkasmus, den er in diesem Moment nur aus Angst zu Tage förderte, vermochte das Krähenmädchen rein gar nichts anzufangen. Immer wieder verfiel er in Ausdrücke die jedem in seiner Welt geläufig, Antarona jedoch völlig unbekannt waren. Sie hob unwissend die Schultern.
»Sonnenherz kennt die Gore nicht sehr gut, aber sie kann versuchen, ihre Sinne zu fühlen«, schlug sie vor. Basti hörte aber auch aus ihrer Stimme eine gewisse Unsicherheit heraus und beschwichtigte:
»Nein, lass mal gut sein, erst mal sehen, mit was wir es überhaupt zu tun haben.« Nicht, dass sie dem Vieh am Ende noch ihre Anwesenheit verrieten. Also schlichen sie langsam weiter. Nach einer Weile wurde es leicht neblig, dafür aber heller. Das Mondlicht flutete nun seitlich durch den Wald, der auf der zur See gewandten Seite immer lichter wurde.
Auf der Flussseite hingegen schien das Holz dichter und höher zu wachsen. Um möglichst viel Deckung auszunutzen, huschten sie auf dieser dunkleren Seite von Baumstamm zu Gebüsch, von Strauch zu Fels, und wieder hinter einen Baum.
Da eröffnete sich ihnen ein hell erleuchteter Platz, in Form einer weiten Wiese. Nebelschwaden zogen auf ihr dahin, vom Seewind herangetragen, Land einwärts getrieben. Etwas Geisterhaftes prägte die Stimmung. Rechts, wo der Hang zum Meer hin abfiel, ragten einige Klippen als gezackte Schatten in die Höhe und verdeckten den Mond. Über die Hochweide hatten sich die langen, bizarren Schatten der Felsen gelegt.
Aus einem dieser spitzen Schatten hatte sich gerade eine Bewegung gelöst. Vorüberziehende Nebelfetzen ließen nur schwer erkennen, was sich dort abspielte. Antarona gab Sebastian ein Handzeichen, ihr im Schutz der Bäume zu folgen. Lautlos schlichen sie auf der Flussseite um die riesige Lichtung. Zwei, oder drei Felsen, die als mächtige Findlinge am Waldrand lagen, mussten sie umrunden, um näher an das Geschehen zu gelangen, ohne gesehen zu werden.
Als sie um die dritte Felsformation herum kamen, hielt Antarona plötzlich an. Basti trat hinter sie und über die Steinkante spähten sie auf die weite Fläche kurzen Grases. Der Nebel hatte sein Geheimnis enthüllt. Sebastian hielt die Luft an und wagte sich nicht mehr zu regen.
Ein mächtiges Lebewesen, und er hätte schwören können, dass es ein Saurier war, stand auf der freien Wiese. Das Tier sah jenem ähnlich, das ihn auf Högi Balmers Weide überrascht hatte. Nur größer. Er vermutete, dass er damals ein Jungtier vor sich gehabt hatte, und dass dieser Umstand vielleicht dafür verantwortlich war, dass er die Begegnung überlebt hatte.
Die Schuppen auf seinem Rücken schienen bei diesem Exemplar ausgeprägter zu sein. Außerdem hatte dieser Gor eine eher graue Färbung, was aber dem Mondlicht zugeschrieben werden konnte. Das Tier war nervös, unruhig, scharrte mit den Krallen im Boden und schüttelte unwillig den mächtigen Kopf. Dampfwolken traten in Intervallen aus Nüstern und Maul, und Basti meinte sogar eine Reihe blitzender, und spitzer Zähne erkennen zu können.
Eine Leine, oder Kette hielt den großen, von kleinen, kurzen Hörnern übersäten Kopf am Hals nieder. Als sich das Tier wieder bewegte, wichen die beiden heimlichen Beobachter ein Stück hinter den Felsen zurück. Sie waren dem Tier näher gekommen, als vermutet. Das ungewohnte Licht mochte ihnen eine weitere Entfernung suggeriert haben.
Vor dem Gor stand eine kräftige, etwas gedrungene Gestalt, deren Profil halb vom Hals des Tieres verdeckt war. Doch an der Silhouette der Person erkannte Basti, dass sie einen Kriegsrock und ein Schwert trug. Er zog sich noch weiter hinter den Felsen zurück und zog Antarona mit sich.
In der Deckung fragte er mittels Zeichen, ob die Person jene sein konnte, die über den Strand gelaufen war. Antarona schüttelte bestimmt den Kopf und bedeutete ihm, dass diese Gestalt dort beim Gor zu massig war. Vorsichtig lugten sie wieder über die Felskante.
Da löste sich aus dem Schatten des riesigen Tieres eine zweite Person, in der man zweifelsohne anhand ihres Profils eine schlanke Frau erkennen konnte. Auch sie trug einen Kriegsrock und ein Schwert. Die beiden Menschenwesen schienen sich zu unterhalten. Antarona wies stumm auf die zuletzt aufgetauchte Person und bedeutete Basti, dass sie jene vom Strand sein musste.
Sie beobachteten eine Weile und es sah so aus, als diskutierten die beiden geheimnisvollen Gestalten miteinander. Dann verschmolz die Silhouette der Frau mit dem Gor, der sich nun wieder nervös hin und her bewegte. Anstatt der Schatten der Frau wieder neben dem Drachen auftauchte, wuchs er zu Bastis Erstaunen über dem Gor in den Nebel. Offenbar hatte die Frau den Rücken des Tieres erklommen. Nun erst erkannte Sebastian, dass sich irgend eine Art flaches Gestell auf den Vorderschultern des Tieres befand, auf dem die Frau offensichtlich saß.
Das Tier zerrte an seiner Kette und die gesetztere Person versuchte es offenbar zu beruhigen. Anscheinend war die Frau etwas Ungewohntes auf seinem Rücken, das es am liebsten abgeschüttelt hätte. Bevor der Gor aber richtig wild werden konnte, verschwand die Frau auf seinem Rücken und tauchte schließlich wieder neben der anderen Person auf. Was dann geschah, ließ Basti den Atem anhalten.
Die beiden heimlichen Besucher ließen den Gor auf der Lichtung zurück und kamen gemächlichen Schrittes, und in ein Gespräch vertieft auf Antarona und Basti zu. Ihre Stimmen wurden deutlicher, durchdrangen den Nebel und fanden in die Ohren der beiden halb nackten Beobachter, die sich in den Schatten der Felsformation zurückzogen.
Etwa zwei Meter vor der Steinburg blieben die beiden Personen stehen. Deutlich waren nun ihre Stimmen zu vernehmen, und die beiden schienen sich keine Mühe zu geben, leise zu sprechen. Sie gingen offenbar nicht davon aus, dass sie belauscht werden könnten.
Antarona und Sebastian, die gerade mal in vier oder fünf Metern Entfernung hinter dem Steinblock kauerten, wagten sich nicht zu mucksen. Sie lauschten angespannt den Stimmen, die sich zu Bastis Verwunderung als zwei Frauenstimmen herausstellten.
»...ist der große Herr sehr unzufrieden. Er will wissen, wie das geschehen konnte, und fordert, dass die beiden verschwinden sollen. Wie ihr das anstellt ist ihm gleich, er hat euch entlohnt und will nun Ergebnisse sehen.« hörten sie die eine Frau, offenbar die Ältere, in forderndem Ton sagen. Ein leises, klingelndes Scheppern unterbrach kurz die Unterhaltung. Wahrscheinlich schlug das Schwert einer der beiden Frauen gegen den Felsen. Die Frau fuhr nun fort:
»Es muss doch jemanden geben, der bereit ist, die beiden und ihre Anhänger in das Reich der Toten zu schicken, erzählt mir nicht, dass sich keiner von euch einen Beutel mit den Tränen der Götter verdienen will.«
»Ich wäre die allererste, welche ihnen das Schwert durch die Rippen stoßen wollte, doch so einfach ist das nicht«, antwortete nun die andere Frauenstimme, »sie sind schwer zu überrumpeln, und sie haben viele Anhänger. Sie werden bewundert, weil sie sich geben, wie welche aus dem einfachen Volke. Es ist schwer an sie heran zu kommen, ohne sich den Zorn aller auf den Leib zu hetzen.« Die erste Stimme klang nun etwas weiter weg, als hätte sich ihre Besitzerin ein Stück vom Felsen entfernt:
»Ach was, ihr bekommt jede Unterstützung, die ihr wollt. Sogar einen eigenen Wasserwagen lässt der große Herr euch senden, wenn ihr sie lebend ausliefert. Aber machen müsst ihr es! Und beliebt ist jemand nur so lange, wie er für alle da ist. Sind sie erst einmal fort, so werden sie rasch auch vergessen sein, Legende hin, oder her.«
Nach diesem Vortrag hielt erst einmal eine kurze Stille Einzug. Nur das Schnauben und ruhige Atmen des Gor war noch zu hören. Dann schien sich die zweite Stimme entschieden zu haben:
»Gut, ich will es versuchen, aber es wird nicht wenig kosten, einige Mutige dazu zu überreden. Ich will nicht gierig erscheinen, aber mit schönen Versprechungen und guten Worten wird sich kaum jemand überzeugen lassen.«
»Da habt ihr«, erwiderte nun die erste Stimme. Antarona und Sebastian hörten ein leises Klingeln und mussten nicht lange raten, was dort von Hand zu Hand ging.
Gold, die Tränen der Götter waren von König Bental verboten worden. Jedenfalls für das gemeine Volk. Zu sehr hatte das gelbe Metall aus den sagenumwobenen Hallen von Talris die Seelen der Menschenwesen vergiftet. Das Volk der Îval sollte ohne den Erfolgszwang des Sonnenmetalls leben. Doch wie es schien, war dem König sein Vorhaben nicht ganz gelungen.
»Wo das herkommt, gibt es noch mehr«, stellte nun die fordernde Stimme in Aussicht, »denkt immer daran, wenn Torbuk erst mal auf dem Thron sitzt, könnt ihr damit alles bekommen, was euer Herz begehrt.«
Dann wurden die beiden Stimmen leiser. Anscheinend entfernten sich die beiden Frauen wieder vom Felsen. Außerdem frischte der Wind ein wenig auf, so, wie es zum Morgen hin gewöhnlich geschah. Dadurch drangen nur noch einzelne Gesprächsfetzen zu den beiden Lauschern herüber:
»...wann der große Herr seine Hauptmacht schicken wird.., ...bis dahin alles vorbereiten.., ...können die Stadt nicht einnehmen, solange der.., ...zum neuen Mond.., ...Quaronas.., ...Kareks Truppen setzen...« Dann war ihre Unterhaltung nicht mehr zu verstehen. Basti traute sich einen Blick über die Steinkante und stellte fest, dass die beiden Frauen zum Gor zurückgekehrt waren, und die stämmigere von beiden das Tier am Hals tätschelte, was dem Ungetüm offenbar gefiel, denn es grunzte zufrieden.
Sie beobachteten, wie die beiden sich die Hände reichten, oder sich noch etwas übergaben, bevor beide in den mächtigen Schatten des Drachen traten. Kurz darauf erschien eine Gestalt auf dem Rücken des Monsters. Die andere trat wieder aus seiner Silhouette heraus und blieb gebückt davor stehen.
Es sah so aus, als hantierte sie mit irgend etwas. Gleich darauf war klar, was sie getan hatte. Eine Leine oder Kette flog durch die Luft, und beinahe gleichzeitig flammte ein Feuer auf. Jene, welcher Antarona und Basti die zweite Stimme zugeschrieben hatten, entzündete eine Fackel.
Augenblicklich wurde der Kopf des Ungeheuers beleuchtet, sowie sein Oberkörper. Die Fackel brannte nur kurz, und die beiden Beobachter vermochten nicht zu sagen, welchen Zweck sie erfüllen sollte. Doch im kurzen, aufflammenden Schein erhaschten ihre Augen ein par Details.
Sebastian konnte erkennen, dass die Frau auf dem Gor dunkle, und jene am Boden helles, langes Haar besaß. Der Gor war wohl ein älteres Tier, dem ein regelrechtes, aufwendig geknüpftes Ledergeschirr angelegt worden war. Antarona vermochte, wie sich später herausstellte, noch mehr erkennen.
Sie sah, dass die Gorreiterin Eisen beschlagene Stiefel trug, die andere Frau sich aber nur leichte Sandalen um den Hals gehängt hatte. Doch soviel konnte das Krähenmädchen erkennen: Diese Art der Sandalen wurden auf dem Markt in Falméra feil geboten, stammten aus dem Import aus Oranutu und wurde ausschließlich von den Oranuti in den Handel gebracht. Ihr weiches Leder war unter den Îval sehr beliebt.
Außerdem konnte Antarona erkennen, dass die Reiterin einen Umhang trug, den sie zwar noch nie gesehen hatte, der aber den Überlieferungen nach in der Art nur von den alten Gorreitern getragen wurde. Dazu glaubte sie erkannt zu haben, dass die Frau am Boden einen Kopfschmuck der Elsirentänzerinnen, oder ein verziertes, glitzerndes Haarband trug, das ihre Haarpracht zusammenhielt.
Die Zeit, mehr zu beobachten, hatten sie nicht, denn kurz darauf stand der Gor auf, wuchs wie ein sich bewegender Berg in die anbrechende Morgendämmerung und drehte sich, wobei sein gezackter Schwanz, den er zur Steuerung im Flug zu nutzen schien, wie eine Peitsche durch die Luft sauste, so dass Antarona und Sebastian das pfeifende Geräusch hören konnten.
Gleich darauf breitete das Tier die Flügel aus, die mächtiger waren, als Sebastian es von alten Drachenbildern her kannte. Sie waren wesentlich breiter, und hatten eindeutig mehr Spannweite. Der helle Streifen, der über dem Meer die Morgendämmerung ankündigte, leuchtete durch die Flügel, was Sebastian bewies, dass sich die Flugarme des Ungetüms aus dünner Haut und leichten Röhrenknochen bestanden.
Die Frau am Boden hob zum Gruß die Hand, als der Gor Anlauf nahm, die Schwingen ausbreitete, und schließlich mit einem Rauschen abhob. Mühevoll, oder gar schwer sah das Ganze nicht aus, eher elegant. Mit einem kreischenden Schrei, der durch alle Glieder fuhr und Sebastian zusammenfahren, und seinen Kopf einziehen ließ, zog er noch einen Kreis über dem Platz und verschwand dann über der Kante des Plateaus.
Basti kniff die Augen zusammen. Er wollte sehen, in welcher Richtung der Gor davon flog, doch er konnte das Tier mit seiner Reiterin nicht mehr ausmachen. Statt dessen sah er die Frau mit den hellen Haaren auf den Pfad zugehen, der am Drachenstein und an den Laternenpfählen endete.
Leise stubste ihn Antarona an. Mit eindeutigen Zeichen gab sie ihm zu verstehen, dass sie der Frau in sicherem Abstand folgen sollten. Es lag auch in Sebastians Interesse, mehr über diese Verräterin zu erfahren, und so warteten sie, bis diese von der dunklen Mauer des Waldes verschluckt worden war, dann schlichen sie hinter ihr her.
Offenbar hatte die Frau wieder ihre Sandalen angezogen, den ab und zu hörten sie ihre Auftrittgeräusche auf einer Felsplatte, oder auf dem Waldboden. Wenn es ihnen gelang herauszufinden, wohin die Frau ging, dann konnten sie darüber nachdenken, wie mit ihr zu verfahren war. Doch sie mussten vorsichtig sein. Verschreckten sie die Verräterin, so würde diese sie ganz gewiss nicht dorthin führen, wo man sie entlarven und ihrer habhaft werden konnte.
Immer wieder blieben Antaronas und Basti stehen, lauschten in den Wald hinein, in dem noch stockfinstere Nacht herrschte, gingen weiter, wenn sie wieder die Schritte der Frau hörten, und blieben aber in gebührendem Abstand zu ihr. Weiter unten blieben sie im Wald zurück, beobachteten aber durch eine Lücke im Unterholz, wie die Frau behände wie ein Äffchen die Pfähle erkletterte und die Laternen löschte. Dann zog sie sich erneut ihre Sandalen aus und ging am Strand entlang in Richtung Fluss.
Sebastian fragte sich, ob sie nicht den Rauch aus dem Kamin der Hütte wahrgenommen hatte. Möglicherweise hatte sie aber auch geglaubt, der Fischer sei zurückgekehrt, und würde ihr ohnehin nicht gefährlich werden können. Als sie aus dem Blickfeld verschwand, huschten Sebastian und Antarona zum Strand hinunter, hielten sich aber weiterhin im Schatten der Bäume.
So schlichen sie zwei, drei Minuten weiter, als sie ein deutliches Getrappel vernahmen. Noch ehe sie reagieren konnten, sahen sie unten am Strand eine Reiterin auf einem Pla-ka vorüber preschen. Sie lenkte das Reittier durch das flache Wasser, denn gegen die aufkommende Dämmerung sahen sie deutlich das Aufspritzen bei jedem Hufschlag. Dass die Frau anstelle den Fluss hinauf, in die entgegengesetzte Richtung ritt, verwunderte die beiden mehr, als die Tatsache, dass sie irgendwo einen Pla-ka verborgen hatte, mit dem sie ihnen nun direkt vor der Nase entwischte.
»Tja, Spuren werden wir dann ja wohl keine mehr finden«, bemerkte Sebastian enttäuscht und mit säuerlichem Ton. Doch Antarona beruhigte ihn:
»Sie muss ja irgendwo wieder aus dem Wasser heraus. Dort wird Sonnenherz ihre Fährte aufnehmen. Was denkt Ba - shtie über diese Frau?«
Die Frage kam für ihn etwas spontan und er musste eine Weile darüber nachdenken. Die Frau auf dem Gor konnte wer weiß wer sein, dass wussten nur die Götter allein. Doch dachte er an die Frau mit den hellen Haaren nach, so schrie ihm sein Geist automatisch zu: Eisilia von Kandar! Konnte das sein?
Sie hatte außerordentlich tapfer gegen Torbuks Soldaten gekämpft. Dass sie Antarona und ihn als unliebsame Konkurrenz ansah, stand außer Frage. Aber eine Verräterin an ihrem Volk, an den Jo-lie und den Îval? Außerdem ritt sie eindeutig in die falsche Richtung. Wäre sie bemüht gewesen, ihre Abwesenheit aus Mehi-o-ratea zu verheimlichen, so hätte sie doch wohl den direkten Weg zurück, eben am Fluss entlang genommen.
Wen sie für ein Sackchen voller Gold beseitigen sollte, war hingegen ziemlich klar. Und dass mit dem Großen Herrn niemand anderer, als Torbuk selbst gemeint war, galt ebenfalls als sicher. Zu Antarona sagte er:
»Nun weißt du, wie viel unser Leben wert ist. Eine Hand voll Tränen der Götter. Außerdem wissen wir jetzt, wo Torbuk seine Truppen mit den Wasserwagen aus Oranuti landen will. Nur wann.., das werden wir wohl nur herausfinden, wenn wir die Wiese dort oben weiter beobachten.« Damit machte er eine weisende Kopfbewegung den Hang hinauf.
Gleichzeitig wurde ihm klar, warum die Frau das Feuer in der Hütte nicht bemerkt hatte. Sie hatte den Pla-ka zwischen dem Fischerhaus und den Laternenpfählen im Wald verborgen, und war an der Jaen-tè gar nicht vorbei gekommen. Allerdings war ihm nicht so recht klar, warum Antarona und er das Tier nicht bemerkt hatten, als sie am Wald entlang geschlichen waren. Antarona war auffallend still, antwortete nicht, und Basti wandte sich zu ihr um.
Auf Knien hockte sie im Sand und schien die Morgensonne anzubeten, die sich farbenprächtig bemühte, ihre strahlende Scheibe aus dem Meer zu heben. Doch sie rief nicht nach Talris, dem höchsten Gott, sondern nach etwas weniger Spektakulärem. Sebastian kannte das schon.
Nach kurzer Zeit kamen Tekla und Tonka über dem Wald heran gesegelt und ließen sich vor dem Krähenmädchen nieder, und für Basti sah es so aus, als putzten sie ihr Gefieder und ließen ihre menschliche Freundin lediglich als Beobachterin zu. Doch er wusste es besser. Durch den beiderseitigen Austausch telepathischer Art erfuhr Antarona stets Begebenheiten, die ihr ohne die gefiederten Freundinnen verborgen bleiben würden.
Kurz darauf hoben die beiden Krähen wieder ab und flogen in der Richtung davon, in der die geheimnisvolle Frau verschwunden war. Wenn Antaronas Schwarzvögel den Verbleib der Frau aufklärten, so mussten sie sich ja nicht außerordentlich beeilen, dachte Sebastian. Doch das Krähenmädchen marschierte in ihrer Leichtfüßigkeit den Strand entlang, dass er Mühe hatte, Schritt zu halten.
»Tekla und Tonka stellen doch fest, wohin die Frau reitet, warum müssen wir uns dann so abhetzen«, stieß er unter leichter Atemnot hervor.
»Sie werden Sonnenherz nur erzählen, wo die Frau den Strand verlässt«, klärte sie ihn auf, »wohin sie sich dann wendet, werden Ba - shtie und Sonnenherz selbst sehen.« So ganz verstand Basti nicht, wieso die beiden Krähen die Frau nicht bis dorthin verfolgen konnten, wo diese ihre Heimstatt hatte, doch er fragte nicht weiter nach.
Die frische Luft des neuen Morgens brachte kühlen Wind, und er war ganz froh, etwas Bewegung zu haben. In diesem Augenblick blendeten ihn die ersten Strahlen der Sonne, die ihre glühende Scheibe aus dem Meer schob. Mit einem Mal schien die See zu brennen. Das Feuer Talris breitete sich über die Wasserfläche aus, flutete als rotes Licht darüber hin, wurde gelb und heller, und erlosch schließlich, als der Sonnenball über dem Horizont stand.
Ein klarer, warmer Tag kündigte sich an, wie einer jener Tage, die Sebastian aus seiner Kindheit kannte, wenn er Sommerferien hatte, und bereits am frühen Morgen in der Badehose durch den elterlichen Garten springen konnte. Ihre Kleidung war unter dieser Voraussicht zwar ungewollt, aber passend gewählt. Doch was taten sie, wenn ihnen diese Spionin irgendwo auflauerte, womöglich noch mit Verstärkung? Ihre beiden Messer gegen Schwerter, oder Bogen, das würde ein ungleicher Kampf werden.
Parallel dachte er daran, dass sie ihre Waffen in der Hütte gelassen hatten. Zumindest Nantakis, Antaronas Schwert sollte nicht in fremde Hände geraten. Aus der Unterhaltung der beiden Frauen auf dem Plateau wusste er aber, dass zumindest die Hellhaarige in Mehi-o-ratea ein- und ausgehen musste. Es war mehr als wahrscheinlich, dass sie mit ihren Anhängern die Hütte Bastis und Antaronas durchsuchen würde. Fiel ihr dabei Nantakis in die Hände, wäre das ein katastrophaler Verlust für die Îval.
Wie immer spürte Antarona seine Gedanken. Ohne ihren Laufschritt zu verlangsamen, sagte sie in erstaunlich ruhigem Ton:
»Darum müssen Sonnenherz und Glanzauge schnell herausfinden, wer diese Frau ist, wohin sie geht, und was sie vor hat. Sie ist eine Verräterin am Volk der Îval und der Jo-lie. Die Jo-lie werden über sie richten, denn Falméra ist weit.«
Soweit hatte Sebastian noch gar nicht gedacht. Doch nun, da er über die kommenden Optionen nachdachte, fand er die Idee genial, die Frau notfalls dazu zu benutzen, der Gorreiterin eine Falle zu stellen. Denn die schien ja eindeutig Torbuks Augen zu sein. Konnten sie diese ausschalten, musste sich der Feldherr von Quaronas etwas Neues einfallen lassen, um seine Truppenlandung zu koordinieren. Dabei wusste Basti freilich nicht, wie viele dieser alten Gorreiter es noch gab.
Nach und nach, zwischen mehreren Spurts, teilte er seiner Frau die Überlegungen mit. Er kam sich vor, wie ein übersättigter Geschäftsmann in einer zivilisierten Großstadt, der beim morgendlichen Jogging Mühe hatte, mit dem Tempo seiner viel jüngeren Geliebten mitzuhalten, die ihn nur hinter sich her stolpern ließ, weil er sie finanziell aushielt. Er verzog angewidert das Gesicht. Eine Vorstellung, die ihm in seinen Gedanken lächerlich und entwürdigend erschien.
Automatisch straffte er sich und legte noch ein Stück Elan zu. Der Strand wechselte inzwischen von feinem Sand zu kleinen, rund gewaschenen Steinchen, auf denen sie sich fortbewegten, wie auf Granulat. Je weiter sie nach Süden kamen, desto grobsteiniger und schmaler wurde der Streifen zwischen Land und Meer. Sebastian vermutete, dass die Landmasse noch weiter südlich in steilen Klippen zur See abfiel.
Doch so weit kamen sie nicht. In einer kleinen Bucht, in die sich ein kleiner Fluss ergoss, und die sich links und rechts durch kleine Felsformationen abtrennte, warteten Tekla und Tonka. Die beiden Schwarzvögel hockten auf einer Felskante und Sebastian meinte ihnen anzusehen, wie sie sich langweilten.
Nachdem sie mit ihrer humanoiden Freundin kommuniziert hatten, was nur einen Moment dauerte, segelten sie im Aufwind davon. Antarona wies Land einwärts.
»Jene, die mit der Gorreiterin sprach, ist dort entlang geritten. Ba - shtie und Sonnenherz werden ihre Spuren am Fluss finden«.
Der Fluss entpuppte sich als ein etwas größerer Bach, der kristallklares Wasser führte, und über unzählige Felsklippen herabgerauscht kam. Sebastian kamen deutliche Zweifel, dass die Frau dort mit ihrem Pla-ka hinauf geritten war. Wenn überhaupt, so hatte sie absitzen, und das Reittier führen müssen, um die Kaskaden zu erklimmen.
Entgegen Bastis Skepsis fand Antarona sofort eine Fährte. Zwischen zwei Felsplatten hatte sich Sand und Erde gesammelt. Genau dort prangte ein sauberer Hufabdruck. Entweder fühlte sich die Reiterin absolut sicher vor Verfolgern, oder aber sie war sehr unvorsichtig. Vermutlich rechnete sie nicht damit, dass sich jemand in diese unwirtliche Gegend verlief.
Lange brauchten sie dem Wildwasser nicht zu folgen. Der Wald wurde dichter, das Gelände dafür flacher. Deutlich war nun ein schmaler Wildpfad zu erkennen, den Hirsche, oder andere große Paarhufer getreten haben mussten. Offenbar hatte sich die geheimnisvolle Frau den Wildwechsel schon vor langer Zeit zunutze gemacht, denn Antarona fand eine Menge Spuren, die nicht von Wildtieren stammten.
»Die Verräterin fühlt sich sicher, denn sie hält es nicht für nötig auf stillem Pfad zu gehen«, bemerkte das Krähenmädchen abfällig, und fügte noch hinzu:
»Sie glaubt das Land der Îval und der Jo-lie bereits in der Hand des Tyrannen Torbuk, und denkt, sie mag es mit Missachtung treten. Doch sie wird der Strafe Talris nicht entgehen. Seht her, Ba - shtie, ihr Pla-ka tritt eine deutliche Fährte.«
Für ihn aber war die Fährte nur allzu deutlich. Obwohl es keinen Beweis dafür gab, musste Sebastian ständig daran denken, dass sie möglicherweise einer bewusst gelegten Spur folgten und dass sie irgendwo ein Hinterhalt erwartete. Doch er schwieg, denn er wusste, dass Antarona auf der Hut sein würde.
Die Spur führte sie Kilometer weit durch dichten Wald, wo tatsächlich hinter jedem Baum ein verborgener Schütze mit gespanntem Bogen auf sie warten konnte. Zur linken Seite hin, also dort, wo Sebastian Mehi-o-ratea vermutete, erstreckte sich ein Höhenzug, dessen Kamm von Nadelbäumen zu schroffen Felsen, immer wieder sein Antlitz wechselte.
Auf der anderen Seite schien sich der Dschungel unendlich fortzusetzen. Dort aber wo der Wald den Blick nach Süden frei gab, wuchsen dunkle Felsen in schwindelnde Höhen. Bastis geografischer Orientierungssinn sagte ihm, dass diese natürlichen Steinmonumente zu jenem Gebirge gehören mussten, das er auf den Karten in der Bibliothek der Himmelsburg gesehen hatte, das den südlichen Teil der Insel Falméra beherrschte und sich bis weit in die Küstenregionen im Osten erstreckte.
Es waren die Felsenberge, in die sich die Jo-lie hätten zurückziehen sollen, wäre der Angriff auf Torbuks Invasionslager missglückt. Sebastian spürte, dass sie von dort, wo sie am Vortag übermütig in den Fluss gesprungen waren, bis zu diesem Wald, einen weiten Halbkreis beschrieben hatten, und sich irgendwann unweit jener Stelle befinden mussten, an welcher der Fluss, an dem ihre Jaen-tè lag, einen Bogen beschrieb. Nur eben auf der anderen Uferseite.
Noch aber folgten sie einem Pfad ins Unbekannte. Als dieser mehr und mehr in die Richtung der Berge führte, wurde Sebastian misstrauisch. Plausibel wäre gewesen, wenn die verräterische Frau sich nun Mehi-o-ratea zugewandt hätte. Statt dessen führten ihre Spuren eindeutig zu den Felsen im Süden hin, einer Gegend, die als unbewohnt galt, als abgeschieden, schroff und öde.
Sebastian begann wieder Steine zu sammeln. Eine Weile beobachtete Antarona sein ständige Bücken und Aufheben. Dann sagte sie unter missbilligendem Blick:
»Wollt ihr schon wieder einen Gor tot schmeißen, Ba - shtie?« Er nahm ihr den Spott nicht übel, hielt statt dessen an und fragte:
»Sag mal, ist dir denn an diesem Weg gar nichts aufgefallen?« Dabei wies er mit ausgebreiteten Handflächen auf die deutliche Hufspur des Pla-ka, von der sie sich seit Stunden leiten ließen. Antarona sah eine gefühlte Ewigkeit auf die Abdrücke im Boden, bis sich ihre Miene verfinsterte.
»Sonnenherz war durch ihren Eifer mit der Nacht der Augen belegt. Nun sieht sie, dass der Pla-ka nur auf Stellen getreten ist, die eine deutliche Fährte hinterlassen. Dies tut ein Reiter, wenn er Verfolger in die Falle lockt.« Sebastian nickte gewichtig.
»Aber das allein ist es nicht, was mir Sorgen macht«, sprach er weiter. Während er mit den gesammelten Steinen in den Händen spielte, versuchte er ihr zu erklären:
»Wir sind beinahe im Kreis gewandert. Überleg doch mal. Von Mehi-o-ratea den Fluss herunter bis zum Meer, dann am Strand entlang der wandernden Sonne zu bis zur Bucht. Dann waren wir der Spur nach der aufgehenden Sonne gefolgt und sollten bald den Kreis schließen, nämlich dicht beim Dorf der Jo-lie, was verständlich wäre, denn nachdem was wir wissen, ist die Verräterin aus Mehi-o-ratea.«
Einen Augenblick schwieg Basti, um Antarona Gelegenheit zu geben, seinen Gedanken zu folgen, dann zeigte er wieder auf die augenfällige Spur.
»So, und wohin führt nun diese Spur?« Er ließ die Frage offen im Raum stehen, bevor er die Antwort selbst gab:
»Ins Nichts, so wie es aussieht, nicht wahr? Und nun frag' dich mal, warum wohl.« Er sah zu, wie es offensichtlich hinter ihrer Stirn arbeitete.
Dann hockte sie sich hin und rief ihre beiden Krähen herbei, während Sebastian die Umgebung im Auge behielt, denn hinter jedem Baum, jedem Gebüsch konnten bereits die mit Gold bezahlten Meuchelmörder lauern.
Es dauerte nicht lange, bis die beiden Schwarzvögel auftauchten und ebenso rasch wieder im Gewirr der Bäume verschwanden. Antarona und Basti entfernten sich einige Meter vom Wildpfad und warteten. Leise, wie in Gedanken versunken, begann das Krähenmädchen zu sprechen:
»Jene, die Tränen von den Göttern erhielt, um Sonnenherz und Glanzauge zu töten, kennt sich im Land jenseits des Flusses gut aus. Sie muss bereits eine lange Zeit in Mehi-o-ratea sein und ist somit älter, als die meisten Jo-lie. Sie hat ein Pla-ka, etwas, das die Jo-lie vor dem Angriff auf das Lager Torbuks nicht besaßen. Sie hat helles Haar, sie hasst Sonnenherz und Glanzauge, und sie trägt ein Schwert.«
Beipflichtend nickte Sebastian und wenn er die Fakten zusammenführte, wie es Antarona gerade getan hatte, kam nur ein Name dabei heraus. Eisilia von Kandar. Solange sie der Fährte nach Süden gefolgt waren, hatte dieser Gedanke in Basti nur vermutenden Charakter. Doch als sie sich auf der Spur wieder Mehi-o-ratea zuwandten, hatte sich sein Verdacht manifestiert.
Nun hatte Antarona alle Bausteine aufgezählt, die das Gebilde des Verrats stützten. Nur einen Beweis gab es nicht. Noch nicht. Und wenn die Tochter Tomracks klug war, würde es kaum leicht sein, ihr das schwere Vergehen nachzuweisen.
Gleichzeitig überlegte er, ob es möglicherweise ein fataler Fehler war, Tomrack mit der Botschaft an den König zu beauftragen. Der Apfel fiel nicht weit vom Stamm. Welche Sicherheit hatte er, dass nicht Tomrack bereits in die verräterischen Pläne seiner Tochter involviert war. Er seufzte und schüttelte müde mit dem Kopf. Eine Garantie würde es nie geben!
Allerdings machte er sich Sorgen um Femra und Permina und deren Freunde. Gegen den im Kampf erprobten und massigen Tomrack hätten die jungen Jo-lie nie eine Chance. Und intuitiven Spürsinn, was Gefahren anging, besaßen sie kaum. Mochten die Götter ihnen beistehen!
In diesem Moment kamen zwei Schatten durch das Blätterdach der Bäume gesegelt und ließen sich vor Antarona nieder. Vorsichtig und Skeptisch wurde Basti von den beiden Krähen beäugt. Unentschlossen stolzierten sie im Halbkreis um ihn und ihre menschliche Freundin herum, bis Sebastian sich entfernte.
Mittlerweile sollten sich Tekla und Tonka an ihn gewöhnt haben. Doch es war unübersehbar, dass sie ihm ebenso mit Misstrauen begegneten, wie jeden anderen, der sich in unmittelbarer Nähe Antaronas aufhielt. Rona und Reno hingegen akzeptierten sehr schnell andere Menschen, die von ihm und dem Krähenmädchen vertrauensvoll behandelt wurden.
Sebastian wusste aber, dass Antarona die beiden Schwarzvögel mit Nachrichten regelmäßig zu ihrem Vater schickte. Also musste zumindest Hedaron ihr Vertrauen besitzen. Ein oder zwei Mal, als Antarona Hilfe bedurfte, war es ihm gelungen, die beiden Vögel zu rufen. Doch von Kommunikation konnte dabei keine Rede sein.
Der telepathische Austausch, den das Krähenmädchen mit den Schwarz gefiederten pflegte, begründete sich wohl in einer Gabe, die nur zum Teil erlernbar war. Diese Fähigkeit musste wohl ein Stück weit in den Genen begründet liegen.
»Drei Männer erwarten Sonnenherz und Basti bei runden Felsen, durch die der Pfad seinen Lauf nimmt. Sie tragen Schwerter und Bogen«, sagte Antarona, nachdem die Krähen wieder davon geflogen waren. »Wir können um sie herum gehen, und sie angreifen. Tekla und Tonka werden uns dabei helfen. Wenn sie überwältigt sind, werden sie uns verraten, wer sie geheißen hat, uns aufzulauern.« Sebastian sah seine Frau entgeistert an.
»Du willst doch wohl nicht versuchen, drei bis an die Zähne bewaffnete Männer mit zwei Messern anzugreifen, wie stellst du dir das vor? Da können wir ja gleich einem Gor ins Maul springen.« Antarona hob gleichgültig die Schultern, als ob sie ihm die Entscheidung überlassen wollte, und antwortete:
»Wie ihr wollt, Ba - shtie, wir können auch nach Mehi-o-ratea zurückkehren. Doch dann werden wir den Feind nicht kennen, welcher uns bedroht, welcher Ba - shtie und Sonnenherz überall und jeder Zeit auflauern kann.«
Sie ließ ihr Argument eine kleine Weile wirken. Basti musste zugeben, dass sie recht hatte. War es ihnen hingegen möglich, die Männer auszuquetschen, so wussten sie, wen sie bei ihrer Rückkehr zu fürchten hatten. Eine ungewisse Bedrohung war weitaus gefährlicher, als eine bekannte. Langsam nickte er mit dem Kopf.
»Vermutlich hast du Recht«, gab er zu, »doch wie willst du die drei Kerle überraschen, die da irgendwo im Gebüsch stecken? Die werden sich uns nicht freiwillig ergeben, nicht wahr?«
Das Krähenmädchen nahm sich einen Stöckchen und zeichnete einen Kreis in den Boden, durch den sie eine geschlängelte Linie zog. Sie tippte mit dem Zweig auf die eine Seite des Kreises.
»Ba - shtie und Sonnenherz kommen von hier, aus der schlafenden Sonne, das werden die Männer annehmen, und den Weg in diese Richtung beobachten. Tatsächlich aber werden wir von hier kommen.«
Antarona beschrieb einen Bogen um den Kreis, der die Felsen darstellen sollte. Dann tippte sie links und rechts von der Schlangenlinie auf die Erde und fügte hinzu:
»Wir werden uns nicht auf dem Weg bewegen. Außerdem werden wir die Sonne im Rücken haben, sind also im Vorteil, während die Männer geblendet sind...«
»...wenn sie nicht durch die Schatten der Felsen geschützt sind und diese für sich ausnutzen«, beendete Basti den Satz für sie.
Natürlich überwogen Antaronas Argumente, das war ihm klar. Im Dorf der Jo-lie vor einem unbekannten Angreifer ständig auf der Hut zu sein, ständig Wache zu halten, kaum zu schlafen, jederzeit bereit zu sein, um zu kämpfen, das würde ihnen innerhalb kürzester Zeit an die Substanz gehen. Er musste zugeben, das es in diesem Fall sinnvoll war, die Konfrontation zu suchen.
So schlichen sie auf den Pfad zurück, bewegten sich aber vier bis fünf Meter daneben im Unterholz weiter. Aktuell sah das Gelände nicht so aus, als würde es von Felsen beherrscht, obgleich das hinter dem Wald aufragende Gebirge ab und zu durch den Blätterreigen lugte. Vielmehr streiften sie durch jungen Wald, der vor etwa zwanzig Jahren entstanden sein musste.
Was den alten Wald zerstört haben, oder das Gelände für dichten Bewuchs urbar gemacht haben mochte, blieb für Sebastian ein Rätsel. Vielleicht ein Erdbeben, ein Bergsturz, eine Überschwemmung? Der Wald erinnerte ihn an jene Struktur, welche Baumsiedlungen ähnlich waren, die Moränenhänge und -täler bevölkerten, nachdem Gletscher sie freigegeben hatten.
Die Bäume, mehrheitlich Birken, standen nicht sehr dicht, waren dafür aber von dichtem Gestrüpp durchzogen. Sie gingen etwa eine halbe Stunde, als sie erste, kleine Felsblöcke passierten, um die sich der schmale Steg herumwand. Nun mussten sie auf der Hut sein, um nicht selbst überrascht zu werden.
Nach ein par weiteren Metern lugte eine Felsformation durch die Bäume, die sich hoch über die Wipfel aufbaute. Das mussten die Steingebilde sein, wo man ihnen auflauerte. Unter dem teils tadeligen, teils interessierten Blick Antaronas, begann Basti wieder Faust große Steine zu sammeln.
Gleichzeitig schlugen sie sich seitlich ins Gebüsch, um die mächtige, natürliche Felsenburg zu umgehen. Dabei orientierten sie sich an den Felsfluchten der Berge, die im Süden immer deutlicher zwischen den Bäumen erkennbar wurden.
Sebastians Gedanken kamen mittlerweile auf ketzerische Einfälle. Wäre es nicht klüger gewesen, zunächst heimlich ihre Jaen-tè in Mehi-o-ratea aufzusuchen, um ihre Schwerter und Bogen zu holen? Nun standen zwei, bis auf die Lederschürze nackte, so gut wie unbewaffnete Menschenwesen drei gut ausgerüsteten Kriegern gegenüber.
Sie hatten die Steinformation halb umrundet, als Sebastian einen zwei Meter langen, geraden Ast fand, der wohl Opfer eines Sturmes geworden war. Ein vortrefflicher Knüppel. Es erwies sich nur als äußerst schwierig, mit den gesammelten Steinen und der neuen Errungenschaft durch das Dickicht zu kriechen. Mal fiel ein Stein herab, mal verkantete sich der dicke Stab im Gebüsch. verzichten wollte Sebastian aber auf beides nicht.
Als Antarona der Meinung war, ihr Bogen um die Felsen genügte, schlichen sie nur noch vorwärts, wobei sie Basti, soweit es ging, die Äste und Zweige aus dem Weg hielt, damit er seine Handartillerie und seinen Steinzeitprügel ohne nennenswerte Geräusche vorwärts transportieren konnte. Minuten später erreichten sie die ersten Felsen. Es waren Granitstufen, die durch jahrelange Erosion rund aus dem Trägergestein herausgewaschen wurden. Hier und dort wurden diese Blöcke aber noch von helleren Fluchten poröseren, zerklüfteteren Gesteins durchzogen.
Vorsichtig legte Sebastian seine Urzeitwaffen zu Füßen der Steinmonumente ab. Sie mussten zuerst feststellen, wo sich ihre Feinde auf die Lauer gelegt hatten. Erst dann konnten sie sich eine Strategie ausdenken, wie sie diese angreifen und ausschalten konnten.
Antarona bedeutete ihm, über ein senkrechtes, helles Felsband aufzusteigen, das sich zwischen den Granitblöcken hinaufzog. Er nickte stumm. Von jetzt an konnten sie sich nur noch mit Zeichen verständigen. Zu groß war das Risiko, dass ihre Gegner selbst ein Flüstern hören konnten, wenn sie in nächster Nähe auf Beobachtungsposten lagen.
Selten war Sebastian mit nackten Füßen, und schon gar nicht nur mit Bedeckung seines Unterleibs geklettert. Vorteilhaft war an dieser Methode allein die Tatsache, dass ihn keine Kleidung behinderte. Wenn er diese Überlegung in Betracht zog, musste er davon ausgehen, dass die drei Krieger, die sie erwarteten, kaum auf den Gedanken gekommen sein konnten, sich oben auf den Felsen auf die Lauer zu legen. Auch dies mochte ihm und Antarona zum Vorteil gereichen.
Seine Füße griffen auf dem rauen Fels gut, das Gestein stach aber unangenehm in seine Fußsohle. Das Wissen aus jahrelangem Alpinismus kam ihm zugute. Er wusste, dass er sich auf Kalkfels bewegte, der sich wie ein Flöz durch die Granitabschnitte zog. Diese Kombination hatte er in zwanzig Jahren Bergsteigen nirgendwo anders angetroffen. Auch etwas, das in Antaronas Welt von seinen Erfahrungen abwich.
Auf dem steilen Band kam er auch ohne Sicherung gut voran. Es gab reichlich Griffe, Tritte, und Absätze. Achten musste er lediglich darauf, dass er keine losen Teile in die Schwerkraft entließ, denn das leiseste Geräusch konnte sie verraten. Nach jedem Hochschieben vergewisserte er sich, dass er von unten nicht gesehen werden, oder ob er selbst einen ihrer bezahlten Mörder ausmachen konnte. Das kostete Zeit.
Von einem breiten, mit dürrem Gras bewachsenem Sims, das quer über die Felsen verlief, vernahm er ein verdächtiges Zischen. Bevor er es mit der Hand als Griff benutzte, lugte er mit gestrecktem Hals über die Kante, und duckte sich sofort. Keinen Augenblick zu spät. Er sah noch den Schatten, der blitzschnell vorstieß und wieder zurück wich. Sis-tà-wàn. Eine Schlange!
Da Sebastian nicht wusste, ob das Tier giftig war, wovon er aber ausging, stieg er ein par Meter zu Antarona ab. In umständlichen Gesten erklärte er ihr, was ihn dort oben aufgehalten hatte. Das Krähenmädchen bedeutete ihm, das Tier einzufangen. Er sah sie kopfschüttelnd an. Erstens verstand er nicht, was sie damit wollte, zweitens war es verrückt, in so ausgesetzter Position einen Sis-tà-wàn fangen zu wollen. Doch seine Frau bestand auf ihrer Forderung.
Geschmeidig wie eine Pantherin stieg sie zum Fuß des Felsens zurück, suchte einen geeigneten Stock und wickelte eine Lederschnur, die sie aus ihrem Hüftschurz schnitt, so kunstvoll um die Spitze, dass eine Schlinge entstand, die man mit dem anderen Ende leicht zuziehen konnte. Ihr Hüftschurz war dabei wieder um ein par Millimeter geschrumpft.
Das Fanggerät, das sie offensichtlich nicht zum ersten Mal zum Einsatz brachte, reichte sie ihm stumm hoch. Sebastian staunte über die Festigkeit der Schlinge, und nun befürchtete er weniger von dem Tier gebissen zu werden, als dass er die Schlange mit dem ruckartigen Zuziehen der Schlaufe erwürgen könnte.
Mit dem Gerät im Schnürbund seines Lederschurzes stieg er wieder bis zum Absatz hoch, hielt sich aber ein stück weiter rechts, um nicht noch einmal von dem giftigen Reptil attackiert zu werden. Vorsichtig sah er über die Kante. Ruhig und zusammengerollt lag die Schlange noch an der gleichen Stelle und sonnte sich. Doch als er den Kopf über das Felsband streckte, begann das Tier wieder gefährlich zu zischeln.
Den sich ringelnden, dünnen Körper keine Sekunde aus den Augen lassend, zog Basti sich auf das Band und suchte sich einen sicheren Stand. Angesichts der vermeintlichen Bedrohung richtete die Schlange ihr Haupt etwas in die Höhe und wiegte den Kopf unschlüssig hin und her. Sebastian machte die Schlinge bereit, drehte sie so, dass sie schön offen stand.
Langsam schob er den Fangstab mit zitternden Händen hinüber, stellte aber fest, dass der Winkel nicht passte, oder aber seine Reichweite begrenzt war, um dem Biest das Leder über den Kopf zu dirigieren. Natürlich wollte Basti kein Risiko eingehen, der wer konnte schon wissen, wie gefährlich das Gift dieser Viper war. Schweiß bildete sich auf seiner Stirn und rann ihm in die Augen. Er kniff sie kurz zusammen und konnte wieder klar sehen.
Geduldig wartete er, bis der Sis-tà-wàn sich wieder etwas beruhigt hatte. Dann hielt er dem Tier wieder die Fangöse entgegen, und als es sich aufrichten wollte, drückte er den Stock nach vorn und zog mit der anderen Hand zu. Die Schlange saß mit dem Kopf in der Schlinge fest, und ihr Körper wand sich langsam, während Basti das Ende der Lederschnur am Stiel befestigte.
Doch wie sollte er nun mit dem Tier nach unten gelangen? Kam er dem Kopf des Reptils versehentlich zu nahe, dann brauchte er keinen Meuchelmörder mehr, um in das Reich der Toten zu kommen. Er sah sich suchend um, als ob er in einem Geschäft die Regale nach einem brauchbaren Gegenstand absuchte, und...
Sebastian erstarrte. Auf der anderen Seite, schräg unter seiner Position, stand reglos ein Mann am Fuße des Felsens, hinter eine Steinkante und ein Gebüsch geduckt. Er schien in die Richtung zu beobachten, aus der Basti und Antarona hätten kommen sollen. Zwischen dem Krieger und seinem ahnungslosen Krähenmädchen lagen gerade mal vier bis fünf Meter. Gefährlich nahe!
In diesem Moment regte sich die bis an die Zähne bewaffnete Gestalt unter ihm. Der Mann, kräftiger, als Basti erwartet hatte, begann sich umständlich den Kriegsrock auszuziehen. Offenbar war es ihm zu warm geworden. Er lehnte sein Schwert und seinen Bogen an den Felsen und schlüpfte aus dem Waffenhemd, das er zusammenknüllte und halb unter den Felsen schob.
Seine große Hand rieb sich den verschwitzten Nacken, und er drehte seinen Kopf hin und her, um seinen Hals zu entspannen. Wenn er nun dummerweise heraufsah... Ohne Deckung stand Basti über dem Mann. Erleichtert stellte er fest, dass er keinen Schatten warf.
Der Stock in seiner Hand bewegte sich. Beinahe hätte er die Schlange vergessen, die sich immer noch in der Schlinge wand. Plötzlich kam ihm ein genialer Einfall. Er starrte zu dem Mann hinab, der sich nun wieder auf die Felskante aufstützte, nach vorn blickte, und ihm den nackten Rücken dar bot. Das Problem für Sebastian war, auf dem Band noch ein Stück weiter zu kommen, ohne ein Geräusch zu verursachen, um direkt über dem Gegner zu stehen.
Schweißgebadet spähte er hinab. Er musste sicher gehen, dass nicht noch ein zweiter Feind in Sichtweite war. Erkennen konnte er zwar nichts, doch unter das ausgebreitete Blätterdach konnte er nichts erkennen. Er musste es riskieren, und er musste schnell handeln, bevor der Mann doch noch herauf blickte, oder Antarona allzu ungeduldig wurde.
Vorsichtig tastete er sich auf dem Felsband vor, bis er direkt über dem Krieger stand. Den Rücken an den Fels gedrückt, streckte er den Fangstock über den Abgrund. Noch ein Stück, noch ein wenig, es reichte nicht. Also beugte er sich noch leicht vor, und betete, dass die Schlange nicht gerade in diesem Augenblick zu zischeln begann.
Dann hatte er den Sis-tà-wàn in Position, zog ganz langsam sein Bowie- Messer und lockerte mit der Spitze die Lederschlaufe. Der Kopf des Reptils rutschte durch die Schlinge und Basti überließ das Tier der Gravitation. Mit einem dumpfen Schlag landete die Schlange direkt auf dem Nacken des Kriegers und biss sofort zu.
Erschrocken stieß der Mann einen kurzen Fluch aus, fasste sich mit der Hand an den Hals und drehte sich um. Gerade sah er noch, wie die Schlange durch seine Beine hindurch im Unterholz das Weite suchte. Als hätte ihn das Gift augenblicklich versteinert, so starrte er hinter dem Tier her. Dann befühlte er hektisch seinen Hals, doch es war bereits zu spät. Seine eigene Angst ließ das Blut auf Hochtouren durch seine Adern pulsieren, und mit ihm das Gift.
Plötzlich wankte der kräftige Mann, stützte sich mit ausgestrecktem Arm an der Felswand ab, blieb für einen Moment in dieser Stellung und sackte dann auf die Knie. Es schien als glotzte er ungläubig auf die Stelle, wo der Sis-tà-wàn verschwunden war. Sebastian sah halb entsetzt, halb fasziniert zu, obwohl er sofort wieder hätte Deckung nehmen sollen. Doch der Todeskampf seines Gegners zog ihn eigenartig in den Bann.
Der Krieger unter ihm kippte nun vornüber, blieb mit dem Gesicht auf dem Boden liegen und streckte die Arme parallel zu seinen Beinen unnatürlich von sich. Unter heftigen Zuckungen trat ihm Blut aus Augen und Mund, und es sah von oben so aus, als hätte jemand seinen Körper stark unter Strom gesetzt. Ein letztes Zittern, dann war es vorbei.
Einer weniger, das schaffte ein etwas ausgeglicheneres Verhältnis dachte Sebastian nüchtern und wunderte sich, wie sachlich er damit umgehen konnte, dass er gerade eben einen Menschen getötet hatte. Außerdem würden die Kameraden des Kriegers kaum Verdacht schöpfen, fall sie ihn fanden. Außer dem Schlangenbiss hatte er keine Verletzungen.
Langsam trippelte Sebastian auf dem Felsband zurück, und als er zu Antarona abstieg, war sie ihm bereits ein gute Stück entgegen geklettert. Sie sah den leeren Fangstock in seiner Hand und blickte ihn fragend an. In kurzer Zeichenfolge erklärte er ihr, was sich oben auf dem Felsen zugetragen hatte.
Das Krähenmädchen nickte zufrieden und an ihrer Reaktion erkannte Basti, dass er genau für diesen Zweck die Schlange fangen sollte. Nun, das Tier hatte sauber seine Arbeit getan. Wieder wurde ihm bewusst, wie wenig Bedauern er für einen Toten empfinden konnte. Gewöhnte man sich daran, ans Töten? Um die Frage zu ergründen, blieb keine Zeit. Immer noch lagen irgendwo zwei Krieger auf der Lauer.
Leise stiegen sie wieder vom Felsen herab. Und ebenso geräuschlos bewegten sie sich nun auf dem Waldboden vorwärts. Geduckt schlichen sie um die Steinformation herum, bis sie auf der anderen Seite auf den Toten stießen. Er lag da, wie Sebastian ihn hatte sterben sehen. Aber wo waren die anderen? hatten die sich inzwischen verdrückt? Oder wurden sie gerade jetzt von denen beobachtet?
Stumm zeigte Antarona durch das Unterholz auf die andere Seite des Pfades. Möglicherweise saßen die dort drüben in Deckung, um die Angekündigten in die Zange zu nehmen. Auch auf dieser Seite des Weges ragten hohe Felsmonumente in den Himmel.
Sebastian bewaffnete sich mit dem Schwert des Toten, Antarona nahm sich seinen Bogen samt Pfeilen. Das Schwert war viel zu lang und zu schwer, befand Basti. Genau so fand seine Gefährtin die eroberten Pfeile nebst Bogen schlecht und oberflächlich gearbeitet. Doch sie konnten sich wieder verteidigen, und sogar einen Gegner angreifen, der wahrscheinlich drüben in den Felsen hockte.
Schnell und in tief gebückter Haltung huschten sie an den Fuß dieser übereinander gelagerten Steinblöcke. Sie drückten ihre Körper an den kühlen Stein und lauschten, auch wenn sie kaum glaubten, dass sich ihre Feinde durch Geräusche verraten würden.
Diesmal stieg Antarona vor. Nach wie vor waren sie der Meinung, dass es vorteilhaft war, das Gelände von oben zu erkunden. Stiegen sie jedoch auf der falschen Seite auf, so liefen sie Gefahr, selbst von unten gesehen zu werden, ohne selbst etwas zu erkennen.
Den Bogen mit dem Lederschlauch voller Pfeile kletterte Antarona sicher wie eine Gämse über den rauen Fels, ihre Zehen nutzten Kanten, Risse und kleine Absätze und ihre Finger tasteten sich ebenso sicher hinauf. Nach jedem Meter, den sie an Höhe gewann, hielt sie an, sah sich um und sandte einen zufriedenen Blick zu Basti hinab. So wusste er, dass sie keinen verborgenen Krieger entdeckt hatte.
Während das Krähenmädchen über die Kanten und Wülste der Felsformation in die Höhe stieg, wartete Basti unten mit dem Schwert in den Händen. Sollte unverhofft einer der Gegner auftauchen, so konnte er ihn in einen Kampf verwickeln, und ihn von Antaronas ausgesetzter und ungeschützter Position ablenken.
Vorsichtig und in all ihren Sinnen geschärft stieg Antarona bis zu einer Felsplatte in Höhe der Baumwipfel. die sich weit ausbreitete, wie eine mächtige Aussichtsplattform. Diese zog sich einige Meter weit hin, endete nach fast allen Seiten mit einer Kante, über die der Fels steil abfiel. Bevor sie Sebastian nachkommen lassen wollte, gedachte sie auszuspähen, ob die Umgebung sicher war.
Nah am über ihr aufragenden Fels schlich sie weiter auf der Platte entlang, warf ab und zu einen Blick über die Kante, entdeckte aber nichts Verdächtiges. Möglicherweise konnten sie sich auf der mächtigen Platte verschanzen, bis die Gegner auftauchten. Sie von oben herab zu bekämpfen, war wesentlich einfacher und sicherer, als einen Kampf im Unterholz und in den Schatten der Steinmonumente zu führen.
Weiter hinten begann die Platte abschüssig zu werden. Wie ein breites Band führte der abwärts geschichtete Fels hinab. Nasses Laub hatte sich auf der Rampe in Schattenseite der Felsen gesammelt und lag auf den Moospolstern, die sich auf dem nie trocknenden Fels festgesetzt hatten.
Antaronas nackte Füße nahmen den weichen, feuchten Untergrund dankbar an, ihre Zehen krallten sich in das Moos, und sie vermochte sich vorwärts zu bewegen, ohne ein Geräusch zu verursachen. Allmählich musste sie auf die Seite der Felsen gelangen, unter welcher der Pfad hindurch führte. Doch der Fels wurde steiler, das sich aus der Platte bildende Band schmaler.
Ein Stück weit noch, dann musste sie den Pfad und das davor liegende Gelände einsehen können. Ihre Füße tasteten sich noch ein weiteres Stück weit vor, gleichzeitig legte sie einen Pfeil an die Sehne ihres Bogens, denn ihre Sinne alarmierten sie plötzlich.
Unvermittelt spürte sie ein Gefühl der Gefahr, irgend etwas, das sie warnte, das sie aber noch nicht einordnen konnte. Den Bogen im Anschlag machte sie noch einen Schritt vorwärts, um über die Felskante nach unten zu sehen, als ihr rechter Fuß ausbrach. Laub und Moos unter ihrer Fußsohle gaben nach, rutschten, und brachten sie aus dem Gleichgewicht.
Mit den Armen rudernd versuchte sie noch, ihr Gewicht mit dem anderen Fuß abzufangen, doch auch hier gab die nasse Bedeckung des Felsens nach. Antarona landete unsanft auf dem Gesäß, verlor Bogen und Pfeile, schlidderte unaufhaltsam auf die Kante zu, versuchte sich mit den Fingern festzukrallen, bekam aber nur weiteres Moos zu fassen, das wie eine Gleitschicht über den Stein rutschte.
Im Bruchteil einer Sekunde schlitterte sie auf dem schmierigen Grund aus Moospolstern und nassem Laub über den Felsen und fiel im freien Sturz in die Tiefe. Hart schlug sie nach kurzem Fall auf dem Boden auf. Die Höhe war nur gering, da sie auf der abschüssigen Platte schon weit abgestiegen war. Dennoch war Antarona erst einmal benommen, fühlte einen Schmerz im Becken und am Oberschenkel, wo sie aufgeschlagen war.
Bogen und Köcher hatte sie verloren. Als ihre Benommenheit nachließ, sah sie sich danach um und erschrak. Ihr Blick fiel auf ein par stämmige, in groben Stiefeln steckende Beine. Entsetzt blickte sie daran hoch. Ein triumphierendes, höhnisches Grinsen thronte auf einem massigen Körper, der in einem jener schwarzen Waffenröcke steckte, wie sie Torbuks Soldaten trugen.
»Na, was fällt uns denn da für ein Vöglein vom Himmel? Wolltest mal ein bisschen lauschen, was?« Der Mann hatte ein gerötetes, vernarbtes Gesicht und kleine, scheinbar gutmütige Augen. Doch das Blitzen in ihnen warnte Antarona vom ersten Augenblick an.
Wildes, struppiges, und unregelmäßig gestutztes Haar umgab das Antlitz, das Antarona an einen Markthändler erinnerte, der geröstete Kastanien verkaufte, und ständig mit dem Kopf über offenem Feuer verweilte. Haarschopf und Bart gingen übergangslos ineinander über. Das zum Grinsen entblößte Gebiss wies im Oberkiefer eine Lücke auf, was den Mann wie einen zu groß und zu dick geratenen Kobold wirken ließ.
»Bist du eine von der lästigen Brut, die unser Lager angegriffen hat, oder kommst du aus einem der Dörfer in der Nähe?« fragte der Krieger mit scheinheiliger Freundlichkeit. Antarona antwortete nicht, überlegte aber schon fieberhaft, wie sie dieser Situation entkommen konnte. Beinahe gleichmütig hakte der Mann nach:
»Du redest wohl nicht gern, was? Na das werden wir schon ändern. Glaub mir, gleich plapperst du wie das Wasser im Bach.« Dann erhob er seine Stimme und rief scheinbar ziellos in den Wald hinein:
»Thies, wo steckst du, komm mal her, ich hab hier etwas für dich, hörst du mich? Ist was aus dem Nestchen gefallen, genau das richtige für dich, mein Junge!« Als sich nichts rührte, wurde der Mann ungeduldig und lauter:
»He, Thies, schläfst du, oder was ist mit dir los? Komm her und sieh dir an, was ich gefunden habe! Wird dir gefallen, glaub mir! Die, auf die wir warten, kommen doch nicht mehr. Was ich hier habe, macht bestimmt mehr Spaß! Hörst du mich, Thies? Beweg deinen kleinen Hintern hierher, oder muss ich dich holen kommen?«
Der Mann legte so viel Energie in sein Rufen, dass Antarona ihre Chance gekommen sah, auszubüxen. Sie sprang plötzlich auf und wollte ins dichte Unterholz stürmen, in dem der massige Mann sicher nicht so rasch vorangekommen wäre. Doch das Krähenmädchen rechnete nicht mit den Folgen ihres Sturzes. Ein viehischer Schmerz raste ihr durch Becken und Oberschenkel, sie knickte ein, als wäre sämtliche Kraft aus ihren Knochen gewichen. Im nächsten Augenblick spürte sie eine feuchte, warme Klammer kräftig ihr Handgelenk umschließen.
»Na wo willst du denn hin?« kommentierte der Mann belustigt ihren Fluchtversuch. »Du willst uns doch wohl noch nicht verlassen, wo wir uns so freuen, dass du mal vorbei schaust, was? Gleich wirst du meinen kleinen Freund Thies kennenlernen, kommt auch aus dieser lausigen Gegend hier. Das arme Kerlchen hat nie Glück bei den Weibern der Îval. Was glaubst du, wird der sich freuen, wenn ich dich ihm schenke. Auf so etwas wie dich hat der schon gewartet.« In fließendem Übergang seiner Rede brüllte der Krieger gleich wieder gegen die Bäume, diesmal mit deutlich mehr Zorn in der Stimme:
»Thies, verdammt noch mal, wo bleibst du? Ich halte das Vöglein nicht ewig für dich fest, mach, dass du endlich herkommst!« Schließlich tat sich etwas.
Es knackte und raschelte im Unterholz, als mühte sich jemand ab, die Sträucher nach Beeren zu durchsuchen. Inzwischen versuchte Antarona ihren Arm frei zu bekommen, doch der Mann fürs Grobe hielt ihren Unterarm so fest, dass ihr vor Schmerz die Tränen in die Augen traten. Nie wünschte sie sich sehnlicher Nantakis in ihre Hände, wie in diesem Moment. Da fiel ihr das Fischmesser ein, dass sie im Schnürbund ihres Schurzes trug.
Blitzschnell griff sie mit ihrer freien Hand danach, und ehe der stämmige Mann reagieren konnte, riss sie es aus der ledernen Scheide. Die schnelle Bewegung entging dem Krieger aber nicht, und als Antarona zustach, erwischte sie nur sein Oberbein.
Sofort packte der Mann mit seiner anderen Pranke zu, entwand ihr das Messer, ließ es zu Boden fallen, und schlug mit der zweiten Hand zu. der Schmerz explodierte an ihrem Ohr und sie fühlte sich von einer mächtigen Kraft empor, und gegen den nahen Felsen geschleudert. Hart schlug sie gegen den rauen Stein und fiel zu Boden. Alles um sie herum drehte sich, als hätte sie eine Nacht hindurch Mestas getrunken. Lähmende Schmerzen durchzuckten ihren Körper und an ihrem Bein spürte sie warmes Blut herabrinnen.
»So, jetzt bist du aber friedlich, du freche Kröte, sonst ziehe ich andere Seiten auf«, blaffte sie der Kerl zornig an, »sieh dir an, was du angerichtet hast, so eine Sauerei«, schimpfte er, nahm ihre beiden Handgelenke in seine große Hand und wischte mit der anderen das Blut auf seinem Bein fort.
In dem Augenblick trat schüchtern ein junger, schmächtiger Mann aus dem Schatten des Waldes und blieb unschlüssig in einiger Entfernung stehen. Er glotzte Antarona an, als hätte er nie zuvor eine Frau gesehen. Antarona meinte ein kurzes Entsetzen in seinem Blick zu sehen, als hätte er sie erkannt. Sie konnte sich aber nicht erinnern, diesem Jungen je begegnet zu sein.
Gekleidet war der hoch gewachsene Bursche wie ein Jo-lie. Er trug den typischen Schurz, ein zerschlissenes Hemd, aus dem er längst herausgewachsen war, und Dillethantisch gefertigte, abgetragene Ledermokkasinn. Ließ man das äußerliche Erscheinungsbild außer Acht, so blieb ein Halbwüchsiger, der mit gepflegten Haaren und einem alles andere als bösem Gesicht den Eindruck erweckte, gerade aus dem behüteten Haus seiner Eltern herauszustolpern.
Seine Augen, von feinen, runden Brauen umrahmt, waren groß und ehrlich, dafür hatte Antarona einen Blick. Diese Tatsache machte ihr Hoffnung. Sie musste versuchen, ihre Sinne auf den Jungen zu konzentrieren. Vielleicht gelang es ihr, einen kindlich gebliebenen Geist zu beeinflussen.
Das einzige ordentliche Kleidungsstück, das der junge Mann trug, war sein sauberer Waffengurt, an dem ein gut gepflegtes Schwert baumelte. Das Krähenmädchen musste nicht raten, wie er zu dieser Waffe, die so gar nicht zu ihm passen wollte, gekommen war. Ganz offensichtlich stand er unter dem Einfluss von Torbuks Schergen. Die Hintergründe dafür vermochte sie freilich nicht zu ergründen.
»Na, was glotzt du denn so dämlich?« fuhr ihn der um einige Jahre ältere Krieger an. »Hast wohl noch nie so eine kleine Wildkatze mit gestutzten Krallen gesehen, was?« Er lachte so dröhnend, dass seine Stimme von der dichten Mauer des Waldes zurückgeworfen wurde.
Grob stieß er Antarona dem Jungen entgegen, ohne seinen Griff um ihre Handgelenke zu lockern. Ihr Versuch, die Sinne des Burschen, den der andere Thies nannte, zu erreichen, war damit unterbrochen. Sie hatte Mühe sich unter dem hin und her Geschubse auf den Beinen zu halten.
»Was ist jetzt, ich halt sie für dich fest, du kannst mit ihr machen, was du willst«, forderte der Mann Thies auf. Worauf sich die Aufforderung bezog, war Antarona klar. Und ein wenig tat ihr der Junge sogar leid, der völlig verunsichert vor ihr stand, und offenbar nicht recht wusste, was er mit einem Mädchen anfangen sollte.
»Hat einer so etwas schon gesehen«, spottete der Ältere. Dann hob er wiederum seine Stimme an und brüllte scheinbar in den Himmel:
»Tannum, komm doch mal her, hier gibt's was zu sehen. Unser Spross hat sein erstes Weib und kriegt die Zähne nicht auseinander!« Eine donnernde Triade der Schadenfreude folgte. Doch der Wald schwieg. Antarona wusste, warum.
Der mit Tannum gerufene würde nie mehr kommen. Der Sis-tà-wàn hatte seine Adern mit Gift voll gepumpt. War das ihre Chance? Würde der grobe Kerl das Interesse an ihr verlieren, weil er sich wunderte, dass sein Kumpan nicht antwortete? Mit dem Jüngling würde sie dann leicht fertig werden.
»Na dann eben nicht. Ist auch so ein Spaßverderber«, knurrte der Krieger ärgerlich. Antarona bereitete sich innerlich auf das vor, das möglicherweise geschehen würde.
Noch überlegte sie, ob sie Tekla und Tonka für eine Attacke aus der Luft rufen, oder einen erneuten Versuch starten sollte, den jungen Burschen zu beeinflussen. Doch der Mann drückte sie mit seinen Bärenkräften plötzlich auf den Boden und riss sie wieder hoch, so dass sie keinen freien Gedanken fassen konnte.
»Jetzt mach endlich, sonst schlage ich ihr den Schädel ein, dann ist der ganze Spaß vorbei«, drohte der Ältere und grinsend stellte er in Aussicht:
»Aber vorher wirst du schön zusehen, wie ich mich mit der kleinen Giftkröte vergnüge. Wenn dir das lieber ist...« Seine widerliche Prophezeihung brachte Leben in den wie erstarrt dastehenden Jungen. Schüchtern machte er zwei Schritte auf Antarona zu, die immer noch von den Pranken des älteren Kriegers fixiert wurde.
Thies ahnte, dass er keine Wahl hatte. Er wusste, wer das beinahe nackte Mädchen war, das von seinem unfreiwilligen Kumpanen festgehalten wurde. Er hatte sie gesehen, als sie ins Dorf kam, hatte sie bewundert, ja, tief in seinem Herzen auch begehrt.
Doch auf diese Weise wollte er sie nicht. Nicht so niederträchtig, so unwürdig. Er musste Zeit gewinnen, so tun, als wollte er sie. Wo blieb nur Tannum? Mittlerweile musste der doch gehört haben, dass etwas los war.
Antarona, die spürte, dass Thies verzweifelt nach einem Ausweg suchte, senkte ihren Blick, so dass ihr die Haare ins Gesicht fielen. In diesem Moment ging sie mit dem Jungen einen stillen Pakt ein, denn auch sie wollte das möglicherweise Unausweichliche hinauszögern. Mit leiser Stimme sagte sie:
»Ihr könnt ruhig näher kommen, Thies, ihr müsst euch nichts vorwerfen. Hört auf jenes, das euer Herz euch sagt.«
Augenblicklich brach der Krieger in schallendes Gelächter aus. Er machte keinen Hehl daraus, dass er eine Vereinigung der beiden jungen Menschen als einen Riesen Spaß empfand. Mit schnellen Griffen warf er Antarona eine derbe Lederschlinge über den Kopf und zog sie mit einem Ruck um ihren Hals zu. Allerdings nur so weit,, dass sie noch ausreichend Luft bekam. Dann ließ er ihre Handgelenke los und stieß sie dem schüchternen Thies entgegen.
»Siehst du, Junge, die Kleine ist richtig gierig auf dich, ist wohl eine dieser Ve-ni-tries, die überall im Land herumstrolchen. Nun mach schon, nimm sie dir, aber lass mir noch was übrig!« Wieder donnerte sein Lachen, das sich in einem noch lauteren Echo in den Felsen brach.
Zögernd trat Thies an Antarona heran. Sehnsüchtig tasteten seine Blicke ihre Rundungen ab. Doch sein anerzogener Respekt vor jedem Mädchen und jeder Frau hemmte das von ihm geforderte Ritual der Vereinigung zu vollziehen.
Sanft nahm Antarona seine Hände und führte sie an ihre bloßen Brüste. Ihr blieb nichts anderes übrig, wollte sie verhindern, dass der fiese Mann, der immer noch das Ende ihrer Halsschlinge in den Händen hielt, die Geduld verlor und sie brutal vergewaltigte. Sie würde es wahrscheinlich nicht überleben.
Thies Hände legten sich sachte auf ihre Brüste. Sie fühlten sich warm an und beinahe kindlich glatt. Dennoch war es ihr so unangenehm wie selten etwas, sie versteifte sich und versuchte den Atem anzuhalten. Es war trotz aller akzeptierten Vernunft etwas Fremdes an ihrem Körper, dass sie verabscheute.
Intuitiv setzte sie alle Hoffnungen in ihre Erfahrung und Menschenkenntnis. Sie handelte frei nach ihrer Eingebung, spekulierte auf Thies Unerfahrenheit, ließ ihn aber erst einmal gewähren.
Unsicher streichelte Thies die Rundungen ihrer Brüste. Er fühlte etwas Weiches, Warmes, aber auch anziehend Festes, das ihr reizte. Seine Handflächen kribbelten, sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Er wollte es. Er wollte sie. Doch er spürte, dass es nicht richtig, dass es etwas Böses war. er war hin und her gerissen zwischen Verlangen und Abscheu gegen sich selbst.
Plötzlich hob Antarona ihr Gesicht an, die langen Haare fielen nach hinten und Thies sah sich unvermittelt dem Blick ihren großen, offenen Augen ausgesetzt, die ihn mit entwaffnender Ehrlichkeit ansahen. Sie hatte es geplant, trotzdem wunderte sie sich, welch intensive Wirkung ihr Blick auf den unschuldigen Jungen hatte.
Tatsächlich war Thies überrascht und verunsichert, als er völlig unvorbereitet in die wunderschönen, klaren Augen dieses grazilen Mädchens schaute. Doch etwas anderes verblüffte ihn noch mehr. Ein Schatten wuchs plötzlich hinter dem Mädchen und seinem Bewacher empor.

Sebastian wartete vergeblich auf ein Signal seiner Frau, oder ihre Rückkehr. Er wagte aber nicht, zu rufen, denn damit hätte womöglich die beiden Gegner auf den Plan gerufen. Also wartete er geduldig weiter.
Nach einer Ewigkeit glaubte er eine Stimme gehört zu haben. Er war sich jedoch nicht sicher, denn er hatte sich von einem auffälligen Käfer mit schillernd grünem Panzer ablenken lassen, der über das Blatt eines Busches kroch.
Angespannt lauschte er in die Umgebung. Eine Einbildung? Nein, da war es wieder! Deutlich konnte er eine Männerstimme erkennen. Jetzt rief die Stimme sogar laut in der Gegend herum. Sebastian wurde nervös. Irgendwo strichen die Feinde umher und Antarona kletterte über die ungeschützten Felsen.
Hörte sie die Stimmen nicht? Oder hatte sie eine Position erreicht, von wo aus sie den Feind gut beobachten konnte, ohne selbst gesehen zu werden? Basti wollte nicht warten, er wollte Gewissheit haben, wollte die Lage unter seiner Kontrolle wissen. Kurz entschlossen stieg er hinter dem Krähenmädchen her.
Als er auf der flachen Felsplatte ankam, hockte er sich hin und sah sich um. Von Antarona keine Spur. Wo steckte sie? Sein Blick wanderte über die Felsen, die sich weiter über die Steinplatte erhoben. Sie konnte unmöglich weiter hinauf gestiegen sein. So einfältig war sie nicht. Dann erfasste sein Auge, dass die Plattform sich weiter hinten nach unten neigte.
Auf allen Vieren, um von unten nicht gesehen zu werden, robbte er über die Felsplatte, bis zu der abschüssigen Stelle, an der Antarona ausgerutscht war. Die Spuren waren eindeutig. Hier oben konnte er für sie nichts tun, das wurde ihm sofort klar. Entweder lag Antarona mit gebrochenem Genick unten auf dem Boden, oder sie war inzwischen zum Fuß der Felsen zurückgekehrt.
Voll böser Ahnungen kroch Basti langsam, rückwärts zum Einstieg auf die Platte zurück. Da hörte er direkt unter sich ein hässliches, abgründiges Lachen, das ganz sicher nicht von seinem Krähenmädchen stammte. Neugierig schob er sich bis nahe an die Kante der Felsplatte heran und lauschte. Weine Weile hörte er nichts. Dann sagte eine Stimme undeutlich:
»Na dann eben nicht. Ist auch so ein Spaßverderber.« Wieder blieb es danach ruhig. Sebastian rätselte. Waren dort unten mehr als zwei Gegner? Und wo befand sich Antarona?
Da hörte Basti wieder diese Stimme, doch was sie sagte, ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren:
»Jetzt mach endlich, sonst schlage ich ihr den Schädel ein, dann ist der ganze Spaß vorbei, aber vorher wirst du schön zusehen, wie ich mich mit der kleinen Giftkröte vergnüge. Wenn dir das lieber ist...«
Sebastian musste nicht lange überlegen, wen die Stimme mit Giftkröte bezeichnete. Noch war ihm nicht klar, wie Antarona in die Hände der Feinde gefallen war. Doch nun war Gefahr im Verzug, nun musste er sich rasend schnell etwas Schlaues einfallen lassen. er wollte sich schon zurückziehen, als er Antarona sprechen hörte, undeutlich nur, aber es war ihre Stimme:
»Ihr könnt ruhig näher.., Thies, ihr müsst euch nichts.., das euer Herz euch sagt.« Für Basti wurde alles noch undurchsichtiger. Wer war Thies? Aber an Antaronas Stimme erkannte er, dass sie in Bedrängnis geraten war. Sie klang sorgenvoll, traurig, beinahe niedergeschlagen.
Bastis Gedanken arbeiteten fieberhaft. Wie konnte er eingreifen? Wie konnte er an das Geschehen herankommen? Von oben jedenfalls nicht, denn von hier aus war seine Frau offenbar in die Bedrängnislage geraten, in der sie sich befand.
So schnell er vermochte, kroch er zurück, tastete sich nach unten, und schlich mit vorgehaltenem Schwert durchs Gebüsch um die Felsen herum. Der Weg war länger, als er vermutet hatte. Bevor er den Ort des Geschehens erreicht hatte, stieß er auf den Pfad, der sie ursprünglich in diese Gegend geführt hatte.
Er verließ den Weg wieder und kroch weiter um die Steinformation herum. Eine viel zu nahe Stimme stoppte seinen Vorstoß:
»Siehst du, Junge, die Kleine ist richtig gierig auf dich, ist wohl eine dieser Ve-ni-tries, die überall im Land herumstrolchen. Nun mach schon, nimm sie dir, aber lass mir noch was übrig.«
In Sebastian kochte eine unerbittliche Wut hoch. Aber auch eine Angst, die sich tief in seinen Magen grub, befiel ihn. Was machten die da mit seinem Krähenmädchen? Wehe, es legte einer Hand an sie, er würde ihn Tausend Tode sterben lassen! Alle Vorsicht außer Acht lassend, ging er auf die Knie und kroch weiter.
Das Gebüsch lichtete sich und gab seinen Blick auf eine Szenerie frei, die ihm das Herz still stehen ließ. Seine geliebte Antarona mit einem Strick um den Hals, wie ein Stück Vieh von einem Krieger Torbuks festgehalten, und ein anderer, der sie mit seinen Pfoten dort berührte, wo nur er, Sebastian sie liebkosen durfte.
Das Schlimmste für ihn aber war, dass sie es geschehen ließ, ohne ein Wort zu sagen, ohne sich dagegen zu wehren. Sebastian war verunsichert, denn es war nicht Antaronas Art, so etwas mit sich machen zu lassen. Hatten sie das Krähenmädchen betäubt, ihren Willen gelähmt?
Ihre Haare hatten sich vor ihr Gesicht gelegt, und sie sah zu Boden. Sebastian kannte diese Geste und wusste, dass sie in solchen Momenten am schutzlosesten, am verwundbarsten war. Egal, wie die Sache ausging, aber er wollte nicht tatenlos zusehen, wie diese Beiden seiner Frau auf diese Weise zu nahe kamen.
Er ließ das Schwert liegen, denn es behinderte ihn zwischen dem Krieger und der dahinter aufragenden Felswand. Zu dicht stand der Mann, als dass er ihm mit der langen Waffe hätte in den Rücken fallen können.
Leise, aber gewandt machte Basti zwei, drei Schritte vorwärts, und richtete sich mit seinem Bowie- Messer in der Faust hinter der mächtigen Gestalt des Kriegers auf. In dieser Sekunde hob Antarona den Kopf, und er fürchtete schon, sie konnte ihn damit verraten.
Sebastian musste entschlossen handeln. Er sah noch über die Schultern des Kriegers und Antaronas hinweg, wie der Mann, der sie bedrängte, erschrocken die Augen aufriss, als sich die Klinge des großen, stabilen Messers, von Bastis ganzer Kraft getrieben, in den Rücken des Gegners bohrte. Ruckartig drehte Sebastian das Messer ein par Male hin und her, bevor er es wieder aus dem Fleisch des Feindes heraus riss.
Der stand nach wie vor auf demselben Fleck und es schien, als hätte die Attacke keinerlei Wirkung auf den Kämpfer Torbuks. Sebastian wollte noch einmal zustoßen, als er ein leichtes Wanken des Mannes wahr nahm. Mit einem Grunzen versuchte sich der Angegriffene umzudrehen, doch das gelang ihm nicht.
Nach einer halben Drehung sackte er sauber auf die Knie. Dabei riss er die Hände auf seinen Rücken, wo sich ein taubes, heißes Gefühl ausbreitete. Sofort straffte sich die Lederschlinge, zog zu, und riss Antarona von den Beinen. Nun stand Sebastian allein dem Jungen gegenüber.
Blitzschnell schoss ihm durch den Kopf, dass er schneller sein musste, als der andere, der immer noch sein Schwert trug. Aus dem Stand stürmte Basti vorwärts und indem er dem verdutzten Gegner die große Klinge in die Seite stieß, hörte er Antarona hinter sich verzweifelt schreien:
»Nein, Ba - shtie, nicht!« Der junge Krieger sah ihn mit großen, verständnislosen Augen an, ein Blick, den Sebastian niemals würde vergessen können. Dann sank er, wie zuvor sein älterer Kamerad, auf die Knie, und fiel seitlich um. Seine Hände pressten sich auf die tiefe Wunde, und er glotzte Sebastian immer noch an, als sah er einen Geist von Angesicht zu Angesicht.
Schon wirbelte Basti herum, denn Antaronas Schrei bedeutete für ihn eine weitere Gefahr. Aber die gab es nicht. Antarona stand nur mit starrem Blick da und rührte sich nicht. Ihre Arme hingen kraftlos von ihren Schultern, die Schlinge baumelte von ihrem Hals und schwang grotesk vor ihrem Körper hin und her, wie ein Pendel.
»Was habt ihr da getan, Ba - shtie«, brachte sie tonlos hervor, während sie fassungslos auf den jungen Krieger am Boden blickte. Mit zwei Schritten war Basti bei ihr und nahm ihren zitternden Leib in die Arme.
»Es ist alles gut, es ist vorbei. Du musst dich nicht mehr fürchten«, flüsterte er ihr ins Ohr, indem er versuchte, ihr die Schlinge abzunehmen. Ein dumpfes Geräusch lenkte ihn kurz ab. Der große Krieger, der bis dahin noch stumm auf seinen Knien ausgeharrt hatte, war wie ein nasser Sack umgefallen.
»Was habt ihr getan, Ba - shtie? Ihr habt ihn getötet...« wiederholte das Krähenmädchen leise, offenbar schwer traumatisiert. Ihre Augen waren immer noch leer und glanzlos auf den jungen Krieger gerichtet. Sebastian drehte sich halb um.
»Na ja, noch nicht ganz, nur eine Weile wird er wohl Bauchschmerzen haben«, antwortete er beinahe gleichgültig.
Der Junge lag am Boden, hielt sich mit verkrampftem Gesicht die Hände auf die hässliche Stichwunde und atmete schwer und flach. Sein Blick richtete sich wie erstaunt und flehend auf das Krähenmädchen. Wie unter dem Einfluss einer Droge streckte Antarona dem Jungen ihren zitternden Arm entgegen, als wollte sie ihn mit dieser Geste retten.
»Ba - shtie, ihr habt ihn getötet«, sprach sie leise vor sich hin, als müsste sie sich selbst klar machen, dass der Jüngling durch die hand ihres Geliebten zu Fall gebracht worden war.
Bastis Kopf flog hin und her, er blickte von seiner Frau zu dem Jungen und zurück. Irritiert sah er Antarona in die Augen, die ihm in dieser Zentare so leer und fremd erschienen, wie nie zuvor. »Was geht hier eigentlich vor? Was bei den Göttern ist zwischen euch beiden?« Sebastians Frage klang lauter und vorwurfsvoller, als er beabsichtigt hatte, und als Antarona nicht antwortete, nahm er sie bei den Schultern und schüttelte sie leicht, denn er meinte sie stand unter einem Schock.
Sie ließ es zu, dass ihr Kopf kraftlos hin und her flog, dass ihr die Haare wirr ins Gesicht flogen, und Basti hatte das Gefühl, sie wollte sich einfach resigniert niedersinken lassen. Er packte sie, nahm sie hoch und setzte sie nicht weit von dem sterbenden Jungen an einen Stein.
»Er wollte Sonnenherz helfen, in seiner Brust schlägt ein gutes Herz, Ba - shtie«, erklärte sie ihm matt. Daraufhin wandte er sich zu dem Jungen um. Und nun erst erkannte er dessen weiche, kindliche Züge im Gesicht, die kaum das Böse, Niederträchtige und Brutale offenbarten, das sich zumeist in den Fratzen der primitiven Krieger Torbuks zeigte.
Betreten stand Sebastian auf, ging die drei Schritte zu dem Jungen hinüber, und indem ihm langsam die Zusammenhänge des gerade Geschehenen klar wurden, fragte er mit beinahe väterlicher Stimme:
»Ist das wahr, ihr wolltet jener, die mit mir verbunden ist, helfen?« Der Bursche blickte ihn offen an und das Sprechen fiel ihm schwer.
»Herr.., verzeiht mir.., ich hatte mich in sie verliebt, als ich sie das erste Mal sah.., als ihr in unser Dorf kamt. Ich wusste nicht.., dass sie es war.., und als dann Sertus mich rief.., und da war sie dann...« Er machte eine kraftlose Bewegung mit seinem Arm, um zu unterstreichen, was er gesagt hatte, oder nicht mehr zu sagen vermochte.
Der hohe Blutverlust, möglicherweise auch die inneren Verletzungen, die Basti ihm zugefügt hatte, ließ ihn verstummen.
»Sertus, ist das der Kerl dort drüben?« wollte Basti wissen und wies mit dem Kopf zu dem Krieger, der im Staub des Landes, das er zu erobern gedachte, im Sterben lag. Der Junge nickte müde und schloss für einen Moment die Augen.
»Und dein Name ist dann wohl Thies, nicht wahr?« fragte er weiter. Der Junge öffnete seine Augen wieder, seine Lider flatterten und es schien ihm schwer zu fallen, sie offen zu halten.
»Ja Herr, Thies, Sohn vom Fischer Ribar in Val Argón.« Basti legte ihm die hand auf den Arm und versicherte:
»Also Thies, wir werden dir helfen. Aber zuerst musst du mir sagen, ob noch mehr von Torbuks Leuten in der Nähe sind, hörst du. Wie Viele sind noch hier?« Leise antwortete er und es klang, als wich das Leben aus ihm:
»Tannum.., Sertus.., einzige.., und ich«, brachte er mühsam hervor. Auf seiner blasser werdenden Stirn bildete sich ein Film von Schweiß, der ihn fast wächsern aussehen ließ. Sebastian wollte gerade weiter fragen, da trat Antarona hinzu, und legte ihm ebenfalls die Hand auf den Arm. Anscheinend hatte sie sich rasch von ihrem traumatischen Erlebnis erholt.
»Ba - shtie, lasst ihn seinen Frieden mit den Göttern machen«, bat sie und aus ihrer Stimme klang echte Fürsorge.
»Aber zuvor muss er uns noch sagen, wer ihnen den Auftrag gegeben hat, uns aufzulauern. Sonst werden wir nie erfahren, wer die unbekannte Frau ist«, forderte er. Der Junge, der an diesem Tage noch sein Leben aushauchen sollte, hatte zugehört, und ergriff noch einmal schwach das Wort:
»Ich habe sie nicht gesehen, Herr.., Radna Knova Ilisiè, ihr Name.., das ist ihr Name.« Der Junge sprach so leise, dass Sebastian kaum ein Wort verstanden hatte.
»Der Name, Thies, sag noch mal den Namen«, drängte er. Antarona drückte ihn leicht von dem Verwundeten fort und meinte:
»Lasst ihn Ba - shtie, er ist zu schwach, er kann euch nicht antworten.« Sebastian aber wiedersprach, und wurde fordernder.
»Nein, das muss er uns jetzt sagen. Wir müssen wissen, wer uns und die Jo-lie verraten hat.« Bewusst für die Ohren des Burschen sprach er vom Verrat an den Jo-lie, denn der Junge war selbst einer der großen Gemeinschaft.
»Radna.., Knova.., Ilisiè.., Herr.., der Name.« Sein Ohr musste Sebastian an den Mund des Jungen legen, um ihn zu verstehen.
»Radna- Knova- Ilisiè«, wiederholte er laut, damit auch Antarona den Namen verinnerlichen konnte. Thies bestätigte mit dem Ausdruck seiner Augen, dass er richtig verstanden wurde.
Das Krähenmädchen stand auf und suchte das Fischmesser, das sie verloren hatte. Dann nahm sie Bogen und Pfeile auf und bemächtigte sich des Schwertes des Jungen. Auf den fragenden Blick Bastis erklärte sie knapp:
»Sonnenherz wird Kräuter holen, die ihm helfen können.« Damit verschwand sie im Unterholz. Sebastian sah sich vorsichtshalber nach dem Krieger Sertus um. Doch der lag still, wo er niedergesunken war. Basti ging davon aus, dass er tot war. Er hielt es aber kaum für nötig, das zu überprüfen. Er wusste, wohin er seinen Dolch gestoßen hatte, und kannte die Folgen einer solchen Verletzung.
Statt dessen kümmerte er sich um den Jungen, um den es ihm nun unendlich leid tat. Sein gewissen meldete sich und er fühlte sich so schlecht, wie lange nicht mehr. Das einzige, das er für den jungen Jo-lie tun konnte, bestand darin, ihm das Sterben so erträglich wie möglich zu machen. Insgeheim aber betete er, dass Antarona eine Medizin finden würde, die ihm letztlich noch das Leben retten konnte.
Basti entdeckte das Bündel des älteren Kriegers, und wollte es dem Jungen als weiche Unterlage unter den Kopf legen. Doch als er dessen Schulter anhob, verzog der Bursche vor Schmerz das Gesicht.
»Nicht.., lasst.., ist gut«, hauchte der. Jede Bewegung schien ihm unsägliche Schmerzen zu bereiten. Hilflos hockte Basti neben ihm. Er musste versuchen, seine Wunde freizulegen, wenn Antarona diese behandeln sollte.
»Wir wollen dir helfen, Thies«, erklärte Basti mit fürsorglicher Stimme, »Sonnenherz kann dich wieder gesund machen. Aber dazu muss ich deine Wunde sauber machen, damit sie sich nicht entzündet und du keinen Brand bekommst.« Thies schüttelte matt den Kopf. Seine versuche zu sprechen strengten ihn außerordentlich an.
»Das nützt nichts mehr.., ich höre bereits die Götter.., nach mir rufen.., in das.., Reich der Toten.« Er atmete immer flacher, immer schwächer, und Sebastian betete innerlich, Antarona möge rasch mit den geeigneten Heilmitteln zurückkehren.
Sebastian musste hilflos mit ansehen, wie Thies einen Hustenanfall bekam. Er spuckte Blut und sein Atem ging röchelnd, als sog er seine Luft durch eine Wasserpfeife in die Lunge. Da war auch für Sebastian Lauknitz klar, dass dieser Junge den nächsten Sonnenlauf nicht erleben würde. Doch er wollte ihm den weg in das reich der Toten so angenehm wie möglich machen.
Er hielt seine Hand und deckte ihn mit den Fellen aus dem Bündel des Kriegers zu. Als er seine andere Hand auf seine blasse Stirn legte, um festzustellen ob er Fieber hatte, erschrak er. Eiskalt wie Stein fühlte sich seine Haut an. Wo nur Antarona blieb? Mühsam begann Thies wieder zu sprechen:
»Vater.., Mutter.., tut mir leid.., sagen, bitte...« Seinem Flüstern, denn etwas anderes war es nicht mehr, folgte ein matter Husten, dann fiel sein Kopf zur Seite. Das Herz eines Jungen hatte aufgehört zu schlagen, weil er, Sebastian ihn getötet hatte. Er würde wohl nie erfahren, was Thies bewogen hatte, sich den Männern Torbuks anzuschließen, mit ihnen zu ziehen, und ihm und Antarona aufzulauern. Möglicherweise war er sogar dazu genötigt worden.
Ein leises Rascheln, kaum hörbar, ließ Basti herumfahren. Antarona stand mit hängenden Schultern hinter ihm, sah mit gebrochenem Blick auf den Burschen, der versucht hatte, sie vor größerem Unheil zu bewahren. Resigniert ließ sie die Kräuterbüschel fallen, die sie in beiden Händen hielt.
Dann wandte sie sich um und ging ein Stück des Weges entlang. Sebastian stand verunsichert da. Warf sie ihm nun vor, dass er Thies angegriffen hatte? Doch was hätte er tun sollen? Für ihn war der Junge ein Gegner, eine Bedrohung Antaronas. Woher hätte er wissen sollen, dass der Bursche hatte Antarona helfen wollen? Es tat ihm leid, dass es so enden musste, doch er hatte den Kampf ja nicht begonnen.
Unschlüssig stand er da, blickte abwechselnd auf den Toten und den Pfad hinab, wo das Krähenmädchen inzwischen verschwunden war. Sebastian trug plötzlich ein fürchterliches Gefühl im Magen. Zweifel an seiner tat, Trauer, und die Angst, Antaronas Vertrauen für immer verloren zu haben. Wie schnell das gehen konnte!
Sollte er seiner Frau folgen, oder erst den Leichnam Thies begraben. In diesem Klima musste ein Toter schnell unter die Erde gebracht werden, wollte man verhindern, dass sich gefräßige Insekten seines Körpers bemächtigten und ihn bis auf die Knochen abnagten.
Andererseits vermochte er auch nicht mit bloßen Händen ein Grab auszuheben. Sicherlich konnte er eines der Schwerter von den Kriegern verwenden. Nachdenklich trat er zu dem gefällten Mann hinüber, der immer noch dort lag, wo er umgefallen war. Auch er war in das Reich der Toten gegangen. Die große Wunde, die Basti ihm beigebracht hatte, reichte aus, dass der Mann schlicht verblutete. Also zwei Gräber.
Während er noch überlegte, wie er die Gruben am besten ausheben konnte, kam Antarona zurück, mit den Zügeln zweier Pla-ka in einer, und einem Bündel mit gekreuzt eingeschnürten Waffen in der anderen Hand. Sebastian staunte nicht schlecht.
»Woher hast du die Pla-ka und die Sachen«, fragte er verwundert. Antarona band die Reittiere an einen dürren Baum und antwortete über die Schulter hinweg:
»Ihr hattet doch wahrlich nicht geglaubt, dass Torbuks Schergen auf ihren Füßen durch das Land gehen. Tekla und Tonka hatten gewusst, dass die Pla-ka in der Nähe waren.« Sie rollte das Bündel der Krieger auseinander, besah sich die Felle und Lederstücke und wählte eines aus, dass sie mit ihrem Fischmesser zuschnitt. Rasch hatte sie ein Oberteil zugeschnitten, das sie sich mit Lederschnüren anlegte.
»Ich hatte geglaubt, dass du nicht mehr mit mir sprechen würdest. Wegen Thies, weil ich ihn getötet habe«, gab Sebastian betreten und kleinlaut zu, indem er mit den Füßen im Dreck scharrte und auf den Boden starrte, als müsste er überprüfen, von welcher Beschaffenheit dieser war.
Antarona stand auf, trat auf ihn zu, nahm seine Hände, legte sie sich auf die nackte Hüfte und schlang liebevoll ihre Arme um seinen Hals. Dann küsste sie ihn sanft und innig, bevor sie ihm mit ihrem typisch magischem Blick tief in die Augen sah.
»Ba - shtie, ihr konntet es nicht wissen, und habt daher recht gehandelt«, beruhigte sie ihn, »Das Herz von Sonnenherz ist sehr traurig, denn Thies war ein guter Îval. Doch ihr habt so gehandelt um das Leben Sonnenherz und Veniaphalis zu schützen. Ihr habt es mit gutem Herzen getan. Die Götter werden es euch verzeihen!«
Mit feuchten Augen zog er das Krähenmädchen fest an sich, streichelte ihr über die nackte Haut, und spürte, wie ihm eine Tonne Gewicht vom Herzen genommen wurde. Hätten sie nicht gerade die Aufgabe, drei Tote vor der Verwesung zu bewahren, so hätte er die Gelegenheit benutzt, sie leidenschaftlich zu lieben.
Doch der Tod der Feinde und des Jungen lagen ihm noch schwer auf der Seele. Hörte das niemals auf, das Töten? Dieses Land konnte so wunderbar sein, mit all seinen Chancen für die Bewohner, wenn es nicht jene geben würde, die nach unverhältnismäßigem Reichtum und uneingeschränkter Macht trachteten.
So langsam begriff Sebastian, dass man sich Frieden, Freiheit, und Gerechtigkeit mit vielen Opfern immer wieder neu erkämpfen musste, egal, in welcher Welt man sich befand. Geschenkt bekam man das höchste gut einer Gesellschaft nirgendwo.
»Wir müssen zusehen, dass die Leichen unter die Erde kommen, damit die Tiere sie nicht annagen«, bemerkte Sebastian wie nebenbei. Er wollte diesen Moment der Innigkeit nicht zerstören. Dennoch konnten sie nicht ewig in diesem von Gestrüpp und unwegsamen Wald beherrschten Gelände verweilen.
»Tut mit den Kriegern Torbuks, was ihr mögt, Ba - shtie, doch Thies wird nicht in dieser Erde liegen«, stellte Antarona fest. Auf seinen fragenden Blick hin fuhr sie fort:
»Dieser, den sie Thies Ribar nannten, wird zum Tor gebracht, welches in das Reich der Toten zu den Göttern führt«, bestimmte sie mit einer Stimme, die keinen Kompromiss zuließ. Sebastian sah sie entsetzt an:
»Bei den Göttern, Antarona, du kannst ihn unmöglich ins Val Mentiér bringen lassen«, mahnte Basti mit einiger Entrüstung, »wenn er dort ankommt, und am Tor zum Reich der Toten ist, wird nichts mehr an ihm dran sein, das ihr zu den Göttern schicken könnt.«
»Wer sagt, dass er in das Val Mentiér gebracht werden muss?« fragte das Krähenmädchen verwundert. Sie ahnte Sebastians Unwissenheit und erklärte:
»An vielen Orten gibt es ein Tor zum Reich der Toten, Ba - shtie. Doch vermag man nur zu bestimmten Zeiten hindurch zu treten, und die Toten hinüber zu bringen, denn die Tore sind verschlossen und öffnen sich nur an vorbestimmten Sonnen und Monden.« Sebastian sah sie interessiert an und fragte mit wachsender Neugier:
»Heißt das, man kann zu bestimmten Zeiten durch eines dieser Tore in die Welt der Toten treten?« Nun war es wieder Antarona, die ihn staunend ansah. Verwundert fragte sie:
»Habt ihr vergessen, woher ihr gekommen wart? Ihr selbst seid doch aus dem Reich der Toten zurückgekehrt, ihr wart dort, Ba - shtie, ihr wart bei den Göttern, dort, wohin die Toten wandern, wenn sie durch das Tor getragen wurden.«
In Bastis Kopf arbeitete es. Die Leichen der Krieger, die schon aus Rücksicht auf die Nasen der Lebenden beerdigt werden sollten, traten in den Hintergrund. Etwas anderes beschäftigte ihn nun viel mehr, etwas, nach dem zu fragen er vor einem Halben Jahr vergessen hatte. Das neue Leben in einer neuen Welt hatte ihn in seinen Bann gezogen.
Nun aber war eine zentrale Frage wieder aufgetaucht. Gab es einen Weg zurück in seine Welt? Waren diese Tore in das Reich der Toten der Schlüssel dazu? Führten sie am Ende in seine Welt zurück? Waren diese Tore so etwas wie Durchgänge zwischen verschiedenen Welten? War er auf diese Weise in Antaronas Welt, ins Val Mentiér, gekommen?
»Wann öffnen und schließen sich die Tore zum Reich der Toten, und wie gelangt man an ihre Pforten?« wollte er nun von Antarona wissen, und er bedrängte sie so danach, dass sie skeptisch zurück wich. Befremdlich blickte sie ihn an, als hätte er sich plötzlich in ein Monster verwandelt.
»Das weiß niemand außer den Wächtern der Tore zum Reich der Toten. Sie allein kennen die Zeiten, in denen sich die Tore öffnen und schließen. Ihr müsstet Tark, den Bruder von Sonnenherz fragen, denn er ist der Wächter des Tores am Rande des ewigen Eises über dem Val Mentiér.«
Sebastian musste also irgend einen der Wächter dieser Tore befragen. Möglicherweise führten diese geheimnisvollen Tore gar nicht in ein Reich der Toten, sondern in seine eigene Welt. Gab es mehrere Dimensionen, in die Menschen nach dem Tod weitergereicht wurden, wo sie dann wieder geboren wurden? Doch was war dann mit ihm, Sebastian Lauknitz, geschehen?
War er tatsächlich durch eines dieser Dimensionstore gestolpert, und zwar in die falsche Zeitrichtung, und befand sich nun in einer Dimension vor seiner Geburt? Er schüttelte energisch den Kopf. An solchen Gedanken waren ganz andere Größen der Menschheit, als er, übergeschnappt! Die Möglichkeit, mehr darüber zu erfahren, wollte er aber im Auge behalten.
Wichtiger war es im Augenblick, von diesem Ort fort zu kommen. Sie konnten nicht wissen, wo ihre Feinde noch überall herumschlichen, und was die geheimnisvolle Frau, die sich mit der Drachenreiterin traf, noch vorhatte. Sie mussten zurück nach Mehi-o-ratea.
Während sie den Leichnam Thies in die Felle aus den Bündeln der Krieger wickelten, fragte Sebastian seine Frau wie beiläufig:
»Kennst du diese Frau mit Namen Radna Knova Ilisiè, von der Thies gesprochen hatte?« Antarona sah ihn einen Augenblick zweifelnd an, und er hatte schon die Befürchtung, dass sie gar nicht hingehört hatte, als Thies den Namen der Verräterin nannte. Dann aber schüttelte sie langsam den Kopf und sagte:
»Dieser Name ist Sonnenherz nicht bekannt. Vielleicht mag man ihn im Dorf der ewigen Jugend kennen.« Basti nickte nachdenklich und erwiderte:
»Möglich. Doch wir sollten vorsichtig sein. Wenn wir mit diesem Namen wie mit der Tür ins Haus fallen, oder unbedacht herumfragen, wird diese Radna möglicherweise gewarnt, und wir erfahren nie, was sie und diese Drachenfrau geplant haben. Wir sollten zuerst nur jene fragen, denen wir vertrauen können.«
»Vielleicht können Sonnenherz und Glanzauge ihr eine Falle stellen, um herauszufinden, wer sie ist«, bemerkte Antarona nachdenklich. Sebastian nahm diesen Einfall gerne auf.
»Und wie willst du das anstellen, wenn es erlaubt ist zu fragen«, antwortete er nicht ohne seinen Sarkasmus, denn er konnte sich keine List vorstellen, in der nicht ihr Name genannt werden würde. Antarona lächelte süß und erklärte in ihrem Triumph, ihm an Tücke überlegen zu sein:
»Sonnenherz und Ba - shtie verbergen den Leichnam von Thies, und behaupten im Dorf, dass er nicht tot, sondern verwundet ist, und lassen hören, dass er in der alten Fischer- Jaen-tè von einer Mutter der Kräuter gesund gepflegt wird, und dass er nach seiner Rückkehr die Namen der Verräter benennen wird.« Basti wiegte nachdenklich den Kopf.
»Du glaubst also, dass es mehrere Verräter sind«, diktierte er sich seine Gedanken vor, »und dass sie versuchen werden, Thies mundtot zu machen, bevor er etwas ausplaudern kann.« Er blickte auf.
»Was aber, wenn die Jo-lie versuchen wollen, ihn zurückzuholen, um ihn ins Wundhaus zu bringen, das wir in Eisilias Haus eingerichtet haben?« Fragend sah er seine Frau an. Antarona hob gleichgültig die Schultern und meinte:
»Dann werden die Verräter versuchen, noch schneller zu sein, denn sie können nicht riskieren, dass Thies ihnen bereits etwas sagt. Ba - shtie und Sonnenherz müssen nur beobachten, wer sich als erstes zur alten Jaen-tè auf den Weg macht«, erklärte sie, überzeugt davon, dass diese List gelingen musste.
»Aber was ist damit, dass Thies an die Pforte zum Reich der Toten gebracht werden sollte?« fragte er verwundert. Antarona schürzte die Lippen zu einem Ausdruck, des Bedauerns und gab zu:
»Dann muss er noch etwas warten. Sonnenherz wird seinen Leib mit der Zeit der Götter einreiben. So werden Zeit und Wetter der Menschenwesen ihm nicht schaden können.«
»Was ist das, die Zeit der Götter?« wollte Bastis Neugier wissen. Antarona aber wusste nicht recht, wie sie ihm das erklären sollte und sprach:
»Ihr werdet es sehen, Ba - shtie, Sonnenherz wird es euch zeigen, wenn es soweit ist«. Er gab sich damit jedoch nicht ganz zufrieden. Skeptisch fragte er:
»Und du bist ganz sicher, dass wir Thies nun zu der Fischerhütte bringen sollten?« Antarona nickte bestimmt und beruhigte ihn:
»Der Weg ist Ba - shtie und Sonnenherz nun bekannt. Es wird daher nicht sehr lange dauern. Außerdem werden die Pla-ka eine gute Hilfe sein.« Es mochte alles so plausibel klingen, dennoch rumorten in Bastis Bauch Zweifel. Der Plan stand auf wackligen Beinen. Was, wenn es zu lange dauerte, und Radna nachsehen kam? War sie dann nicht gewarnt?
Zudem befand Sebastian dass der Name Radna Knova Ilisiè russisch klang. Doch wie sollte eine Russin in diese Welt gelangen? Auf die gleiche Weise, wie er selbst? Dann fiel sein Blick auf den gefallenen Krieger und er fragte besorgt:
»Und was machen wir mit dem da, und mit seinem Kumpan da hinten, hinter den Felsen?« Als Antarona nicht sofort antwortete, gab er zu bedenken:
»Wenn Radna die Leichen findet, wird sie kaum noch in die Falle gehen, oder?« Für seine kleine Frau schien das jedoch kein Problem darzustellen. Sie ließ keinen Zweifel daran, dass sie genau wusste, was sie tat.
»Sie werden mitkommen«, bestimmte sie knapp, »Sonnenherz wird sie in den Felsen am großen Wasser verbergen«. Noch während sie das sagte, machte sie sich daran, einen der Pla-ka vorzubereiten, die Leichen darauf festzubinden.
Umständlich mussten sie die Toten in Felle und Decken wickeln, weil, wie Antarona ihm erklärte, Pla-kas keine toten Leiber auf ihren Rücken duldeten. Die verschnürten Pakete warfen sie dann den Reittieren über die Rücken, was eindeutig anstrengender war, als zu versuchen, sie mit bloßen Händen, oder den Klingen der Schwerter zu beerdigen.
Die sperrigen, beweglichen und mächtig schweren Bündel rutschten ihnen immer wieder aus den Händen und plumpsten mit dumpfem Poltern auf den Boden. Erst als es Antarona möglich war, die Pla-ka so ruhig zu halten, dass sie ihnen die gewichtigen Pakete auf die Rücken schieben konnten, gelang es.
Mit dünnen Luftwurzeln der Bäume banden sie die Toten auf den Tieren fest, hängten sich die erbeuteten Waffen um, und zogen los, den Weg, den sie vor ein par Stunden gekommen waren. Da ihnen der Pfad nun bekannt war, kamen sie schnell voran. Das einzige Hindernis, das sie aufhielt, waren die Leichen, die auf den Rücken der Reittiere immer wieder herunter zu rutschen drohten. Regelmäßig mussten sie die Lianen nachzurren, oder eine austauschen, wenn sie brach.
Es war später Nachmittag, als sie die Küste wieder erreichten. Bevor sie die Richtung nach der Hütte hin einschlugen, wanderten sie unter den Felsen entlang, die nach Süden hin immer mächtiger den Strand beherrschten. Immer höher und dichter am wasser ragten die vom Meer ausgehöhlten Gebilde über ihnen auf. Spalten, Löcher, und breite Risse wechselten einander ab.
Sie hatten die Pla-ka gewiss einen Kilometer den Küstenstreifen entlang geführt, als ein breiter Riss, fast schon eine Schlucht, in den Fels führte. Antarona kletterte flink wie ein Äffchen hinauf und begutachtete das Versteck. In der Klamm öffnete sich eine Höhle. Sie hatten nicht die Zeit, diese genauer zu erkunden. Doch für ihren Zweck genügte sie.
Unter Schwerstarbeit wuchteten sie die Leichen über den flachen Zugangsfels hinauf, zerrten sie in die Klamm hinein, und schließlich in die Höhle. Gemeinsam hievten sie die Bündel auf ein Steinpodest, bis Antarona befand, dass es gut war. Dann ließ sie Sebastian für eine Weile allein.
Mit den Worten sie wollte die Zeit der Götter holen, schwang sie sich auf den Rücken eines Pla-ka, hieb ihm ihre kleinen Fersen in die Seite und galopierte los. Sebastian war zum Warten verurteilt. Er setzte sich auf einen warmen, von der Sonne bedachten Felsen und sah aufs Meer hinaus. In der Höhle, zwischen den Leichen wollte er sich einfach nicht wohl fühlen.
Das regelmäßige, auf und abschwellende Rauschen des Meeres, das seine Brandungswellen direkt unter ihm am Strand brach, machte ihn schläfrig. Basti sah noch einmal zu dem Pla-ka, der am Fuße der Felsen angebunden war, dann machte er es sich bequem, setzte sich so, dass ihn die Sonne beschien, er aber durch die Felsen gedeckt, von unten nicht zu sehen war.
Die Müdigkeit war so groß, dass er sofort einnickte. Sein letzter Gedanke versicherte ihm, dass er jedes abnorme Geräusch hören, und sofort aufwachen würde. Seine Sinne versanken in einem Traum, in dem er durch eiskalte Tore zwischen vielen Welten wandelte, die alle verschieden waren, und ihn immer weiter faszinierten, bis er schließlich in einem der frostigen Tore hängen blieb, sich nicht mehr befreien konnte, und hoch schreckte.
Die Sonne hatte die obere Felskante erreicht, und den Zugang zur Klamm in Schatten gelegt. Sein Platz war kühl geworden, und hatte ihn geweckt. Bastis erster Blick galt dem Pla-ka. Er stand ruhig an seinem Platz, als wäre er versteinert worden. Von Antarona allerdings war nichts zu sehen.
Sebastian beschloss hinunter zu steigen und ihr entgegen zu reiten. Er band das Reittier los, flüsterte ihm freundschaftliche Worte ins große Ohr und schwang sich auf seinen Rücken, was er freilich nicht so geschmeidig vollzog, wie das Krähenmädchen. Im Tal der roten Flühen hatte er es reichlich geübt, doch entweder war ihm sein Gemächt im Weg, oder nahm zu wenig Schwung, oder das dumme Tier drehte sich ausgerechnet beim Aufsprung. Nach wie vor sah sein Aufsitzen wenig elegant aus.
Erst einmal oben, auf dem breiten Rücken, konnte er mittlerweile ebenso sicher mit dem Tier umgehen, wie seine Frau und Lehrmeisterin. Dennoch ritt er sehr ungern. Er hatte stets das Gefühl, dass die Pla-ka ihn nicht mochten. Spürten diese Tiere, dass er eigentlich nicht in ihre Welt gehörte?
Mit leichten Tritten seiner Ferse in die Rippen spornte Basti das Tier an und trabte den Sandstrand entlang. Er lenkte es mit dem Druck seiner Schenkel und leichtem Ziehen an den Zügeln unter der Felswand entlang, die aber rasch flacher wurde, bis sie vom Wald gänzlich abgelöst wurde.
Der angenehm kühle Wind des Rittes lenkte ihn so sehr ab, dass er kaum noch darauf achtete, wie weit er ritt. Erst als der Schrei eines Raubvogels ertönte und der Pla-ka vor Schreck mit den Vorderhufen aufstieg, fiel Sebastian wieder in die Realität zurück. Er rutschte auf dem Tier nach hinten, riss automatisch die Zügel zu sich heran, was das Tier noch mehr aufbäumen ließ, und landete unsanft im Sand des Strandes.
Ein helles, etwas heiser klingendes, ausgelassenes lachen erfüllte nun den Strand. Antarona lenkte ihren Pla-ka aus dem Waldweg heraus, und drohte vor übertriebener Heiterkeit ebenfalls von ihrem Tier herunter zu fallen. Sie musste so heftig lachen, dass ihr die Tränen über die Wangen kullerten.
»Steigt ihr immer so schnell ab, Ba - shtie, nur weil ein Vogel schreit?« belustigte sie sich. Noch etwas benommen registrierte Basti, wie sie direkt vor ihm mit dem Po vom Rücken ihres Tieres glitt, als hätte sie dessen Fell mit Öl eingerieben. So, wie sie auf dem Boden aufkam, ging sie in die Hocke und grinste ihn breit an. dann schüttelte sie den Kopf, als zweifelte sie an seiner Lebensfähigkeit.
»Ihr müsst eins sein, mit dem Tier, müsst fühlen, was es selbst fühlt, müsst jeden seiner Muskel spüren und jeden seiner Sinne. Dann steigt ihr würdevoll ab wie jener, der einmal König sein will.« Den zweiten Satz sprach sie mit einem neckischen Funkeln in den Augen. Sie machte sich eindeutig über ihn lustig. Basti rieb sich das Hinterteil und unkte:
»Ha, ha, zum Totlachen! Wenn ich einmal König sein sollte, lasse ich alle frechen Mädchen und Frauen in den Kerker werfen, die mit hinterhältigen Rufen arme Reiter erschrecken!« Mit gespieltem Zorn stand er auf und wollte seinen Pla-ka besteigen. Doch das Tier drehte sich bockig weg, und Sebastian, der schon ein Bein auf dem Rücken des Tieres hatte, landete dort, von wo er sich gerade hoch gerappelt hatte.
Antarona bog sich, kringelte sich, und wälzte sich im Sand. Sie musste sich vor Lachen den Bauch halten, und wollte sich gar nicht wieder beruhigen. Basti aber freute sich heimlich mit ihr. Selten hatte er sie so ausgelassen und in Schadenfreude aufgelöst gesehen. Er glaubte sogar, sie nie offen lachen gehört zu haben und genoss es, ihrem leicht kehligen, hellen Lachen zuzuhören.
Wie kindlich sie zu sein vermochte, wenn sie nicht Kriegerin und Prinzessin sein musste! Es juckte ihm in den Fingern, zu ihr hinüber zu hechten, und sie am ganzen Körper abzukitzeln, um ihr Lachen noch eine Weile erleben zu dürfen. Doch sie hatten noch eine Mission, und er wollte den Bogen nicht überspannen.
Seine nächsten Versuche, sich auf den Rücken des Pla-ka zu ziehen, erwiesen sich als unerschöpflicher Quell Antaronas Humor, bis er endlich sicher auf seinem inzwischen ziemlich nervösen Tier saß. Es kostete ihn reichlich Mühe, sein Transportmittel in den Griff zu bekommen, das nicht ruhig werden wollte, solange sich ein nacktes Mädchen zu seinen Hufen im Sand vor Lachen bog. Sebastian vermutete, dass dieses Tier so etwas auch noch nicht erlebt hatte.
Nachdem sich Antarona schließlich wieder in der Gewalt hatte, und leicht wie eine Feder auf ihr Reittier gesprungen war, ritten sie unter den Felsen zurück zur Schlucht und der Höhle. Immer noch glaubte Basti von seiner Krähenfrau hin und wieder ein heimliches Glucksen zu hören. Ihr Schalk war also noch nicht ganz verflogen.
Mittlerweile hatte die Flut eingesetzt, und sie mussten durch Knöchel tiefes Wasser traben. Der schmale Streifen des sandigen Strandes war inzwischen geflutet, und Basti machte sich gerade Gedanken darüber, wie hoch das Wasser noch steigen würde, als eine hohe Welle angerollt kam und sich an einigen Felsen vor ihnen brach. Salzige, nasse Fontainen übergossen die beiden Reiter. Eigenartiger Weise scheuten die Pla-ka nicht. Offenbar waren sie es gewohnt, durch Meer und Gischt zu traben.
Antaronas Körper glänzte nun im Licht der Nachmittagssonne wie eine Bronzestatue. Sie verschmolz optisch mit dem braunen Reittier und es sah im Gegenlicht so aus, als bewegte sich ein skurriles Phantasiewesen vor Sebastian. Während er sich unter der unfreiwilligen Dusche schüttelte, schien Antarona der Schwall kalten Wassers nichts auszumachen.
Fasziniert betrachtete Basti, wie sich die beiden nassen Körper von Reiterin und Pla-ka aufeinander abgestimmt bewegten. Der Glanz ließ Licht und Schatten kontrastreicher trennen und jeder Muskel, jedes Grübchen und Fältchen, jede Kontur trat deutlich hervor, so dass er schon wieder an etwas anderes, als an ihre selbst auferlegte Aufgabe dachte.
Die rückte wieder näher in sein Bewusstsein, als sie unter der Schlucht ankamen, in welcher die Höhle lag. Mittlerweile standen die Pla-ka bis zu den Unterbeinen im Wasser und wurden mit jeder Welle, die an die Felswand schlug durchnässt. Sie versuchten die Tiere in die Klamm zu führen, damit sie trocken standen, doch ihre Hufe glitten auf den nassen, vom Meer blank polierten Felsen immer wieder aus. Das Risiko, dass sich eines der Tiere ein Bein brach, war zu hoch.
Also mussten sie sich beeilen, um vor dem Höchststand der Flut zu verschwinden. Sie rollten die Leichen aus den Tüchern, und Antarona begann eine sämige, milchige Paste anzurühren, deren Geruch zwischen Schuhcreme, Mastix und irgendwelchen Blüten anzusiedeln war. Ein stark riechendes Baumharz verrührte sie mit einer Flüssigkeit, die Basti für den Nektar irgendeiner Pflanze hielt.
Nachdem das Geheimrezept, das die zeit der Götter genannt wurde, gut vermischt war, nahm sie einige große Blätter, und rieb die kompletten Körper der Toten damit satt ein. Den Rest des Mittels verteilte sie auf die Felle und Decken, in die sie die Leichname wieder einrollten. Das ganze dauerte etwa eine Stunde und wuchs sich zu einer schweißtreibenden Arbeit aus, denn die Toten waren alles andere, als leicht.
»So, nun mögen sie zwei, oder drei Monde ruhen. Sie haben nun die Zeit der Götter.« Antarona erhaschte Bastis fragenden Blick und fügte hinzu:
»Wird diese Behandlung noch zwei, oder drei Mal wiederholt, so vermag ein Körper die Zeit für eine Ewigkeit zu überlisten.« Sebastian wurde mit einem schlag klar, was Antarona getan hatte. Auf diese Weise wurden anscheinend Menschen für eine lange Zeit konserviert. Ihr Wissen darüber wäre in seiner Welt wohl ein Vermögen wert.
Als sie wieder aus der Klamm traten, standen die Pla-ka zitternd vor Kälte bis zu den Leibern im Wasser. jede anrollende Welle drohte sie gegen die Felsen zu werfen. Nur mit Mühe konnten die Tiere sich noch aufrecht halten. Sebastian blickte erschrocken und überrascht die Felsen hinab und sah auf eine schäumende, brodelnde Wasserfläche, die sich im roten Licht der untergehenden Sonne wie ein lebendiges Tier vor dem Horizont bewegte.
»Jetzt aber los!« forderte er Antarona zur Eile auf. Der Wasserspiegel schien knapp seinen Höchststand erreicht zu haben, denn in die Schlucht wusch die See offensichtlich nicht hinein. Das erzählten ihnen die Wände der Felsen, die im gegenteiligen Fall eine Markierung aufgewiesen hätte. Mussten sie nicht Rücksicht auf ihre Tiere nehmen, so hätten sie auch in der Höhle übernachten können.
So stiegen sie direkt von den Felsen auf die Rücken ihrer Pla-ka und lenkten die Tiere zurück. Im tiefen Wasser war nur ein langsames Fortkommen. Jedes Mal, wenn ein Brandungsbrecher anrollte, drohte er die Reittiere von den Beinen zu werfen. Doch tapfer stemmten die beiden Tiere ihre Muskeln dagegen.
Allmählich wurde der Strand breiter und bald konnten sie die treuen Pla-ka im Knöchel tiefen Wasser antraben lassen, jedoch nur so weit, als sie sich wieder aufwärmen konnten, ohne zu schwitzen. Ansonsten konnten die Tiere sich erkälten und elendig sterben, erklärte ihm das Krähenmädchen.
Sebastian dachte schon wieder an andere Dinge. Er machte sich Gedanken darüber, inwieweit die Höhle für eine mögliche Zuflucht geeignet war, wenn der Zugang regelmäßig überflutet wurde. Zumindest für ein par Stunden mochte man in diesem Versteck ziemlich sicher sein.
Nun aber war Sebastian froh, weit hinten die Mündung des Flusses glitzern zu sehen. Die Jaen-tè des unbekannten Fischers konnte also nicht mehr weit sein. Gerade passierten sie die beiden Pfeiler mit den Laternen. Das Meer war bis auf wenige Meter an die Vorrichtung herangekrochen. Somit erklärte sich für ihn auch die Höhe der angebrachten Lampen.
Nach einigen Metern, die sie die Pla-ka abgesessen im Schritt gehen ließen, um sie nicht überhitzt stehen zu lassen, tauchte die kleine Hütte vor den hohen Bäumen des Hangwaldes auf. Sie führten die Tiere auf den Schattenseite und Sebastian schnitt einige Büschel Strandgras, um die Pla-ka abzureiben. Das Gras, das den Tieren gut tat, schnitt Basti hundertfach in die Hände. Er fluchte laut und gleichzeitig ging ihm auf, was für wertvolle Stoffe Heu und Stroh waren.
Antarona hatte bereits den Kamin angefeuert, als er in die Jaen-tè trat. Sie war gerade dabei, die Reste der erbeuteten Bündel zu sortieren, und warf ihm zwei ausgefaserte, löchrige Pelze zu, rümpfte die Nase und verzog das Gesicht.
»Die hier stinken über die Maßen«, stellte sie entsetzt fest, »die könnt ihr den Pla-ka überwerfen.« Die verbliebenen Felle drapierte sie über die einfache Bettstelle, bevor sie sich ihrem spärlichen Proviant zuwandte.
Noch einmal ging Sebastian hinaus. Gewissenhaft band er den Pla-ka die zerschlissenen Pelze über die Rücken. Die Tiere mucksten sich nicht. Offenbar spürten sie, dass ihnen etwas Gutes getan wurde.
Dann huschte er zurück in die warme Hütte. Antarona teilte das Essen auf, das noch da war. Ein kärgliches Mahl. Zwei Trockenfische für jeden, sowie ein Streifen Trockenfleisch, dazu ein Brocken hartes Brot. Er fragte sich einen Moment lang, wie es dem Krähenmädchen gelungen war, diese üppigen Gaben bei ihrem Sturmritt durch die See dem Wasser fern zu halten.
Wie ein scheues Kätzchen verkroch sich Antarona mit ihren Köstlichkeiten unter die Felle. Basti vermutete, dass dieses verhalten weniger einer Angst zukam, als denn mehr der nächtlichen Kälte, die trotz des Kamins in die zugige Hütte kroch. Nun begann auch Sebastian leicht zu frieren. Er stellte sich vor, wie er sich unter den Fellen von hinten an das Krähenmädchen schmiegte, und augenblicklich wich die Kälte auf seiner Haut einer aufsteigenden Hitze.
Der nagende Hunger war verflogen. Einem kribbelnden Gefühl der Spannung war er gewichen, das sich immer mehr zu einem Verlangen steigerte. Von Antarona lugte nur noch ihr Haarschopf unter den Fellen hervor, und sie gab sich keine Mühe, ihn unter das warme, schützende Dach der Pelze zu locken. Aber gerade das reizte ihn.
Achtlos ließ er das harte Stück Fleisch, an dem er herumgekaut hatte, auf dem groben Tisch liegen und schlüpfte zu Antarona unter den Schutz, wo sich angenehme Wärme ausgebreitet hatte. Behutsam schmiegte er sich an ihren warmen Körper. Bald danach schliefen sie tief und fest ein.

Als Sebastian wieder erwachte, lag er allein unter den Fellen. Durch das kleine Fenster neben der Tür fiel schräg das Sonnenlicht herein, schien sämtlichen Staub in seine Strahlen aufzunehmen, und beleuchtete die hintere Ecke des Raumes. Licht und Schatten bildeten einen so deutlichen Kontrast, ließen jedes Detail klar hervortreten, dass Basti geradezu erschrocken war, in welcher Bruchbude sie die letzte Nacht verbracht hatten.
Leicht pikiert von dem Dreck und der maroden Substanz der Hütte, legte er sich seinen Lederschurz um, den er neben ihrem Lager fand, und trat vor die Hütte. Das Holz der kleinen Veranda fühlte sich kalt an und schlagartig wurde ihm bewusst, dass sich die Temperatur in der Nach deutlich abgekühlt hatte. Von Antarona fehlte jede Spur.
Wieder einmal verfluchte er den Eigensinn des Krähenmädchens. Als wäre sie ganz allein auf dieser Welt, streunte sie ohne Waffen und ohne Schutz irgendwo herum. Es war zum Verrücktwerden mit ihr. Sebastian brauchte eine Weile, bis sich seine Augen an das stechende Sonnenlicht gewöhnt hatte, das ihm ins Gesicht schien. Dann erblickte er Antarona hinter dem sonnigen Streifen des Strandes.
Abwechselnd sah er sie aus den Wellen des anbrandenden Meeres heraushüpfen, dann war sie wieder verschwunden. Beinahe sah es so aus, als kämpfte sie mit einem Meeresungeheuer, das immer wieder nachschnappte, um sie in die Tiefe zu ziehen. Statt dessen aber war es offensichtlich ihr neues Vergnügen, sich von den Wellen an den Strand tragen zu lassen, um sich ihnen anschließend wieder entgegen zu werfen.
Sebastian fror beim Anblick der Gischt sprühenden Wogen, die mit ungebrochener Gewalt gegen das Land anrollten. Aber keinesfalls wollte er Antarona allein das Vergnügen dieses Abenteuers lassen, erst recht nicht, als er sie wie kupfern glänzend, nur mit ihrem Rali, dem Lederschurz bekleidet durch das Wasser gleiten sah.
Um sich warm zu machen, lief er das Stück bis zum Strand hinab in kräftigem Sprint. Auf den letzten Metern löste er die Schlaufe seines Lederschurzes, ließ ihn einfach fallen, und warf sich noch im Lauf in die anbrausenden Wellen. Der Schock des kalten Wassers wirkte nur den Bruchteil einer Sekunde auf ihn. Dann kämpfte er sich gegen den Strom des Meeres zu Antarona hinüber.
Als er sie erreicht hatte, was sie seiner Meinung nach nicht einmal bemerkt hatte, schlang er seine Arme um ihre Taille und hob sie hoch. Antarona kreischte vor Vergnügen, und nun wusste er, dass sie nur darauf gewartet hatte. Wahrscheinlich hatte sie ihn bereits gesehen, als er aus der Hütte trat.
Spielerisch begann sie mit ihm einen Kampf, und jauchzte vor Vergnügen, denn sie wusste, dass sie ihm im Wasser überlegen war. Auch Sebastian war klar, dass es einfacher war, einen Aal zu fassen zu bekommen, als das Krähenmädchen. Dennoch ließ er sich auf den gespielten Kampf ein.
Er warf sie im Wasser herum, hielt sie an ihren Fußfesseln fest, packte sie, drehte sie, und warf sie erneut in eine anrauschende Welle. Es nützte nichts, sie entwischte ihm immer wieder, wie ein glitschiger Fisch. Bis eine große Welle sie ihm in die Arme spülte. Sofort umklammerte er sie und hielt sie fest. Antaronas Kampfeslust schlug um in eine Wildheit ganz anderer Art, und entführte Sebastian in einen Rausch, der das Meer zum Kochen brachte, und dessen Zeugen einzig und allein die Wellen waren.
Irgendwann, viel später, begannen sie zu frieren, obwohl die Sonne vom Zenit brannte und nur ein leichter Wind das Strandgras bewegte. Basti nahm seinen Schurz auf, hob das zierliche Krähenmädchen hoch und trug sie in den Windschatten zwischen zwei Sanddünen, die einen von der Sonne beschienenen Kessel bildeten. Dort bettete er sie behutsam in den warmen, weichen Sand.
Verträumt legte er sich daneben und sie dösten ein, oder zwei Zentaren in der intensiven Sonne. Ihre Hände suchten sich, fanden sich und ihre Finger begannen ein vertrautes Spiel miteinander, das beiden eine sichere Geborgenheit vermittelte. Sie spürten, dass ihr Glück und die Erfüllung ihres Lebens voneinander abhing, und dass sie sich vollkommen fühlen konnten, wenn sie zusammen waren.
Später, die Sonne hatte ihren höchsten Punkt noch nicht erreicht, kehrte das Leben in die beiden, ruhenden Körper zurück. Sebastian hatte den Verdacht, dass er tatsächlich zwischendurch eingeschlafen war. Und das verwunderte kaum. Die Sonne schien in ihre Sandmulde, sie beide waren beieinander, der Wind wisperte ihnen zu, und ab und an summte ein Insekt um sie herum. So friedlich hatten sie es schon lange nicht mehr. Basti und auch Antarona mochten sich am liebsten nicht mehr aus ihrem Tagtraum lösen.
Doch immer noch gab es die geheimnisvolle Unbekannte, die sie beide töten wollte, und jene Fremde, die auf dem Drachen ritt. Sie kannten die beiden Verräterinnen nicht, und diese Unsicherheit stand zwischen ihnen und einem friedlichen Leben in Mehi-o-ratea, auch wenn es nur vorübergehend war. Das Rätsel musste also gelüftet werden, wollten sie nicht irgendwann hinterrücks erdolcht werden, oder das Volk der Îval in einen neuen Hinterhalt geraten lassen.
Sie hängten sich die erbeuteten Waffen um, verschlossen die Fischerhütte, und schwangen sich auf die Pla-ka. Doch sie schlugen nicht den Weg ein, den sie am Vortag genommen hatten. Zu groß war das Risiko, dass die geheimnisvolle Fremde über das Ausbleiben ihrer Meuchelmörder misstrauisch wurde, und mit Verstärkung nachsehen kam. Es war nicht nötig, sich noch einmal bewusst einem Kampf gegen eine Übermacht auszusetzen.
Antarona und Basti schlugen den Weg ein, den sie gekommen waren, als sie von der Strömung des Flusses abgetrieben wurden. Freilich vermochten sie nicht den Strom hinauf zu schwimmen, doch sie wollten versuchen, am Ufer entlang ihre Hütte in Mehi-o-ratea zu erreichen.
Zunächst folgten sie dem Strand und später dem sandigen und an einigen Stellen steinigen Ufer des Flusses. Als sie die Furt erreichten, an der sie vorher gestrandet waren, mussten sie sich für eine Seite entscheiden. Blieben sie auf dieser Seite, so kamen sie irgendwo in der Nähe ihrer Hütte heraus, mussten aber damit rechnen, im unwegsamen Gelände mit den Pla-ka nicht mehr vorwärts zu kommen. Auf der anderen Seite hingegen schien das Ufer weniger dicht bewachsen, doch sie mussten später den Fluss überqueren, in dem sie sehr weit abgetrieben wurden.
Nach einigen Überlegungen kamen sie zu dem Schluss, dass es am vernünftigsten war, dort zu gehen, wo es einfacher war, und die Pla-ka später, in Sichtweite des Dorfes zu verstecken. Ohne die Reittiere konnten sie um die Biegung des Flusses an ihrer Hütte vorbei laufen, und sich dann mit der Strömung an den Strand vor ihrem Haus treiben lassen.
So erregten sie kein Aufsehen, und konnten mit dem Überraschungsmoment auf ihrer Seite in das Dorf zurückkehren. Vielleicht kamen sie auf diese Weise dahinter, wer sie aus dem Weg räumen wollte. Die Pla-ka mochten sie später über die Furt Strom aufwärts der Siedlung nachholen.
Zuerst konnten sie noch am Ufer entlang reiten. Doch als die Pla-ka ein ums andere Mal in der weichen, von wühlenden Nagern durchhöhlten Böschung fehltraten, und sie damit rechnen mussten, dass sie sich verletzten, stiegen sie ab und führten die Tiere teils durch das Dickicht, halb auf dem Uferterrain. Trotzdem sie nun langsamer voran kamen, waren sie immer noch schneller, als durch den Hochwald nahe dem Felsengebirge.
Nachmittags stießen sie auf den Pfad, der vom Dorf zu den Felsen führte, wo Thies mit den beiden Kriegern Torbuks auf sie gewartet hatten. Sie drangen im rechten Winkel zum Weg in den Wald ein und gingen so weit, bis sich eine geeignete Stelle fand, die Reittiere zu verstecken.
Eine kleine Lichtung am Rand der steilen Hänge, umgeben von drei mal Mann hohen Felsen, war mit Gras bewachsen, und ideal für die Tiere. An langer Leine pflockten sie die Tiere an, um ihnen im Falle einer Bedrohung den nötigen Raum zur Verteidigung zu geben. Die Waffen, außer den Messern, verbargen sie in der Nähe in einer kaum zu sehenden Felsspalte. Nach einer kurzen Rast schlichen sie zum Weg zurück.
Vorsichtig spähten sie aus dem Gebüsch eine geraume Zeit auf den Pfad, um sicher zu gehen, dass niemand sich auf ihm bewegte. Nachdem alles ruhig blieb, wagten sie sich hinaus und folgten dem Trampelpfad, der offenbar nicht sehr oft benutzt wurde.
Eine knappe halbe Stunde waren sie nicht gerade schnell gegangen, als Wasser durch die Bäume schimmerte, und ihnen ankündigte, dass sie wieder in Ufernähe waren. Bis dahin hatten sie nicht gewusst, dass so nahe beim Ufer ein Weg auf dieser Seite des Flusses entlang führte. Mit einem vorsichtigen Blick stellten sie fest, dass sie sich in der Biegung des Flusses befanden. Noch ein par hundert Meter, dann mussten sie auf der gegenüber liegenden Seite das Dorf Mehi-o-ratea liegen sehen.
Doch der Pfad wandte sich wieder vom Ufer ab und schlängelte sich nun durch hohen, üppigen Mischwald. Auch wurde er nun breiter. Antarona vermutete, dass der Weg den Jo-lie zum Beeren suchen und Jagen diente, und dass sie selten über die Biegung des Flusses hinaus gingen, weil Beeren und Wild in den Felsen seltener wurden.
Antarona und Basti ließen den Weg nun unbeachtet und folgten dem Ufer. Die Vegetation war aber so dicht, dass sie bald beide am ganzen Körper zerkratzt waren, Eine Pflanze, die ähnlich der Brennnessel, jedoch mit deutlich größeren und stabileren Blättern, die niedrig wuchs, machte besonders Sebastian zu schaffen.
Antarona hingegen machte sich einen altbekannten Schutz zunutze. Sie bestrich sich beinahe ihren ganzen Körper, besonders Beine und Bauch mit Lehm, der wie ein Schutzpanzer auf ihrem Leib auftrocknete, und die Haut vor den nesselnden Stacheln der Blätter schützte.
Zuerst betrachtete Basti sein Krähenmädchen mit skeptischem Blick, denn sie sah aus, wie eine Mischung aus einem Baum und einer Australischen Ureinwohnerin. Doch nach dreihundert weiteren Metern durch das unwegsame Unterholz waren die Nesseln der Blätter auch für ihn lästig genug, sich dieses Hautschutzes zu bedienen, der gleichzeitig als Tarnung diente.
An seiner Frau, die schlangengleich durch das Dickicht schlich, erkannte er, dass sie der dunkelgraue Lehm auf der Haut im Wald beinahe unsichtbar machte. Außerdem unterblieben plötzlich die regelmäßigen Attacken der kleinen Stechmücken, die sie zudem pisakten, sobald sie in die Nähe es Flusses gerieten.
Nach einer weiteren halben Zentare hatten sie die weite Kehre des Flusses hinter sich gebracht, und zwischen den Bäumen auf der anderen Seite tauchten die Hütten und Zelte der Jo-lie auf. Erst jetzt, wo sie die einfachen Behausungen erblickten, wurde ihnen bewusst, wie breit der Fluss war. Weiter oben am See war ihnen das wegen der vielen Schwemminseln gar nicht aufgefallen.
Erstaunt stellte Sebastian fest, dass die Hütten Mehi-o-rateas so winzig erschienen, als lagen sie am anderen Ufer eines großen Binnensees. Er musste seine Augen zusammenkneifen, um aus den kleinen Punkten zwischen dem Grün ihre bescheidene Kate an der Landzunge heraus zu finden. Die kleine Halbinsel war von dieser Seite aus nicht als solche zu erkennen, und so fiel die Orientierung nicht leicht.
Überhaupt mutete das riesige Dorf von dieser Stelle aus an, wie eine winzige Siedlung. Die Masse der Hütten und Zelte lag optisch hinter den Bäumen verborgen. Lediglich der viele aufsteigende Rauch ließ vermuten, dass es noch mehr Feuerstellen gab, wollte man einen Waldbrand ausschließen.
Ein wenig erinnerte Sebastian der Anblick an eine kleine Eingeborenensiedlung im Brasilianischen Dschungel. Oft hatte er in seiner Welt Fernsehdokumentationen gesehen, die solche kleinen Siedlungen an den großen Flüssen der Regenwälder zeigten. Wie eben auch dort, fiel das rege Treiben am Ufer auf. Kreischend und schreiend, spritzend und springend badeten die Jo-lie ausgelassen an den Stellen, wo die grob gezimmerten Molen in den Fluss hinein reichten.
Sebastian und Antarona beschlossen noch ein Stück weit Strom aufwärts zu gehen, um sich dann im Fluss bis zu ihrer Halbinsel und ihrer Hütte treiben zu lassen. So konnten sie relativ unbeobachtet ins Dorf gelangen. Vom freien Ufer hielten sie sich nun etwas zurück, obwohl kaum jemand sie in ihrer Tarnung auf diese Entfernung hätte erkennen können. Doch sie fühlten sich dabei etwas sicherer.
Sie waren sich beide darüber einig, dass es überlebenswichtig sein konnte, dass ihre Rückkehr nicht schon von weitem beobachtet werden konnte. Sie wollten nicht schon mit schussbereiten Bogen und blanken Schwertern vor ihrer Hütte erwartet werden.
Als sie das Dorf schon über die Hälfte passiert hatten, nahmen sie sich jeder einen großen, verzweigten Ast, die überall am Ufer herum lagen, und ließen sich damit langsam ins Wasser gleiten. Hinter den Holzstücken ließen sie sich mit dem Fluss treiben, dirigierten sich lediglich mit den Beinen in die Nähe des anderen Ufers.
In der Mitte des Flusses war die Strömung am stärksten. Sie mussten einiges an Kraft aufbieten, um nicht wieder zu weit abgetrieben zu werden. So erreichten sie das seitliche Ufer der Halbinsel, wo sie sich zunächst im Schilf verbargen. Lautlos krochen sie durch den bewachsenen Gürtel und spähten zu ihrer Hütte hinüber, da sie damit rechnen mussten, von gedungenen Mördern erwartet zu werden. Doch sie konnten nicht viel sehen, ohne sich zu weit aus der Deckung zu wagen.
Sebastian schlug vor, dass Antarona an dieser Stelle warten sollte, bis er die Halbinsel umrundet hatte, und von der anderen Seite ans Ufer kam, wo es weitaus weniger Deckung gab. Sollte er in einen Hinterhalt geraten, konnte ihm das Krähenmädchen immer noch zu Hilfe eilen, oder die Angreifer ablenken.
Sie nickte stumm und Sebastian ließ sich langsam wieder ins Wasser gleiten. Von der Strömung ließ er sich mit dem Ast als Tarnung um die Halbinsel herum ziehen, was eine Weile dauerte, da der Zug des Wassers in der Nähe der Schwemmböden nicht so stark war.
Als er endlich herum war, zog er sein Messer aus der Scheide und zog sich ans Ufer, das an dieser Stelle aus einem flachen Sandstrand bestand, also völlig ohne Deckung. Langsam schob er den Ast an Land und kroch hinterher. Dann blieb er liegen und spähte durch das nasse Geäst zu ihrer Jaen-tè hinüber.
Vom Ufer aus konnte er nur das Dach sehen. Auf dem First standen zwei Gestalten und hoben und senkten ihren Oberkörper scheinbar in einem stillen Takt. Sie waren also schon da! Offensichtlich versuchten sie über das dach in die Hütte einzudringen, was ihn etwas verwunderte, denn er konnte sich nicht erinnern, die Tür fest verriegelt zu haben. Schon wollte er zu Antarona zurück schwimmen, als ihm auffiel, dass jenen auf dem Dach ein größerer Gegenstand gereicht wurde. In diesem Moment war ihm alles klar.
Basti stand auf, steckte sein Messer weg und schritt offen auf die Hütte zu. Als die auf dem Dach ihn bemerkten, stiegen sie herab, und eine kleine Gruppe von Jo-lie lief ihm entgegen und begrüßte ihn fröhlich. Es waren die Jungen und Mädchen, die versprochen hatten zurückzukehren, um die Hütte vollends instand zu setzen.
Stolz erzählten sie ihm, was sie am Dach und an anderer Stelle noch verbessert und repariert hatten. Erleichtert ging er zum Schilfgürtel auf der anderen Seite hinüber und holte Antarona. Gemeinsam stellten sie fest, dass die jungen Leute aus ihrer Unterkunft ein kleines, sauberes und ansehnliches Heim gemacht hatten.
Peinlich berührt musste Sebastian eingestehen, dass sie nicht einmal in der Lage waren, den Jo-lie diese freundliche Tat angemessen zu vergüten, ja dass sie nicht einmal ein kleines Festessen ausrichten konnten, da sie noch nicht zur Jagd gekommen waren. Die freundlichen Helfer hörten dies und sofort machten sich zwei Mädchen auf, um etwas zu Essen zu holen.
Die anderen sammelten trockenes Holz und begannen unweit der Hütte am Strand einen Haufen für ein großes Feuer aufzuschichten. Auf Antaronas und Bastis fragenden Blick hin erklärten sie, dass es Lohn genug war, wenn die beiden ihnen ein paar Choreografien zum Elsirentanz zeigten. Sie waren zwar von ihrem Ausflug ziemlich müde, doch diese kleine Bitte wollten sie den Jo-lie nicht abschlagen.
So half ihnen Basti beim Holz sammeln, während Antarona erleichtert feststellte, dass sich ihre Waffen, insbesondere Nantakis noch in der Hütte befanden. Ob das noch der Fall gewesen wäre, wenn die jungen Menschen nicht an ihrem Haus gearbeitet hätten, konnte Basti nur vermuten. Möglicherweise hatte das rege Treiben potentielle Diebe, oder Mörder abgeschreckt.
Viel Zeit war nicht vergangen, da kamen die Mädchen mit den Armen voll Essen zurück. Ein kleiner Zug von weiteren Jo-lie folgte ihnen. Offenbar hatte es sich unter den jungen Menschen herumgesprochen, dass es am Abend auf der Halbinsel ein Elsirenfeuer mit den besten Elsirentänzern und -tänzerinnen des Landes gab.
Einige Mädchen hatten sich bereits ihre schon ziemlich durchlöcherten Elsirenkleider angezogen, andere trugen sie über dem Arm, die meisten aber kamen, wie sie üblicherweise den ganzen Tag herumliefen; in ihren knappen Leder- oder Stoffschürzen, mit oder ohne Oberteil.
Die Burschen trugen alle ohne Ausnahme nur ihren einfachen Kriegsrock, oder ebenfalls den traditionellen Lederschurz. Alle hatten die Arme beladen mit Früchten, Gemüse, Töpfen und Pfannen, sowie großen Fleischstücken. Ein wenig erinnerte der Zug an die Begrüßung der Besatzungen der Endeavour und Bounty, als sie auf Tahitii ankamen.
Einige der Mädchen hatten sich, wie in Sebastians Geschichtserinnerung, Blumenkränze auf die Köpfe gesetzt, oder in die langen Haare geflochten. Wie sie so ihre mitgebrachten Köstlichkeiten auf dem Strand absetzten, wurde die Geschichte aus Sebastian Lauknitz Welt tatsächlich lebendig. halb nackte Mädchen und kräftige, junge Männer tanzten auf dem Sandstreifen zwischen dem Fluss und der Hütte, zündeten das Feuer an, brieten Fleisch, schafften tote Baumstämme als Sitzplätze heran, während die Mädchen die Gemüse putzten, die Früchte mundgerecht zerteilten und auf flachen Steinen Brotfladen buken.
Dabei gingen sie miteinander in einer Freizügigkeit um, die Basti erstaunte. Es gab keine Eifersucht, keine Klemmereien, und keine Tabus. Die Jo-lie flirteten offen miteinander, respektierten aber dennoch die einen oder anderen Paare, die miteinander verbunden waren.
Die Mädchen machten sich einen Spaß daraus, die jungen Männer mit ihren blanken Brüsten, oder ihrem Gesäß wie versehentlich zu berühren, um sie für den Tanz anzuheizen. Die Jungen hingegen stolzierten wie trunkene Hähne dazwischen herum, vor kraft strotzend kaum eines normalen Schrittes fähig. Dabei war die Stimmung so ausgelassen, dass es in Bastis Welt bereits anstößig betrachtet werden würde.
Dennoch gab es keine Ausschreitungen und Entgleisungen, obwohl manchmal zwei Jünglinge ihre verzehrenden Blicke ein und demselben Mädchen zuwarfen, oder zwei Mädchen einen Burschen becircten. Der Elsirentanz war der Wettstreit. Und nur im Tanz wurden die Entscheidungen getroffen und respektiert. Jedoch die Verbundenheit der Paare, die am Wetttanzen teilnahmen, waren geschützt, meist durch den Segen der Elsiren selbst, und durften nicht gebrochen werden, weder durch die Paare selbst, noch durch einzelne Bewerber, die sich in ein Mädchen verguckt hatten, welches bereits verbunden war.
Sebastian hatte nur selten von einem Vorfall gehört, dass Va-ra-hi, dieses heilige Gebot, gebrochen wurde. Was er bisher sehen und feststellen konnte, reagierten sich die erhitzten und begierigen Gemüter allein beim Tanz ab. Je größer das Verlangen eines Tänzers auf eine der sich aufreizend gebärdenden, anmutigen Tänzerinnen, desto wilder drückte er sein Begehren in seinem Tanzstil aus. Das mochte durchaus so weit gehen, dass hier und dort ein Tänzer, oder eine Tänzerin einfach besinnungslos zusammenbrach, und vom Tanzplatz getragen werden musste.
Natürlich galt das auch für die Mädchen. Nicht selten geschah es, dass eine Tänzerin sich heimlich in einen bereits mit einer anderen Frau verbundenen Tänzer verliebte. In ihrem Kummer steigerte sie sich oft so tief in den Tanz hinein, bis sie schließlich nur noch um das Feuer taumelte, und irgendwo erschöpft hinsank.
Dass sich nun ein solch berauschendes Fest vor ihrer Hütte abspielen sollte, machte Antarona und Sebastian zwar stolz, und sie sahen darin eine Bestätigung, dass sie allgemein bei den Jo-lie geachtet und beliebt waren, doch eigentlich waren sie zum Umfallen todmüde. Dennoch wurden sie vom Fieber ihrer Gäste angesteckt, verdrängten ihre Erschöpfung, und allmählich spürten auch sie die Anspannung und Erregung, die vor dem Elsirentanz Körper und Sinne erfassten.
Natürlich machte Basti sich Gedanken darüber, welche ihrer neuen Choreografien sie tanzen sollten. Die abgewandelten Schwertkämpfe waren zwar nach wie vor bei den jungen Tänzerinnen und Tänzern beliebt, aber es gab inzwischen viele, welche diese Art zu tanzen besser beherrschten, als die Urheber. In jedem fall erwarteten die Jo-lie etwas Neues. Das drückte sich in immer wieder fallenden Bemerkungen aus, die Basti während der Vorbereitungen zu hören bekam.
Ein wenig ratlos suchte er Antarona, die mit einigen Mädchen kleine Kürbisflaschen mit einer Flüssigkeit befüllte, deren Geruch Sebastian wohl bekannt war. Für einen Moment vergaß er ganz, weshalb er seine Frau sprechen wollte.
»Ist das etwa Mestas?« fragte er ungläubig und hielt seinen Riecher demonstrativ über den Hals einer geöffneten Flasche. Die Mädchen sahen ihn spöttisch an und begannen albern zu kichern. Zweifellos hatten sie die Qualität des Getränks bereits eingehend geprüft. Antarona hob unschuldig die Schultern und erwiderte lakonisch:
»Ist es Mestas, ist es nicht, Ba - shtie, ihr werdet es nicht ändern.« Für sie, die Prinzessin der Îval stand offenbar fest, dass es einen Elsirentanz ohne das berauschende Getränk nicht geben konnte.
Er lotste das Krähenmädchen außer Hörweite, der Mädchen, die ihn offen mit ihren Blicken anflirteten, und erkundigte sich nach ihrer Vorstellung darüber, wie und mit welcher Choreografie sie den Tanz eröffnen sollten.
Klar war schon jetzt, dass die Jo-lie wie selbstverständlich erwarteten, dass jene, welche als die Createure des neuen Tanzstils galten, das Ereignis eröffneten, und etwas Neues vorgaben. Sebastian, nicht unbedingt Verfechter und Routinier großer Akrobatik, konnte nicht leugnen, vor dieser Herausforderung zumindest in Erfolgsdruck zu geraten. Antarona beruhigte ihn überlegen lächelnd.
»Ba - shtie, warum tut ihr nicht einfach, was ihr stets getan habt? Vertraut eurem En-gel-sen und tut, was euer Herz euch gebietet. Folgt ohne Fragen jenen Gefühlen, die in euch sind, welche Herz und Sinne euch sagen. Tut, und denkt mit Herz und Leib, so wird es schon von selbst gehen.« Sebastian ließ sich von Antaronas Unbekümmertheit anstecken und musste plötzlich lachen.
»Dein Gemüt möchte ich mal haben, meine süße, kleine Frau, ich glaube, dann fiele mir einiges wesentlich leichter.« Anstelle einer Antwort erntete er anhimmelnde und sehnsüchtige Blicke der Mädchen, denen Antarona dabei geholfen hatte, den Konsum für die nötige Gelassenheit und Heiterkeit abzufüllen.
Das mochte eine lange Nacht im Zwiespalt der Gefühle werden, dachte er bei sich, denn er konnte vor sich selbst nicht verbergen, dass er einer anderen Kultur mit anderen Moralvorstellungen und anders zu interpretierende Reaktionen auf eindeutige Angebote entstammte.
Er nahm sich vor, dieses Mestasgesöff erst gar nicht zu probieren. Denn es machte ihm Angst, nicht zu wissen, ob er unter dem Einfluss dieses Rauschmittels den reizvollen Anbiederungen der vielen fast nackten, verführerischen Mädchen widerstehen konnte. Um keinen Preis wollte er das Herz und den Respekt seiner Geliebten wegen der nachgegebenen Versuchung einer Nacht verlieren.
Aus der Erfahrung seiner Welt wusste er, dass gerade das Unbekannte, Verbotene und Lockende reizte. Das mochte für die Jo-lie aufgrund ihrer Entwicklung und Lebensweise nicht zutreffen; vielleicht deshalb, weil die Îval ohnehin in großer Freizügigkeit, aber streng nach den Geboten ihrer Götter lebten. Für sie war es ein Selbstverständnis. Sie verstanden es offenbar, gegründet auf der Natur ihrer Gene, die Triebe, Neigungen, und Gefühle nach den Geboten des Volkes richtig zu kanalisieren. Sebastian selbst besaß die evolutionäre Voraussetzung seiner Welt, musste also annehmen, dass er solchen Verführungen nicht wiederstehen konnte.
»Hast du ein Elsirenkleid in deinem Bündel?« fragte Sebastian, als Antarona sich schon wieder abwenden wollte. In seinem Kopf entspann sich die Vorstellung, dass seine Frau, die zweifellos der Star unter den Tänzerinnen sein würde, in ihrem traditionellen Lederschurz weniger verführerisch auf die anderen Tänzer wirkten mochte, als in einem durchscheinenden Kleid, das ihre Reize noch mehr hervor hob, obwohl der knappe Schurz weitaus weniger Haut bedeckte. Antaronas Augen blitzten ihn skeptisch an.
»Ba - shtie - laug - nids, Mann mit den Zeichen der Göttern, findet ihr Sonnenherz im Rali der Îval nicht mehr schön? Begehrt ihr nun die Tänzerinnen in den schönen Kleidern?« Also doch Eifersucht? War die gelebte und akzeptierte Freizügigkeit nur ein Schein? Sebastian nahm sein Krähenmädchen in den Arm, zog sie an sich und sagte:
»Du bist wunderschön, mein Engelchen, die Schönste von allen hier, egal, was für Kleidung du trägst, auch wenn du nichts trägst.« Antarona lächelte ihn süß an und schien mit einem Schlag versöhnt.
Sebastian aber wusste nun gar nicht mehr, wie er sich verhalten sollte. Und in diesem Augenblick war er versucht, sich ebenfalls dem Mestas hinzugeben, um dem inneren Zwiespalt, der eigentlich nur suggestiv vorhanden war, zu entfliehen. Er wollte sich aber auch keiner Lächerlichkeit preis geben. So blieb sein Vorhaben bei dem bloßen Gedanken.
Inzwischen hatten die jungen Männer das Feuer angezündet, in dem nun auch mächtige Baumstämme lagen. Basti fragte sich, von wo die Burschen das schwere Holz herangeschleppt hatten. Sie mussten mittlerweile den ganzen Wald durchforstet haben. Zuerst entstand eine graue, stinkende Rauchsäule, denn das meiste Holz war feucht. Doch je mehr sich die Flammen vorwärts fraßen, desto trockener wurde das Holz, das am Rande aufgeschichtet lag, und von den Jo-lie nach und nach auf den brennenden Haufen geworfen wurde.
Auch die jungen Frauen und Mädchen waren nicht untätig. Sie banden sich Schnüre und Fuß- und Handgelenke, an denen kleine Glöckchen und Schellen aufgereiht waren, rieben sich mit duftenden Ölen ein, und legten sich ihre Tanzkleider an. Gegenseitig banden sie sich ihre langen Haare zu einer Vielzahl kleiner Zöpfe, oder zu Kränzen, und einige banden sich Blumenblüten hinein. Manche, die im traditionellen Rali tanzen wollten, schmückten ihren Bauch mit bunten Bändern aus gefärbten und geflochtenen Fäden, oder mit Ringen aus kleinen Blüten und Blättern, die wie Zierreifen auf ihren Hüften lagen.
Allmählich bildete sich ein lockerer Kreis von Teilnehmern um das Feuer. Glühende Gesichter, gespannte Gemüter und in zerrissene, angesengte Kleidchen gehüllte erhitzte Leiber brachten sich in Stimmung. Eben noch hatten Antarona und ihre Freundinnen den Mestas in die kleinen Kürbisfläschchen gefüllt, schon hielten die Jo-lie eben diese in den Händen und heizten sich damit zusätzlich an.
Da erschienen überraschend Vesgarina und Frethnal im Lichtkreis des Feuers. Mit ihnen kamen vier Jo-lie, die sich offenbar als Spielleute versuchen wollten, denn sie brachten Sackpfeifen, Trommeln und Flöten mit. Sebastian begrüßte die Freunde und Vesgarina und Antarona fielen sich um den Hals wie Schwestern, die einander eine Ewigkeit nicht gesehen hatten.
Basti berichtete Frethnal kurz von ihrem ungewollten Abenteuer und Antarona drückte ihrer stummen Freundin eine der kleinen Flaschen in die Hand. Sebastian bemerkte aus den Augenwinkeln, dass am Schurzband seiner Frau ebenfalls eine kleine Kürbisflasche baumelte, die ihr bei jeder Bewegung gegen die bloßen Schenkel schlug. Er betrachtete es verstohlen und mit gemischten Gefühlen.
Dann begannen sich die Musikanten einzustimmen. Das Quäken der Dudelsackpfeifen und Flöten mochte sich noch nicht mit dem Wummern und Dreschen der Trommeln arrangieren, doch den Jo-lie schienen die noch schrägen Klänge bereits das Blut in Wallung zu bringen. Die Mädchen begannen sich in einem inneren Kreis in den Hüften zu wiegen, fuhren mit den Händen ihre Rundungen entlang, und einige drehten sich bereits im Lärm, der noch gar kein Takt war.
Die jungen Männer standen fasziniert in einem äußeren, lockeren Kreis herum und gierten mit starren Augen die Schönheiten ihres Dorfes an. Eindeutig waren es die Mädchen, die an diesem Abend die Initiative ergriffen. Möglicherweise aber entsprach das einem ungeschriebenen Reglement eines jeden Elsirenfeuers. Wenn es so war, so war es Basti jedoch nie aufgefallen. Und nun erinnerte er sich, dass er zu jedem Elsirentanz, an dem er teilgenommen hatte, erst später hinzugekommen war.
In aufreizenden Bewegungen, teilweise mit gespreizten Beinen und vorgestreckten, wackelnden Brüsten, oder mit einem auffordernd schwingendem Hinterteil tanzten die Mädchen die Burschen an, um sie auszuwählen. Dabei beobachtete Basti, dass die Paare wie ganz selbstverständlich zusammenfanden. Dass eine solche Disziplin in der aufgeheizten Stimmung überhaupt möglich war, wunderte ihn.
Die Spielleute fanden ihren Takt, ließen ihre Klänge im langsamen Rhythmus beginnen, und trampten dazu mit den Füßen auf den Boden. Schellen, die sie sich in Ringen und Schnallen zu Hunderten um die Füße gebunden hatten klirrten und rasselten wild, und es klang, als würde eine noch weit entfernte Armee die Schwerter gegen ihre Schilde schlagen.
Zu welchem rasenden Spiel und Rhythmus die Spielleute sich noch steigern konnten, wusste Basti von den Elsirenfeuern in Falméra. Er sah, wie die Paare sich mit Bewegungen animierten, die in seiner Welt als obszön gelten würden, und die eine eindeutige, sexuelle Handlung darstellen sollten.
Die Frauen tanzten mit gespreizten, leicht abgewinkelten Beinen vor den Burschen, wie sogenannte Go-go-Girls in Sebastians Welt, streckten ihnen ruckartig ihren Schoß entgegen und bogen dabei ihren Oberkörper zurück, wobei sie ihre Arme locker baumeln ließen. So ähnlich gebärdeten sich auch die jungen Männer. Sie demonstrierten mit waagerecht ausgestreckten Armen und Händen das Festhalten ihrer Partnerin um die Hüfte, und in gleicher Stellung wie die Mädchen demonstrierten sie mit vorstoßendem Unterleib eine intime Verbindung. Das alles vollzog sich noch in dem bedächtigen, langsamen Tempo der Musikanten.
Andere, die noch keine Verbindung nach Va-ra-hi eingegangen waren, und sich einen Tanzpartner suchten, gingen etwas zurückhaltender vor. Sie tanzten den oder die Jo-lie ihrer Wahl in aufreizender, jedoch nicht eindeutiger Weise an. War die oder der Erwählte nicht abgeneigt, was sie in ebensolcher Art zeigten, wurden die Animationen reizvoller und entschlossener.
Er hatte davon gehört, dass der Inhalt des Tanzes, soweit er ausschließlich unter jungen Leuten stattfand, darauf ausgerichtet war, in einem Schautanzen die Eroberung einer Frau und den Vollzug der sexuellen Verbindung mit ihr zu zeigen. Und jene Tänzerinnen und Tänzer, welche das Thema bildlich in der Choreografie am besten glaubhaft machen konnten, galten als die besten Tänzer. Was in Sebastians angeblicher Zivilisation und unter dem Einfluss der Kirche verpönt, oft sogar verboten war, schien in Antaronas Welt Teil des natürlichen, sozialen Umgangs miteinander, Teil der Kultur zu sein.
Sebastian ahnte jedoch, wozu das Elsirenfest in dieser Nacht, und überhaupt alle Elsirenfeste in diesem Dorf sich auswachsen würden. Sie mussten zweifellos in Orgien sexueller Begehrlichkeiten enden. Um frei leben und lieben zu können, hatten sich die Jo-lie eben dazu für eine mehr oder weniger lange Zeit von den Zwängen der Îval in Falméra abgespalten, und in diesem Dorf zusammengefunden. Und für Basti war es im Grunde keine neue Sache.
Auch in seiner Welt gab es Orte, an denen sich junge Menschen für kurze Zeit trafen, um anderen, lockeren, und freizügigeren Regeln zu folgen, als in der Welt ihrer Eltern. Das Repertoire reichte von den sogenannten Liebesinseln, wie Ibiza oder geheime Thailändische Strände, bis hin zu einschlägigen Diskotheken.
Dennoch; gaben die Îval Sebastian bereits Rätsel in ihrem Umgang miteinander auf, so war er durch das Verhalten der Jo-lie völlig verunsichert. Bei einem Volk wie den Îval, und der Untergruppe der Jo-lie, welche so fern von Anmaßung und Eitelkeit waren, und deren Sitten so freizügig, offen, einfach und natürlich waren, blieb es ihm unbegreiflich, mit welcher Strenge und Selbstdisziplin dennoch die kleinen Unterschiede von Verbundenheit und Ungebundenheit beachtet wurden.
Freilich gab es auch Strafen, für diejenigen, welche die ungeschriebenen Gesetze der Verbundenheit zweier Menschenkinder, insbesondere unter dem Segen der Elsiren missachteten. Sebastian hatte bisher allerdings nur davon gehört. Es gab eine Uno-rata, eine böse Strafe, nach der den Mädchen, die sich trotz Verbundenheit einem anderen Mann hingegeben hatten, eine Augenbraue und die Haare des halben Kopfes zu einer Glatze rasiert wurden.
Sie galten damit so lange als Aussätzige, bis der Makel nicht mehr zu sehen war, was je nach Haartracht einige Monde dauern konnte. Meist verbargen sich die Delinquentinnen in dieser Zeit einsam im Wald, oder im Schutze ihrer Eltern. Zusätzlich zu den für die Allgemeinheit ersichtlichen äußeren Zeichen, wurde den Mädchen ein unverkennbares Zeichen in hoch die Innenseite ihrer Oberschenkel, fast schon in den Schritt tätowiert, eine Strafe, die in der Regel eine alte, und weise Frau, meist ein Kräuterweib, vollzog.
Sebastian hatte dieses Zeichen einmal in einer Schriftrolle in der Bibliothek Falméras gesehen. Es zeigte einen kurzen, abgerundeten und senkrechten Strich und je eine kurze, geschwungene Linie auf jeder Seite, die sich am oberen Ende des Striches wie eine Welle anfügte. Mit etwas Phantasie konnte man das Zeichen für eine Möwe halten.
Verfehlte eine Frau, oder ein Mädchen öfter die Gebote der Verbundenheit, so bekam sie jedes Mal das Zeichen des Makels an jener verborgener Stelle eintätowiert. Bei mehr als zwei Zeichen galt sie als eine Ve-ni-tries, eine, die leicht zu haben war, eine Untreue, und bei einer Vielzahl von Zeichen sogar als eine Hure.
Sebastian hatte aber nie eine Frau, oder ein Mädchen mit diesem Zeichen der Untreue gesehen. Naturgemäß hatte er aber auch keinem anderen weiblichen Wesen unter Rock oder Lederschurz gesehen, als Antarona. Allerdings war ihm in Falméra und auch im Val Mentiér hier und dort eine junge Frau aufgefallen, die mit halb geschorener Haarpracht und einer fehlenden Augenbraue herum lief. Er hatte es anfangs für eine religiöse Bekundung, oder für ein Zeichen einer kulturellen Ansicht oder Gruppierung gehalten.
Den Männern, die untreu waren, erging es noch schlechter. Sie wurden nicht nur kahl geschoren, was viele ohnehin waren, sondern mit dem gleichen Zeichen an den Oberarmen tätowiert. Dies sollte Mädchen und Frauen davor schützen, sich in die Arme eines notorischen Schürzenjägers zu werfen.
Im Grunde befand Sebastian, dass die Gesellschaft der Îval auf diese Weise einen Weg gefunden hatte, bei aller Freizügigkeit und Offenheit, die Regeln der gesellschaftlichen Gebote einzuhalten, und den Schutz der Verbundenheit größtenteils zu respektieren. Dem entgegen sah er aber eine verborgene Gefahr, ähnlich dem Drogenkonsum in der Gesellschaft, welcher er selbst entstammte. Mestas! Diese Gesöff und seine Wirkung, die ihm schon offensichtlich geworden war, hebelte den gesellschaftlichen Respekt oftmals aus.
Während er noch darüber nachdachte, und sich in den äußeren Kreis der Tänzer begab, entdeckte er Antarona, die sich mit jenen Mädchen, mit denen sie zuvor die Mestasfläschchen befüllt hatte, ebenfalls in die Tänzerinnen einreihte. Von diesem Augenblick an ließ Basti sie nicht mehr aus den Augen. Zuviel hatte er über die Möglichkeiten nachgedacht, die in den Freizügigkeiten der Elsirentänze lagen.
Das Krähenmädchen trug tatsächlich nur den traditionellen Schurz aus Leder, der wie ein nasser Lappen kaum etwas von ihren Reizen bedeckte. Das Leder war, den vielen Einflüssen, wie Nässe, Wärme, Fetten, und ständiger Beanspruchung ausgesetzt, zu einer dünnen, weichen und flexiblen Substanz geworden, die sich an jede Bewegung und jede Form anschmiegte.
Die bunten Muster, die sie auf das knappe Leder gemalt hatte, täuschten Basti nicht über die Zerschlissenheit dieses Bekleidungsstücks hinweg. Es trug mehr zur Schau, als es verbarg, und in seiner von falscher Moral geprägten Welt hätte dieser Fetzen selbst an einem Strand Freier Körperkultur offene Empörung ausgelöst.
Dafür hatte sich Antarona um Hand- und Fußgelenke mit Glöckchen behängte Lederbändchen gebunden, die sie zusätzlich mit kleinen Federn geschmückt hatte. Größere federn hatte sie sich in ihr Haar gebunden, das in viele, dünne Zöpfe geflochten war. Zusammengehalten wurde ihre schwarze Haarpracht mit einem Stirnband aus Leder, das mit gleichen Mustern bemalt war, wie ihr Schurz.
Ihren Bauch, die Arme und Oberschenkel hatte sie mit schwarzen Symbolen bemalt, welche die Formen ihrer Körperpartien nachzeichneten, und ihr ein noch reizvolleres Aussehen verlieh. Dazu hatte sie ihren Körper mit einem duftenden Öl eingerieben, das mit einer Note aus Weihrauch und irgendwelchen schweren Blüten in Bastis Nase stieg.
Antaronas Haut glänzte im Lichtschein des Feuers wie eine polierte Kupferstatue, und ihre Rundungen traten im schimmernden Widerlicht noch deutlicher hervor. In ihrem Bauchnabel sah er einen Stein, oder ein Metallstück glitzern, und auf ihrer Hüfte lag eine Lederschnur, die ebenfalls mit kleinen Glöckchen behängt war.
Wohin Sebastian auch blickte, er sah schöne, außerordentlich hübsche Frauen. Doch Antaronas Anmut und Gestalt allein faszinierte ihn so sehr, dass er sich am liebsten augenblicklich mit ihr zurückgezogen hätte. Sie allein besaß die Eleganz, Ausstrahlung und Lieblichkeit einer Prinzessin.
Gleich einer Schlange, die sich nach den Bewegungen einer Flöte wand und wiegte, tanzte das Krähenmädchen heran, und Sebastian hatte das Gefühl, dass sie sich ihrer Wirkung auf ihn voll bewusst war. Ihre großen, tiefgründigen Augen strahlten und blitzten ihn mit scheinbar unschuldigem Blick an, und ihr halb geöffneter Mund schien ihm etwas zuzuflüstern, das nur für ihn bestimmt war.
Als sie endlich vor ihm stand, von Dutzenden Augenpaaren bewundert und bestaunt, begann sie den eigentlichen Tanz, der die Suche nach dem richtigen Partners zum Inhalt hatte. Wie zuvor einige andere Mädchen geprobt hatten, stellte sie sich vor Basti auf, winkelte ihre Kniekehlen in einem Sprung im rechten Winkel an und spreizte die Oberschenkel fast waagerecht. Dabei wippte sie auf Fußballen und Zehen auf und ab, und wiegte ihren Oberkörper ab der Taille im Kreis, so dass der Betrachter meinen konnte, zwei getrennte Wesen tanzten übereinander gestellt im gleichen Takt.
Dann begann sie ihren Schoß ruckweise Sebastian entgegen zu strecken und den Oberkörper in akrobatischer Weise so weit nach hinten zu biegen, dass er nur noch ihre Brüste, nicht aber ihren Kopf sehen konnte. Ihr Schoß berührte ihn schon fast, da richtete sie sich wieder zu voller Größe auf, drehte sich vor ihm schlängelnd um die eigene Achse, wobei sie ein Bein hoch hob und anwinkelte. Sie tanzte dicht an ihn heran, bis sie ihre Arme um seinem Hals verschränkte, ohne ihn aber zu berühren. In ihrer Biegsamkeit fuhr sie mit dem Unterschenkel seine Rückenkonturen bis zu seinen Füßen auf und ab, ihr Becken im Rhythmus der Spielleute vor und zurück hebend.
Sebastian, der bis dahin nur wie eine Säule dastand und sich von ihr verzaubern ließ, musste nun auch tätig werden, wollte er sie nicht vor allen Anwesenden beleidigen. Er hatte kaum eine Ahnung, wie er auf diese tänzerische Anbiederung antworten sollte, die Antarona in nie da gewesener, sexistisch provozierender und eindeutiger Weise vortrug. Er musste in diese Choreografie einsteigen, oder er zerstörte allen Zauber und alle Anmut seiner Frau.
Also begann er sich ihren Bewegungen anzupassen, versuchte ohne sie zu berühren, die Darstellung zu vervollkommnen, indem er seine Lenden vorschob, wenn sich Antaronas Schoß zurückzog und sich nach hinten bewegte, wenn sie ihm ihr Becken entgegen drängte. Sich in dieser Phase des Tanzes nicht zu berühren, das hatte er inzwischen begriffen, war ein grundlegendes Reglement bei den Elsirentänzen.
Um die Jo-lie zu beeindrucken, die vom mittlerweile berühmtesten Paar der Elitentänze besonderes erwarteten, ließ er seine Hände im Abstand von wenigen Zentimetern die Konturen Antaronas Po nachzeichnen, als streichelte er sie in Ekstase. Die Jo-lie brüllten und jubelten vor Begeisterung, und Basti wusste nun, was erwartet wurde.
Er setzte noch eine Steigerung drauf, indem er jedes Mal, wenn Antarona ihre Beine spreizte, mit dem Knie zwischen ihre Schenkel fuhr, und so tat, als stimulierte er sie an eindeutiger Stelle. Doch er achtete peinlichst genau darauf, sie auch dabei nicht zu berühren, was ihm das Äußerste an Beweglichkeit und Akrobatik abverlangte.
Zusätzlich streckte er die Zunge heraus und ließ sie in geringem Abstand um ihre Brustwarzen kreisen. So deutlich auf die sexuelle Vereinigung ausgelegt war seinem Wissen nach eine Choreografie der Elsirentänze noch nie ausgeführt worden. Antarona und Sebastian setzten erneut einen revolutionären Meilenstein und wiederum einen neuen Trend der Feuertänze. Sebastian war nun alles völlig egal, und er gab sich einfach der Situation hin, ließ sich, wie seine Partnerin, einfach in seinen Gefühlen fahren, so, wie Antarona es ihm geraten hatte. Und gerade das schien ihr Erfolgsrezept zu sein. Außerdem banden sie bei jeder Bewegung ihre Kampfakrobatik mit ein, die dem Ganzen noch einen künstlerischen Anstrich verlieh.
Die Mädchen unter den Zuschauern schrieen und kreischten vor Verzückung und Begeisterung, die Burschen feuerten das vortanzende Paar mit auffordernden Rufen an. Basti und Antarona zogen alle Register ihrer Darstellungskunst und Sportlichkeit. Sie wiederholten die Szenen einige Male und bemühten sich, den choreografischen Ablauf bei jedem Mal provozierender zu gestalten. Sie wussten aber auch, dass sie sich noch ein paar Einlagen für das Finale aufheben mussten.
Je mehr die Trommeln an Schnelligkeit zunahmen, desto dichter zogen sie ihren Tanzkreis zum Feuer hin. Nach und nach reihten sich andere Paare in den Tanz ein. Diejenigen Mädchen oder Jungen, die keinen Tanzpartner gefunden hatten, schaukelten sich am Rande selbst mit eindeutigen Bewegungen in Trance, und hofften, dass sich doch noch jemand fand, der sie durch das Feuer warf, oder die er auffangen durfte.
Das Taktspiel der Musik wurde wilder. Paar um Paar ahmten die neue Choreografie nach, erst zögerlich, dann in feuriger Ekstase, woran Mestas sicher seinen Anteil nahm. Das Hochwerfen der Partnerinnen wurde von den Tänzern einige Runden lang geübt, bevor der entscheidende Sprung durch das Feuer gewagt wurde.
Auch dabei versuchten Antarona und Basti Neues. Bisher griffen die Tänzer ihren Mädchen in die Taillen, um sie mit deren unterstützenden Sprung in die Höhe zu schleudern. Sebastian aber packte Antarona unter die Oberschenkel, während sie ihre gespreizten Beine auf seinem Griff wippen ließ, als schaukelte sie sich im Taumel ihrer Gefühle hoch. Es geschah im stillen Einklang, ohne, dass sie sich abgesprochen hatten, so, als spürten sie beide, was der andere dachte.
Sie probten es nur, doch unter den gespannten Blicken der anderen. Antarona sprang und winkelte gleichzeitig die Beine an. Sebastian musste genau den richtigen Moment abpassen, griff ihr unter die Schenkel und nutzte die Federung ihrer Oberbeine, um sie in die Luft zu schleudern. Sofort streckte sie ihre Beine wieder, so dass er sie in traditioneller Weise wieder mit dem Griff in ihre Taille auffangen konnte.
Nun bereicherte Antarona ihre neue Tanzweise mit einer Besonderheit. Anstelle sich wieder auf den Boden stellen zu lassen, warf sie im Fall ihre Arme und Bastis Hals und schlang ihre Beine um seinen Leib, wie sie es beim Liebesspiel im Wasser bei der Fischerhütte getan hatte. Sebastian spürte sofort, was sie vorhatte, und stieg synchron in die Darbietung mit ein, indem er sie unter das Gesäß fasste und im Rhythmus der Trommeln hoch hob und wieder sinken ließ.
Bestimmter ließ sich das Thema im Tanz nicht zur Schau stellen, und Sebastian bezweifelte sehr, dass diese Tanzversion sich an den Feuern in Falméra in nächster Zeit etablieren ließ. Im Dorf der ewigen Jugend aber löste ihre Choreografie unter den jungen Leuten eine wahre Hysterie aus. Und es dauerte nur zwei Proberunden, bis die ersten Jo-lie dem neuen Tanzstil nacheiferten.
Antarona und Basti beließen es aber nicht bei dem bisher gezeigten. Zunächst aber bereitete sich das Krähenmädchen auf ihren ersten Sprung an diesem Abend vor. Wieder ließ sie sich, ihre Oberschenkel auf Bastis Handflächen, hoch und runter federn, sprang immer höher, und er musste immer mehr Kraft aufwenden, um ihr den nötigen Schwung zu geben.
Die Elastizität ihres trainierten Körpers ließ es zu, dass Antarona den Schwung optimal ausnutzen und leicht auf den angespannten Beinen wippte. Basti jedoch musste aufgrund der Stellung seiner Arme und Hände wesentlich mehr Kraft aufwenden, um sein Mädchen in die Luft zu katapultieren. Da Antarona ziemlich leicht war, kam er damit gut zurecht. Außerdem war er sicher, dass sie diese Choreografie ohne ihr ständiges Schwertkampftraining nie hinbekommen hätten.
Andere Tanzpaare taten sich schwerer. Einige der Mädchen standen Antarona im Federn mit den Schenkeln in nichts nach, doch ihren Burschen fehlte einfach die Kraft, sie weit genug in die Luft zu werfen. Wieder andere stemmten ihre Partnerinnen mit Leichtigkeit, doch waren die Mädchen zu schwer, oder zu ungelenk. So bildete sich sehr rasch eine kleine Gruppe derer heraus, die in der Lage waren, diese schwere und anstößig provokante Tanzweise auszuführen.
Dafür versammelten sich immer mehr Zuschauer um das relativ kleine Elsirenfeuer. Wie ein Lauffeuer musste es sich im ganzen Dorf verbreitet haben, der Sohn Bentals und seine auserwählte Prinzessin boten einen Tanz, der alles andere bisher da gewesene in den Schatten stellte. Aus den Augenwinkeln heraus sah er Frethnal und Vesgarina, die den Tanz aufgegeben hatten. Vermutlich warteten sie nun auf die zweite Runde, in der die meisten Tänzerinnen und Tänzer ihre Choreografie nach ihren Möglichkeiten wählten.
Inzwischen hatten Antarona und Basti die richtige Technik gefunden. Seine Hände hoben das Mädchen nun in der Mitte ihrer Oberschenkel an. Antarona federte ab, nutzte dann die Spannkraft ihrer Beinmuskeln und schoss wie eine Rakete durch die Flammen.
Schräg gegenüber hatte sich bereits ein anderes Paar in Position gebracht, das die neue Tanzweise ziemlich schnell angenommen und umgesetzt hatte. Ein zierliches, blondes Mädchen mit flatterndem Elsirenkleid flog Antarona entgegen, und die beiden Mädchen schafften es im Flug durch das Feuer ihre Hände gegeneinander zu klatschen. Diese kleine Geste, die nur selten gelang, löste erneut begeisterte Ovationen aus.
Wie ein Feuerengel flog das unbekannte Mädchen auf Sebastian zu, ein Augenblick, der höchste Konzentration forderte. Wie leicht mochte sich eine der Frauen den Fuß brechen, passte ihr Fänger nicht auf. Sebastian verließ sich auf sein Gefühl, versuchte, in die Sinne des Wesens einzutauchen, das da auf ihn zu kam.
Er packte zu, seine Hände griffen um ihre schmale Taille, und sofort zog er sie an sich. Ihr Elsirenkleid von feinster Webkunst bekam er zu fassen, ihr leichter Körper jedoch glitt im Stoff des Kleides nach unten. Das Mädchen hatte aber die neue Tanzart bereits verinnerlicht. So sicher, als hätte sie es tagelang geprobt, warf sie ihre Arme um Bastis Hals und umklammerte mit ihren Beinen seinen Leib, bevor sie sich mit eindeutigem Wippen ihres Beckens an ihm herab gleiten ließ.
Nun lag es an beiden Paaren, die neue Choreografie zum Abschluss zu bringen, bevor die Partnerinnen wieder ihrem Mann entgegen flogen. Sebastian wollte das Mädchen unter den Po fassen, um sie wie zuvor Antarona, auf und ab zu heben. Doch das Mädchen stieß sich von ihm ab, landete auf den Füßen, und begann sich vor ihm in lasziver, aufreizender Weise zu bewegen und zu drehen, wandte ihm ihr Gesicht zu, und sogleich wieder ab.
Sebastian begriff nach wenigen Schritten ihr Vorhaben und ein kurzer Blick zu Antarona und dem anderen Mann zeigte ihm, dass seine Frau in ähnlicher Weise agierte, als hätten die beiden Mädchen sich bei ihrer Begegnung im Feuer abgesprochen. Die Frauen erwarteten, dass die Männer um sie warben, um sie kämpften, und mit beharrlichen Annäherungen eroberten.
Immer wieder versuchte Sebastian im Tanz seine neue Partnerin in seine Arme zu bekommen, doch genau so erfolgreich drehte sich das Mädchen wieder aus seinem gespieltem Griff und reizte ihn aufs neue. Je länger sie dieses Spiel trieben, desto vertrauter wurden sie sich und konnten so ihre Bewegungen koordinieren, dass es für die Zuschauer tatsächlich so aussah, als versuchte Sebastian das Mädchen zur Vereinigung zu bewegen, die sich aber spielerisch zierte, und ihn darben ließ.
Die Menge der Schaulustigen johlte, die Mädchen klammerten sich vor Begeisterung an ihre Partner, oder ausgesuchten Tänzer, zappelten, und konnten es nicht erwarten, sich in die Formationen der Tanzenden einzureihen. Der Tanz der beiden ersten Paare war so spektakulär, dass noch niemand auf den Einfall gekommen war, sich am zusammengetragenen Essen zu laben. Dafür wurde dem Mestas um so mehr zugesprochen.
Die junge Tänzerin, die Sebastian in die Arme geflogen war, gab sich mindestens so talentiert wie Antarona, wenn sie auch nicht so gelenkig schien. Dennoch blieben ihm ihre süßen Reize nicht verborgen. Sie trug ein Kleid von durchscheinendem, gelben Stoff, dass ihr tief auf der Taille saß, sowie ein ebenso gefertigtes Oberteil, das lediglich etwas verschwommen alles zeigte, das einen Mann aus der Fassung bringen konnte. Das Kleid, hier und da schon von vorangegangenen Elsirentänzen etwas löchrig, verbarg nicht viel mehr, denn sie trug nur diesen Hauch von etwas, das vortäuschen sollte, das sie überhaupt etwas an hatte.
Ihr helles Haar, das ein ebenmäßiges, liebliches Gesicht rahmte, war wie das Antaronas in kleine Zöpfchen geflochten, von denen sie einige kunstvoll als Stirnbad am Hinterkopf befestigt hatte. Sie bewegte sich mit einer zierlichen Eleganz, nicht so wild, wie Antarona, doch ebenso reizvoll.
Sebastian tat, als wollte er ihren ganzen Körper streicheln und mit Küssen bedecken, stets mit dem nötigen Abstand des Reglements, doch so authentisch, dass die Mädchen und Burschen im Kreis der Schaulustigen schier in Raserei gerieten. das Mädchen hingegen, simulierte, dass sie zunächst auf die Verführung einging, dann aber im letzten Moment sich wieder distanzierte. Sie spielte die Rolle so perfekt, dass Basti spürte, wohin die Darbietung führen sollte. Im Spiel sollte sie sich beinahe verführen lassen, sich aber kurz vor der Vereinigung besinnen, durch das Feuer springen, und sich wieder ihrem Partner zuwenden, mit dem sie dann schließlich die sexuelle Vereinigung vollzog.
Intuitiv wusste Sebastian, dass Antarona mit dem anderen Burschen das gleiche Schauspiel inszenierte. Wieder reizte sie ihn, indem sie sich drehte, mit den Hüften wackelte, und sich mit den Händen die Schenkel auf und ab strich. Basti versuchte nun seinerseits den Ablauf der Choreografie zu bestimmen. Er tat, als wollte er das Mädchen auf den Boden werfen. Sie stieg darauf ein, und ließ sich zu Füßen der Umstehenden gleiten, als entrollte sie ihren Körper wie ein stück geschmeidiges Leder. Dann räkelte sie sich mit allen Gliedern vor ihm in einer weise, die einladender nicht sein konnte.
Er wollte die Spannung noch erhöhen, und so tanzte er breitbeinig noch einige Male über die unter ihm liegende Schönheit hin und her, bis er schließlich simulierte, sich über sie zu werfen. Es brauchte kein Zeichen, kein Wort, keine Geste. Sie vollführten den Tanz mit einer solchen Konzentration und Präzision, dass jeder einfach wusste, was der jeweils andere vor hatte.
Im letzten Moment drehte sich das Mädchen um die eigene Achse, und Sebastian landete bäuchlings im Staub. Die kleine Blonde aber schraubte sich tänzerisch hoch, wie ein Korkenzieher, und begann die Tanzsequenz, die zum Sprung durch das Feuer leiten sollte. Dazu begann sie sehnsüchtig durch die Flammen zu ihrem Partner zu blicken, und sich breitbeinig, mit angewinkelten Knien auf und ab zu wiegen.
Dem Publikum musste dadurch ihre Absicht klar sein. Sie wollte den Mann, der ihr nahe kommen wollte, dazu bringen, sie durch die Flammen zu werfen, um zu ihrem Auserwählten zu gelangen. Antarona vollzog mit dem Burschen auf der anderen Seite des Funken sprühenden Feuers das gleiche Spiel. Die Paare jedoch mussten sich untereinander abstimmen, damit nicht ein Mädchen auf dem harten Boden landete.
Die meisten Frauen hatten zwar gelernt, sich perfekt abzurollen, sollte auf der anderen Seite der Fänger nicht bereit sein, doch einerseits zerstörte es den Zauber des Tanzes, wenn sie ins Leere fielen, andererseits legten sie selbst ihren ganzen Ehrgeiz in die Perfektion. Eine gute Tänzerin konnte beim Volk Berühmtheit erlangen, und erfuhr so manche Vergünstigung.
Sebastian stellte sich hinter das Mädchen, das zum Feuer stand und als sie mit gespreizten Beinen auf den Fußballen federte, zeichnete er mit den Händen ihre Rundungen nach, zollte ihrer Schönheit Respekt, um den Zuschauern begreiflich zu machen, wie sehr er sich nach ihr verzehrte, und wie ungern er sie gehen ließ. Dann fasste er sie unter die Mitte ihrer Schenkel und hob sie hoch.
Gleich beim ersten Versuch erreichte das Mädchen eine große Höhe, obwohl Basti meinte, dass sie schwerer als Antarona war. Vielleicht hatten ihre Sprunggelenke aber auch einen glücklichen Start erwischt. Sie streckte ihre Beine, flog hoch, und als sie wieder herab kam, packte Basti sie in der Taille, und ließ sie über seinem angewinkelten Knie zwischen ihren Beinen abgleiten.
Erneut rasten die Zuschauer und zollten mit stürmischem Beifall ihre Akrobatik, die noch ein letztes Mal erotisch anmutete. Diese Phase des Tanzes wiederholten sie in drei bis vier Folgen, wobei das Elsirenkleid des Mädchens in hoffnungslose Fetzen zerriss.
Der lange Fließ des dünnen, luftigen Stoffes war bei jedem Griff im Weg und wickelte sich um Bastis Arme und Handgelenke, als er das Mädchen hoch warf. Beim letzten Versuch vor dem Sprung trug sie nur noch das Band auf der Hüfte und ein paar Zipfel daran, die nicht einmal mehr ihr Intimstes verdeckten. Ein Elsirenkleid war für diese neue Choreografie denkbar ungeeignet.
Dabei schoss Sebastian durch den Kopf, dass er mit Antarona nun nicht mehr nur die Tradition des Tanzes und der Kleidung, sondern auch des Inhalts revolutioniert hatte. Mit dem eigentlichen Thema der jungen Oranuti, die dem König von den Göttern geschenkt wurde, hatte ihre Choreografie nicht mehr viel zu tun.
Möglicherweise wurde diese Tanzweise von Bental sogar verboten, wenn der Druck der Eltern zu groß wurde. Dann würde der neue Tanz, mit dem sich die jungen Leute mehr identifizierten als mit der Tradition, ein Tanz der Jo-lie, ein Tanz Mehi-o-rateas bleiben. Basti dachte unwillkürlich an die Zeit, da in seiner Welt Musik und Tanz vom Rock'n Roll erobert wurde. Kulturen waren immer dem Wechsel und Wandel unterworfen, und es waren die jungen Menschen, die Revolutionsgeschichte schrieben.
Nun aber musste er sich darauf konzentrieren, das Mädchen mit dem nötigen Schwung durch die Flammen zu schicken. Ein Blick zu Antarona und ihrem Fänger sagte ihnen, dass auch sie bereit waren. Beide Tänzerinnen ließen sich auf den angespannten Beinen immer stärker auf und ab wippen, und als Basti ihre Sehnen in den Schenkeln sich spannen sah, griff er zu. Wie von Seilen gezogen, flog das Mädchen, dessen Namen er nicht einmal erfahren hatte, davon und verschwand in der schmalen wand der Flammen. Vermutlich büßte sie nun auch den Rest ihres Kleides ein.
Erwartungsvoll starrte er auf das Feuer. Ein Schatten kam hindurch geflogen, und Zehntel Sekunden später glitt Antaronas Schweiß nasser, glänzender Körper wie ein riesiger Tropfen zähflüssigen Wachses an ihm herab. Die Jo-lie, mittlerweile musste sich das halbe Dorf auf der kleinen Halbinsel eingefunden haben, gerieten in schiere Massenekstase.
Einige Mädchen sprangen in gleicher Weise ihre Auserwählten an, klammerten sich an sie und ließen sich auf ihren Körpern auf und ab gleiten, um sich an der Reibung der Haut ihren gefühlten Phantasien hinzugeben. Die jungen Männer begehrten nichts lieber, als ihre Partnerinnen so dicht an sich zu spüren, und die vielen Tänzerinnen und Tänzer gerieten in einen wahren Taumel aus körperlicher Begehrlichkeit.
Die Spielleute, die ihre Trommeln, Pfeifen und Schellen im Sprung zur Steigerung der Spannung kurz ausgesetzt hatten, ließen wieder ihren wilden Takt erklingen, der immer schneller wurde. Wilder und eindeutiger musste sich nun auch der Tanz präsentieren, der nun das spielerische Ziel der sexuellen Vereinigung der Paare hatte. Sebastian musste wieder an den Fruchtbarkeitstanz der Tahitianer denken, der schon die westlichen Seefahrer seiner Kulturgeschichte in seinen Bann zog.
Genauso wurde Sebastian Lauknitz von Antarona, Tochter des Holzers, in den Bann gezogen. Nach der blonden, jungen Frau kam ihm das Krähenmädchen beinahe wie eine Farbige vor. Exotisch im Sinne seines Verständnisses war sie in jedem Fall. Doch nun, im Leuchten des Feuers, suggestierte ihm ihr Aussehen eine Dschungelprinzessin. Ihre kupfern glänzende Haut, von der sich der Lederschurz optisch nicht abhob, im Einklang mit ihrer wilden Ausstrahlung, vermittelte ihm pures Abenteuer.
Antarona ließ sich vor Basti auf die Knie gleiten, schob ihren Schoß vor, bog ihren Körper weit zurück, und ließ ihr Becken wild kreisen und zucken, als bettelte sie um Erfüllung einer angestauten Lust auf Vereinigung. Sie schien wie von einem Rausch erfasst, und nur noch durch Emotionen gelenkt. Und wäre die Darbietung des neuen Tanzes aufgrund der Konzentration und körperliche Anforderung nicht so anstrengend, so hätte Basti sein Krähenmädchen bei den Händen gefasst, und in die Abgeschiedenheit des dunklen Flussufers entführt.
Statt dessen durfte er nur so tun, als gab er sich seiner Frau und der körperlichen Liebe mit ihr hin. Aber genau das erwarteten die im offensichtlichen Lusttaumel kreischenden und johlenden Tänzerinnen und Tänzer, die nur darauf warteten, den ganzen Tanz verinnerlicht zu haben, um sich durch ihn selbst in ihre Phantasien zu ergeben.
Sebastian warf sich ebenfalls auf die Knie und seine Hände strichen imaginär über Antaronas Körper, als streichelte er sie zur Steigerung der Lust. Dabei fiel ihm auf, dass Antaronas Bauch nicht mehr ganz so flach war, als zu der zeit, als er sie im Val Mentiér getroffen, und sie für Janine gehalten hatte. Auch schienen ihre Brüste etwas an Volumen zugelegt zu haben. Aber das alles sah nur er allein.
Die Spielleute ließen ihre Trommeln und Schellen in immer wilderem Takt durch die Ohren hämmern, dass die Pfeifenspieler kaum noch mit einer Melodie hinterher kamen. Basti hatte den Eindruck, dass ab einer gewissen Gesteigertheit des Massentaumels kaum noch jemand überhaupt auf eine Melodie achtete. Es zählte nur noch der wummernde Rhythmus, der die Jo-lie ausnahmslos in eine Massenekstase versetzte.
Als er das Krähenmädchen so vor sich sah, ihre glänzende, bronzene Haut im Licht des Feuers, ihr lockendes, aufforderndes Antlitz von kunstvoll geflochtenen Haaren gerahmt, scheinbar bereit, seine Liebkosungen und seine Vereinigung mit ihr zu empfangen, spürte Sebastian plötzlich, was die Jo-lie in den Rausch des Verlangens versetzte. Der Sturm der Begierde, im kollektiv mit allen anderen gelebt, riss nun auch ihn mit, der in seiner von kirchlichen und religiösen Tabus geprägten Welt gelernt hatte, sich zu beherrschen, seine Gefühle unter Kontrolle zu halten.
Hätten all die Tänzerinnen und Tänzer während dieses Elsirenfeuers offen ihrem Verlangen nachgegeben, so hätte er nicht mehr gezögert, sich über Antaronas verlockenden Körper zu werfen, und sie vor aller Augen zu beglücken. Doch die Jo-lie hielten, trotz der gesteigerten Anspannung, und der wie ein schwerer, süßer Nebel der Verführung über der Halbinsel hängenden, unsichtbaren Lust, ihre Regeln ein. Der Respekt vor den Göttern und die Achtung vor ihren Geboten schienen stärker, als alle animalischen Triebe.
Sebastian Lauknitz musste dieses Selbstverständnis und den Umgang mit dem Spiel der Gefühle erst noch lernen. Für ihn gab es bis dahin nur Zurückhaltung und heimliche Annäherungen in der Öffentlichkeit, und die tatsächlich aktive körperliche Liebe in zweisamer Abgeschiedenheit.
Die Îval, und noch viel mehr die Jo-lie lebten ihre intimsten Gefühle in der Gesellschaft und teilten diese ohne Scheu und Tabus in der Gemeinschaft. Dennoch achteten sie Regeln, die eine unkontrollierte Massenorgie verhinderten. Er fragte sich natürlich, ob er und Antarona mit ihrer neuen Choreografie des Elsirentanzes nicht allmählich diese Regeln aufweichten.
Wie dünn war die Hemmschwelle geworden, die noch verhinderte, dass die Paare, angeheizt von der erotischen Weise des Tanzes und des Mestas, tatsächlich in einem kollektiven Taumel der Lust übereinander herfielen. Viele hatten sich mittlerweile so sehr in ihre sexuellen Phantasien hinein gesteigert, dass nur ein kleiner Anlass genügen mochte, um die angeheizte Menge zu enthemmten Handlungen zu verleiten.
Doch Basti war das auf einem Mal völlig egal. Er hatte sich inzwischen ebenso vom Taumel der Tanzenden und der Zuschauer mitreißen lassen. Seine ganzen Sinne konzentrierten sich nur noch darauf, Antaronas verführerischen Körper zu begehren und diese Lust in der Choreografie des Tanzes auszudrücken, indem er mit jeder Faser seines Körpers auf ihre Reize einging.
Ohne sie tatsächlich zu berühren, streichelte er ihre Rundungen und machte auch vor ihren intimen Stellen nicht halt. Antarona gab ihm die Abläufe vor, indem sie sich ihm in immer anderen Stellungen darbot. In jeder kurzen Pause der Musik, wenn die Pfeifer Luft holten, und nur noch die Trommeln tönten, entzog sie sich ihm wieder. Dieses Schauspiel wiederholten sie einige Male, bis die Spielleute immer schneller und unkontrollierter dem Finale zuspielten.
Wie nach Erfüllung ihrer Begierde strebend, räkelte Antarona sich auf dem Boden, und spreizte einladend die Beine. Die Jo-lie tobten und feuerten Basti an, der sich nun aber nicht mehr von äußeren Einflüssen stören ließ. Er warf sich über sie zwischen ihre Beine und ließ seinen Unterleib stoßweise im wilden Takt der Spielleute in Antaronas Schoß hin und her rucken. Es bedurfte seiner ganzen Kraft und Konzentration, sie dabei nicht zu berühren, obwohl er sich am liebsten hätte gehen lassen.
Die Musik setzte kurz aus. Das Krähenmädchen wand sich unter ihm heraus und kroch auf allen Vieren über den Boden, als wollte sie ihm entfliehen. Die Sackpfeifen setzten wieder ein, und sie begann aufreizend sich mit dem Becken zu bewegen, und ihr Hinterteil zu präsentieren. Sebastian musste nicht mehr schauspielern, um darzustellen, dass ihn das reizte und anzog, wie ein Magnet, denn das rückwärtige Stückchen ihres Lederschurzes bedeckte kaum mehr ihre Blöße.
Das bekamen visuell auch die Jo-lie geboten. Die bekamen ihre überschwängliche Begeisterung kaum mehr unter Kontrolle, und Sebastian bereitete sich innerlich schon darauf vor, Antarona auf den Arm zu nehmen, und aus dem Kreis der erhitzten Masse zu tragen, sollte die Hysterie unkontrolliert entgleisen.
Aber würde er die Choreografie an dieser Stelle abbrechen, so mochte er nicht erfahren wollen, was die Enttäuschung der Masse bereit hielt. Also sprang er hinter Antarona her, packte simulierend ihre Taille und bewegte sich mit seinem Unterkörper im wilden Takt vor und zurück dicht an sie heran.
Das Krähenmädchen jedoch, durch den Genuss von Mestas hoffnungsloser als er im Rausch ihrer Sinne, sprang auf und bot dem rasenden Publikum einen schlangengleichen Tanz, bei dem sie sich wie von Sinnen drehte, bog und an intimen Bereichen selbst berührte, dass Basti der Atem stockte. Allmählich siegte die ihm angeborene Eifersucht, und obwohl er sie fasziniert und sehnsüchtig anstarrte, fand er das Maß des Erträglichen für mehr als erfüllt.
Bevor ihr die Kontrolle über sich vollends entglitt, sprang er hinzu, packte sie kompromisslos und lud sie sich auf seine Arme. Im Rhythmus der Trommeln drehte er sich mit ihr noch ein paar Mal, dann trug er das Krähenmädchen aus dem Kreis des Feuers und hinauf zu ihrer Hütte.
Antarona legte genüsslich ihre Arme um seinen Hals und ließ sich bereitwillig fort tragen. Aber auch bei ihrer Kate waren sie nicht allein. Auf dem Platz vor der Hütte tummelten sich Tänzer, Tänzerinnen und zugelaufenes Volk. Sebastian wollte jedoch mit Antarona allein sein. In der Hütte hätten sie kaum eine Minute Ruhe gehabt, daher beschloss er, mit ihr ein Stück weit den Fluss hinab zu gehen.
Er wollte ihre Waffen mitnehmen, doch er fand weder sein Schwert, noch Bogen und Pfeile, noch Nantakis. Antarona, die mittlerweile wieder etwas ernüchtert war, lehnte sich an den Türrahmen und sagte:
»Sorgt euch nicht um die Waffen, Ba - shtie, Sonnenherz hat sie gut verwahrt.« Dann taumelte sie mehr, als sie ging in die dunkle Behausung, wickelte sich ein paar Lederstreifen um einen Oberschenkel und steckte ihr Messer hinein. Sebastian band sein Bowie- Messer an den Bund seines Lederschurzes, deutete dann mit einem missbilligenden Blick auf ihre bloßen Brüste und fragte:
»Willst du nicht etwas überziehen, ein Fell, eine Decke, oder...« Aufreizend bewegte sich das Krähenmädchen auf ihn zu, rieb ihre Hüfte an ihm und unterbrach ihn seufzend:
»Ach Ba - shtie, für das, was Sonnenherz euch in dieser Nacht zu sagen hat, trägt sie genug Kleidung.« Er nickte, nahm seine erhitzte Frau wieder auf die Arme, und trat aus der Tür. Antarona schmiegte sich an ihn und flüsterte ihm etwas verheißungsvolles ins Ohr.
Wortlos trug er sie zum Strand der Halbinsel hinunter. Unterwegs begegneten sie einigen Paaren, denen die getanzten Vereinigungen nicht mehr genügt hatten, und ihr Begehren erfüllt wissen wollten. Sie lagen unter Büschen, in stillen Senken und halb im Wasser am Strand und gaben sich ungeniert dem Stillen ihres Verlangens hin.
Basti war durch die vielen Liebespaare links und rechts so abgelenkt, dass er beinahe über eine Baumwurzel gefallen wäre. Gerade noch konnte er sich mit dem Krähenmädchen auf dem Arm abfangen. Aber auch das große Elsirenfeuer, das durch die Bäume leuchtete, irritierte ihn. Alles teilte sich in gelbes Licht und Schatten, und es war nur noch zu erahnen, wohin man trat.
Antarona, von der er geglaubt hatte, dass sie vom vielen Mestas nicht mehr sicher laufen konnte, wand sich von seinen Armen, legte ihm sachte, aber bestimmt die kleinen Hände auf die Brust und sagte leise:
Es ist besser, wenn ihr Sonnenherz folgt, Ba - shtie, oder der Wald zerschneidet euch die Haut.« dabei kam sie so dicht an ihn heran, dass sich ihre Brüste leicht gegen seinen Körper pressten. In ihm löste das sofort wieder das Verlangen nach ihr aus, das schon beim Tanz in ihm schwelte.
Sie folgten dem Fluss so lange, bis sie an einer einsamen Stelle eine kleine Wiese und ein winziges Stück Sandstrand fanden, in dem vom Hochwasser ein kleiner Tümpel zurückgeblieben war. Diese Stelle war Antarona offenbar verschwiegen genug, denn sie drehte sich plötzlich zu Basti um, klammerte sich an ihn und hauchte ihm ins Ohr:
»Sonnenherz ist weit genug gelaufen, Ba - shtie mag jetzt mit ihr tun, was ihm beliebt.« Das musste sie ihm nicht zwei Mal sagen. Und der stille Fluss, der schon so viel gesehen hatte, trug das Geheimnis ihrer Zweisamkeit ins Meer und versenkte es in verschwiegener Tiefe.
Es dauerte eine Ewigkeit, bis sie sich wieder etwas entspannten, ihre Muskeln, die sich aneinander und umeinander gekettet hatten, wieder erschlafften und das unstillbare Verlangen einem zufriedenen Glücksgefühl wich. Basti zog das schlanke Mädchen auf sich und streichelte liebevoll und hingebungsvoll ihre Rundungen. Warmer Wind fächerte über sie hinweg, und ließ die Blätter der Bäume wispern und rascheln. Leise erklang die Musik vom Tanzplatz durch die Bäume herüber und der Duft von gebratenem Fleisch, von gegartem Fisch und Gebackenem drang in ihre Nasen.
Sebastian bekam plötzlich Hunger. Die herübergewehten Gerüche erinnerten ihn daran, dass sie lange nichts mehr gegessen hatten. Aber er wollte diese innige Zweisamkeit, dieses Gefühl des miteinander Verschmelzens, nicht zerstören. Er genoss es, wie Antarona sich an ihn kuschelte und sie beide von einem gemeinsamen, glücklichen und friedlichen Leben träumten. Von einem Zuhause und einer sorgenfreien Zukunft. Diese Wünsche zumindest waren in allen Welten gleich begehrt.
»Ba - shtie, Sonnenherz fühlt sich hungrig und müde.« Mit diesen Worten stand Antarona irgendwann auf und stakste in die Strömung des Flusses, um sich den Sand vom Leib zu waschen. Basti folgte ihr und stumm, einer inneren Eingebung folgend, wuschen sie sich gegenseitig, eine Erfahrung, die ihnen als sehr angenehm in Erinnerung blieb.
Anschließend machten sie sich auf den Weg zurück zum Elsirenfeuer. Unterwegs sahen sie Pärchen, wie sie selbst, verträumt unter Bäumen, zwischen Büschen und in Mulden, eng beieinander liegend, die sich in verliebter Zweisamkeit vom Tanz erholten.
Das Wummern der Trommeln und Quäken der Sackpfeifen kam näher, der Schein des Feuers beleuchtete ihren Weg. Hier und dort sah Basti Pärchen sich ungeniert lieben, und er fragte sich, ob sie mit der neuen Tanzchoreografie eine Geburtenexplosion ausgelöst hatten. Eine vorsichtige Frage dahingehend an Antarona war schnell geklärt.
»Ba - shtie, Sonnenherz hatte es euch bereits erklärt«, tadelte sie scherzhaft. »Die Îval und die meisten Jo-lie kennen Kräuter, die ein kleines Herz unter ihrem nicht wachsen lassen. Es gibt viele Frauen, die der Kräuter kundig sind, wie die alte Waldlerin. Zu ihnen gehen all jene, die selbst nicht die Kenntnisse der alten und weisen Frauen besitzen.«
Nun allerdings fragte er sich, ob die Frauen in seiner Welt auch einmal um diese Möglichkeiten wussten, und ob die Kirche diese Kenntnisse ausgemerzt hatte. Im Grunde konnten beide Welten voneinander lernen, wenn Eigennutz und Egoismus nicht den Menschen beherrschen würde.
Sie erreichten den Tanzplatz und stellten fest, dass die Jo-lie erst begannen, den neuen Tanzstil für sich zu entdecken. Trotz des Mestas schienen sie mit bemerkenswerter Disziplin die Regeln einzuhalten, obwohl Basti den Eindruck gewann, dass dieses ganze Fest in eine hemmungslose Orgie sexueller Lust ausgeartet war.
Die Tänzerinnen und Tänzer erkannten die Urheber des neuen Tanzes, als sie beide erneut in den Kreis des Feuers traten, und bestürmten sie, noch einmal den Tanz nach ihrer Weise auszuführen. Doch sie waren inzwischen zu müde, um überhaupt noch einen Schritt zu tun.
Sebastian stellte aber fest, dass die Mädchen und Burschen kaum noch eine zusätzliche Anleitung benötigten. Teilweise beherrschten sie die ziemlich frei interpretierbare Choreografie mittlerweile besser, als er und Antarona. Sie stellten daher in Aussicht, ein anderes Mal wieder vortanzen zu wollen und begaben sich statt dessen zu den kulinarischen Genüssen.
Der neue Tanz entwickelte offenbar einen gewaltigen Hunger. der riesige Spießbraten, der in Bastis Welt wohl als Spanferkel bezeichnet werden würde, hatte sich bereits stark dezimiert. Es gab jedoch noch genug zu essen, dass jeder satt werden konnte. Sebastian verdrückte ein großes Stück knusprigen Braten und drei gegrillte Fische, die mit interessanten Kräutern gewürzt waren.
Anschließend schob er sich in Blättern gegarte Erdknollen in den Mund, die ihn an die heimische Kartoffel erinnerte, obwohl diese hier größer waren, und würziger schmeckten. Die Jo-lie hatten sie mit einer Lauchart und Speck zusammen in die Blätter gerollt und dann in das Feuer geworfen, so dass der Geschmack der Zutaten in die Knolle gezogen war.
Saftige, Kürbis artige Früchte, Äpfel und eine Frucht, die Mehlig, aber sehr süß schmeckte, rundeten das Mahl ab. Antarona und Sebastian aßen sich richtig satt. Danach zogen sie sich in ihre kleine Hütte zurück. Basti verriegelte die Tür, damit sie keine unangenehme Überraschung erlebten. Dabei fragte er Antarona nach den Waffen.
Das Krähenmädchen zeigte ihm die Aschegrube im Kamin. Tatsächlich lagen darin, mit den Rückständen des letzten Feuers und mit Sand bedeckt, die Schwerter und Messer. Die Bogen hatte sie unter ihr Nachtlager geschoben, das man ein Stück weit hoch heben musste, um wieder an sie zu gelangen.
Zum Schluss überwältigte sie die bleierne Müdigkeit. Trotz des fortdauernden wilden Treibens draußen, und dem Hämmern und Winseln der Trommeln und Sackpfeifen, sowie dem Kreischen und Brüllen der Tanzenden schliefen sie sofort fest ein. Selbst das Leuchten des Feuers, das sich zuckend durch das kleine Fenster an die gegenüberliegende Wand projizierte, störte sie nicht mehr.
     
  Wichtiger Hinweis: Die Texte des Autors Frank Adlung, insbesondere die des Romans "Das Geheimnis von Val Mentiér", sind durch notarielle Hinterlegung urheberrechtlich geschützt. Ein Herunterladen und Ausdrucken ist nur für den privaten Zweck des Lesens gestattet. Kommerzielle Nutzung, öffentlicher Vortrag, oder Vervielfältigung und Verfälschung des Inhalts, sowie öffentliche Verbreitung ohne Genehmigung des Autors sind untersagt und werden zur Anzeige gebracht.
 
 
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