Das Geheimnis von Val Mentiér
 
37. Kapitel
 
Die geheimnisvollen Unbekannten
 
rgendwann war es so still, dass Sebastian davon aufwachte. Er blinzelte kurz ins grelle Licht, schloss die Augen wieder, und zwang sich, noch nicht für diese Welt bereit zu sein. Zerschlagen fühlte er sich, Matt und immer noch so unendlich müde. Aus Angst, kalte Luft unter die Felle zu lassen, versuchte er sich möglichst nicht zu bewegen. Aber es war so warm, dass er meinte, jemand hatte ein Feuer im Kamin angezündet. Während er noch darüber nachdachte, schlief er wieder ein.
Als er das zweite Mal erwachte, hatte sich das schmerzende Licht abgeschwächt. Die Sonne schien ins Fenster und beleuchtete den Rahmen und die Laibung. Basti fühlte sich immer noch etwas lahm, doch gut ausgeschlafen. Seine Hand tastete nach Antarona, griff aber ins Leere. Das Krähenmädchen war bereits aufgestanden.
Mit einem Schlag war er hellwach. Sie war doch wohl nicht allein unterwegs? Immerhin hatten sie noch nicht herausgefunden, wer die Unbekannte mit dem russisch klingenden Namen Radna- Knova Ilisiè war. Sie selbst, oder ihre Handlanger konnten jederzeit aus dem Hinterhalt angreifen.
Mit einem Satz war er vom Lager hoch. Mit routinierten Griffen warf er sich seinen Lederschurz um und zog den Waffenrock darüber. Hemd und Umhang ließ er wegen der Wärme weg. Dann sah er nach den Waffen. Nantakis lag in seinem Versteck im Kamin, ebenso Antaronas Bogen und der Köcher unter dem Lager. Nur ihr Messer fehlte. Dass sie fast unbewaffnet aus der Hütte gegangen war, beunruhigte ihn etwas.
Sein Bündel mit Siegel, Karten und Tagebuch lag noch unversehrt unter ihrem Lager. Sebastian hängte sich sein Schwert um, steckte sich das Bowie- Messer in den Waffenrock, trat vor die Hütte und blickte sich um. Wohin war Antarona gegangen? Weit mochte sie sich ohne Waffen nicht entfernt haben. Sah sie nach den Kranken, die sie ja nach der Schlacht mit anderen so fürsorglich betreut und gepflegt hatte?
Duft geschwängerte, klare Sommerluft, wie sie oft während längerer Wärmeperioden in frühen Morgenstunden vorherrschte, schlug ihm entgegen. Doch nach dem Stand der Sonne musste es bereits Mittag sein. Der Geruch nach dem Feuer und nach Essen lag noch über der Halbinsel. Hier und dort taumelten noch ein Tänzer, oder eine Tänzerin über den Platz. Vermutlich hatten sie unter irgend einem Busch genächtigt und ihren Rausch ausgeschlafen, der wohl in erster Linie dem Mestas angelastet werden konnte.
Ein junger Bursch kam über den Platz geschlichen, stützte ein Mädchen, das nur mit dem Schurz bekleidet war, und sich kaum auf den Beinen halten konnte. Er grüßte schüchtern herüber. Basti bot ihm an, auf der Bank vor der Hütte zu rasten. Dankbar und schwerfällig ließ der junge Mann seine Begleiterin auf die neue Bank sinken. Er musste das Mädchen festhalten, damit sie nicht zur Seite kippte.
»Na, wohl ein wenig zu viel des Mestas erwischt, was?« fragte er den Jungen grinsend. Der lachte gequält zurück und erwiderte:
»Ja, Herr, sie weiß einfach nicht, wann sie genug davon hat. Aber sie ist eine großartige Tänzerin, sie ist mir das Beste, Schönste und Liebste. Sie war so glücklich, dass wir zum Feuer des großen Herrn gegangen sind. Und sie war so wunderschön...«
»Sie ist wunderschön«, unterbrach Basti seinen Redefluss, und betrachtete die junge Frau mit dem hellbraunen, fast rötlichen Haar, »und lasst das mit dem Herrn, ja! Es freut mich, dass ihr Spaß hattet, und euch glücklich fühlt, nur das zählt.« Dann zeigte er auf das Mädchen, die auf der Bank hin und her wankte und noch immer im Delirium gefangen schien.
»Passt gut auf sie auf, ja? So etwas Wunderbares bewahrt euch, denn es ist etwas sehr Wertvolles. Seid ihr miteinander verbunden?« fragte Basti zuletzt. Der Bursche antwortete, und man sah das begeisterte und verliebte Strahlen in seinem Gesicht.
»Ja, die Elsiren selbst haben uns im Sumpf am Meer den Segen gegeben, den uns ihre Eltern verweigerten. Darum sind wir auch hierher gekommen, in das Dorf der ewigen Jugend, meine ich.« Sebastian nickte zustimmend.
»Dann hütet diese Frau gut, und achtet und beschützt sie, und sie wird euch eine gute Frau sein.« Er machte eine ausholende Bewegung über den Platz und fügte mehr für sich hinzu:
»Meine Frau ist bereits unterwegs, vermutlich zu den Verwundeten der Schlacht. Ich werde mal nach ihr sehen. Ihr mögt hier solange ausruhen, wie es euch beliebt. Ihr seid hier willkommen.« Damit zog der die Tür der Hütte zu, legte den Riegel vor, und ging langsam über den Tanzplatz zum Strand hinunter. Das Danke Herr überhörte er.
Zwei oder drei Pärchen und ein paar Burschen lagen noch in der Sonne und schliefen. Er ließ sie. Als er sich genauer umsah, stellte er fest, dass noch einiges an Essen übrig geblieben war. Am Spieß hing noch Fleisch und auf den groben Tischen lagen noch Brot, Früchte und Gemüse, sowie gegarter Fisch. Basti nahm sich vor, das ganze Zeug rasch in die Hütte zu schaffen, bevor Insekten, Vögel, oder anderes Raubzeug darüber herfielen.
Am Strand des Flusses, den er aufsuchte, weil er Antarona beim Bad vermutete, machte er dann eine eigenartige Entdeckung. Dort, wo der Sand von Wasser und Wind glatt gepresst war, hatte jemand eine Zeichnung in die ebene Fläche geritzt. Sie zeigte einige Hütten oder Häuser, etwas entfernt davon, mit einer Linie verbunden, unverkennbar zwei Pla-ka mit Bäumen darum herum, sowie ein paar Berge, oder Felsen.
Hatten sich die Jo-lie nach dem Tanz an dieser Stelle noch die Zeit vertrieben? Möglich, doch sah die Zeichnung eher wie eine Nachricht aus. Sebastian betrachtete sie eine Weile, bis ihm plötzlich die wahre Bedeutung in den Sinn kam. Antarona hatte ihm diese Nachricht hinterlassen!
Offenbar war sie aufgebrochen, die Pla-ka der Angreifer zu holen, die sie ja bei den Felsen auf der Lichtung zurückgelassen hatten. Er schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. Richtig! Die Reittiere hatte er gänzlich vergessen. Die standen nun schon einen halben Tag und eine Nacht lang angepflockt bei den Felsen.
In Gedanken ehrte er Antarona für ihre Umsicht, machte sich aber auch Sorgen, denn sie konnte schnell in einen Hinterhalt geraten. Er setzte einfach auf ihre Überlegenheit. Andererseits war sie nur mit ihrem Messer bewaffnet. Offenbar war sie über den Fluss geschwommen, um den Umweg durch das Dorf bis zur Furt abzukürzen. Daher hatte sie auch auf Bogen und Schwert verzichtet.
Da er nun schon einmal am Strand war, legte er seinen Waffenrock ab und sprang für ein paar Minuten in den Fluss. Anschließend fühlte er sich frischer und sauberer.
Nun begann er die restlichen Lebensmittel in die Hütte zu tragen, wobei er das Fleisch neben jenem Kraut an die Decke hängte, das Antarona zur Abwehr von Insekten aller Art verwendete. Ebenso verfuhr er mit den Fischen. Vor der Hütte saß noch immer das Paar in der Sonne. Sebastian gesellte sich für einen Moment dazu, bevor er mit dem Einlagern der Essensreste fortfuhr. Nicht ganz ohne Eigennutz.
»Wo hat eigentlich Radna- Knova Ilisiè ihr Lager?« fragte er den jungen Mann wie beiläufig, als wollte er ein Gespräch beginnen. Der Bursche der immer noch liebevoll seine unruhig schlafende Freundin in den Armen hielt, zuckte mit den Schultern.
»Wer soll das sein?« fragte er verwundert, und beteuerte: »Eine solche ist mir nicht bekannt. Es ist ein seltsamer Name, wer ist sie? Soll ich mich mal im Dorf nach ihr umhören?« Sebastian winkte ab und tat, als sei diese Sache das Unwichtigste der Welt.
»Nein, macht euch nicht die Mühe, sie wird wohl inzwischen wieder in Falméra sein«, spann er. Um davon abzulenken, und zu verhindern, dass sich der Name in des Jungen Kopf festsetzte, fragte er ihn:
»Habt ihr Hunger? Es ist noch Vieles von dem da, das die Mädchen an Essen zubereitet hatten. Ihr könnt euch getrost bedienen, wenn ihr mögt.« Doch der Bursche schüttelte den Kopf. Statt dessen wurde er aber seinerseits etwas redseliger.
»Wart ihr wirklich, wie man überall sagt, im Reich der Toten und bei den Göttern?« wollte er wissen. Basti bemerkte sein drängendes Bedürfnis, etwas darüber zu erfahren. Etwas Angst schwang in seiner Stimme mit, als er weiter fragte:
»Wie ist es dort? Die Alten sagen, man spürt dort keinen Schmerz mehr, und es ist alles hell und freundlich, und man sieht all jene wieder, die bereits dorthin gegangen waren und einem lieb sind. Gibt es dort ebenfalls das Gute und das Böse, das man bekämpfen muss?« Sebastian lächelte und antwortete ausweichend:
»Das sind viele Fragen, die ihr da habt, junger Freund. Doch ich muss euch enttäuschen, denn ich habe Vieles vergessen, so, wie es vor mir schon anderen ergangen ist, die aus dem Reich der Götter zurückgekehrt waren.« Sebastian berichtete wahrheitsgemäß:
»Als ich zurück kam, trat ich durch ein unsichtbares Tor. Doch ich vermochte es zu spüren. Es fühlte sich kalt und feucht an, so dass es mich frierte. Und dann sah ich jenen, welcher im Val Mentiér der Wächter des Tores zum Reich der Toten ist. Er brachte mich zu jener, die ihr Sonnenherz nennt, und die nun mit mir verbunden ist, wie es der Wille der Elsiren war. Und nun bin ich hier, und versuche eure Frage zu beantworten.«
Der junge Mann war etwas verunsichert. Offenbar hatte er inzwischen ein schlechtes Gewissen bekommen, Areos, den Sohn des Königs, mit solcherlei Fragen zu belästigen. Beschämt sagte er:
»Verzeiht, Areos, ich wollte nicht neugierig sein. Doch drückt mich die Frage, was nach dem Tode kommt, ob ich dann ganz fort bin, fort von meiner Dyria, die ich so liebe, dass ich niemals von ihr getrennt sein mag.« Dabei strich er dem Mädchen mit liebevollem Blick sanft über die Stirn und über ihre zarten Brüste. Dann sah er auf und blickte Basti offen an.
»Sagt, Areos, kann man sich selbst entscheiden, ob man zurückkehren mag, oder nicht, wenn man einmal im Reich der Toten ist?« Sebastian zog die Augenbrauen hoch und dachte nach, was er dem jungen Burschen raten sollte, den anscheinend die Angst plagte, möglicherweise einmal von seiner Dyria getrennt zu sein. Er beschloss, ihm die Wahrheit zu sagen:
»Das, lieber Freund, vermag ich euch leider nicht zu sagen«, gestand er, »denn wie alle anderen vor mir, die aus dem Reich der Toten zurückgekehrt waren, hatte ich keine Erinnerung mehr. Ich wusste nicht einmal mehr, wer ich war. Ich kann euch ebenso wenig sagen, wie es dort ist. Da solltet ihr besser auf die Alten und Weisen hören. Das tut selbst der König.« Der junge Mann nickte nachdenklich, und Sebastian wusste, dass die Antwort für ihn ungenügend war.
»Ihr hattet sicher geglaubt, dass ich es euch besser erklären könnte, nicht wahr?« lenkte Basti ein, und als der Junge eine Geste der Gleichgültigkeit machte, fügte er hinzu:
»Ja, ja, so ist es, gebt es nur ruhig zu. Und ich wollte, ich könnte euch mehr darüber sagen. Doch das kann ich nicht. Und merket, es gibt immer einen Teil des Lebens, und dazu gehört auch der Tod, den wir Menschenwesen nicht verstehen werden, vielleicht sogar nicht verstehen sollen. Möglicherweise wollen die Götter ja gar nicht, dass wir alles wissen, denn warum wohl nehmen sie jedem, der von den Toten zurückkehrt, jegliches Gedächtnis, sogar solches Wissen, warum einige zurückkehren können?«
Der Bursche saß eine Weile schweigend da, dachte nach und strich seinem schlafenden Mädchen behutsam die verschwitzten Haare aus dem Gesicht. Dann sah er auf und sagte beinahe trotzig, als könnte er nun seinerseits Areos aufklären:
»Mein I-vè-nem-ró, der Vater meines Vaters, denkt, dass ihr von den Göttern zurückgesandt wurdet, weil eure Aufgabe in dieser Welt noch nicht vollbracht ist. Er sagt, dass ihr zu früh gegangen seid, bei der großen Schlacht. Nun haben euch die Götter zurück gebracht, damit ihr das Volk der Îval im Val Mentiér und im ganzen Volossoda von Torbuk und Karek befreit. Er sagt auch, dass die Götter euch Sonnenherz an eure Seite gestellt haben, weil sie eine gute Îval ist, die ihr Volk liebt, und die für ihr Volk kämpft.«
Er unterbrach seine Rede einen Moment, denn das Mädchen in seinen Armen erwachte, setzte sich wankend auf und sah sich erstaunt um. Der junge Mann nahm sie in seinen Arm und zog sie an sich. Sie ließ es geschehen und kuschelte sich vertrauensvoll an ihn, als wollte sie weiter schlafen. Doch ihre Augen waren wach und sie lauschte gespannt, was er sagte:
»Ihr solltet Sonnenherz zu eurer Königin machen, nicht jene, die Raspina, eine Tochter des Oranuti Fürsten Jamálin ist. Das Krähenmädchen ist eine gute Îval. Jeder liebt sie, denn sie ist eine von uns. So wie es ist, mag niemand eine Oranuti als Königin haben, auch wenn es die Gebote der Götter sind. Das Volk hofft, dass Sonnenherz eure Königin wird. Die Oranuti tun sich wie die Herrschaft im Lande. Das Volk will eine Îval.«
Sebastian war sprachlos. Er hatte keine Ahnung davon, dass die Îval und die Jo-lie so intensiv darüber nachdachten, welche Frau Areos neben sich mit auf den Thron nahm. Antarona schien beim Volk die Favoritin zu sein.
»Hat euch das auch euer I-vè-nem-ró gesagt?« forschte Sebastian nach. Der Junge senkte beschämt seinen Blick, hob dann aber trotzig das Gesicht und antwortete frei heraus:
»Ja, das auch. Doch ist dieser Wusch auch der meine und der Dyrias, und der vieler Îval und Jo-lie. Herr, die Oranuti nehmen uns immer mehr, sie nehmen mit den Quarts von König Bental die guten Häuser Falméras, sie nehmen unsere Frauen neben den ihren, sie nehmen unseren Handel, und wenn sie Torbuk Tor und Tür öffnen, dann nehmen sie uns letztlich das Leben! Sie werden immer mehr in dem land, das uns die Götter gaben. Das Volk will einen König und eine Königin der Îval für die Îval. Wir wollen, dass ihr König über Volossoda seid, und wir glauben, dass die Götter euch darum zurück gesandt haben.«
Das Mädchen, das bis dahin nur stumm zugesehen hatte, richtete sich nun auf, und bekräftigte die Hoffnungen des mit ihr verbundenen Jungen:
»Herr, ja, wir wollen euch und Sonnenherz auf dem Thron von Falméra und Val Mentiér und Volossoda, denn ihr seid wie wir, ihr versteht uns, ihr seid euch nicht zu gut, den Elsirentanz so mit uns zu tanzen, wie es das Volk tut.«
»Donnerwetter!« entfuhr es Sebastian laut, und er brachte damit sein Erstaunen zum Ausdruck. Dann sprach er etwas leiser, aber vertraut:
»Ihr seid sehr ehrlich, dafür danke ich euch. Und ihr seid so recht Volk nach meinem Herzen. Aber so einfach ist das nicht. Euer König ist Bental, und das wird sich so rasch nicht ändern. Doch will ich euch gerne eines versprechen. Fügt es sich, dass ich eines Tages dieses Land regiere, so soll keine andere, als Sonnenherz eure Königin sein. Sie ist und bleibt mit mir verbunden, ob nun auf dem Thron, oder in einer armen Jaen-tè.« Damit erhob sich Sebastian.
»So, nun habe ich noch einiges zu tun«, erklärte er, drehte sich aber noch einmal um und riet den beiden: »Ihr tut nun gut daran, euch etwas auszuruhen, und beim nächsten Tanz weniger Mestas zu trinken. Wenn es soweit ist, möchte ich ein Volk haben, das auch ohne dieses Zeug leben kann.«
Anschließend machte er sich wieder daran, die Reste der vergangenen Nacht in die Hütte zu bringen. Beim zweiten Mal, als er vom Feuerplatz herauf kam, war das Pärchen verschwunden. Nachdem er alles verwahrt, und auch noch den Platz um die Hütte, sowie den Strand aufgeräumt hatte, ließ er seinen Blick kritisch über den Himmel schweifen.
Die Sonne brannte vom wolkenlosen Himmel und nur der Dunst sehr feuchter Luft hing über dem Land. Der Fluss kroch ruhig dahin, als döste er. Wo blieb nur Antarona? Inzwischen waren mehr als drei Stunden vergangen. Um die Pla-ka zu holen hätte es bei diesem trockenen Wetter Ungünstigenfalls eineinhalb Stunden gebraucht.
Hatte sie die Tiere auf dem Rückweg bei einem Clan untergestellt, und hielt sich nun irgendwo im Dorf auf? Oder war ihr etwas zugestoßen? Sebastians Gefühle pendelten zwischen Angst und Zorn hin und her. Angst um Antarona, Zorn gegen sie, weil sie allein losgezogen war. Der Eigensinn der Frauen mochte ihm noch frühzeitig graue Haare bescheren!
Sebastian hatte nichts bestimmtes zu tun. Er konnte Antarona entgegen gehen. Mit den Pla-ka im Schlepp konnte sie ja schlecht über den Fluss zurück schwimmen. Sie musste also den Waldpfad am jenseitigen Ufer benutzen. Er verriegelte die Jaen-tè und machte sich auf den Weg. Der Hitze wegen trug er nur seinen Schurz, das Unterteil seines Waffenrocks darüber, und die Mokassin an den Füßen. Auf Schwert, Bogen und Messer aber wollte er nicht verzichten.
Als er die ersten Hütten und Zelte passierte, begann er nach Antarona zu fragen. Doch niemand hatte sie seit dem Elsirentanz gestern Nacht gesehen, oder etwas von ihr gehört, was ihm seltsam vorkam. War sie mit den Pla-ka ins Dorf zurückgekehrt, so hätte sich diese Nachricht rasch bis in den letzten Winkel herumgesprochen.
Sebastian ging bis zur Furt, die so ziemlich am anderen Ende Mehi-o-rateas über den Fluss führte. Auf den ersten Blick war kaum zu erkennen, dass man an dieser Stelle bequemer, als anderswo über das Gewässer kam, und wenn es in den höheren Lagen geregnet hatte, war auch dies eher zweifelhaft.
Unterwegs erkundigte er sich immer wieder nach Antarona. Vergeblich. Niemand hatte sie seit der letzten Nacht gesehen. Ebenfalls fragte er nach Radna- Knova Ilisiè. Aber eine Frau mit diesem Namen war unter den Jo-lie unbekannt. Er sah auf Eisilias und Temrins Anwesen vorbei, wo Vesgarina und Frethnal halfen, die Verletzten und Kranken zu versorgen. Auch die beiden Freunde wussten nichts über den Verbleib des Krähenmädchens, begehrten aber sofort, sich der Suche anzuschließen.
Geduldig wartete Basti, bis die beiden ihre Waffen geholt hatten. Anschließend suchten sie die Pferche und Gatter auf, in denen die Pla-ka, zumeist Beute aus dem Angriff auf Torbuks Lager, gehalten wurden. Sie befragten die vier jungen Burschen, die sich um die Tiere kümmerten, doch weder hatte einer von ihnen Sonnenherz gesehen, noch gab es ein neues Tier im Bestand.
Definitiv war nun klar, dass Antarona von ihrem Ausflug noch nicht zurückgekehrt war. Frethnal, Basti und Vesgarina berieten, was nun zu tun war.
»Vielleicht ist sie mit den Tieren noch zu der Grotte am großen Wasser, um Thies Leichnam zu holen«, mutmaßte Basti. Und so unwahrscheinlich war das gar nicht. Wenn sie schon einmal mit den Reittieren unterwegs war, bot sich dies an, anstelle später noch einmal loszuziehen, um Thies ins Dorf zu holen.
Vesgarina, die stumme Wenderin berührte ihn am Arm, um auf sich aufmerksam zu machen. Sie zeichnete das Dorf in den Sand, dann zwei Pla-ka, dann einen Halbkreis mit Wellen. Dazu verband sie die drei Bilder mit einer Linie und nickte aufgeregt dazu.
»Du meinst, dass Antarona tatsächlich bis zur Grotte geritten ist, um Thies toten Körper mitzubringen?« fragte er. Das Mädchen nickte heftig. Basti schloss sich rasch der Meinung an. Erstens wussten Frauen im allgemeinen, wie Frauen dachten und handelten, zweitens war es plausibel.
»Ich denke, du hast recht, und wir machen uns hier ganz umsonst Sorgen«, dachte er laut. »Wenn es so ist, so kann sie ja unmöglich schon wieder hier sein.« Die beiden Freunde nickten und Sebastian entschuldigte sich erleichtert, dass er sie beunruhigt hatte.
Vesgarina legte ihm ihre Hände auf den Arm und sah ihn mit großen, verständnisvollen Augen an. Er wusste, dass sie ihm sagen wollte, dass seine Angst und Fürsorge in ihren Augen etwas ehrenhaftes, wertvolles war. Auch Frethnal fand seine Sorgen berechtigt.
Etwas beruhigter ging Basti zu ihrer Hütte zurück. Unterwegs überlegte er, ob er Antarona entgegen gehen sollte. Doch er wusste nicht, welchen Weg sie nehmen würde. Gelangweilt von Untätigkeit und von der Mittagshitze etwas ermüdet, schlenderte er über den Tanzplatz der Nacht zum Flussstrand hinunter, um sich in die Sonne zu legen.
Er kam zu der Stelle, an der Antarona die Zeichnung in den Sand geritzt hatte. Wie ähnlich sich Frauen doch waren. Vesgarina hatte vor ein paar Minuten beinahe die gleichen Symbole für ihre Sandmalerei verwendet. Basti betrachtete Antaronas Nachricht und irgend etwas störte ihn daran, ohne dass er sagen konnte, was es war.
Nicht weit von der Stelle legte er die Waffen ab, zog die Mokassin aus und flezte sich in den weichen Sand und hielt die Füße in das Wasser. Er verschränkte die Hände hinter dem Kopf, döste und beobachtete eine einzelne Wolke, die über ihm dahin zog. Müde war er, doch einschlafen konnte er nicht. Irgend etwas, das ihm im Kopf herum spukte, hielt ihn wach. Eine innere Unruhe, so etwas, wie eine Ahnung.
Ungeduldig wälzte er sich zur Seite, stand auf, und ging noch einmal zu Antaronas Nachricht hinüber. Lange betrachtete er sie, schüttelte den Kopf, sah wieder hin. Ein par Vögel flogen über ihn hinweg, tauchten das Bild für eine Zehntel Sekunde in Schatten. Da fiel es ihm auf.
Vesgarina hatte das Dorf gezeichnet, die Pla-ka, sowie die Grotte am Meer. Antarona jedoch hatte nur das Dorf und die Pla-ka in den hart gepressten Sand geritzt. Wenn sich Frauen in ihrer Art so ähnlich waren, und er Antarona zudem als ziemlich pragmatisch einschätzte, wieso hatte sie dann die Grotte am Meer in ihrer Nachricht unerwähnt gelassen? Basti dachte nach.
Weil sie gar nicht dort hin wollte! Weil sie lediglich vor hatte, die Pla-ka ins Dorf zu holen. Hatten sie nicht beide davon gesprochen, dass Thies von den Jo-lie geholt werden könnte? Er wusste es nicht mehr. Statt dessen fiel ihm ein, dass sie beide Mühe hatten, die Leichen über die nassen Felsen in die Höhle zu schaffen. Wie sollte Antarona auf den Einfall kommen, sie nun allein wieder heraus zu holen und auf die Pla-ka zu laden? Die Möglichkeit, Antarona war allein zur Grotte geritten, kam ihm immer unwahrscheinlicher vor, je mehr er darüber nachdachte.
Wenn sie nur die Reittiere hatte holen wollen, so musste sie längst zurück sein, noch dazu, wenn sie die Abkürzung über den Fluss genommen hatte, was wahrscheinlich war. Unschlüssig stand Sebastian da. Noch einmal Vesgarina und Frethnal alarmieren? Und sich womöglich endgültig lächerlich machen?
Angestrengt kniff er die Augen zusammen und sah hinüber zum anderen Ufer, als konnte er dort die Antwort finden. Doch außer der dichten Vegetation konnte er nichts erkennen. Wie auch. Der Fluss maß an dieser Stelle mindestens hundert oder mehr Meter von Ufer zu Ufer. Wie lange brauchte man von dem Ort, an dem sie die Pla-ka angepflockt hatten, bis zum Dorf, selbst unter Berücksichtigung des Umstandes, dass die Tiere nicht geritten, sondern geführt wurden?
Drei Stunden, höchstens vier. Es war jetzt fast Nachmittag. Antarona war schon fort, als Sebastian am Vormittag aufgewacht war. Zu lange, um ein par Pferde ähnliche Geschöpfe zu holen. Viel zu lange, schoss es ihm durch den Kopf. Doch wo sollte er seine Frau suchen? Welchen Weg sollte er nehmen? Er versuchte sich in ihre Rolle zu versetzen. Der kürzeste Weg war auch der normalste, jener, den sie zusammen gegangen waren, bis zu der Stelle, da sie vor der Furt in den Fluss gingen, um an ihrer Hütte auf der Halbinsel herauszukommen. Antarona musste mit den Tieren bis zur Furt und dann direkt ins Dorf gehen.
Als ob das Krähenmädchen seine Gedanken empfangen hätte, spürte er unvermittelt ihre Gegenwart. Er sah sich um. Blödsinn! Sie war natürlich nicht da. Und doch war es ihm, als ob sie neben ihm stand, als ob sie ihm etwas sagen wollte. Er sah unschlüssig zu ihrer Nachricht im Sand hinüber. In diesem Moment verdunkelte die einsame, kleine Wolke am Himmel die Stelle, an der sich die Zeichnung befand.
Plötzlich war es ihm, als rufe ihn Antarona zu Hilfe. So stark war das Gefühl, dass sie ihn brauchte, dass ihm die Tränen in die Augen schossen. So etwas hatte er noch nicht erlebt! Seine Müdigkeit war wie weg gewischt. Ohne zu zögern legte er sich wieder Waffenrock, Schwert und Bogen um, und ging zur Hütte hinauf. Er handelte mit einem Mal erstaunlich rationell.
Rasch rollte er drei große Felle zusammen, hängte sie sich als Bündel um, verriegelte das Haus und marschierte los. Die Richtung schien ihm vorgegeben. Er ging den Weg, den Antarona zwangsläufig mit den Pla-ka kommen musste. Auf dem Weg durch das Dorf fragte er noch einmal hier und dort, ob jemand sie gesehen hatte, ohne Ergebnis.
An der Furt überlegte er, ob er sich einen Pla-ka holen sollte, um schneller voran zu kommen. Doch er verwarf den Gedanken sogleich wieder. Einmal war er nicht der beste Reiter, zum anderen war er ohne so ein großes Tier flexibler. Fand er Antarona, so waren die beiden Tiere, die sie holte, genug.
Unter den erstaunten Blicken einiger badender Jo-lie pflügte er durch das Wasser der Furt, wie ein Xebron durch dichten Wald. Das Wasser ging ihm gerade mal bis zur Hüfte. Dennoch spürte er die starke Strömung, die ihn und Antarona vor ein par Tagen so weit abgetrieben hatte.
In der Mitte des Flusses kam er sich ziemlich verloren vor, hatte er doch den Eindruck, dass um ihn herum nichts als Wasser war. Die Ufer schienen von hier aus unendlich weit weg zu sein. Jeder Schritt bescherte seinen nackten Füßen eine neue Erfahrung. Mal spürte er glitschige Steine, mal irgendwelche Pflanzen, die sich wie hinterhältige Bänder um seine Beine schlangen, dann wieder weichen Sand oder Kies. Ständig musste er an irgendwelche Schlangen, oder Krokodile denken. Allein der Gedanke, dass die Jo-lie den Fluss täglich ohne Gefahr überquerten, beruhigte ihn.
Drüben, auf der anderen Seite schien eine andere Welt zu existieren. Was ihm am Vortag, als er mit Antarona von ihrem kleinen Abenteuer zurück kam, nicht aufgefallen war, wurde ihm nun um so mehr bewusst. Die Vegetation war dichter, mehr wie ein Dschungel. Während auf der Seite der Jo-lie Sumpfgras und hohe Laubbäume vorherrschten, wie sie Basti aus seiner Welt kannte, wuchsen auf dieser Seite zwischen den Bäumen vermehrt kleine Bäume mit buschartiger Ausbreitung.
Wo der schmale Pfad durch den Wald begann, zog Sebastian seine Mokassin an, die er während der Überquerung auf das Bündel gebunden hatte. Dann schritt er kräftig aus. Der auf weichen Humus gebettete Pfad war mit allerlei Blättern und nassen Rinden bedeckt, so dass er beim Gehen so gut wie keine Geräusche verursachte.
Das Gelände lag so tief, dass Sebastian dort, wo er auf den Fluss blicken konnte, das Gefühl hatte, mit dem Wasserspiegel auf gleicher Höhe zu sein. Eine ausgeprägte Böschung gab es nicht. Teilweise war der Boden zum Fluss hin sumpfig, und ging dann allmählich in den Schilfgürtel über, der ein par Meter ins Wasser hinein wuchs. Bei Hochwasser musste der Pfad und das Land bis weit in den Wald hinein überflutet sein. Das erklärte auch den weichen, federnden Boden unter Bastis ausgreifenden Schritten.
Erst allmählich, als er in die Nähe jener Stelle kam, an der er mit Antarona in den Fluss gestiegen war, wurde der Boden fester. Auch setzte sich das Ufer nun deutlicher durch eine Böschung vom Wasser ab. Dann erkannte er die Stelle wieder, von wo aus sie vor einem Tag über den Fluss geschwommen waren. Ihre Fährte war noch im feuchten Boden zu erkennen. Dabei fiel ihm auf, dass Fußspuren so individuell waren, wie Fingerabdrücke.
Antaronas linker Fuß wies zum Beispiel eine Besonderheit auf. Zwischen ihrem großen und den übrigen Zehen klaffte eine auffällige Lücke, wo hingegen der andere Fuß einen ebenmäßigeren Abdruck hinterließ. Ihre kleinen Füße drückten sich aufgrund ihres geringen Gewichts kaum in die Erde, ihre Zehen aber gruben sich um so tiefer ein. Es lag an ihrer Art barfüßig zu gehen. Ihre Zehen krallten sich für einen besseren Halt in den Boden, was ihm schon früher aufgefallen war.
Seine eigenen Spuren wiesen ihn deutlich als gewohnten Schuhträger aus. Sein Abdruck war stärker, und an allen Stellen beinahe gleich tief. Sebastian war es gewohnt, mit dem ganzen Fuß gleichmäßig aufzutreten, so, wie er es als Bergsteiger in festen Stiefeln gelernt hatte.
Dies alles erfasste er mit einem kurzen Blick, bevor er weiter hetzte. Er kam gar nicht auf den Einfall, dass ihm ein Feind begegnen könnte, und so ging er rasch, und ohne jede Vorsicht, als wanderte er durch die Feldmark seiner Heimat. Sein einziger antreibender Gedanke war, so schnell wie möglich Antarona zu finden. Ein Fehler, den er bald bereute.
Der Dschungel wich allmählich hohen, frei stehenden Bäumen und kargem, dornigem Gestrüpp. Daran erkannte Basti, dass er gut voran kam. Alles in allem hatte er bisher gerade mal eine geschätzte Stunde gebraucht. Und nun war er sicher, dass etwas geschehen war, denn Antarona hätte ihm längst entgegen kommen müssen.
Aber halt, kam da nicht ein Pla-ka daher getrabt? Sebastian lauschte angestrengt. Ein dumpfes Trappen war zu hören, er hatte es auf dem mit Laub bedeckten Boden nicht gleich gehört. Natürlich, das war Antarona. Wahrscheinlich hatte sie die Zeit genutzt, und sich einige Stunden in die Sonne...
Basti hatte sich in die Mitte des Weges gestellt, damit ihn das Krähenmädchen sofort sehen konnte. Doch so schnell, wie der Pla-ka heran geprescht kam, konnte er sich nur noch mit einem beherzten Sprung seitlich ins Gebüsch retten, um nicht unter die Hufe zu geraten. Er registrierte noch, dass die Reiterin eine blonde Frau war, die eine dunkle Maske auf dem Gesicht trug, offenbar aus Leder. Die Bänder hielten ihre hellen Haare zusammen, und funkelnde, kalte Augen blitzten ihn kurz an.
Die junge Frau gab dem rabenschwarzen Tier noch einmal die Fersen und es brach durch die Zweige, die in den Pfad hinaus wuchsen und verschwand augenblicklich im Braun und Grün des Waldes. Die Unbekannte hatte den Waffenrock nach dem Schnitt der Männer getragen, und ein Schwert klatschte im Trabrhythmus des Pla-ka gegen ihren Oberschenkel. Das war alles, was ihm als Erinnerung an diese flüchtige Erscheinung blieb.
Schmerzhaft verzog er das Gesicht. Basti war mitten in einem der Stacheln tragenden Büsche gelandet. Sein Oberkörper brannte plötzlich von den tiefen, blutigen Kratzern, welche die Dornen auf seiner Haut hinterlassen hatten. Er blutete an einigen Stellen und musste sich nun auch noch aus der dornigen Umklammerung befreien, was ihm noch ein paar zusätzliche Schrammen einbrachte.
Als er endlich wieder auf dem Waldpfad stand und an sich herunter sah, befand er, dass er schon einmal besser ausgesehen hatte. Wütend auf die rücksichtslose Reiterin zupfte er sich die Dornen aus der Haut und schnippte sie ins Unterholz zurück. Wo war die hergekommen? Er überlegte. Mochte es am Ende jene gewesen sein, die auf dem Plateau eine Zusammenkunft mit der Gorreiterin gehalten hatte?
Sebastian ahnte nichts Gutes. Wenn dieses Weibsstück unbeschadet nach Mehi-o-ratea reiten konnte, und vorher mit Antarona zusammengetroffen war, was er nun nicht mehr ausschließen konnte, mochte das nur eines bedeuten. Das Krähenmädchen war entweder tot, oder in großer Gefahr.
Er kümmerte sich nicht weiter um seine Verletzungen, sondern jagte nun im Lauf weiter. Die Angst um Antarona verlieh im die Kraft, so schnell den Weg hinauf zu laufen, dass es ihn selbst beeindruckt hätte, wäre nicht die Not der Eile geboten. Dennoch benötigte er noch eine habe Stunde bis zu jener Stelle, wo sie die Pla-ka angepflockt hatten.
Vorsichtig pirschte er sich an die Felsen heran, die ihm eine gute Orientierung boten. Er wusste nicht, was ihn erwartete, und musste nach der eben gemachten Erfahrung umsichtig vorgehen. Mühsam kämpfte er sich durch das Unterholz, um an unzugänglicher Stelle den Platz zu erreichen, von wo man einen Ankömmling am wenigsten vermutete. Doch seine Vorsicht war unbegründet. Er fand die kleine Lichtung im Wald vor den Felsen verlassen vor.
Darüber war er erleichtert und besorgt zugleich. Er fand Antarona nicht verletzt, oder gar tot vor, fragte sich aber, wo sie war. Hatten sie seine Frau gewaltsam fort geschafft? Womöglich auf ein Schiff nach Quaronas verschleppt? Immerhin hatten Torbuk und Karek ein Vermögen auf ihre Ergreifung ausgesetzt. Sebastian musste sich Klarheit verschaffen.
Nachdem er sich davon überzeugt hatte, dass niemand in der Nähe war, begann er nach Antaronas Schule die Spuren zu untersuchen. Sofort sah er, dass sie an diesem Ort gewesen war. Zwischen einer Menge anderer Abdrücke, erkannte er den Antaronas auf Anhieb heraus. Die Lücke zwischen den Zehen ihres linken Fußes war einzigartig. Die Spuren konnten auch nicht vom Vortag herrühren, denn es gab noch Mokassin und Stiefel, die weitere Fährten hinterlassen hatten. Antarona und er selbst hatten keine Beinkleider getragen, als sie die Pla-ka an diesem Ort zurückgelassen hatten.
Was war hier geschehen? Basti blieb an einer Stelle in der Mitte der sandigen Lichtung stehen, um nicht die Spuren zu zerstören, und sah sich um. Er vermochte neben Antaronas nackten Füßen ein paar Mokassin und zwei verschiedene paar Stiefel unterscheiden. Die Stiefel kamen links und rechts von den Felsen, die Mokassin schienen aus dem Boden gewachsen, denn sie kamen nirgendwo her. Diese Spuren begannen und endeten mitten auf dem Platz. Die Abdrücke waren nicht sehr tief und klein. Vermutlich eine Frau.
Alle Fährten trafen sich an der Stelle, wo Basti noch die Löcher der Pflöcke erkennen konnte, welche die Pla-ka am Boden festhielten. Also wurde Antarona überwältigt, als sie dabei war, die Tiere los zu binden. Die Stiefel, in denen zweifelsohne Männerfüße gesteckt hatten, waren offenbar hinter den Felsen verborgen. Doch wo war die Frau, bei der sich Sebastian sicher war, dass es sich um die unbekannte Reiterin von vorhin handelte? Und warum hatte Antarona sich überrumpeln lassen?
Basti drehte sich auf der Stelle und versuchte eine Erklärung zu finden. Er ging ein Stück auf den Pfad zu. Von dort kamen nur Antaronas Fußspuren. Also hatten die anderen Personen sich bereits am Ort verborgen, als Antarona auftauchte.
Noch etwas erblickte er, das kaum zu übersehen war. Ein ziemlich großer, dicker Ast war von einem Baum am Rande der Lichtung abgebrochen. Er lag da, wo er herabgestürzt war, umgeben von einem Teppich herabgefallener Blätter. Basti wusste, dass der Ast, den zwei Mann kaum fortbewegen konnten, noch nicht dort gelegen hatte, als er mit Antarona am Vortag die Lichtung verlassen hatte. Auch sah er keinen Grund dafür, dass er abgebrochen war. Es hatte weder Gewitter, noch Sturm gegeben. Und so morsch war das Holz nicht, dass es einfach von selbst brach.
Hatten die Feinde versucht, Antarona zu erhängen? Wohl kaum. Das Krähenmädchen war für Quaronas zu wertvoll, als dass man sie hätte einfach aufknüpfen wollen. Hatte der Ast mit einer List zu tun, mit der sie Antarona überrumpelt hatten?
Aber er kannte Antarona. Sie tappte nicht so mir nichts dir nichts in eine Falle. Er ging noch ein Stück weit zurück. An einem einzeln sehenden Steinblock waren nur Antaronas Fußballen tief in den Sand gedrückt. Hier hatte sie gehalten, sich hingehockt, und eine Weile den Platz beobachtet, bevor sie wachsam zu den Reittieren gegangen war. Wie war den Gegnern dennoch gelungen, sie zu überlisten? Wieso hatte das Krähenmädchen die Gefahr nicht gespürt? Basti schüttelte unverständlich den Kopf.
Wieder ging er auf den Platz zurück. Er besah sich den Ort genauer, an dem die Pla-ka gestanden hatten. Da sah er etwas, das er zuerst nicht zuordnen konnte. Kleine Abdrücke, so groß wie die eines Wolfes, eines Luchses, oder großen Hundes befanden sich dort, wo der Wald begann. Sie waren aber nirgends auf dem Platz zu finden.
Wurden die Pla-ka von einem umher streunenden Wolf bedroht? Bemerkte Antarona darum den Hinterhalt nicht, weil sie den Tieren zu Hilfe kommen wollte? Doch ein Wolf hätte sich nicht genähert, wenn sich Menschenwesen an diesem Ort verborgen hatten. Also ein großer Hund. Vermutlich sogar der Hund jener unbekannten Männer, die der Frau geholfen hatten, Antarona zu überlisten.
Das Bild wurde deutlicher. Wie ein Puzzle setzten sich die Spuren für Sebastian allmählich zu einer bildhaften Szene zusammen. Antarona wollte die Bedrohung der Pla-ka, wahrscheinlich durch den Hund, abwenden, und ließ dadurch in ihrer Aufmerksamkeit nach. Ob nun geplant, oder nicht, dies machten sich die Frau und die zwei Männer zunutze, die ihr offenbar auflauerten. Woher die beiden Männer gekommen waren, war klar, doch woher kam die Frau? Die beiden Männer hatten es nicht eilig, das sah Sebastian an den Spuren, die einen ruhigen Schritt zeigten.
Demnach hatte die Frau Antarona zumindest erfolgreich attackiert. Doch woher war sie gekommen, wenn sie nicht vom Himmel gefallen war? Sebastian sah intuitiv nach oben. In dem Baum, der dem Schauplatz am nächsten stand, wies einige geknickte Zweige auf. Und erst jetzt fielen Basti die Blätter auf, die herumlagen und die er vorher gar nicht beachtet hatte. Die waren nicht welk vom Baum gefallen. Sie sahen frisch und grün aus. Dann sah er das Blut. Es waren nur ein paar Tropfen, an einer Stelle mehr, an einer anderen weniger.
Der Gedanke, dass Antarona bei der Attacke verletzt wurde, machte ihn rasend. Ein paar Insekten machten sich bereits über das angetrocknete Blut her, und dass er es auf dem sandigen Waldboden entdeckt hatte, grenzte schon an ein Wunder.
Die Frau also musste oben im Baum gehockt, und gewartet haben, bis Antarona direkt unter ihr stand. Wahrscheinlich war sie, wie Basti selbst, durch das Unterholz gekommen. Dann hatte sie sich auf das abgelenkte Krähenmädchen fallen lassen. Vielleicht hatte sie Antarona sogar bewusstlos geschlagen, was wiederum erklären konnte, weshalb die Männer gemächlichen Schrittes hinzu kamen. Dann musste alles nach einem Plan abgelaufen sein. Sebastian konnte keinen Anhalt dafür finden, dass Antarona eigenen Fußes den Platz wieder verlassen hat. Sie muss also auf einem der Pla-ka gesessen, oder gelegen haben, vermutlich unfreiwillig.
Die Männer hatten den Platz zu Fuß verlassen und die Pla-ka geführt, während die Frau vom Platz geritten war. Die Hundespur zog sich neben jener der beiden Männer dahin. Dieser Vierbeiner konnte zum Problem werden, sollte Sebastian den Männern und Antarona folgen.
Aber wenn er etwas für seine Frau tun wollte, so musste er ihnen folgen. Die Fährte der Frau führte zum Dorf, die der Männer mit den Pla-ka zum Meer. Zwei Männer und ein Hund. Keine einfachen Gegner, wenn er davon ausging, dass Antarona ihm nicht viel würde helfen können. Doch die Zeit, noch das halbe Dorf zu alarmieren, hatte er nicht. Sollten die Männer das Krähenmädchen auf ein Schiff verschleppen wollen, musste er sich mächtig beeilen. Befand sie sich erst einmal auf dem Meer, war es fast aussichtslos, ihr noch zu helfen.
Sebastian wusste nicht, wie viel Vorsprung die Männer hatten. Klar war jedoch, und das konnte er an seiner Begegnung mit der geheimnisvollen Unbekannten festmachen, dass sie vor einer halben Stunde aufgebrochen sein mussten. Wenn die Gegner, vermutlich Männer Torbuks, die Pla-ka führten, konnte er sie noch vor dem Strand einholen. Der Hund würde ihn zuerst bemerken. Auf ihn musste er aufpassen. Sein Nachteil war daher, dass er sich nicht so schnell bewegen konnte, wie die Entführer.
Die Überlegung, einen anderen Weg zur Küste zu nehmen, verwarf er gleich wieder. Woher sollte er wissen, an welcher Stelle Antarona auf ein Schiff gebracht werden sollte. Basti war gezwungen, ihrer Fährte zu folgen. Und er musste alle seine Sinne schärfen, so, wie Antarona es ihm beigebracht hatte, um dem Feind nicht in die offenen Arme zu laufen.
Strammen Schrittes ging er los, folgte dem Pfad, den er am Vortag mit Antarona von der Küste her gekommen war, den nun auch die Entführer eingeschlagen hatten. Gerade mal fünfzig Meter weit war er gekommen, als zwei Schatten durch die Bäume huschten, und ihn unwillkürlich zusammenzucken ließen. Er kannte die beiden Tiere, die einen engen kreis flogen, und sich dann vor ihm auf dem Weg nieder ließen. Tekla und Tonka, Antaronas schwarz gefiederte Freundinnen.
Überrascht blieb er stehen. Was machten die beiden Krähen hier? Hatte Antarona sie in ihrer Verzweiflung geschickt, um ihn zu Hilfe zu holen? Doch wenn die Tiere bei ihr gewesen waren, warum war sie dann in die Falle getappt? Die beiden Schwarzvögel verrieten ihr gewöhnlich jedes Detail über ihre Gegner. Was stimmte da nicht? Langsam ging Sebastian auf die beiden Krähen zu, und hockte sich, wie er es von Antarona gelernt hatte, vor ihnen auf den Boden.
Er versuchte sich auf die beiden Krähen zu konzentrieren. Doch so recht wollte ihm das nicht gelingen. Seine Sorge um Antarona blockierte ihm die Sinne. Aber dennoch, er spürte, dass die beiden Vögel ihn leiten, ihn zu etwas hinführen wollten. Intuitiv wusste er, dass er ihnen folgen musste.
Die beiden Tiere hüpften einen Meter über den Waldboden, breiteten ihre Schwingen aus und flatterten davon. Sebastian folgte ihnen so gut er es vermochte. Immer wieder warteten Tekla und Tonka auf einem Ast, oder einem Felsen, bis er heran war. Dann segelten sie erneut voraus, so weit, dass er sie gerade noch ausmachen konnte.
So ging das eine Weile fort, und stets auf dem Weg, den Basti bereits kannte, und der zur Küste führte. Als das Gelände unübersichtlicher, unwegsamer und abschüssiger wurde, lag irgend etwas weit voraus auf dem Pfad. Einige Aasvögel hatten sich dort versammelt und pickten daran herum. Voll böser Ahnungen spurtete Sebastian los. Als er die Stelle erreichte, sah er, dass es sich um einen verendeten Wolf, oder Hund handelte. Jener Hund?
Er untersuchte das tote Tier und stellte fest, dass es einen eingeschlagenen Schädel hatte, sowie einen groben Schnitt am Hals, wie von einem Schwert beigebracht. Hatte Antarona das Tier getötet? Doch wie, wenn sie die Gefangene war? Immer wieder stand Basti vor neuen, unlösbaren Rätseln. Was bei den Göttern war hier geschehen?

Antarona war nach der Tanznacht früh aufgewacht. Die Sonne war gerade hoch gekommen. Die Vögel gaben sich ein lautes Frühkonzert, und die Luft schien zwar sommerlich warm, aber auch wie rein gewaschen vom Rauch und den schweren Düften der Tanzenden.
Eine innere Unruhe ließ sie nicht mehr einschlafen. Schräg fielen die Strahlen der Sonne wie Lichtlanzen durch das Fenster in die Hütte. Ba - shtie schnarchte neben ihr so laut, dass dies ein weiterer Grund war, aufzustehen. Sie schälte sich wie eine Schlange unter den Fellen hervor, ohne ihn zu wecken. Das konnte sie wirklich gut.
Sie tastete mit einer Hand nach ihrem Lederschurz, der sich in der Nacht von ihr gelöst hatte, zog ihn unter dem Fellberg hervor und hängte ihn sich wieder um die Hüfte. Leise öffnete sie die Hüttentür einen Spalt breit und lugte hinaus. Das warme, klare Sommerwetter und das frische Wasser des Flusses lockten.
Einen Moment zögerte sie noch, überlegte, ob sie Nantakis mitnehmen sollte. Sie blickte zum Versteck ihrer Waffen hin und entschied sich dagegen. Damit würde sie Ba - shtie wecken. Sie lächelte fürsorglich. Sollte er sich doch einmal richtig ausschlafen!
Wie eine Diebin griff sie sich ihr Messer, und stahl sich geräuschlos aus der Hütte. Draußen holte sie tief Luft, saugte das frische Aroma in ihre Lungen, reckte sich und sah an sich herab. Ruß haftete an ihrer immer noch leicht öligen Haut, die Farben der Bemalungen waren zum Teil verschmiert, und ihre Haare rochen nach Fett und Rauch und klebten.
Sie hatte ihr Oberteil vergessen! Beinahe war sie versucht, in die Behausung zurück zu schleichen, um es zu suchen. Sie ließ es bleiben. Für ein Bad im Fluss brauchte sie keinen Schutz ihrer Brüste, die, wie sie fand, etwas an Volumen zugelegt hatten.
Die Morgenluft genießend, schritt sie zum Strand hinab, vorbei am noch glimmenden Feuer, die ineinander verschlungenen Mästaasleichen links und rechts, die noch tief schlummerten, ignorierend. Ihre Füße freuten sich nach dem harten Boden beim Tanz über den feinen Sand am Strand des Flusses. Am Wasser blieb sie einen Augenblick stehen und betrachtete den ruhig dahin ziehenden Fluss.
Etwas Ungewöhnliches fiel ihr auf, als die den Strand der Halbinsel auf und ab blickte. Etwas kleines, Fuß hohes, das der Form nach nicht an diesen Ort gehörte, stand auf der fast ebenen Fläche fest gepressten Sandes. Antarona ging hin und nahm verstaunt einen Gegenstand auf. Es war ein aus Holz geschnitzter Pla-ka. Solche Holztiere wurden als Spielzeug für Kinder geschnitzt.
Sie wunderte sich zunächst darüber, dann aber meinte sie, irgend eine der Tänzerinnen, oder ein Tänzer mochten das Spielzeug in der Nacht vergessen haben. Schon wollte sie es wieder dort hinstellen, wo sie es gefunden hatte, da fiel ihr etwas ein.
Die Pla-ka! Sie und Ba - shtie hatten am Vortag die erbeuteten Pla-ka von Torbuks Männern im Wald nahe den Felsen, drüben im Wald jenseits des anderen Ufers abgestellt, um sie später zu holen. Sie hatten sie durch den Elsirentanz vergessen. Sie musste sie schnellstens holen.
Unentschlossen sah Antarona zwischen dem jenseitigen Ufer und der Hütte hin und her. Es war ein Risiko, ohne Waffen zu den Reittieren zurückzukehren, denn jeder konnte Ihre Spuren gefunden und verfolgt haben. Andererseits würde es nicht lange dauern, und dafür Ba - shtie wecken, um an das Versteck der Waffen zu gelangen? Doch er würde sich Sogen machen, wenn sie verschwunden war.
Sie überlegte kurz, dann nahm sie einen Zweig und ritzte eine Nachricht für ihn in den Schwemmsand. Ba - shtie würde als erstes an den Strand kommen, wenn er ausgeschlafen hatte. Anschließend steckte sie sich den Pla-ka aus Holz neben ihrem Messer in den Bund ihres Lederschurzes, und warf sich ohne zu zögern in den Fluss.
Trotzdem sie eine hervorragende Schwimmerin war, wurde sie ein Stück weit abgetrieben, bevor sie das andere Ufer erreichte. Dadurch musste sie eine gute Strecke durch den dichten Dschungel zurücklaufen, bevor sie die Stelle erreichte, an der sie mit Ba - shtie am Vortag auf den Pfad zu den Felsen eingebogen war. Gründlich untersuchte sie die Fährten im Boden, konnte aber keine anderen entdecken, als jene, die sie selbst vor Stunden hinterlassen hatten.
Beruhigt schritt sie durch den stillen Wald, der sich bald lichtete, und karger wurde. Sie genoss die friedliche Ruhe am Morgen. Dennoch war sie ihrer Natur gemäß misstrauisch. Ein wenig war es ihr zu still. Ein Umstand, der sie seit jeher vor Gefahren gewarnt hatte. Deshalb hockte sie sich an einer geeigneten Stelle hin und rief in Gedanken ihre beiden Freundinnen Tekla und Tonka.
Lange brauchte sie nicht zu warten, als die beiden Krähen durch die Bäume geflattert kamen und sich vor ihr nieder ließen. Antarona wollte wissen, ob der Platz, an dem sie die Pla-ka zurückgelassen hatten, außer den Reittieren weitere Besucher beherbergte. Es genügte, dass sie es dachte, und schon erhoben sich die beiden Schwarzvögel und segelten im kaum zu bemerkenden Luftzug davon.
Etwas vorsichtiger ging das Krähenmädchen weiter, setzte Fuß vor Fuß an die Stellen, wo Blätter lagen, die noch ein wenig mit Tau benetzt waren. Sie schien durch den Wald zu schweben, so geräuschlos bewegte sie sich. Kurz darauf landeten die beiden schwarz Gefiederten wieder vor ihr auf dem Pfad. Außer den Pla-ka schienen die beiden nichts auffälliges wahrgenommen zu haben.
Antarona blieb trotzdem wachsam. Ihre innere Stimme, ein Gefühl, eine Art Instinkt, mahnte im Stillen. Es war, als würde etwas in der Luft liegen. Schon in Sichtweite der Felsen hörte das Krähenmädchen einen Pla-ka schnauben. Einen Moment lang glaubte sie sich in der Richtung getäuscht zu haben, da schnaubte das Tier erneut. Diesmal etwas ärgerlich. Nein, sie musste sich geirrt haben, es kam aus der Richtung, in der die kleine Lichtung liegen musste.
Als plötzlich zwei Pla-ka wütend schnaubten, wusste Antarona, dass etwas nicht in Ordnung war. Vielleicht wurden die angepflockten Tiere von Raubzeug bedroht. Sie zog ihr Messer und flog beinahe durch das Unterholz des Waldes, so flink und wendig lief sie weiter. An einem Felsblock, der bereits in Sichtweite der Lichtung lag hockte sie sich hin, bereit zum Sprung, und spähte zu den beiden Pla-ka hinüber.
Die Tiere tänzelten nervös hin und her, soweit die Riemen, mit denen sie am Boden gehalten wurden, es zuließen. Da hörte Antarona ein leises Knurren. Sie kannte das Geräusch. es war typisch für einen Felshund. Sie hatte nicht gedacht, dass es Felshunde in dieser Gegend gab, doch nun wusste sie es. Felshunde waren kleiner und weniger kräftig, auch nicht ganz so aggressiv, wie Eishunde. Normalerweise griffen sie Pla-kas nicht an, da diese sich gut und erfolgreich zu wehren wussten. Die angepflockten Pla-ka aber waren in ihrer Wehrhaftigkeit eingeschränkt. Das spürten auch die Felshunde.
Das Krähenmädchen glaubte, dass sie gerade noch im rechten Augenblick gekommen war. Mit Felshunden wurde sie leicht fertig. Sie waren, anders als ihre Verwandten aus dem Hochgebirge des Festlands, ihrer geistigen Kommunikationsfähigkeit zugänglicher. Unerschrocken und selbstbewusst schritt Antarona auf die Lichtung. Sie zeigte den Raubtieren damit, dass sie keine Angst vor ihnen hatte.
Als sie die Pla-ka erreicht hatte, und beruhigend auf sie einsprach, sah sie im Dickicht einen Felshund, der sich offenbar nicht heraus traute. Sie konzentrierte sich auf das Tier, um ihm geistig zu vermitteln, dass es klüger war, sich nun zu entfernen, als sie über sich in den nahen Bäumen ein Rascheln hörte. Es war ein kaum wahrnehmbares, sehr leises Geräusch. Doch Antarona spürte, dass dieser Laut dort so nicht hin gehörte. Zu spät.
Im nächsten Augenblick fiel etwas von oben herab, und schlug ihr heftig gegen die Schläfe. Ihr Kopf schien zu explodieren. Die Welt hüllte sich plötzlich in eine sich drehende Finsternis. Das war das Letzte, das sie bewusst wahr nahm.
Das erste, das sie fühlte, als sie wieder zu sich kam, war ein schweres, Übelkeit erregendes, dumpfes Hämmern in ihrem Kopf, so, als schlug immer wieder ein mir nassem Sand gefüllter Sack gegen ihren Nacken. Schwindel und wallender Schmerz drohte sie erneut zu überwältigen. Sie kämpfte dagegen an, und eine Stimme drang an ihr Ohr. Sie klang undeutlich, wie durch einen Nebel gesprochen, weit weg. Doch sie verstand den Wortlaut.
»Weck sie auf, sonst sitzen wir hier noch den ganzen Sonnenlauf fest. Ihr habt sie wohl etwas zu stark erwischt.« Den zweiten Satz schien die männliche Stimme zu einer anderen Person gesprochen zu haben, als den ersten.
Kurz darauf wurde Antarona von einem Schwall kalten Wassers übergossen. Sie erschrak und zuckte heftig zusammen. Das Wummern in ihrem Kopf wurde einen Moment noch stärker, doch ihre Sinne nahmen die Welt nicht mehr so verschwommen wahr. Ihre Wahrnehmung wurde klarer. Sie spürte ihre Arme weit auseinander gezogen, fühlte einen stechenden Schmerz in ihren Handgelenken, und stellte schnell fest, dass sie an eine lange Stange gefesselt worden war.
Unvermittelt wurde sie links und rechts daran hoch gerissen und in die Sonne gedreht. Sie kniff die Augen zusammen, versuchte etwas zu erkennen, sah aber nur einen Schatten, der langsam auf sie zukam. Die Person, die im Gegenlicht nur schemenhaft zu erkennen war, sprach nicht, sie hob nur den Arm und Antarona wurde an ihrer Stange zurückgeschleift, und so hoch an einen Baum gebunden, dass ihre Füße nur mit Mühe den Boden erreichten, was ihren Handgelenken zusätzlichen Schmerz bereitete.
Die Schattenperson kam auf sie zu und riss ihr das Messer und den Spielzeug- Pla-ka aus dem Schurzband. Dabei kam sie Antarona so nahe, dass diese eine blonde Frau erkennen konnte, die eine schwarze Maske über Augen und Nase trug.
Das Krähenmädchen, trotz ihrer Benommenheit noch voller Kampfgeist, fuhr mit den Füßen durch den Sand, bis sie einen scharfkantigen Stein spürten. Sie nahm ihn mit den Zehen auf, winkelte ihr Bein an und ließ den Fuß in erstaunlicher Akrobatik nach vorn schnellen. Sie erwischte die fremde Frau so hart an der Seite, dass diese einknickte, zurück taumelte, und sich keuchend die Seite hielt. Doch sie gab keinen Ton von sich, obwohl ein Rinnsal Blut durch ihre Hand sickerte. Statt dessen hörte sie die Stimme des Mannes, der links von ihr stand:
»Das wirst du büßen, du Miststück. Warte, ich werde dir beibringen, dich vor Radna zu benehmen.« Antarona sah, wie der Mann im Kriegsrock von Torbuks Soldaten vor ihr Aufstellung nahm, und seinen Arm hob.
Da fiel die unbekannte Frau dem Krieger in den Arm und schüttelte heftig mit dem Kopf. Der Mann ließ von Antarona ab, und verbeugte sich demütig und völlig übertrieben vor der Frau, die immer noch keinen Ton gesprochen hatte. Offenbar versuchte sie stumm zu bleiben, um sich nicht durch ihre Stimme zu verraten. Antarona vermutete, dass sie diese Frau bereits kannte. Wozu sonst sollte dieses Theater gut sein?
Die Frau wies mit ihrem gezogenen Schwert auf Antaronas Füße. Die beiden Männer packten daraufhin ihre Fußgelenke, banden diese gespreizt an einer weiteren Stange fest, und fixierten diese dann ebenfalls an dem Baum. Antarona vermochte sich nun gar nicht mehr zu rühren. Jede Regung verursachte brennende Schmerzen an Hand- und Fußgelenken.
Nun gab die geheimnisvolle Frau den beiden Männern ein weiteres Zeichen. Der Krieger, der bisher als einziger gesprochen hatte, baute sich vor ihr auf und herrschte sie an:
»Unsere Herrin weiß, dass du Sonnenherz bist, die auch Krähenmädchen genannt wird. Sie weiß, dass du Kenntnis davon hast, wo sich die geheiligten Hallen von Talris befinden. Sie wird dich am Leben und vielleicht sogar laufen lassen, wenn du ihr den Ort nennst, wo ihr Zugang zu finden sind. Schweigst du aber, so wird es dir schlecht ergehen. Dann werden wir dich Torbuk und Karek ausliefern, und du wirst einen grausamen Tod sterben.«
Antarona sagte kein Wort. Sie wusste, dass sie sowieso sterben musste, auch wenn sie den Ort der geheiligten Hallen verraten sollte. Sie ahnte auch, was die beiden Kerle mit ihr machen würden, bevor sie von ihnen erschlagen werden würde.
»Hast du mich gehört, du kleines Drecksstück, antworte gefälligst, mach dein kleines Maul auf, sonst werde ich dich züchtigen, dass du dir wünscht, nie geboren zu sein! Sag der Herrin, was du über die Hallen von Talris weißt. Sing, mein kleines Vögelchen, oder du hast für alle Zentaren ausgepiepst!« Der Krieger gab sich alle erdenkliche Mühe, Antarona auf diese Weise das begehrte Geheimnis zu entlocken. Vergeblich.
Das Krähenmädchen sammelte seinen Speichel im Mund und spuckte dem Kerl die volle Ladung mit verächtlicher Geste ins Gesicht. Wut entbrannt hob der Mann seine Faust und nur die stumme Frau verhinderte, dass er Antarona ins Gesicht schlug. Auch diesmal sagte die Frau kein Wort, machte aber eine energische Geste, die eindeutig klärte, dass der Krieger nur zu handeln hatte, wenn sie es befahl.
Mit einer kreisenden Bewegung ihrer Hand aus dem Gelenk, veranlasste sie, dass die beiden Männer die Stangen, an die Antarona gefesselt war, vom Baum lösten. Dann wurde sie von ihnen herum gerissen und mit dem Rücken zu der Befehlshaberin wieder fest wie auf einer Streckbank am Baum fest gezurrt. Ihr Blick war nun auf den Waldrand gerichtet, und sie konnte nur noch anhand der Geräusche vermuten, was hinter ihr vor ging.
Eine grobe Hand riss ihr den Lederschurz zur Seite, und es grenzte an ein Wunder, dass die Lederschnur hielt, und sie nicht völlig nackt am Pranger stand. Schlimm genug war es so schon, denn Antarona war davon überzeugt, dass sie nun von einem der Schergen vergewaltigt wurde, um ihren Willen zu brechen. Statt dessen wurde sie völlig unvorbereitet erneut mit einem Schwall Wasser begossen, diesmal über ihr Gesäß hinweg. Antarona schossen die Tränen in die Augen. Da sie nicht mit einem neuerlichen Wasserguss gerechnet hatte, empfand sie die Attacke als so erniedrigend und demütigend, wie nie etwas zuvor.
»Kannst du nicht aufpassen, du Trottel?« schimpfte jener hinter ihr, der bislang als einziger etwas gesagt hatte. Offenbar hatte der Wasserwerfer nicht genau genug gezielt, und seinen Kumpanen mit durchnässt. Für Antarona war es nichts Ungewohntes, Schmerzen zu ertragen, doch diese Art von Bloßstellung und Erniedrigung war weitaus schlimmer, und sie musste ihr Schluchzen unterdrücken, um ihren Gegnern nicht auch noch ihre Hilflosigkeit preis zu geben.
Dann spürte sie etwas prickelndes, rieselndes auf ihrem Po. Ehe sie begriff, dass sie an den nassen Stellen mit grobem Sand beworfen worden war, und zu welchem Zweck, war es bereits zu spät. Mit einem lauten Knall klatschte etwas Großflächiges so heftig auf ihren Po, dass sie laut aufschrie. Ihr Gesäß brannte, als wäre sie von Tausend Messerspitzen gepeinigt worden. Doch es war wohl mehr die entwürdigende Behandlung, als der Schmerz, was ihr die Tränen in die Augen trieb.
»Wirst du der Herrin nun sagen, was sie zu wissen wünscht, oder magst du weiter stumm bleiben?« hörte sie wieder die Stimme des Mannes, der anscheinend mit einer Hand das Leder ihres Schurzes hoch hielt, um die Schläge ungeschützt auf ihr Gesäß prasseln zu lassen. Sein Tonfall klang teils verächtlich, teils belustigt. In Antarona kochte ohnmächtige Wut auf. Wenn sie doch nur Nantakis in den Händen hielte, sie würde die drei in einem Streich ins Reich der Toten schicken!
Wieder knallte etwas auf ihr Gesäß und sie zuckte unter dem Schmerz zusammen. Die Sandkörner drangen in ihre Haut ein, und rieben sie auf. Dann hörte sie ein Flüstern. Anscheinend bekamen die Männer neue Anweisungen. Für eine Weile war es still. Als nächstes hörte sie ein stilles Rascheln, dann klatschte etwas auf ihren Rücken, das ein noch stärkeres Brennen auslöste. Eine Peitsche!
Antarona wusste, dass sich Torbuks Männer gerne dieses Folterinstruments bedienten. Sie wusste aber auch, dass diese Methode nicht sehr erfolgversprechend war. Eher wurde einer bewusstlos, als dass er verriet, wonach es seine Peiniger gelüstete. Sie stellte sich darauf ein, Schmerzen bis an die Grenze ihrer Belastbarkeit zu ertragen, und suchte sich ein Ziel für die Konzentration ihrer Sinne.
Gelang es ihr, sich fest auf eine Sache zu fixieren, so spürte sie den Schmerz nicht mehr so stark. Sie konzentrierte sich auf die Tiere, die Pla-ka und den Hund. Zu Tieren hatte sie den geistigen Zugang, der ihr bei Menschenwesen oftmals verwehrt blieb. Allmählich begann sie den Hund und die Reittiere zu fühlen, in ihren Geist einzudringen, sie lenken.
Beim nächsten Hieb mit der Peitsche begannen die Pla-ka nervös zu werden, fingen an heftig herum zu tänzeln, und auch der Hund schien verrückt zu spielen, als spürte er die Peitschenhiebe selbst auf seinem Fell. Antarona hörte ein Knurren und kurz darauf die Stimme des Mannes.
»Aus, pack dich, du elende Dreckstöle! Bei den Göttern, warum ertrage ich dieses Vieh eigentlich noch, und schlage ihm nicht den Schädel ein?« Antarona musste trotz ihrer ausweglosen Situation lächeln. Sie hatte einen Weg gefunden, es ihren Feinden zumindest so schwer wie möglich zu machen. Sie fühlte die Tiere, fühlte ihren Herzschlag, fühlte ihre Sinne. Und sie übertrug ihren Schmerz auf diese unschuldigen Geschöpfe, die ihr helfen würden.
Der dritte Hieb löste ein wahres Durcheinander aus. Voller Wucht und mit seinem ganzen Zorn gegen ihren ungebrochenen Willen drosch der Mann mit den Lederriemen am Ende der Knute über ihren Rücken. Die Tiere spürten den Schmerz und brachten ihn instinktiv mit der Armbewegung des Kriegers in Verbindung.
Die Pla-ka stiegen auf der Hinterhand auf, rissen die Pflöcke aus der Erde und sprangen wild umher, als säße ihnen ein Sis-tà-wàn im Nacken. Der Hund aber, so interpretierte Antarona die Geräusche, fiel den Mann mit der Peitsche an. Er knurrte böse, und hatte sich offenbar im Arm des Mannes verbissen. Sie spürte bei den Tieren so etwas wie Entrüstung, Angst und Abwehr.
»Nimm endlich dieses dämliche Biest fort, oder bei den Göttern, ich hau' ihm den Kopf ab!« brüllte der Mann vor Schmerz und Wut. »Was ist nur los mit den Viechern, drehen ganz ohne Grund durch, als wollte die Finsternis sich auftun, um sie zu verschlingen. Binde das Vieh an, oder ich vergesse mich!« Der Hund jaulte kurz auf, dann war es still.
Aber auch die Schläge auf Antaronas Rücken hatten aufgehört. Sie versuchte sich etwas zu drehen, um festzustellen, welche Verletzungen ihr die Peitsche beigebracht hatte. Die Haut spannte, als wäre sie stark zusammengezogen worden. Sie spürte Risse, die brannten und schmerzten, und die Sonne, die auf die frischen Wunden strahlte, schien sie zu verbrennen. Ihre Knie zitterten, und nur mit Mühe konnte sie sich noch auf den Beinen halten.
Diesen Triumph wollte sie den Verrätern nicht gönnen, dass sie einfach kraftlos in die Seile fiel. Sie straffte sich noch einmal, hob demonstrativ und trotzig den Kopf. Erneut hörte sie Flüstern hinter sich. Diesmal nicht mehr so beherrscht. Antarona hörte einen deutlich aggressiveren Ton, als würden sich die Frau mit den Männer streiten.
»..etwas anderes versuchen. Wir dürfen sie nicht so zurichten, ihr wisst was Karek mit euch macht, wenn er erfährt, dass ihr sie gebraucht habt. Er will sie unversehrt. Weiß Talris, was er an der findet, die wie ein Gerippe ist. Aber ich will meine Belohnung! Wenn ich schon nicht erfahre, wo die Hallen sind, will ich wenigstens die Tränen der Götter.«
Ein verächtliches Grunzen war zu hören. Antarona interpretierte es als missfallene, gezwungene Zustimmung. Die drei glaubten anscheinend, dass sie von Sonnenherz nicht gehört wurden. Sie konnten nicht ahnen, dass sie ein so gutes Gehör hatte. Nun aber war sie etwas entspannter. Die wollten sie, ihre Ware, nicht verletzen. Die Angst vor Torbuk und Karek war wohl um einiges stärker als der Drang, den Ort der Hallen von Talris zu erfahren.
Doch die Tortour war noch nicht beendet, und Antarona hatte auch nicht damit gerechnet. Die Stangen an denen sie schamlos ausgeliefert hing, wurden vom Baum gelöst, und sie wurde mit grober Gewalt herum gerissen, so dass sie erneut direkt in die Sonne schauen musste. Durch zusammengekniffene Augen sah sie die geheimnisvolle Fremde, die den Paddel eines Nar-wuhl in den Händen hielt.
Wieder wurde Antarona in schmerzhaft gestreckter Haltung an den Baum gebunden. Anschließend winkte die Frau einen der Männer heran, und flüsterte ihm etwas zu, das sie nicht verstehen konnte, und gab ihm den Paddel, ein schmales, glattes Brett mit einem Stiel daran.
»Hast dich wohl gut genährt, bei den Jo-lie, was? Scheinst ein kleines Bäuchlein zu bekommen, von dem guten Fraß, den uns diese kleinen Bastarde abgenommen haben. Jetzt wollen wir mal sehen, ob wir da nicht ein wenig schmal klopfen können.« Der Kerl hatte noch nicht ausgesprochen, da schwang er schon das flache Holz und schlug es voller Wucht klatschend auf Antaronas nackten Bauch. Der Knall, der dabei entstand, ließ Vögel unter lautem Protest aus den umliegenden Bäumen auffliegen.
Antaronas Beine gaben unter dem viehischen Schmerz nach und sie sackte in ihren Fesseln zusammen. Mit so einer heftigen Attacke hatte sie nicht gerechnet. Sie schnappte nach Luft, doch ihr Atem schien zu versagen. Nur mühsam konnte sie sich wieder mit geschlossenen Augen sammeln. Da traf sie schon die nächste Demütigung.
Ein voller Ledersack Wasser traf sie unvorbereitet, und ließ sie erneut nach Luft schnappen. Nass und mit triefenden Haaren stemmte sie sich wieder hoch, um ihre Handgelenke in den Fesseln zu entlasten. Schon klatschte das flache Holz erneut auf ihren Bauch, noch bevor sie die Muskulatur anspannen konnte, um den nächsten Schlag abzufangen. Durch die nasse Haut übertrug sich der Schmerz noch zehnfach auf ihre nerven und sie sank erneut in die Knie.
Nass, mit triefenden Haaren, und um Atem ringend, der nur zögernd Luft in ihre Lungen gelangen ließ, hing sie an Hand- und Fußgelenken an dem Stangengerüst, dass sie in einer Welt gefangen hielt, der sie nun am liebsten entfliehen mochte. Sie schaffte es nicht einmal mehr, ihren geistigen Einfluss auf die Tiere aufrecht zu erhalten, der sie hätte vor den nächsten Angriffen bewahren können.
»Na, willst du endlich gesprächig werden, und uns verraten, wo sich die Hallen von Talris befinden?« Der Mann sprach die Drohung in gehässiger Weise aus, wohl aus Enttäuschung darüber, dass er sich nicht an ihr vergehen durfte, weil sein großer Lehnsherr Karek ihm dafür den Kopf abschlagen lassen konnte. Dennoch glaubte er, Sonnenherz weiter einschüchtern zu können.
»Ich kann mich auch mal eine Weile ganz selbst um dich kümmern, dann wirst du schon reden.« Demonstrativ fuhr er ihr mit ihrem eigenen Messer über die Brüste, den Bauch entlang, und hob schließlich ihren Lederschurz an. Antarona setzte darauf, dass er es nicht wagen würde, der Frau zu widersprechen, und sich Karek zu widersetzen. Doch sicher war sie nicht. Und dieses letzte Stückchen Unsicherheit schürte ihre Angst.
Es war keine Angst um sich selbst. Dazu hatte sie bereits in sehr jungen Jahren zu viele Kämpfe ausgefochten, Schmerzen ertragen, und Grausamkeiten gesehen. Sie hatte Angst um Veniaphalis, ihre ungeborene Tochter, und davor, dass Ba - shtie sie verstoßen konnte, wenn ein anderer Mann sie gehabt hatte. Frauen der Îval hielten allein die Möglichkeit für ehrenvoll, sich nach einer gewaltsamen Verbindung während einer bestehenden Verbindung selbst zu töten. Die es nicht taten, wurden von der Gemeinschaft wie Aussätzige behandelt, geduldet zwar, doch ohne Rechte in der Gemeinschaft.
Antarona schloss die Augen und versuchte ihren Geist auf die Götter zu konzentrieren. Sie wollte nicht empfinden, wie sich dieser dreckige Krieger an ihr verging. Als hätte Talris selbst ihr Flehen erhört, geschah nichts. der Mann ließ von ihr ab. Dafür vernahm sie wieder undeutliche Stimmen, die offenbar von einem Streit zwischen der Frau und den Männern herrührten. Sie hörte die Frau, die sehr leise sprach, sagen:
»...nicht mehr die Zentaren für so etwas..., ...kommt die Gorreiterin, bis dahin müsst ihr sie dorthin gebracht haben, sonst..., ...wird auch euch belohnen, wenn alles...«
Die Männer hörte sie dagegen recht deutlich. Anscheinend legten die keinen so großen Wert darauf, ihre Stimmen zu verbergen. Sie schienen mit der ganzen Situation unzufrieden.
»Wir verstehen euch nicht, Herrin, Karek wird es nicht einmal merken, wenn wir ein bisschen Spaß mit ihr hatten. Der will sie doch nur, weil sie ihm so zugesetzt hat. Die Kratzbürste wird für den noch wild genug sein, wenn wir mit ihr fertig sind. Vielleicht noch wilder.« Danach hörte sie beide Männer hässlich und dröhnend lachen, bevor die Frau sie wieder unterbrach, diesmal deutlicher:
»Ihr werdet gefälligst tun, was man euch sagt, und eure Gier besänftigen. Bei den Göttern, ich kenne euch Kerle. Könnt nicht die Zentaren abwarten, wollt euch immer nur berauschen. Ich sage, versaut mir das hier nicht, und ihr könnt später so viele von den kleinen Jo-lie bekommen, wie ihr wollt und mit ihnen machen, was ihr wollt. Die da aber schafft mir unversehrt zu Karek, das werdet ihr doch wohl noch können, oder?« Dann entfernten sich die Stimmen und Antarona atmete für den Moment auf.
Sie wusste nicht, wie es weitergehen würde, doch sie versuchte sich zu entspannen, sich darauf zu konzentrieren, wie sie fliehen konnte. Bevor sie weitere Überlegungen anstellen konnte, kamen die Stimmen wieder näher.
»...werden alles zu euer Wohlwollen tun, wie ihr es wünscht, Herrin.« Da meldete sich zum ersten Mal der andere Mann zu Wort:
»Ich werde euch berichten, wenn alles vollbracht ist, Herrin. Dafür werdet ihr euch ein wenig dankbar erweisen, nicht wahr? Fordern will ich nichts, Herrin, doch eine geringe Gabe, die es mir ermöglicht, nach der Eroberung ein Stück Land zu bekommen, könnte meinen Eifer, euch zu dienen, noch verstärken.«
»...euren gerechten Lohn erhalten, wenn alles..., ...wie ich es wünsche, das versichere ich euch«, hörte Antarona die Frau sagen.
So sehr sie sich auch anstrengte, und meinte, die Stimme erkennen zu können, musste sie zugeben, dass ihr keine Übereinstimmung mit der einer ihr bekannten Frau einfiel. Während sie noch darüber nachdachte, vernahm sie, wie die Frau einen Pla-ka holte, den sie offenbar hinter den Felsen verborgen hatte. Sie sagte noch etwas zu den Männern, das Antarona nicht verstand, schwang sich dann auf das Reittier und preschte davon.
Augenblicklich nahmen die Krieger kein Blatt mehr vor den Mund. Sie machten sich nicht einmal mehr die Mühe, ihre Gedanken vor ihrer Gefangenen zu verbergen. Wahrscheinlich gingen sie davon aus, dass Antarona die Freiheit ohnehin nie wieder sehen würde, und für alle Zentaren in den Kerkern Quaronas verschwinden würde.
»Die kleine Natter würde ich gern so lange rammeln, bis die nicht mehr weiß, wer sie ist, und was sie ist«, dröhnte der Rädelsführer der beiden, »die würde ich so zusammenstoßen, dass sie drei Zentaren nicht mehr gehen kann. Dann würde ich sie meiner Frau als Sklavin geben, da könnte sie arbeiten und mir ab und zu Spaß bereiten.«
»Warum machst du's nicht? Sie nehmen, mein' ich. Karek merkt das sowieso nicht. Die ist jung, die nimmt schon keinen Schaden, wenn du sie dir mal vornimmst. Hauptsache, die ist oben beim Felsen, wenn die Botin kommt, alles andere ist doch gleich.« Antarona hörte den Anderen, und hoffte, dass sich der erste nicht überreden ließ. Der antwortete mürrisch:
»Würde ich auch, aber du hast gehört, was die helle Zicke gesagt hat. Warum sollen wir riskieren, alles zu verlieren, was wir gewinnen können, nur um mit der kleinen Ve-ni-tries hier Spaß zu haben? Nein, ich kann mich beherrschen, wenn etwas dabei heraus springt.« Das Krähenmädchen wollte schon aufatmen, als der Kerl hinzufügte:
»Andererseits, wer merkt's denn? Der Kalbskopf von Karek ganz sicher nicht. Also, fass mal mit an!« Sogleich spürte Antarona, wie der Mann ihren Lederschurz, der sowieso kaum mehr auf ihrer Hüfte hing, erneut hoch hob, und ihr mit dem Messergriff zwischen die Beine fuhr.
In ihrer Verzweiflung versuchte sich Antarona auf etwas Neutrales zu konzentrieren. Sie blickte auf den Baum vor ihr, zählte die Verzweigungen seiner mächtigen Äste und prägte sich die Struktur seiner Rinde ein, um nicht an das zu denken, was nun folgen würde. Sie begann die Kraft des Baumes zu spüren, den Fluss seiner Energien, die durch den Stamm bis in die letzten Blätter hinauf und hinab stieg. An einer dicken Astgabel, an der sich der Baum teilte, blieben ihre Augen hängen. Ihre Sinne dachten nur daran, sie befahlen nicht, sie wünschten nicht, und doch geschah es.
Mit einem lauten Knirschen und Knacken brach der Ast an der Gabel entzwei, und rauschte auf einem Mal mitsamt Zweigen und Blättern zu Boden. Die Pla-ka schreckten hoch, bäumten sich auf, schlugen mit den Hufen unkontrolliert herum, und eine große Staubwolke breitete sich auf der Lichtung aus.
Laut fluchend sprangen die beiden Männer zurück, um sich in Sicherheit zu bringen. Direkt neben dem gefesselten Krähenmädchen krachte der dicke Ast hinter dem Blätterwerk her auf die Erde, dort wo vor einer Sekunde noch die beiden Männer gestanden hatten.
»Was bei den Göttern...« Der verdutzte und völlig überraschte Krieger sprach den Satz nicht zuende. Sein Kumpan fand rascher seine Worte wieder:
»Ich schwör' dir, das war diese ausgekochte Missgeburt einer Ve-ni-tries. Die ist eine Hexe, ich sag' dir das. Lass uns aufbrechen, je eher wir die los sind, desto besser für uns. Lass die Finger von der, die ist gefährlicher als ein Sis-tà-wàn.« Der andere Mann hatte sich inzwischen wieder gefasst, trat an das Krähenmädchen heran, und betrachtete sie genau. Antarona war über und über mit Staub überzogen.
»Hat nicht einen Kratzer abbekommen, die hinterlistige Natter, sieh dir das an!« Der andere trat hinzu und begann zu zetern:
»Ich sag's ja, die ist eine Hexe, eine der übelsten Sorte. Wir sollten sie auf der Stelle erschlagen, bevor sie uns noch völlig verhext und wirr macht!« Als der erste nicht sofort auf die Prophezeiungen seines Kameraden reagierte, fügte der beinahe hysterisch hinzu:
»Lass uns abhauen, lass die doch hier verrotten. Ich sag' dir, die hat vorhin auch die Viecher wild gemacht. Denk daran, was die Îval über sie sagen, die kann mit dem Viehzeug reden, kann die gegen uns aufhetzen. Was machen wir dann? Lass uns einfach verschwinden, soll doch die Helle sehen, wie sie die zu der Botin kriegt...«
»Jetzt hör aber auf«, unterbrach ihn der Rädelsführer barsch, »du führst dich ja auf, wie ein kleines Kind. Die hat gar nichts gemacht, das bildest du dir ein! Der Baum war vorher schon marode, guck dir doch den Bruch an. Ganz dunkel das Holz. Der wär sowieso abgebrochen.« Der Mann klatschte Antarona mit der flachen Hand auf das nackte Gesäß, dass es nur so staubte, und sprach belustigt:
»Ziemlich verdreckt bist du jetzt, du kleine Natter. Aber mir soll’s gleich sein, soll doch Torbuks Vasallin sehen, wie sie dich wieder sauber bekommt.« Seinem Kameraden befahl er nicht gerade freundlich:
»Los, komm schon her, hilf mir mal, das Dreckhühnchen hier auf den Pla-ka zu binden.« Antarona spürte, dass sie vom Baum losgebunden, und mitsamt ihrem Fesselgerüst auf den Rücken in den Sand gelegt wurde. Plötzlich, ohne, dass sie es ahnte, traf sie ein weiterer Schwall kaltes Wassers, dass sich über ihren ganzen Körper ergoss. Der Mann lachte schadenfroh, und stand mit dem noch tropfenden Wasserschlauch neben ihr.
»Damit dich die Botin Torbuks auch erkennt. Nicht dass die am Ende nichts herausrückt, weil sie dich für eine andere hält!« Wieder lachten die beiden Kerle, als sie Antarona so tropfnass im Dreck liegen sahen.
Dann machten sie sich daran, ihre fesseln zu lösen, doch nur soweit, als dass sie das Mädchen von dem Gerüst nehmen konnten. Ihre Hände, Beine und Füße blieben so fest gebunden, dass sie bereits taub wurden. Anschließend warfen sie Antarona nicht gerade zimperlich über den Rücken eines Pla-ka. Sie prallte so hart mit dem Bauch auf dem Tier auf, dass ihr schlicht die Luft weg blieb. Sie würgte und hustete, um überhaupt weiter atmen zu können.
Die Männer nutzten ihre Wehrlosigkeit, um sie mit einem derben Strick zwischen Händen und Füßen unter dem Bauch des Pla-ka zusammenzuschnüren. Wie eine Rolle hing Antarona nun mit dem Kopf nach unten über dem Rücken des Reittieres. Ihre Rippen schmerzten, ihr Bauch drückte sich ein, und sie bekam nur schwer Luft.
Jede Bewegung des Tieres verursachte ihr neue Pein. Ständig den Kopf zu heben, um zu erfahren, was die Männer weiter taten, kostete sie so viel Kraft, dass sie sich nur noch darauf beschränkte, sich auf ihr Gehör zu verlassen. Dennoch bekam sie mit, dass ihre Entführer den anderen Pla-ka beluden. Sie sprachen kaum noch. All zu gern hätte sie gewusst, wohin sie gebracht werden sollte, und auf welche Weise die Botin, von der die Rede war, sie mitnehmen wollte.
Kurz darauf setzten sich die Krieger Torbuks mit ihrer Gefangenen in Bewegung. Sie führten die Pla-ka hintereinander, der große Hund trottete teilnahmslos nebenher. Antarona erkannte, dass sie den Pfad einschlugen, den sie selbst mit Ba - shtie einen Tag zuvor von der Küste heraufgekommen war.
Wahrscheinlich würde dort ein leichter Wasserwagen warten, um sie zu übernehmen. Bis dahin hatte sie also Zeit, zu fliehen. Wenn sie nur die Fesseln los wurde, und eine Stelle fand, an der Wald und Unterholz dicht waren, so würde es ihr ein Leichtes sein, die dummen Kerle abzuhängen. Mit dem Hund würde sie schon fertig werden.
Der Hund! Sie hatte es schon einmal geschafft, seine Sinne zu erreichen. Wenn sie ihn dazu bringen konnte, sich gegen seine Herren zu stellen, so mochten sich ihre Chancen deutlich begünstigen. Auf ihn musste sie sich konzentrieren. Er trabte neben dem Zug her, konnte sich frei bewegen, und stand nicht unter der direkten Kontrolle der Männer.
Es fiel Antarona schwer, ihre Sinne zu sammeln, und auf den Hund zu bündeln. Immer wieder wurde ihre geistige Anstrengung unterbrochen, weil ihr Pla-ka in eine Unebenheit des Weges trat, schaukelte, und sie auf seinem Rücken hin und her geworfen wurde. Jedes Mal durchflutete sie eine überraschende Welle von Schmerzen.
Sie musste sich etwas überlegen, wie sie den Schmerz aus ihrem Geist ausklammern konnte. Und nach einer Weile fand sie eine Möglichkeit. Indem sie den Blick starr auf den Boden richtete, dessen Einzelheiten unter ihr hindurch huschten, verdrängte sie alles andere um sie herum. Sie stellte sich vor, Tekla, oder Tonka zu sein, die dicht über der Erde dahin flogen.
Dann ging sie dazu über, in ihrer Phantasie die Pfoten des Hundes zu sehen, die ebenso über den Boden hinweg liefen, sie stellte sich seine Beine vor, wie sie sich bewegten, seine Muskeln, die sich in immer wiederkehrenden Abläufen spannten und entspannten, und von seinem Wissen uns seiner Wahrnehmung gesteuert wurden. Sie sah plötzlich mit seinen Augen, hörte mit seinen Ohren und roch die verschiedenen Düfte des Waldes mit seiner Nase. Sie wurde eins mit ihm, fühlte ihn, war in ihm.
Antarona spürte, dass er unzufrieden war. Er hasste jene, zu denen er gehörte, denn sie traten ihn, beschimpften ihn, und gaben ihm nie das zu Fressen, was er wollte. Lief er abseits des Weges, um zu jagen, was ihm in die Nase ging, so pfiffen und riefen sie ihn zurück. Er hasste es neben den Pla-ka zu trotten. Trabte er voraus, so pfiffen sie ihm wieder, so dass es in seinen Ohren schmerzte.
Doch wenn er anfing, den Pla-ka und den Männern zwischen den Beinen herum zu laufen, dann jagten sie ihn vielleicht weit voraus. Wenn er sie immer wieder störte, dann ließen sie ihm sicher mehr Raum. Antaronas Geist gewann Einfluss. Sie stellte sich vor, dass sein Gebiss nach den lästigen, stinkenden Beinen der Pla-ka schnappte, dass er quer zum Weg lief und die Beine der Männer zum stolpern brachte, einfach, damit sie ihn nicht so dicht hielten.
Ihr Einfluss steuerte immer mehr seine Wünsche, seine Handlungen, seine Bewegungen. Sie stellte sich vor, wie einer der Bewacher nach ihm schlug, und sich seine Zähne vor Zorn in dessen Hand gruben, sie schmeckte das Blut, das nach einer rostigen Schwertklinge und Erde roch, warm und betörend...
Der große graue Hund lief missmutig neben den acht Beinen der Pla-ka her. Sie gingen ihm auf die Nerven, reizten ihn, mit ihrem ewigen, lauten auf und ab, vor und zurück. Sie kamen ihm zu dicht, er wich aus, sie kamen noch dichter. Da schnappte er zu. Das Reittier stieg auf, dem Mann, der es führte flogen die Zügel aus der Hand, und er musste sich unter den schlagenden Hufen ducken, um nicht den Kopf kaputt getreten zu bekommen.
Der Pla-ka brach aus, brachte den ganzen Zug durcheinander, und musste mit Mühe wieder zur Ruhe gebracht werden. Antarona sah das Geschehen mit den Augen des Hundes. Sie spürte ihre Schmerzen nicht mehr, wurde dafür um so wachsamer, immer zorniger.
Als die Männer die Pla-ka wieder geordnet führten, lief der Hund dem ersten vor die Füße, so dass dieser stolperte, hinfiel, und beinahe unter die Hufe des folgenden Pla-ka geriet. Fluchend rappelte er sich hoch.
»Ich sage dir, ich drehe dieser Missgeburt von Töle heute noch den Hals um«, schimpfte er über die Schulter zu seinem Kameraden nach hinten. »Das Vieh stört uns mehr, als es uns nützt, wir sollten den Köter an die Fische verfüttern.«
Antarona fühlte den Hass in einer Welle in sich aufsteigen, denn sie empfand die Töne, die sich nicht verstand, als Demütigung. Sie spürte die Verachtung, die ihr entgegen schlug, und wurde selbst aggressiver. Sie gab dem Drang nach, ihre Zähne in die Fesseln des nächsten Pla-ka zu graben, um ihre Wut abzureagieren.
Der Pla-ka, der den Biss des Hundes in diesem Augenblick spürte, ging durch, machte einen plötzlichen Sprung nach vor, erwischte seinen Führer mit dem Huf am Kopf, und preschte ins Unterholz, wo er in einem dornigen Gebüsch hängen blieb, und sich mit einigen Schnitten verletzte. Mit zitternden Flanken blieb das Tier stehen.
Wut entbrannt nahm der Mann mit der blutenden Stirn einen Stein auf und warf ihn nach dem Hund, den er aber weit verfehlte. Mühsam erhob er sich wieder auf dem Pfad, der inzwischen über raues, abschüssiges Gelände führte.
»Jetzt hab ich aber die Schnauze voll von dem Mistvieh!« schrie er, dass es im Wald widerhallte. »Was ist nur in dieses dumme Stück Fell gefahren, das sein Futter nicht wert ist?«
»Ich sag's dir, der ist verhext, von dieser falschen Natter ist der verhext«, fiel der andere Krieger in die Schimpftirade seines Kameraden mit ein. »Die wird uns noch alle fertig machen, und im Kopf herum spuken, wenn wir die noch lange am Fell haben.« Der erste aber winkte wütend ab und entgegnete:
»Ach, dummes Gewäsch, der Drecksköter ist hier der, der nicht richtig spurt. Der komm' mir bloß in die Nähe, dann ist der dran, das versprech' ich dir. Dem dreh ich eigenhändig den Kopf vom Hals!«
Es brauchte ein par Zentaren, um die Ordnung wieder herzustellen. Dann ging es weiter. Doch nicht für lange. Antaronas Hass war noch längst nicht gestillt. Sie wollte Vergeltung. Nach ihr warf niemand mit einem Stein. Sie roch noch das Blut, und der Geruch machte sie rasend, reizte sie, ließ ihre Kiefer jucken, und zwang sie noch einmal zuzubeißen.
Die Hand des Mannes fuhr zu seinem Gesäß. Er kratzte sich. Das knisternde Geräusch seines Kriegsrockes, das Klimpern der kleinen Schellen, die daran hingen, taten in den Ohren weh. Die weißen Zähne gruben sich tief in die behaarte, fleischige Hand. Der Geschmack des frischen, warmen Blutes war Genugtuung.
Das Brüllen des Mannes ließ die Kiefer wie eine Eisenklammer festhalten, den Druck verstärken. Antarona wurde herum gewirbelt, sie spürte die andere Hand des Opfers in ihr Fell greifen, ohne Wirkung. Animalische Kräfte hielten die Hand gefangen. Es knackte und knirschte und das Brüllen erhob sich zum Geheul, das Schwäche ausdrückte.
Da spürte sie einen Schlag auf ihren Leib, und noch einen, und sie wurde noch zorniger und wilder, ließ die Hand los und biss wie irr um sich, wusste aber zunächst nicht, woher die Schläge kamen. Plötzlich fühlte sie es warm aus ihrem Hals rieseln, in ihr Fell sickern. Es roch nach frischem Blut, nach anderem Blut, nach ihrem eigenen Blut. Sie spürte, wie ihre Beine einknickten, eine heiße, lähmende Schwäche von ihr Besitz ergriff. Zuletzt sah sie einen Schatten über sich, fühlte eine Erschütterung, die nicht einmal weh tat. Dunkelheit.
»So, du Mistvieh, da hast du's, und jetzt gib ein für alle Mal Ruhe!« heulte der Mann, an dessen Hand eben noch der große, graue Hund hing.
Der Schlag mit der Streitaxt, die er geistesgegenwärtig aus seinem Gürtel gerissen hatte, zertrümmerte dem Tier den Kopf. Wäre nicht sein Kumpan mit dem Schwert auf den wie wild um sich beißenden Hund los gegangen, so hätte er das tollwütige Tier wohl kaum abwehren können. Doch der Hieb in den Hals des Grauen erlöste ihn aus dessen Fängen, die seine Hand für immer verkrüppelt hatten.
Das Blut tropfte aus dem unförmigen, breiigen Klumpen am Ende seines Armes, das einmal seine Hand gewesen war. Die Knochen waren zu Splittern, Sehnen waren durchtrennt worden. Der Schmerz endete am Handgelenk. Was darunter an seinem Arm hing, war gefühllos.
»Die Bestie hat dich ganz schön zugerichtet«, sprach der zweite Mann, der sich nun die zerfleischte Hand seines Kameraden ansah. Der presste zwischen zusammengebissenen Zähnen schmerzhaft hervor:
»Das Vieh stand mit den Dämonen der Unterwelt im Bunde, sag ich dir. So was hab ich noch nicht erlebt. Nun ist es hin, tut keiner Seele mehr was zuleide. Aber was mache ich damit?« Er wies mit dem Kopf auf das Ende seines Armes. Der andere wusste, was sein Kumpan meinte. Wer in Torbuks Heer nicht mehr seinen Einsatz leisten konnte, musste zusehen, wo er blieb. Eine Entschädigung, Abfindung, oder gar Leibrente gab es nicht.
Wer Beziehungen zur Burg Quaronas hatte, mochte das Glück genießen, noch einen Posten als Gefangenenwärter, Kerkermeister, oder Stallgehilfe zu ergattern. Die meisten aber, die in Gefechten Verstümmelungen davontrugen, fristeten ihr Dasein fortan als Bettler, Diebe und Landstreicher. Und von diesen gab es in Quaronas und Zarollon zuhauf.
Der stillere der beiden Männer verband dem anderen notdürftig das, was von seiner Hand übrig geblieben war. Dann fing er den Pla-ka ein, der sich im Dickicht verrannt hatte, und zog dem Tier die Dornen aus dem Fell, die durchaus zu Entzündungen führen konnten.
Von alle dem bekam Antarona nicht viel mit. Nachdem der graue Hund seinen Herrn angegriffen hatte, war der Pla-ka mit ihr auf dem Rücken durchgegangen. Er trabte mit seiner besinnungslosen Last den Pfad hinab, als seien die Dämonen allesamt selbst hinter ihm her gewesen. Erst als das verschreckte Tier den Bach querte, durch den der Weg ging, blieb es zitternd stehen, und soff aus dem klaren Quell, um sich von der Hatz wieder abzukühlen.
Antarona spürte kalte Nässe im Gesicht und kam allmählich wieder zur Besinnung. Sie brauchte lange, um wieder einigermaßen rationell denken zu können. Woran sie sich noch erinnerte, war nicht mehr, als die Mutter der Nacht, ein Traum. Sie realisierte zwar, dass sie Kopf über auf einem Pla-ka hing, und spürte auch ihre Schmerzen in den Rippen und im Bauch. Doch der Traum hatte sie noch fest im Griff.
Was war das für ein Traum? So deutlich hatte sie noch nie ihren Tod gesehen, und sie musste sich zwingen, darüber nachzudenken, denn der Tod versuchte sie immer noch mit sich in das Reich der Ewigkeit zu ziehen. Sie musste dagegen ankämpfen. Sie nahm die Welt wahr, doch spürte sie ihre durchschnittene Kehle und ihren eingeschlagenen Schädel. Oder bildete sie sich das nur ein?
Sie bewegte den Kopf, spürte den Schmerz, aber sie lebte. Deutlich sah sie das klare Wasser unter den Beinen des Pla-ka hindurch rauschen, sah den feuchten Waldboden, hörte die Blätter der Bäume im Wind, und das Schnauben des Reittieres, auf dem sie lag. Nein. Auf dem sie festgebunden war! Nun sickerten auch die Erinnerungen in ihren Geist zurück, die außerhalb der Mutter der Nacht lagen.
Stück für Stück kam das Wissen um ihre Erlebnisse und die Ereignisse der letzten Tage zurück. Die Frau und die Männer, die sie überrumpelt hatten. Der Platz an dem sie und Ba - shtie die Pla-ka zurückgelassen hatten, die Hütte am Fluss, das Elsirenfeuer in der Nacht, ihre wundervolle Vereinigung mit Ba - shtie, ihr Abenteuer mit der Gorreiterin. Doch was war in der letzten Zentare geschehen?
Ein Teil ihrer heimlichen Frage wurde beantwortet, als sie Stimmen vernahm, die kontinuierlich näher kamen. Sie erkannte die Männer, ihre Peiniger, an ihrem Tonfall. Bevor sie sich noch auf den Geist des Pla-ka konzentrieren konnte, um ihn zu bewegen fortzulaufen, waren die Männer heran. Ebenfalls fehlte ihr die Zeit, zu versuchen, ihre Fesseln zu lockern. Sie tat, was ihr am vernünftigsten erschien, und stellte sich weiter so, als sei ihr Geist noch in der Welt der Mutter der Nacht.
»Da ist sie ja«, hörte sie den einen der Männer ausrufen, »weit ist die Giftkröte ja nicht gekommen.« Der andere, seine Stimme klang verändert, rief hinter dem ersten her:
»Was ist mit ihr, ist sie tot? was ist mit dem Pla-ka?« Offenbar schien er verletzt zu sein, denn seine Stimme hörte sich gequält an, verzerrt, als konnte er sich nur mit Mühe fortbewegen. Eine grobe Macht riss ihren Kopf an den Haaren hoch, und ließ ihn sogleich wieder los.
»Die ist wohlauf, ist nur weit von Sinnen«, hörte sie den Mann sagen. Schnaufend und stöhnend hörte sie den anderen herannahen.
»Mach sie los, und wirf sie ins Wasser, dass ihr wieder Leben in die Glieder fährt. Tot oder verletzt nützt die uns nichts mehr. Und ich brauch jetzt die Belohnung Torbuks und der Hellhaarigen, wo ich doch nicht mehr richtig zupacken kann«, antwortete der mit mühsamer Stimme.
Antarona spürte, wie nicht gerade rücksichtsvoll an ihren Fesseln herum gezerrt wurde, die sie auf dem Pla-ka hielten, dann bekam sie einen Stoß und landete unsanft im kalten Bach. Auf das Wasser war sie vorbereitet, nicht jedoch auf die Kälte. Der Quell, der aus den Bergen kam, war eisig. Wie Tausende von Messerspitzen fühlte sie es auf der Haut. Dafür war sie nun hellwach, und es machte wenig Sinn, noch die Benommene zu spielen.
Allerdings war den beiden Männern der Sinn nach ihren Reizen vergangen. Sie wurde gepackt, und wieder auf den Rücken Ihres Reittieres geworfen. Diesmal aber banden sie das Krähenmädchen im Sitzen fest, indem sie ihre Füße unter dem Bauch des Tieres miteinander verzurrten. Sie banden ihr die Fußgelenke so fest zusammen, dass ihr das Seil sofort in die Gelenke schnitt. Nach den ersten Zentaren mussten ihr die Füße durchgescheuert sein, wenn sie die Stricke nicht entlasten konnte.
Die Hoffnung, den Pla-ka mit den Schenkeln zu lenken, wie sie es auch sonst tat, war damit hinfällig. So auf den Rücken des Tieres gebunden, hatte sie keinen Spielraum. Damit war auch der Einfall gestorben, dem Tier an günstiger Stelle die Fersen in die Seite zu drücken und einfach davon zu galoppieren.
Der Krieger mit der zerfleischten Hand hatte seinen provisorischen Verband abgenommen und kühlte seine Wunden im klaren, kalten Wasser. Antarona sah die Verletzung, und obwohl sie sich fragte, wo der Hund geblieben war, konnte sie sich zunächst keinen Reim darauf zu machen.
Allmählich aber rief sich ihr Traum in Erinnerung, so, als hätte sie die Geschichte selbst erlebt. War das möglich? Konnte sie dem Mann die Hand zerbissen haben? Nein. Dann hätte er sie vor Wut erschlagen. Sie kannte diese Sorte Männer, die derart dumm und verroht waren, dass sie ab einer gewissen Grenze die Beherrschung verloren, und Dinge im Rausch des Zorn taten, die wider jeglicher Vernunft waren.
Nun jedoch ahnte sie, was mit dem Hund geschehen war. Kaum ein anderes Tier, jedenfalls kein Pla-ka, vermochte jemandem solche Verletzungen beizubringen. Wieder fiel ihr die Geschichte der Mutter der Nacht ein. In ihrem Traum hatte sie sich in die Hand des Mannes verbissen. Waren ihre Sinne mit jenen des Hundes eins geworden? hatte sie das Tier benutzt, um das zu tun?
Zweifel kamen in ihr hoch, denn einen so intensiven Einfluss hatte sie nie auf die Tiere gehabt. Dennoch. Wie war das mit dem großen Ast? Vermochte sie mit ihren Sinnen mehr zu bewegen, als sie selbst wusste? War sie eine dieser legendären Schamaninnen, von denen sie gehört hatte? Die alte Waldlerin, von der sie viel gelernt hatte, war eine von ihnen. Hatte sie diese Fähigkeit von ihr erlernt, ohne dass es ihr bewusst war? Antarona war immer noch skeptisch. Doch sie wollte es genau wissen.
Der unverletzte, jüngere Mann führte nun ihren Pla-ka, während der mit der kaputten Hand das andere Tier mit der gesunden an die Zügeln hielt. Sie konzentrierte sich auf ihr Reittier, versuchte sich in seine Sinne einzuschleichen, aber es gelang ihr nicht. Wie sie es dennoch manchmal schaffte, und dann wieder nicht, blieb ihr ein Rätsel. Es war, als vermochte sie es nur bedingt zu steuern.
Vielleicht, wenn sie zunächst versuchte, die Bewegungen ihres Pla-ka zu verinnerlichen? Sie konnte sehen, wohin das Tier trat. Konnte sie auch fühlen, mit welchem seiner vier Beine er wo auftrat, welche Muskeln sich unter ihr anspannten, und wieder streckten? Sie starrte auf den Pfad vor sich, den sie bereits kannte, und der über Wurzeln und grobe Steine steil abwärts führte.
Gleichzeitig fühlte sie durch den direkten Köperkontakt, wie das Tier seine Hufe setzte, wie seine Muskeln die Bewegungen koordinierte. Sie begann die Steine zu fühlen, und den dazwischen angesammelten weichen Boden mit verwelktem Laub. Nach einer Weile wusste sie tatsächlich wohin der Pla-ka treten würde. Dabei begann sie mit dem Anspannen und Lockerlassen ihrer Schenkelmuskulatur, sowie mit ihren Sinnen Einfluss auf das Tier zu nehmen.
Ein par Zentaren weiter, gelang es ihr, sich so intensiv in den Pla-ka hinein zu denken, dass sie ihn veranlasste, beim Stemmen gegen die Abschüssigkeit des Waldweges auszuatmen. Dadurch rutschte der Strick, mit dem sie auf seinen Rücken gebunden war Stück für Stück nach vorn, wo das Tier schmaler war. Infolgedessen lockerte sich ihre Fessel.
Die Entlastung ihrer ungeschützten Fußgelenke ließen ihr mehr Raum, das Tier mit den Schenkeln zu lenken. Sie begann den Pla-ka aber auch mit den Sinnen zu lenken. Ihre Gedanken gingen mit jeder Faser immer intensiver auf das Tier über. Sie sah mit seinen Augen, spürte seinen Tritt und fühlte plötzlich sogar seinen Herzschlag. Antarona tauchte ein in die Sinne des Tieres, auf dem sie saß. Sie stellte sich vor, mit den Hufen auf den bemoosten Steinen auszurutschen und mit der Schulter des Pla-ka gegen den Mann zu rammen, der die Zügel hielt.
»Dämliche Mähre«, schimpfte der Krieger, als der Pla-ka ihn mit seiner kräftigen Schulter beinahe umstieß. Dem Mann war klar, dass dieses Gelände für ein Reittier nicht geeignet war. Dass die scheinbar hilflose Reiterin auf seinem Rücken bereits den Pla-ka lenkte, konnte er nicht wissen.
Antarona gab sich alle Mühe, keine auffällige Bewegung zu machen, oder den Kerlen sonst einen Anlass zu geben, Verdacht zu schöpfen. Sie lenkte das Tier mit den Muskeln ihrer Schenkel und mit ihren Sinnen. Sie erinnerte sich an den Weg, als sie mit Ba - shtie diesen entlang gekommen war. Noch ein Stück, dann kam eine steile Felsstufe, um die sie die Pla-ka herumgeführt hatten.
Von unten war diese gut zu sehen, doch wer von oben den Pfad herab kam, stand plötzlich an einer zwei Meter hohen, abgerundeten, glatten Kante. Dem Mann, der ihr Pla-ka führte, und sich ständig nach seinem verletzten Kameraden umsah, entging dieses Detail im Gelände.
Antarona wartete geduldig, bis sie nahe genug an Stufe herangekommen waren. Dann presste sie ihre Schenkel zusammen, und dachte sich den Weg neben der Stufe durch das Dickicht. Sie war vollständig eins mit dem Tier unter ihr.
Der große, kräftige Pla-ka brach mit einem Satz seitlich aus, stieß den Krieger mit seiner massiven Brust vorwärts und drang seitwärts in die Büsche. Der Mann aber ließ die Zügel fahren und stürzte mit einem Aufschrei der Überraschung ins scheinbar Bodenlose. Der andere Krieger, der ihm nur in kurzem Abstand folgte, hätte beinahe sein Schicksal geteilt, als sein Pla-ka dem ersten hinterher lief. Im letzten Augenblick hatte er die Zügel los gelassen, stand nun ratlos an der steilen Stufe und blickte hinunter.
Antarona aber erkannte ihre Chance und trieb ihren Pla-ka vorwärts. Vollständig konzentriert auf das Tier dachte sie ihm den Weg voraus. Der Pla-ka preschte voran, setzte sicher seine Hufe auf den unsicheren Boden, und wurde vom zweiten Tier verfolgt. Wenn es ihr gelang, die Tiere bis zum Strand zu treiben, hatte sie die Männer Torbuks zumindest abgehängt. Wie sie ihre Fesseln los wurde, mochte sich dann zeigen. Hinter sich hörte sie die Kerle, die sie geschunden hatten, jammern und fluchen.
»So ein elender Schinder, ich bringe das Vieh um!« tobte der gefallene Krieger, und sah zu seinem Kumpan hinauf, der immer noch unentschlossen oben an der Kante stand.
»Ich glaube, ich hab mir den Arm gebrochen. Was stehst du da noch rum, sieh zu, dass du die wieder einfängst, und bring diese Schlampe zurück, sonst können wir uns die Quarts in den Wind husten!« Nun kam Bewegung in den Anderen. Er schlug sich hastig durch das Gebüsch, und kam herab.
»Was ist mit dir, kannst du laufen?« fragte er besorgt, seine eigene Unterarmwunde festhaltend. Der Gefragte stieß den ersten an und trieb ihn vorwärts.
»Ja, bei den Göttern, geht schon. Los jetzt, wir müssen die wiederfinden, sonst können wir uns gleich die Kehlen durchschneiden.« Fluchend und zeternd stolperten sie hinter den Pla-ka her den Pfad hinunter. An Stellen, wo die Steine von feuchtem Moos bedeckt waren, stützten sie sich gegenseitig, um sich nicht noch einmal zu stürzen.
Inzwischen war Antarona ein gute Stück weit gekommen. Ein par Zentaren noch, dann wurde der Pfad wieder flacher, und sie konnte den Pla-ka laufen lassen. An einer weiteren steilen Stelle musste sie das Tier noch einmal durch das Unterholz lenken. Mutig stampfte das Tier durch das Gebüsch. Doch plötzlich blieb es einfach stehen.
Mit all ihrer geistigen Kraft und dem Druck ihrer Schenkel versuchte sie den Pla-ka vorwärts zu treiben. Vergeblich. Sie bog sich zurück und sah sich um. Die lose schleifenden Zügel hatten sich im Gebüsch verfangen. Verzweifelt versuchte sie das Tier rückwärts zu treiben, um die Lederriemen frei zu bekommen. Das abgehetzte Huftier aber blieb stur stehen. Antarona verlor allmählich den Zugang zu seinen Sinnen, und war zuletzt nur noch Reiterin.
Der andere Pla-ka hatte zu ihnen aufgeschlossen, bedrängte sie von hinten, so dass es schlussendlich kein Vorwärts und Rückwärts mehr gab. Sie steckte mit den Tieren fest. Die einzige, hoffnungsvolle Möglichkeit zur Flucht war vertan. Bald mussten die beiden Krieger auftauchen, und ihre Gemüter mochten inzwischen kaum zu einer besseren Laune gefunden haben.
Der letzte Ausweg, der ihr blieb, war zu versuchen, ihre Fesseln so weit zu lockern, dass sie diese abstreifen konnte. Erst einmal von dem Pla-ka herunter, hatte sie gewonnen. Im undurchdringlichen Gelänge war sie den Männern auch ohne Waffen weit überlegen.
Angestrengt rutschte sie auf dem Rücken des Pla-ka hin und her, und versuchte die Handfesseln zu lockern. Doch sie hatte den Eindruck, dass diese sich immer fester zogen, je mehr sie daran zerrte. Die derben Stricke, die aus stumpfen Fasern bestanden, schnitten ihr ins Fleisch der Handgelenke. Den stechenden Schmerz ignorierte sie. Gleichzeitig nutzte sie ihre Biegsamkeit und Wendigkeit, um die Fesseln ihrer Fußgelenke zu lösen, jedoch mit demselben Misserfolg.
Da hörte sie bereits ihre Peiniger herannahen. Wut schnaubend und laut schimpfend kamen sie herangepoltert, als wären sie eine ganze Kohorte mit Tross und Reiter.
»Da sind ja die dämlichen Schinder mit der kleinen Hexe. Na warte die kann jetzt aber was erleben«, rief einer der Beiden überrascht aus und riss die Peitsche aus seinem Gürtel. Offenbar hatten sie nicht damit gerechnet, die Pla-ka und ihre Gefangene so schnell wiederzusehen. Doch so dumm schienen sie doch nicht zu sein, als dass sie nicht bemerkt hätten, dass Antarona die Tiere zumindest angespornt hatte, das Weite zu suchen.
Die Kerle waren noch nicht ganz heran, da zischten die dünnen Lederriemen der sogenannten siebenschwänzigen Katze durch die Luft. Antarona bekam den Hieb halb auf den Rücken, halb auf die Seite gebrannt. Schon holte der Mann wieder aus, als ihm der andere, der Stillere, in den Arm fiel.
»Hast du nicht gesagt, wir sollen sie unversehrt an die Botin übergeben?« Der Erste riss sich los, holte erneut aus, und tobte:
»Nicht tot. Ich habe gesagt, dass wir sie nicht tot dort hin bringen, aber in welchem Zustand ihrer Haut wir sie abliefern, davon habe ich nichts gesagt. Wieder klatschte das Leder auf Antaronas nackte Haut und hinterließ rote, schmerzhafte Striemen. Dieses Mal traf der Krieger ihren Po und ihre Schenkel. Da er nur einen Arm benutzen konnte, und der Pla-ka sich ständig drehte, erwischte er das Krähenmädchen nicht am Oberkörper.
Der nächste Schlag ging vollständig daneben. Er traf den Pla-ka, der in panischer Angst herum trampelte, mit den Vorderhufen aufstieg, und damit wie wild um sich schlug. Die Fehlschläge aber machten den Mann noch wütender. Immer heftiger schlug er zu, traf jedoch immer nur das Reittier, das sich noch verrückter gebärdete, so dass Antarona Angst haben musste, gegen einen Baum geschleudert zu werden. Wären ihre Fesseln nicht gewesen, so hätte sie sich kaum auf dem sich immer wieder aufbäumenden Rücken halten können.
Dem Schläger aber riss nun der Faden der Geduld. Er steckte die Peitsche ein und griff dem Pla-ka derbe in die Zügel und zwang ihn so zur Ruhe.
»Los, holen wir die Schlampe da runter, damit sie kapiert, wer hier das Sagen hat!«, forderte er den anderen auf. Der fragte aber unsicher:
»Müssen wir uns nicht eilen, die Botin Torbuks zu treffen? Wir verlieren immer mehr Zentaren.« Sein Kumpan stieß ihn zur Seite und löste umständlich die Fesseln, die Antaronas Füße unter dem Leib des Pla-ka hielten. Antarona witterte eine neue Möglichkeit zur Flucht, ließ es geschehen, dass der Mann sie brutal am Arm vom Pla-ka riss, ließ sich auf den Waldboden fallen, rollte sich ab, sprang auf, und wollte sich in die Büsche schlagen.
Doch plötzlich wurden ihr die Füße unter dem Leib weggerissen. Sie hatte die Stricke vergessen, die immer noch an ihren Füßen hingen. Hart schlug sie auf dem Boden auf. Noch bevor sie wieder aufspringen konnte, umklammerte die große Pranke des Kriegers ihre Fußgelenke.
»So haben wir nicht gewettet, du kleines Miststück«, keifte der Mann gehässig, und rief zu seinem Kameraden gewandt:
»Los, nimm ihre Hände und binde sie an den dicken Baum da. Dann wollen wir mal sehen, wie sie um Gnade winselt.« Der andere wollte tun, wie ihm geheißen, und wollte sich Antaronas Handgelenke schnappen. Doch das Krähenmädchen war schneller. Wie die Krallen eines Adlers gruben sich ihre Fingernägel plötzlich in die Augen des Mannes, der ihr in plumper Weise viel zu nahe gekommen war.
Der drehte sich sofort weg, hielt sich die gesunde Hand vor die Augen und brüllte wie am Spieß. Augenblicklich spürte Antarona ihren Kopf explodieren, als die Faust des ersten ihre Schläfe traf. Sie taumelte zurück, stieß mit dem Rücken gegen den großen Baum, und wurde gleichzeitig mit den Fußfesseln wieder von den Beinen gerissen.
Ihr Rücken fuhr an der rauen Rinde des Baumstamms nach unten, und benommen von dem hinterhältigen Schlag nahm sie nur vage wahr, dass der Mann sie an den Fußfesseln wieder zu sich heran zog. Sie sah die fies grinsende Fratze des Kriegers und sofort tauchten die Bilder wieder in ihrem Kopf auf, die sie an die Schlacht vor ein par Tagen erinnerten, als einige Krieger ebenso schmutzig grinsten, während sie über die gefangenen Mädchen der Jo-lie herfielen.
In Antarona stieg ein unbändiger Zorn hoch. Ihr Kampfeswille war ungebrochen, und der Hass gab ihr Kraft. In Sekunden Schnelle winkelte sie ihre Beine an und ließ sie plötzlich mit aller Kraft wieder vorschnellen. Ihre nackten Fersen trafen den Mann völlig unvorbereitet am Kinn. Es knirschte und knackte, sie hörte ihn noch lauter brüllen, als jenen, der ihre Krallen zu spüren bekam, und sie fühlte, dass der Zug auf ihre Fußfesseln nachließ.
Wie eine Schlange wand Antarona sich um die eigene Achse, um auf die Knie zu kommen, und aufzuspringen. Doch sie hatte ihren Gegner nicht hart genug getroffen. Der hielt noch immer die Enden ihrer Fußstricke in der Faust, und riss sie wieder zurück. Vergeblich versuchte sie mit in den Boden gegrabenen Fingern zu verhindern, dass er sie weiter zu sich heran zog. Ihr Lederschurz war ihr bis unter die bloßen Brüste gerutscht, bot diesen aber keinerlei Schutz auf dem Waldboden.
Sie wollte sich instinktiv gerade hochstemmen, um sich zu schützen. Da packte der zweite Mann ihre langen Haare, und riss ihren Kopf hoch. Gegen diesen Schmerz war sie wehrlos. Doch sie sah das verstümmelte, blutige Ende an seinem Arm, und sie spürte den Stein in ihren Fingern, die wie ein Ackereisen durch den Waldboden pflügten. Reflexartig umklammerte sie den Stein, riss ihn hoch und schlug ihn gegen die verletzte Hand des Krieger.
Der schrie, als wäre er von oben nach unten aufgeschlitzt worden, steckte die zerstörte Hand zwischen die Beine und presste diese vor Schmerz zusammen. Dabei hüpfte er auf beiden Beinen herum, wie ein aufgezogenes Spielzeug. Unterdessen hatte der andere Antarona wieder zu sich heran gezogen, packte sie in der Taille und wollte sie mit seinen Armen umfassen.
Antarona bog sich schnell nach hinten und ihr Schädel krachte gegen die Nase des Angreifers. Der heulte vor Wut auf, die Tränen schossen ihm in die Augen, und bevor er seine Hand vor die Nase halten konnte, zuckte Antaronas Kopf zurück und schlug noch einmal zu. Das hässliche Geräusch, das dabei entstand, fühlte sie auch.
Des Mannes Zorn geriet in wahre Weißglut, und mit aller Kraft schleuderte er das Krähenmädchen gegen den Baum, an den sie gefesselt werden sollte. Sie prallte mit der Seite gegen den Stamm und sofort blieb ihr durch den Schlag die Luft weg.
Ihre Sekunden lange Wehrlosigkeit nutzte der Gegner mit der zerstörten Hand aus. Seine gesunde Hand, so groß wie ein Teller, packte sie hinten am Hals, und drückte ihren Kopf gnadenlos herunter. Gleichzeitig kam sein Knie von unten nach oben. Antarona spürte den dumpfen Schlag, taumelte benommen zurück und schlug hin.
Sofort war der schwere Krieger über ihr, drückte ihr sein Knie in den Rücken, bis sie zu ersticken drohte. Verzweifelt ruderte sie mit Armen und Beinen, doch in dieser Lage vermochte sie nichts mehr auszurichten. Augenblicklich war auch der andere Kerl heran. Beide lösten ihr umständlich die Fesseln, rissen sie hoch und banden sie mit gestreckten Händen und Füßen so fest an den mächtigen Baumstamm, dass sie sich nicht mehr rühren konnte.
»So, jetzt werde ich dir erst mal Gehorsam beibringen«, drohte einer der Männer, und Antarona hörte das leise Klatschen, als er die Peitsche ausrollte und zur Probe durch die Luft sausen ließ.
»Wenn ich mit dir fertig bin, springst du Karek freiwillig an den Hals, das verspreche ich dir.« Sie hörte die Riemen durch die Luft pfeifen und spürte, wie sie sich knallend quer über den Rücken in ihre Haut gruben. Antarona fühlte heiße, brennende Striemen, als drückte man ihr glühende Schwertklingen auf den Leib.
Wieder vernahm sie das Pfeifen und die Katze traf sie zwischen den Schulterblättern. Das stechende, Brennen war so heftig, dass sie stoßweise nach Luft schnappte. Doch grenzenloser Hass, inbrünstige Wut und ungebrochener Stolz verhinderten, dass auch nur ein Laut des Schmerzes über ihre Lippen kam. Das machte ihre Peiniger nur noch rasender.
»Das macht dir wohl nicht viel aus, was?« krähte ihr Folterer überlegen. »Dann wollen wir mal sehen, wie du das findest. Das wird dich gewiss fügsam machen. Wenn Karek dich nimmt, wirst du dich nach mir zurücksehnen.« Zu seinem Kumpanen gewand sagte er:
»Mach ihre Füße los, und sieh zu, dass die Viecher nicht wieder abhauen.« Antarona spürte, wie grobe Finger an ihren Fußfesseln herum nestelten, und die Stricke lösten. Sie bekam die Beine frei, doch ihre Arme waren noch immer um den rauen Stamm gespannt, so dass sie ihren Oberkörper nicht bewegen konnte.
Ihr Lederschurz wurde zur Seite gerissen. Sie schloss die Augen, verkrampfte am ganzen Körper, und versuchte, an etwas zu denken, das sie aus der Wirklichkeit zu tragen vermochte, an etwas schönes, etwas Gutes. Aber so richtig wollte das nicht funktionieren. Die groben Pranken des Mannes packten ihre Schenkel und zogen sie mit brutaler Gewalt auseinander. Sie roch den stinkenden Atem, den Schweiß, den Dreck. Blanker Ekel würgte in ihr hoch. Jeden Augenblick musste sie seine stinkende, verfaulte Männlichkeit an sich spüren...
Der Schrei, der anschließend den Wald erzittern ließ, war so fürchterlich, durchdringend und erschütternd, dass sich die Pla-ka vor Schreck aufbäumten, an den Zügeln rissen, und sich gebärdeten, als würden sie bei lebendigem Leibe geschlachtet werden. Der zweite Krieger, der sich um sie kümmerte und sie fest hielt, zuckte erschrocken zusammen. Ein kalter Schauer des Schreckens jagte ihm über den Rücken.
Ein weiterer Schrei folgte, diesmal etwas leiser, gedämpfter, als fehlte es der Stimme an Kraft, oder als ob der Widerhall von etwas verschluckt wurde. Vögel waren flatternd aus den Bäumen aufgestiegen, und irgendwo knackte es im Unterholz von einem flüchtenden Waldtier.
Antarona hatte diesen Schrei schon einige Male gehört. Das erste Mal in ihrer Kindheit. Doch da vermochte sie ihn keinem Wesen zuzuordnen. Heute wusste sie, dass nur ein Gor so einen Ruf von sich gab. Der Drache musste geradewegs über den Wald geflogen sein. Der Schrei hatte auch ihren Peiniger davon abgehalten, sich an ihr zu vergehen, und in diesem Augenblick dankte sie den Göttern dafür, dass sie ihr den Drachen gesandt hatten.
Der Mann ließ sie los, und sie hörte, wie er sich seinen Kriegsrock zurecht rückte. Dann hörte sie ihn dem anderen zurufen:
»So ein Dreck, die Botin ist schon da, hat mich jetzt auch noch um mein kleines Vergnügen gebracht! Hoffentlich bezahlt sie gut, sonst behalten wir die kleine Natter. Los, mach hin, bring die Pla-ka, Torbuk wartet nicht gerne!« Die Reittiere brachen durch das Unterholz, und Antarona wurden hastig die Füße fest zusammengebunden, bevor die Männer ihre Arme vom Baumstamm lösten.
»Mach jetzt ja keine Zicken, das sag ich dir«, drohte ihr Peiniger mit leiser, gefährlicher Stimme, »wenn du uns das Geschäft vergällst, dann wird es dir schlecht ergehen!« Antarona überlegte, ob es ihr vorher besser ergangen war, kam aber zu dem Schluss, dass es im Augenblick besser war, sich zu fügen. Wie zur Bestätigung fügte er hinzu:
»Wenn wir für dich nichts bekommen, oder dir einfallen sollte, unser Treffen zu versäumen, dann werden wir uns an dir schadlos halten, und das wünsche dir besser nicht.«
Erneut wurde Antarona bäuchlings über den Rücken des Pla-ka geworfen und unter dem Bauch des Tieres an Händen und Füßen gefesselt. Dann trieben die Männer die Tiere gnadenlos zur Eile an. Offenbar hatten sie zu viele Zentaren vertrödelt, woran Antarona nicht ganz unschuldig war, und mussten die Zeit nun wieder aufholen.
Es ging in hohem Tempo den abschüssigen, steilen Pfad hinab, und die Pla-ka hatten Mühe, einen sicheren Tritt zu finden. Antarona wurde hin und her geworfen und regelrecht durchgeschüttelt. Ihr Rücken brannte und spannte, als wäre er verbrannt worden. Ab und zu spürte sie, wie eine der feinen Wunden unter dem unruhigen Gang der Reittiere aufplatzte, das Blut in einem warmen Rinnsal austrat, und über ihren Rücken lief.
Verzweifelt versuchte sie die Bewegungen der Pla-ka mit der Anspannung ihrer Muskeln auszugleichen, doch ohne Erfolg. Dazu scheuerten sich dort, wo sie die Peitsche an der Seite getroffen hatte, die Striemen immer wieder am rauen Fell des Pla-ka auf. Der Gang wurde zur Tortour, und sie dachte darüber nach, die Pla-ka erneut dazu zu bringen, durchzugehen.
Doch sie ahnte auch, dass die Männer sie missbrauchen und töten würden, sobald klar war, dass sie für ihre Gefangene keinen Lohn mehr erhalten würden. Unwillkürlich musste sie an Syrielle denken, von der die Îval berichteten, dass sie vor der Geisterschlacht von den Kriegern Torbuks gegen ihren Willen genommen und zu Tode gefoltert wurde.
Sie hatte schon viele solcher Schicksale kennengelernt. Stets hatte sie sich aufgrund ihrer Kampfkunst überlegen gefühlt, und sich eher in der Rolle der Errettenden gesehen. Doch nun schien sie selbst davon betroffen zu sein. Nun war sie selbst hilfloses Opfer. Diese Erkenntnis machte sie wütend. Wut gegen sich selbst, und ihre unterlassene Vorsicht, und Abgrund tiefer Hass gegen ihre Feinde.
Im Zorn grub sie ihre Fingernägel in die Flanke des Pla-ka, dort wo ihre Hände durch die Stricke fixiert waren. Das Tier spürte etwas wie einen Biss und galoppierte wiehernd los. Der Mann, der es führte, wurde ein Stück weit über den unebenen, harten Boden geschleift, denn er hatte sich die Zügel zur Sicherheit um die Handgelenke gewickelt. Bevor er sich von den kräftigen Lederriemen befreien konnte, hatte er sich einige neue Blessuren zugezogen.
Fluchend und sich das Handgelenk reibend rappelte er sich auf und sah hinter dem Pla-ka her, der nun auf den offenen Strand trabte, der bereits in Sichtweite lag.
»Ich bringe sie eigenhändig um, ich werde sie mit dem Schwertknauf schänden, sie vierteilen, und den Krähen des großen Wassers zum Fraß vorwerfen, ich werde...«
»Was ist geschehen?« fragte der andere Krieger, der keuchend herangelaufen kam. Er hatte seinen Pla-ka zur Eile getrieben, der ihn nun fast über den Haufen rannte. Der lädierte Kumpan antwortete zornig:
»Diese kleine Missgeburt hat es wieder irgendwie geschafft, das Biest durchgehen zu lassen. Aber ich schwöre dir, diesmal mach ich sie fertig, lass mich die erst in die Finger kriegen. Langsam kapier ich, warum Karek so einen Hass auf die hat. Die schick ich dem scheibchenweise in einem Ledersack.« Der zweite Mann nickte bestätigend und ereiferte sich:
»Ich hab’s dir ja gesagt, die ist mit den Dämonen im Bunde, die ist so eine von diesen Îval Hexen, eine Zauberin, die jeden um den Verstand bringen, und ihn dann in das Reich der Toten schicken. Und die kann mit den Tieren reden, sie kann...«
»Hör auf, so ein dummes Zeug zu quatschen. Zauberin! Eine ganz ausgekochte Schlampe ist das, mehr nicht, und wenn ich mit der fertig bin, dann macht die keinen Muckser mehr«, unterbrach ihn der erste.
»Und nun lass uns zusehen, dass wir sie wieder kriegen, vielleicht können wir auch den Gor der Botin mit ihr füttern, das wär'n Spaß, was?« Wie zwei Trolle humpelten die beiden los, hinter dem entlaufenen Pla-ka her.
Das Tier mit Antarona auf dem Rücken kam erst am Strand, keinen Meter von den auslaufenden Wellen entfernt, zum Stehen. Es schien, als überlegte es, ob es sich in die Fluten stürzen, und zum anderen Ufer schwimmen sollte. Doch die Tatsache, dass der jenseitige Strand nicht zu sehen war, hielt den Pla-ka wohl davon ab.
Antarona konzentrierte sich auf die Sinne des Reittieres; sie wollte versuchen, es dazu zu bewegen, sich ins Wasser zu legen. Wenn die Stricke nass wurden, mussten sie sich ausdehnen, und sie konnte die Fesseln von Händen und Füßen abstreifen. Doch eine geistige Verbindung zwischen ihr und dem Pla-ka aufzubauen, noch dazu im Bewusstsein, das Tier zu beeinflussen, dauerte zu lange. Schon hörte sie wieder die Stimmen von Torbuks Kriegern, die ihr freilich gefolgt waren.
Der Pla-ka war so abgehetzt, dass er einfach blieb, wo er stand. Sie konnte ihn nicht einmal mehr dazu bringen, fortzulaufen. Wütend kamen ihre beiden Peiniger heran, und sie erwartete nun ein weitere Folter als Strafe. Doch gerade, als der Kräftigere der beiden mit der Peitsche ausholen wollte, erscholl erneut der Schrei des Gor über den Klippen weiter hinten am Strand.
Die beiden Männer besannen sich, nahmen die Zügel des Pla-ka und zerrten das Tier weiter. Antarona registrierte, dass sie sich in die Richtung zu den beiden Laternenpfählen und der alten Fischerhütte bewegten. Sie kamen rasch vorwärts, und zwischen den Masten mit den Lampen banden die Männer die Reittiere an.
Sie lösten Antaronas Fesseln, stießen sie grob vom Pla-ka herunter, und ehe sie sich versah, wurden ihre Hände auf dem Rücken wieder fest verzurrt. Dann fesselten sie ihr die Fußgelenke, ließen ihr aber so viel Freiheit, dass sie kleine trippelnde Schritte machen konnte. Zuletzt spürte sie den harten Stoß mit einem Schwertknauf in ihrem Rücken.
»Los, mach schon, lauf zu!« befahl einer der Männer, »Immer auf den Wald zu, und schön dem Pfad da rauf folgen«, wies er sie an und schubste sie brutal vorwärts. Antarona indes nutzte ihre Fesseln, um betont langsam zu gehen. Sie hoffte, dass es den Entführern nicht schnell genug ging, und sie ihr die Fußfesseln ganz abnehmen würden.
Torbuks Männer dachten aber gar nicht daran, ihr das Laufen zu erleichtern. Sie trieben sie mit immer neuen Drangsalen zur Eile an. Mal drückten sie ihr einen harten Gegenstand ins Kreuz, mal spürte sie den hieb eines Zweiges, und immer wieder wurde sie den Pfad hinauf gestoßen. Dass sie den Weg auf das Plateau hinauf kannte, versuchte sie so gut wie möglich zu verbergen. Sie stellte sich einfach dumm, was die Wegrichtung anging.
Durch ihre Fußknebel kamen sie nur sehr langsam voran. Offenbar fürchteten die beiden Männer aber von der Botin, wie sie ihr Ziel nannten, für diese Verzögerung zurechtgewiesen zu werden. Denn nun sprach der ältere der beiden:
»Geh du voran, erklär der alten Krähe, dass es nicht schneller geht, und beruhige sie.« Der Angesprochene war jedoch im Zweifel, ob das eine kluge Idee war, und erwiderte:
»Und was ist mit der Îval- Hexe? Wenn du mit ihr alleine...«
»Ach, mit der werd ich schon fertig, was soll die jetzt schon noch anstellen, wo wir fast oben sind. Hauptsache wir haben das Wohlwollen der Gorreiterin und Torbuks. Mach schon, sieh zu, dass die da oben nicht zu ungeduldig wird!« Der Aufgeforderte nickte kurz und legte einen Schritt zu. Kurz darauf war er im Gewirr aus Ästen und Blättern verschwunden. Antarona trippelte mühsam weiter über den mit hohen Steinstufen und Wurzeln bestückten Weg, der Mann hinter ihr traktierte sie weiter fortwährend mit einem dornigen Zweig, um sie zur Eile zu treiben.
Verzweifelt überlegte Antarona, wie sie den Kerl noch überrumpeln und überwältigen konnte, bevor sie das Plateau erreicht hatten. Da hörte sie weit weg ein lautes Knacken im Wald und das krächzen eines Vogels. Was ihren Sinnen auffiel, bei ihrem Bewacher aber nicht den geringsten Argwohn auslöste, war die Tatsache, dass sich größeres Wild kaum am Tage und in der Nähe eines Gors an einem Hang aufhielt, und dass dieser Vogel in dieser Gegend gar nicht vorkam.
An diesen Geräuschen stimmte etwas ganz und gar nicht. Sie waren nicht echt. dem Krieger, der die Insel nicht kannte, mochte es nicht auffallen. Doch Antarona wusste nun, dass ihnen jemand heimlich folgte, der sich aber nur ihr, Sonnenherz, zu erkennen gab. Ba - shtie? Konnte er sie gefunden haben? Wer sonst?
Es war eine Chance, und Antarona dachte nicht daran, sie nutzlos verstreichen zu lassen. Noch einmal verlangsamte sie ihren Schritt, stolperte über eine Wurzel, stieß scheinbar versehentlich mit dem Fuß gegen einen zu hohen Stein. Sie tat alles, um die Aufmerksamkeit ihres Bewachers zu binden. Dabei lauschte sie ständig in den Wald hinein, ob ein untrügerisches Geräusch für Hilfe näher kam.
Tatsächlich. Das Kollern eines größeren Steins war zu hören, viel näher, als die vorherigen vermeintlichen Stimmen des Waldes. Kein Tier trat aus Unachtsamkeit einen großen Stein los. Dieser fallende Stein fand seine Ursache in einem Menschenwesen.
»Mach mal ein bisschen hin, du lahme Kröte, wir wollen hier keine Wurzeln setzen!« Die boshafte Stimme des Mannes hinter ihr riss sie aus ihren Gedanken. Gleichzeitig bekam sie die Dornengerte auf ihrem Rücken zu spüren. Verbissen musste sie sich zwingen so zu tun, als schwächelte sie wirklich. Statt dessen wäre sie dem Mistkerl am liebsten an die Kehle gesprungen. Zubeißen konnte sie auch mit gebundenen Händen.
Sie stolperte weiter, langsam, unsicher, offensichtlich erschöpft. Sie kannte den Pfad, und wusste, dass sie bald oben waren. Viele Zentaren blieben nicht mehr, um etwas zu versuchen. Sie konnte dem heimlichen Verfolger auch kein Zeichen geben, denn das würde ihren Peiniger warnen. Aber sie konnte ihre Ankunft oben auf dem Plateau verzögern.
Wieder hörte sie das Knacken eines Zweiges, diesmal ganz in der Nähe. Sie wagte nicht, sich umzusehen, um nicht ihren Feind darauf aufmerksam zu machen. Doch dieses Mal hatte der es auch gehört. Er hielt mitten in der Bewegung inne, blickte sich vorsichtig um, und lauschte.
Als er nichts erkennen konnte, ärgerte er sich über seine eigene Einbildung. Er stieß Antarona, die ebenfalls stehen geblieben war, zwischen die Schulterblätter und blaffte mit rüdem Ton:
»Niemand hat etwas von stehen bleiben gesagt. Du bleibst erst stehen, wenn ich es dir sage, verstanden?« Antarona musste Zeit schinden, musste dem verborgenen Verfolger Gelegenheit geben, sie zu befreien. Auf den Einfall, dass dieser Jemand gar nicht vorhatte, sie aus den Händen der Entführer zu entreißen, kam sie gar nicht erst.
Leicht ließ sie ihre Ferse gegen einen Stein stoßen, jedoch mit großer Geste. Unter Schmerz verzerrtem Gesicht ging sie in die Knie, und rieb sich den Fuß. Der Mann sah sich kurz um, bevor er sich ihr widmete.
»Nun stell dich nicht so an, weit ist es ja nicht mehr. Schuld seid ihr ja selbst, ihr Jo-lie. Rennt halb nackt durch die Wälder, als gäbe es keine Kleider. Nun siehst du, was du davon hast.« Antarona antwortete nicht, sie tat, als verstand sie ihn gar nicht, und glotzte ihn nur dumm an. Torbuks Krieger gewann dadurch nicht an Verständnis.
»Was ist jetzt, soll ich dich etwa noch tragen? Das fehlte mir noch«, beantwortete er sich die Frage selbst, »du wirst schön weiter gehen.« Antarona zog sich scheinbar unter Schmerzen an einem dünnen Bäumchen hoch, und stand auf wackligen Beinen. Sie beherrschte das Schauspiel gut.
»Geh eben etwas langsamer, du dummes Huhn. Jetzt aber weiter. Die Alte, die Torbuk geschickt hat, wird dir schon Beine machen, glaub mir, da hast du's bei mir noch gut gehabt!« Quälend langsam humpelte Antarona weiter.
Da lichtete sich der Wald und gab den Blick frei auf die große Lichtung des Plateaus. So schnell hatte sie die erhöhte Arena nicht erwartet. Du Unbekannter, dachte sie, jetzt ist die letzte Gelegenheit, einzugreifen. Schon wurde sie wieder vorwärts gestoßen. Vor dem blendenden Licht des in der Sonne liegenden Plateaus kniff sie die Augen zusammen. Ihre Füße traten nun auf hartes, getrocknetes Gras. Der Mann hinter ihr hielt sich die Hand über die Augen, um von der Sonne nicht geblendet zu werden.
»Bleib stehen!« hörte sie den Mann hinter sich knapp befehlen. Sie waren etwa fünf Meter auf die Wiese hinaus getreten. Antaronas Augen gewöhnten sich langsam an das grelle Licht, und sie blickte auf einen ausgewachsenen Gor, der sich in der Mitte der Grasfläche hingelegt hatte. Um sich zu kühlen, hielt er seine Flügelhäute weit von sich gestreckt. Wachsam blickte das Tier zu ihnen herüber, blieb aber gehorsam liegen.
Neben dem Drachen stand ihr zweiter Peiniger mit einer Drachenreiterin, vermutlich dieselbe, die sie und Ba - shtie in jener Nacht beobachtet hatten. Nun war es zu spät. Fremder, du hast gezögert, nun gehört Sonnenherz den Tyrannen Torbuk und Karek. Noch während sie das dachte, hörte sie hinter sich ein Zischen, dann ein Röcheln und einen dumpfen Laut. Sie drehte sich um, und staunte nicht schlecht.
Ihr Bewacher war auf die Knie gefallen, und sah sie mit großen, ungläubigen Augen an. In seinem Hals steckte ein Pfeil...

Sebastian Lauknitz stand vor dem toten Hund und blickte sich nach allen Seiten um. Der Wald schien zu schweigen. Dennoch erzählte er Sebastian mehr, als ein normaler Mensch verstehen würde. Die Zweige der Sträucher rings um die Stelle waren teilweise gebrochen, der weiche Waldboden zertrampelt. An dieser Stelle hatte so etwas wie ein Kampf stattgefunden.
Doch so sehr Basti suchte, er fand keine Spuren von Antarona. Die Fährte, die sie mit ihren nackten Füßen auf dem Boden hinterlassen würde, musste ihm auffallen. Da er nicht davon ausgehen konnte, dass die Entführer eine so wertvolle Beute, wie die gesuchte Sonnenherz, einfach aufgaben, musste sie sich auf einem der Pla-ka befinden. Von wem dann aber der Hund erschlagen wurde, blieb Basti ein Rätsel.
Anhand der Fliegen, und der von ihnen auf den Wunden des Hundes abgelegten Eiern und den Maden, schloss er, dass die Gegner mit ihrer Gefangenen nicht weit voraus sein konnten. Basti musste jederzeit mit Hör- oder Sichtkontakt rechnen. Er folgte zügig, aber mit hoher Aufmerksamkeit dem Pfad, den er bereits kannte. Bald mussten die hohen Felsstufen in Sicht kommen, die ihm und Antarona auf dem Rückweg mit den Pla-ka einige Schwierigkeiten bereiteten.
Plötzlich blieb er abrupt stehen und lauschte. Ein grässlicher Schrei drang durch den Wald. Zunächst hatte er an Antarona gedacht. Doch es war nicht ihre Art, selbst großem Schmerz auf diese Weise Ausdruck zu verleihen. Und Basti kannte diesen Schrei. Auf Högi Balmers Alm hatte er ihn zum ersten Mal gehört. Es war der Schrei eines Gors.
Dass diese Viecher in dieser Gegend in so großer Zahl auftauchten, beruhigte ihn nicht gerade. Oder war es am Ende immer nur ein und derselbe? War die Gorreiterin, die er und Antarona des Nachts beobachtet und belauscht hatten, wieder nach Falméra gekommen?
Sebastian konzentrierte sich wieder auf den Pfad. Die unwegsamste Passage hinunter zum Strand musste er eigentlich schon erreicht haben. Er hatte es nur gedacht, da tauchte sie zwischen den Bäumen auf.
Sebastian erkannte die Stelle schon von Weitem. Die Büsche links davon waren in unnatürlicher Weise eingedrückt, umgeknickt und teilweise entwurzelt. Wieder eine Stelle, an der sich ein Kampf abgespielt hatte. Offensichtlich versuchte Antarona immer wieder, ihren Entführern zu entkommen. Vorsichtig näherte sich Basti der ersten, und höchsten Steilstufe, und besah sich den Ort genau.
Die Pla-ka waren seitlich der Felskante durch die Sträucher gebrochen. An der Kante selbst aber war das feuchte Moos ausgerissen, und im Boden darunter tummelten sich braune Würmer. Der Boden konnte also erst vor Kurzem bloß gelegt worden sein.
Basti stieg durch die Bresche, welche die Pla-ka geschlagen hatten hinab, und sah sich wieder um. Direkt unter der kleinen Felswand klebte Blut auf einigen Laubblättern. Jemand war offenbar über die Kante gestürzt. Und als er die Spuren weiter begutachtete, wusste er auch wer. Die Stiefelspur des einen Entführers wies nun eine deutliche Veränderung der Körperhaltung auf, die einem ungeübten Betrachter gar nicht aufgefallen wäre. Basti aber erkannte sie an den plötzlich veränderten Tiefen der Abdrücke.
Wer auch immer über die Kante gefallen war, er hatte sich entweder an der Schulter, oder an den Rippen verletzt. Er bewegte sich nun unter großen Schmerzen vorwärts. Und er musste deutliche Hautabschürfungen, oder Schnitte abbekommen haben. Dies alles las er aus den Spuren, eine Kunst, die er von Antarona gelernt hatte.
Langsam, den Blick auf den Boden geheftet, gleichzeitig aber in die Umgebung schweifend, schlich er weiter. Die Entführer kamen immer langsamer voran. Basti vermutete, dass Antarona daran nicht wenig Anteil hatte. Jederzeit konnten die Verfolgten vor ihm auftauchen. Er war froh, dass der Hund mittlerweile aus dem Spiel war. Dieser hätte die Banditen rechtzeitig warnen können.
Ein gutes Stück weiter fand Sebastian eine große Menge Spuren. Dieses mal waren auch die Fußabdrücke Antaronas zu sehen. Er fand auch Blut. Offenbar hatte auch hier ein Kampf stattgefunden. Fasern von Stricken, die bei genauer Betrachtung des Bodens überall herumlagen, verrieten ihm, womit Antarona gefesselt war.
An einem dicken Baum fand er Scheuerspuren an der Borke, im Boden davor Antaronas Fährte. Vor seinem inneren Auge spielte sich eine dramatische Szene ab. Etwas Glitzerndes auf dem Boden weckte seine Aufmerksamkeit. Eine kleine, blank polierte Niete aus Eisen, kaum größer als eine Erbse, hob er auf. Mit solchen Nieten hatten die Soldaten Torbuks die Lamellen ihrer Kriegsröcke verziert.
Für Sebastian bestand kein Zweifel mehr, dass er sich nun beeilen musste, wollte er Antarona lebend aus den Klauen der Entführer befreien. Die Übergriffe der Entführer auf ihre Gefangene schienen immer unkontrollierter zu werden. Basti kannte die Menschenwesen. Ab einer gewissen Grenze, die freilich ganz verschieden hoch sein konnte, fielen sämtliche hemmenden Skrupel, und blanke Emotionen übernahmen die Kontrolle einer Situation. Ziele und Werte waren dann aufgehoben. Er musste eingreifen, bevor genau das geschah.
Er hetzte weiter, davon überzeugt, dass die Entführer in den nächsten Minuten vor ihm auftauchen mussten, denn sie hatten durch die vielen unfreiwilligen Halts einiges an Zeit eingebüßt. Da! Plötzlich hörte er das erschrockene Wiehern eines Pla-ka. Dann vernahm er ein Rauschen, als wälzte sich eine Dampfwalze durch das Gestrüpp des Unterholzes. Gerade mal vierzig, fünfzig Meter konnte er davon entfernt sein.
Jede mögliche Deckung ausnutzend, huschte Sebastian vorwärts, den Bogen gespannt, zwei Pfeile schussbereit in den Händen, wie er es von Antarona gelernt hatte. Plötzlich hörte er Stimmen. Er verlangsamte sein Vordringen auf dem Pfad, um den Entführern nicht direkt in die Front zu laufen. In der Bedrängnis konnten die beiden Krieger Antarona als Schutzschild benutzen.
Sebastians vorteilhafte Taktik sah vor, dass die beiden nicht einmal wissen durften, dass sie von jemandem verfolgt wurden, der ihrer Gefangenen nahe stand. Das Druckmittel lag dann eindeutig in der macht der Entführer. Basti sah nur eine Möglichkeit. An geeigneter Stelle blitzschnell zuzuschlagen, und beim ersten Angriff sofort einen der Entführer dauerhaft auszuschalten. Dann hatte er eine reelle Chance, Antarona unverletzt zu befreien.
Von Baum zu Baum, von Gebüsch zu Gebüsch schlich er vorwärts. Ab und zu behinderte ihn der gespannte Bogen im Unterholz. Doch das musste er in Kauf nehmen. Die einzige Distanzwaffe, die er besaß, konnte er nicht aufgeben. Sie war der Trumpf, der den Überraschungseffekt garantierte.
Auf einem mal hörte Basti die Stimmen so deutlich, als stünden die Männer direkt neben ihm. Erschrocken wich er ein par Schritte zurück, duckte sich hinter einen Strauch und lauschte.
»Ich hab’s dir ja gesagt, die ist mit den Dämonen im Bunde, die ist so eine von diesen Îval Hexen, eine Zauberin, die jeden um den Verstand bringen, und ihn dann in das Reich der Toten schicken. Und die kann mit den Tieren reden, sie kann...«
»Hör auf, so ein dummes Zeug zu quatschen. Zauberin! Eine ganz ausgekochte Schlampe ist das, mehr nicht, und wenn ich mit der fertig bin, dann macht die keinen Muckser mehr«.
Beinahe wäre er in die Männer hinein gelaufen, die etwas abseits des Pfades standen. Basti bog die Zweige vorsichtig etwas auseinander, um besser sehen zu können. Zwei Männer standen im Schutz des Blätterdaches, einen Pla-ka an ihrer Seite. Zunächst konnte er nicht erkennen, ob Antarona dabei war, und ob die beiden sich stritten. Also hielt er still, und horchte weiter. Die Stimmen entfernten sich, doch einen Satz hörte er noch.
»Und nun lass uns zusehen, dass wir sie wieder kriegen, vielleicht können wir auch den Gor der Botin mit ihr füttern, das wär'n Spaß, was?«
Sebastian kochte innerlich vor Wut. Einerseits, weil Antarona offenbar entflohen war, und er die Chance, die beiden gefahrlos zu bekämpfen versäumt hatte, andererseits, weil diese Banditen so abfällig von der Frau sprachen, die er liebte.
Er nahm die Verfolgung der beiden in Sichtweite auf, aber mit so viel Abstand, dass sie ihn nicht sehen konnten. So sah er gerade noch, wie sie auf den Strand hinaus liefen. Sebastian beobachtete im Schutz der Bäume, wie sie auf den Pla-ka zuliefen, auf den Antarona gebunden war. Er musste sich zwingen, die Beherrschung zu behalten. Wie gerne wäre er auf den Strand gestürmt, und hätte den beiden den Schädel eingeschlagen. Doch damit hätte er auch Antarona in Gefahr gebracht.
Von Weitem beobachtete er, wie die Banditen den Pla-ka mit seiner Frau einholten. Er hielt den Atem an, denn gerade holte einer der Männer mit einer Peitsche aus. Basti machte sich schon zum Sprung auf den Strand bereit, als erneut der Schrei des Gors über das Land hallte, und sogar das Rauschen des Meeres übertönte. Augenblicklich hielt der Mann mit der Peitsche inne. Statt dessen griff er in die Zügel des Pla-ka und zerrte das Tier mit Antarona darauf weiter den Strand entlang.
Nun wusste Sebastian auch wohin sie ihre Schritte lenkten. Die beiden Pfähle mit den Laternen! Das war ihr Ziel. Wenn sie die Gorreiterin treffen wollten, und daran hegte Sebastian keinen Zweifel mehr, dann fand diese Zusammenkunft bei den Pfählen, oder oben auf dem Plateau statt.
Fieberhaft überlegte Basti wie er an die Entführer herankommen konnte, ohne Antarona zu gefährden. Zunächst musste er ihnen unbemerkt folgen, ohne sie aus den Augen zu verlieren, so dass er jederzeit eingreifen konnte, wenn die Situation für seine Frau lebensbedrohlich wurde.
Kurz entschlossen kämpfte er sich parallel zu den Entführern durch den Wald. Naturgemäß kam er im Unterholz des Waldes nicht so komfortabel vorwärts, wie die beiden Krieger auf dem fest gepressten Sand des Strandes. Ein par Dünen lagen zwischen ihnen, die Sebastian im Notfall etwas Deckung bieten konnten.
Als die Krieger mit Antarona vor den Pfählen angekommen waren, lag Sebastian noch gute fünfzig Meter zurück. Er hatte die Absicht im verborgenen des Waldes warten, bis er wusste, ob die Männer seine Frau auf das Plateau bringen wollten. Dennoch hetzte er durch das Dickicht, dass es teilweise laut knackte, wenn ein Ast unter seinem Gewicht brach.
Er achtete nicht darauf, dass die peitschenden Zweige seine Haut aufrissen und die Dornen ihn mit Schnitten übersäten. Wollte er Antarona helfen, so musste er vor den Entführern den Pfad auf das Plateau erreichen. Während er noch lief, registrierte er, dass die Gegner die Pla-ka an den Pfählen anbanden, und Antarona vom Reittier rissen. Offensichtlich hatten sie es nun sehr eilig.
Aus der dunklen Blätterwand des Waldes heraus beobachtete Bastis Augenpaar, wie Antarona mit gefesselten Händen und Füßen den Hang zum Pfad hinauf gestoßen wurde. Sie wollten auf die Lichtung oben auf den Klippen, wo anscheinend der Gor auf sie wartete. Sebastian hatte nicht vor, wieder hinter den Entführern her zu hetzen. Also beschloss er, schräg hinauf durch den Wald abzukürzen.
Weiter oben, wo der Pfad enger und der Wald dichter war, wollte er versuchen, die Banditen auszuschalten. Er wollte angreifen, wenn sie es am wenigsten erwarteten, wenn sie sich bereits am Ziel wähnten. Erfahrungsgemäß ließ dann auch die Vorsicht nach. Dieser Moment war seine einzige Chance.
Sebastian schwitzte, trotzdem er nur seinen Kriegsrock trug. Er bahnte sich seinen Weg hinauf, zehn bis zwanzig Meter parallel zum Pfad durch den dichten Urwald. Ab und zu erhaschte er einen Blick auf den Tunnel im Blattwerk, wo er den Pfad wusste. Da sah er kurz einen Mann hinauf hetzen. Er war allein. Wo war der andere mit Antarona? Basti blieb stehen und dachte nach.
Sollte dieser Krieger hier, den Gor zum Strand holen? Fand das Treffen doch unten am Strand statt? Hatte er nun seine letzte Möglichkeit vertan, Antarona zu retten? Unschlüssig stand Basti da, und blickte dorthin, wo der Mann aufgetaucht war. Niemand folgte ihm.
Basti wartete, bis der Krieger oben verschwunden war, dann eilte er zum Pfad hinüber, und sprang diesen hinab. Er wollte in der Nähe Antaronas bleiben. Er musste wieder zum Strand hinunter. Doch gerade, als er so richtig in Fahrt kam, hörte er von unten eine Stimme.
»Mach mal ein bisschen hin, du lahme Kröte, wir wollen hier keine Wurzeln setzen!« Sebastian reagierte sofort. Mit einem Satz war er wieder im Dickicht verschwunden. Antarona kam mit dem zweiten Kerl allein den schmalen Pfad herauf. Das sah er als seine Gelegenheit, sie zu befreien. Sie musste nur ein wenig Abstand zu ihrem Bewacher gewinnen, dann konnte er einen Pfeil auf den Mann abschießen.
Parallel zu Antarona und ihrem Entführer schlug er sich durch das Unterholz. Dabei konnte er nicht immer verhindern, dass er verräterische Geräusche erzeugte. Er wusste nicht, ob Torbuks Krieger darauf achtete, Antarona jedenfalls würde sie hören. Er musste ihr auf diese Weise ein Zeichen geben, damit sie wusste, dass er in der Nähe war.
Er hob einen größeren Stein auf und warf ihn einen bewachsenen Felsaufschwung hinauf, so dass der Stein mit einigem Lärm wieder herunter rollte. Dann erinnerte er sich an diese seltsamen Vögel, die sie auf ihrem Weg von Falméra nach Mehi-o-ratea gehört hatten. Basti hatte ihre Stimmen schon einige Zeit nicht mehr gehört, doch er wusste sie nachzuahmen. Den Entführer mochte er damit täuschen, doch Antaronas feines Gehör kannte den feinen Unterschied zwischen einem echten Vogel und einer Imitation.
Sebastian hoffte, dass sie daraufhin versuchen würde, ihren Abstand zu ihrem Bewacher zu vergrößern, damit er einen gezielten Schuss anbringen konnte, ohne sie zu gefährden. Doch erreichte er mit seinem Versuch ungewollt das Gegenteil. Er stellte fest, dass Antarona immer langsamer wurde, schließlich noch zu humpeln begann. Das mochte zwar das Tempo verzögern, hatte aber eben auch zur Folge, dass der Krieger sich stets dicht hinter ihr hielt.
Von einer Gelegenheit zur nächsten huschte Basti auf leisen Sohlen, legte hier einen Pfeil an die Sehne, und dort. Dennoch kam er nicht zum Schuss. Immer wieder kam der Entführer seiner Frau zu nahe, als dass er hätte ihn sicher ausschalten können. Wieder trat Basti auf einen kräftigen Ast, der von Laub bedeckt war. Krackend brach er durch. Diesmal hörte es auch Antaronas Bewacher. Er blieb kurz stehen und lauschte. Wenn Antarona jetzt weiterging...
Doch das Krähenmädchen blieb ebenfalls stehen. Wieder war eine Möglichkeit vertan, dem Mann einen Pfeil in die Lunge zu schießen. Paradoxerweise passte das dem Mann auch nicht, denn er schnauzte Antarona an:
»Niemand hat etwas von stehen bleiben gesagt. Du bleibst erst stehen, wenn ich es dir sage, verstanden?« Antarona schlug daraufhin mit dem Fuß gegen ein Hindernis und knickte ein.
»Nun stell dich nicht so an, weit ist es ja nicht mehr. Schuld seid ihr ja selbst, ihr Jo-lie. Rennt halb nackt durch die Wälder, als gäbe es keine Kleider. Nun siehst du, was du davon hast«, hörte Basti den Kerl sagen. Wenn er Antarona doch verständlich machen konnte, dass sie den Abstand zu dem Mann vergrößern musste, damit Basti ein freies Schussfeld bekam. Er konnte ihr ja schlecht zurufen.
Erneut stahl er sich durch das Dickicht, stets bemüht die beiden nicht aus den Augen zu lassen, und dabei selbst nicht gesehen zu werden. Antarona verlangsamte ihre Gangart offenbar noch mehr, denn der Mann herrschte sie nun an:
»Was ist jetzt, soll ich dich etwa noch tragen? Das fehlte mir noch. Du wirst schön weiter gehen.« Nach einer Weile hört ihn Basti hinzufügen:
»Geh eben etwas langsamer, du dummes Huhn. Jetzt aber weiter. Die Alte, die Torbuk geschickt hat, wird dir schon Beine machen, glaub mir, da hast du's bei mir noch gut gehabt!«
Sebastian sah die beiden auf dem Weg höher schleichen. Aber er stellte auch fest, dass der Waldrand oben als blendendes Licht durch die Bäume schimmerte. Wollte er noch etwas erreichen, so musste er vor ihnen oben sein, und sich in Position gebracht haben. So entließ er Antarona und ihren Peiniger aus seinem Blick und lief voraus. Das letzte Stück musste er sich durch dorniges Gestrüpp zwängen, dass ihm seine Haut an einigen Stellen in eine Landkarte verwandelte.
Oben angekommen, verbarg er sich hinter einem großen Baum, spannte den Bogen für einen kräftigen Schuss auf kurze Distanz nach, legte einen Pfeil an die Sehne, und platzierte das Schwert neben sich, falls es erforderlich war, dem Gegner einen Fangstoß zu versetzen. Dann wartete er. In seinem Blickfeld lagen der Weg und der linke Teil der Lichtung mit dem Waldrand und dem Felsen, hinter dem er sich in jener Nacht mit Antarona verborgen hatte, um die beiden unbekannten Frauen zu belauschen. Den Gor, oder die Drachenreiterin konnte er nicht sehen. Sein Blick wanderte wieder den Hang hinab.
Antarona kam den Pfad heraufgeschlichen, ihr Bewacher folgte ihr ungeduldig. Beinahe mechanisch trat das Krähenmädchen aus dem Waldrand auf die Lichtung. Torbuks Krieger jedoch hatte gehalten, wohl um seine Augen an das grelle Licht zu gewöhnen. Der Augenblick war gekommen!
»Bleib stehen!« befahl ihr der Mann schroff. Trotzdem war Antarona noch einige Schritte gegangen, was den Krieger nun, da er sich am Ziel glaubte, nicht mehr störte. Die Distanz zwischen beiden betrug etwa fünf Meter, jene zwischen Basti und seinem Ziel das Vierfache.
Sebastian spannte den Bogen, hielt etwas tiefer, denn bei der großen Spannung verriss sich der Bogen erfahrungsgemäß leicht nach oben. Er atmete aus, und in dieser Sekunde schien die Welt für ihn Minuten lang still zu stehen. Langsam öffnete er die Finger. Das kurze Zischen nahm er nur am Rande wahr. Den Einschlag hörte er deutlicher.
Ob nun Glück, oder das Können einer ruhigen Hand, der Pfeil hatte den Hals des Kriegers durchbohrt. Der Mann röchelte leise und sackte mit einem dumpfen Laut auf die Knie. Anschließend ging alles so schnell, dass es Basti vorkam, als hätte jemand die Geschwindigkeit eines ablaufenden Films um ein Mehrfaches erhöht.
Antarona drehte sich plötzlich um, brauchte ein par Zentaren, um sich zu vergewissern, was sie sah. Sogleich erfasste sie die neue Situation und sprang in Bastis Richtung ins Gebüsch. Gleichzeitig hörte er von der Lichtung her einen erschreckten Ausruf. Antarona war nicht die einzige, die den Kniefall des Kriegers gesehen hatte. Offenbar wurde die neue Lage auch von dem zweiten Mann und der unbekannten Frau richtig eingeschätzt.
Als Antarona ins Unterholz flüchtete, hörte Basti einen kurzen, knappen Befehl der Frauenstimme. Er kannte diese Stimme! Doch er hatte keine Zeit, darüber nachzudenken.
»Faungor! Schnapp sie dir! Faungor, los!« hallte es über die Lichtung, und augenblicklich erscholl der fürchterliche Schrei des Drachen, der vom Waldrand widerhallte. Basti hörte ein Schnaufen und das Stampfen mächtiger Beine.
»Antarona, hierher, hier herüber!« zischte Sebastian seiner Frau zu. Sie kämpfte sich durch das Gebüsch, und eben als sie Basti erreichte, hörten sie ein Grollen und ein leises Husten. Anschließend quoll ein warmer Hauch mit fürchterlichem Gestank durch das Unterholz. Nur einen Wimpernschlag später entzündete sich das verströmte Gas und es war, als umgab die beiden eine Flammenwand.
Das Feuer verpuffte sehr schnell, dennoch wurde es für einen kurzen Moment sengend heiß. Wieder fuhr der faulige Geruch nach schlecht gewordenen Eiern durch die Zweige. Basti packte Antarona an den Schultern und drückte sie auf den Boden.
»Gas, das Biest stößt Faulgase aus, Methan oder so etwas, das Feuer steigt nach oben!« Keine Sekunde zu früh. Die Gasblase entzündete sich und sofort standen einige Büsche in Flammen. Antarona deutete auf den Bogen und die Pfeile und sagte rasch:
»Gebt das Sonnenherz!« Sebastian war klar, dass sie eindeutig die bessere Schützin war. Er schob ihr die Waffe hinüber. Mit schnellen, sicheren Handgriffen war sie schussbereit. den Kopf hin und her wiegend, spähte sie durch die Büsche, dann surrte der Pfeil in das scheinbar dichte Blätterwerk. Doch das Geschoss musste sein Ziel erreicht haben. Zur Bestätigung stieß der Gor einen Schrei aus, bei dem Basti das Gefühl hatte, seine Ohre müssten platzen. Die Antwort ließ aber nicht lange auf sich warten.
Gerade noch rechtzeitig warfen sich Antarona und Basti auf den Boden, als die Feuerwalze über sie hinweg ging und in einer grauen Wolke verbrannte. Schnell erkannte Basti, dass das Feuer des Drachen mehr Eindruck machte, als es wirklich gefährlich war. Das Tier stieß Methangas aus und schaffte es irgendwie es zu entzünden. Die kurz ausgeatmete Menge reichte jedoch nicht für einen dauerhaften Flammenwerfer.
Sicher vermochte der Gor bei Trockenheit einen Waldbrand entfachen, oder Felder in Brand stecken. Doch schon bei etwas Wind musste die Feuerkraft deutlich nachlassen. Jede Böe würde das Gas sofort auseinander wehen. Es brannte zwar heiß auf der Haut, doch Basti bezweifelte, dass sein Feuer sie zu verbrennen drohte.
Wieder stieß ein Schwall stinkenden Feuers durch das Gestrüpp, schon deutlich geringer. Anscheinend ging dem Vieh der übel riechende Atem aus. Dafür versuchte das Tier zu Antarona und Sebastian durch das dornige Gebüsch vorzudringen. Der Gor schnappte mit seinen scharfen Zähnen. Sie hörten die Kiefer aufeinander schlagen. Durch seine empfindlichen Flügel war es dem Drachen jedoch verwehrt, sich durch das Gestrüpp zu zwängen.
Antarona erhob sich halb nach dem letzten Feuerangriff des Drachen und zielte mit Pfeil und Bogen durch eine kleine Lücke im Dickicht. Der Pfeil schnellte von der Sehne und traf das große Ziel. Obwohl das Geschoss im Schuppenpanzer des Tieres stecken blieb, ließ sich der Gor nicht im Geringsten davon beeindrucken. Statt dessen wurde er immer wütender.
»Das nützt gar nichts!« schrie Basti seiner Frau durch den Lärm zu. »Du musst ihn am Hals, oder am Bauch treffen. Weiter oben sind seine Schuppen zu dick!« Antarona wusste das selbst, konnte jedoch durch das Unterholz hindurch keinen sauberen Schuss anbringen, der den Gor zumindest aufgehalten hätte. Mit dem Schwert wagte sich Basti nicht an das Ungetüm heran, das in der Schulterhöhe beinahe dreimal so hoch war, wie er selbst.
Ihnen blieb zunächst einmal nichts als die Flucht nach hinten. Über den Hang, den Sebastian heraufgehetzt war, zogen sie sich ein par Meter weit zurück, in der Hoffnung, der Drache würde das Interesse an ihnen verlieren. Diese Annahme jedoch war ein Trugschluss. Unbeirrbar versuchte das Tier mit den festen Hornplatten auf dem Rücken durch die Sträucher zu dringen.
Dabei änderte der Gor seine Taktik. Nachdem er auf konventionelle Weise nicht weiter kam, senkte er den Kopf und wühlte daraufhin mit den Hörnern hin und her, bis er eine Möglichkeit fand, die Dornenbüsche regelrecht auszureißen. So begann das wütende Tier eine Schneise der Verwüstung in den Wald zu schlagen. Lediglich die großen Baumstämme boten noch ein Hindernis, das selbst der Gor nicht aus dem Weg räumen konnte.
Angesichts dieser Entwicklung zogen sich Antarona und Sebastian in nördlicher Richtung, quer zum Hang zurück. Würden sie weiter bergab fliehen, mussten sie unweigerlich irgendwann auf den Strand zurück, wo sie ohne Deckung und jeglichen Schutz dem Drachen ausgeliefert waren. Während sie hofften, dass der Gor bald der Verfolgung überdrüssig werden würde, schoss Antarona immer wieder gezielte Pfeile auf den Drachen ab.
Mindestens drei Geschosse steckten bereits in seinem Hals, ein Pfeil sogar unter seinem rechten Auge. Doch der Gor schien unempfindlich gegen derartige Angriffe zu sein. Er wütete beharrlich weiter, und zwang die beiden immer weiter in die Bergflanke hinein.
Antarona und Sebastian befürchteten, dass der Wald zum Fluss hin lichter werden könnte, und dem Gor ein besseres Vorwärtskommen ermöglichte. Dann mussten sie buchstäblich um ihr Leben rennen. Sie zogen sich weiter über einen Felsaufschwung zurück, und landeten direkt vor der Öffnung zu einer Grotte. Sie lag so verdeckt im Unterholz, dass sie diese ohne die Not ganz sicher nicht entdeckt hätten.
Durch einen breiten Spalt zwängten sie sich in die Höhle und hofften, dass der Gor sie nun nicht mehr fand. Doch das Tier musste einen ausgeprägten Geruchssinn besitzen, denn nach langem Rauschen, Knacken und wütendem Schnauben tauchte sein bizarr wirkender Kopf vor dem Spalt auf.
So grazil der Gor auch aus der Entfernung wirkte, für diesen Felsdurchlass war er einfach zu groß. So versuchte er seinen Gas Atem in den Spalt zu blasen. Doch außer einem kleinen Feuerwerk vermochte er nichts anzurichten. Seine Feuer nährenden Ladungen hatten sich wohl verraucht.
Antarona spannte den Bogen und ein Pfeil zischte aus kurzer Distanz von der Sehne. Im oberen Halsbereich getroffen, schüttelte der Drachen den Kopf hin und her, als wollte er den lästigen Fremdkörper abschütteln. Die Krallen seiner Vorderbeine griffen zornig in den Spalt, wo sein Kopf mit dem grässlichen Maul voller Sensen scharfer Zähne nicht hin kam.
Sofort zog Sebastian sein Schwert und wollte dem Tier die Klaue abschlagen. Doch im letzten Moment hielt er inne, gab dem Gor die Gelegenheit, seine Krallen wieder zurückzuziehen. Antarona sah ihn halb verwundert, hab vorwurfsvoll an. Er zuckte mit den Schultern und fragte:
»Was? Wir sind hier in Sicherheit, warum sollen wir so eine wundervolle Schöpfung der Götter töten, wenn es nicht unbedingt nötig ist?« Mit einem listigen Blick in den Augen antwortete Antarona:
»Habt ihr schon vergessen, Ba - shtie, das Biest wollte uns gerade fressen?« Basti neigte etwas seinen Kopf und erwiderte:
»Dann muss er sich wohl ein anderes Frühstück suchen, nicht wahr?« Als sich Antaronas Miene etwas aufhellte, und er wusste, dass sie über seine Entscheidung glücklich war, fügte er grinsend hinzu:
»Du kannst ihm ja sagen, dass er seine Reiterin verspeisen soll. Dann nimmst du ihren Platz ein, und wir haben einen prächtigen Flieger, der uns überall hinzubringen vermag.«
Aber bereits, als er dies sagte, wurde Sebastian wieder nachdenklich. Er verstand nicht viel von den Tieren in Antaronas Welt, und schon gar nichts von der Dressur derselben.
»Wie ist es überhaupt möglich, dass so ein mächtiges, und wildes Tier einem Menschenwesen gehorcht, noch dazu einem solch üblen?« Er stellte diese Frage mehr sich selbst, doch Antarona verriet ihm das Geheimnis:
»Sie trägt das Zeichen der Gorreiter, Ba - shtie. Sie lockt ihn damit. Zu beginn einer Gor- Reiter- Freundschaft muss der Reiter dem Gor ein Geschenk aus den Tränen der Götter machen. Er nähert sich in ehrfürchtiger, demütiger Haltung dem Gor, und trägt das Geschenk auf offenen Händen. Wenn der Gor die Gabe annimmt, so ist der Beginn einer Freundschaft zwischen beiden besiegelt.«
»Und wenn er es nicht annimmt?« fragte Sebastian dazwischen. Seine etwas naive, aber logische Frage entlockte Antarona ein süßes, ehrlicher Heiterkeit entsprungenes Lächeln.
»Dann solltet ihr gut laufen können«, war ihr knapper Kommentar. Dann lachte sie und fügte beruhigend hinzu:
»Dies jedoch ist selten geschehen. Es heißt, ein Gor vermag den Menschenwesen in die Herzen zu sehen. So vermag er zu erkennen, wer guten Herzens ist, und wer böse ist. All jene, die in alter Zeit Gor- Reiter wurden, waren ehrenvoll und gut.« Sebastian nickte bedächtig und warf ein:
»Was man von der jetzigen Gor- Reiterin wohl nicht gerade behaupten kann, nicht wahr?« Antarona blickte ein wenig ratlos angesichts der Tatsache, dass ihr Ba - shtie in diesem Punkt unbestreitbar Recht hatte.
Inzwischen hatte sich der Gor vor dem Eingang der Grotte etwas beruhigt. Er scharrte mit den Klauen am Fels, als könnte er den Stein beiseite räumen, ab und zu sahen sie seinen mächtigen, von Hörnern und Hornansätzen übersäten Kopf am Spalt erscheinen, wenn er mit seinem gelben Auge mit einem senkrechten, schwarzen Schlitz in der Mitte hereinspähte, doch gefährlich werden konnte er ihnen nicht mehr.
Obwohl es im Innern der Höhle recht kühl war, ließen sich Antarona und Sebastian in einer Ecke auf einem Felsabsatz nieder, um abzuwarten, dass es dem Drachen draußen zu müßig wurde, sie zu belauern. Sie hatten weder eine Decke, noch konnten sie ein Feuer machen. So kuschelten sie sich aneinander und wärmten sich gegenseitig.
Beschützend legte Basti seinen Arm um den nackten Körper seiner Gefährtin. Dabei spürte er ihre Wunden auf dem Rücken. Nur widerwillig ließ sie es zu, das er sich die Spuren ansah, welche die Peitsche auf ihrer Haut hinterlassen hatte.
»Bei den Göttern, die haben dich ja übel zugerichtet«, entfuhr es ihm mit Schrecken, »das müssen wir behandeln, damit keine Narben bleiben«, stellte er fest.
»Wenn auch Narben bleiben, Ba - shtie, so sind es nicht bedeutendere Zeichen, als dieses Land sie durch Torbuk und Karek erhält. Und sie werden Sonnenherz stets daran erinnern, wofür sie Kämpft«, beteuerte sie nüchtern.
»Trotzdem müssen wir sie versorgen, damit keine Entzündung entsteht.« Er versuchte sie so sanft und behutsam zu umfassen, wie es möglich war, ohne ihr weh zu tun, und sie nahm es mit einem dankbaren Lächeln an. In diesem Augenblick stellte Basti etwas fest, das er schon oft erfuhr, ohne es bewusst wahrzunehmen. Nun empfand er es ganz deutlich. Ihr Lächeln war das größte Geschenk, das er in dieser Welt bekommen konnte!
Draußen schnaubte und rumorte wieder der Drachen. Das brachte ihn auf eine glorreiche Idee. Basti sah sich um, sammelte ein par Steine vom Boden auf, und ein par Zweige und Äste, die irgendwelche Tiere in diese Höhle geschleppt hatten. Die Reste von Sträuchern und Bäumen häufte er vor ihrem Sitzplatz auf.
Erstaunt sah ihm Antarona zu. Sogleich aber hellte sich ihre Miene auf, denn sie begriff, was ihr Mann vor hatte. Rasch hob sie ebenfalls ein par Steine auf und stellte sich hinter Sebastian, der sich vor dem Spalt positionierte.
»Gib mir die Steine und nimm einen der kleinen Zweige, riet er ihr.« Antarona tat, wie ihr geraten. Basti ließ daraufhin seine Stimme laut und provokant erklingen:
»Heda, du dummes Vieh, hörst du mich? Komm her und hol dir eine blutige Schnauze, du Ausgeburt der Hölle!« Sofort erschien der Kopf des Drachen vor dem schmalen Höhleneingang.
Basti zögerte nicht und begann den Gor mit den Steinen zu bombardieren. Allerdings zielte er nur auf dessen Brust, um das Tier nicht unnötig zu verletzen. Doch die Reaktion auf seine Attacke ließ nicht lange auf sich warten. Schon stieß der stinkende Atem des Drachen durch den Eingang. Dann sah es Sebastian genau. Ein kleiner Funke im hinteren Kieferbereich des Gor entzündete das ausgestoßene Gas.
Geistesgegenwärtig packte er Antarona, riss sie zur Seite in den Schutz der Felsen, und hielt nur ihren Arm mit dem Zweig vor den Eingang. Die Feuerwalze, die durch den Eingang geschossen kam, hätte sie ordentlich versengt. So aber brannte nur der kleine Zweig.
Sofort entzündeten sie damit den kleinen Reisighaufen. Basti wiederholte das Spiel mit dem Gor noch ein par Mal, bis die Feuerstöße deutlich an Wirkung verloren. In der kleinen Grotte war es spürbar wärmer geworden. Sie kuschelten sich vor das Feuer und Sebastian bemerkte zufrieden:
»Na bitte, geht doch. Man muss nur den Ofen anheizen.« Selbst Antarona, die seinen Sarkasmus nicht verstand, musste lachen. Mit etwas mehr wissenschaftlichem Ernst fügte er hinzu:
»Zumindest wissen wir jetzt, wie lange ein Gor braucht, um sein Feuer neu zu nähren.« In diesem Moment hörten sie draußen einen lang gezogenen Pfeifton, wie von einer Flöte, oder Trillerpfeife. Der Gor setzte sich daraufhin geräuschvoll in Bewegung, der Lärm wurde leiser, und erstarb schließlich ganz. Sebastian sah seine Frau verwundert an.
»Haben die etwa aufgegeben? Dieser ganzer Aufwand für Nichts?« Er schüttelte verständnislos den Kopf. Doch er blieb wachsam, legte die Waffen griffbereit zu ihren Füßen hin, bevor er sein Krähenmädchen wieder umsorgend in den Arm nahm.
»Eigenartige Biester, diese Gore«, dachte Basti laut, »Grausam, wild, und lassen sich doch von Menschenwesen zähmen.« Antarona blickte ihn nachdenklich an und berichtete:
»Gore waren den Menschenwesen seit der alten Zeit freundlich gesinnt, solange sie von ihnen ebenfalls gut behandelt und geachtet wurden. Doch es gab oft Missverständnisse, welche den Frieden zwischen ihnen störten. Irgendwann gab es nur noch jene Gore, die feindlich waren, und solche, die von Gor- Reitern gezähmt waren. Die Alten erzählen von anderen Zentaren.«
»Von was für Zentaren?« wollte Basti wissen. Antarona hob wie gleichgültig und unwissend die Schultern und antwortete:
»Zentaren, in denen die Gore von den Königen des Landes geschützt wurden. Dafür halfen die Gore den Menschen. So, oder ähnlich«, mutmaßte sie. Plötzlich hob sie ihr Gesicht und fragte:
»Ba - shtie, wisst ihr nicht um die alte Mär von Faungor und den Karolingern? Jene Geschichte, welche die Alten während des langen Schnees an den Feuern erzählen?« Sebastian schüttelte entschuldigend den Kopf.
»Nein, die habe ich im Reich der Götter dann wohl auch vergessen«, meinte er mit gespielter Verzweiflung und fragte neugierig:
»Aber wenn du mir davon erzählen magst, so will ich gerne zuhören, bis wir wieder aus diesem Loch heraus können.« Antarona schmiegte sich an ihn, sie streckten ihre Füße bis dicht an das kleine Feuer. Dann begann sie zu erzählen:

Es war einmal, vor langer, langer Zeit, als das Land Volossoda noch Karolingen hieß, als das große Wasser noch Eis war, als die Wälder noch Grasland waren, und Falméra noch ein karger Felsen im ewigen Eis, auf dem nichts wuchs. Es war in einer Zentare, in der das Val Mentiér noch jener kleine, fruchtbare Ort inmitten des Eises war, wo die Götter zur Erde kamen, der von einem heißen Wasser aus der Erde gedieh.
Da lebte in einem gar nicht so fernen Land, dort wo heute die Oranuti leben, ein mächtiger König namens Clodewig aus dem Geschlecht der Karolinger. Sein großes, fruchtbares Reich erstreckte sich von der Kante des Eises und der Küste des großen Wassers, über urwüchsige, undurchdringliche Wälder, über ertragreiche Wiesen und Äcker, bis hin zu den hohen, steilen Bergen des ewigen Schnees.
Das Land war reich an Volk und Saat, an Wald und Wild, an Quellen und an den Tränen der Götter. Dennoch plagten Clodewig große Sorgen. Ein Reich, so groß wie das seine, wollte geschützt und gegen jedwede Feinde verteidigt sein. So kam er nicht umhin, stets in neue Kriege und Schlachten zu ziehen, gegen jene Mächte, die seine Grenzen bedrängten.
Talris Lehren standen noch auf unsicheren Beinen, doch Clodewig, einer der ersten Könige nach den Göttern, hatte bereits den Gedanken an die Liebe zu seinem Volk unter dem Schutze Talris in seinem Reich manifestiert. Es brachte dem Volk sein Auskommen, dem Wissen einen guten Lohn, und ihm, dem König den Erhalt und Ausbau seiner Macht in jenen Zentaren.
Doch all dieses Gut war vergänglich, war aufstrebend und verfallend mit seinem Leben, oder seinem Tod. Clodewig erkannte, dass Erben aus erster Linie ebenso wichtig waren, wie die eiserne, aber gütige Hand, mit der er sein Reich führte und lenkte.
Da nahm sich Clodewig bereits in jungen Jahren eine Frau, mit welcher er sich nach den Geboten Talris verband. Zenohi war die Tochter eines Landesfürsten, welcher ihm zu Lehen stand. Sie gebar ihm in Folge drei Söhne. Conrad, Gilhard und Carolus. Da sie ein fruchtbares Weib war, brachte sie noch eine Tochter zur Welt, bevor sie im Kindbett zu den Göttern Talris berufen wurde.
Clodewig nannte sein jüngstes Kind Nehiamate, was in der alten Sprache des Landes soviel bedeutete, wie Frauenmut oder mutige Frau, oder mutige Kriegerin. Und so wie das Kindlein klein und von zierlicher Gestalt war, und dennoch gegen den Tod und für das Leben kämpfte und ihn im Schutze seiner Amme besiegte, so bat er Talris das Kind unter diesem Namen unter seine Obhut zu nehmen.
König Clodewigs Kinder wuchsen behütet und sorglos auf. Sie erhielten stets, was sie begehrten und lernten, was ihnen ihr Vater zugedacht. Conrad sollte ein mächtiger Krieger werden. Und so ließ ihn der König an Schwert, Lanze und Schild, zu Fuß und auf den Pla-ka ausbilden, und die Kunst der Waffen- und Kriegsführung erlernen.
Gilhard hingegen erschien ihm sanftmütiger und verständiger. Und so ließ ihm der König das Wissen um die Rechte der Stände, die Kenntnis um das Machtgefüge der Welt, sowie das Geschick der Verhandlung mit den mächtigen Nachbarn angedeihen.
Carolus war, wenn auch der schmächtigste, jedoch der klügste seiner Söhne. Ihn ließ er durch Athanasius, einen großen und erfahrenen Magier, sowie von seinen Gelehrten und Beratern unterrichten. Seinen Geist sollte er mit dem Wissen all der Gelehrten unter Talris Himmeln füllen. Er sollte die Sterne und deren Bedeutung erlernen, die Kenntnisse der Alchemisten, die Heilkunst der Pflanzen und Kräuter, das Wissen über die Verhältnisse aller Dinge zueinander sowie die Kunde des Lesens, Schreibens und des Rechnens. Auch sollte er die Lehren Talris in allen Auslegungen erlernen, und die Lehre der Planung und Erbauung von Kathedralen und Burgen.
Clodewig glaubte, dass sein Land die Ewigkeiten überdauern würde, wenn seine Söhne gemeinsam in der Lage waren, das Reich nach seinem Tode mit dem Geschicke der Verhandlungskunst, der Stärke der Heerlager und dem ganzen Wissen jener Tage weiterführten. Er meinte, dass nichts auf der Welt wagen mochte, einer solchen Macht entgegen zu treten.
Doch er ließ eines außer Acht, dass dem Menschenwesen seit je her nicht bestimmt war zu steuern. Rana-tahi. Und ausgerechnet jener kleiner Teil der Fügung eines Menschenlebens bewog, dass der Name der Karolinger alsbald von den Landkarten getilgt war.

»Rana-tahi?« fragte Sebastian dazwischen, und unterbrach Antaronas Erzählung, »was ist Rana-tahi?« Antarona dachte kurz nach, dann antwortete sie unsicher:
»Rana-tahi ist bei den Îval jenes, das ihr Schick-sal nennt.« Basti überlegte eine Sekunde, dann nickte er. Das machte Sinn. Nachdem er wieder ein Wort Îval gelernt hatte, fuhr Antarona mit dem Märchen fort:

Seit dem Tode Zenohis, der Gattin des Karolingers, waren sechs Jahre ins Land gezogen. Die Kinder König Clodewigs gediehen prächtig. Conrad, der älteste, bereits mit zehn Jahren erster Knappe in einem der Heerlager, vermochte inzwischen besser zu reiten, als seine Lehrherren. Auch im Umgang mit dem Holzschwert zeigte er großes Geschick und rief stets das Erstaunen gestandener Krieger hervor. So erwarb er sich alles, was die Herren der Rittmeisterei ihm an Stärke, Tugend und Ehrhaftigkeit antrugen.
Auch der zweite Sohn, Gilhard, war mit neun Jahren ein gelehriger Knabe. Er verstand es mittlerweile jeden im Gesinde, und sogar einige der reisenden Händler mit seiner List zu übertrumpfen, was ihm hier einen Quart, dort eine zusätzliche Mahlzeit, oder gar ein Lehenversprechen einbrachte. An Tücke und Verschlagenheit kam ihm kein anderer seines Alters nach. So verinnerlichte er alles, was ihm die Minister und Kämmerer angedeihen ließen.
Carolus war mit seinen sieben Jahren noch recht verspielt. Dennoch kannte er bereits jene Sterne, die in der Nacht über der Burg standen, wusste mittlerweile um einige Kräuter, welche Gesinde und Hoftiere gleichermaßen wirr im Kopf machten, und verstand es bereits vortrefflich zu lesen und zu schreiben. Auch die Kunst der Ziffern ging ihm recht gut über die Finger. So lernte er alles, was ihm der Magier und Gelehrte Athanasius beizubringen vermochte.
Nehiamate war mit fünf Jahren noch ein Kind. Auf sie achtete kaum jemand. Für die Lehre der Sittsamkeit und Koketterie war sie noch zu jung. Doch für die Amme, die kaum mehr hinter dem behänden, aufgeweckten Kinde her kam, war sie inzwischen zu alt. Niemand sonst, außer der alten Amme, welche selten die Kemenate verließ, kümmerte sich um das wissbegierige Mädchen, die kleine Prinzessin, die eben einfach da war, zum Hof gehörte wie der Brunnen und das Vieh, und der man Schulter zuckend alles duldete und durchgehen ließ, weil sie die Tochter des Königs war.
Die hübschen, seidenen und samtenen Kleidchen, die Nehiamate in ihren Truhen gelagert hatte, interessierten sie nicht. Jeden Tag, den Gott werden ließ, bevor die Amme aus dem Schlaf erwachte, schlüpfte die kleine Prinzessin in den abgetragenen Rali, den Lederschurz, welchen sie einmal aus dem Gesindehaus entwendet hatte, und machte sich auf den Weg, ihre Welt zu erkunden.
Und war ein Tag noch so angefüllt von neuen Entdeckungen, Erfahrungen und Erkenntnissen, das muntere, wissensdurstige und kluge Kind wurde nicht müde, alles zu begutachten, zu betrachten und auszuprobieren, was ihr über den Weg und vor die kleinen, nackten Füße kam. Denn die Zeit und Mühe, sich königliche Schuhe anzuziehen, nahm und machte sie sich nicht.
Auch kämmte sie sich nicht ihre langen Haare, die widerspenstig in ihr Gesicht fielen, und ebenso wenig hielt sie vom Bade im Zuber mit Rosenblüten. Viel lieber sprang sie mit den anderen Kindern des Hofes in einen Bach, oder in den Umflutgraben der Burg, oder in den Fischweiher vor dem herrschaftlichen Sitz, und flocht sich die bunten Federn der Vögel in ihre langen, schwarzen Haare.
Sie tollte mit den Kindern des Gesindes, der Bediensteten und der Bauern herum, scherte sich nicht um die Regeln der Amme und noch viel weniger um die Gebote, die ihr der dicke, gutmütige Hofpriester Vater Martinus beizubringen versuchte. Dafür steckte sie ihr kleines Näschen in alles, das ihr unbekannt war.
Clodewig, ihr Vater, war wegen seiner vielen Kriegszüge selten am eigenen Herd. Und so verwunderte es nicht, dass das Mädchen einer starken, führenden Hand entging. Ihr Herz prägte ihre Sinne und das Leben ihren Verstand.
Die kleine Prinzessin entdeckte ihre eigene Welt und folgte ihrem eigenen, wachen und mutigen Geist. Jeder ihrer Tage war angefüllt von neuen Eindrücken. Mal tauchte sie in der Bäckerei auf und sah zu, wie das tägliche Backwerk in den Ofen kam. Dann wieder stand sie beim Schmied an der Esse und schlug sich ein eigenes Messer. Ein anderes Mal interessierte sie sich für das Werk des Steinhauers, der die mächtigen Bogen für das neue Burgtor errichten ließ.
Heimlich beobachtete sie ihren Bruder Conrad bei den Waffenübungen, belauschte Gilhard, wenn er seine Lektionen in Herrschaftskunde bekam, und schlich sich in das Turmzimmer, oder das Kellergewölbe, wo Carolus in die Geheimnisse der Wissenschaft und Alchemie eingeweiht wurde.
Kurzum, das Mädchen war überall zu finden, wo es etwas aufzuschnappen galt, etwas zu lernen, zu sehen, zu hören gab, wo etwas los war, wo es etwas entdecken konnte. Bald hatte sich ein jeder auf der Burg und in den umliegenden Dörfern und Städten daran gewöhnt, dass sie allgegenwärtig wie die Fliegen auf dem Mist war.
Dabei war Nehiamate von guter Wesensart. Sie drohte bereits in Kindesbeinen mit dem Schwert ihres Vaters, wenn einem aus dem Volke Unrecht geschah. Sie half jenen, die der Hilfe bedurften und sie tröstete dort, wo Verständnis gefordert war. Sie gab denen, die in Not waren. Und sie galt schon in jungen Jahren als klug und weise, denn sie verstand es, das Wissen, das sie überall aufschnappte, dort weiterzugeben, wo es gebraucht wurde.
Überall im Lande nahe der Burg, war sie willkommen, geachtet und beliebt. Ja schon mit zehn Jahren wurde sie ein ums andere Mal von den Bauern und Bürgern um Rat gefragt. Dabei sah das Volk nicht die Prinzessin in ihr, die eines Tages in ein fernes Land verheiratet werden würde.
Für das Volk war sie so etwas wie ein guter Geist, das Herz und die Seele des Landes, das Ohr der Mächtigen an der Stimme des Volkes. Einige nannten sie die Prinzessin mit dem großen Herzen, andere sagten ihr sogar heilende Kräfte nach.
Doch nicht nur sie gab dem Volke Rat, Zuversicht, Trost und Freundschaft. Auch das Volk beschenkte sie reichlich. Mit einem Reichtum ganz anderer Art. Die Menschen bedachten sie mit Erfahrungen und Erkenntnissen, den guten und den bösen, die dem Mädchen zugute kamen.
Während ihre Brüder studierten, was ihnen die höfischen Lehrer vermittelten, lernte die Prinzessin vom Leben, vom Herzen der Menschen und des Volkes. Sie lernte zu unterscheiden, was gut und was böse war, was notwendig oder unwichtig, und welches als die wahren Tränen der Götter eines Landes galten.

Sebastian unterbrach erneut ihre Geschichte, indem er seinen Arm auf ihren Schenkel legte, ihr tief in die Augen sah und geheimnisvoll fragte:
»Diese Nehiamate in der alten Mär; kann es sein, dass es sie immer noch gibt, und dass sie in diesen Zentaren Antarona heißt?« Etwas verlegen und errötete blickte das Krähenmädchen zu Boden, als wäre ein kleines Mädchen bei seinem ersten Rendezvous ertappt worden. Dann gab sie offen zu:
»Wie Nehiamate, so sollte jede Îval sein. Ja, Ba - shtie, Sonnenherz fühlt wie Nehiamate, sie fühlt für das Volk, für jene, die unterdrückt werden und ungerecht behandelt werden.« Sie legte sanft aber bestimmt einen Finger auf seine Lippen und sprach:
»Doch höret weiter, Ba - shtie.« Als wäre sie nie unterbrochen worden, setzte sie ihre Geschichte, geboren aus einem alten Îval- Märchen fort:

Eben zu jener Zeit begab es sich, dass barbarische Stämme die Grenzen des Landes bedrohten. Immer häufiger musste Clodewig ausziehen, um das Land vor den wilden Horden zu schützen, sie zurückzuwerfen und außer Landes zu treiben. Immer schwieriger wurde es für ihn, das große Reich vor feindlichen Fürsten und ihrem Machtstreben zu bewahren.
Einmal drohte ein uralter, beinahe vergessener, starker Feind das Land vom großen Wasser her mit vielen Wasserwagen anzugreifen. Mit einer mächtigen Armada segelte das gegnerische Heer auf die Küste zu. Rasch mussten alle Ritterstände, mit ihren Heerlagern und Kriegern in Marsch gesetzt werden, um die Bedrohung abzuwenden.
Doch mitten in die langen Vorbereitungen erging die drohende Kunde, dass der Feind an der Küste gelandet war, bereits ins Land drängte, mordete, plünderte und brandschatzte. Angesichts der großen Gefahr duldete des Königs Anwesenheit an der Spitze seiner Heerscharen kein Aufschub mehr.
Und noch niemals zuvor war die Angst Clodewigs größer, nicht mehr lebend aus einer Schlacht zurückzukehren. Unter dieser Ahnung und dem Umstand geschuldet, dass seine Söhne noch nicht erwachsen genug waren, um das große Reich führen zu können, machte er sich den Kopf darüber schwer, wer das Land regieren mochte, sollte er im Kriege den Tod finden.
Da gab ihm sein Vertrauter und gelehrter Berater Athanasius einen geheimnisvollen Rat. Daraufhin zog Clodewig in das hohe, wilde Felsenland des Gebirges, das sein Reich im Süden begrenzte. Hier lebte bereits ein wilder, Feuer speiender Gor, einer der Ersten seiner Art, die in diesen Zentaren die Lüfte beherrschen.
Die ersten Gore jener Tage waren schon nicht die angenehmsten Wesen. Sie waren klug, keine Frage, doch ebenso verschlagen, und bereits in jenen Zentaren glaubten viele, dass sie den Menschenwesen in die Herzen und Seelen schauen konnten. Aber sie waren eben auch Raubgetier, welche den Bauern mancher Dörfer arg zusetzten.
Sie rissen Schafe, Ziegen, Rinder, selten sogar Pla-ka. Wenn die Bauern dann unter Führung mutiger Heerführer auszogen, den Goren den Garaus zu machen, konnten sie damit großes Unheil heraufbeschwören. Vermochten sie den Gor nicht zu töten, und verletzten ihn nur, oder eines seiner Jungen, dann nahmen die Tiere gar fürchterliche Rache.
Sie kamen über die Dörfer und Felder und verwüsteten unter den flammenden Stößen ihres Atems ganze Landstriche. Daher war es Clodewigs stetes Ansinnen gewesen, mit den mächtigen Herrschern der Lüfte in Frieden zu leben, mochten sie dann und wann auch ein Haustier reißen. In diesem Fall, so bestimmte es ein Erlass des Königs, konnten die Bauern aus der königlichen Kasse ein Entgelt fordern, das dem Wert des jeweiligen Hoftieres entsprach.
Seit diesem Erlass kam es nur noch selten zu Auseinandersetzungen zwischen Goren und Menschenwesen. Überdies war es jedem im Volke, egal welchen Standes untersagt, Jagd auf Gore, nur um des Jagens Willen, zu machen. So kam es, dass es der Gore in den folgenden Zentaren so viele gab, bis zu diesem Sonnenlauf.
Clodewig suchte nun in schroffen Felsen, in Höhlen und tiefen Wäldern nach Faungor, jenem Gor, welcher zuletzt vor zwei Wintern ein ganzes Dorf am Fuße der Felsenberge verbrannt hatte. Seit Alters her ist bekannt, dass Gore von Schätzen aus den Tränen der Götter angelockt werden. Also führte Clodewig etwas mit sich, dem ein Gor niemals wiederstehen würde.
Unter seinem Gewand trug er das Siegel des Landes, auch Reichssiegel genannt. Es war ein großes, massives Siegel, aus echten, schweren Göttertränen. Er war das einzige Siegel, welches die Türen eines Flügels im Kellergewölbe der Burg zu öffnen vermochte, in welchem die Va-ra-hi, die Heiligtümer des Reiches verborgen lagen:
Der Königliche Schatz mit Truhen voller Tränen der Götter, mit den Tränen des Mondes und Edelsteinen, die Königskronen und die Königssiegel, sowie die königlichen Gesetze des Landes, die als Weisung für jeden Stand gelten sollte, befanden sich hinter diesen Zentaren dicken Türen aus einem Holz, das so hart wie Stein war. Ohne diese Reichssymbole durfte niemand das Land regieren.
Nach sechs Tagen schließlich fand Clodewig den Drachen Faungor, der in einer Höhle, hoch oben zurückgezogen in einer Felsenfeste hauste. Als sich Clodewig seinem Unterschlupf näherte, erschien das mächtige Tier an der Felskante und blies ihm seinen flammenden Atem entgegen.
Nur knapp entging Clodewig dem Feuerstoß, indem er sich hinter seinem Schild und einem Felsen verbarg. Dann trat er mutig hinter seiner Deckung hervor und rief dem Gor zu, dass er in Frieden gekommen war, und dass er Faungor untertänigst um einen Dienst bitten wollte.
Der Gor sah ihn mit durchdringendem Blick seiner stechenden, gelben Augen mit dem schwarzen Schlitz darin an und ließ ihn herankommen. So nahe ließen Gore selten ein Menschenwesen an sich heran. Der König holte schweren Herzens das goldene Siegel unter seinem Gewand hervor, und als Faungor sein Haupt neugierig dem glänzenden Gegenstand entgegen neigte, warf ihm Clodewig die Kette, an dem das Siegel hing, über den Hals.
Dazu sprach er feierlich: »Allein jener, welcher es dir wieder abzuringen vermag, soll nach meinem Tode der König dieses Landes sein! Bewahre es gut, O Faungor, in deinen Schutz befehle ich dieses Reich, bis zu jenem Tage, da ich das Siegel selbst zurück fordere, oder einer meiner Nachkommen würdig genug ist, es zu führen!«
Damit zog sich Clodewig mit demütig geneigtem Kopf zurück. Faungor schüttelte heftig sein hässliches, braunes Haupt, ließ seine Augen aufblitzen und zog sich schnaubend in den tiefen Stein zurück.
Kurz darauf zog der König an der Spitze seines Heeres in die entscheidende Schlacht. Mit seinen Recken, Schildmannen und Bauern kämpfte er drei Tage und drei Nächte. Dann besiegte sein Heer die barbarischen Eindringlinge und drängten sie ins große Wasser zurück. Doch Clodewig erlebte den Sieg nicht mehr.
Von einer Lanze durchbohrt lag er sterbend auf Felle gebettet, umringt von seinen Vertrauten und Heerführern. Mit seinen letzten Worten verriet er den Anwesenden, wo das Reichssiegel zu finden war. Dann folgte er seiner Zenohi in das himmlische Reich Talris und der Götter.
Die Kunde vom Tod des Königs erreichte die Burg, und das Volk feierte und trauerte zugleich. Die Menschen waren froh, dass die große Gefahr durch die Barbaren gebannt war. Gleichzeitig aber fiel das ganze Land in eine lähmende Trauer. Clodewig war den Menschen in seinem Reich durch seine guten Taten und sein Wohlwollen dem Volk gegenüber ein guter Herrscher gewesen, den das Volk liebte und dem es vertraut hatte. Nun war er nicht mehr da. Niemand war da, der hätte würdevoll in seine Fußstapfen treten können.
Conrad, Gilhard und Carolus waren noch zu unerfahren, als dass sie hätten das große Land regieren können. So begannen die Minister, Heerführer, Stadthalter und Kämmerer um die Macht zu streiten. Ein jeder wollte König des Landes werden und sich an den Reichtümern gütlich tun. Doch niemand vermochte sein Ziel zu erreichen, denn keiner von ihnen konnte des Reichssiegels habhaft werden.
Mittlerweile wusste selbst jedes Kind im Lande, dass Faungor das Siegel des Reiches um den Hals trug. Aber niemandem gelang es, das Siegel aus den Tränen der Götter zu bekommen. Einige Minister und Heerführer machten sich auf den Weg in die Berge, um Faungor das Siegel abzunehmen.
Einige kehrten nie wieder von ihrer Reise zurück, andere kamen als Geschlagene daher, mit gebrochenen Armen und Beinen, oder sie hatten den Verstand verloren. Die Türen im Gewölbe, die Zugang zu den Heiligtümern des Landes gewährten, blieben verschlossen.
Sogar ein ganzer Tross mit Reitern, Fußvolk und Wagen zog aus, machte sich auf den beschwerlichen Weg in die unwegsamen Berge, um den Gor zu töten. Ein einzelner Recke, im Geiste gebrochen und am Leibe verstümmelt, kehrte zurück. Er sprach nie wieder. Niemand erfuhr, was geschehen war. Doch jeder sah mit Entsetzen die eine verbrannte Hälfte seines Antlitzes, die den Mann für den Rest seiner Tage entstellte.
Jahr um Jahr verfiel das Reich. Gesetze wurden nicht mehr beachtet, oder nach Gutdünken zum Wohle Einzelner verbogen. Kleine und große Inseln der Macht bildeten sich, und jeder begann jeden zu bekämpfen, um seinen Willen durchzusetzen.
Das Volk litt unter den Zwistigkeiten und sehnte sich die starke Einheit des Reichens zurück. Faungor der Drache wurde indes immer grimmiger und furchtbarer, je mehr sich in seine Nähe wagten, um ihm das Siegel des Reiches zu entreißen. Im Süden Landes brannten bald wieder die Dörfer und Felder, je mehr Wagemutige den Drachen bedrängten.
Im Norden drohte der alte Feind erneut mit einer großen Streitmacht in das Reich einzufallen. Die zerstrittenen Stadtfürsten, Minister und Heerführer waren nicht in der Lage, Volk und Soldaten in eine wehrhafte Verteidigung des Landes zu bringen.

Sebastian hörte gespannt Antaronas Geschichte zu, obwohl von dem Drachen vor der Höhle nichts mehr zu hören war. Doch er unterbrach das Krähenmädchen nicht mehr. Viel zu versessen war er auf die alte Mär. Er hatte verstanden, dass in den Geschichten, welche die Alten erzählten, ein guter Prozentsatz Wahrheit enthalten war. Diese Wahrheit vermochte ihm allmählich das große Puzzle zusammenzusetzen, das irgendwann als fertiges Bild seine Fragen beantworten konnte. Gespannt lauschte er weiter Antaronas Erzählung.

Inzwischen war aus Conrad ein gestandener junger Mann geworden. Er beherrschte das Kriegshandwerk wie kein anderer, hatte gegen erdachte Feinde gekämpft, die freilich nur Puppen aus Stroh waren, oder von Pferdeknechten gespielt wurden, und war aus vielen Turnieren des Landes siegreich hervorgegangen. Einem wirklichen Feind aber hatte er niemals gegenüber gestanden.
Gilhard wurde mittlerweile mehr gefürchtet, als sein älterer Bruder, obgleich er selten eine Waffe in der Hand hielt. Er beherrschte das Spiel zwischen Macht, Korruption und Heuchlerei, zwischen Wahrheit und Rechtsbeugung so perfekt, dass er selbst einigen Intriganten des Hofes überlegen war. Dabei war er keineswegs böse, und hatte stets das Wohl seines Vaters Erbe im Sinn. Doch den Weg, den er dabei beschritt, mochte niemand wirklich als ehrenhaft und gradlinig bezeichnen.
Auch Carolus war mit seinen achtzehn Jahren zu einer herausragenden Persönlichkeit geworden. Kein Urteil und keine Niederschrift wurde verfasst, ohne seine Meinung zu hören. Er besaß mit seinem jungen Alter auf vielen Wissensgebieten bereits die Gelehrtheit eines Fünfzigjährigen. Sein Wissen um die Künste und Wirkung von Heilmitteln oder Giften waren nicht nur anerkannt, sondern gefürchtet. Niemand wagte seine Meinung in Zweifel zu ziehen, aus Angst, er würde am nächsten Tag nicht mehr das Licht Talris erblicken. Einige hielten ihn sogar für einen noch größeren Zauberer und Magister, als den alten Athanasius, der inzwischen sehr gebrechlich geworden war.
Allein Nehiamate machte in anderer Weise von sich Reden. Das, was man über sie hörte, wurde allerdings nur hinter vorgehaltener Hand gesprochen. Sie war nicht die brave Prinzessin geworden, die am Spinnrad in ihrer Kemenate saß und auf einen würdigen Freier wartete.
Sie tauchte überall dort auf, wo die Not des Volkes am größten war. Sie half bei Geburten, bei Seuchen, beim Bau von neuen Brunnen und kümmerte sich um die vielen Waisen im Lande. Sie ging zur Jagd, ein Privileg, das sie als Tochter des Königs noch immer in Anspruch nehmen durfte, und verteilte das Fleisch an die Not leidenden Menschen ihres Volkes. Sie plünderte mit verbündeten und Freunden Speicher und Lagerstätten und gab den Armen das Korn, um Mehl für das tägliche Brot zu mahlen. Keinem Unrecht sah sie tatenlos zu. Ein gesunder Verstand gebot ihr zu tun, was ihre Brüder unterließen.
Einige Male geschah es, dass ein oder mehrere Übeltäter nach dem Gesetz hingerichtet werden sollten, die jedoch nach der Meinung des Volkes unschuldig waren. Stets tauchte in letzter Minute ein geheimnisvoller Reiter im Bettlergewand auf und befreite den oder die Verurteilten, meist in einem Akt heldenhaftem Draufgängertum. Die heimliche Stimme des Volkes vermutete Nehiamate unter der Maske des unbekannten Bettelmannes. Doch dies offen auszusprechen, wagte niemand.
Viele Heldentaten wurden der inzwischen Siebzehnjährigen zugeschrieben, die sie allein kaum hätte vollbringen können. Für das Volk aber war sie die Hoffnung der Hoffnungslosen geworden. Wo sie erschien, kam das Licht zurück in die Herzen der Menschen.
Freilich blieb das auch denen nicht verborgen, welche die alleinige Macht im Lande anstrebten. Doch das Mädchen wurde von seinen Brüdern geschützt, und bei manchen Gelegenheiten stellte sich überraschend heraus, dass sie sehr wohl auch selbst hervorragend mit Schwert, Lanze, Pfeil und Bogen umzugehen wusste.
Das Mädchen, dem man stets kaum Beachtung schenkte, hatte sich durch ihre uneingeschränkte Freiheit Gaben angeeignet, die sie zu Vielem befähigten, das man mit einer Prinzessin gewöhnlich nicht in Verbindung bringen mochte.
Da nun eine Zeit angebrochen war, in der das Reich mehr als bisher in bedenklicher Weise zu zerfallen und zu verwahrlosen drohte, machten sich einige der alten Getreuen König Clodewigs Gedanken darüber, wie das Land denn noch zu retten war. Sie befanden, dass es endlich an der Zeit war, die Thronerben mit der Regentschaft des Landes zu betrauen, bevor Gesetzlosigkeit und Barbarei nicht mehr aufzuhalten waren.
So wurden die drei Brüder Conrad, Gilhard und Carolus gleichsam zu Königen erklärt. Alle drei sollten mit gleicher Stimme und einvernehmlich mit dem Rat der Minister regieren. Bald darauf gab es ein großes Fest. Zur Krönungsfeier wurde eigens ein hoher Priester bemüht, um die gekrönten Häupter nach dem Glauben Talris zu segnen.
In einer prunkvollen Krönungsfeier und anschließender segnender Zeremonie wurden die Kronen symbolisch auf die Häupter der drei Brüder gesetzt, denn die echten Kronen blieben ohne das Siegel des Reiches in den Gewölben der Burg verschlossen.
Rauschende Feste und aufregende Turniere wurden abgehalten, und es schien, dass das ganze Land in Feierlichkeiten versank. Zum größten Fest aber wurde zu Füßen der königlichen Burg geladen. Tage lang trafen Trosse mit Heerführern, Fürsten und Stadthaltern ein. Bauern brachten Schlachtvieh, Gemüse und Getreide, Holz für die Turnierbühnen und Reitställe. Fahnen wehten von den höchsten Zinnen und kündigten die neuen Könige weithin sichtbar an.
Es gab Audienzen sowohl für den Adel, als auch für das Volk, Amnestien und Begnadigungen für Diebe und kleine Betrüger, neue Erlasse, die den Bauern und Bürgern das Leben erleichtern sollten. der Höhepunkt aller Festlichkeiten war das große Reiterturnier mit Jagd und Gauklerei sowie mit einem ganzen Heer von Spielleuten.
Doch eines wurde im Überschwang des Trubels vergessen. Mochten auch die Minister, die hohen Priester und Würdenträger den neuen Königen ihren Segen und Beistand versprechen, regieren konnten sie dennoch nicht. Den frisch Gekrönten fehlte das Siegel des Reiches.
Kein Beschluss, kein Gesetz, kein Erlass und keine Amnestie besaß Gültigkeit, solange Faungor das Reichssiegel um seinen Halse trug. Die drei Brüder kümmerte das wenig. Sie meinten, im Lande schalten und walten zu können, sobald sie die Würde der Krone trugen, von denen drei Stück aus Holz nach dem Vorbild Clodewigs Krone angefertigt wurden.
Am Tage des Turniers bereiteten sich die Brüder auf den von allen gespannt erwarteten Wettkampf vor. Conrad, Sieger in vielen landesweiten Turnieren, sah sich bereits auch aus diesem Wettbewerb als Gewinner hervorgehen.
Gilhard hingegen wusste, dass er wohl ein Schwert und eine Lanze zu führen vermochte, doch einen Sieg erwartete er nicht. Er griff zu einer List. Am Tage vor dem großen Ereignis ließ er mit Tränen der Götter und des Mondes die Turnierrichter bestechen, und auch der eine oder andere Knappe bekam ein Säckel klingender Quarts, damit er dem Herren das Sattelzeug nicht allzu fest schnürte. Siegessicher streckte er sich auf seinem Lager zum Schlafe.
Aber auch Carolus wollte als siegreichster der Brüder vom Platz schreiten. Kaum der Waffenführung kundig, suchte er seinerseits nach einem tückischen Plan. Er braute aus gelben Steinen, Salzen und Destillaten eine Tinktur, mit der er heimlich in der Nacht die Fesseln der Pferde seiner gefährlichsten Gegner einrieb. Außerdem übergoss er die Schwerter jener Krieger, die Aussicht auf Sieg hatten, mit einer anderen Tinktur, die das Eisen mürbe machte. Zufrieden legte er sich zur Ruhe.
An Nehiamate verschwendete niemand auch nur einen Gedanken. Wurde sie schon als Kind nicht wahrgenommen, so dachte nun erst recht niemand an sie. Die alte Amme war inzwischen verstorben. Und so fiel niemandem auf, dass die einzige Prinzessin des Landes bei dem fürstlichen Frühstück am Morgen des Turniers fehlte.
Heerführer, Freiherren und die neuen Könige stärkten sich für den großen Kampf. Dann traten sie in ihre Turnierzelte und ließen sich von den Knappen und Bauern rüsten, und sich ihre Pla-ka bringen. Die hölzernen Ränge füllten sich mit allerlei Volk und auf den Tribünen nahmen der Adel und fürstliche Gäste Platz. Fahnen wehten bunt an Stangen und Lanzen, Gierlanden hingen von den Türmen und hohen Fenstern der Burg herab, und Fanfaren schmetterten laut über den Platz.
Ein Büttel rief die Turnierteilnehmer mit ihren Kriegsnamen auf und verkündeten die Regeln, die es einzuhalten galt, wollte ein Recke nicht mit den Schmährufen des Volkes gestraft werden. Der Platz links neben den drei Brüdern blieb leer. Das fiel aber kaum jemandem auf, denn solange Conrad, Gilhard und Carolus im Turnier fochten, blieben auch ihre Plätze unbesetzt.
Auf einen Fanfarenstoß hin stürmten Gaukler und Spielleute in die Arena und unterhielten die Zuschauer nach besten Künsten, während die Recken sich auf den Wettstreit vorbereiteten. Dann kündigten sämtliche Fanfaren in einem ohrenbetäubenden Konzert den Beginn der Turnierspiele an.
Die Recken auf ihren Pla-ka nahmen Aufstellung. Trommelwirbel übertönten das Ah und Oh der Zuschauer. Als das Trommeln der Tambouren abrupt endete, trabten die Ritter zur ersten Runde an. Doch sie kamen nicht weit. Die Fesseln der Pla-ka schwollen plötzlich an, die Tiere begannen zu lahmen und einige Reiter kippten wie von einer Riesenfaust getroffen einfach von ihren Reittieren.
Jene Streitenden, die das Missgeschick überstanden, wurden böse überrascht, als sie sich im Schwertkampf messen wollten. Ihre Waffen brachen inmitten entzwei, als waren sie aus Glas. Spott, Gejohle und Gelächter der Zuschauer wollte kein Ende nehmen. Immer wieder traten neue Ritter an, denen das gleiche Schicksal beschieden war. Die Leute, Adlige wie Volk, lachten Tränen und hielten sich vor Freude an diesem Schauspiel die Bäuche. Sie glaubten an eine wunderbare Narretei, freuten sich, und hatten so viel Spaß, dass sie am Abend froh und zufrieden nach Hause gingen.
Conrad, Gilhard und Carolus aber gingen gleichermaßen als Sieger vom Platz. Sie sollten am nächsten Tag zur gleichen Stunde um ihre Ränge kämpfen. Ihre listenreichen Tücken aber konnten sie nicht mehr anbringen, denn dies wäre selbst dem Volk aufgefallen. So gingen sie voller Sorge in ihre Kemenaten, denn ein jeder gönnte dem anderen nicht den Triumph.
Der nächste Tag verlief zunächst wie der vorangegangene. Die Fanfaren hoben an, Trommelwirbel setzte ein und verstummte wieder. Die drei Brüder nahmen in der Arena Aufstellung. Da kündigte der Büttel überraschend und unter dem Tönen der Fanfaren einen neuen Herausforderer an.
Die Brüder sahen sich fragend an, doch keiner der drei konnte sich erklären, wer sie nun noch fordern wollte. Dennoch winkten sie dem Büttel, den neuen Bewerber anzunehmen. Unter lautem Gelächter und Hohnrufen trottete ein schmächtiger Mann im Narrengewand aus bunten Flicken auf einem ausgehungerten, klapprigen Gaul in die Arena. Das Gesicht des Mannes war mit roter, grüner und blauer Farbe bemalt, so dass sein Antlitz nicht zu erkennen war. Darüber trug er eine rote Narrenkappe mit Zipfel und Glöckchen daran. Dem Pla-ka standen bereits die Rippen aus dem Fell, so mager sah es aus, und der Gaukler schien ebenfalls nicht sehr standfest. Er wankte auf seinem dürren Reittier hin und her.
Wie es die Regeln geboten, fragte der Büttel die Brüder, ob sie den Herausforderer annehmen wollten. Um nicht als Feiglinge vor einem Unwürdigen dazustehen, nahmen sie an, denn es wäre töricht gewesen, vor einem Schalk aufzugeben. Diesen, der sie mit seinem Gewand und Auftreten verspottete, mochte noch das Lachen vergehen. Jeder der Brüder rechnete damit, den Sieg über den Schelm davon zu tragen, und so die Entscheidung zwischen ihnen noch einen Tag aufzuschieben. In einer Nacht konnte ihnen noch mancher Einfall zu einer List gereichen.
Das Volk in den Rängen und der Adel in den Logen bogen sich vor Lachen, als der Narr beim Enden des Trommelns auf seinem Klepper hin und her rutschte, kaum die Lanze hoch bekam, und sich abmühte, dem Reittier die Fersen in die Seite zu stemmen, um es zu vorwärts zu bewegen.
Conrad, sich seines Sieges gewiss, galopierte mit erhobener Lanze heran. Im letzten Augenblick ließ der Narr seinen Pla-ka vorwärts springen und stieß die Lanze in ritterlicher Manier vor. Mit einem heftigen Schlag auf seinen Schild wurde Conrad von seinem Pla-ka gestoßen, flog durch die Luft und krachte auf den Boden, wo er unter Schmerzen liegen blieb.
Die Zuschauer schrieen überrascht auf und ein Raunen aus Verwunderung und Entsetzen ging durch die Reihen. Der Narr aber sprang behände von seinem klapprigen Ross, trat zu Conrad, nahm ihm als Zeichen des Sieges das Geburtssiegel ab, das dieser um den Hals trug, und raunte ihm leise ins Ohr:
»Merket auf, Herr König. Allein jener, dessen Herz voll Ehrlichkeit und Güte ist, wird das Siegel des Reiches von Faungor bekommen!« Damit schwang sich der Gaukler wieder auf seine Mähre und ritt gemächlichen Schrittes zum Start zurück. Dort wartete er auf den zweiten Bruder Gilhard.
Der jedoch war nun gewarnt. Er rief dem Narren zu, ob er sich denn getraue, auch mit dem Morgenstern zu kämpfen. Der Schelm war damit einverstanden und ein Knappe brachte die gezackte Kugel an Kette und Stab heran. Als der Narr das Kriegsinstrument in die Hand nahm, pendelte die schwere Kugel hin und her, und riss ihn fast vom Pferd. Wieder erhob sich ein Gejohle und spottreiches Lachen unter den Zuschauern, und Gilhard war sich seiner Überlegenheit schon gewiss.
Wieder schmetterten die Fanfaren, wieder wirbelten die Trommeln, deren Klang dann plötzlich erstarb. Die Kontrahenten ritten aufeinander zu und schwangen die Morgensterne. Gilhard zielte seine Kugel auf den Narren, der jedoch gerade in diesem Augenblick vom Pla-ka zu fallen drohte, und sich zur Seite neigte. Das Eisen traf ins Leere. Der Narr jedoch richtete sich behände wieder auf und schwang seinerseits den Morgenstern. Wie von einem Sturm wurde Gilhard von seinem Ross gefegt, und landete schmerzhaft im Sand des Turnierplatzes.
Die Zuschauer sprangen von den Rängen auf und taten ihrem Erstaunen kund. Der Gaukler jedoch sprang frisch und munter von seinem Pla-ka, nahm Gilhard als Zeichen des Sieges den Ständeorden ab, den dieser um den Hals trug, und flüsterte ihm leise ins Ohr:
»Höret, ihr Herr König. Nur dieser, dessen Herz voll Ehrlichkeit und Güte ist, wird das Siegel des Reiches von Faungor bekommen!« Damit stieg er wieder auf sein Rösslein und trabte gemütlich zum Start zurück, wo er auf den dritten Bruder Carolus wartete.
Der aber meinte, aus den Missgeschicken seiner Brüder reichlich gelernt zu haben und schlug dem Schelm das Schwert als Waffe vor. Der Gaukler willigte ein, und ein Knappe brachte ein prächtiges Schwert mit langer, schwerer Klinge heran. Als nun der Narr die Waffe in die Hand nahm, so fiel er unter dem Gewicht um, und musste sich mühsam wieder aufrappeln. Das Gelächter der Gäste und des Hofstaates schien kein Ende nehmen zu wollen, und Carolus glaubte, jenen Schalk, der kaum das Schwert zu halten vermochte, schon besiegt zu haben.
Carolus trat mit erhobenem Schwert in die Arena, und die beiden Streiter schritten aufeinander zu, nachdem Fanfaren und Trommeln schwiegen. Der Narr jedoch musste die Klinge seines Schwertes durch Sand und Stroh hinter sich her ziehen, so schwer schien ihm die Waffe zu sein. Das Volk johlte, lachte und brüllte über den offensichtlichen Spaß.
Als Carolus heran war, holte er aus und es hatte den Anschein, dass er dem Scherz nun endlich ein Ende bereitete. Doch gerade, als die Waffe auf das Haupt des Narren niederging, stolperten dessen Füße über sein Schwert und Carolus Schlag ging in den Boden. Der Schelm aber schwang nun mühelos sein Schwert herum und schlug den neuen König so hart von den Beinen, dass dieser im Staube liegen blieb.
Überraschte Ausrufe und Beifall von Rängen und Logen hallten über den Turnierplatz. Der Narr aber trat zu Carolus, nahm ihm zum Zeichen des Sieges den Quart aus den Tränen der Götter ab, den dieser um den Hals trug, und sprach zu ihm:
»Wisset, mein Herr König. Nur diesem einen, dessen Herz voll Ehrlichkeit und Güte ist, wird es gelingen, das Siegel des Reiches von Faungor zu bekommen!« Damit schritt der Narr ruhigen Schrittes aus der Arena und ward nicht mehr gesehen.
Conrad, Gilhard und Carolus rätselten, wer dieser Narr gewesen und hießen ihre Vertrauten nachzuforschen. Doch der Schelm war und blieb verschwunden, und niemand vermochte herauszubringen, wer er war. Die Brüder aber dachten schon bald nicht mehr an diesen Schalk. Das Fest ging weiter und sie nahmen ihre Plätze auf der Tribüne ein. Doch erst als die Gaukler und Spielleute zur Unterhaltung die Arena in ein buntes Treiben verwandelten, kam die Prinzessin Nehiamate hinzu.
Sie trug ein wundervolles blaues, durchscheinendes, mit goldenen Borten und weißen Rüschen abgesetztes Elsirenkleid, und aller Augen staunten über ihre Lieblichkeit und Schönheit, denn bis dahin kannte sie jeder nur in den Gewändern von Mägden oder Knechten. Das lange, dunkle Haar wurde von einem schlichten, silbernen Diadem zusammengehalten, und an den Füßen trug sie weiß- goldene Schuhe feinster Schusterkunst.
Erstaunt fragten ihre Brüder, denen zuvor der leere Platz aufgefallen war: »Schwester, wo warst du, als wir um Lohn und Ehre rangen?«
»Ich gab einem Narren Herz und Verstand«, antwortete sie. Die Brüder wunderten sich über diese seltsame Rede, dachten sich aber nicht viel dabei. Gemeinsam wohnten sie den Siegesfeiern und Ehrungen der Streiter bei. Der wahre Sieger jedoch, der eigentümliche Schelm, wurde nie mehr gesehen.
Nachdem die Fanfaren und Trommeln im Lande wieder verstummt waren, der hohe Priester und alle Gäste des Adels und des Volkes abgereist waren, und Bauern und Bürger wieder ihrer täglichen Arbeit nachgingen, kehrten auch in der Burg, bei den drei neuen Königen, ruhigere Zeiten ein.
Doch der Friede täuschte. Conrad, Gilhard und Carolus waren nun wohl Könige, doch zu regieren vermochten sie ihr Reich nicht. Ohne das Reichssiegel konnten sie keinen Siegelstempel unter ein Gesetz, oder einen Beschluss setzen, sie konnten keine Rechnungen aus der Staatskasse begleichen, und es war ihnen nicht möglich, ein Heer aufzustellen, um die Barbaren, die immer schlimmere Raubzüge unternahmen, von der Küste fernzuhalten.
Heerführer um Heerführer wurde mit seinem Gefolge ausgesandt, das Siegel des Reiches der Karolinger beizubringen. Nicht einer dieser mutigen Recken jedoch kehrte zurück. Sogar das Versprechen der Brüder, dass derjenige, der den Schlüssel bringen würde, ihre Schwester, die schöne Nehiamate zur Frau bekommen sollte, und noch ein Fürstentum dazu, brachte keinen Erfolg.
Statt dessen mehrten sich die Nachrichten, dass Faungor im Süden des Landes arge Verwüstungen anrichtete, um die ständigen Angriffe gegen ihn zu rächen. Der Rat der Ältesten und Weisen kam zu dem Schluss, dass es so nicht weitergehen konnte, und dass die drei Könige endlich selbst zu Faungor gehen müssten, um das Land vor dem Untergang zu bewahren.
Mit dem Mut der Verzweiflung trugen sie den drei Herrschern ihre Ansicht vor. In jenen Zentaren konnte einer wegen solcher Forderung durchaus alles, ab dem Halse aufwärts verlieren. Doch Conrad, Gilhard und Carolus erklärten sich bereit, diese Last für Erbe und Reich auf sich zu nehmen.
Ein jeder der drei Könige dachte nämlich bei sich: Habe ich Erfolg, so kann ich vor meinen Brüdern den Thron besteigen und vor ihnen in die Säle schreiten, und vor ihnen mein Siegel auf alle Urkunden setzen. Und sie rüsteten sich zum langen Ritt in die hohen, steilen Berge, wo Faungor in seiner Felsenfeste hauste.
Ungefähr zu dieser Zeit verschwand die Prinzessin Nehiamate. Da sie von niemandem groß beachtet wurde, fiel ihr Verschwinden in der Burg zunächst nicht auf. Doch als auch im Volk niemand mehr zu Gesicht bekam, und man schließlich erfolglos nach ihr suchen ließ, stand fest, dass sie nicht mehr im Lande war.
Die drei Brüder freilich vermissten sie kaum. Sie waren damit beschäftigt, ihre Trosse und Züge gegen Faungor zu rüsten. Doch das Volk und alle, die sie gern hatten, merkten bald, dass etwas im Lande fehlte, das sie mehr vermissten, als die neuen Könige, die nicht einmal imstande waren zu regieren. Überall beklagte man, dass der Prinzessin Rat fehlte, ihre Hilfe und ihre Güte, die so manche Not gelindert hatte. Doch alles Bitten und Flehen half nichts. Die Prinzessin blieb verschwunden und kehrte nicht zurück.
Die alten und Weisen traten vor die Könige und baten um Heerscharen und Herolde, um die Prinzessin weiter suchen zu lassen. Doch die drei Brüder wiesen die Gelehrten ab. Sie meinten es wäre zunächst wichtiger, das Siegel des Reiches zu erlangen. Und ein jeder der drei dachte bei sich: Habe ich erst einmal das Siegel, so mögen sich getrost meine Brüder um das Schicksal unserer Schwester kümmern.
Weil aber das Land und die Burg nicht ohne eine starke Hand zurückbleiben konnte, wurde entschieden, dass Conrad, der älteste der Brüder zuerst sein Glück versuchen sollte. Mit Fanfaren, Tambouren, Gierlanden und Fahnen wurde Conrad aus der Burg verabschiedet.
Der Tross mit Rittern, Wagen, und Fußknechten zog gen Süden. Sie kamen durch manche Stadt und viele Dörfer, wo man den Zug, allen voran Conrad, bejubelte und hoch leben ließ. Dann musste Conrad mit seinem Gefolge durch den großen, dunklen Wald ziehen, durch den nicht einmal ein rechter Weg führte. Der Ritt durch dichtes Tann dauerte drei Tage und drei Nächte.
Dann kamen sie zu einer kleinen Lichtung, auf der ein armseliges Hüttlein stand. Zur Freude über diesen hellen Fleck inmitten des finsteren Waldes ließ Conrad rasten. Da trat aus der Hütte ein gebeugt gehender, schmächtiger Bettler, der seine Kapuze tief im Gesicht trug, so dass man sein Antlitz nicht erkennen konnte.
Er ging zu Conrad, drückte dem erstaunten König das Geburtssiegel in die Hand, welches ihm der Narr beim Wettkampf als Zeichen des Sieges abgenommen hatte, und sagte mit leiser Stimme: »Denket daran, was euch jener, der euch dieses Siegel nahm, geraten. Allein jener, dessen Herz voll Ehrlichkeit und Güte ist, wird das Siegel des Reiches von Faungor bekommen!«
Damit wandte sich der Bettler um, und verschwand wieder in der Hütte. Conrad aber war sehr verwundert. Woher hatte der Bettelmann sein Geburtssiegel, und woher wusste dieser von dem Narren? Er hieß seine Recken ihn noch einmal aus der Hütte holen, doch so sehr sie auch suchten, die Kate war leer und der Bettler verschwunden.
Als der Tross einige Zeit weiter geritten war, begegnete ihm ein altes Mütterchen, die gebrechlich auf einen Stock gestützt am Wege stand und jammerte.
»Ach, o großer Herr und König, was wiederfuhr doch mir altem, dummen Weibe. Ich verlor mein Enkelkind beim Pilze suchen im dichten Tann und nun find ich es nimmer. Ihr seid so viele der kräftigen Mannen, so bitt ich euch, helft mir suchen, dass mein Enkelchen nicht unter die wilden Tiere kommt.«
Doch Conrad antwortete barsch: »Weicht zur Seite, Alte, was geht mich eure Brut an. Ich habe ein Königreich zu führen, und keine Zeit, verloren gegangene Kinder zu finden. Suchet nur selbst nach ihm, ist es doch euer eigen Fleisch und Blut!« Damit gab er seinem Pferd die Sporen und ritt so forsch an der Alten vorbei, dass sie an den Rand des Weges fiel.
Nach langer Reise erreichte des Königs Zug endlich die rauen Berge, in denen der Drache Faungor lebte. Mit seinen kräftigsten Recken stieg Conrad zu den grauen und schwarzen Felsen hinauf. Oben, an einer karsten Kante, erschien der Gor und begrüßte sie mit einer Wolke aus Feuer und Rauch. Conrad sah das Siegel um seinen Hals hängen, bekundete, dass er in Frieden gekommen war, und dass er nur das Siegel des Reiches fordere.
Faungor ließ den König herantreten und blickte ihn lange und durchdringend mit seinen scharfen, gelben Augen und dem schwarzen Schlitz darin an. Dann holte er tief Luft, dass sich seine Brust blähte und wölbte, und er hustete und prustete Feuer und Funken, so lange, bis der König zu einem Häuflein Asche verbrannt war. Dann nahm Faungor sein Geburtssiegel an sich und zog sich in seine Höhle zurück. Als Reiter und Recken sahen, was mit ihrem König geschehen war, bekamen sie eine solche Angst, dass sie Hals über Kopf davon liefen.
Als die Kunde vom Missgeschick und Tod des Königs in der Burg eintraf, dachten Gilhard und Carolus: Wenn der Bruder nicht mehr ist, so müssen wir den Thron nur noch durch uns beide teilen.
Dennoch konnte das Land nicht regiert werden, denn Faungor hütete noch immer das Siegel des Reiches. Da machte sich der zweite Bruder Gilhard auf, das Siegel zurück zu bringen. Wie zuvor Conrad, so zog auch Gilhard mit einem großen Tross gen Süden. Und auch der zweite Bruder musste den großen, unheimlichen Wald durchqueren.
So gelangte Gilhard mit seinen Kampfgefährten auch zu jener kleinen Hütte auf Lichtung inmitten des finsteren Tann, und ließ halten. Wieder kam der dünne Bettler aus seiner Kate, schritt auf Gilhard zu und reichte ihm den Ständeorden, den ihm der Narr beim Turnier als Siegeszeichen abgenommen hatte, und sprach zu ihm: »Erinnert euch stets daran, was jener, welcher euch diesen Orden nahm, euch geraten. Nur dieser, dessen Herz voll Ehrlichkeit und Güte ist, wird das Siegel des Reiches von Faungor bekommen!« Damit kehrte ihm der Alte den Rücken und ging wieder in sein Häuschen.
Gilhard aber, überrascht über die Kenntnis des Bettelmannes, wollte wissen, wie er zu dem Orden kam, und hieß seine Recken, ihm den Verarmten noch einmal vorführen. Doch soviel seine Leute auch in der Hütte suchten, den Bettler vermochten sie nicht mehr zu finden. So ritten sie denn weiter.
Alsbald kam der Zug des Königs an einem Dorf vorüber, dessen Bewohner klagten: »Herr und König, unser Dorf ist dem Versprechen eines listigen Fürsten zu Lehen, der uns das Vieh und die Ernte nimmt, und uns zu wenig lässt, um unsere Kinder zu nähren. Ihr seid von klugem Stande, wir bitten euch, erstreitet uns einen Handel, der uns ein bescheiden Auskommen gewährt!«
König Gilhard aber schalt die Dörfler und rief ihnen zu: »Was gehen mich eure par armseligen Hütten an. Schuld seid ihr ja selber, dass ihr nichts zu beißen habt. Was macht ihr auch einen solchen Handel mit einem, der euch über ist. So handelt nun auch selbst um euer täglich Brot!« Damit gab er seinem Pla-ka die Sporen und ließ die Verzweifelten einfach stehen.
Nach weiteren Tagen beschwerlicher Reise gelangten Gilhard und seine Mannen endlich an das steile, hohe Gebirge mit seinen schroffen Gipfeln. Im Schutze seiner Getreuen stieg Gilhard zu den grauen, schwarzen Felsen auf, in denen Faungor hauste. Da erschien der Gor oben an des Felsens Kante und blies ihnen Feuer und Rauch entgegen.
Gilhard sah das Siegel um des Gors Halse hängen, trat vor und zog eine Vertragsrolle aus seinem Gewand. Mit diesem Papier versprach er Faungor ein geduldetes Dasein in seinem Felsenhorst, wenn er ihm das Siegel gab, welches er forderte.
Faungor ließ König Gilhard herankommen und blickte ihn lange und durchdringend mit seinen scharfen, gelben Augen und dem schwarzen Schlitz darin an. Doch was er sah gefiel ihm nicht. Denn er holte tief Luft, dass sich seine Brust weit aufblähte und wölbte, und hustete und prustete Feuer und Funken, so lange, bis der König mitsamt seinem Vertrage zu einem Häuflein Asche verbrannt war. Dann nahm Faungor seinen Orden an sich und zog sich in seine Höhle zurück. Als die Getreuen Gilhards das sahen, bekamen sie es so sehr mit der Angst zu tun, dass sie Hals über Kopf in alle Himmelsrichtungen flohen.
Als auch Gilhard nicht zur Burg zurückkehrte, dachte Carolus bei sich: Nun, so mag der Thron mir allein gehören. Das Siegel werde ich schon beibringen. Und so zog auch der letzte der Brüder mit seinem Zug zu den hohen Bergen.
Wie zuvor seine Brüder, gelangte auch Carolus in den großen Wald und zu der Hütte auf der Lichtung. Auch er ließ seinen Tross halten und rasten. Da trat der einsame Vagabund aus seinem Haus und ging zu Carolus. Er reichte ihm jenen Quart aus den Tränen der Götter, welchen ihm der Narr bei den Festspielen abgenommen hatte, und sprach: »Vergesst nicht, was jener euch geraten, welcher euch diesen Ring nahm. Nur diesem einen, dessen Herz voll Ehrlichkeit und Güte ist, wird es gelingen, das Siegel des Reiches von Faungor zu bekommen!«
Damit wandte sich der Bettler um, und schritt in seine Kate zurück. Carolus aber blickte fassungslos auf das Stück Ringgeld, von dem es nur dieses eine gab, und wunderte sich, woher der Bettelmann dieses hatte, und von welcher Kunde er von dem Turnier und dem Narren wusste. Er schickte seine Leute in die Hütte, den Bettler zu holen, dass er ihn befragen konnte. Doch so sehr seine Gefolgsleute auch nach ihm suchten, der zerlumpte Mann war verschwunden.
Es wird erzählt, dass Jahre später ein par Reisende dieselbe Hütte fanden. Als sie in die halb verfallene Kate eindrangen, fielen sie der Reihe nach durch eine alte, morsche Falltür in einen Raum unter der Hütte, aus dem ein Gang ins Freie führte.
Carolus zog mit seinem Tross weiter und hatte den Bettler bald vergessen. Da kam sein Zug an einem Dorf vorbei, dessen Bewohner ihn auf Krücken und mit dicken Verbänden willkommen hießen. Sie sprachen zu ihm: »Ach, edler Herr König, der Ruf eurer Gelehrtheit eilt euch weit voraus. Unser Dorf peinigt eine seltene, grausame Krankheit. Wir bitten euch, helft uns, das Leiden auszumerzen, damit wir wieder unserer ehrlichen Arbeit nachgehen können.«
König Carolus aber erwiderte barsch: »Was geht mich euer Wohlbefinden an? Arbeitet redlich und zahlt pünktlich euer Zins, so wird die Krankheit schon wieder fort gehen. Ich habe ein großes Reich zu regieren, und keine Zeit, den Medicus für euch zu tun!« So gab er seinem Pferd die Sporen und ritt an der Spitze seines Zuges davon.
Nicht lange danach erreichte Carolus das Gebirge. Mit seinen Vertrauten stieg er die grauen und schwarzen Felsen hinauf, in denen Faungor hauste. Der Gor erwartete ihn bereits an des Felsens Kante und blies ihm Feuer und Rauch entgegen.
Da trat Carolus mutig vor, und forderte von dem Untier das Siegel des Reiches. Um den Drachen gut zu stimmen, zog er eine Kürbisflasche unter seinem Gewand hervor, die mit einer Tinktur gefüllt war, die willenlos machen sollte. Er warf dem Gor die Flasche zu, und dieser sog den Duft der Flüssigkeit mit seinen großen Nüstern ein. Die Tinktur jedoch blieb ohne Wirkung.
Faungor aber ließ den König herantreten und sah ihm lange mit einem tiefen Blick seiner scharfen, gelben Augen und dem schwarzen Schlitz darin in Herz und Seele. Dann holte er tief Luft, bis sich seine Brust weit aufblähte und wölbte, und hustete und prustete Feuer und Funken, so lange, bis der König mitsamt seinem Zaubertrank zu einem Häuflein Asche verbrannt war. Als Carolus Begleiter dies sahen, schrieen und klagten sie und liefen vor Angst in alle Richtungen davon.
Als die Kunde vom Misserfolg und Tod des Königs auf der Burg eintraf, war guter Rat teuer. Das Land hatte keinen König mehr, und die Minister und Stadthalter konnten ohne das Siegel des Reiches nicht regieren. Noch während die Alten und Weisen Beratung hielten, kehrte wie durch ein Wunder die Prinzessin Nehiamate zurück.
Überall im Reich, wo die Menschen die Prinzessin erblickten brachen Freude und Jubel aus, das Volk huldigte ihr, ließ sie hoch leben, und die Bürger der Städte beherbergten sie auf das liebevollste. Die Menschen des Volkes kamen zu ihr, klagten ihr Leid, baten um Hilfe und Rat. Nehiamate blieb an jedem Ort, bis das Leid getilgt, und ein jeder zufrieden und glücklich war.
Die Kunde von der Rückkehr der Prinzessin erreichte auch die Burg. So ließ der Rat der Alten und Weisen einen Herold aussenden, um die Prinzessin rasch auf die heimatliche Burg zu geleiten. Es brauchte jedoch eine lange Zeit, bis das Mädchen vor dem Rat stand, denn sie hielt überall dort, wo die Menschen ihres Volkes ihrer bedurften.
Der Rat und die Minister hatten derweil beschlossen, der Prinzessin, die überall bei Bürgern und Bauern beliebt und geachtet war, die Krone zu entbieten. Als die Alten die Königstochter befragte, wo sie denn all die lange Zeit zugebracht hatte, so antwortete diese nur: »Ich versuchte in der weiten Welt dreier Narren Herz und Seele zu erretten. Doch ich muss verkünden, dass ich versagt habe.«
Die Weisen Männer wunderten sich über diese Aussage, denn der Prinzessin Urteil und Erfolg in allen Dingen waren inzwischen über die Landesgrenzen hinaus bekannt. Nun drängten sie die Prinzessin, als einzige Nachkomme Clodewigs den Thron zu besteigen, um das Land zu regieren.
Da sprach das aufgeweckte Mädchen: »Wie könnt ich mir anmaßen, den Thron zu besteigen und mir die Krone auf das Haupt zu setzen, ohne das Siegel des Reiches? Mein Vater, hatte im Sinn, nur jenem den Thron zu gewähren, der dazu imstande wäre, dem grausamen Faungor das Siegel zu entreißen. Doch will ich um des Volkes Willen gerne in das Land der hohen Berge ziehen und mich versuchen, den Drachen gütlich zu stimmen. Gelingt es mir, das Siegel zu bringen, so will ich mich dem Schicksal beugen und das Land führen.«
Damit mussten die Minister und Weisen einverstanden sein, denn es blieb ihnen nicht anderes übrig. Sie ließen einen Tross für die Prinzessin rüsten, und sogleich machte sich das Königskind auf den Weg.
Unterwegs gelangten sie in ein Dorf, in dem die Hebamme des Nachts verstorben war. Doch kamen gerade zu dieser Zeit einige Frauen in glückliche Niederkunft. So baten die Dörfler die Prinzessin um Hilfe. Die Trossführer aber mahnten: »Wir müssen weiter, eure königliche Hoheit, denn die Zeit drängt und das Land ist ohne König und bedarf dringend der Krone!«
Doch die Prinzessin erwiderte: »Ich wäre eine schlecht beratene Königin, wollte ich die Bitten meines Volkes nicht erhören und ihnen helfen.« Und so ließ sie halten, kümmerte sich um die Mütter, half den Kindlein auf die Welt und ging erst, als sie gewiss war, dass ihr Volk versorgt war.
Sie zogen weiter und kamen zu einem Hof, dessen Hausvieh an einer seltsamen Krankheit litt. Die Bauernfamilie bat die Prinzessin, deren Heilkunst im ganzen Land gepriesen war, um Hilfe. Wieder ermahnte sie der Trossführer: »Euer königliche Hoheit, wir können nicht rasten, denn das Land ist ohne König und Thron und bedarf dringend der Führung!«
Die Prinzessin aber erwiderte: »Was wäre ich doch für eine schlechte Königin, wenn mir nicht der Geringste aus meinem Volke gleich dem Bedeutendsten wäre.« Sogleich ließ sie halten, besah sich des Bauern Vieh und riet dem Mann: »Gebt acht, dass euer Heu nicht feucht, oder gar nass ist, so bekommt es euren Tieren besser und sie werden nicht mehr krank.«
Der Bauer beteuerte, dass es nicht an seiner Nachlässigkeit lag, sondern daran, weil das Dach des Hauses undicht war, er aber keinen Kreuzer mehr besaß, um es zu reparieren. Da gab ihm die Prinzessin ein Beutelchen mit den Tränen des Mondes für neue Schindeln und war sich nicht zu fein, ihm das Heu trocknen. Als die Tiere wieder genesen und das Heu trocken war, setzte sie ihren Weg fort.
Als der Tross durch den großen Wald kam, begegnete ihm ein altes Mütterchen, das jammerte und klagte:
»Ach, o große Königin, was wiederfuhr doch mir altem, dummen Weibe. Ich verlor mein Enkelkind beim Pilze suchen im dichten Tann und nun find ich es nimmer. Ihr habt so viele der kräftigen Mannen bei euch, so bitt ich euch, helft mir suchen, dass mein Enkelchen nicht unter die wilden Tiere kommt.«
Nehiamate stieg von ihrem Pla-ka und ging auf die Frau zu. Da trat der Trossführer dazwischen und ermahnte sie: »Herrin, achtet nicht auf die verrückte Alte, denn wir müssen uns eilen, die Zeit rinnt uns davon und das Reich bleibt ohne Thron und Krone!«
Die Prinzessin aber antwortete: »Was wäre ich denn für eine grausame Königin, wollte ich meine Augen verschließen vor jenen, die meiner Hilfe bedürfen.« Also ließ sie halten und absitzen und hieß ihre Leibgetreuen in den Wald ausschwärmen, um das Enkelkind zu suchen. Zu der Alten aber sprach sie: »Noch bin ich eure Königin nicht, denn mein Schicksal wird sich erst erfüllen. Doch sorgt euch nicht, gute Frau, mit der Götter Hilfe und Talris werden wir euer Kindlein finden, und sollte es viele der Tage und Nächte brauchen.«
So suchten sie einen Tag und eine Nacht, und sie fanden das Kind wohlbehalten unter einem alten Ulmenbaume. Die Alte Frau aber sprach für die Prinzessin einen guten Segen und Nehiamate setzte ihren Weg mit ihrem Gefolge fort.
Endlich erreichten sie das hohe Gebirge. Sogleich begann Nehiamate zu den grauen und schwarzen Felsen aufzusteigen, wo Faungor der Drache hauste. Ihre Gefährten zogen die Schwerter und wollten sie begleiten. Doch die Prinzessin wies diese an, zurückzubleiben.
Da sprach der Trossführer zu ihr: »Denkt, eure königliche Hoheit, was euren Brüdern wiederfahren war. Lasset nicht ab vom Schutze der Schwerter und Lanzen, denn es kann euren Tod bedeuten!«
Doch Nehiamate erwiderte: »Auch Lanzen und Schwerter vermochten meine Brüder nicht von ihrem Wege abbringen, der Faungor missfiel. Was also nützen sie mir? Wie Gott mich schuf, so trete ich vor mein Schicksal hin, und empfange es, wie Talris es mir angedacht. Kehre ich nicht zurück, so war ich auch nicht würdig, die Krone dieses Volkes zu tragen!«
Damit löste sie den Gurt, der ihr Schwert hielt und gab es dem Trossführer. Auch Schuhe, Mantel und Hemd gab sie ihm. Mit bloßem Leib, nur mit dem Rali bekleidet stieg das Mädchen über scharfen Stein zu der Kante hinauf, wo Faungor sie bereits erwartete. Feuer und Rauch blies er ihr entgegen. Doch Nehiamate ließ sich davon nicht den Mut nehmen.
Unerschrocken trat sie vor, verbeugte sich demütig und sprach: »Faungor, O Herr über das Feuer und die Lüfte, ich bitt euch sehr. Gaben, um euch gut zu stimmen, bringe ich nicht. Habt dennoch kein Argwohn gegen mich, und gebt mir das Siegel von meines Vaters Reiche. Feierlich will ich geloben und euch zusagen, diesem Lande eine gute Königin zu sein, und auch den Geringsten in meinem Lande achten will.«
Faungor ließ die Prinzessin herantreten und sah ihr lange mit dem tiefem, durchdringenden Blick seiner scharfen, gelben Augen und dem schwarzen Schlitz darin in Herz und Seele. Dann holte er tief Luft, bis seine Brust sich weit aufblähte und wölbte. Plötzlich neigte der Gor sein Haupt vor der Königstochter zu Boden und schüttelte seinen hässlichen Kopf so lange, bis die Kette mit dem Siegel von seinem Halse rutschte und Nehiamate vor die Füße fiel.
Dann scharrte er mit seinen Krallen auf dem Stein und schob ihr drei kleine Dinge hin, die Nehiamate sogleich erkannte. Es waren das Geburtssiegel, der Ständeorden, und der Quart aus den Tränen der Götter, jene Dinge, die ihre Brüder neben ihrem Leben unter Faungor eingebüßt hatten.
Das Mädchen nahm die Siegeszeichen ihrer Brüder und das Siegel des Reiches an sich, verbeugte sich noch einmal vor dem Hüter des Landes und kehrte wohlbehalten zu ihrem Tross zurück. War das eine Freude und ein Jubel, als sie mit dem Siegel um den Hals den Berg herabgestiegen kam. Die Heerführer, Recken und Edelleute, die sie begleiteten, knieten vor ihr nieder und schworen ihr ewige Treue in guten, wie in schlechten Zeiten.
Froh und glücklich machte sich der Zug auf den Heimweg. Sie kamen durch viele Städte und Dörfer, wo Nehiamate halten ließ, um dem Menschen in Leid, Not und Mutlosigkeit zu helfen und beizustehen. Überall wurde sie mit Jubel und Hochrufen empfangen und wieder verabschiedet.
So brauchte es eine lange Zeit, bis der Tross die heimatliche Burg erreichte. Inzwischen war das Land sehr in Not geraten. Die Barbarenstämme waren an den Ufern der Küste gelandet und hielten den Norden des Landes besetzt. Einige Fürsten und Stadthalter hatten das Volk in ihrer Gegend unterworfen und knechteten die Menschen auf das Schlimmste. Ernten waren ausgefallen und Brunnen versiegt.
Mit Ungeduld wurde die Prinzessin bereits erwartet. Die Alten, Weisen und die Minister wollten sogleich die Feierlichkeiten zur Krönung ausrufen und Herolde in alle Richtungen des Landes und darüber hinaus entsenden, um die Gäste und den hohen Priester zu laden. Sogleich sollten die Bauern und Bürger der Umgebung verpflichtet werden, reichlich Waren und Geschenke für das große Krönungsfest zu bringen, und Tribünen aufzubauen.
Doch Prinzessin Nehiamate trat vor den Rat und sprach entschlossen: »Was wäre ich doch für eine eitle Königin, wollte ich mein Land in der Not heißen, rauschende Feste auszurichten. Eine einfache Krönung mag es werden, und ein guter, Talris fürchtiger Va-ra-hi mag mir den Segen sprechen. Gebt statt dessen den Armen und Not leidenden, so sie erkennen, dass eine Königin nunmehr den Thron bestiegen hat.«
Und so geschah es. Es gab eine schlichte Krönungszeremonie, bei der die neue Königin das erste und das letzte Mal ihre Krone trug. Fortan trug sie nur noch einen schlichten geflochtenen Stirnreif, um ihr Haar zu binden. Sie entließ alle Minister und Stadthalter, die sich am Volke bereicherten, und warf die Barbaren zurück ins große Wasser. Sie sorgte für Gelehrigkeit und Kunstsinn im Lande, und tat, dass Krankheiten ebenso besiegt wurden, wie die Armut unter dem Volke.
Bald hieß Nehiamate niemand mehr eine Königin. Beim Volke wurde sie nur noch die Mutter des Landes genannt, denn sie kümmerte sich selbst wie eine Mutter um jedes Anliegen ihres Volkes und achtete auch die Geringsten ihrer Untertanen wie die Bedeutendsten.
Die Königin regierte viele Jahre lang mit Verstand, Verständnis und großer Güte, so, wie sie es Faungor zugesagt hatte. Doch sie nahm sich nie einen Manne mit auf den Thron. Bewerber gab es freilich viele. Doch entweder waren sie faul, oder sie trachteten nur nach ihrem Reichtum, oder sie waren so dumm und hässlich, dass Nehiamate sie ihrem Volke nicht zumuten wollte. Andere wieder hatten nur die Macht im Sinne und wieder andere, suchten einen bequemen Ruhesitz.
So blieb denn die Königin ohne Nachkommen, und als sie so lange regiert hatte, dass sie bereits alt und im Haar ergraut war, dachte sie voller Sorge darüber nach, wer denn das Reich und das Wohl ihres des Volkes fortführen mochte. Doch solange sie auch nachgrübelte, ihr fiel kein Menschenwesen ein, das hätte ein so großes Reich voller Weisheit und Güte regieren können.
Als sie schließlich so gebrechlich wurde, dass sie meinte, nicht mehr lange zu leben zu haben, erinnerte sie sich daran, was ihr Vater Clodewig getan hatte. So ließ sie einen Tross ausrüsten und machte sich ein letztes Mal auf eine Reise. Mit letzter Kraft erreichte sie die hohen Berge und stieg die grauen und schwarzen Felsen hinauf, dorthin, wo Faungor in seiner Steinfeste hauste.
Der Gor erwartete sie bereits an der Kante der Felsen und begrüßte sie mit Feuer und Rauch. Die Königin trat mutig auf Faungor zu, holte schweren Herzens das Siegel des Reiches aus den Tränen der Götter unter ihrem Gewand hervor, und als Faungor sein Haupt neugierig dem glänzenden Gegenstand entgegen neigte, warf ihm Nehiamate die Kette, an dem das Siegel hing, über den Hals.
Dazu sprach sie feierlich: »Alt bin ich nun geworden, O Hüter des Landes und Herrscher der Lüfte, und meine Kraft reicht nicht mehr, das große Reich zu regieren und zu einen. Darum soll allein jener, welcher dir das Siegel des Reiches wieder abzuringen vermag, nach meinem Tode der König dieses Landes sein! Bewahre ihn gut, O Faungor, in deinen Schutz befehle ich dieses Reich, bis zu dem Tage, da einer würdig ist, über dieses Land zu herrschen!«
Damit zog sich die Königin mit demütig geneigtem Kopf zurück. Faungor schüttelte heftig sein hässliches, braunes Haupt, ließ die stechenden, gelben Augen mit dem schwarzen Schlitz aufblitzen und zog sich schnaubend in den tiefen Stein zurück.
Kurz darauf verstarb die gütige Königin. Doch auf ihre Burg kehrte sie nie zurück. Manche berichteten, dass sie noch ein par Monde lang in jener alten Kate in dem großen, tiefen und finsteren Walde gelebt hat.
Das Land jedoch verfiel nach dem Erlöschen des Geschlechts der Karolinger immer mehr in Habgier und gedungener Knechtschaft. Und bald eroberten es die Barbarenstämme zurück und unterwarfen das Volk, bis tausend Jahre später ein großer König Namens Tálinos kam, das Volk befreite, das Land einte und unter den Geboten Talris regierte.
Die Burg aber, so wurde später berichtet, stand noch ein par Jahre verlassen und verwaist da, mit den verborgenen Schätzen tief unten in den Gewölben, bis eine große Regenflut kam und den nahen Fluss so weit über die Ufer treten ließ, dass sich um die Burgmauern herum ein großer See bildete, in dem die Feste schließlich für alle Ewigkeit versank.
Der See soll noch heute an dieser Stelle im Val Mentiér liegen. In ihm sollen zur Erinnerung an die drei Brüder, die Söhne König Clodewigs, Conrad, Gilhard und Carolus, drei graue Felsen erheben. Ein großer, ein mittlerer und ein kleiner, sowie eine noch kleinere, bescheiden knapp unter der Wasseroberfläche liegende Grotte, für die Prinzessin Nehiamate.
Zur besonderen Erinnerung an die ehrliche, gütige Königin aber soll ein par Zentaren entfernt des Sees, an hohen Felsen gelegen, eine weitere Burg entstanden sein. Diese soll es als beschauliche Ruine auch noch heute geben.
Nun mag mancher diese Geschichte für eine erfundene, fantastische, oder einfältige Mär aus uralter Zeit halten. Dies sei ihm wohl gestattet. Andere, die an Mären glauben, halten sie für wahr. Und jenen, die an die Wahrheit dieser Erzählung glauben, sei an dieser Stelle folgendes offenbart.
Im schönen Val Mentiér liegt das Dörfchen Zumweyer, wo einst die Burg als Erinnerung an Königin Nehiamate entstanden sein könnte. Aber auch die Zweifler sind eingeladen, sich davon zu überzeugen, dass dieses Dorf noch heute den Gor und das Siegel in den Farben seines Wappenschildes führt.
Viele Leute sehen heute, in den Zentaren einer neuen Bedrohung des Landes, einen einsamen Gor am Himmel ziehen. Und einige von ihnen behaupten, sie haben Faungor gesehen, wie er mit einem Siegel um den Hals Feuer speiend am nächtlichen Himmel umher fliegt, und noch immer auf jenen würdigen und gütigen Menschen wartet, der das alte Reich der Karolinger als neuer König wieder auferstehen lässt und zu neuer Blüte führt.
Ein par Oranuti und Îval glauben sogar, Faungor erkannt zu haben, wie er immer wieder mit einem Reiter während der ruhenden Sonne, wenn alles schläft, über der Himmelsburg seine Kreise zieht.

Als Antarona mit ihrer Erzählung geendet hatte, stand sie auf und schob mit dem nackten Fuß die Asche des inzwischen ausgebrannten Feuers zusammen. Sebastian saß noch eine Weile still und stumm da, dachte über die alte Mär nach, und wusste intuitiv, dass die alte Geschichte Wahrheit war.
Nehiamate war Antarona, davon war er überzeugt. Antarona war die in einer Geschichte prophezeite Nehiamate, die neue Königin Volossodas, abstammend aus dem alten Geschlecht der Karolinger, oder wie immer sie geheißen haben mochten. Und irgendwie ahnte er, dass auch Antarona es wusste. Zumindest identifizierte sie sich mit dieser Figur.
Nachdem vom Gor nichts mehr zu hören und zu sehen war, wagten sie sich aus der Grotte. Sie staunten nicht schlecht, welche Verwüstungen das Untier angerichtet hatte. Kleinere Bäume waren umgeknickt, Sträucher ausgerissen, der Boden zerwühlt, und die Borke der größeren Bäume beschädigt. Diese Schneise der Zerstörung zog sich den Berg hinauf bis auf das Plateau.
Sie folgten dem unübersehbaren, breiten Pfad, über den sie der Drache den Hang hinab getrieben hatte. Oben angekommen, sahen sie den toten Krieger Torbuks an der Stelle liegen, wo Sebastians Pfeil ihn getroffen hatte. Die Drachenreiterin mit ihrem Gor war verschwunden. Anscheinend hatte sie ihre aufgetragene Mission aufgegeben.
Die Lichtung lag friedlich im flimmernden Sonnenlicht da. Außer dem Toten schien nichts die Idylle zu stören. Soweit der Blick vom erhöhten Plateau aus über das Meer reichte, war nichts zu entdecken. Kein Segel, kein Gor, nicht einmal ein par Vögel. Da hörten sie plötzlich das Wiehern von Pla-kas unten vom Strand.
Antarona und Basti sahen sich kurz an. Die Reittiere standen noch immer dort unten, bei den Pfeilern, wo der Mann Torbuks sie angebunden hatte. Irgendwer, oder irgend etwas wollte sich der Tiere bemächtigen. Antarona dachte aber nicht daran, die Pla-ka aufzugeben. Den Bogen und die Pfeile, welche ihr Basti gegeben hatte in der Hand, sprang sie den Pfad hinunter.
Sebastian wunderte sich, dass sie nach der erlebten Tortour immer noch so trittsicher und agil war. Kaum, dass er hinter ihr her kam. Sein Schwert blank gezogen, folgte er dem Krähenmädchen, das mit erstaunlicher Behändigkeit über Wurzeln und Steinblöcke sprang, sich um Bäume herum schwang, und mit nackten Füßen über den Waldboden lief.
Unten, vor dem kleinen, steinernen Drachenmal, wo der Wald an den Strand grenzte, blieb sie abrupt stehen. Basti, der ihr in kurzem Abstand hinterher gehetzt war, hätte sie beinahe umgerannt. Ein Stück weiter auf dem Strand, zwischen den Laternenpfeilern, stand der zweite der beiden Peiniger Antaronas und versuchte einen der beiden Pla-ka loszubinden, was ihm offenbar wegen seiner verletzten Hand schwer fiel.
Ehe Sebastian reagieren konnte, hatte Antarona einen Pfeil an die Sehne gelegt, und ließ ihn vom Bogen schnellen. Das Geschoss durchschlug die Wade des Mannes, der sofort wie ein gefällter Baum einknickte. Als er sich von dem ersten Schreck erholt hatte, stemmte er sich am Pfeiler hoch, und sah sich panisch um.
So ruhig, als würde sie Beeren sammeln, spannte Antarona mit einem zweiten Pfeil den Bogen, und ließ ihn durch die Luft flitzen. Er traf die andere Wade des Mannes, und Basti wusste, dass es Antaronas volle Absicht war. Nachdem, was die beiden Männer ihr angetan hatten, wagte er nicht, das Krähenmädchen aufzuhalten. Nach den Gesetzen der Îval hatte sie ein recht auf Vergeltung.
Der Mann klammerte sich jammernd an den Pfeiler, der ihn stützte und versuchte auf den Beinen zu bleiben. Wie irr blickte er umher, bis Antarona aus dem Schatten der Bäume trat. Mit weit aufgerissenen Augen, als erblickte er einen wahrhaftigen Dämon, starrte er ihr entgegen. Anscheinend ahnte er, was ihm nun wiederfahren würde.
Ganz langsam, als hätte sie die Zeit der ganzen Welt ging Antarona auf den Krieger zu, der ihr die blutigen Striemen auf ihrem Rücken beigebracht hatte. Sie wirkte dabei unnatürlich ruhig. Mit wiegender Hüfte und geschmeidigen Bewegungen schritt sie auf den Strand. Sie war sich bewusst, dass ihr der verhasste Gegner nicht mehr entkommen konnte.
Der verwundete Krieger wusste das auch. Er versuchte verzweifelt vor dem herannahenden, unschuldig wirkenden Mädchen zu fliehen. Doch er kam keine zwei Meter weit. Seine Unterbeine, in deren Muskeln die Pfeile steckten, versagten ihm den Dienst. Fluchend sackte er auf die Knie, und rutschte mit den Händen weiter, indem er die Beine nachzog. Ein aussichtsloses Unterfangen, wie Sebastian fand.
Wie eine durch die Steppe stolzierende Antilope setzte Antarona bedächtig einen Fuß vor den anderen, näherte sich gefährlich ruhig, wie eine Pantherin ihrer wehrlosen Beute. Ihr Rücken und ihr Po wurden nun vom Sonnenlicht beleuchtet, und zum ersten Mal sah Sebastian das tatsächliche Ausmaß der Misshandlungen, die sie den beiden Kriegern zu verdanken hatte.
Kreuz und quer zeichneten sich die langen, blutigen Streifen auf ihrer sonnengebräunten Haut ab. Einige würden deutliche Narben hinterlassen. Im Augenblick aber schienen die Verletzungen sie nicht im Mindesten zu behindern. So biegsam wie immer ging sie auf die Pla-ka zu. Den verwundeten Krieger ignorierte sie völlig.
Als er ihr Desinteresse bemerkte, kam neues Leben in seinen Körper, der bis dahin den Anschein erweckte, aufgeben zu wollen. Er versuchte aufzustehen, stolperte zwei Schritte, fiel dann wieder um. Antarona würdigte ihn keines Blickes, überprüfte statt dessen übergründlich, ob die Pla-ka sicher am Pfosten angebunden waren.
Der Angeschossene entwickelte indes eine erstaunliche Kraft dabei, sich mit den Ellenbogen und linkisch auf Knien aus ihrem Wirkungsbereich in Sicherheit zu bringen. Antarona hockte sich zwischen den beiden Laternenstangen auf ihre Fersen und wiegte auf den Fußballen hin und her. Dabei beobachtete sie den Mann, der verzweifelt versuchte, mehr Raum zwischen sich und seiner Gegnerin zu bringen.
Es war ein makaberes Spiel. Beide wussten, dass er ihr nicht mehr entkommen konnte. Dennoch mühte sich der angeschlagene Krieger ab, fortzukommen, und Antarona tat, als würde sie ihm genau das gewähren. Doch Sebastian kannte sie. Und was er wusste, gefiel ihm nicht. Doch er konnte nichts tun.
Die Gesetze der Îval waren unantastbar. Wurde eine Frau derart gepeinigt, wie es Antarona wiederfahren war, so hatte sie das Recht, ihren Peiniger zu töten. Ja sie hatte moralisch sogar die Verpflichtung dazu. Einerseits, damit sich der Delinquent nicht noch einmal an einer Frau vergriff, andererseits, damit sich ihr Ansehen unter den Frauen des Volkes nicht minderte. Wehrte, oder rächte sich eine Frau nicht, so war sie rasch als Ve-ni-tries verrufen.
Als der Krieger gut zwanzig bis dreißig Meter davon gekrochen war, erhob sich Antarona, legte in aller Seelenruhe einen Pfeil an die Sehne ihres Bogens, spannte, und zielte auf den Mann. Der wälzte sich angesichts der Gefahr im Sand hin und her, schrie und bettelte, sie mochte sich doch erbarmen, er hatte doch nur nach Befehl und Geheiß seines Kumpanen gehandelt.
»Haltet still, dummer Mann«, rief ihm das Krähenmädchen zu, »sonst tötet euch Sonnenherz Pfeil auf der Stelle!« Hätte der Kerl geahnt, was ihm noch bevorstand, so wäre er ihrem Aufruf kaum gefolgt. So aber blieb er zitternd vor Angst liegen. Die Legenden über Sonnenherz, die er ebenso kannte, wie jedes Kind, beschrieben nicht alle Güte und Vergebung. So erwartete er eine harte Strafe. Aber er kannte Antaronas imaginäre Vorstellungskraft noch nicht.
Der Pfeil schoss von ihrer Sehne und traf den Mann am Arm. Der brüllte vor Schmerz, als ihm die Metallspitze den Ellenbogen zerschmetterte. Lässig, als schoss sie auf Übungsziele, visierte sie ihn erneut an. Diesmal fuhr ihm der Pfeil in den anderen Arm. Er steckte im Muskelgewebe des Oberarms, und Sebastian hegte Zweifel daran, dass Antarona dorthin gezielt hatte.
Sie hatte aber erreicht, dass er sich selbst in kriechender Weise nicht mehr fortbewegen konnte. Wimmernd lag er als armseliges Häuflein Elend auf dem Strand, und sah von weitem aus, wie ein gestrandetes Tier, das an Land verendete.
Antarona trieb nun ihr perfides Spiel auf die Spitze, und Sebastian fragte sich, ob das noch etwas mit Rachegelüsten zu tun hatte. Sie überließ den Verwundeten Krieger zunächst sich selbst und ging gemächlich zum Waldrand hinüber. Dort schnitzte sie sich einige Astgabeln zurecht, und schnitt einige Lianen von den Bäumen. Das tat sie ohne Hektik, als wäre es eine reine Freizeitbeschäftigung.
Basti sah ihr kopfschüttelnd dabei zu, und haderte mit sich selbst, ob er nicht zu dem Verwundeten gehen sollte, um diesem zu helfen. Doch er verkniff sich das Bedürfnis, sich zum Samariter aufzuschwingen. Antarona war in ihrem Abgrund tiefen Hass zu keiner Einsicht mehr bereit.
Langsam, beinahe feierlich, schritt sie mit den gesammelten Dingen in den Händen auf den ängstlich blickenden Mann zu. Der versuchte gar nicht mehr, sich ihr zu entziehen. Offenbar hatte er begriffen, dass er sterben musste. Er ahnte nur noch nicht, auf welche Weise.
Völlig tiefenentspannt, fast schon gleichgültig, stand sie vor dem Krieger, der sie bis aufs Blut gequält hatte, und betrachtete ihn mit dem Interesse eines Technikers, der eine Maschine auf Fehler überprüfte. Dann hockte sie sich neben ihm hin, zog ihr Messer aus dem Schurzband, und stieß es demonstrativ neben seinem Kopf in den Sand. Ebenso ruhig, wie sie Basti zuvor die Geschichte von den Karolingern erzählt hatte, sprach sie zu ihm:
»Ihr werdet still halten, oder Sonnenherz wird euch am lebenden Leib in Scheiben schneiden. Ihr könnt wählen.« Dann ergriff sie sein Handgelenk, und band es mit den Baumfasern an eine der Astgabeln.
»Bitte, Sonnenherz, euer guter Ruf eilt euch voraus, ich bitte euch, ich flehe euch an, tut mit mir, was ihr wünscht, doch lasst einen unwürdigen, armen Krieger am Leben. Nie mehr will ich eine Waffe gegen einen aus dem Volk der Îval erheben, ich verspreche es bei den Göttern!« jammerte der Mann unterwürfig. Antarona antwortete so emotionslos, wie beiläufig.
»Sonnenherz wird sich nicht die Hände an euch beschmutzen, und euch töten. Die Götter werden entscheiden, ob ihr lebt, oder in das Reich der Toten geht. Lasst also das Klagen, denn es ist einem Krieger nicht würdig.« Gleichzeitig nahm sie sein zweites Handgelenk und verfuhr wie mit dem ersten. Dann präparierte sie genauso seine Fußgelenke. Vor Angst gelähmt, ließ es der Mann einfach geschehen.
Während Sebastian sich fragte, was sie vor hatte, grub sie nun mit ihrem Messer vier kleine Gruben in den Sand, die eine rechteckige Form bildeten. In der Mitte schaufelte sie eine größere, längliche Grube aus dem Sand. Wollte sie den Kerl lebendig begraben? Basti war sich beinahe sicher, doch er unterschätzte Antaronas Hass und Perfidie.
Torbuks Krieger saß wie teilnahmslos daneben. Anscheinend hielt er sein Schicksal bereits für besiegelt. Als Antarona mit ihrer Arbeit fertig war, bei der sie sich nicht sonderlich beeilte, zog sie dem Mann vorsichtig die Pfeile aus den Wunden, so dass dieser wieder Hoffnung auf Gnade schöpfte. Sie warf die Geschosse achtlos zur Seite.
Dann packte sie den Mann an den Handgelenken und zerrte ihn in die Grube. Der brüllte vor Schmerz, und flehte um Nachsicht, denn seine Glieder waren durch die Schusswunden empfindlich. Antarona achtete nicht auf sein Gejammer. Sie mühte sich mit dem deutlich schwereren Mann ab, zog und drückte, bis er heulend die Tortour über sich ergehen ließ.
Schließlich lag er in der ausgescharrten Grube. Nicht etwa wie in einem Grab, denn er versank nicht in der Gruft. Vielmehr lag er wie in einem vertieften Bett, alle Glieder von sich gestreckt. Nun bedeckte Antarona die im Grund liegenden Arme und Beine des Mannes mit nassem Sand. Anschließend holte sie vier schwere Steine, von denen genügend am Strand herum lagen, und legte sie auf die Enden seiner Glieder, so dass er sich mit den Verletzungen nicht mehr selbst befreien konnte. Seinen Leib ließ sie unbedeckt.
Sebastian ahnte, was sie vor hatte. Besorgt sah er zum Himmel, wo ständig Sturmvögel und Möwen hin und her segelten. Sie sollten offenbar die blutige Rache vollziehen. Doch das konnte er nicht zulassen. Diese Art der Rache war so Menschen verachtend, dass er schlicht rebellierte.
»Nein, Antarona, nicht auf diese Weise, da mache ich nicht mit«, beklagte er bestimmt, »ihn hilflos den Vögeln des großen Wassers zum Fraß vorwerfen, das kann ich nicht zulassen. Nimm Rache, wie du willst, aber nicht so.« Seine Stimme klang fest und kompromisslos.
Das Krähenmädchen hielt in seiner grausigen Arbeit inne, und blickte ihn erstaunt an. Ihr Körper glänzte nass vom Schweiß, und die Wunden der Peitsche sahen aus wie ein überlackiertes, modernes Kunstwerk. Aber sie erinnerten Basti gleichzeitig an ihr von den Göttern gegebenes Recht. Antarona stand da und schien zu überlegen. Nach einer gefühlten Ewigkeit hob sie gleichgültig die Schultern und sagte mit enttäuschtem Ton, während sie ihm demonstrativ ihren Rücken zuwandte:
»Ba - shtie, ihr seht, was sie mit Sonnenherz getan haben. Dennoch fordert ihr Gnade für jenen, welcher selbst keine Gnade kannte.« Sie drehte sich wieder um, trat dicht an Basti heran, sah im tief in die Augen und sprach:
»Ihr werdet Sonnenherz Rache nicht verhindern, wenn sie euch verspricht, diesen Verräter nicht den Weißvögeln zu überlassen?« Sebastian nickte.
»Ich werde dein Recht achten, Rache zu üben, denn es ist das Gesetz der Götter. Tu mit ihm was du magst, doch ich bitte für ihn, dass du ihn nicht lebendig den Weißvögeln überlässt.«
Sebastian dachte, dass er damit ein Stück Menschlichkeit in diesem Prozess der Vergeltung gebracht hatte. Er wusste, dass Möwen Raubvögel waren, die kaum damit haderten, einen wehrlosen Menschen bei lebendigem Leib zu zerhacken.
Mit einer Gleichmütigkeit, die ihm hätte verdächtig erscheinen müssen, beendete Antarona die Fixierung der Glieder des Mannes im Sand. Dann hob sie die Pfeile auf, ging zu den Pfeilern mit den Laternen zurück, hockte sich an den vorderen Pfahl, und spannte den Bogen.
Sebastian sah ihr verständnislos zu, und konnte ihr Verhalten nicht nachvollziehen. Was sollte das? Wozu der große Aufwand? Wollte sie nun ein Zielschießen auf den Wehrlosen veranstalten? Er schüttelte verzweifelt den Kopf und folgte ihr zu den Stangen hinüber.
Es dauerte nicht lange, da segelte eine Möwe heran, landete in sicherem Abstand von ihrer vermeintlichen Beute, dem wehrlosen Menschen im Sand, und stolzierte zunächst auf und ab, dann im Kreis um den Krieger herum. Bei jeder Etappe ihres Umkreisens kam sie dem Mann näher. Antarona beobachtete die Annäherung des Raubvogels mit eher müdem Interesse. Sebastians Aufmerksamkeit war indes aufs äußerste gespannt, wie sie reagieren würde, denn er wusste, dass sie ein Versprechen, das sie einmal gegeben hatte, in jedem Fall einhielt.
Der eingegrabene Krieger wandte den Kopf hin und her, verfolgte mit angsterfülltem Blick die Möwe und schrie wie am Spieß. Auch er kannte die Kompromisslosigkeit dieser Tiere, wenn es um ihre Nahrung ging. Noch etwas misstrauisch näherte sich der Vogel nun direkt seiner imaginären Beute.
Als keine Abwehr erfolgte, schlug das Tier mit den Flügeln, und wollte auf sein Opfer hüpfen. Sebastian erschrak, denn der Angriff erfolgte sehr überraschend. Plötzlich fiel der Vogel neben dem im Sand Gefangenen zu Boden. Ein Pfeil steckte in seinem Gefieder. Irritiert sah Basti zu Antarona, die gemächlich einen neuen Pfeil an die Sehne legte.
»Warum gehen wir nicht einfach, und lassen ihn in Ruhe«, bot Sebastian in vorwurfsvollem Ton an, denn das Spiel mit der Angst eines Anderen behagte ihm nicht. Antarona blickte trotzig zu ihm auf und antwortete:
»Ba - shtie, was wollt ihr? Sonnenherz entsinnt sich, dass ihr es wart, welcher forderte, dass dieser dort, der es verdient hat, nicht von den Vögeln des großen Wassers gefressen wird. So wird Sonnenherz darüber wachen, dass die Weißvögel ihn nicht anrühren.« Basti schlug sich verzweifelt mit der Hand gegen die Stirn.
»Warum lässt du ihn dann nicht frei? Gib ihm meinetwegen die Peitsche zu kosten, aber binde ihn los, wir können hier schließlich nicht ewig Wache halten, oder?«
»Es wird nicht ewig dauern«, versicherte sie in ruhigem Ton. Sie sagte das so endgültig, dass kein Zweifel an der Richtigkeit ihrer Einschätzung aufkam. Aber gerade das machte Sebastian nervös.
Inzwischen war eine weitere Möwe in der Nähe des festgebundenen Kriegers gelandet. In einem weiten Kreis watschelte sie um den Wehrlosen herum. Ihre tote Artgenossin verhinderte jedoch, dass sie sich weiter näherte. Der Umstand, dass die erste eines unnatürlichen Todes gestorben war, der Pfeil in ihrem Leib schreckte das neue Tier ab, gebot ihr Vorsicht.
Doch als eine weitere ihrer Art heran flog, schaffte der Fressneid neuen Mut. Im Angesicht der Konkurrenz wagte sich der Vogel auf der anderen Seite an den Krieger heran. Der begann sein Jammergeschrei aufs Neue. In dem Augenblick, da die Möwe zuhacken wollte, zischte Antaronas Pfeil heran, touchierte den Leib des Gefangenen und schleuderte den Meeresvogel zurück, als wäre er gegen eine unsichtbare Wand gesprungen. Tot purzelte das Tier zur Seite. Sofort erhob sich die zweite Möwe in den Wind und segelte davon.
»Das wird denen eine Lehre sein«, kommentierte Basti Antaronas meisterhaften Schuss. »Das haben die sich gemerkt, ich glaube, wir können jetzt gehen.« Erwartungsvoll sah er seine Frau an. Die jedoch rührte sich nicht, hockte da wie in einem Theaterstück, das sein Finale noch nicht zum Besten gegeben hatte. Basti verzweifelte an ihrer Sturheit.
»Was denn noch? Reicht das nicht? Die sehen die toten Artgenossen, die kommen nicht mehr wieder! Du hattest deine Rache, wir können jetzt gehen!« Fast schrie er es, um seine Gefährtin zu irgend einer Reaktion zu bewegen. Vor so viel weiblichem Eigensinn gab er auf, hob zum Ausdruck seiner Kapitulation kurz die Arme und wandte sich ab.
Da hörte er den Mann im Sand schreien. Es war ein Schrei, der durch Mark und Bein ging, der eine tief sitzende Angst vor etwas wirklich Grausigem zum Ausdruck brachte. Sebastian wirbelte herum, und ihm blieb fast der Atem im Hals stecken.
Etwas war aus dem Meer den Strand hinauf gekrochen. Etwas, das aussah, wie ein sich ruckartig, langsam fortbewegender, flacher Stein in der Größe einer Untertasse. Allein, wie sich dieses Ding fortbewegte, zielstrebig auf den Mann zu, aber irgendwie behindert. Eher wie steif krabbelnd.
Sebastian ging einige Schritte zurück, kniff die Augen zusammen, dann sah er die großen Scheren und die aufgestellten Augen, die wie kleine Periskope vom flachen Körper abstanden. Es war eine Krabbe. Eine ziemlich große Krabbe. Was sie angelockt hatte, stand außer Frage.
Basti hatte aber immer angenommen, dass diese Tiere ausschließliche Pflanzenfresser waren. In seiner Welt! Er hatte aber schon sehr eindrücklich gelernt, das dies nicht unbedingt in Antaronas Welt gelten musste. Diese Krabbe jedenfalls hatte den im Sand liegenden zum Ziel. Da krochen ein zweites und drittes Tier den kleinen Hang hinauf, der die anrollenden Wellen vom eigentlichen Sandstrand trennte. Sie hatten Mühe, sich auf dem trockenen, weichen Sand fortzubewegen, dennoch näherten sie sich beharrlich dem hilflosen, lebenden Fleisch, das diese Tiere offenbar kannte.
Während der Krieger fast heulend schrie, sah Sebastian seine Gefährtin an. Sein ernster und strafender Blick traf sie ungeschönt, und wäre er nicht in diese Frau verliebt, so hätte er wohl tiefste Verachtung empfunden. Mit stillem Interesse starrte Antarona zum Schauplatz ihrer Rache hinüber, als wohnte sie einem sportlichen Ereignis bei.
Ihr dieses unmenschliche, von Gewalt und Rohheit geprägte Schauspiel auszureden, versuchte er gar nicht erst. Er wusste, dass sie ihn bewusst ausgetrickst hatte. Und er war wie ein unreifer Pennäler darauf hereingefallen. Basti kannte sie und hätte wissen müssen, dass sie nicht einfach aufgab, was sie sich einmal in den Kopf gesetzt hatte.
Er erinnerte sich noch lebhaft an die menschliche Kälte, mit der sie in den Sümpfen vorging, als sie beide auf dem Weg nach Falméra waren, und die Elsiren aus der Gefangenschaft Torbuks Krieger befreit hatten. Sie hatte seelenruhig zugeschaut, wie einer der Männer im Sumpf versank, und Basti hatte fast den Eindruck gehabt, sie hätte sich an dessen Todeskampf ergötzt.
Sebastian Lauknitz musste sich zwingen zu verstehen und zu begreifen, das dieses Mädchen, das er so sehr liebte, einer anderen Welt entstammte, einer Welt mit anderen Wertvorstellungen, mit anderer Einstellung zum Leben, mit einer anderen Kultur. Der Tod war in ihrer Welt so alltäglich wie Essen, Trinken und Schlafen.
So sehr sie das Leben der ihren achtete und hoch hielt, es schützte und behütete, so gnadenlos war sie bereit es jenen zu nehmen, die sich gegen ihr Volk stellten. Jedem Tier zollte sie mehr Achtung, als ihren Feinden. Mitgefühl und Vergebung für jene, die ihr Volk knechteten, kannte sie nicht.
Sie lebte in zwei Extremen. Sie war stets liebevoll, fürsorglich und außerordentlich leidenschaftlich. In diesen Eigenschaften emotionaler als jede andere Frau, die er kennengelernt hatte. Dann aber wieder konnte sie von so grausamer, gnadenloser sowie harter und kalter Natur sein, dass es einem Schauer der Abscheu über den Rücken jagte.
Liebte und lebte sie, so war sie ein sanfter, wilder Engel, doch hasste und verachtete sie, so wurde sie zu einem wilden, berechnenden und reißenden Tier. Dann war sie nicht anders, als diese Krabben dort drüben, von denen nun immer mehr das Wasser verließen, um sich am großen Fressen zu beteiligen.
Das Opfer, ein ausgewachsener Mann, der sicher selbst viele Grausamkeiten begangen hatte, schrie so laut und schrill, dass es Sebastian kaum ertragen konnte. Der Mann schrie nicht nur seinen Schmerz, sondern auch eine panische Angst hinaus, ein Schreien, das Basti zugleich erschreckte, und anwiderte. Die Angst vor einem der grausigsten Tode erfüllte die Luft.
Vergeblich hoffte Basti, dass Antarona der Qual ein Ende bereiten würde, denn noch immer hielt sie den Bogen gespannt in der Hand. Doch sie hockte da, und ließ ihren Blick fasziniert auf dem dramatischen Geschehen ruhen. Sie genoss eiskalt ihre Genugtuung. Die Natur nahm für sie Rache.
Sebastian hatte das Bedürfnis sie für diesen Mann um Gnade zu bitten. Für die Menschlichkeit. Doch er hätte Antaronas Achtung verloren, ihr Vertrauen eingebüßt. So blieb ihm nichts weiter übrig, als sich einzureden, dass er in einer anderen, einer primitiven Welt gestrandet war, und sich den Gegebenheiten anpassen musste, wollte er in ihr überleben.
Gegen seinen Willen zwang er sich, zum Ort der Gräuel hinüber zu sehen. Die Schreie gellten immer noch über den Strand und übertönten die anbrandenden Wellen, die sonst akustisch die Kulisse beherrschten. Mittlerweile krochen so viele Krabben über den Körper des Mannes, dass das Gewimmel aus der Ferne aussah, als lag dort ein großes gestrandetes Tier, dessen braunes Fell sich skurril im Wind bewegte, wäre da nicht...
Rinnsale von Blut bahnten sich ihren Weg durch den Sand bis zum Wasser, das sie in Intervallen fortspülte. Plötzlich erhob sich der Mann mit seinem Oberkörper, ein blutiger Leib, der mit schwachen Armen versuchte, die gierigen, blutrünstigen Krustentiere abzuschütteln. Offenbar hatte sich die Fixierung seiner Gliedmaßen gelockert, oder er hatte doch mehr Kraftreserven, als Antarona ihm zugedacht hatte.
Umständlich, und in panischen, zuckenden Bewegungen versuchte er der Krabbenarmee zu entkommen, indem er auf Ellenbogen und Knien vorwärts robbte. Doch die Tiere folgten seiner Blutspur, andere kamen aus dem Meer hinzu, schnitten ihm den Fluchtweg ab. Einige hingen mit ihren Zangen an ihm und schienen sich in ihm verbissen zu haben.
Mitleidlos sah Antarona dem Kampf des Mannes ums nackte Überleben zu. Sie tat nichts, überließ sein Schicksal den Göttern. Der Anblick, der in Sebastian Übelkeit auslöste, schien Antarona nur sportlich zu interessieren. Wer überlebte den Kampf? Das Menschenwesen, das den Tod verdient hatte, oder die Tiere des großen Wassers, die offensichtlich über alles herfielen, das wehrlos genug war.
Basti hingegen erschauderte schon bei dem Gedanken, dass er nicht einmal gewusst hatte, dass so ein Viehzeug in diesem Meer lebte. Wie oft hatte er mit Antarona im Wasser herumgetollt, wie oft hatten sie sich in den Wellen geliebt. Nie wäre er auf die Idee gekommen, so eine gefräßige Spezies unter ihren Füßen zu haben.
Den Mann verließen kurzzeitig die Kräfte, er sackte in sich zusammen. Sofort kamen Hunderte Krabben über ihn. Dabei entwickelten sie für einen Moment eine Schnelligkeit, die Sebastian erschreckte. Erneut begann der Krieger zu schreien, einzelne Tiere wurden von seinen Armen durch die Luft geschleudert, blieben einen Augenblick auf dem Rücken liegen, ruderten mit ihren Spinnenbeinen, kamen auf die Bauchlage und begannen dann unbeirrt wieder zu ihrem Opfer zu laufen.
Noch einmal wand sich der Mann unter entsetzlichen Schreien aus der Menge der kleinen Raubtiere heraus. Doch er war nicht mehr schnell genug. Überall, auf seinen Schultern, auf seinem Rücken und seinen Beinen saßen die Krabben und bearbeiteten ihn in ihrem Blutrausch.
Als der lange, grauenhafte Kampf scheinbar entschieden war, stand Antarona auf, stumm, mit ausdruckslosem Gesicht, und ging ruhig, aber etwas steif, in Richtung der alten Fischerhütte davon. Sebastian blickte noch einmal zu dem kleinen braunen Haufen, der etwas von einem Ameisenhaufen hatte, dann knotete er die Pla-ka los und folgte ihr in einigem Abstand.
Sie gingen schweigend auf dem fest gepressten Sand, ihre Füße wurden ab und zu von Wellen umspült, und Basti ergriff ein seltsames Unbehagen. Diese Biester, die nicht größer waren, als eine Handfläche, und einen Mann völlig zerpflückt hatte, kamen aus diesem Wasser. Er versuchte sich klar zu machen, dass auch sie zu einem funktionierenden Ökosystem gehörten. Strandete ein Wal, oder ein anderes großes Tier, so sorgten sie dafür, dass der Kadaver bald verschwand. Dennoch, ein nicht zu verdrängendes Gefühl blieb, wie etwas, das plötzlich zwischen ihm und Antarona stand.
Basti hatte das Gefühl, als war ihm Antarona plötzlich fremd geworden, und er suchte verzweifelt nach etwas, das dieses Empfinden wieder verschwinden ließ. Sie schien auf einem Mal in einer Stimmung zu sein, die keinen Platz mehr für ihn hatte. Versuchte er zu ihr aufzuholen, so beschleunigte sie ihren Schritt. Sie mied definitiv seine Gesellschaft.
Doch was hatte er getan? Er hatte ihre Rache nicht verhindert, sondern im Gegenteil, sie noch mit getragen. Was erwartete sie noch? Vielleicht brauchte sie nur etwas Zeit? Er ließ sie voraus gehen, folgte mit den Pla-ka in immer größerem Abstand. Bei der Jaen-tè würden sie sich wieder treffen.
An einer Stelle, an der ein kleiner Bach als Rinnsal durch den Sand ins Meer floss, führte Basti die Reittiere an den Waldrand und ließ sie saufen. Als er wieder auf den Strand trat, war Antarona seinem Blick entschwunden. Gemächlich ging er weiter in Richtung der alten Fischerhütte. Seinem Gefühl nach aber wollte er am liebsten hinter ihr her hetzen, ihr zeigen, dass er zu ihr stand, ihre Entscheidung mit trug.
Dennoch ließ er sich Zeit. Der Strand wurde breiter, und die alte Jaen-tè kam in Sicht, thronte wie ein Horst vor dem Wald und der Felswand unter dem Plateau. Antarona war jedoch nirgends zu sehen. Rasch band Basti die Pla-ka hinter der Hütte an und versorgte sie mit Wasser. Anschließend trat er in die dunkle, muffig riechende Behausung.
Seit sie das letzte Mal hier gewesen waren, schien niemand die Hütte betreten zu haben. Alles war so, wie sie es verlassen hatten. Antarona war immer noch verschwunden. Basti wollte ihr zwar den Freiraum lassen, den sie womöglich nach diesen Ereignissen brauchte, doch er hatte Angst, nicht bei ihr zu sein, wenn sie seinen Beistand und Trost benötigte.
Sorgenvoll trat er vor die Hütte. Von diesem Platz aus hatte er einen guten Überblick über den ganzen Strand, von den Pfählen mit den Laternen, bis hinter die Mündung des Flusses. Die Sonne neigte sich bereits dem Horizont, als ihm etwas im goldenen Licht auffiel, weil es einen längeren Schatten warf, als alle anderen Objekte auf der langen Sandfläche.
Hinter der Flussmündung machte er ein par Felsen aus, die von der Flut noch nicht besiegt werden konnten. Er hatte schon einmal dorthin gespäht, und hatte die Stelle gut im Gedächtnis. Etwas hatte sich verändert, was bei den ewigen Gezeiten im Grunde nichts besonderes war. Doch entweder war dort hinten etwas Großes angespült worden, oder jemand hockte auf einem der Felsen. Sebastian musste nicht lange darüber nachdenken, wer das im Zweifelsfall sein mochte.
Ohne Eile ging er zum Strand hinunter und folgte der Linie, auf der die anrollenden Wellen scheinbar vom Sand aufgesogen wurden. Ein leichter kühlender Wind wehte von See her, und er tat gut nach der Hitze des Tages. Basti ließ seine Füße Gedanken verloren beim Gehen von den Wellen umspülen.
Als ein Steinchen über seinen Spann rollte dachte er unwillkürlich an die Krabben und sprang erschrocken auf den trockenen Sand zurück. Würde er diesem Meer je wieder vertrauen können? Würde er jemals wieder mit Antarona in den Wellen herumtollen, ohne ein Gefühl der Bedrohung im Hinterkopf?
Dann schalt er sich selbst einen Esel. Wie oft hatten sie sich im Wasser getummelt, hatten verträumt am Strand gelegen, waren von Wellen umspült fast eingeschlafen, hatten sich im flachen Auf und Ab des Meeres heiß geliebt. Nie war auch nur der Schatten einer Krabbe zu sehen gewesen. Wahrscheinlich war, dass diese Tiere nur vom Blut oder der Wehrlosigkeit ihrer Beute angelockt wurden.
Etwas vorsichtiger als zuvor lenkte Basti seine Schritte wieder in die Wellen. Seine Mokassin hatte er sich um den Hals gehängt, und ließ sie auf seiner Brust hin und her baumeln. So schlenderte er bis zur Flussmündung, wo das kalte Wasser aus den Sümpfen ins Meer floss, und eine ausfasernde Spur hellerer Farbe im dunklen Salzwasser hinterließ.
Die Gelegenheit nutzend, wusch sich Sebastian ausgiebig im Süßwasser den Schweiß und Dreck des Tages vom Leib. Der föhnige Wind trocknete ihn ebenso rasch, wie ein Handtuch in seiner früheren Zivilisation. Anschließend watete er durch das flache Bett des Flusses, über ausgewaschene, aalglatte Steine, und suchte aus der Entfernung die jenseits im Sand liegenden Felsen ab.
Dort, auf einem großen flachen Stein, gegen den schon wieder die Flut ankroch, hockte Antarona. Still saß sie da, blickte starr aufs Meer hinaus, als suchte sie dort eine Antwort auf Fragen, die sie bewegten. Basti näherte sich mit der gleichen Gelassenheit, mit der er den Strand entlang gewandert war. Er versuchte sich offen zu bewegen, sich nicht vor ihr zu verstecken. Trotzdem wollte er sie nicht stören, und zunächst feststellen, ob sie seine Nähe wollte, bevor er sich zu ihr gesellte.
Er war naiv. Nach einer gefühlten Ewigkeit, die er mit Antarona zusammen war, hätte er wissen müssen, dass sie seine Annäherung bereits längst gespürt hatte, so, wie sie auch seine Stimmung wahrnehmen konnte, bevor er sie erreichte.
»Ihr seid zu Sonnenherz gekommen, Ba - shtie«, sprach Antarona ruhig, ohne ihren Blick vom bevorstehenden Sonnenuntergang abzuwenden.
»Ja«, antwortete er leise, und blieb in einiger Entfernung stehen, »ich wollte bei dir sein. Egal welche Gefühle dich traurig machen, oder erfreuen, ich möchte sie mit dir teilen, denn ich gehöre zu dir, auch wenn ich manchmal anders über Dinge denke, oder anders handle, als du es erwartest.« Antarona wandte sich nicht um, ihre Stimme klang eintönig, beinahe wie mechanisch:
»So nehmt den Platz an Sonnenherz Seite ein, und geht mit ihr zum Geist Talris und der Götter. Bittet mit Sonnenherz um Vergebung, denn Menschenwesen sind durch die Hände von Ba - shtie und Sonnenherz getötet worden, um die Gesetze der Îval zu erfüllen.« Sebastian zögerte einen Moment, dann stieg er von hinten, von der flachen Seite auf den Felsen, und setzte sich neben das Krähenmädchen.
Emotional drängte es ihn, seinen Arm schützend um ihren zerbrechlich wirkenden Körper zu legen, sie an sich zu ziehen, und sie nicht mehr loszulassen. Doch irgendwie spürte er, dass sie sich augenblicklich nicht auf seine Liebkosungen einlassen konnte. Er fühlte, dass sie in eine Art Ritual eingetaucht war, in eine zu ihrer Welt gehörigen moralischen Pflicht, einer Art von Gebet, das er nicht stören, sondern nun mit ihr teilen wollte.
Sebastian vermochte ihr geistig noch nicht zu folgen, doch er fühlte sich ebenso dieser Welt zugehörig, und wollte auch Antaronas Glauben mit ihr teilen. So saß er neben ihr und wartete, was geschehen würde. Völlig von Antaronas handeln überrascht war er aber, als die Sonne im Meer zu versinken begann. Ein ereignisreicher Tag endete. Mit dem neuen Sonnenlauf würde ein neuer Anfang beginnen. Antarona nahm diese Tatsache zum Anlass, ihn wieder einmal zu verunsichern.
Im Augenblick, da die Sonne scheinbar das Meer berührte, stand Antarona mit feierlicher Anmut auf, zog ihr Messer aus dem Bund des Schurzes und schnitt sich einen Teil ihrer langen Haare ab, die Sebastian so an ihr liebte. Er war völlig perplex, stand staunend und erschrocken gleichermaßen neben ihr, und sah zu, wie sie die Haare in offenen Händen der untergehenden Sonne entgegen hielt, bis der leise Wind auch das letzte mit sich genommen hatte.
»Talris, für die Männer, die von Sonnenherz Hand an diesem Sonnenlauf in das Reich der Toten gegangen sind, nehmt dieses Opfer mit euch und vergebt eurer Dienerin mit dem neuen Lauf eures Lichts.« Antarona sprach es so leise, dass Basti Mühe hatte, es unter dem Rauschen des Meeres zu verstehen.
Anschließend kniete sie sich nieder und neigte ihr Haupt zum beinahe versunkenen Sonnenball, so wie es Sebastian bei Islamisten gesehen hatte, die in Richtung Mekka beteten. Danach stand sie auf, nahm sanft seine Hand und zog ihn mit sich vom Felsen herunter.
»Kommt, Ba - shtie, Talris und die Götter werden Sonnenherz und Ba - shtie nun vergeben, dass sie Vergeltung für die Taten der würdelosen Männer genommen haben.« Er folgte ihr, immer noch beeindruckt von der Art, wie sie mit ihrer grausigen Rache umging.
Dabei fragte er sich, warum sie dieses Ritual der Selbstverstümmelung bisher nie angewandt hatte. Seit er mit ihr zusammen war, hatte sie unzählige Feinde in das Reich der Toten geschickt, doch nie zuvor, hatte er diese Reaktion bei ihr gesehen. Gaben die Îval Selbstopfer nur bei Racheakten? Zählten im offenen Kampf getötete Gegner nicht? Er verstand es nicht. Basti nahm sich vor, Antarona bei Gelegenheit danach zu fragen.
Wieder einmal vergaß er ihre geheimnisvolle Gabe, sich in die Sinne anderer Wesen zu schleichen. Daher war er etwas überrascht, als sie plötzlich sagte:
»Ba - shtie, Talris fordert von den Îval stets ein Opfer des Leibes, wenn ein Menschenwesen einem anderen durch gerechte Vergeltung das Leben nimmt, und in das Reich der Toten schickt.« Sebastian dachte kurz nach, bevor er fragte:
»Aber in den Sümpfen, als wir den Elsirenräuber in den Guhl jagten, da hattest du dir keinen Schmerz zugefügt. War das keine Vergeltung?« Antarona antwortete bestimmt und souverän:
»Es war eine Vergeltung, die Sonnenherz nicht für sich selbst forderte. Sie nahm Rache für das, was den Elsiren angetan wurde, das ist etwas anderes. Wäre es nicht so, müsste sich jeder, welcher an einer Schlacht teilgenommen hat, selbst töten.«
Das leuchtete Basti zwar ein, doch er war sich nicht so recht klar darüber, wo genau die Grenze zwischen Verteidigung und Vergeltung definiert war. Er beließ es dabei, denn die Îval selbst, so vermutete er, legten kaum ihren Ehrgeiz in die Aufklärung dieser Frage.
An einer seichten Stelle des Strandes legte sich Antarona mit den Wunden ihres Rückens in den nassen Sand. Das große Wasser, so behauptete sie, hatte eine heilende Wirkung. Sebastian beobachtete indes wachsam die Umgebung. Die Bilder, als die Krabben über den hilflosen Krieger Torbuks herfielen, bekam er so schnell nicht wieder aus dem Kopf. Jeder Stein, jedes Stückchen Tang, alles, was nicht glatt wie der Sand war, jagte ihm zunächst einen Schreck ein, bevor er feststellte, dass seiner Gefährtin keine Gefahr drohte.
Nachdem Antarona meinte, genug Heilung konsumiert zu haben, badeten sie im Flusszulauf, um das Salz des Meeres vom Körper zu bekommen. Dabei suchte Antarona eine Stelle am Ufer, wo sich lehmiger Schlamm gesammelt hatte. Davon füllte sie sich in große, zusammengelegte Blätter. Über Nacht auf die Wundmale aufgetragen, so erklärte sie Basti, würde der Schlamm die Narbenbildung auf der Haut stark reduzieren.
Etwas ähnliches hatte Basti in seiner Welt in einschlägigen Gesundheitsmagazinen gelesen. Er glaubte, dass Antarona wusste, was gut für ihre Verletzungen war, denn sie war mit der Naturmedizin aufgewachsen, wie er mit der Gewohnheit, bei jedem Zipperlein einen Arzt aufzusuchen.
In der alten Fischerhütte legte sich Antarona auf das Lager und Sebastian bestrich ihre Wunden mit dem Schlamm, der alles andere als angenehm duftete. Dann belegte er ihren Rücken mit Blättern, die er nach ihrer Anweisung gepflückt hatte. Es waren schmale, spitz zulaufende Blätter eines ähnlich wie Salat wachsenden Krautes, die das zu schnelle Austrocknen des Schlamms verhindern sollten.
Über das ganze medizinische Kunstwerk deckte Basti eines der Felle, damit sich seine Frau nicht noch erkältete. Doch angesichts der Wärme, die selbst in der Nacht nur im leichten Wind abnahm, bezweifelte er, dass diese Gefahr bestand. Letztlich legte er seinen Arm schützend um ihre Taille und sie ließen sich bald von den Anstrengungen und Abenteuern des Tages in einen tiefen Schlaf entführen.

Irgendwann weckte Sebastian ein monotones Rauschen, das nicht den intervallartigen Charakter des Meeresrauschen hatte. Eine Zeit lang lag er wach und lauschte, um festzustellen, ob sich seine Sinne täuschten. Dann befand er, dass dieses Rauschen zwar von draußen kam, jedoch kaum mit dem Meer in Verbindung zu bringen war.
Antaronas ruhiges, gleichmäßiges Atmen verriet ihm, dass sie noch tief und fest schlief. Also schlüpfte er langsam unter den Fellen hervor, legte sich Schurz und Kriegsrock an und schlich zur Tür. Einen Spalt weit geöffnet, strömte frische, kühle Luft herein, die nach Wald duftete. Er öffnete sie noch weiter und wusste, woher das Rauschen kam. Es goss in Strömen.
Sintflutartiger Regen schien die ganze Welt aufweichen zu wollen. Das Wasser stand auf den Planken der kleinen Veranda, ergoss sich über die Stufen und tropfte in den Sand. Dicke Tropfen trommelten im Krescendo auf das Rindendach. Sebastian musste nach den Pla-ka sehen, die ungeschützt hinter der Hütte standen. Er verzichtete darauf, sich ein Hemd anzuziehen, denn das würde sofort durchtränkt, und auf dem Leib nur hinderlich sein. Vorsichtshalber entledigte er sich noch seines ledernen Kriegsrocks, der im Regen nur unnötig schwer werden würde, und warf ihn in die Hütte zurück, bevor er leise die Tür schloss.
Als er um die Hütte herum huschte, stellte er beruhigt fest, dass es ein ungewöhnlich, ja fast unnatürlich warmer Regen war. Das Wasser prasselte auf seinen Körper, wie von einem beheizten Wasserfall. Abgesehen davon, dass ihm das Nass in die Augen lief, und er kaum drei Meter weit sehen konnte, war der Regen sehr angenehm.
Die Pla-ka hatten das offenbar nicht so empfunden. Sie hatten die Pflöcke aus dem aufgeweichten Boden gezogen und waren getürmt. Wahrscheinlich hatten sie unter einem Felsüberhang, oder im Wald Schutz gesucht. Basti hoffte, dass sie die Tiere wiederfinden würden, denn sie waren für die Jo-lie von nicht unerheblichem Wert. Unentschlossen, ob er sie sofort suchen, oder damit warten sollte, stand er klatschnass zwischen dem Hang und der Jaen-tè.
Gleichgültig hob er die Schultern. Nass war er nun ohnehin schon, und der Regen war angenehm warm. Da die Sicht durch den Starkregen ziemlich eingeschränkt war, und er nicht viel ausrichten konnte, fiel eine Suche aus. Was lag also näher, endlich einmal ausgiebig zu duschen?
Er ging um die Hütte herum, trat vor die kleine Veranda und ging ein kleines Stück auf den Strand hinaus, so dass er die Hütte gerade noch sehen konnte. Der warme Regen fiel so dicht, dass er nicht bis zum Meer sehen konnte. Dazu entwickelte sich ein Dampf, der bis zwei Meter über dem Boden stand und in Schwaden abzog, wenn eine kleine Windböe dazwischen fuhr.
So ein Wetter hatte Sebastian noch nicht erlebt. Es schien, als regnete die Hitze der letzten zwei Wochen in einem Stück ab. Basti rieb sich mit Sand die Haut ab, und ließ den Niederschlag, der ihn fast zu ertränken suchte, alles wieder abspülen. Seinen Lederschurz ließ er einige Male voll saugen und wrang ihn wieder aus, so dass der Schmutz wie aus einem Schwamm ausgewaschen wurde.
Dann breitete er die Arme aus, bog seinen Rücken nach vorn durch und hielt sein Gesicht in den rauschenden Guss. Er genoss es, das Wasser an seinem Körper herunter laufen zu lassen. Das Prasseln auf seiner Haut, das Rinnen und Tropfen entspannte ihn, und er fühlte sich, als flog er wie ein Delphin durch die Wogen des Meeres.
Plötzlich berührte ihn etwas Warmes, Weiches, Nasses an den Seiten. Erschrocken fuhr er herum. Antarona war wie aus dem Nichts aufgetaucht. Sie schlang ihre Arme um ihn und schmiegte sich kurz an ihn.
»Ihr wart auf einem Mal nicht mehr da, Ba - shtie«, sagte sie wie zur Entschuldigung durch das Rauschen hindurch. Dann begann sie sich ebenfalls mit Sand einzureiben und wieder abspülen zu lassen, wobei sie sich im Strom des Regens bog und reckte.
Basti sah ihr entzückt zu. Ihr Körper glänzte in der fließenden Nässe, und ihre Narben auf dem Rücken wurden durch das ablaufende Wasser beinahe kaschiert. Stück für Stück rieb sie sich den Sand in die Haare, und wusch ihn wieder aus, bis ihre schwarze Haarpracht wie ein Vorhang um ihrem Kopf tropfend herabhing.
Genüsslich fuhr sie mit den Fingern hinein und raffte ihre Mähne im Nacken zusammen. Dabei bog sie ihren Rücken durch und streckte sich dem warmen, nassen Segen der Götter entgegen.
»Ba - shtie, mögt ihr Sonnenherz den Sand abwaschen?« fragte sie, und ihre Lippen versprühten beim Reden das Regenwasser, das durch ihr Gesicht lief.
Sebastian ließ sich nicht zwei Mal auffordern, obwohl an ihrem Körper keine einzige Krume Sand mehr haftete. Er fühlte ihre glatte, nasse Haut, und seine Vernunft blendete aus, was der undurchsichtige Vorhang des rauschend herabstürzenden Regens geheimnisvoll verhüllte.
Eine Weile lagen sie im Regen still nebeneinander, lauschten dem beruhigenden Rauschen, spürten, wie der warme Niederschlag ihre Körper immer tiefer in den feinen Sand hineinwusch. Sie wälzten sich herum, und ließen ihre Rücken vom warmen Wasser des Himmels begießen. Antaronas Wunden tat das besonders gut, und sie genoss es, spürte sogar, dass die unangenehme Spannung der verschorften Striemen nachließ.
Nachdem sich ihre überhitzten Körper etwas abgekühlt hatten, spürten sie auch den Regen etwas kühler als zuvor. Rasch legten sie sich ihre Hüftschurze um und flüchteten Hand in Hand in die alte Jaen-tè. Doch drinnen mussten sie zunächst einige undichte Stellen im Dach mit Stücken frischer Baumrinde ausbessern. An vielen Stellen tropfte der starke Regen durch, floss hier und dort sogar wie ein Wasserspeier.
Die Löcher über der Lagerstatt hatten sie bereits bei ihrer ersten Nutzung der Hütte abgedichtet. Sebastian entfachte ein knisterndes Feuer im alten, verrotteten Kamin, und sie trockneten sich so gut es eben ging. Antaronas lange Haare brauchten vier Mal so lange, wie ihr Körper, um halbwegs trocken zu werden. Anschließend krochen sie zwar hungrig, aber überglücklich, unter ihre Felle und Decken, und hatten nicht mehr die Absicht, sich an diesem Tag nach draußen zu wagen.
Da sie nun eng aneinander gekuschelt unter ihrem wärmenden Kokon lagen, und die Zeit der ganzen Welt besaßen, wollte Antarona etwas über die Welt der Götter erfahren. Sebastian erzählte ihr also aus seiner Welt, seiner Zivilisation, und entlockte dem Krähenmädchen mit jedem zweiten Satz große Augen und ein tiefes Erstaunen.
Er berichtete ihr von Tausenden auf den Wegen ohne die Kraft der Pla-ka sich fortbewegender Wagen aus Metall, die von den Götterwesen mit Knöpfen, Hebeln und einem Rad gelenkt wurden. Bei seiner Schilderung der Häuser, in denen die Götter wohnten, die über sechs mal zehn mal so hoch waren, wie die Himmelsburg, sah er ihr an, dass sie nicht abgeneigt war zu glauben, dass seine Phantasie mit ihm durchgegangen war.
Der Geschichte, dass es in den hohen Häusern Zimmer gab, in denen das Trinkwasser aus der Wand kam, und man das verbrauchte Wasser in fest verbaute Behältnisse im Boden goss, stand sie neugierig und aufgeschlossen gegenüber.
Auch das nicht mehr regelmäßig auf die Jagd gehen müssen, weil man Fleisch bereits abgezogen, ausgenommen und filetiert mit Quarts kaufen konnte, fand ihren Zuspruch. Ein Markt der immer an einem Ort gegenwärtig war. Dass die Musik nicht von Spielleuten, sondern ebenfalls aus der Wand kam, machte sie traurig.
»Da haben die Götterwesen ja gar keinen Spaß mehr«, kommentierte sie nachdenklich seine Schilderung. Und als Basti ihr berichtete, dass jede Heimstatt einen Kasten besaß, durch dessen Fenster man in die ganze Welt sehen, und Geschichten hören und in ihrer Handlung sehen konnte, glaubte sie ihm kaum noch.
Lange dachte Antarona über die vermeintliche Welt der Götter nach. Obwohl ein gewisser Fortschritt in ihrer Kultur stellenweise bereits stattfand, merkte Sebastian ihr an, dass ihr die Darstellung seiner Welt Angst machte. Wieder einmal, wie im weiten Tal der roten Flühen, bekräftigte er, dass er sie nie aus dem Val Mentiér fortbringen würde. Etwas beruhigter fragte sie:
»Wie kommt es, dass die Wagen in der Welt der Götter von selbst fahren, ohne von einem Tier gezogen zu werden?« Sebastian Lauknitz kam nun in ernsthafte Erklärungsnot.
Wie sollte er einer Frau mit einem Wissensstand des fünfzehnten Jahrhunderts, gemessen an seiner Welt, die Technik und Elektronik des zwanzigsten Jahrhunderts beschreiben? Wie erklärte man eine Energiequelle wie Strom, die man nicht sehen konnte?
Basti sprach von stinkendem Wasser, ähnlich wie Mestas, welches gut brannte, und mit kleinen Verpuffungen eine Technik wie ein Räderwerk antrieb. Ebenso erklärte er, wie mit der Kraft von großen Wasserfällen riesige, komplizierte Mühlräder angetrieben wurden, und die Kraft in das verwandelt wurden, aus dem die Blitze eines Gewitters waren. Antarona nickte verständig, doch er ahnte, dass er sie allmählich mit den aus ihrer Sicht fantastischen Geschichten überforderte.
Als er seinen Blick nach einer kleinen Pause seiner Ausführungen wieder ihrem Gesicht zuwandte, hatte sie die Augen geschlossen. Ihr sanfter Atem, ihre sich ruhig hebenden und senkenden Brüste, und ihr schwer auf seiner Brust liegender Kopf verrieten ihm, dass sie eingeschlafen war. Behutsam strich er ihr die Haare aus dem Gesicht, und zog die Felle über ihre Schultern, bevor er sich ebenfalls seiner Müdigkeit ergab.
Noch im Einschlafen sinnierte er darüber nach, ob es klug war, ihr seine Welt, seine technisierte Zivilisation, als eine Welt der Götter zu nahe zu bringen. Aber wie sonst sollte er ihr seine Welt erklären, wenn er selbst nicht einmal wusste, wie beide Welten nebeneinander existieren konnten? Er wusste ja nicht einmal, ob die Welten auf geistigen, oder physischen Ebenen vorhanden waren, oder Antaronas Welt vielleicht nur als ein großes Experiment geschaffen wurde.
Solange er nur von einer, eben seiner Welt wusste, gab es diese Frage nicht. Doch nun, da er sich in einer anderen Welt bewegte, die selbst als Experiment kaum auf dem Planeten Erde Platz finden konnte, wusste er nicht mehr, was real war. Wurde er in eine andere Zeit, an einen anderen Ort, oder in eine andere, geistige Ebene katapultiert? Räumlich gesehen passte Antaronas Welt, so wie er sie bisher kannte, nicht einmal in das tibetanische Becken hinein.
Die Frage, die ihn vor einiger Zeit noch aufgeregt hatte, die ihn gequält und im Kopf zermartert hatte, ließ ihn nun einfach dahin dämmern. Wie rasch sich der Mensch doch an eine neue Welt gewöhnen konnte! War er deshalb im Laufe der Evolution noch nicht ausgestorben, weil er extrem anpassungsfähig war?
Sebastian spürte Antaronas warmen, weichen Körper, fühlte ihre Haut auf seiner, hörte ihren Atem und ihren ruhigen Herzschlag, und ließ sich davon in einen tiefen Schlaf entführen.

Eine unruhige Geschäftigkeit in der Hütte ließ ihn irgendwann erwachen. Es war hell geworden, und eigentlich doch nicht. Das Rauschen des Regens war immer noch da. Das wenige Licht, das den Raum etwas erhellte, stammte vom Feuer im Kamin, nicht vom Tageslicht, das durch das Fenster hereindrang.
Antarona lief nackt in der Hütte herum. Ihr gebräunter Körper glänzte kupfern im Schein des Feuers, und ihre Haare hingen ihr schwer vom Kopf. Sie schienen nass zu sein, was Sebastian sich damit erklärte, dass sein Krähenmädchen bereits im Regen gewesen war.
Heimlich und fasziniert beobachtete er sie, verfolgte ihre geschmeidigen Bewegungen, betrachtete ihre verführerischen Rundungen und dachte gar nicht daran, zu offenbaren, dass er bereits wach war. Ihr Anblick verzauberte ihn, und seine Phantasie schlug Purzelbäume. Die Wunden, welche die Peitsche auf ihrem Rücken hinterlassen hatte, sahen im flackernden Licht des Feuers wie Tätowierungen aus. Irgendwie, so fand er, verliehen sie ihr etwas Geheimnisvolles, ja beinahe Erotisches.
Ihr Erscheinungsbild glich jenen Darstellungen, die Sebastian aus seiner Welt von Airbrush- Bildern her kannte, in denen sich die Künstler kreativ austobten, und keinen Winkel der männlichen Phantasien ausließen. Bisweilen hatte Sebastian den Verdacht, dass er nach irdischer Erklärung seiner Welt tot, oder zumindest nicht mehr bei Sinnen war, und in einer Welt aus seinen eigenen, intimsten Phantasien gefangen war.
Doch vieles, wie Kampf, Tod und Leid, wie die Ungewissheiten, Entbehrungen, und unmenschlichen Anstrengungen passten nicht in eine Wunschphantasie. Nein, das ganze Erlebnis war einfach zu real, um ein Wunschtraum zu sein. Basti begnügte sich einfach damit, die verführerische Aussicht zu genießen, solange er den tief Schlafenden mimen konnte.
»Ba - shtie, mögt ihr frisches Wasser holen? Sonnenherz hat nicht weit der Jaen-tè einen neuen Bach entdeckt, der durch das Wasser der Götter gewachsen ist.«
Ihre Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. Er fühlte sich ertappt und überrumpelt. Schon wieder hatte er nicht daran gedacht, dass Antarona Geisteszustände wahrnehmen konnte, die anderen verborgen blieben. Anscheinend wusste sie seit geraumer Zeit, dass er hellwach gewesen war. Sie fühlte es. Und er war so naiv zu glauben, sie heimlich beobachten zu können.
Doch das Krähenmädchen nahm ihm seine versteckte Spannerei nicht übel. Im Gegenteil. Sie kam mit wiegenden Hüften zum Lager herüber und brachte ihm einen Becher mit heißer, dampfender Flüssigkeit. Der Sud roch nach einer Mischung aus Pfefferminze und Thymian, mit einer Spur Zitrone. Offenbar war Antarona schon früh draußen gewesen, und hatte Kräuter gesucht.
Anstatt demütig und mit dem Blick eines auf frischer Tat Ertappten zu schauen, grinste er sie breit und frech an. Sie verstand es als Kompliment. Was für eine Frau! Als könnte sie seine Gedanken buchstäblich lesen, beugte sie sich über ihn, und küsste ihn flüchtig. Ihr verführerischer Duft und ihre lockenden Rundungen berührten ihn und weckten auch den letzten, müden Geist in ihm.
»Holt Wasser, Ba - shtie, und Sonnenherz sorgt für ein kräftiges Mahl. Danach gibt uns Talris viele Zentaren für Liebe«, stellte sie in Aussicht, stand auf, und ging mit aufreizenden Bewegungen wieder ihrer Tätigkeit nach.
Sofort war Basti aus den Fellen gesprungen, band sich den Lederschurz um, und zurrte den Kriegsrock darüber. Im Vorübergehen schnappte er sich die ledernen Wasserbeutel, und trat auf die kleine Veranda. Er kam nicht dazu, die Nase in den frischen Wind zu halten, denn sofort gab der Boden unter ihm nach. Es splitterte, krachte, und er stand mit verdutztem Gesicht eine Etage tiefer im Morast.
Die Dielen der Veranda waren alt und porös geworden. Durch den anhaltenden Regen hatten sie sich offenbar mit Wasser voll gesogen, und waren völlig durchweicht. Sein Gewicht waren sie nicht mehr geneigt, zu halten. So stand er bis zur Hüfte in einem Loch aus Holz. Seine Füße fühlten einen breiigen, kalten Untergrund, und er wagte nicht, sich zu rühren.
Würde er wegrutschen, und mit dem Rücken gegen das ausgebrochene Holz schlagen, lief er Gefahr, sich einen Splitter in die haut zu rammen. Vom Lärm angelockt, erschien Antarona in der Tür. Sie hatte das Holz ohne Protest getragen. Nun, sie war auch wesentlich leichter, tröstete er sich.
Antarona fing an zu prusten, und als sie sein verdattertes Gesicht sah, vermochte sie sich nicht mehr zu halten. Sie begann laut los zu lachen, bis ihr die Tränen über die Wangen kullerten. Selten sah er sie so ungezwungen fröhlich, und obwohl er innerlich vor Wut platzen mochte, erfreute er sich an ihrer Heiterkeit. Die lebte sie aus, wie ein kleiner Teenager, der jemandem einen Streich gespielt hatte.
Sebastian drehte sich zu ihr um, wollte gespielt eine grimmige Mine aufziehen, doch seine Gesichtszüge entglitten ihm, als seine Füße plötzlich unter ihm fort rutschten. Seine Mimik musste in diesem Augenblick ultra komisch aussehen, denn Antarona bog sich vor Lachen, und musste sich am Geländer festhalten, um nicht vor ihrem eigenen Zwerchfell niederzuknien.
Basti landete indes unsanft auf dem Hintern, das Holz der Dielen glitt in atemberaubender Geschwindigkeit über ihm dahin und der vom Regen aufgeweichte Boden entließ ihn in die Gravitation des Planeten, über dessen Identität er noch beim Einschlafen nachgedacht hatte. Die Rutschpartie endete einige Meter tiefer und von der Hütte entfernt in einer riesigen Pfütze, verfolgt von Antaronas glucksendem Kichern.
Ihr Lachanfall verursachte in ihren Atemwegen eine Schnappatmung, weshalb sie nur noch ein abgehacktes, heiseres Lachen ausstieß. Basti war nun echt sauer. Alles an ihm, vom Lederschurz, über Kriegsrock, bis zu seinem Körper war mit dunklem Schlamm überzogen. Dazu bedachte ihn der Regen mit einem kalten Trommelwirbel auf seiner Haut. Zwischen dem Zorn über sein Missgeschick, und dem erstaunen über Antaronas Heiterkeitsausbruch, dachte er daran, dass sein Abgang zu Zeiten aufkommender Slapsticks in seiner Kultur sicher der gekrönte Knaller gewesen wäre.
Wie ein übergossener Wasel saß er in der Suhle, und traute sich nicht zu rühren, um den Dreck nicht noch mehr auf seinem Physischen Dasein zu verteilen. Antarona bekam ihren Lachanfall kaum unter Kontrolle. Nackt wie sie war, kam sie die noch intakten Stufen herab und stellte sich mit in die Taille gestemmten Händen vor seinem Schlammbad auf. Ihr Lachen verwandelte sich in einen teils tadelnden, teils mitleidigen Blick.
Sebastian löste die Schnallen seines Kriegsrocks und warf ihn weit über den Rand des Tümpels hinaus. Das Leder war ohnehin schon sehr angegriffen, und er wollte es nicht noch ganz verderben. Dann sah er ungeduldig zu ihr auf.
»Willst du dich noch weiter an meinem Unglück ergötzen, oder mir aus dem Loch hier heraus helfen?« fragte Basti mit gespieltem Vorwurf. Mittlerweile war es schon egal, ob er sich ärgerte, oder freute. Schmutziger konnte er nicht mehr werden.
Antarona reichte ihm ihre Hand am ausgestreckten Arm, bemüht mit ihren nackten Füßen nicht den Rand des Morasttümpels zu berühren. Basti ergriff ihre Hand und wollte sich mit einem Ruck aus dem Schlammloch befreien, in dem sich neben aufgeweichtem Sand auch die vom Hang gespülte Erde gesammelt hatte.
Auf den kraftvollen Zug war Antarona nicht vorbereitet. Ihre Füße glitten auf dem glitschigen Untergrund aus, sie ruderte mit den Armen und klatschte neben Basti in die Suhle. Zornig, weil nun ihre frisch gewaschenen Haare wieder aussahen, wie durch Dreck gezogene Lianen, nahm sie eine Hand voll Schlamm und bewarf Basti damit.
»He, was soll das?« entrüstete sich der lautstark, und konterte, indem er die flache Hand auf die Oberfläche des braunen Wassers schlug, so dass Antarona ein gehöriger Schwall davon übergoss.
Noch wütender als zuvor, winkelte sie ihre Beine an, und stieß ihn mit den Füßen gegen die Schulter. Basti verlor den Halt und kippte in den Schlamm zurück. Aber er richtete sich schnell wieder auf, packte ihre Fußgelenke und zog sie zu sich heran. Sie versank bis zur Kinnlade im Modder.
Das ließ sie sich natürlich nicht gefallen. Mit ihren langen, schlanken Beinen umklammerte sie seinen Körper und wollte ihn in einer heftigen Drehung ebenfalls in die Brühe werfen. Doch das glitschige Zeug bot keinerlei Reibungswiderstand. Basti schlüpfte zwischen ihren Schenkeln hindurch, und umfasste sie seinerseits mit den Armen, um sie zu bändigen.
»Warte, dich werd' ich schon kriegen«, drohte er spaßig, stellte aber fest, dass ihre Wendigkeit und Biegsamkeit in Verbindung mit dem Schlamm nicht in den Griff zu bekommen war. Statt dessen sprang Antarona rittlings auf seinen Rücken, und drückte ihn in den Morast zurück.
Ihr Zorn war rasch verflogen. Dafür hallte ihr kehliges lachen durch den Regenvorhang über den Strand. Sie fand gefallen an dem Spiel und wurde leicht übermütig. Um sie zu bremsen, um klammerte er sie von hinten um die Taille, so dass sie sich nicht wieder herauswinden konnte. Doch wenn Antarona einmal in Fahrt war, vermochten sie auch kräftige Männerarme nicht bezwingen.
Berechnend stemmte sie ihre Beine in den Grund des Tümpels, stieß sich plötzlich mit den Füßen ab und warf ihren Eroberer auf den Rücken. Basti schnappte nach Luft, wollte verhindern, das er noch eine Pfütze Schlamm verschluckte, und lockerte den Griff. Sofort wand sie sich auf ihm herum, wie eine rollende Schlange, und saß im nächsten Augenblick auf seinem Bauch.
»So, großer Mann, den die Götter gesandt haben, nun ergebt euch, und bittet Sonnenherz um Vergebung, sonst...« Den Satz ließ sie offen. Basti wand sich unter ihren umklammernden Schenkeln, und versuchte sie von sich herunter zu ziehen, doch mit äußerst mäßigem Erfolg.
»Was sonst?« stieß er mühsam hervor, während er versuchte, sich unter ihr zu befreien. Der morastige Untergrund verhinderte, dass er seine Kraft fixieren konnte, und so blieb sein Bemühen ein eher hilfloses hin und her Strampeln. Antarona saß auf ihm, wie auf einem nassen Pla-ka. Mit der Akrobatik ihres Beckens glich sie elegant jede seiner Bewegungen aus, die zum Ziel hatten, sie abzuschütteln.
Doch so sicher, wie auf einem Pla-ka saß sie freilich nicht. Ihr Schoß rutschte auf ihm hin und her, herauf und hinab. Dazu kam, dass Sebastian versuchte, sie mit Kitzelattacken aus dem Sattel zu werfen. Ihr rauchiges Lachen verhallte im Hintergrundrauschen des strömenden Regens. Aus der ernsthaften, nachdenklichen Frau wurde spontan ein albernes, kleines Mädchen, das in einem Anfall von Spaß alle angestauten, bösen Einflüsse verarbeitete. Sie ließ einfach mal Dampf ab.
Das Spiel der beiden Menschenwesen versank im undurchdringlichen Schleier des starken Regens, und blieb ihr gehütetes Geheimnis. Ihre Stimmen wurden vom rauschenden Vorhang ebenso verschluckt, wie das kleine Abenteuer der Gefühle, das die Herzen zweier sich Liebender auslösten.
Rasch wurde es im strömenden Regen frisch. Bevor ihre Körper ganz auskühlten, nahm Basti seine Frau in die Arme und trug sie vorsichtig die Stufen zur durchgebrochenen Veranda hinauf, stieß mit dem Fuß die Tür auf und legte sie sanft auf die Felle und Decken ihres Lagers, bevor er die Tür fest verschloss.
Trotz nagendem Hunger, denn das Wenige, das sie von den Männern Torbuks erbeutet hatten, war aufgebraucht, krochen sie wieder unter die Felle. Es regnete zwei Tage, zwei Nächte, und noch den nächsten halben Tag. Dann schossen plötzlich die Strahlenlanzen der Sonne durch das trübe Butzenfenster.
Von den Bäumen und vom Hüttendach troff noch das Wasser, als sie aus der Tür der Jaen-tè traten. Im Nordosten stand noch eine mächtige, graue Wolkenbarriere wie ein riesiges, vergessenes Bauwerk am Himmel. Die Ränder des Wolkenmassivs glühten unnatürlich weiß in der Sonne, die sich nun wieder das Firmament erobert hatte. Irgendwo in der Ferne waren die himmlischen Schleusen noch geöffnet. Deutlich sah man die grauen Schleier, die strichweise aus der grauen Masse herabhingen.
Skeptisch betrachtete Antarona das gesplitterte Loch im Boden der Veranda. Für jeden, der schlaftrunken aus der Tür trat, stellte es eine sichere Falle dar.
»Es wird ein gutes Stück Arbeit, das auszubessern«, dachte sie laut. Basti blickte nachdenklich auf die Ursache ihrer letzten stürmischen Leidenschaft, schürzte die Lippen und fragte naiv:
»Warum willst du es reparieren? Ist doch der beste Schutz davor, in der Hütte von ungebetenen Gästen überrascht zu werden, oder?« Antarona zuckte mit den Schultern und war gedanklich schon beim nächsten Thema.
»Die Pla-ka sind fort, und werden nicht so leicht zu finden sein«, stellte sie scheinbar ohne Emotionen fest. Sie hätten es aber auch kaum verhindern können. Die Tiere mochten inzwischen wer weiß wo sein! Es war kaum sinnvoll sie zu suchen. Damit war auch die Möglichkeit gescheitert, die sterblichen Überreste von Thies ins Dorf zu schaffen, um ihn an das Tor zum Reich der Toten zu bringen.
Nachdem sich Basti und Antarona ein ausgedehntes Bad im Meer, und anschließend im Fluss gegönnt hatten, machten sie sich auf den Weg zurück ins Dorf. Sie wählten den schnelleren Weg am Ufer des Flusses entlang. Unterwegs bestrich Basti Antaronas Rücken einige Male mit einer Paste aus Flussschlamm und Kräutern, die sie selbst angerührt hatte.
Die Spuren der Peitsche waren schon gut verheilt, und vollständig verschorft. Damit sich die Narbenbildung in Grenzen hielt, musste die Heilkruste feucht und elastisch gehalten werden. Antaronas selbst zubereitetes Mittel schien dazu besser geeignet, als jede Salbe aus den Apotheken Sebastians Welt.
Ihn wunderten ihre Fähigkeiten immer weniger. Und er hätte sich kaum mehr darüber in Erstaunen versetzen lassen, wenn sie sogar einen Krebstumor hätte heilen können. Das Wissen, das Naturvölkern wie den Îval von ihren Ahnen weitergegeben wurde, hätte in seiner technisch orientierten Welt eher keine Beachtung gefunden, es sei denn, ein Pharma- Konzern hätte mit einer Geschäftsidee seinen Profit daraus schlagen können.
Der Erfolg sprach für das Krähenmädchen. Wo sie Hand anlegte, heilten Wunden, schwanden Fieber, und fassten Hoffnungslose neuen Mut. Mit Ausnahme des Medicus Andreas wusste Sebastian von keinem Arzt in Antaronas Welt.
Doch schien es einige Kräuterweiber zu geben, welche in der Lage waren, Volkskrankheiten und Verwundungen zuverlässig zu heilen. Meist lebten diese Heilerinnen von dem, was ihnen ihre Patienten aus Dankbarkeit zukommen ließen, vom Wildpret bis zu den Früchten ihrer Arbeit. Die Palette der Bezahlung reichte vom Brennholz über Brot bis hin zu frisch geernteten Baumfrüchten.
Antaronas Wissen um Heilkräuter und deren Anwendung hatte Sebastian schon ein par Male schätzen gelernt. Und er war wiederum dankbar für ihre Fähigkeiten, als er am Morgen aufwachte.

Als erstes registrierte er, dass er fror. Vorsichtig wälzte er sich auf dem Lager herum, um seine Frau nicht zu wecken. Dabei spürte er jeden Knochen, als wäre er unter eine Büffelherde geraten, und sein Körper fühlte sich schlapp und lahm an, wie jeglicher Kräfte beraubt. Sein Kopf glühte und schien schwer wie Blei. Heißer, brennender Atem drang aus seinem Rachen, und all diese Symptome erzählten ihm, dass er sich schwer erkältet hatte.
Zu dieser Erkenntnis setzte wie auf Kommando ein Anfall von Schüttelfrost ein, der ihn am ganzen Leib erzittern ließ. Offenbar war ihre freizügige Liebe im rauschenden Regen, so warm er auch gewesen sein mochte, nicht ohne Folgen geblieben. Sebastian betete zu den Göttern, dass er sich nicht noch eine Lungenentzündung eingefangen hatte.
Mehr noch aber ängstigte ihn, dass er Antarona angesteckt haben konnte. Abgesehen von ihrer Schwangerschaft stand zu befürchten, dass sie für Erkältungskrankheiten wie grippale Infekte möglicherweise keine Abwehrkräfte besaß. Wie bei den meisten Naturvölkern hatte er auch bei den Îval nie davon gehört, dass jemand an einer Erkältung erkrankt war. Selten, so gut wie nie, hatte er jemanden husten, oder niesen gehört.
Dort, wo Erkältungsviren so gut wie nie vorkamen, grassierten solche Krankheiten meist mit vernichtender Wirkung, wenn sie erst einmal eingeschleppt wurden. Bisher hatte Sebastian Lauknitz diese fremde Welt als großes Abenteuer, oder als Bedrohung für sein Leben betrachtet. Ihm war jedoch nicht in den Sinn gekommen, selbst eine Bedrohung für das Volk der Îval zu sein.
Antaronas Beine suchten im Schlaf nach ihm und schmiegten sich eng an ihn. So sehr er ihre Neigung, im Schlaf seine direkte Nähe zu suchen schätzte, nun wurde das zum Grund zur Sorge. Vorsichtig schälte er sich unter dem Berg von Fellen und Decken heraus. Schnatternd und bebend vor Kälte stand er unschlüssig im Raum.
Behutsam zog er eines der größeren Felle vom Haufen herab, suchte sich einen halbwegs sauberen Platz vor dem Kamin und wickelte sich in den Pelz ein. Eine bessere Wärme spendende Decke, als einen Winterpelz gab es nicht. Trotzdem fror Basti erbärmlich, seine Kiefer schlugen in schnellem Takt aufeinander, so dass sein Zittern wie ein fernes Maschinengewehrfeuer klang.
Abwechselnd fror er, und hatte kurz darauf das Gefühl, in Flammen zu stehen. Das Glühen auf seinem Gesicht, das Brennen seiner Augen und das Frieren am restlichen Körper wurden zu einem Empfinden der Verletzlichkeit, der Ausgeliefertheit, das er in dieser Welt nur einmal ähnlich erfuhr, als er von Högi Balmers Alm ins Tal gestiegen war, und von einem heftigen Gewitter überrascht wurde.
In seinem Fieberwahn durchlebte Basti noch einmal die bewegte Zeit, seit er ins Land Volossoda gestolpert war. So rasch hatte ihn das Schicksal in diese Welt und in ihren Krieg hineingestoßen, dass er selten zeit dazu gehabt hatte, darüber nachzudenken. Eine Gefahrensituation jagte die nächste, so dass er nie wirklich zu Ruhe und Besinnlichkeit kam.
Freilich gab es auch wunderbare, schöne, und fantastische Momente, wie die Liebe zu Antarona, die er in abenteuerlichste Variationen ausleben durfte. Aber auch diese Augenblicke verhinderten, dass er allzu lange und allzu kritisch über seine Situation nachdachte. Nun, im Fieber, zwischen Hitze und Kälte hin und her gerissen, rasten die Erinnerungen und Gedanken, sich überschlagend, durch seinen Kopf.
Dazwischen sah er Bilder aus der vermeintlichen Zukunft, wie er mit Antarona und ihrer Tochter auf einem idyllisch gelegenen Hof lebte, in Frieden, in Harmonie, in Sorglosigkeit...
»...Ba - shtie, wieso liegt ihr auf dem Boden, was ist mit euch? Ihr seht siechend und schwach aus.« Wie durch eine Wand aus Schall hemmenden Nebel drang Antaronas Stimme in sein Bewusstsein, erst dünn, wie aus der ferne, dann deutlicher. Er war eingeschlafen. Er fühlte Antaronas kalte Hand auf seiner Stirn.
»Ihr habt das Feuer, welches von innen kommt«, stellte sie sachkundig fest. »Sonnenherz wird euch helfen, das Feuer im Leib zu besiegen«, kündigte sie weiter an. Sie führte ihn zum Lager zurück, drückte ihn auf die Felle, und deckte ihn mit allen verfügbaren Fellen und Decken zu. Sebastian staunte nicht schlecht, als sie danach begann, einige Speere, die sich in der Hütte fanden, durchzubrechen, und ihm diese quer zu seinem Körper unter die Felle schob.
Dadurch entstand ein kleiner Raum um seinen Körper, der die Zirkulation der Luft zuließ, und die Hitze nach außen transportierte. Basti empfand es als angenehm. Ohne die Stäbe wäre er versucht gewesen, sich aus den Fellen herauszustrampeln, um der erstickenden Hitze zu entgehen. Das wiederum hätte ihn erneut der Kälte ausgeliefert.
Nun lag er auf Antaronas Verordnung hin still da, warm verpackt, und dennoch angenehm belüftet. Im Stillen fragte er sich, warum in seiner zivilisierten, technisierten Welt noch niemand auf diese einfache Lösung gekommen war. Doch damit war Antaronas Therapie noch nicht am Ende. Mit einer alten Kiepe und zwei Wassertaschen bewaffnet verließ sie die Jaen-tè.
Während der Zeit, die sie fort war, driftete Basti in einem Dämmerzustand dahin, bis er sich in wirren Träumen verlor, die ihn wieder aus dem Halbschlaf rissen. Dann stellte er jedes Mal fest, dass Ströme von Schweiß in unzähligen Rinnsalen von seinem Körper flossen, und im gegerbten Leder, auf dem er lag, versickerten. Wenn er sich ein wenig bewegte, zog eine angenehme Welle frischer Luft um seine glühende Haut, ohne ihn wirklich auszukühlen.
Nachdem er zum Soundso vielten Male abwechselnd aus schrecklichen, faszinierenden und paradiesischen Träumen hochgeschreckt war, stand Antarona plötzlich wieder neben seinem Krankenlager. Sie entfernte Felle und Stäbe und er fühlte sich plötzlich buchstäblich seiner Haut beraubt, so fror es ihn.
»Ihr müsst nun ein par Schritte gehen, Ba - shtie«, verkündete das Krähenmädchen bestimmt, und führte ihn aus der Tür hinaus. Es regnete immer noch, schwächer zwar, aber stetig vor sich hin. Antarona stellte ihn in den kalten Niederschlag und wusch ihn von Kopf bis Fuß ab. Dabei ging sie so konsequent vor, dass er einige Male einfach umzufallen drohte. Schwankend, und mit schmerzenden Gliedern ließ er die Reinigungsaktion über sich ergehen. Sein vertrauen in ihre Heilkünste waren grenzenlos.
Anschließend führte Antarona ihn zurück in die Hütte, wo sie ihn mit einer Decke regelrecht trocken schrubbte. Basti sah zu, wie sie einige große, grüne Blätter aus der Kiepe hervor holte, und damit das Lager großzügig auslegte. Dann bettete sie ihn wieder darauf, und zog die Wassertaschen heran, die offenbar sehr schwer waren.
Einen grauen Schlamm holte sie daraus hervor, wie ihn Basti am Fluss gesehen hatte. Mit flinken Händen bestrich sie Finger dick seinen ganzen Körper mit der angenehm kühlenden Masse, vom Hals bis zu den Füßen. Er kam sich vor, wie ein Backhähnchen, das großzügig paniert wurde. Aber es war eine angenehm zu fühlende Hülle, die ihn da umgab. Er fror nicht mehr, er hatte das Gefühl nicht mehr zu schwitzen und meinte sogar, dass sich sein Zustand abrupt besserte.
»Ihr dürft euch nun ein par Zentaren nicht bewegen«, wies Antarona ihn an. »Meint ihr, ihr bekommt das hin, oder muss Sonnenherz euch fesseln, um euch zu heilen?« Sebastian lächelte dankbar und sagte matt:
»Ba - shtie wird tun, was ihr sagt, mein Engelchen.« Antarona nickte zufrieden und baute wieder die Konstruktion aus Stäben und Fellen um ihn herum.
»Versucht zu schlafen, Ba - shtie. Sonnenherz hat inzwischen etwas zu erledigen.« Damit nahm sie sein Kurzschwert und verließ die Hütte.
Sebastian schloss die Augen. Sie waren der einzige Körperteil, der noch vom inneren Feuer befallen war. Sein restlicher Körper schien von einer angenehmen Hülle umfangen. Die Augen begannen zu tränen, als er die Lider schloss. Er versuchte sich zu entspannen, und spürte jeden Knochen, jede Faser im Leib, als würden sie in der Luft schweben, und aus einer Art Verspannung heraus in ihre ursprüngliche Lage zurückfinden.
Allmählich ließen sich auch seine Sinne von dem schwerelosen Gefühl mitreißen, und er unternahm eine Reise in eine Phantasiewelt. Neben einem bepackten Pla-ka stand er auf einem hohen, grün bewachsenen Hügel und spähte zu Tal. Dicht dabei stand ein weiterer Pla-ka, auf dem eine blonde Frau saß, die ihn beobachtete.
Basti blickte in die Weite, über sanft geschwungene Hügel, die ebenmäßig mit Gras bewachsen waren, dahinter mäßig hohe, runde Bergrücken, dicht bewaldet. Überall zwischen den Wiesen unterbrachen dunklere Tupfer das helle Grün, und zeugten von kleinen Baumhainen und Wäldchen. Blaue Bäche zogen glitzernd ihre Spur durch das sattgrüne Muster. Weit hinten in einer großen Talsenke lag ein kleines Dorf. Friedlich duckten sich die kleinen Hütten und Katen aneinander, und grenzten an einen Wald, der sich über einen Berghang hinaufzog. Es war ein Bild reinen Friedens und belebender und beruhigender Stimmung zugleich. Die Sonne, die das Sinnesgemälde, unterbrochen von ein par schneeweißen Wolken beschien, wärmte angenehm.
Ruhig und entschlossen band er ein par der Gepäckstücke vom Pla-ka los, und reichte sie seiner Begleiterin, die mit einem römisch, oder griechisch anmutenden, kurz geschnittenen Kostüm, oder Kleid auf ihrem Reittier saß.
»Ich bin müde«, hörte er sich selbst zu der Frau sagen, »ich werde dort unten bleiben, und mich ausruhen.« Er wusste, dass die Frau ihn nicht begleiten würde. Ihre Wege würden sich an dieser Stelle auf dem grünen Hügel trennen. Es war ein Abschied von widersprüchlichen Empfindungen.
Einerseits meinte Basti die schlanke Frau mit den langen, blonden und gewellten Haaren so gut zu kennen, dass er ihr vertraute, dass er sie am liebsten nicht verlassen würde. Andererseits stand etwas undefinierbares zwischen ihnen, das er nicht erklären konnte. Doch er wusste, dass er sie nicht aufhalten konnte. Ihr Weg war an dieser Stelle noch nicht zu Ende. Sie folgte einer anderen Bestimmung. Eine Vertrautheit zwischen ihnen, und gleichzeitig eine Akzeptanz ihrer verschiedenen Ziele trug einen stillen, wehmütigen, aber auch sehnsüchtigen Abschied. Er wusste, dass sie einen weiten Weg gemeinsam gegangen waren.
Basti blickte sich nicht mehr um. Er führte seinen Pla-ka an der langen Leine langsam den Hang hinunter, und wusste, dass die Frau im Schritt dem Kamm des Hügels folgte, um irgendwo in den Weiten des Graslandes für immer zu verschwinden.
Er kam in ein Dorf in einem Tal, das von Zwergen, oder sehr kleinen Menschen bewohnt war. Sie hießen ihn willkommen, freuten sich, dass er gekommen war, und nahmen ihn in ihre friedliche, einfach geprägte Gemeinschaft auf. Alles in diesem Dorf schien ruhig und in Harmonie abzulaufen. Das Wetter war frühlingshaft schön, man brachte ihm ein einfaches, aber gutes Frühstück, und Basti fühlte sich sofort Zuhause.
Aber in dem Wald, auf dem Hang über dem Dorf war etwas Böses. Nichts Bedrohliches, doch etwas, das die Zwerge auszumerzen suchten. Basti half ihnen, wie und wo er konnte. Viele Tage und Wochen lang durchstreifte er mit ihnen den dunklen Hangwald, doch es fand sich nichts, das es zu bekämpfen galt.
Dann faszinierte ihn ein Mädchen dieses kleinen Volkes. Sie mochte ihn, hielt ihn jedoch stets auf Distanz, wie ein schüchternes, scheues Reh. Seine Sehnsucht nach Liebe, nach einem wirklichen Zuhause mit einem geordneten Leben manifestierte sich in diesem lieblichen Geschöpf.
Doch genau in diesem Moment musste er gehen. Irgend ein Zwang stand hinter der Notwendigkeit, das friedliche Dorf zu verlassen. Sebastian traten die Tränen in die Augen, denn gegen diesen Abschied von diesem paradiesischen Ort wehrte sich sein Geist mit allen Empfindungen. Eine fremde macht schien ihm das Herz aus der Brust zu reißen.
Er wusste, dass er diesen schönen Ort lange vermissen, ihm verzweifelt nachtrauern würde. Dort draußen, außerhalb dieser Gemeinschaft von freundlichen Wesen, wartete das Ungewisse, eine Leere. Er verließ nicht nur das kleine, ruhige Dorf, er verließ auch seinen inneren Frieden...

Als er aus dieser Fantasiewelt wieder auftauchte, blickte Sebastian in Antaronas Gesicht. Ihre Hand lag auf seiner Stirn, und sie schien mit seinem Zustand zufrieden zu sein. Sie lächelte, und Sebastian musste eine Weile nachdenken, bevor er realisierte, dass er nicht mehr in dem Land der kleinen Menschen war. Einen Augenblick lang überkam ihn das Gefühl der Enttäuschung, wieder zurück in der maroden, zugigen Hütte an der Küste Falméras zu sein.
Allmählich sickerte die Realität in seinen Verstand zurück. Und nun war er glücklich, Antarona neben sich zu haben. Das Gefühl, eine lange Zeit weit von ihr fort gewesen zu sein, verdrängte er. Es lauerte noch ein par Minuten in seinem geistigen Hintergrund, verschwand dann aber vollends.
Nun versuchte Basti sich zu bewegen, und er spürte, wie überall an seinem Körper etwas, wie eine zweite Haut von ihm abfiel. Der getrocknete Lehm, mit dem Antarona ihn eingestrichen hatte, brach und bröckelte von ihm ab. Das Gefühl der Abgeschlagenheit, das ihn niedergeworfen hatte, war verschwunden. Ebenso das Brennen in den Augen, und das Empfinden, dass sein ganzer Körper in Flammen stand.
»Ihr seid drei schlafende und zwei laufende Sonnen zwischen der Welt der Menschenwesen und dem Reich der Toten gewandert, Ba - shtie«, verkündete ihm das Krähenmädchen mit sorgenvollem Blick. Durch ihre Art der Mitteilung musste er die Botschaft erst einmal auf sich wirken lassen, um sie zu begreifen.
»So lange habe ich geschlafen?« fragte er ungläubig und sah an sich herunter. Hatte er sich die ganze Zeit über nicht einmal bewegt? Wie sonst vermochte der Lehm an seinem Leib halten? Antarona klärte ihn auf:
»Sonnenherz hatte Sorge, dass ihr in das Reich der Toten zurück geht, Ba - shtie. Sie tat, was sie die alte Waldlerin gelehrt hatte, um euch bei den Menschenwesen zu halten.« Dabei deutete sie auf einen alten, verrosteten und verbeulten Kessel, in dem irgendein Sud dampfte, und auf die Brocken des getrockneten Lehms, der seinen Körper ummantelt hatte.
»Und nun müsst ihr jenen Hände, welche aus dem Reich der Toten nach euch greifen, entfliehen, müsst das Böse aus eurem Leib treiben, Ba - shtie. Sonnenherz hat euch dazu eine Pinnake bereitet.« Sie hielt ihm die Arme hin, um ihm aufzuhelfen.
Mühsam erhob er sich von dem Lager, auf dem er angeblich so lange gelegen hatte. Er fühlte sich plötzlich federleicht, wie von einer großen Last befreit. Es war, als hätte er gerade ein schweres Kettenhemd abgestreift, in dem er eine Schlacht geschlagen hatte. Eine angenehme Frische umströmte seinen Körper. Nur sein Geist schien noch nicht ganz wach. Ein benommenes Summen und ein Gefühl von Schwindel tanzte wie ein schwerer Nebel durch seinen Kopf.
»Pinkacke, Pinhacke, was hast du für mich vorbereitet?« Sebastian hatte nicht richtig verstanden. Zu sehr war er noch damit beschäftigt, aus seinem Traum zurück in die Realität zu finden.
»Eine Pinnake, eine Jaen-tè, in der man schwitzt«, sagte sie auf ihre einfache Art und erklärte weiter, »ihr müsst das Böse aus eurem Leib herausschwitzen. Ba - shtie, ihr werdet sehen, wie wohl euch danach ist. Es befreit euch nicht nur im Leib, sondern auch im Kopf.«
Ihm war noch nicht nach Diskussionen zumute, darum ließ er sich vor die Tür führen, und staunte nicht schlecht. Antarona hatte nicht nur das Loch in der Veranda ausgebessert. Neben der kleinen Fischerkate war dicht am Waldrand eine weitere, kleinere und runde Hütte entstanden. Das kleine Häuschen aus Reisig, Schilf und Rindenplatten sah so perfekt aus, wie eine Gartenlaube.
Sebastian wusste nicht, was er zuerst bewundern sollte; den nach allen Regeln der Schreinerkunst geflickten Verandaboden, oder die neue Hütte. Wie lange war er im Fieberschlaf versunken? Drei Tage, eine Woche? An Langeweile hatte Antarona während dieser Zeit jedenfalls nicht gelitten.
Den Dielenboden des Vorbaus hatte sie mit dünnen, geschälten Baumstämmen ausgebessert, die sie der Länge nach in der Mitte aufgespaltet hatte, so dass die Runden Seiten nach unten, die ebenen nach Oben zeigten. Von unten mit Querhölzern abgestützt, hatte sie die auf Stein geschliffenen flachen Seiten der Stämme in das Loch zusammengefügt.
Basti trat vorsichtig auf den hellen Fleck des frischen Holzes, und stellte fest, dass es erstaunlich stabil war. Er lobte ihre Arbeit und sah zu, wie sie stolz ein Stückchen in die Höhe wuchs. Langsam tapste er die Stufen hinunter und wandte sich der neuen Hütte zu.
Diese hatte eine enorme Ähnlichkeit mit den leichten Hütten, wie man sie in der Afrikanischen Savanne zu sehen bekam. Der runde Grundbau war aus einem Geflecht von biegsamen Zweigen errichtet, die um in den Boden gesteckten Stangen geflochten waren. Die Zwischenräume waren mit Erde und Gras ausgefüllt. An die Stangenenden hatte Antarona weitere Stangen gebunden, deren obere Enden sich in der Mitte kreuzten. Auch diese Stangen waren von grünen Zweigen und Schilf durchflochten und mit Schindeln aus Rinde bedeckt.
Zur dem Wind abgewandten Seite hin hatte das Krähenmädchen eine kleine Luke in der Hüttenwand gelassen, zu klein für eine Tür, zu groß, um nur ein Loch zu sein. Anerkennend nickte Basti ihr zu, und lobte mit einem Pfiff zwischen den Zähnen hervor:
»Du bist nicht nur eine große Heilerin, du bist sogar eine perfekte Baumeisterin. Wo hast du das gelernt?« Gleich nach seiner Frage fiel ihm ein, wie unsinnig diese war. Schließlich war ihr Vater der Holzer vom Val Mentiér. Es lag nahe, dass sie als sein einziges Kind, zumindest einige Techniken im Umgang mit Naturmaterialien erlernt hatte.
Antarona ging erst gar nicht auf seine Frage ein. Sie stubste ihn vorwärts auf die Luke zu. Sebastian kroch auf allen Vieren in die kleine Reisighütte, und war wiederum erstaunt, wie geräumig das von außen so winzig wirkende Bauwerk war. Den Boden hatte Antarona mit großen Blättern ausgelegt, ähnlich jenen, mit denen sie einmal ihr Baumhaus vor dem Regen schützte. In der Mitte war eine kleine Grube ausgehoben worden, und mit kleinen Steinchen ausgelegt worden.
Neben der Hütte hatte das Krähenmädchen einen großen Reisighaufen aufgetürmt, den sie nun anzündete. Als das Feuer gut brannte, warf sie Handball große, abgerundete Steine in die Flammen, die sie daneben bereit gelegt hatte. Nachdem das Feuer fast heruntergebrannt war, schubste sie die vom Meer rund geschliffenen Steine mit einer Stange aus der Glut, dirigierte sie durch die Luke in die Hütte und in die Grube hinein.
Dann schob sie Sebastian hinter den Steinen her in die Jaen-tè. Im Innern der Hütte wurde es sofort sehr warm, und er war überrascht, welche Heizkraft die erhitzten Steine besaßen. Nun kam Antarona mit einer großen, tiefen Holzschale herein und goss kleine Schlucke einer trüben Flüssigkeit über die Steine.
Es zischte und dampfte, und unter dem abgedichteten dach der Hütte sammelte sich eine mächtige Dampfglocke, die sich allmählich im gesamten Hüttenraum verteilte. Der Dampf trieb Sebastian die Tränen in die Augen und trotz des Dampfes Luft in die Lungen. Es roch stark nach Tannennadeln und Kampfer. vermutlich hatte sie die ätherischen Öle dieser Pflanzen in das verdampfte Wasser gegeben.
Ein par Mal wiederholte Antarona die Prozedur des Verdampfens, dann konnte man in der Hütte vor stark riechendem Nebel keine Hand mehr vor Augen sehen. Es wurde so heiß, dass Basti befürchtete, ersticken zu müssen. Aber gerade das Gegenteil war der Fall. Seine Haut schien ein Pelz zu werden, doch seine Lungen füllten sich mit Luft, die in den Atemwegen wie ein kühler, befreiender Strom wirkten.
Die Hitze aber trieb ihm erbarmungslos den Schweiß aus allen Poren. Es gab nicht einen Zentimeter Haut an ihm, aus dem nicht ein Bach von Schweiß rann. Antarona blieb eine Weile ihm gegenüber in der Schwitzhütte sitzen. Er sah schemenhaft ihren kupferfarbenen Körper glänzen, und beobachtete, wie sie noch ein par grüne Blätter auf die glühend heißen Steine warf, die wiederum eine Dampfsäule produzierten. Diesmal roch es nach dem Rauch, den man bei Messen in Kirchen verwendete.
Ein letztes Mal goss Antarona von der Flüssigkeit über die heißen Steine, dann kroch sie aus der Hütte und verhängte den Eingang mit einer Decke. Dumpf hörte Basti ihre befehlende Stimme von draußen.
»Ihr verlasst die Pinnake erst, wenn der Rauch des Wassers fort ist! Und wagt nicht, vorher herauszukommen, sonst wird Sonnenherz böse.« Angesichts dieser wohl nicht ganz ernst zu nehmender Drohung musste er schmunzeln. Dabei ergoss sich aus seinem Körper so viel Schweiß in Tropfen und Bächen, dass er meinte, mitsamt der kleinen, runden Hütte ins Meer gespült zu werden. Er glitt auf den großen Blättern und seiner eigenen Körperflüssigkeit mühelos hin und her.
Allmählich gewöhnte er sich an die Hitze und daran, besser still zu sitzen, denn jede Bewegung seines schweißnassen Körpers war unangenehm. Nach einer Weile kühlte sich die Luft etwas ab. Um nicht zu frieren, goss Basti aus der Schale nach. Augenblicklich stieg wieder eine große Wolke unter das Hüttendach, füllte den Raum, und sofort wurde es wieder kuschelig warm.
Sebastian schwitzte höchst ungern. Doch dieses Erlebnis gefiel ihm wider Erwarten so gut, dass er die Prozedur mit den Güssen auf die heißen Steine einige Male wiederholte. Er spürte, wie sich seine Lunge befreite, und hatte das Gefühl, dass sich sein Körper von einer großen Last befreite.
Gerade wollte er noch einmal die Schale greifen, da hörte er draußen einen unheimlichen Schrei. Er kannte diesen Klang. Es war der Schrei eines Gors. Antarona! Das war das einzige, das ihm durch den Kopf schoss. Mit einem Satz sprang er auf, schnappte sich seinen Lederschurz, und rollte sich mehr durch die Eingangsluke der Hütte, als er kroch.
Draußen richtete er sich auf. Süßer, schwerer und feuchter Duft drang in seine Nase, und nach dem Schwitzbad im Kampferdampf glaubte er sich von jetzt auf gleich in einen stickigen Dschungel versetzt. Gehetzt blickte er sich um, suchte Antarona, suchte den Gor. Ein weiterer Schrei, und nun sah er das Tier und er sah das Krähenmädchen.
Ein Stück weit den Strand hinab, nahe der Stelle, wo der Fluss mündete, standen sich beide im flachen Meerwasser gegenüber. Antarona stand starr vor dem urzeitlichen Wesen, das seinen Kopf hin und her wiegte, wie lahm mit den Flügeln schlug, und unruhig mal näher kam, mal sich ein par Ellen von ihr entfernte. Der Gor schien unschlüssig, was er tun sollte.
Vor dem großen, aber elegant wirkenden Tier nahm sich das Krähenmädchen aus, wie ein Erdmännchen vor einem Elefanten, geradezu zierlich. Ungleicher konnten Gegner sich nicht gegenüber stehen. Den Ausgang dieser Begegnung malte sich Basti als blutige Tragödie aus, sollte ihm nicht augenblicklich etwas einfallen.
Sebastian sah an sich herunter. Außer seinem Lederschurz trug er nichts, keinen Waffenrock, kein Schwert, kein Messer. Kurz taxierte er die Jaen-tè. Es würde zu lange dauern, erst die Waffen zu holen. Gehetzt schweifte sein Blick in die Runde. Ein par Steine, die Antarona für das Schwitzbad gesammelt hatte, lagen noch herum. Basti hob zwei davon auf. Das hatte schon einmal funktioniert! Dann sprintete er los.
Doch schon nach ein par Metern hielt er wieder an. Was er sah, gebot nicht die panische Hatz, mit welcher er losgelaufen war. Das Untier griff nicht an, sondern neigte sein Haupt, und die Szene erinnerte ihn an die Geschichte von Faungor und der Prinzessin der Karolinger, die Antarona ihm erzählt hatte. Wenn das man gut ging!
Sebastian näherte sich langsamen Schrittes, beeilte sich aber nicht mehr. Er wollte auf keinen Fall eine Situation eskalieren lassen, die Antarona bereits im Griff hatte. Mit einem beklemmenden Druck im Bauch, einem Gefühl zwischen Angst und Faszination beobachtete er das Geschehen.
Das Bild, dass sich ihm bot, erinnerte ihn an eine Airbrush- Grafik des Künstlers Luis Royo. Ein nacktes, unschuldig wirkendes Mädchen stand einem Geschöpf gegenüber, das der Hölle selbst entsprungen schien. der weißgelbe Strand im Vordergrund und das blaue Meer dahinter rundeten das Bild ab, das als Foto zu einem romantischen Kunstwerk gereicht hätte, wäre die Lage nicht so ernst gewesen.
Offensichtlich war Antarona schwimmen gegangen, um das Ende seines Schwitzbades abzuwarten. Woher der Gor gekommen war, konnte Sebastian nicht sagen. Unwillkürlich sah er sich um, und zu dem Felsen über dem Hang hinauf, wohin die beiden Männer Torbuks seine Frau gebracht hatten. Täuschte er sich, oder stand dort oben eine Person? Halb musste er gegen die blendende Sonne sehen. Dennoch, dort oben stand jemand. War die Gorreiterin zurückgekehrt? War die Unbekannte, welche sich Radna- Knova Ilisiè nannte ebenfalls in der Nähe?
Basti wollte schwören, dass dieser jemand dort oben auf dem Felsen, für ihn nur als winziger Strich erkennbar, die Fremde war, die auf dem Tier ritt. Was wollte sie hier schon wieder, nach ihrer letzten, eindeutigen Niederlage? Wollte sie immer noch Antarona, die Revolutionärin des Val Mentiér entführen? Wie verbohrt musste man sein, mit einer solchen Beharrlichkeit ein Ziel zu verfolgen?
Sein Blick wandte sich wieder dem Mädchen und dem Drachen zu. Ein Schreck fuhr ihm in die Knochen. Antarona hatte einen Arm gehoben und trat langsam auf den Gor zu. Im Geiste sah er schon das wilde Urtier sich auf seine Frau stürzen und sie in Stücke reißen. Wider erwarten jedoch ging der Drache vor Antarona auf die Knie, denn er knickte, ähnlich einem Rind, seine Vorderbeine ein, und ließ sich vor dem Krähenmädchen nieder.
Die ging nun zu ihm und berührte mit einer Hand seinen schuppigen, gehörnten Kopf. Der Gor ließ es zu, und verhielt sich außerordentlich friedlich, ganz anders, als an jenem Tag, da er sie durch den Wald verfolgte. Basti wandte sich noch einmal zu der Unbekannten auf dem Felsen um. Wie eine eingefrorene Säule stand sie noch an gleicher Stelle, und schien ebenfalls die Begegnung zwischen dem Mädchen und dem Drachen zu beobachten.
Nun aber sah er eine Bewegung. Es sah aus, als hob die Person auf dem Felsvorsprung einen Arm. Dann tönte ein lang gezogener Klang wie von einer demolierten Trompete, oder einem heiser gestimmten Horn über den Strand. Sofort reagierte der Gor. Er zog seinen Kopf zurück, und stemmte seinen Vorderkörper wieder hoch. Doch er griff Antarona nicht an.
Wieder erklang der schaurige, dunkle Ton über Land und Meer. Der Gor begann mit seinen Flügeln zu schlagen und sie auszustrecken. Basti meinte, dass er Antarona damit beinahe ins Meer fegte. Irgendwie schien das Tier hin und her gerissen von Antaronas Einfluss und vom Klang des Horns.
Schließlich dröhnte der Hörnerklang ein drittes Mal über die Bucht. Der Gor löste sich aus dem Bann des Krähenmädchens, wandte sich um, und gehorchte seinem offenbar antrainierten Gehorsam. Das Tier trabte an, begann zu galoppieren, einem Gepard nicht unähnlich, streckte die Flügel aus und hob schließlich unter dem gemächlichen Schwingen seiner enormen Spannweite ab.
Mit kräftigen Flügelschlägen schraubte sich der Gor höher, flog zwei Mal den Strand auf und ab, bis er die nötige Höhe erreicht hatte, und entschwand dann oben hinter der Felskante. Vermutlich landete er auf der Lichtung, die Basti und Antarona bereits kennengelernt hatten.
Schon war Sebastian versucht, den Pfad auf das Plateau hinaufzustürmen, um endlich die Identität der unbekannten Reiterin festzustellen, als Antarona auf ihn zu kam. Inzwischen hatte sie sich wieder ihren Ra-li angelegt, und hielt Bastis Schwert in der Hand. Angesichts der Waffe dachte er daran, dass er in der Hütte vergeblich danach gesucht hätte.
»Er steht zu sehr unter dem Bann seiner Reiterin, Ba - shtie«, erklärte sie, als sie heran war, »Sonnenherz vermochte ihn nicht von ihr abzuwenden«, gab sie Schulter zuckend zu. Da erst schien sie zu bemerken, dass er in gewohnter physischen Konstitution vor ihr stand.
»Geht es euch gut, Ba - shtie, wie fühlt ihr euch?« fragte sie, als wäre sie erstaunt darüber, ihn an dieser Stelle zu sehen. Misstrauisch musterte sie ihn von Kopf bis zu den Füßen, dann zog sie überrascht die Augenbrauen hoch, bevor sie gestand:
»Sonnenherz vergaß, euch noch mehr von des Wassers Rauch zu machen. Wie fühlt ihr euch?« Basti winkte gleichgültig ab, und antwortete:
»Ist schon gut, ich hab selbst die trübe brühe auf die Steine gekippt. Ich weiß nicht, was da drin war, aber es war gut. Ich fühle mich jetzt, als könnte ich einen Gor mit den bloßen Händen erwürgen.« Antarona sah ihn verwirrt an. Basti lächelte und erklärte:
»Mit anderen Worten: Ich fühle mich, als wäre ich neu geboren worden, als hätte ich etwas schweres, sehr Altes abgeschüttelt. Ich fühle mich einfach richtig gut!« brach es aus ihm heraus, nachdem Antarona immer noch skeptisch drein blickte.
Diese Bestätigung seiner wiederhergestellten Gesundheit aber zauberte sofort ein strahlendes Lachen auf ihr Gesicht. Man sah ihr den Stolz an, mit dem sie ihren Erfolg als Heilerin quittierte. Basti würdigte ihre Kunst und Fähigkeit noch zusätzlich:
»Ich bin froh, dass du Hand an mich gelegt hast, und nicht Andreas, Medicus von Falméra! In deine heilenden Hände gebe ich mich vertrauensvoll und ohne Angst«, gestand er ihr, und bewirkte, dass ihr Strahlen das der Sonne noch übertraf.
Dann aber fiel ihm ein, dass sie gerade eben noch einem ausgewachsenem Drachen gegenüber gestanden hatte. Und nicht bloß irgendeinem, sondern jenem Gor, der sie vor ein par Tagen zum Frühstück einladen wollte, und zwar als Mahlzeit!
»Sag mal, was soll denn das überhaupt heißen, sich einfach so einem Biest entgegen zu stellen? Was wäre denn gewesen, wenn der schlechte Laune gehabt hätte, was? Denkst du, dass du jedes Wesen einfach so besänftigen kannst? Dann fang am besten gleich mal bei den beiden Unbekannten an, die dich um jeden Preis töten wollen. Ich glaube, dann wird es ziemlich überflüssig, sich mit dem Gor auseinander zusetzen. Ich hab fast einen Herzstillstand erlitten, als ich dich da so...«
»Baaa - shtiiie«, unterbrach sie ermahnend seinen nicht enden wollenden Vorwurf, »der Gor hatte Sonnenherz beim Schwimmen und Tauchen überrascht. Es war die einzige Möglichkeit, ihm zu begegnen. Und Sonnenherz hatte beinahe seine Sinne erreicht«, verkündete sie nicht ohne Stolz in der Stimme.
»Ja, ja, vielleicht hättest du auch noch seinen Magen erreicht, wenn die Reiterin nicht in ihr Horn geblasen hätte, nicht wahr?« Basti war außer sich, angesichts solch überzogenen Mutes.
»Was wäre denn dann mit dir und unserer Tochter geworden? Das ist doch verrückt, so ein Wagemut. Ich möchte nicht, dass du dich je wieder solcher Gefahr aussetzt, versprich mir das, ja?« hängte er an seine Triade der Ermahnungen an. dem Krähenmädchen entlockte das aber nur ein mitleidiges Lächeln.
»Ihr seid wie alle Männer, Ba - shtie«, tadelte sie ihn ohne Groll, »sobald jene, die mit euch verbunden ist, ein Herz unter dem ihren trägt, wollt ihr sie am liebsten von einem ganzen Heerlager bewachen lassen. Was glaubt ihr, haben Frauen getan, bevor sie eure Saat in sich trugen? Waren sie da hilflos? Vermochten sie da nicht selbstständig zu leben? Was meint ihr wohl, tun Frauen, deren Männer in die Schlacht ziehen, wenn sie den Göttern ein neues Leben schenken?« Sie wartete einen Moment, doch als Basti, überrascht von ihrem Redeschwall, nicht antwortete, erklärte sie abschließend:
»Sonnenherz ist so, wie sie immer war. Sie weiß sich sehr wohl ihrer Haut zu wehren, und ebenso das Leben der Tochter von Sonnenherz und Ba - shtie zu schützen.« Das konnte er nur bestätigen.
Sie hatte sich bereits aus vielen Situationen herausgekämpft, die aussichtslos schienen. Basti war ja auch nicht der Meinung, dass ihr dies nicht gelungen war; vielmehr dachte er daran, dass es nicht mehr zwingend nötig war, ihr Leben und das seiner Tochter zu gefährden, wenn es andere Optionen gab. Doch das behielt er in diesem Moment lieber für sich. Statt dessen nickte er und sagte:
»Ich weiß, dass du selbst auf dich aufpassen kannst. Aber die Angst, dich zu verlieren, wirst du mir dennoch nicht nehmen können.« Damit ergriff er ihre Hand, und führte sie über den Strand zur Hütte zurück. Den Ehrgeiz, auf das Plateau zu stürmen, und hinter der Unbekannten her zu jagen, hatte er aufgegeben.
Mit ihrem fliegenden haustier war sie ihnen sowieso überlegen. Außerdem wollte es Basti nicht darauf anlegen, den Drachen töten zu müssen. Antaronas Geschichte über die Prinzessin der Karolinger hatte etwas in ihm ausgelöst. Seine Blickweise auf die Geschöpfe, die seit Urzeiten globale und kosmische Katastrophen überlebt hatten, war eine andere geworden.
Er sah diese Tiere nicht mehr als Feinde an, obwohl sie mit ihm bei jeder Begegnung nicht gerade freundlich umgegangen waren. Wenn auch Antaronas Geschichte über Faungor ziemlich fantastisch klang, so glaubte er ihr, zumal es dem Krähenmädchen beinahe gelungen war, den Gor, der sie offensichtlich töten sollte, zu besänftigen. Und wenn die Reiterin oben auf dem Felsen nicht in ihr Horn geblasen hätte...
»Warum hatte der Gor dem Klang des Horns gehorcht, und nicht deiner Stimme der Sinne, die ihm doch Freundschaft bot?« fragte er Antarona, die schweigend neben ihm her schlenderte. Sie überlegte kurz, dann antwortete sie mit einem Schulterzucken, das wohl bedeuten sollte, dass sie es nur vermuten konnte:
»Einige Gore wurden von Reitern aufgezogen, seit sie aus ihrem Ei geschlüpft waren. Sie meinen wohl, in dem Ruf des Horns, den sie von klein an kennen, den Ruf ihrer Mutter zu hören. Die Verbundenheit zu einer Mutter ist stärker als alle anderen Sinne. Doch hätte die Reiterin ihn nicht gerufen, so hätte Sonnenherz seine Sinne und sein Herz erreichen können.«
»Und dann?« entgegnete Sebastian halb interessiert und halb vorwurfsvoll. »Hätten wir ihn als Haustier wie Reno und Rona halten sollen? Du weißt, so ein Gor vertilgt einen Xebron zum Frühstück. Hättest du ihn vielleicht noch reiten wollen?« Antarona sah ihn mit gekräuselter Stirn an.
»Ba - shtie, ihr fragt vieles. Es ist nicht wahr, dass Gore ein so großes Tier fressen. Sie jagen meist kleine Wasel. Größere Beute greifen sie nur an, wenn diese krank und schwach ist«, klärte sie ihn auf. Dann wurde ihre Stimme beinahe spöttisch.
»Gore lassen sich nicht als Tiere des Hofes halten, Ba - shtie. Dieser hier war in seinen Sinnen krank und traurig, so kann es sein, dass er ein Gefangener ist. Vielleicht kennt er kein anderes Leben. Doch Gore brauchen die Freiheit wie die Menschenwesen.« Sie machte eine kleine Gedankenpause, bevor sie fortfuhr.
»Ja, Sonnenherz hätte ihn reiten können, und wenn die Reiterin ihn einige Zentaren später gerufen hätte, so wäre Sonnenherz seine neue Reiterin geworden«, gestand sie ihm plötzlich. Überrascht blieb Sebastian stehen, und sah sie verblüfft an. Erst wollte er angesichts dieses Geständnisses keine Worte finden. Doch dann bemerkte er zweifelnd:
»Dir ist schon klar, dass er bereits eine Reiterin hat, die, wie du mir ja erklärt hast, das Drachenzeichen trägt, das den Gor an sie bindet? Wie glaubst du, hättest du der Unbekannten als Gorreiterin den Drachen streitig machen können? Hättest du das wilde Tier einfach überredet?« An ihrem Blick erkannte Basti sofort, dass er mit seiner Vermutung genau ins Schwarze getroffen hatte. Antarona sagte in ihrer bestimmten, naiv klingenden Art:
»Ba - shtie, der Gor war nicht froh. Er war in seinem Herzen tot. Sonnenherz hätte ihm das Licht zurückgeben können. Dafür hätte er sie als neue Gorreiterin erwählt.« Basti sah sie fragend an.
»Trotz des Horns, welches die Unbekannte besitzt, und welchem er hörig ist?« Seine frage klang dieses mal wenig sarkastisch. Er war einfach im Zweifel darüber, ob sie das Tier richtig einschätzte.
»Ja, Ba - shtie, trotz des Horns, welches ihn mehr knechtet, als es ihn an die Stimme seiner wahren Mutter erinnert«, antwortete sie bestimmt.
Sie erreichten die Hütte und Sebastian blickte sich noch einmal um. Es war schwül warm. Dennoch zog ein Nebel über Meer und Strand dahin, der von einem kaum spürbaren Wind gegen den Hang und den Wald getrieben wurde. Es war, als lag ein Dampf in der Luft, dessen Ursache in der Schwitzhütte lag.
Vielmehr aber versuchte sich die Sonne durch die Wolken des tagelangen Regens zu kämpfen. Das viele Wasser verdampfte unter ihren sengenden Strahlen, und der Wind war nicht kräftig genug, die neu entstehenden Wolken davon zu treiben. Statt dessen bildete sich durch die hohe Luftfeuchtigkeit eine Dunstglocke, die das Klima eines tropischen Dschungels noch übertraf.
Die Pla-ka waren nicht mehr zu sehen. Antarona hatte während der Tage, die Sebastian krank niederlag, nicht mehr nach ihnen gesucht. Mögliche Spuren waren durch den starken Regen vollständig fortgewaschen worden. Sie mussten die Tiere aufgeben. Vermutlich würden sie irgendwo eine Steppe finden und sich dort auswildern.
Drängender wurde nun die Frage nach Nahrung. Antarona hatte ein par kleine Waldtiere erlegt, sowie zwei Fische mit dem Speer gefangen. Neben Wurzeln und säuerlich schmeckenden Blättern, die nach ihrer Meinung sehr gesund waren, ergab das eine ganz ordentliche Mahlzeit. Für diesen Tag.
Wollten sie jedoch länger in der alten Fischerkate bleiben, so mussten sie auf die Jagd gehen. Doch sie hatten nur den einen Bogen, den Basti mitgenommen hatte, und nur wenige Pfeile. Einen neuen Bogen und Geschoss herzustellen, würde mindestens vier Tage beanspruchen. Bis dahin hing ihnen der Magen wahrscheinlich in den Kniekehlen.
Sie beschlossen daher, zunächst ins Dorf zurückzukehren, um sich besser auszurüsten. Dann mochten sie erneut einige Zeit in der Fischer- Jaen-tè verbringen, in der Hoffnung, doch noch herauszufinden, wer die Unbekannte war, die den Gor ritt. Vorraussetzung dafür war, dass die Frau noch einmal versuchen würde, Antarona gefangen zu nehmen.
In der Gemeinschaft des Dorfes lauerte die zweite Unbekannte, die ihre Absicht, Antarona und Sebastian in das Reich der Toten zu schicken, in der Anonymität der vielen Jo-lie, noch erfolgreicher umsetzen konnte. Besser, sie hielten sich eine Weile dort auf, wo sie Feinde schon von weitem kommen sahen.
Der Entschluss stand fest. Am nächsten Tag wollten zu ihrer Hütte im Dorf aufbrechen, kurz Vesgarina und Frethnal informieren, und sich dann wieder dem einsamen Strand zuwenden, in der Hoffnung, die Gorreiterin doch noch überraschen zu können. Gab diese die Identität ihrer Komplizin im Dorf preis, so mochten sie zurückkehren, und die Verräterin mithilfe ihrer Freunde überwältigen.
Nach der üppigen, jedoch nicht gerade schmackhaften Mahlzeit, wanderten Antarona und Basti in tief stehender Sonne am Strand entlang. Zeitweise sahen sie nicht die Hand vor Augen, so dicht zog der Nebel vom Meer heran. Das beruhigende Rauschen der anbrechenden Wellen gab der Szene etwas Geheimnisvolles.
»Sag mal, Antarona, wie viele Gorreiter gibt es eigentlich? Sind es viele, und stehen auch welche auf unserer Seite?« fragte Sebastian leise in den schleichenden Nebel hinein. Er machte sich berechtigte Gedanken darüber, in einer Schlacht plötzlich von einer Vielzahl von Goren aus der Luft attackiert zu werden, und dachte dabei an den Schwarm ziehender Gore, als sie auf dem Weg nach Falméra waren.
»Von den letzten Gorreitern erzählte Sonnenherz Vater«, erinnerte sie sich. »Seit diesen Zentaren hörte Sonnenherz nur selten davon, dass jemand einen Gorreiter gesehen hatte. Einige Male wurde davon berichtet, doch niemand vermochte zu sagen, ob es die Wahrheit war.« Sebastian schritt nachdenklich neben ihr her, legte zärtlich seine Hand um ihre Taille und ließ sie auf ihrer wiegenden Hüfte ruhen.
»Mit anderen Worten, wir wissen nicht, ob es noch Gorreiter gibt, und schon gar nicht, ob Torbuk und Karek welche in Quaronas beherbergen, nicht wahr? Wir wissen nur von dieser Reiterin hier, und von den beiden Goren, die uns auf dem Weg nach Falméra begegnet waren, nachdem eigentlich alle Gore in ihr Winterquartier nach Oranutu gezogen waren.« Antarona horchte auf und dichtete Bastis Gedanken weiter.
»Ihr meint, es könnte mehrere geben? Ihr glaubt, dass Torbuk und Karek einige Gorreiter zum Kampf trainieren lässt?« Er nickte bestätigend, und spann seine These weiter:
»Wer die Lüfte beherrscht, ist vor und in jeder Schlacht klar im Vorteil, ob er nun Angreifer, oder Verteidiger ist. Mit einem Gor kann man feindliche Kohorten ausspähen, und hintere Verteidigungslinien angreifen.«
»Aber Ba - shtie, Gorreiter greifen nicht in den Kampf ein, sie können nur beobachten«, gab Antarona zu bedenken. Basti hielt an und zog sie dicht an sich.
»Wer sagt das?« Er ließ seiner Frage Raum, erwartete jedoch keine Antwort, denn die gab er selbst. »Warum denn nicht? Kann man vom Rücken eines Gors keinen Bogen abschießen, oder eine Lanze werfen? Kann man im Flug nicht einen Gegenstand auf Feinde hinab werfen?« Antarona blickte ihn beinahe entrüstet an.
»Ba - shtie, das ist noch niemals gemacht worden, niemand wird auf den Einfall kommen, von einem Gor im Fluge aus...«
»Und warum nicht?« fragte er provokativ. »Meinst du, dass es nicht geht, dass du vom Rücken eines Gor keinen Pfeil abschießen könntest? Kannst du es vom Rücken eines Pla-ka? Warum nicht von einem Gor?« Er konnte sehen, wie Antarona nachdachte, konnte in ihren Augen erkennen, wie es in ihr arbeitete.
»Weil...« Sie sprach den Satz nicht zu Ende. Sie war selbst im Zweifel, und erkannte allmählich eine Möglichkeit, über die offenbar bei den Îval nie nachgedacht wurde. Dann nahm ihr Gesicht einen Ausdruck von Empörung an.
»Ba - shtie, ihr glaubt doch nicht, dass Sonnenherz auf einem Gor reiten, und von seinem Rücken aus kämpfen kann?« Sebastian hob gleichzeitig entschuldigend und fragend die Schultern.
»Wieso eigentlich nicht? Ich sage nicht, dass du kämpfen sollst, mir ist es ohnehin lieber, wenn du dich zurückhältst. Doch wer verbietet dir, es zu versuchen, und andere Reiter auszubilden, es ihnen beizubringen? Mit so vielen Goren, wie einmal, oder zweimal der Finger an beiden Händen könnten wir eine Schlacht für uns entscheiden, und den Feind dort treffen, wo er es nicht vermutet.«
Basti beobachtete, wie seine kleine Frau über seinen fiktiven Plan nachdachte, und fügte als treibendes Argument noch hinzu:
»Und wer sagt uns eigentlich, dass Torbuk nicht genau das ebenfalls versucht? Woher kommen die Gore mit ihren Reitern, die wir bisher gesehen haben? Sicher nicht freiwillig aus ihrem warmen Quartier in Oranutu, solange im Val Mentiér noch der lange Schnee herrscht!«
»Wenn es noch Gorreiter gibt, so sind sie alte Männer, Ba - shtie, die nicht einmal mehr auf einem Pla-ka reiten können«, gab sie schließlich zu bedenken, »wie wollt ihr diese...« Sebastian merkte, dass sie sich einfach nicht an den Gedanken gewöhnen wollte, Gore für taktische Vorhaben einzusetzen, und unterbrach sie, um die Debatte abzukürzen:
»Aber sie besitzen das Wissen eines Gorreiters, und sie haben möglicherweise noch das Gorzeichen, und eines dieser Rufhörner. Wir müssen nur jene finden, die einst zu den glorreichen Drachenreitern gehörten.« Antarona stimmte nickend zu, warf aber ein:
»Dies wird nicht leicht, denn keinem der Gorreiter ist es auf die Stirn gezeichnet, dass er einst zu diesen Männern gehörte. Ihr müsst wissen, Ba - shtie, dass die Gorreiter sehr geheimnisvoll lebten, und bei den Îval oftmals gefürchtet waren. Dem Volk machte ihre Vertrautheit zu den Goren Angst.«
»...wie in deiner Geschichte von Faungor«, ergänzte Sebastian aus seiner Schlussfolgerung ihre Erläuterung. Er vermutete, dass diese Geschichte, so altertümlich sie auch geklungen hatte, so viele Zentaren gar nicht zurücklag. Vermutlich steckte in diesem Märchen mehr Wahrheit, als Dichtung. Eine Wahrheit, die in den Wirren der Entwicklung des Volkes nur verdrängt und vergessen wurde. Doch er, Sebastian Lauknitz, wollte sie den Îval wieder in Erinnerung rufen, um ihre Kultur zu retten.
In seiner Welt gab es so etwas Fantastisches wie Drachen nicht. Märchen waren in seiner Kultur, die sich immer schnelllebiger und hektischer gestaltete, nur noch Geschichten zur Bespaßung von Kindern. Spätestens seit seinem Eindringen in Antaronas eigentümliche Welt ahnte er, dass sie mehr waren. Überlieferungen aus einer alten Zeit, wie eine Art vergessener Chronik. Um so mehr hielt er es für Wertvoll, eine solche Tradition wieder aufleben zu lassen, zu pflegen, und zu erhalten, auch wenn sie zunächst einem ungewollten Krieg diente.
»Der Achterrat wird wissen, welcher von den Gorreitern noch am leben ist, und wo Sonnenherz ihn finden kann«, ließ das Krähenmädchen plötzlich laut ihre Gedanken offenbar werden. Aha, sie dachte also doch ernsthaft über den Einbezug der Gore in die Auseinandersetzung mit Torbuk und Karek nach. War die Herausforderung, die sie auch für sich selbst sah, die treibende Kraft dafür? Basti war sich fast sicher.
Mittlerweile hatten sie die Stelle erreicht, wo die Felsen ins Meer hinausreichten, und die Grotte lag, in der sie Thies aufgebahrt hatten. Wiederum mussten sie ihn dort weiterhin ruhen lassen, da ihnen die Pla-ka entlaufen waren. Sie warfen kurz einen Blick in den Höhlenraum, und auf das Sims, und stellten beruhigt fest, dass Thies balsamierte Leiche noch so da lag, wie Antarona sie hergerichtet hatte.
In Bauchhöhe mussten sie sich durch das Wasser tasten, denn die Flut hatte den Meeresspiegel bis zum erhöhten Eingang der Grotte ansteigen lassen. Um sich wieder zu trocknen, und nicht nass im Wind zurücklaufen zu müssen, suchten sie oberhalb in den Felsen einen Platz, der noch von der fahlen Sonne beschienen wurde.
Wie ein Äffchen kletterte Antarona voran, gefolgt von Basti, der sich immer noch nicht vollständig daran gewöhnt hatte, mit nackten Füßen über schroffen Fels zu steigen. Doch jedes Mal bei solcher Gelegenheit beobachtete er Antaronas Antritttechnik. Sie setzte selten die ganze Fußsohle auf den teilweise scharfkantigen Fels. Statt dessen krallte sie sich mit den Zehen in Kanten, Risse und Vorsprünge. Ihre Zehen passten sich besser dem rauen Untergrund an, als der ganze Fuß, der mit größerer Fläche auftrat.
Je mehr Sebastian versuchte, ihre Weise zu übernehmen, desto besser kam er voran, und desto weniger verletzte er sich. Das wie eine Wilde aufgewachsene Krähenmädchen ließ den scheinbar erfahrenen Bergsteiger wie ein naives, hilfloses Kind aussehen.
Er folgte ihren grazilen, eleganten Bewegungen, und ließ sich einmal mehr von ihren Reizen ablenken, die sie beim Vorsteigen nicht mehr verbergen konnte. Wie eine Katze suchte sich Antarona zielstrebig den Weg nach oben. Sie umkletterten den Felspfeiler, der sich ins Meer hinaus schob, und gelangten auf eine Grasterrasse, die sich ganz im Schein der Sonne präsentierte.
Weit reichte der Blick von diesem Ort, nach Süden die Küste entlang, bis Dunst und Nebel die Konturen verwischten und nahezu auflösten. Die Sonnenterrasse war an den Seiten und bergwärts von Felsen umschlossen. Aus Felsritzen und nahe an der hinteren Wand wuchsen kleine Bäumchen und Sträucher. Zikaden fühlten sich auf dieser sonnigen Insel in zerklüfteter Steinwand wohl, und gaben ein vielstimmiges Konzert.
Insekten summten und viele Arten von ihnen besuchten die Blumen, die als farbige Tupfer im kurzen Gras ein karges Dasein fristeten. Sie trotzten den Sturm und Wetter, wenn diese über die ausgesetzte Terrasse fegten, und entwickelten doch so eine farbenfrohe Blütenpracht, dass es Basti ein Staunen entlockte. Viele von den kleinen Blüten, die sich wie bunte, bescheidene Kunstwerke ins Gras duckten, verströmten einen betörenden Duft.
An diesem Ort ließ es sich aushalten. Er bot sich perfekt dazu an, einmal auszuspannen, abzuschalten, und in der Sonne den Tagträumen nachzuhängen. Oder um ungestörte Zweisamkeit zu genießen. Antarona streckte sich im warmen, trockenen Gras aus, räkelte sich genüsslich, und blinzelte keck in die Sonne.
Sebastian betrachtete sie nachdenklich. Wie sie so da lag, erinnerte sie ihn an die Eingeborene irgend eines südamerikanischen Stammes aus dem Regenwald. Im Grunde war sie aus jeglicher Zivilisation, selbst jener der Îval, ausgewildert. Niemals würde er sie, aus welchem Grund auch immer, in seine Welt bringen können.
Für sie war es nichts besonderes, sich freizügig, und in der Blöße ihrer Reize durch die Wildnis zu streifen. Dabei machte sie kaum einen Unterschied zwischen einsamen Gegenden, der dörflichen Gemeinschaften des Val Mentiér, sowie den strengeren Sitten Falméras. Sie scherte sich nicht um Regeln, sondern lebte, wie sie aufgewachsen und es gewohnt war: Frei und ohne einengende, moralische Zwänge. Allein die Gesetze der Götter und der Elsiren wurden von ihrem ungebundenen Geist respektiert.
Sebastian sah ihr verstohlen aus den Augenwinkeln zu, wie sie sich Blätter und Gras von ihren Beinen und Schenkeln zupfte, die sich beim Aufstieg an ihre Haut geheftet hatten. Seine sehnsüchtigen Blicke konnte er wohl verbergen, doch seine Gedanken und Empfindungen waren für sie ein offenes Buch. Genauso gut hätte er sein Verlangen nach ihrer Leidenschaft laut herausschreien können.
Antaronas Geist brach in seine Sinne sein, es geschah einfach so, sie konnte und wollte es nicht verhindern. Es war ihre Natur. So wusste sie um seine Begierde, und es gefiel ihr, ihn mit aufreizenden Gesten zu provozieren. Sie hatte dieses Spiel schon oft an ihm erprobt, und sie genoss es auch in dieser Zentare auf der einsamen, sonnigen Felsterrasse. Und nur die Wolken, die langsam über sie hinweg zogen, sahen ihnen zu, und nahmen die Augenblicke der gegenseitigen, leidenschaftlichen Hingabe mit auf ihre lange Reise.
Lange lagen sie anschließend in der Sonne. Basti verhielt sich ganz ruhig. Er genoss diesen friedlichen Moment des erfüllten Glücks, streichelte nur zärtlich ihren Rücken, spürte ihre Narben, betastete sie behutsam, und plötzlich spürte er an ihren gleichmäßigen Atemzügen, dass sie eingeschlafen war. Erschöpfung, Erregung und Erfüllung des Glücks betteten sie in einen friedlichen Traum.
Er versuchte so lange wie möglich still zu liegen, sich nicht zu rühren, sie nur glücklich zu betrachten, wie sie so an ihn geschmiegt da lag. Er schloss selbst für einen Moment die Augen, lauschte dem Summen der Insekten, dem Wispern des Windes, der um die Felskanten und durch die Gräser fuhr, und registrierte durch die Augenlider die Schatten, wenn sich einmal ein Wölkchen kurz vor die Sonne schob.
Ab und zu wendete er den Kopf etwas, blickte hinab über die Kante, erhaschte ein Stück weit entfernten Strand, und verglich den Wasserstand mit seinem vorherigen Blick. Seine Augen wanderten über die Klippen, die links noch weiter aufragten, und ihr geheimes Liebesnest vor allem schützte, das ihnen zu nahe kommen konnte.
Dann versuchte er sich wieder nur auf Antaronas friedlichen Atem und das Auf- und Abschwellen der Brandung in der Tiefe zu konzentrieren. Sie fanden einen einheitlichen Rhythmus, als vermochte sich Antarona im Traum auf die Intervalle der Wellen einstellen. Ihr Gesicht wirkte friedlich, glücklich, und unschuldig, wenn er sie hinter halb geschlossenen Lidern anblinzelte. Er mochte diesen Moment der Glückseligkeit nicht stören, wagte sich nicht zu regen.
Doch irgendwann fing sein Bein an taub zu werden, die Schulter schmerzte, und sein Rücken begann rebellisch zu jucken, und er musste sich etwas bewegen. Antarona erwachte, hob vorsichtig ihren Kopf und sah ihn an.
»Sonnenherz war eingeschlafen«, schalt sie sich, mit einer gehörigen Portion Selbstvorwurf. »Ba - shtie muss ihr vergeben für dieses Versehen.« Er strich ihr sachte über das Haar, das in der Sonne glänzte, wie die Federn der Schwarzvögel, und sagte:
»Es muss dich nicht sorgen, mein Engelchen, ich empfand es als sehr schön, wie du in meinen Armen schliefst. Es zeigt dein Vertrauen, und macht mich froh, denn ich sehe, dass du dich bei mir sicher fühlst.« Antarona küsste ihn, rollte sich von ihm herunter und kuschelte sich seitlich an ihn.
»Sonnenherz wünscht sich, dass sie noch viele Zentaren wie diese erleben darf, Ba - shtie. Mit euch, so friedlich zu zweit, ohne stets auf der Hut vor Feinden zu sein, ohne Kampf, ohne den Hass, welcher von Quaronas über das Land weht.« Basti streichelte ihre Schultern und antwortete:
»Eines Tages werden wir diesen Frieden bekommen, und uns nur noch um unser Töchterchen kümmern«, versprach er, »wir werden leben, wo du es möchtest; wir werden in dem großen Tal Pla-ka züchten, oder im Val Mentiér leben, ganz wie du es magst. Und niemand wird uns mehr behelligen, wenn Torbuk erst einmal besiegt ist. Dann werden sich auch die Oranuti wieder zurückziehen. Ohne Torbuk und die Macht von Quaronas können sie sich nicht mehr überall auf Falméra festsetzen. Wir werden Handel mit ihnen treiben, aber nicht mehr.«
Sebastian wusste, dass es ein langer Weg war, bis diese Versprechen Wirklichkeit werden würden. Aber dieses Ziel war ihr Traum, den sie auf dieser sonnigen Terrasse zu einem perfekten Wunschbild weiter träumen konnten. Dabei versanken sie immer wieder in den Phantasien ihrer Liebe, die nur den umher schwirrenden Insekten Zeugnis wurden.
Dann saßen sie noch lange auf der einsam gelegenen, stillen Terrasse, beobachteten, wie die Sonne tiefer sank, und der Wasserspiegel des Meeres zurückging. Die Ebbe zog das Wasser hinaus, in die großen Ströme des großen Meeres, dessen Namen Basti nicht einmal kannte.
Irgendwann, im goldenen Licht der Abendsonne, stiegen sie wieder hinab, suchten einen Weg zum Strand, ohne über die Klippen klettern zu müssen. Ein kaum erkennbarer Pfad, wohl von Tieren ausgetreten, führte durch eine schattige Klamm in den Küstenfelsen nach unten. Am Fuße der steilen Felsen standen sie nicht mehr in der Sonne. Die hohen Steinmauern schirmten jegliches Licht ab.
Erst weiter hinten, wo der Strand in der Form einer Sichel einen Bogen beschrieb, wurde er wieder von der untergehenden Sonne beleuchtet. Hand in Hand wanderten sie auf dem vom Salzwasser fest gepressten Sand dahin, bis sie über die Schattengrenze traten. Wie mit einer Schnur gezogen brach eine schräge Linie Licht und Dunkelheit. Sofort nahmen ihre Körper die Wärme der Sonne wieder auf.
Ein Stück weit gingen sie noch weiter, bis sie meinten, von den langen Schatten der Felsen nicht mehr erreicht zu werden. Übermütig warfen sie sich in die Wellen des von der Sonne aufgeheizten Meeres, schwammen an der Küste entlang, und ließen sich in Richtung der alten Fischerhütte treiben. Erst bei den großen Felsen hinter der Einmündung des Flusses verließen sie das Wasser.
Die tief stehende Sonne bestrich diesen Abschnitt des Strandes noch mit ihrem warmen Licht. Sebastian betrachtete Antarona, die nur mit dem nassen Ra-li bekleidet, wie die Amazone aus einem Bilderbuch in der Abendsonne stand. Ihre nasse Haut glänzte wie polierte Bronze, und kupfern leuchteten ihre hellsten Hautpartien. Ihre ganze Erscheinung war so verführerisch, dass allein ihr Anblick in Bastis Empfinden neue Sehnsüchte weckte. Er konnte von dieser Frau, die sein Kind in ihrem Leib trug, nicht genug bekommen.
Zaghaft näherte er sich ihr, so als würden sie sich in diesem Augenblick zum ersten Mal begegnen. Es war dieses erhabene, ergreifende, aber auch verlockende und verführerische Bild, das Antarona im Sonnenuntergang wie eine göttliche Figur erscheinen ließ, und das ihn veranlasste, sich ihr zu nähern, als wäre sie etwas Seltenes, etwas Zerbrechliches und Kostbares, das nur mit ehrfürchtiger Demut zu bekommen war.
Antarona legte wortlos beide Arme um seinen Hals und zog ihn zu sich heran. Der tief stehende, rot glühende Sonnenball verzauberte die Stimmung, und es lag etwas warmes, behütendes, etwas anziehendes und vertrautes in der Luft. Ihre Gesichter waren sich nun so nah, dass Basti ihren Atem auf seiner Haut spürte, und ehe er sich versah, berührte ihr Mund den seinen. Ihre weichen Lippen umschlossen zärtlich seine Oberlippe, und wieder versanken sie in einem Rausch der Liebe, warm umschmeichelt von der sich verabschiedenden Sonne.
Danach lagen sie noch lange zwischen den windgeschützten Felsen, eng umschlungen, aneinander gekuschelt, und betrachteten die Sterne. Sebastian zog Antaronas duftenden, leicht verschwitzten Leib immer wieder an sich, denn er fürchtete, ihre wunderbare Nähe zu verlieren. Er genoss es, so eng an sie geschmiegt zu träumen, im Rhythmus ihres Herzschlags zu atmen, sich in der Hitze ihres Körpers zu sonnen.
Doch allmählich wurde es kühler. Die Nacht trug trotz der warmen, schwülen Temperaturen eine frische Brise von See her an Land, die bald auch die mächtigen, abgerundeten Felsen umfuhr, zwischen denen sich die beiden Träumenden im Nachhall ihres Liebessturms verloren.
Schließlich stand Basti auf, nahm seine Frau in die kräftigen Arme und trug sie den Strand und die Stufen zur alten Fischerkate hinauf. Mit einem Tritt ließ er die Tür aufschwingen, legte sie auf das Lager, und zog die Decken und Felle über sie. Nachdem er die Waffen vom Strand geholt, und die Tür fest verschlossen hatte, kroch er zu ihr unter die Wärme, die ihr Körper bereits verbreitet hatte. Erschöpft, jedoch überglücklich schliefen sie ein.
     
  Wichtiger Hinweis: Die Texte des Autors Frank Adlung, insbesondere die des Romans "Das Geheimnis von Val Mentiér", sind durch notarielle Hinterlegung urheberrechtlich geschützt. Ein Herunterladen und Ausdrucken ist nur für den privaten Zweck des Lesens gestattet. Kommerzielle Nutzung, öffentlicher Vortrag, oder Vervielfältigung und Verfälschung des Inhalts, sowie öffentliche Verbreitung ohne Genehmigung des Autors sind untersagt und werden zur Anzeige gebracht.
 
 
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