Das Geheimnis von Val Mentiér
 
40. Kapitel
 
Ein langer Weg zurück
 
ielleicht eine Stunde, oder auch zwei. So lange hatte Sebastian geschlafen. Gefühlt waren es nur ein par Minuten gewesen. Aber was machte das schon in einer Welt, in der die Menschen Zeit nach dem Stand von Sonne und Mond, und bei Nebel und in der Nacht nach Gefühl bemaßen? Es waren immer ein par Zentaren, ob sie nun drei Stunden, oder drei Minuten lang waren.
Ebenso präzise definierten die Îval Entfernungen. Da mochten drei Zentaren vier Kilometer lang sein, oder es waren vier Meter gemeint. Genau wusste man es, wenn man die Strecke zurückgelegt hatte, und selbst dann wurden die Zentaren mehr, je anstrengender die Strecke zu bewältigen gewesen war. Basti hatte bald gelernt, dass Zentaren keinem festgelegten Maß zugrunde lagen. Vielmehr entschied das individuelle Bauchgefühl eines jeden Einzelnen, wie lang eine Zentare in Weg oder Zeit war.
Nach dieser Wertung hatte Basti gerade mal eine halbe Stunde geschlafen. Für Antarona, die einen tiefen, festen, und offensichtlich sorglosen Schlaf gehabt hatte, verschlief er bereits den halben Sonnenlauf.
»Baaa - shtiiie!« Sie rüttelte ihn aus seinem endlich gefundenen Seelenfrieden. »Wie viele Zentaren wollt ihr noch schlafen? Talris wird seine Reise am Himmel noch beendet haben, bevor ihr aus den Fellen kommt.«
Dass er gerade erst eingeschlafen war, konnte seine Gefährtin nicht wissen. Brummend, seine Stimme versagte ihm erst einmal ihren Dienst, schob er seine Nase unter den Fellen hervor. Strahlenlanzen der Sonne fielen durchs offene Fenster und brachen sich im feinen Staub der Hütte. Offenbar hatte das Krähenmädchen ausgekehrt. Wie ein Toter, der eben neu aus einer warmen Hülle geboren worden war, schob er sich Stück für Stück aus dem Fellberg hervor, als müsste er seinen Körper Zentimeterweise an eine feindliche Umgebung gewöhnen.
Antarona warf ihm seinen Ra-li zu, der irgendwo im Raum liegen geblieben war, und verstaute ihrer beider Waffen, außer den Messern, in ihrem Versteck unter dem Kamin.
»Es ist die Zentare des Pfeile-Spiels, erhebt euch, müder Krieger. Ein frisches Bad wird euch den Schlaf austreiben, und eure Sinne wach machen!« Und schon war sie aus der Hütte gesprungen. Bei dem Versuch sie einzuholen, stieß er sich die Schulter am Türrahmen an, taumelte nach draußen, und sah sie gerade noch zum Strand am Fluss hinunter laufen.
Lust auf ein frisches Bad hatte er keine. Doch wollte er auch nicht als Letzter ins Wasser tauchen, und so bereits zu Beginn des Spiels in Nachteil geraten. War er erst im Wasser, wenn Antarona bereits die Hände voller kleiner Steinchen hatte, so konnte sie seelenruhig auf sein Auftauchen warten, und ihn sofort unter Beschuss nehmen.
In großen Sprüngen setzte er ihr nach. Dennoch sah er nur noch die sich ausbreitenden Ringe auf dem Wasser, wo sie in den Fluss gesprungen war. Kurz versuchte er die Fließgeschwindigkeit des Wassers einzuschätzen, die je nach Wetter mal schneller, mal langsamer war, um sich den Punkt einzuprägen, wo das Krähenmädchen in den Fluten verschwunden war.
Drei, vier Sätze sprang er noch Flussabwärts, weil er meinte, dass sie sich unter Wasser einen Moment hatte treiben lassen, um ihren Standort zu wechseln, dann ließ er sich vorsichtig in den Fluss gleiten, um sich nicht zu verraten. Er tauchte bis zum Grund. Seine Hände griffen aber zunächst nur in abgelagerten Schlamm.
Gegen die Strömung schwamm er ein Stück in die Mitte, und bemerkte, dass der Zug des Stroms stärker wurde. Dafür war der Grund nun mit Steinchen übersät. Der Schlamm vermochte sich in der starken Strömung nicht zu halten. Mit beiden Händen voller Geschosse tauchte er auf, und ließ seinen Blick kreisen. Nichts. Keine Antarona, keine Bewegung in der Wasseroberfläche, keine verräterischen Blasen.
Er wusste, dass sie doppelt so lange wie er selbst die Luft anhalten konnte. Er traute ihr auch ohne weiteres zu, ein Stück weit gegen den Strom geschwommen zu sein, um ihn zu täuschen. Sie schwamm wie ein Fisch, trotz ihrer Grazie mit kraftvollen Schlägen, die einen olympischen Schwimmer beeindruckt hätten. Ihm blieb nichts weiter übrig, als auf ihr Auftauchen zu warten. Im Vorteil war nun, wer die Situation schneller erfasste, und flinker reagierte.
Sebastian hatte am Hinterkopf keine Augen, und so musste er sich ständig auf der Stelle drehen, seinen Kopf hierhin und dorthin drehen, um Antaronas schwarzen Schopf sofort zu erkennen, sollte er irgendwo aus dem Wasser stoßen.
Er wartete. Als sich auch nach ein par Minuten nichts tat, vermutete er, dass sie sich unter den vom gegenüberliegenden Ufer in das Wasser ragenden Zweigen der Sträucher und Trauerweiden verbarg, bis sie ihre Gelegenheit gekommen sah. Mit zusammengekniffenen Augen suchte er das Ufer ab, stand selbst jedoch in der Mitte des Flusses wie auf dem Präsentierteller. Damit war er eindeutig in der ungünstigeren Position.
Rasch tauchte Basti ab, stemmte die Füße in den Grund und drückte sich Stromaufwärts. Er wusste, dass er dabei viel Schlamm und winzige Schwebeteilchen aufwühlte, und dass Antarona als erfahrene Kriegerin die plötzliche Verfärbung des Wasser erkennen konnte, wenn sie mit der Sonne blickte. Aber es stand fünfzig zu fünfzig, dass sie gegen das Licht sehen musste.
Als ihm die Luft ausging, tauchte Basti langsam auf. Er steckte nur Nase und Augen aus dem Wasser, und schielte über die glitzernde Oberfläche. Da! ein ziemlich weites Stück den Strom hinab, lugte Antaronas Kopf aus dem Wasser, nur so weit, dass sie Luft bekam. Sie lauerte mit dem Strom auf sein Auftauchen. Dumm nur, dass sie für einen Wurf mit den Steinchen zu weit entfernt war. Er musste die Entfernung genau abschätzen, die Strömung berücksichtigen, sich unter Wasser anpirschen.
Langsam ließ er sich wieder absinken, und mit ausgebreiteten Armen von der Strömung mitziehen. Er versuchte zu schätzen, wie viel Strecke er zurücklegte, hatte aber keinerlei Anhaltspunkt für die Geschwindigkeit des Wassers. Nach seiner bisherigen Erfahrung zog einen der Strom sehr schnell mit, obwohl man glaubte, auf der Stelle zu treiben. Erst als er seine Zehen in den Grund grub, spürte er den starken Sog des Wassers.
Er musste in diesem kurzen Moment weit abgetrieben sein, und befürchtete, Antarona bereits überholt zu haben. Es gab nur eine Möglichkeit das festzustellen. Er musste langsam auftauchen. Die Steinchen noch in den Händen, drehte er sich gegen die Strömung, und hob vorsichtig den Kopf aus dem Wasser, darauf gefasst, dass ihm im nächsten Moment eine Ladung Steinchen um die Ohren flog. Doch nichts geschah.
Basti steckte den Kopf bis zum Hals aus dem Wasser, drehte sich um, und erschrak. Der Schreck fuhr ihm so heftig in die Glieder, dass er beinahe den Halt verlor. Plötzlich starrten ihn direkt vor seinem Gesicht ein par Augen an. Antaronas Augen.
Offenbar waren sie nur wenige Zentimeter nebeneinander aufgetaucht, und hatten sich den Rücken zugekehrt. Beide hatten sie sich gedreht, um die Wasseroberfläche abzusuchen. Sebastian vermochte nicht zu sagen, wer von ihnen beiden in diesem Augenblick dümmer dreinschaute.
Eigentlich hätten Antaronas Sinne sie warnen müssen, denn sie hatte sich ganz sicher auf ihn konzentriert. Dass sie vom Zusammentreffen ebenso überrascht wurde, zeigte ihm, dass ihre Gabe nicht immer funktionierte. Es war keine verlässliche Eigenschaft, die sie sich hätten im blinden Vertrauen zu Nutze machen können.
Nachdem der erste Schreck überwunden war, packte Basti sein Krähenmädchen, ließ sie in seine Arme gleiten, und lachte:
»Im Netz gefangen, wie ein Fisch!« Dabei drehte er sich, und wirbelte seine leichte Beute durch die Fluten. Antarona ließ lachend die Steinchen aus ihren Händen über seinen triefenden Kopf rollen und verkündete spaßig:
»Nein, Mann mit den Zeichen der Götter, ihr seid zu langsam, jeder von Sonnenherz Pfeilen trifft sein Ziel.« Sie lachten, rangelten noch eine Weile ausgelassen im Wasser herum, und beglückwünschten sich zu dieser Meisterleistung, sich in solch starker Strömung unter Wasser gefunden zu haben.
»Seht ihr, Ba - shtie, Talris und die Götter werden Sonnenherz und Glanzauge stets wieder zusammenführen, auch wenn sie getrennt sind. Nichts vermag Sonnenherz von Ba - shtie fern halten.«
Es mochte in Sebastians Kopf nur ein Gedanke sein, doch er meinte herauszuhören, dass ihre Bemerkung nichts anderes sein konnte, als der Hinweis darauf, dass er sie besser nicht allein in Falméra zurück ließ, während er sich selbst in die Täler um Val Mentiér begab. Er versuchte es zu überhören.
Statt dessen zog er Antarona an sich, denn ihre Reize verfehlten ihre Wirkung auf ihn auch im kalten Wasser nicht. Das Krähenmädchen aber hielt ihn auf Distanz.
»Ba - shtie, die anderen warten auf dem Beratungsplatz auf Sonnenherz und Glanzauge. Jetzt ist nicht die Zentare für so etwas.« So Etwas? Antarona hatte ihre beider Zuneigungen nie zuvor so bezeichnet. Es war überhaupt noch höchst selten vorgekommen, dass sie sich seinen Annäherungen entzogen hatte. Die Anderen waren kein Argument. Sie mochten warten. Bei den Îval war ohnehin keine minutiöse Zeit festzulegen, und bei den Jo-lie erst recht nicht.
Sebastian war, angesichts der verführerischen Freuden, die ihm nun entgangen waren, verstimmt. Doch um seiner Frau zu zeigen, dass er sie dennoch ungebrochen liebte und verehrte, trug er sie auf seinen Armen ans Ufer wie einen wertvollen gerade eben geborgenen Schatz.
Sie hängten sich ihre Ra-lis um, trotteten zur Hütte, um ihre Waffen zu holen, und Basti folgte Antarona nur widerwillig ins Dorf. Unterwegs trafen sie viele, die dem Aufruf Frethnals und der anderen Freunde gefolgt waren. In einer großen Traube von Anhängern und Bewunderern erreichten sie den Dorfplatz, der mindestens ebenso gefüllt war, wie bei ihrer Ankunft in Mehi-o-ratea.
Die Neugier war eine willkommene Abwechslung im Lagerleben, das außer Schwimmen, Elsirentänzen, Jagen, Flirten und Müßiggang nicht viel zu bieten hatte. Die hemmungslos ausgelebte, offene Liebe, das Leben ohne die Zwänge der Zivilisation, und die grenzenlose Freiheit wurde den Jo-lie irgendwann langweilig. Wie es allgemein in der Natur der Menschen liegt, so sehnten sich auch die Jo-lie irgendwann nach einem Ziel, nach einer Aufgabe, nach etwas, das ihrem Leben einen Sinn gab.
Antarona und Sebastian mussten sich einen Weg zu Temrins Haus bahnen, das nun ein Lazarett war. Frethnal, Vesgarina, und die beiden Brüder Ravid und Daffel mit ihren Mädchen standen bereits auf der erhöht liegenden Veranda. Offensichtlich hatten sie die seit geraumer Zeit ungeduldig wartende Menge beruhigt.
»So wie es aussieht wollen die alle mitkommen«, verkündete Ravid wie beiläufig, während Èliza und Fiala ihn mit einem strafenden Blick belegten, weil er sie so lange hatte warten lassen. Die beiden Windreiter kümmerte das weniger. Sie schien eher zu belasten, dass sich ihre Mädchen mit Antarona solidarisch erklärt hatten, und sie sich für unbestimmte Zeit trennen mussten, obwohl sie sich gerade erst gefunden hatten.
Sebastian blickte in die Menge unter ihm, sah dann Antarona an, die angesichts dieser Bereitschaft ebenso überrascht war. Sie blickte achselzuckend zurück, als wollte sie ihm mitteilen, dass sie nichts mit dieser großen Teilnahme zu tun hatte, und dass es nun an Basti war, das Ergebnis seines Aufrufs in die richtigen Bahnen zu lenken.
Ungeduldig warteten die Jo-lie auf dem Platz darauf, dass er zu ihnen sprach. Er musste Zeit gewinnen, und in seinem Kopf gleichzeitig einen konkreten Plan entwickeln. Eine einsame Entscheidung, die rasch getroffen werden musste. Wenn er in diesem Moment die richtigen Worte fand, hatte er auf einen Schlag eine ganze Armee beisammen.
Die allerdings war kaum kampferprobt. Die Befreiung der gefangenen Jo-lie, und der Sieg über Torbuks Landungskohorten zählten nicht. Sie waren im Vorteil gewesen, weil sie das Überraschungsmoment auf ihrer Seite gehabt hatten. Für eine offene Feldschlacht aber, oder für Guerillaangriffe fehlte selbst den mutigsten Jo-lie die nötige Erfahrung.
Vermochte Sebastian seine kleine Armee ins Val Mentiér zu bringen, so konnte er sie zusammen mit den Dörflern, Arrak und den Windreitern trainieren und ausbilden, und auf den großen Kampf vorbereiten, dessen Zeitpunkt eindeutig von Torbuk bestimmt werden würde. Denn sie mussten auf seinen Angriff warten. Die vielen hundert Heerlager und die feste Quaronas anzugreifen, wäre weniger tollkühn, als idiotisch gewesen.
Basti sah sich einer großen Aufgabe gegenüber, der er von seinem Empfinden her kaum gewachsen war. Er musste die Jo-lie für Falméra und für die Îval im Val Mentiér einschwören, und sogleich Taten folgen lassen. Sie alle waren Jugendliche. Und zog er die Umsetzung seiner Strategie zu lange hin, würden sie das Interesse verlieren, und nur noch halbherzig, oder gar nicht mehr hinter ihm stehen.
Ein wenig kam er sich vor, wie ein König in der Geschichte seiner Kultur, der einen Kinderkreuzzug zusammenstellte. Die Begeisterung, welche die Jo-lie eben noch zeigten, mochte in den Anstrengungen und Entbehrungen, die ihnen bevorstanden, ebenso schnell in Resignation und Auflösung, vielleicht sogar in Widerstand umschlagen.
Demonstrativ trat Sebastian an den Rand der Veranda, wie an die kante einer Bühne, und hob beide Arme, um für Ruhe und Aufmerksamkeit zu sorgen. Selbst diese Geste benutzte er noch dazu, sich einen Plan zurechtzulegen. Als endlich Ruhe eingekehrt war, und alle Augen und Ohren auf ihn gerichtet waren, begann er mit lauter fester Stimme, ohne zu schreien:
»Krieger und Kriegerinnen der Jo-lie, meine Freunde, ihr seht mein Gesicht in freudiger Überraschung, dass ihr so zahlreich gekommen seid, um zu hören, was ich euch zu sagen habe.« Bewusst benutzte er die Begriffe Krieger und Freunde. Er wollte die Wertschätzung deutlich machen, die er ihnen entgegenbrachte. Ja in den Augen dieser jungen Menschen, erhob er sie in den Stand vollständig eigenverantwortlicher Bürger des Landes, und gab ihnen gleichzeitig die Anerkennung als gleichwertige Kämpfer.
»Ich weiß nicht, welche von euch, die sich zu dieser Zentare hier versammelt haben, mit uns ziehen wollen, um unseren Brüdern und Schwestern in den Tälern unter dem ewigen Eis im Kampf gegen Torbuks Mordbrenner beizustehen...«
Noch bevor er seine Ansprache beendet hatte, brach ein lautstarkes Jubeln und Drohen gegen den erklärten Feind los. Basti verstand nicht ganz, was es zu jubeln gab, wenn ein grausamer, blutiger Krieg bevorstand. Er selbst hatte niemals einen wirklichen Krieg erlebt. Doch er kannte Bilder, die von der Grausamkeit der Kriege in seiner Welt zeugten. Und die gaben kaum Anlass zum Jubilieren.
Allerdings erinnerte er sich auch an uralte Streifen aus den Anfängen des Films, in denen Soldaten mit Pickelhauben gezeigt wurden, die jubelnd und Hurra brüllend an die Front marschierten. Nach dem Ende des ersten und zweiten Weltkriegs in seiner Welt jubelte niemand mehr. Es gab auch kaum jemanden, der nicht seine halbe Familie durch die Kämpfe verloren hatte.
Diese jungen Menschenkinder zu Füßen seiner Bühne kannten solche Bilder nicht. Sie wussten nur von der Tatsache, dass sie, die Jo-lie, eine ganze Truppe von Torbuks Kriegern in die Flucht geschlagen hatten. Die Verwundeten und Verkrüppelten, die nach wie vor in Temrins Haus und ins einem Garten lagen, und dahinsiechten, hatten sie beinahe vergessen. Sie sahen sie ja nicht mehr. Sie lagen vor aller Blicke verborgen hinter der Mauer, die Eisilia von Kandar und Temrin einst errichtet hatten.
Immer wieder musste Sebastian seine Arme heben und senken, um den Freudentaumel über den bevorstehenden Feldzug zu ersticken. Als allmählich wieder Ruhe einkehrte, fuhr er fort.
»Auf dem Weg nach Falméra haben Sonnenherz und ich die ganze Streitmacht Torbuks von den Bergen aus gesehen. Freunde, es waren so viele Zelte, dass wir sie nicht zu zählen vermochten. Die Heerlager erstreckten sich vom Fuß der Berge bis dorthin, wo Himmel und Erde sich berührten. Es waren viele, sehr viele A-ruun-ara-ti, mehrere Tausend. Sie waren so zahlreich, dass sie Quaronas umlagerten, wie das große Wasser die Felsinseln umspült. Würden diese uns in eine offene Schlacht auf freiem Feld zwingen, wären wir hoffnungslos verloren. Diejenigen von uns, die nicht von ihnen erschlagen würden, müssten bis zum Tode in den Mienen der schlafenden Sonne schuften.«
Er machte eine Pause, um die Wirkung seiner Worte abzuwarten. Es war merklich stiller geworden. Die Jo-lie diskutierten und redeten in kleinen Gruppen durcheinander, warteten aber gespannt darauf, was er noch zu sagen hatte. Und Basti prophezeite ihnen schonungslos, was sie erwartete.
»Hört mich an, und hört gut zu!«, begann er. »Als wir vor einigen Zentaren eure Freunde, eure Brüder und Schwestern, aus der Gefangenschaft befreiten, hatten wir Glück, und die Überraschung auf unserer Seite. Wir hatten nur wenige Verwundete und Tote zu beklagen. So einfach, so leicht wird es niemals wieder werden. Torbuks Männer hatten nicht damit gerechnet, angegriffen zu werden. Doch nun sind sie gewarnt. Sie wissen nun, dass es wehrhaften Widerstand gibt. Und glaubt mir: Die werden sich darauf vorbereiten. Wo immer wir sie angreifen, oder wo immer wir uns auch verteidigen, sie werden uns an Zahl weit überlegen sein.«
»Das waren sie auch, als wir unsere Freunde befreiten!« schrie jemand aus der Menge heraus, und erntete laute Zustimmung. Wieder musste Basti die Versammelten zur Ruhe bringen.
»Ja, mein Freund, da habt ihr Recht«, gab er zu. »Doch vergesst eines nicht: Sie werden sich nie wieder so überraschen lassen. Hier auf Falméra waren sie allein. Drüben auf dem Festland sind wir es, die allein stehen. Dort kämpfen wir gegen einen Feind, der A-ruun-ara-ti mal so groß ist, und wir kämpfen in einem Land, das sie beherrschen und kontrollieren. Und sie kontrollieren es gut. Nur mit Mühe war es Sonnenherz und mir gelungen, durch ihre Reihen zu schlüpfen, um nach Falméra zu gelangen.«
Nun gab es keine Zwischenrufe mehr. Sebastian malte bewusst ein schwarzes Bild ihrer Chancen, denn er wollte nur entschlossene und furchtlose Krieger, die wenigstens zum teil ahnten, was auf sie zukam. Er wurde noch deutlicher.
»Freunde, Brüder und Schwestern, ich weiß um eure Unerschrockenheit und um eure Kampfkunst. Ihr habt sie bewiesen. Doch was ihr einen Sieg nennt, war nur ein kleines Gefecht. Dies war nicht der Krieg, der uns bevorsteht. Ich habe im Reich der Götter Kriege gesehen, die ganze Völker vernichtet haben. Und wer von euch sich das nicht vorstellen kann, dem will ich erzählen, wie so etwas aussieht.«
Sebastian redete sich geradezu in eine Weltuntergangsstimmung, und doch rezitierte er nur, was er selbst nie erlebt, sondern nur aus Büchern und Filmen kannte. Er musste lügen und interpretieren, um die Jo-lie auf das Schlimmste vorzubereiten, das sie in ihrem Leben erfahren würden.
»Heere traten gegeneinander an, die ganze Landstriche füllten. Sie stießen gegeneinander und zerhackten sich mit der Begeisterung und im Zorn gegen den Feind. Oft dauerten die Schlachten mehrere Tage lang. Und standen die Krieger erst knietief im Blut ihrer Gegner und ihrer Freunde, und sahen sie ihre Brüder und Schwestern um sich herum sterben, und wurden sie des Kämpfens müde, so tauschten sie den Mut mit der Angst. Aber es nützte ihnen nichts. Der Feind in einer so großen Schlacht ist erbarmungslos und ohne Gnade. Er schlachtet nur noch dahin, bis niemand mehr übrig ist. So etwas werdet ihr erleben!«
Alle Stimmen waren verstummt, ja Basti glaubte sogar zu hören, dass die Jo-lie aufgehört hatten zu atmen. Er konnte einfach weiterreden, seine Stimme bekam einen heiseren Ausdruck, und wurde leiser, aber sehr viel eindrücklicher.
»Ganze Dörfer werden brennen, Wiesen und Wälder werden nur noch verbrannte Erde sein. Jeder Bach, jeder See liegt voller Leichen und das Wasser ist rot und vergiftet. Dort wo die Schlacht tobte, werden so viele Tote liegen, dass man keinen Fuß mehr vor den anderen setzen kann, ohne in Blut und Eingeweide zu treten. Es wird Tage und Wochen lang stinken, dass es einem den Atem raubt, denn es ist niemand mehr am Leben, der sie forträumen, und an das Tor zum Reich der Götter bringen könnte. Verwundete und Verletzte liegen hilflos umher und müssen qualvoll und einsam auf ihren Tod warten, denn es gibt niemanden mehr, der ihnen helfen könnte.«
Die Jo-lie hörten ihm gebannt zu. Doch von Begeisterung war nichts mehr zu hören. Statt dessen hielten alle die Köpfe gesenkt, und schienen über seine Worte nachzudenken. Ein Blick zu Antarona, Frethnal und Vesgarina verriet ihm, dass selbst die nicht ermessen konnten, was der Krieg gegen eine so riesige Armee, wie jener Torbuks, wirklich bedeutete. Allein Ravid und Daffel sahen ihn mit festem und entschlossenem Blick an. Sie waren die einzigen, die wohl in der letzten Zeit an Gefechten teilgenommen hatten, in denen die Gegner sich nichts, nicht einmal einen schnellen Tod schenkten.
»Wenn solche Schlachten stattfinden«, setzte Basti sein prophetisches Szenario fort, »gibt es zunächst keine wirklichen Sieger, so groß ist das Leid. Noch lange danach irren Kriegerinnen und Krieger durch jene Wälder, welche vielleicht noch stehen, weil sie durch die unvorstellbaren Grausigkeiten Na-ta-tie, verrückt, geworden sind. Die meisten von euch werden wahrscheinlich nicht zurückkehren. Ihr Gang wird jener sein, der in das Reich der Toten führt.
Und mit einer Schlacht ist es nicht vorbei. Es werden weitere folgen, und das wird solange so gehen, bis Torbuk, Karek, und all ihre Anhänger ausgelöscht sind. Der Kampf wird möglicherweise Jahre dauern, bis im Land Frieden und Freiheit Einzug gehalten haben, und ihr beginnen könnt, eine Familie zu gründen, und alles wieder aufzubauen. Der Tod aber wird bis an euer Lebensende an euch haften bleiben. Ihr werdet das fürchterliche Erlebte nie wieder vergessen. Es wird euch in jeder Mutter der Nacht heimsuchen, und euch aus dem Schlaf reißen. Ihm könnt ihr nie wieder entfliehen.«
Mit bohrendem Blick sah Basti in die Runde. Niemand regte sich, niemand wagte auch nur die Fliegen aus seinem Gesicht zu scheuchen, die mit zunehmender Wärme über sie herfielen. Wie zu Salzsäulen erstarrt standen die jungen Kriegerinnen und Krieger auf dem staubigen Platz.
Basti machte einen Satz von der Veranda herunter und stand nun mitten unter ihnen. Dann bahnte er sich kreuz und quer einen Weg durch die Versammelten, und blickte ihnen einzeln in die Augen. Er las nackte Angst, Hass, Trotz, und überall Verunsicherung. In den Köpfen der Jo-lie arbeitete es. Sie fühlten sich schon jetzt aus ihrem unkomplizierten, freien und sorglosen Leben herausgerissen. Allein ihr zweifelndes Gewissen aus der Verpflichtung heraus, ihrem künftigen König zu folgen, und der Furcht, ihre scheinbar schützende Gemeinschaft in der Abgeschiedenheit von elterlichen Zwängen aufzugeben, brachte ihre Selbstsicherheit zum Einsturz.
Die ganz Jungen unter ihnen vermochten Bastis Voraussage gar nicht einzuordnen. Ihnen fehlte jegliche Lebenserfahrung, um abschätzen zu können, wie böse die Welt dort draußen noch werden konnte. Den Älteren schwante schon eher, was auf sie zukommen würde. Und nicht nur einer der Anwesenden dachte wahrscheinlich darüber nach, seine Füße besser unter der schützenden Burg Falméra zu lassen. Basti nahm ihnen aber auch diese Illusion von einer heilen Welt. Er wollte ihnen keinen Sand in die Augen streuen, sondern sie aufklären, wie nahe die Gefahr schon war.
»Wenn die bis jetzt noch freien Täler drüben hinter dem großen Wasser fallen, weil niemand da ist, der sie verteidigt«, hob er erneut an, »oder weil sie allein zu schwach sind, so seid dessen versichert, Freunde, wird Torbuk vor der Hafeneinfahrt Falméras nicht Halt machen. Seine Streitmacht ist groß genug, dass es ihm ein Leichtes sein wird, Stadt und Burg Falméra auszuhungern. Und, nehmt es mir nicht übel, wenn ich das sage, aber die meisten Oranuti werden unter dem Druck seiner Gewalt nachgeben, und sich mit ihm verbünden, um nicht mit den Îval unterzugehen.«
Plötzlich regte sich wieder etwas in der Menge. Proteste wurden laut, hier und dort wurde gerufen, dass die Oranuti keine Verräter wären, und das jeder Oranuti zu seinen Freunden steht.
»Das ist eine Lüge!« rief jemand lautstark aus den hinteren Reihen. »Ich bin Oranuti, und ich bin in Falméra geboren; ich bin kein Feind der Îval, und für meine Eltern gilt das ebenso!«
Langsam, suchend, schob sich Sebastian durch die dicht gedrängten Jo-lie, um den Rufer zu finden. Bereitwillig wurde ihm eine Gasse geöffnet, die ihn direkt zu dem jungen Oranuti führte. Ohne Voreingenommenheit und mit freundlichem Blick trat er dem Jüngling entgegen.
»Das glaube ich euch gern, junger Freund«, begann er. »Dass ihr für eure Freunde, und für die Jo-lie, und wahrscheinlich auch für die Îval einsteht, habt ihr bewiesen, denn ihr habt neben mir und euren Freunden gekämpft, als es galt, die Gefangenen zu befreien. Und ich bin euch dankbar, dass ihr den Weg für die Freiheit gewählt habt.«
Er trat noch einen Schritt näher, und sah dem jungen Krieger direkt in die Augen. Stolz erwiderte er den Blick, und sein Körper straffte sich, denn plötzlich stand er im Mittelpunkt des Geschehens. Basti sprach laut, jedoch mit ruhigem Ton:
»Ihr seid kein Verräter, und ihr steht zu den Werten, welche den Jo-lie, den Îval, und vielen Oranuti heilig sind, auch wenn ihr eines anderen Glaubens seid. Doch würdet ihr beschwören, dass dies für alle Oranuti gilt, für alle Fürsten eures Volkes, auch für jene, die nicht in Falméra leben? Würdet ihr euren Kopf dafür hingeben, dass sich kein Oranuti dem vermeintlich Stärkeren beugt, um sich und seine Familie zu retten?« Basti ließ ein par Sekunden verstreichen, in denen der Junge deutlich seine wachsende Verunsicherung zur Schau trug.
»Ihr mögt für eure Eltern und Freunde euren Hals verpfänden, doch vermögt ihr auch für das ganze Volk der Oranuti zu sprechen?« Ohne eine Antwort abzuwarten, wandte sich Basti an die Menge der Jo-lie, die um ihn herum stand.
»Und wer von euch glaubt, dass Torbuk vor den Grenzen Oranutus Halt macht, der irrt. Dieser Mensch ist so machtgierig, er würde auch seine Verbündeten verraten, und ihr Land besetzen, wenn dabei etwas für ihn herausspringt. Er benutzt Oranutu nur. Er geht ein scheinbares Bündnis mit einigen Oranuti-Fürsten ein, weil er sie braucht. Er ist zu dumm, um eigene Wasserwagen zu bauen, die seetüchtig genug sind und gleichzeitig einen so geringen Tiefgang haben, dass sie an der Küste Falméras landen können. Dazu braucht er die Oranuti. Ohne sie kann er Falméra nicht einnehmen. Ihr alle habt den Wasserwagen gesehen, den ihr geentert, und in Brand gesteckt habt. Er war Oranuti Bauart!«
Basti ließ die Worte wirken, und als keine Gegenstimme sich erhob, schritt er zurück zur Veranda, und stellte sich wieder auf das Podest, bevor er weiter sprach.
»Wenn Torbuk erst einmal ganz Volossoda unter seine Kontrolle gebracht hat, wird er sich nach Süden wenden. Mit den Wasserwagen der Oranuti hat er dann die Möglichkeit, zu Land und zu Wasser anzugreifen. Er wird dann die Küste Oranutus aufrollen, wie eine alte, ausgetretene Fußbodendecke. Auch Mehi-o-ratea wird dann nur noch Geschichte sein. Nein, glaubt mir, Quaronas kann jetzt noch aufgehalten werden, damit wir alle frei leben können, und uns der Elsirentänze erfreuen können. Doch warten wir zu lang, wird es zu spät sein, und wir vermögen nichts mehr auszurichten.«
Nun machte Basti eine längere Pause. Er beobachtete die Versammelten, zu denen immer noch neue Interessierte hinzukamen. Hitzige Diskussionen entbrannten in kleineren Gruppen, und ängstliches Tuscheln war überall zu hören. Nur die begeisterten Rufe nach einer großen, siegreichen Schlacht waren verstummt. Nach einer Weile bat Sebastian erneut um Ruhe.
»Freunde, hört weiter. Ich habe versucht, euch zu sagen, was auf euch zukommt, wenn ihr mit uns zieht, um die Freiheit aller Völker in und um Volossoda zu verteidigen. Ich habe euch erzählt, wie fürchterlich der offene Krieg gegen Torbuk werden wird, und ich habe euch prophezeit, was wird, wenn wir nichts tun. Jeder einzelne von euch soll frei für sich entscheiden, ob er mit uns in die Täler zieht, oder hier bleibt. Keinem von euch wird ein Vorwurf daraus gemacht, wenn er nicht mitzieht. Egal was auch immer geschieht, es werden auch hier viele von euch gebraucht, und es ist nicht unehrenhaft, hier zu bleiben. Wer also bleiben möchte, der versammle sich dort drüben«, und Basti wies zum Weg, der sich zu seiner Linken durch das Dorf schlängelte.
»Wer jedoch mit uns in die Täler ziehen will, um den Brüdern und Schwestern dort gegen Torbuks Truppen beizustehen, und zu helfen, der versammle sich dort.« Sebastian wies auf den Teil des Platzes, der zum Fluss hin lag.
Anfangs mit leisem Stimmengewirr, einem Hin und Her von Unschlüssigen, dann aber ruhig, beinahe schweigend, trennte sich die Menge mit einer Disziplin, die Sebastian nicht erwartet hatte. Diejenigen, die sich links aufstellten, mochte er an den Fingern zweier Hände abzählen. Die meisten der Jo-lie, dabei auch kleine Knirpse von gerade mal geschätzten zehn Jahren, schoben sich nach rechts hinüber.
Nicht nur Basti, sondern auch Antarona und die anderen Freunde, die mit auf der Veranda standen, sahen sich mit Erstaunen an. Sie hatten mit Vielen gerechnet, jedoch nicht mit siebzig Prozent des ganzen Dorfes. Und Sebastian wurde mit einem Schlag klar, das dies, was sich in dieser Zentare anbahnte, tatsächlich einem Kinderkreuzzug gleich kam. Er hatte eine eigene Armee aus der Taufe gehoben. Waren es zweihundert, dreihundert, oder gar vierhundert Jugendliche und Kinder, er vermochte es zu dieser Zentare nicht zu sagen.
In seinem Kopf arbeitete es fieberhaft. Wie sollte er nun weiter vorgehen? Was sollte er diesen vielen Bereitwilligen nun sagen, das sie tun sollten? Er war der Heerführer dieser Kinderarmee. Sie standen vor ihm, und wollten geführt werden. Sie alle blickten erwartungsvoll zu ihm auf, und wollten wissen, wie es nun weiter ging. Basti war gezwungen, rasch überlegen, musste aber noch Zeit gewinnen, und wandte sich erst einmal den Wenigen zu, die nicht mit in den Krieg ziehen wollten.
»An euch dort drüben«, und er wies nach links, »möchte ich zunächst das Wort richten. Ihr habt eure Entscheidung getroffen, die sicher nicht jedem von euch leicht gefallen ist. Und jede und jeder von euch wird seine rechten Gründe für diese Entscheidung haben, die wir anderen respektieren wollen. Es ist eure Freiheit, so zu handeln, denn für die freie Entscheidung steht Mehi-o-ratea, steht die Gemeinschaft der Jo-lie. Wer von euch uns helfen mag, uns für den weiten Weg vorzubereiten, dessen Hilfe will ich gern dankbar annehmen.« Sebastian sprang von der Veranda herunter und ging ein par Schritte auf die Gruppe zu.
»Und nun noch Eines zum Schluss. Wie ihr seht, werden viele Jo-lie Mehi-o-ratea verlassen, die meisten von euch. Ich halte es nicht für klug, wenn ihr allein hier bleibt. Niemand weiß, ob Torbuk nicht auf den verrückten und eher unwahrscheinlichen Gedanken kommt, zurückzukehren, um Rache zu nehmen. Dann solltet ihr nicht in so kleiner Zahl und ohne Schutz hier sein. Freilich könnt ihr auch nicht einfach fortziehen, und die Kranken und Verwundeten allein zurücklassen. Deshalb werde ich, sobald wir in Falméra sind, zwei Kohorten meiner Heerlager senden, die euch sicher nach Falméra geleiten werden.« Die Jo-lie nickten dankbar. Weiter gab es nichts zu sagen.
Basti stieg wieder auf das Podest, und wandte sich der größeren Gruppe zu, jenen Jo-lie, die sich dazu entschlossen hatten, ihn und seine Freunde nach dem Festland zu begleiten. Die Unsicherheit unter ihnen war einer erwartungsvollen Aufregung gewichen. Abenteuerliche Mutmaßungen wurden angestellt, und einzelne Mitglieder der Gruppe demonstrierten den anderen, wie gut sie mit ihren Waffen umzugehen verstanden. Sebastian musste sie mehrmals um Ruhe anrufen, bevor sie bereit waren, ihm zuzuhören.
»Alle, die mit uns ziehen wollen, hört mich an!« begann er seine Rede. »Die Zentaren drängen, denn was Ravid und Daffel, die beiden Windreiter hier, mir berichtet haben«, dabei schob er die beiden Brüder nach vorn, so dass jeder sie sehen konnte, »sind keine guten Nachrichten. Torbuk versucht den Tälern die Ernten zu rauben, oder zu vernichten, welche die Keháni, die Îval, die Elohim und die Algóni benötigen, um die Zeit des langen Schnees zu überleben. Gelingt es ihm, und sie alle sterben des Hungers, so ist sein Weg offen, Falméra anzugreifen. Wir müssen das verhindern! Ob uns das gelingt, weiß ich nicht, doch versuchen wir es nicht, so ist alles verloren, was wir alle so sehr schätzen: Die Freiheit, und alles, was uns lieb und teuer ist.« Die Jo-lie stimmten ihm lautstark zu, und bekundeten, treu zu ihm zu stehen.
»Es wird ein weiter und gefährlicher Weg bis in die Täler«, fuhr Basti fort, »wir alle müssen erst einmal über das große Wasser, was uns hoffentlich mit der Hilfe einiger Fischer und Handelsfahrer gelingen wird. Doch dann wird es erst richtig hart. Wir müssen uns durch Eis und Schnee, durch dichte Wälder und tiefe Schluchten, durch hohe Pässe und reißende Flüsse an Torbuks Truppen vorbei, einen Weg in die Täler suchen. Oft werden wir kein Feuer machen können, um uns nicht zu verraten, wir werden gegen Robrums, Eishunde, und vielleicht auch gegen Gore kämpfen müssen. Wer jetzt noch zur anderen Seite wechseln möchte, kann dies tun, ich werde es ihm nicht nachsehen. Doch wer bereit ist, diesen schweren Weg mit uns zu gehen, muss sich darüber klar sein, dass es kein Zurück mehr gibt, sobald wir auf dem großen Wasser sind.«
Lauernd wartete Basti, ob sich noch jemand auf die Seite derer wechselte, die auf Falméra bleiben wollten. Doch niemand bewegte sich.
»Gut«, sagte er erleichtert, »wir werden frieren, hungern, und vor Müdigkeit umfallen. Aber wir werden es schaffen, das verspreche ich euch!« Er machte eine kurze Pause, bevor er abschließend verkündete:
»Sonnenherz trägt seit einigen Zentaren ein kleines Herz unter ihrem Herzen. Und vielleicht gibt es noch eine, oder zwei Kriegerinnen, die ebenfalls in glücklicher Freunde sind. Daher haben wir beschlossen, dass zunächst allein die Männer nach dem Festland übersetzen werden, und versuchen, einen möglichst sicheren Weg in die Täler zu finden. Dann wird ein von mir ausgesuchter Trupp die Kriegerinnen auf unserem Pfad sicher in die Täler führen.«
Er hatte den Satz noch nicht ganz ausgesprochen, als ihn die ersten lautstarken Proteste der Frauen und Mädchen trafen, die meinten, ebenso, oder gar besser mit den Waffen umgehen zu können, wie ihre männlichen Kameraden. Es erhob sich eine Aufregung, wie wenn ein Fuchs in ein Hühnerhaus eingebrochen wäre. Unterstützt wurden die mutigen Kriegerinnen von ihren Männern, mit denen sie verbunden waren.
Wollte Basti sie sich nicht zu Feindinnen machen, so musste er sich rasch noch ein par bessere Gründe einfallen lassen, warum der weibliche Teil seiner kleinen Armee erst später nachziehen sollte. Während er noch nach Worten suchte, trat Antarona vor, und rettete ihm damit wahrscheinlich das Ansehen bei den Kriegerinnen.
»Frauen der Jo-lie, Frauen der Îval und der Oranuti, hört, was euch Sonnenherz zu sagen hat«, begann sie überzeugend und bestimmt.
»Alle von euch wissen, dass die Kriegerinnen ebenso mit Schwert und Lanze umzugehen wissen, wie die Männer. Viele sind unfehlbare Schützinnen mit dem Bogen, und kein Mann vermag kleinste Ziele besser zu treffen, als sie. Und mag eine sogleich mit den Männern zum Land unter dem ewigen Eis ziehen, so wird Areos es ihr gewiss nicht verwehren. Doch bedenkt dieses.«
Das Krähenmädchen machte eine kurze Pause und das zustimmende Nicken in den Reihen der Mädchen und Frauen bestätigte ihr, dass diese ihr Wort schätzten und ihre Ansichten weniger in Zweifel zogen. Dann wies sie mit ihrem Bogen in die Richtung, in der sich eine Gruppe junger Männer aufgestellt hatte.
»Ihr wisst, dass diese dort, die Männer, die wir achten und lieben, oft durch den Wald stapfen, wie ein müder Xebron. Man kann sie Zentaren weit hören.« Zustimmendes Gejubel und Gekreische unterbrach sie. Antarona hatte den empfindlichen Nerv der Frauen getroffen, und somit ihr Wohlwollen erobert. Sie schwang den Bogen über ihren Kopf, und die von sich überzeugten Frauen verstummten wieder.
»Was geschieht, wenn die großen Krieger in einen Hinterhalt geraten, weil sie wie eine Horde Robrums durch den Wald taumeln? Wer sollte ihnen dann zu Hilfe eilen, wenn nicht die Kriegerinnen der Jo-lie, die es verstehen, wie die Elsiren durch die Bäume zu gleiten, ohne gesehen zu werden? Wer sonst soll dann die Herren Krieger befreien? Ihr werdet dann die einzige Hoffnung für sie sein!«
Wieder bekundeten die Frauen laut ihre Einstimmigkeit mit ihrer Prinzessin. Sebastian ahnte worauf Antarona hinaus wollte, und staunte über die Raffinesse, mit der sie dabei vorging.
»Ihr könnt eure Männer aber nur dann retten, wenn ihr nicht mit gefangen werdet«, fuhr sie fort, »wenn ihr ihnen den Rücken freihaltet, wenn ihr euch zunächst im Verborgenen haltet. Daher meint Sonnenherz dies: Bleibt mit Sonnenherz in Falméra. Und wenn unseren Kriegern der Jo-lie etwas zustößt, dann sollen ihre Gegner die Kriegerinnen der Jo-lie kennenlernen! Dann habt ihr inzwischen neue Waffen gebaut und gekauft, und euch von Sonnenherz auf den Kampf vorbereiten lassen. Dann werden Sonnenherz und die Kriegerinnen über die Feinde kommen, wie die Gore über eine Rotte Eishunde. Ihr seid Sonnenherz Armee, und sie wird mit dieser Armee wie ein scharfer Wind durch die Wälder und Täler fegen, wenn die Krieger ihrer Hilfe bedürfen.«
Applaus und Begeisterung brandeten Antarona entgegen, und Basti vermutete, dass man allein schon mit den schrillen Stimmen der Frauen ein feindliches Heer in die Flucht schlagen konnte. Die Männer standen nach ihrer Ansprache zwischen den hysterisch aufgeladenen und kreischenden Mädchen wie orientierungslose Salzsäulen herum. Noch einmal hob Antarona ihren Bogen und rief aufputschend in die Menge:
»Wer bleibt nun mit Sonnenherz, um sich bereit zu halten, den Kriegern der Jo-lie Hilfe zu bringen? Wer will mit Sonnenherz die Krieger befreien, wenn sie in die Hände Torbuks fallen?«
Nach jedem ihrer Sätze sprangen die Frauen und Mädchen auf, rissen die Arme hoch, und ließen ein Kreischen hören, das ein Triebwerk eines Düsenjets locker übertönt hätte. Beinahe alle Frauen fühlten sich plötzlich berufen, bei ihrer Prinzessin zu bleiben, bis ihr rettender Einsatz gefordert war.
In Sebastian keimte der Verdacht auf, dass der weibliche Teil seiner Streitmacht mittlerweile fest davon überzeugt war, dass sie gefangengenommen wurden, und von ihren Frauen herausgehauen werden mussten. Das behagte ihm nicht, und er befürchtete, dass sich seine Anhänger in zwei konkurrierende Lager aus Männern und Frauen spalten könnten. Doch als die Männer in die Lobeshymnen auf Sonnenherz mit einfielen, war er überzeugt, dass ihn die Jo-lie auch weiterhin als eine Einheit unterstützten. Er musste Antarona ins Ohr schreien, um den Jubel zu übertönen:
»Du bist klug wie ein Schwarzvogel, und listig wie eine Schlange gleichermaßen. Du allein hast sie überzeugt. Doch denkst du wirklich, dass wir Männer uns von Torbuks Reitern so einfach gefangen nehmen lassen?« Antarona lächelte ihn an, süß wie immer, doch die Antwort blieb sie ihm schuldig.
So denkst du also über mich, und dennoch vertraust du mir? Diese fast vorwurfsvolle Frage richtete er nur in Gedanken an sie, denn ihr Schweigen war bezeichnend. Doch er hatte vergessen, dass Antarona zuweilen spürte, was die Gedanken anderer bewegte. Hatte sie ihn auf dem Wege ihrer Sinnesfähigkeiten verstanden, oder hatte sein Blick ihn verraten? Das versuchte er herauszufinden, als das Krähenmädchen unerwartet antwortete.
»Ba - shtie, ihr wisst, dass Sonnenherz eure Umsicht und Klugheit ebenso schätzt, wie euer Können als Krieger. Doch ihr geht mit vielen ungeübten Männern dorthin, wo an jedem Weg Torbuks stinkende Brut lauert. Ihr geht mit Männern, welche das Leben noch nicht kennen, und welche noch nie einen aussichtslosen Kampf überstanden haben. Ihr mögt vorsichtig und weise handeln, doch auf jedes dieser großen, neugierigen Kinder könnt ihr nicht Acht geben. Dies wissen auch die Frauen der Jo-lie.«
Sebastian akzeptierte nickend ihr Argument. Sagen könnte er es ihr nicht, denn noch immer bekundeten die Jo-lie unter stehenden Ovationen ihre bedingungslose Gefolgschaft. Er glaubte aber auch, dass Legende, die zumindest Antarona vorausgeeilt war, ebenso auf die Zuversicht und Begeisterung der jungen Menschen wirkte. Darauf, dass er längst selbst ein Teil dieser Legende geworden war, kam Basti gar nicht. Er schrieb dieses Verdienst allein Sonnenherz zu, der Kriegerin aus dem Val Mentiér, die mit den Tieren zu sprechen vermochte.
Noch einmal hob er seine Hände, und bat um Ruhe. Doch erst als Antarona wiederum ihren Bogen erhob, war die Menge bereit, wieder zuzuhören.
»All jene von euch, die mit uns ziehen wollen, mögen sich beim nächsten Erwachen Talris wieder an diesem Platz einfinden. Bringt die Waffen mit, mit denen ihr gut umzugehen versteht. Ich will sehen, wie sich euer Können am besten einsetzen lässt, bevor wir aufbrechen. Wir gehen dann im Morgengrauen beim übernächsten Sonnenlauf!«
Damit war alles gesagt. Basti wandte sich nun Ravid und Daffel zu, um mit ihnen als inzwischen erfahrene Windreiter abzustimmen, wie die verschiedenen Waffen im Guerillakampf am effektivsten eingesetzt werden können. Doch die Versammlung der Jo-lie löste sich nicht auf. Verwundert sah er sich zur wartenden Menge um. Hatte er irgend etwas vergessen? War noch etwas unausgesprochen geblieben? Die jungen Leute starrten zur Veranda herauf, als erwarteten sie noch etwas.
»Ihr könnt jetzt gehen«, ermunterte er die Wartenden, »bereitet euch auf den Weg vor. Geht auf die Jagd und sammelt Beeren, Kräuter und Wurzeln, und baut euch Schlepptragen. Schnürt eure Bündel, und vergesst nicht, dass auf dem Festland die Zeit des langen Schnees ist. Es gibt noch viel zu tun, damit unser Weg kein allzu beschwerlicher werden wird.« Dazu gab Antarona ein Zeichen mit weit ausholender Bogenhand.
Nur langsam lösten sich die kleinen, dicht beieinander stehenden Gruppen auf, zerstreuten sich, blieben wieder stehen, diskutierten aufgeregt, gingen weiter. Es dauerte eine geschlagene Stunde, bis sich der Platz beinahe leer unter der Mittagshitze ausdehnte. Irgendwann war nur noch das Zirpen der Zikaden zu hören. Die neue Geschäftigkeit unter den Jo-lie jedoch war überall augenscheinlich.
Emsige Geschäftigkeit begann, was für diese Stunde, da die Sonne erbarmungslos auf das Dorf brannte, unüblich war. Rasch wurden noch Felle von der letzten Jagd aufgespannt, Trockenfleisch wurde von Ständern genommen, und in transportable Ledertaschen verpackt, Kräuter in Leinensäckchen gefüllt, und lange, biegsame Äste für Bogen herangeschafft.
Das ganze Lager glich einem Ameisenhaufen, in dem jemand mit einem Stock herumgestochert hatte. Das letzte Mal herrschte eine solche Aufregung, als sie sich auf die Befreiung der Gefangenen vorbereitet hatten. Sebastian beobachtete das geschehen noch eine Weile, bis neben ihm Daffel und Ravid mit den Füßen auf dem Holzboden der Veranda zu scharren begannen. Ein untrügliches Zeichen der Ungeduld. Èliza und Fiala wollten ebenfalls ihre Vorbereitungen treffen, und Vesgarina und Frethnal mussten ihr Lazarett an jene Jo-lie übergeben, die auf Falméra bleiben und auf Bastis Begleit- Kohorte warten wollten.
»Ja, dann wollen wir mal«, gab Basti das Signal zur Vorbereitung. Doch was genau er jetzt zu tun haben sollte, war ihm nicht klar. Es war einfach alles zu schnell gegangen. Er hatte auch nicht damit gerechnet, so viele bereitwillige Anhänger zu finden. Das Ganze hatte sich zu einer echten Herausforderung entwickelt. Er musste zwei- bis dreihundert Kriegerinnen und Krieger nach Falméra bringen, und anschließend mehr als hundert von ihnen über das große Wasser. Allein der Zug der Jo-lie konnte kaum jemandem verborgen bleiben, egal, welchen Weg sie nahmen.
Allerdings setzte Sebastian auf die naheliegendste Schlussfolgerung, sollten versteckte Augen ihnen folgen. Für Torbuk musste es zunächst so aussehen, als flohen die Jo-lie vor der Möglichkeit, er könnte an ihrem Dorf grausame Rache üben. Er würde erst einmal glauben, die jungen Menschen brachten sich unter den Schutz von Burg und Stadt in Sicherheit. Sie konnten also getrost offen am Strand entlang wandern.
Allein die Planung der Überfahrt, und die Anwerbung der Fischer und Wasserwagenbesitzer musste im Verborgenen geschehen. Torbuk hatte überall seine Spione, selbst in der Burg Falméra. Sie mussten peinlichst genau überlegen, wen sie um Hilfe baten. Je länger sie ihre Landung auf dem Festland geheim halten konnten, desto größer waren die Chancen, unbeschadet bis in die Täler durchzukommen.
Sollte Torbuk auch hier im Lager der Jo-lie neugierige Augen haben, so musste es für ihn aussehen, als ob das Dorf geräumt und aufgegeben wurde. Möglicherweise ließ er sich täuschen. Doch Sebastians offene Ankündigung mochte genauso gut die Wachsamkeit seines Feindes bewirkt haben, vorausgesetzt, Eisilia von Kandar hatte noch verborgene Freunde in Mehi-o-ratea zurückgelassen, die ihr berichteten.
Schon überlegte Basti, welche Maßnahmen Torbuk veranlassen würde, hätte er von der Absicht der Landung Kenntnis. Er konnte schlecht die gesamte Küste von der Grenze Oranutus bis in den Norden von Zarollon überwachen lassen. Dazu fehlten selbst ihm die Soldaten. Aber er konnte unzählige Patrouillen durch die Wälder schicken, oder die Strände ablaufen lassen. Dass sie irgendwann entdeckt werden würden, war eine mathematische Gewissheit. Landungsboote oder Schiffe konnten gesehen werden, lange bevor sie ans Ufer gelangten. Wie war es möglich, ungesehen an Land zu gehen?
Innerlich musste Basti lächeln. Die gleiche Frage stellte sich Torbuk wahrscheinlich auch, wenn er seine Invasion auf Falméra plante. Der riesige Vorteil einer ungesehenen Landung war nicht zu leugnen. Dieser Vorteil war für den Gegner kaum mehr wett zu machen. Wie also konnten sie sich der Küste nähern, ohne gesehen zu werden, wollten sie nicht alle Kilometer weit schwimmen?
Antarona spürte, wie es in Bastis Kopf arbeitete, und ließ ihn in Ruhe. Sie schritt schweigend neben ihm her. Aber auch ihr ging einiges durch den Kopf. Sie wollte an seiner Seite sein, und auch im Kampf an seiner Seite bleiben. Doch sie hatte eingesehen, dass es klug war, sich zum Wohl ihrer ungeborenen Tochter zu schützen. Wenn sie das Kind nun in Falméra in den Schoß Talris gebar, und sich dann ins Val Mentiér aufmachte? Doch wo sollte sie das Kind lassen?
Verschiedenste Einfälle schossen ihr durch den Kopf, die sie aber alle wieder verwarf. König Bental würde das Kind als sein vermeintliches Enkelkind gerne aufnehmen. Doch sie befürchtete, dass er ihr und Basti das Kind nach dem Krieg verweigern konnte. Dann fiel ihr noch das alte Kräuterweib in der Klamm unter der Burg ein. Wie lange aber lebte die Alte noch? Sie musste über Hundert sein!
Auf dem Hof ihres Vaters wäre das Kindlein in guter Obhut. Doch wie sollte sie es dorthin bringen, wo doch die Täler von Torbuks Truppen abgeriegelt waren? Und was, wenn sie die Armeen Quaronas nicht aufhalten konnten? Was würde dann aus ihrer Tochter werden? Högi Balmer kam ihr noch in den Sinn. Doch auch er war schon sehr alt, und außerdem selbst für einen Einsiedler ziemlich verschroben. Konnte er in der Not ein aufgewecktes Kind großziehen und schützen?
Letztlich fiel ihr nur noch ihre Tante ein. Bei Zinthia und Corneus in Val Argón wäre ein Kind sicher und behütet. Ihre Verwandten besaßen selbst Kinder. Antarona dachte nach. Wenn sie mit den Jo-lie am Strand entlang nach Falméra zogen, so mussten sie auch durch Val Argón kommen. Ob sie Zinthia schon einmal fragen sollte? Vorsichtshalber?
Sie verwarf den Gedanken wieder. Soweit war es noch nicht. Fest stand für sie jedoch, dass sie ihre Tochter nicht auf der Burg Falméra zur Welt bringen wollte. Und im Grunde gab es für sie nur eine Option. Das Kind sollte im Val Mentiér geboren werden. Doch die Aussichten dafür standen mehr als schlecht. Und noch einiges andere geisterte dem Krähenmädchen im Kopf herum.
Sie und Ba - shtie, der für alle der Areos von Falméra war, sollten die Thronerben sein? Sie fühlte sich als die Tochter Hedarons, des Holzers aus Fallwasser im Val Mentiér. Aber wenn doch etwas Wahres an den Behauptungen König Bentals war? Dann war ihre Tochter die einzige Thronerbin von Falméra und Volossoda, eine wahre Prinzessin.
Wenn dies im Lande als die Wahrheit laut würde, wäre ihre Tochter in noch größerer Gefahr. Dann musste sie das Kind verstecken, verbergen, als eine andere, als sie tatsächlich war, an einem geheimen Ort aufwachsen lassen, damit niemand sie fand. So, wie es ihr selbst ergangen war, wenn die Geschichten stimmten, die man sich über sie erzählte.
»Was wollen wir eigentlich gegen die Gorreiterin und Eisilia unternehmen?« Bastis Stimme riss sie aus ihren Gedanken. Inzwischen waren sie fast an ihrer Hütte angekommen. Antarona überlegte kurz, dann zuckte sie mit den Achseln.
»Was können Sonnenherz und Glanzauge tun?« fragte sie. »Wenn es Medunzia ist, welche den Gor für Torbuk besteigt, so wir Bental dies nur dann glauben, wenn er einen Beweis dafür erhält. Dann wird er sie in den Kerker werfen lassen. Jedoch muss sie erst einmal gefasst werden. Ebenso ist es mit Eisilia.« Sebastian nickte zustimmend, fügte aber hinzu:
»Eisilia von Kandar ist ein Fall für sich. Ich glaube nicht, dass Tomrack ein falsches Spiel mit uns treibt. Er hatte sich für uns entschieden, und sich gegen seinen Herrn gewandt, als er uns noch leicht hätte besiegen können. Ich vertraue ihm. Doch Eisilia wird versuchen, ihren Vater zu treffen, und ihn umzustimmen. Und ich weiß nicht, was stärker ist, seine Treue zu uns, oder die Liebe zu seiner Tochter.« Er ließ diese Möglichkeit ein par Schritte weit wirken, bevor er weiter sprach:
»Wenn Tomrack wiederum die Seiten wechselt, was ich jedoch nicht glaube, dann kann er uns gefährlich werden. Er könnte unsere Absichten verraten, und unsere ganzen Pläne zunichte machen.«
»Und wenn ihr rasch einen Boten zu König Bental entsendet, Ba - shtie, um eure Zweifel kund zu tun?« schlug Antarona unsicher vor. Basti schüttelte nachdenklich den Kopf.
»Nein, wenn überhaupt, dann nicht zu Bental. Der hat zu oft fehl geurteilt. Es müsste jemand sein, dem ich ebenso vertraue, der aber...« Er sprach in Gedanken, und seine Gefährtin sah ihn forschend an. Dann fiel ihm jemand ein, der Tomrack und Eisilia im Auge behalten konnte, ohne einen großen Staatsakt daraus zu machen, der Tomrack möglicherweise erst dazu verleitete, erneut die Seiten zu wechseln.
»Genrath« sagte Basti plötzlich, »ich müsste einen Boten zu Genrath senden. Der ist mir treu ergeben, auf ihn kann ich mich verlassen. Er war schon in der ersten Schlacht dabei, trug das Heerschild des Areos.« Er sah Antarona an, und wiederholte, als hätte sie seine offenbarten Gedanken nicht mitbekommen:
»Der Wachführer der Burg, erinnerst du dich? Genrath, der uns schon einmal geholfen hat. Er würde selbst gegen Bental handeln, wenn ich es von ihm fordern würde. Er ist der Richtige. Ihm werde ich eine Nachricht senden!«
»Und wen wollt ihr zu ihm schicken?« wollte sie wissen. Basti blieb stehen und sah sich verloren um, als würde er auf diese Weise einen geeigneten Boten finden.
»Ich weiß nicht. Wen würdest du auswählen? Wem können wir so bedingungslos vertrauen, und wer hat die Stärke, sicher nach Falméra zu gelangen?« Doch bereits als er Antarona die Gegenfrage stellte, wusste er, wen er mit der Botschaft beauftragen würde. Die Sache musste bis zum nächsten Morgen warten. Auf dem Versammlungsplatz des Dorfes wollte er die Boten beauftragen.
Da Basti nicht antwortete, äußerte sich Antarona von sich aus zu seinem Vorhaben, und er musste wieder einmal erkennen, dass ihre Sinne, ob absichtlich, oder nicht, in seinen Geist eingedrungen waren.
»Es ist eine gute Entscheidung, Ba - shtie, jene mit der Botschaft nach Falméra zu senden, welche zu klein sind, um sich auf den Kampf in den Tälern vorzubereiten. Es ist gut, wenn sie nicht glauben, dass sie mit zum Land am ewigen Eis gehen werden. Sie werden zu ihren Familien zurückkehren, in welchen sie geborgen sind.«
Basti war von ihrer Gabe immer wieder aufs neue überrascht. Wenn es ihm gelingen könnte, ebenfalls diese Fähigkeit zu entwickeln, wäre es ihnen möglich, miteinander zu kommunizieren, ohne dass weitere Personen in ihrer direkten Nähe dies mitbekämen. Konnte er sich solche Fähigkeiten mit Hilfe Antaronas antrainieren, ebenso wie die Gabe, die Tiere zu verstehen?
»Ja, Ba - shtie, ihr könnt es lernen. Sonnenherz weiß, dass ihr es könnt. Sonnenherz wird euch dabei helfen, wenn die Zentaren dafür gekommen sind.«
Basti blickte seine Frau an, lächelte, sagte aber nichts. Es gab nichts zu sagen, das sie nicht schon wusste. Es war seltsam, und verunsicherte ihn zuweilen. Es gab Zeiten und Situationen, da las sie all seine Gedanken. Dann wieder musste er ihr alles erklären, da sie offenbar keinen Zugang zu ihm fand. Wovon der jeweilige Zustand abhing, blieb ihm jedoch verborgen, wie ihm auch im Verborgenen blieb, wann Antarona Tekla und Tonka als ihre erweiterten Augen einzusetzen vermochte, und wann nicht. Möglicherweise war es von ihren Gefühlssituationen, oder ihrer Konzentration abhängig. Vielleicht aber stand sie selbst noch in dem Lernprozess, diese Fähigkeiten zu steuern.
Sie hatten ihre Hütte erreicht, und standen unschlüssig davor. Die Mittagshitze lastete auf dem Land, und es gab nichts weiter zu tun, als sich auf die Rückkehr nach Falméra vorzubereiten. Aber es gab nichts, das sie tun konnten, denn was sie besaßen, war in ein par Minuten zusammengetragen.
»Wir könnten jagen gehen«, schlug Sebastian vor, »etwas Proviant auf dem Weg kann ja nicht schaden, oder?« Antaronas Blick antwortete mit leichtem Unverständnis, und sie entgegnete:
»Ba - shtie, es ist zu früh für die Jagd. Jedes Wild hält sich vor der Last der Hitze verborgen. Und das erhitzte Fleisch schmeckt nicht. Besser ist zu jagen, wenn der Tageslauf sich dem Ende neigt, und das Wild die Weiden ohne Bäume aufsucht. Sonnenherz und Ba - shtie haben dann freie Zentaren für einen unfehlbaren Schuss. Aber noch besser ist es, in der Frühe des Sonnenlaufs zu jagen, wo die weichen Blätter die Schritte verschlingen und die Bewegungen leise sind.«
Er wusste, was Antarona meinte. Am frühen Morgen lag Tau auf dem Boden, der die herabgefallenen Blätter und Zweige durchweichte. Ihre Füße würden in diesen Stunden so gut wie keine Geräusche verursachen, die das Wild verschreckte. Auch war es zu dieser Tageszeit oft windstill. So konnten sie sich ihrer Beute nähern, ohne auf die Windrichtung zu achten, und ohne gewittert zu werden.
Basti wurde ungeduldig. In der sengenden Sonne vor der Hütte zu stehen, war auch keine Option. Antarona war strukturierter, war hineingegangen, und er hörte sie drinnen rumoren. Ein Schwall muffiger Hitze kam aus der Tür, und verhinderte, dass er ihr folgte. Sie kam mit zwei Fellen und einigen Bändern aus Pflanzenfasern wieder heraus.
»Sonnenherz und Glanzauge gehen zu der alten Fischer- Jaen-tè«, entschied sie kurzerhand. »Vielleicht war die Gorreiterin noch einmal auf der hohen Weide über dem Strand, und hat Spuren hinterlassen. So weiß Sonnenherz, ob sie die fremde Frau noch beachten muss, oder nicht.« Basti pflichtete ihr nickend bei und deutete auf die Felle.
»Du willst dort über Nacht bleiben?« Das Krähenmädchen lächelte ihn süß und verführerisch an, und sagte leise, fast geheimnisvoll:
»Dort ist es nicht so heiß, Ba - shtie, und kein Menschenwesen stört die Ruhe. Außerdem lässt sich auf dem Rückweg am frühen Sonnenlauf vorzüglich jagen.« Er grinste sie erwartungsvoll an.
Basti wusste, dass sie nicht nur wegen des Gors und des Jagens zum Meer aufbrachen. Sie hatten dort auch eine ungestörte zeit für ihre Zweisamkeit, wenn auch nur eine kurze. Doch sie würden ein par Stunden unterwegs sein, sich bei drückender Hitze durch den Wald am Fluss schlagen müssen, es sei denn...
Wie er richtig vermutete, hatte Antarona einen anderen Weg im Sinn. Sie trugen beide nur ihren Ra-li und sie hatte sich auch nicht die Mühe gemacht, irgend ein Oberteil anzuziehen. Lediglich die Felle, die sie sich überwerfen konnten, boten Schutz vor der Kälte der Nacht. Zielstrebig ging Antarona zum Fluss hinunter, und folgte dem Ufer dorthin, wo der Wald das Wasser säumte.
Sie begann zwei ausgetrocknete Baumstämme aneinander zu binden, und Basti half ihr dabei, indem er die beiden Hölzer zusammendrückte. So entstand ein sehr schmales Floß, auf dem sie nun die Felle und ihre Waffen festband. Nur die Messer behielten sie in den Bundschnüren ihrer Ra-lis.
Vorsichtig schob sie das Floß in die Strömung, und hängten sich links und recht daran, um die Balance zu halten. Doch die Hölzer, die ihre Sachen trugen, lagen stabil im Wasser. Rasch erfasste sie der Zug des Stroms, und sie ließen sich vom Fluss zum Meer treiben. Das Wasser war im Gegensatz zur flimmernden Luft der Mittagshitze angenehm kühl.
Der Wald an beiden Ufern strich schnell an ihnen vorbei. Auch wenn es mittlerweile nicht mehr geregnet hatte, und der Fluss scheinbar nur träge dahin zog, so waren sie doch wesentlich schneller, als zu Fuß durch das Dickicht. Der Strom wurde bald breiter und flacher. Immer öfter mussten sie die Füße über dem Grund anheben, um ihr Fortkommen nicht zu bremsen. Auch der Wald an den Ufern wurde zusehens lichter. Das alles war ihnen nicht aufgefallen, als sie sich das erste Mal im Spiel hatten zum Meer treiben lassen.
Bald gelangten sie an die Stelle, wo der Fluss sich auffaserte in viele flache Rinnen, die von steinigen Inseln durchsetzt waren. Das Floß strandete, und sie mussten ihre Waffen und die Felle wieder tragen. Sie ließen die Stämme wo sie auf Grund gelaufen waren, und gingen zu Fuß weiter. Antarona ging vor, und Bastis Blick blieb auf ihrem nassen Ra-li haften, dessen dünnes Leder wie eine Haut auf ihren Rundungen haftete, und sich bei jedem ihrer Schritte um ihre schlanken Oberschenkel schmiegte. In Erwartung ihrer ungestörten Zweisamkeit keimten verlockende Phantasien und Gelüste in ihm auf.
Da kam die Jaen-tè in Sicht. Sie wateten durch die Priele zum Ufer, und folgten dem steinigen Strand bis zur Mündung ins Meer. Zuletzt stiegen sie den Pfad zur Hütte hinauf. Schon wurde die Luft frischer, und ein angenehmer, leichter Wind war auf der Haut zu spüren. Kleine Wölkchen zogen am Himmel über der See dahin, die sich in kleinen, ruhigen wellen am Strand brach.
Die Zeichen, die sie sich beim Verlassen der Fischerhütte gemacht hatten, waren unverändert. Es war also nach ihnen niemand da gewesen. Antarona warf die Felle auf die Bettstatt, und sie verstauten ihre Waffen unter dem schäbigen Kamin, wie sie es von ihrer Hütte in Mehi-o-ratea gewohnt waren. Von ihren Lasten befreit traten sie auf die winzige Veranda.
Antarona atmete tief durch und streckte ihre Arme wie ihren ganzen Körper in die Höhe. Dabei rutschte ihr Ra-li etwas tiefer, und Bastis Phantasien überschlugen sich. Ob das Krähenmädchen dies spürte, oder ob ihre Sinne einmal mehr seine Gedanken lesen konnten, vermochte er nicht zu sagen, doch in diesem Moment griffen ihre Finger in das Band ihres Ra-li und zogen ihn langsam und aufreizend, mit vor und zurück gleitenden Bewegungen, wieder über ihre Taille. Dabei positionierte sie das winzige Lederdreieck so hoch, dass sie ihre Oberschenkel nebst Poansatz freizügig offenbarte.
Sebastian benebelte der aufreizende Anblick die Sinne, und er fragte sich, ob dies als offene Einladung zu verstehen war. Wie durch eine telepathische Zustimmung geleitet, nahm Antarona nun seine Hand, ging mit wiegenden Schritten erst die Stufen, dann den Pfad zum Strand hinunter, und zog ihn sanft mit sich. Sie gebrauchte keine Worte, sondern lächelte ihn einmal kurz an, als wollte sie sich vergewissern, dass er ihrem Ansinnen folgte. Sebastian Lauknitz brauchte keine Aufforderung. Seine Augen hafteten sehnsüchtig an den Reizen seiner verführerischen Gefährtin.
Hand in Hand, romantischer hätte er es in keinem Buch lesen können, gingen sie zum Strand hinunter, und ihre nackten Füße schrieben eine gleichmäßige Doppelspur in den fast ebenmäßig getrockneten Sand, die sich bis zum Wasser hinab zog. Sie warfen sich den sanften Wellen entgegen, und tollten so lange im Wasser herum, bis die ärgste Mittagshitze vorüber war.
Auch hier spielten sie wieder mit Begeisterung das Pfeile- Spiel, und das Meer gab ihnen dazu wesentlich mehr Raum und Möglichkeiten. Sie konnten sich hinter anrollenden Wellen verbergen, oder sich in alle Richtungen treiben lassen, ohne von einer allzu großen Strömung abgetrieben zu werden.
Jedes Mal, wenn sie sich zufällig berührten, oder absichtlich überraschend umklammerten, um einen Angriff aus nächster Nähe zu spielen, war Sebastian versucht, seine Geliebte festzuhalten, und ihr näher zu kommen. Doch Antarona hatte nur das ausgelassene Spiel im Sinn, gleich einer unbewussten Trotzreaktion gegen die nahende Tatsache, dass sie sich für unbestimmte Zeit trennen mussten.
Dennoch provozierte sie ihn ständig, indem sie ihn hinterrücks anfiel, sich an ihn klammerte, sich wieder im trüben Wasser entfernte, verschwand, um an anderer Stelle unter ihm hindurch zu tauchen, und ihn von unten zu attackieren. Die Berührungen und Rangeleien in der Brandung wurden länger und intensiver. Antarona wollte Ba - shtie erleben.
Bald brachte sie ihn so weit, dass er ihren versteckten Aufforderungen nicht mehr wiederstehen konnte. Doch jedes Mal, wenn er sie mit seinen Händen zu fassen kriegte, und sie mit seinen Armen umschloss, entwand sie sich aus seinem Griff, und verhöhnte ihn mit stillen Gesten, die unter Wasser noch aufreizender wirkten.
Als sie selbst des Katz und Maus Spiels überdrüssig wurde, ließ sie sich von der nächsten Welle an Land spülen, und rannte zur Hütte hinauf. Sie wollte sich und ihm etwas Besonderes bieten, etwas Neues, ein noch phantasievolleres Spiel, dass er nicht vergessen sollte. Ihr ungezügeltes Temperament forderte mehr, als nur die regelmäßige, körperliche Zweisamkeit. Sie wollte Abenteuer, wollte feststellen, wie weit Ba - shtie zu gehen bereit war, wenn sie ihn mit seinen Sehnsüchten lockte.
Nachdem Sebastian noch eine Weile unter Wasser hin und her geschwommen war, gab er auf. Ihre provokanten Attacken blieben aus, und er konnte sie im trüben Wasser der anlandenden Brandung nicht mehr wiederfinden. Allmählich breitete sich die Angst in ihm aus, ihr konnte irgend etwas Bedrohliches wiederfahren sein. Sofort tauchte er auf, und blickte sich um. Von Antarona kein Zeichen.
Doch dann bemerkte er die feine Spur im Sand, die neben ihrer gemeinsamen Fährte vom Strand zur Jaen-tè hinauf führte. Hatte ihn das kleine Biest wieder einmal überlistet! Sie hatte ihn einfach weiter im Wasser herumpaddeln lassen, und war in die warme Hütte geflüchtet. Leichter Rauch kräuselte sich über dem halb zerfallenen Schornstein. Aha, sie hatte sich den Kamin angezündet, hatte es sich schön warm gemacht, und genoss wahrscheinlich den mitgebrachten Proviant.
Basti stolperte aus dem Wasser, und wäre beinahe in den vom Wind festgeblasenen Sand gefallen. Die lange Zeit in der halben Schwerelosigkeit des Wassers, ließ ihn seinen Körper unnatürlich schwer und ungelenk wirken. Enttäuscht darüber, dass sie ihn erst mit ihren Reizen angeheizt, und dann einfach mit seinen Erwartungen allein gelassen hatte, ließ eine leise Wut in ihm aufkeimen. Noch etwas taumelnd, aber mit der Kraft des heimlichen Grolls gegen ihre Ignoranz, stapfte er ihrer Spur nach.
Die kleine Treppe zur Veranda, die man kaum so nennen konnte, nahm er in einem Satz. Nicht gerade sanft stieß er die Tür auf, und starrte in den dunklen Raum der Hütte, der nur spärlich vom Flackerschein des Feuers erhellt wurde. Seine Augen, in die immer wieder das Salzwasser aus seinen Haaren tropften, gewöhnten sich nur langsam an das diffuse Licht. Doch das Bild dass sich ihm immer deutlicher bot, ließ ihn zunächst unschlüssig im Türrahmen verweilen.
Ziemlich rasch verrauchte sein angestauter Zorn, verwandelte sich in anregende Phantasien, und ließ ihn schließlich in die Hütte treten, als tastete er sich vorsichtig in einen sakralen Raum hinein. Fasziniert und gleichzeitig irritiert fixierten seine Augen das Unerwartete. Die Tür schloss er nur noch mechanisch, und schob den Riegel vor, ohne sich umzudrehen. Das Krähenmädchen und Areos von Falméra entzogen sich der Welt innerhalb der groben Baumstämme, die sich in den Wänden der alten Jaen-tè zusammenfügten.

Als die Dämmerung heraufzog, glitt Basti unter der Wärme der Felle hervor, deckte seine Liebste noch einmal zu, und suchte in der dunklen Hütte seinen Ra-li. Dann schob er vorsichtig den Riegel der Tür zurück, und schlich nach draußen. Auf der schmalen Veranda blieb er stehen.
Die Luft war fast klar, nur ein ganz leichter Dunst lag über dem Strand. Ruhig lag das Meer vor ihm, wie eine graue Glasplatte, und ein par kleine, nicht sehr dichte Nebelbänke zogen von den Felsen bei der Grotte zur Mündung des Flusses hin, und darüber hinaus. Ein eigentümlicher Glanz lag über allem, etwas Warmes und Beschützendes.
Sebastian sog die Luft ein, und meinte, so etwas wie den Geruch von Lagerfeuer, warmen Rindenmulch, und dem Duft von schwerem, fruchtbaren Waldboden wahrzunehmen. Tatsächlich hatte sich die Luft in der Nacht kaum abgekühlt. Der warme Meeresstrom von Süden heizte den kühlen Zug von den Gletschern des Festlands auf. Die Feuchtigkeit entlockte dem Land alle Ausdünstungen von Boden und Pflanzen, vermischte sie zu einer wohligen Komposition, die scheinbar gebunden im Nebel bis in jeden Winkel der Insel getragen wurde.
Es war auch ein Aroma der Beständigkeit, des immerwährenden Sommers auf Falméra, der eisige Kälte nicht zu fürchten brauchte. Die schweren Düfte erregten Sebastian, und er musste sehnsüchtig an den vergangenen Abend denken. Beinahe hatte es den Anschein, dass die Welt den Atem angehalten, und die schwüle Stimmung über Nacht konserviert hatte.
Eine ganz bestimmte Sehnsucht breitete sich in ihm aus. Jene die nach Bodenständigkeit, Sesshaftigkeit, und nach einem Zuhause verlangte. Diese morgendliche Stimmung gab für einen Moment die Geborgenheit wieder, die er als kleiner Junge im elterlichen Garten erlebte, der das Eigenheim umschloss, das seine Eltern errichtet hatten. Ein typischer Nachkriegs- Siedlungsbau in einer kleinen, friedlichen Siedlung. Dort, zwischen den Gemüsebeeten der Großeltern, zwischen Hühnern und Kaninchen, im Nichtstun der Sommerschulferien, dort hatte er dieses Gefühl zum ersten Mal kennengelernt. Nun war es wieder da. In einer völlig anderen, neuen Welt. Er war endlich angekommen.
Dieses uralte Gefühl erzählte ihm etwas. Sebastian wollte sie wiederhaben, diese sorglosen, unbeschwerten Sommer seiner Kindheit. Die Sicherheit, die seine Eltern ihm und seinen Geschwistern geschaffen hatten, wollte er nun auch für sich, für Antarona, und seine Tochter, die irgendwann das Licht dieser Welt erblicken würde.
Der Gedanke, dass es bis dorthin noch ein weiter, langer Weg war, machte ihn innerlich müde. Es gab so viele Plätze in dieser neuen Welt, an denen er ein sicheres Zuhause aufbauen konnte. Doch es waren immer wieder Torbuk, Karek und das unselige Quaronas, das diese Absicht verhinderte. Seufzend blickte er sich um.
Dort, wo der Sand des Strandes an den Waldrand grenzte, hatten kleine, Gewächse mit großen, tiefgrünen, wie lackiert wirkenden Blättern, leuchtend rosarote Blüten getrieben. Wie Rosenkelche wuchsen sie aus den Blattkränzen heraus, bildeten in der Blütenmitte einen leuchtend gelben Stempel, und verströmten einen Duft, süßlich und schwer, der das Gefühl der Sehnsucht in ihm noch verstärkte.
Dicht an dicht durchbrachen diese roten Tupfer die grüne Mauer des Waldes, der sich dunkel, beinahe drohend darüber erhob. Allein diese Blüten nahmen dem Wald seine eintönige Depression, die sich durch die Nebel und das schwüle Wetter noch konzentrierte. Ein Gürtel von angespülten, Faust großen Steinen, ebenmäßig rund geschliffen, säumten das Grün wie eine künstlich angelegte Rabatte. Auch das vermittelte Bastis Seele etwas von behütender Ordnung.
Sein Verstand zerstörte die Idylle wieder. Er zog ihn zurück in die wahre Realität, die daraus bestand, dass sie in ein, oder zwei Stunden aufbrechen würden, um diesen Ort des scheinbar endlosen Friedens wieder zu verlassen. Und dieser Aufbruch war der Beginn des langen, weiten Weges. In diesem Augenblick empfand Sebastian sein Gefühl, wie eine Vorschau auf das, was sie nach dem Kampf gegen die Aggressoren ernten konnten, wenn sie den Krieg überleben würden. Ein Blick durch ein Zeitfenster auf das, was danach kommen würde, auf das, was sie für ihre Tochter, und die nachkommenden Generationen von Îval erreichen konnten, wenn sie jetzt Stärke, Mut, und Wachsamkeit bewiesen.
Diesen Augenblick des Friedens aber, der Ruhe, und warmen Gerüche, wollte Basti genießen. Eine halbe Stunde nur, vielleicht auch zwei, so lange, bis Antarona zum Aufbruch drängte. Er stieg andächtig die drei Stufen von der Veranda herunter, spürte den feuchten, warmen Sand unter seinen Füßen, und schritt zum Meer hinunter. Das dünne Leder des Ra-li, das seine Schenkel berührte, und das er sonst als störend empfand, fühlte sich nun an, wie ein zugehöriges Stück seiner Illusion von Zufriedenheit, Geborgenheit und Glück.
Plötzlich fühlte er sich stark, ja fast unbesiegbar, wie auf der sicheren Seite des Lebens. Ja er meinte, sein Schicksal zu kennen, zu wissen, dass sein Traum von der absoluten Harmonie des Lebens tatsächlich einmal wahr werden würde. Ohne sein ruhiges Tempo zu ändern, ohne den Ra-li abzulegen, schritt er ins warme Meer, das ihn mit kaum wahrnehmbaren, wogenden Bewegungen umspülte. Als er das Wasser an seinem Gesäß spürte, breitete er die Arme aus, und ließ sich vornüber fallen.
Das Wasser schlug über ihm zusammen, und er fühlte sich wie in ein neues Leben hineingeboren. Als hätte er auf einem Mal das Paradies entdeckt. Entspannt genoss er das ruhige Schwimmen, ließ sich auf dem Rücken treiben, blickte zu den Wolken auf, die als Schleier des Nebel über ihn hinwegzogen, und streckte seinen Körper in der teilweisen Schwerelosigkeit.
So vergaß er die Zeit, bis er Antarona von der Jaen-tè herunterkommen sah. Sofort konzentrierten sich seine Sinne wieder auf sie. Das Krähenmädchen hatte sich nur den Ra-li umgehängt, in dessen Saumband ihr Dolch steckte. Mit dem würdigen, ruhigen Schritt einer wahren Prinzessin legten ihre nackten Füße eine Spur neben die Bastis.
»Na, hat dich Talris endlich geweckt?« empfing er sie mit spöttischem Unterton. Denn im Allgemeinen war sie es, die zuerst ihre Beine aus dem Lager schwang. Ihre Antwort kam unerwartet.
Blitzschnell ging sie in die Knie, ihre kleinen Hände griffen in den Sand, und ehe sich Sebastian versah, schleuderte sie den Inhalt in kurzer Folge auf ihn. Die gedachten Pfeile trafen seinen gesamten Oberkörper, denn er war auf so eine Attacke nicht vorbereitet gewesen.
»Au, du kleine hinterlistige Kröte, das wirst du mir vergelten«, stieß er hervor. »Wenn du ein unfaires Spiel haben willst, dann sollst du es bekommen!« Antarona machte ein belustigtes Gesicht, als sie antwortete:
»Wenn ihr eure Sinne in den Himmel fliegen lasst, Ba - shtie, so dürft ihr euch nicht wundern, wenn euch die Pfeile der Feinde aus dem Hinterhalt treffen.« Etwas ernster fügte sie noch hinzu:
»Es ist nicht klug, in unsicheren Zentaren allein und ohne Wachsamkeit im Wasser der Mutter der Nacht zu folgen. Wie leicht hätte die Gorreiterin euch ausmachen können. Sie hätte im offenen Wasser ein leichtes Spiel mit euch gehabt.« Basti spritzte mit den Händen in ihre Richtung, und forderte sie heraus, obwohl er von seinem Fehler eigentlich nur ablenken wollte.
»Was ist, willst du nur reden, und mir Vorwürfe machen, oder stellst du dich einem offenen und ehrlichen Kampf?«
Antarona nahm einen kurzen Anlauf, dann schoss sie wie ein Fisch durchs Wasser. Nun, das war ihre Antwort, typisch für sie in einer solchen Situation, kompromissloses Handeln, anstelle großer Vorträge. Auch das liebte er an ihr.
Kurz darauf war sie abgetaucht. Nicht nur an Land war sie unglaublich schnell. Sebastian vermutete, dass sie im Wasser noch viel wendiger und flinker war. Bislang hatte er sie nur mit seinem Einfallsreichtum besiegen können.
Sie schnellten durch die anrollenden Wellen, schossen wie aus dem Nichts nach oben, ließen sich wieder auf den Grund sinken, und versuchten sich gegenseitig zu überlisten. Mal war es Antarona, die ihn noch im Abtauchen mit einem Hagel Pfeile erwischte, mal gelang es ihm, sie beim Auftauchen mit einer Hand voll Steinchen zu überrumpeln. So ging das hin und her, bis es die Sonne geschafft hatte, sich durch den unnatürlich warmen Nebel zu kämpfen. Mit einem Mal wurde es so warm, dass man annehmen mochte, der Dunst entstand durch kochendes Meerwasser.
Die beiden von der Welt kurz vergessenen und verliebten stiegen schnaufend und herumalbernd aus dem Meer. Warme Luft umfächelte sie, die aber so feucht war, dass ihre Körper vor Nässe glänzten, anstatt zu trocknen. Das dünne Leder der Ra-lis klebte ihnen auf der Haut, und Basti konnte seinen Blick nicht mehr von Antaronas Reizen abwenden. Ihre Gemüter hatten sich im Spiel so aufgeheizt, dass sie beide noch nicht aufhören wollten.
Antarona, die erfahrene, und sonst so besonnene Kriegerin holte sich für eine Weile die Kindheit zurück. Ihr ungezügeltes Temperament, das oft im Verborgenen schlummerte, brach aus ihr hervor. Sie gebärdete sich wie wild, tollte herum, und reizte Basti mit kleinen Attacken und Bewegungen, die ihre Anmut und Weiblichkeit herausfordernd offenbarten. Er war sich sicher, dass sie ihn bewusst provozierte. Bekam dieses kleine Luder nie genug? Er schüttelte lachend den Kopf über seine heimliche Frage. Ihm gefiel es doch mehr als alles andere.
Beide zog es wie magisch zu den großen, runden Felsen hin, die jenseits der Flussmündung in der Morgensonne lagen. Zwischen diesen Haus großen Steinbrocken hatten sie sich schon einmal unbeobachtet ihrer Zweisamkeit hingegeben. Sie hatten beide das gleiche Ziel, und in ihnen loderte plötzlich wieder ein Verlangen auf, das unstillbar zu sein schien. Die nächsten Minuten, die zu Stunden wurden, vergaßen sie die Welt um sich herum.
Als sie die Welt um sich herum wieder bewusst wahrnahmen, nachdem sie lange Zeit dagelegen, und geträumt hatten, lösten sie sich voneinander, fielen voneinander ab, wie zwei zusammengefrorene Stücke Holz, die nun auftauten. Der Morgen war nun so weit fortgeschritten, dass an eine erfolgreiche Jagd nicht mehr zu denken war. Sie mussten sich sogar beeilen, um zum Dorf zurückzukehren, wollten sie noch einige der Jo-lie antreffen, die auf dem Thingplatz auf sie warteten.
Sie hängten sich wieder ihre Ra-lis um, zupften die abgetragenen Lederstücke zurecht, und holten ihre Waffen aus der Jaen-tè. Dann schlugen sie den kürzesten Weg zum Dorf ein, entlang des Flusses. Antarona fiel sogleich in einen lockeren Trab, nutzte jedes Stückchen Sandstrand aus, setzte ihre nackten Füße gezielt auf große Steine, Wurzeln, und freie Stellen im Gras. Sie vermied es, direkt in das hohe Gras zu treten, dessen Halme und schmale Blätter oft so scharf waren, wie ein gut geschliffenes Messer.
Sebastian hatte Mühe, ihr zu folgen. Dennoch konnte er voller Stolz behaupten, dass er gut mithielt. Noch vor zwei Jahren, als er einen Waldlauf im heimatlichen Mittelgebirge Harz versuchte, um seiner Fitness etwas Gutes zu tun, sah seine Fortbewegung noch anders aus. Das hatte mehr von dem Bild eines betrunkenen Robrum, der in Panik vor irgendetwas floh, und Eisenkugeln an den Füßen trug.
Inzwischen war Basti wesentlich leichtfüßiger und sicherer und schneller unterwegs. An die Wendigkeit und Trittsicherheit seiner geliebten Gefährtin reichte seine Gabe jedoch bei Weitem nicht heran. Deshalb war er bereits nach kurzer Zeit schweißnass, und hechelte, wie ein gehetzter Wolf, während Antarona völlig locker und tiefenentspannt vor ihm her sprang.
Zusätzlich behinderten ihn seine Waffen. Das kurze Schwert schlug ihm gegen die Rippen, der Bogen klatschte im regelmäßigen Takt schmerzhaft gegen seine Waden, und der Köcher mit den Pfeilen rutschte ihm ständig vor den Bauch, so dass er ihn mit einer Hand, die er eigentlich für das Gleichgewicht benötigte, immer wieder am Riemen nach hinten ziehen musste. Das Krähenmädchen schien diese Behinderungen nicht zu kennen, oder einfach zu ignorieren.
Irgendwie gelang es Basti nach einer Stunde Dauerlauf durch dornige Büsche und peitschende Zweige, atemlos neben einer ruhig und lässig wirkenden Sonnenherz auf der Veranda Temrins Anwesen über dem staubigen Dorfplatz zu stehen. Aber selbst an Antarona hatte ihr Lauf Spuren hinterlassen. Blutige Kratzer auf der Haut und an den Beinen, der Körper mit getrockneten Schlammspritzern übersät, so standen sie beide vor den Jo-lie, als hätten sie mal eben schnell noch einen Trupp der Wilden Horden zu den Dämonen gejagt.
Die Jo-lie hatten gewiss eine volle Zentare gewartet, und Frethnal verriet ihnen, dass die ersten der Freiwilligen sich bereits zum Sonnenaufgang eingefunden hatten. Das Volk von Mehi-o-ratea stand unter vollen Waffen in der morgendlichen Hitze und blickte zu ihnen auf, wie ein begeistertes Publikum zu einer zur Legende verklärten Rockband.
Basti musste nicht einmal um Ruhe bitten, denn alle schienen erwartungsvoll die Luft anzuhalten, damit ihnen ja kein Wort aus dem Munde ihres künftigen Königs entging. Sebastian begrüßte die freiwilligen Kriegerinnen und Krieger, hielt sich aber nicht lange mit Vorreden auf, denn alle wussten, worum es ging.
»Wir werden uns in Gruppen, je nach Waffenart aufteilen, und auf die große Wiese zum Sumpf hin gehen. Dort möchte ich sehen, wie ihr mit euren Waffen umzugehen versteht. Aber wir brauchen auch andere Fähigkeiten. wer also nicht mit einer Waffe umzugehen versteht, stellt sich in eine gesonderte Gruppe. Auch für euch wird es eine verantwortungsvolle Aufgabe geben, die entscheidend und wichtig ist. Wer von euch mit mehr als einer Waffe umgehen kann, wählt die Gruppe mit den Waffen, die er am besten beherrscht. Lasst uns hinaus gehen, damit wir sehen mögen, wie gut ihr seid!«
Zunächst rührte sich niemand. Doch als Basti, Antarona, Frethnal und Vesgarina mit den beiden Windreitern und ihren Gefährtinnen von der Veranda herabstiegen, sich einen Weg durch die Menge bahnten und die Richtung nach den Pla-ka- Pferchen einschlug, folgten ihnen die Jo-lie ohne zu zögern nach.
In einer langen Kolonne zogen sie zu den Pla-ka- Weiden hinaus, dorthin, wo Vesgarina und Antarona vor ein par Tagen von den Verrätern um Eisilia und Medunzia angegriffen wurden. Dort war genügend Platz, auch mit den Distanzwaffen zu üben.
Auf der großen Weide angekommen, verteilten sich die Gruppen so weit voneinander, dass eine Gefahr durch einen verirrten Pfeil, oder Speer ausgeschlossen war. Die Gelände, einschließlich des halb umschließenden Waldrands, welche die Weiden umgaben, waren unübersichtlich. So konnten die Angreifer Vesgarina und Antarona zunächst ungesehen einkreisen, bevor sie die beiden attackierten.
Basti hatte diesen Umstand noch in Erinnerung und sendete die waffenlosen Jo-lie an den Waldrand, sowie an die Wegbiegungen, um Wache zu halten. Es musste ja nicht unbedingt sein, dass ihre Gegner ein genaues Bild der Kampferfahrung seiner kleinen Armee bekam. Heimliche Beobachter vermochten sich leicht im Unterholz des Waldes verbergen, und sie ausspionieren.
Ohne große Aufforderung begannen die Gruppen mit Kampfübungen, wobei sich die Jo-lie zum ersten Mal untereinander in der Kampftechnik austauschten. Jeder einzelne kannte Tricks und Kniffe, die er an die oder den Nächsten weiter gab. Eines aber fiel Sebastian sofort auf. Die Bewegungen der Jo-lie, ihre Schnelligkeit und Wendigkeit fußte zum großen Teil bereits auf den physischen Abläufen des neuen Elsirentanzes. Das junge Volk von Mehi-o-ratea hatte ohne es zu ahnen, bereits seit einigen Zentaren trainiert.
Während Antarona zu den Schwertkämpfern hinüber ging, wandte Basti sich denen zu, die mit Bogen und Pfeilen ausgerüstet waren. Die meisten von ihnen waren Kriegerinnen. Er hob das Stück einer verschlungenen, halb vertrockneten Baumwurzel auf, und ließ es in einiger Entfernung wieder ins Gras plumpsen.
»Ich möchte, dass mir einer nach dem anderen zeigt, wie zielsicher und schnell ihr vermögt, dieses Stück Holz zu treffen«, sagte er, als er die Gruppe erreichte, deren Augen ihn erstaunt beobachtet hatten.
»Stellt euch bitte vorher in einer Reihe auf, damit ich sehen kann, vor wem sich Torbuks Wilde Horden künftig in Acht nehmen sollten.« Seine Wortwahl kam bei den Jo-lie gut an. Sie fühlten sich bereits vom ersten Augenblick an als Kriegerinnen und Krieger akzeptiert.
Sebastian schritt die Front von etwa vierzig Bogenschützinnen und zwanzig Bogenschützen ab. Die Mädchen und jungen Frauen waren mit den traditionellen Ra-lis in allen nur erdenklichen Formen und aus allen möglichen Materialien bekleidet. Viele trugen kein Oberteil, und Sebastian, der in einer weniger freizügigen Welt aufgewachsen war, musste sich zusammennehmen, um sie alle gleichsam mit dem unpersönlichen und nüchternen Auge zu betrachten.
Die jungen Kriegerinnen machten es ihm nicht leicht. Mit vor Stolz gewölbter Brust standen sie da, ungeniert, und die eine oder andere wäre wohl nur allzu schnell bereit gewesen, sich auf mehr Zuneigung einzulassen, hätte er nur gewollt. Die jungen Männer hingegen präsentierten sich mit einem Gehabe, dass eindeutig darauf schließen ließ, dass sie sehr wohl ein emotionaleres Interesse an ihren Mitstreiterinnen hatten. Ihr Tatendrang war kaum zu bändigen, und sie machten sich kaum die Mühe, das zu verbergen.
Sofort fiel Basti auf, dass die Schützinnen, ob Îval oder Oranuti, allesamt schlanke, durchtrainierte Körper besaßen, von graziler, ja nahezu zierlicher Gestalt waren, und einen aufgeweckten, klugen Eindruck machten. nur ein Mädchen war unter ihnen, die ihm etwas plump vorkam, dafür aber so kräftig, dass sie sich gewiss ohne Mühe aus dem Griff eines von Torbuks Kriegern hätte befreien können.
Amazonen. Seine kleine Armee stützte sich auf eine reizvoll, aber völlig verwildert aussehende Horde von Frauen. Er hatte sich nicht vorstellen können, jemals eine Amazonenarmee zu befehligen, so abenteuerlich sich seine Reise in diese andere Welt auch gestalten mochte.
Die Waffen aller Kriegerinnen und Krieger schienen von ihnen selbst gefertigt. Sie zeigten unterschiedlichste Bauweisen und Größen. Es gab kurze, gedrungene Bogen, lange, schlanke, und zerbrechlich wirkende, sowie einige, die aussahen, als müssten sie beim ersten Versuch sie zu spannen, unweigerlich zerbrechen. Auch die Pfeile konnten individueller nicht sein. Einige waren Finger dick, andere dünn wie Bleistifte, manche schlicht, manche verziert, mit Spitzen aus Stein und Metall, einige abenteuerlich sogar aus Knochen.
Vor einem kleinen, sehr kindlich wirkenden, blonden Mädchen blieb Sebastian stehen. Von seinem Verständnis her mochte sie gerade mal fünf, oder sechs Jahre alt sein. Die Natur hatte ihr noch keine weiblichen Rundungen zugedacht, die ihr hätten die Reize einer Kriegerin verleihen können.
Die Kleine hielt einen Bogen in der Hand, der größer war, als sie selbst. Der Dolch, den sie sich in den Bund ihres Ra-li gesteckt hatte, wirkte an ihrem zierlichen Körper wie ein Schwert, und der Köcher mit den Pfeilen hing ihr in den Kniekehlen.
Eigentlich hätte Basti lauthals darüber lachen mögen, doch der Mut, mit dem dieses kleine Mädchen für ihre Heimat einstehen wollte, beeindruckte ihn. Dennoch konnte er es kaum verantworten, sie auf einen Kriegszug gegen Torbuks ausgewachsene, brutale Männer mitzunehmen. Er lächelte sie väterlich an, und sagte:
»Ich freue mich, dass ihr mit uns ziehen wollt, kleine Kriegerin, und ich werde euch nicht vergessen. Doch ich glaube es ist besser für euch, erst einmal zu euren Eltern zurückzukehren. In ein, oder zwei Jahren, mag ich euch wohl auswählen, mit den Jo-lie gegen Quaronas zu ziehen.«
Hätte Sebastian nur einen Moment das Blitzen in ihren Augen wahrgenommen, das er bereits von Antarona kannte, und das ihn gewiss vorgewarnt hätte. Statt dessen wollte er sich schon von der kleinen Jo-lie abwenden, die ihm eher wie eine Elsire erschien. Einmal mehr lernte er, dass diese Welt in Nichts mit jener zu vergleichen war, aus welcher er gekommen war.
Im Bruchteil einer Sekunde schwang das Mädchen seinen Bogen hoch. Gleichzeitig zog sie blitzschnell einen Pfeil aus ihrem Köcher, und ehe Sebastian reagieren konnte, surrte das Geschoss an seinem Ohr vorbei. Anerkennendes, erstauntes Raunen erhob sich aus der Gruppe der Bogenschützinnen.
Basti war erschrocken und überrascht, mit welcher Schnelligkeit und Wendigkeit dieses Kind mit dem Bogen umzugehen wusste, viel schneller, als er selbst. Beinahe hatte sie ihm die Ohrmuschel weggeschossen. Neugierig blickte er sich in Schussrichtung um. In einer ziemlichen Entfernung lag über einem Grasbuckel auf der Wiese ein großes Stück Wurzel, der Rest eines Baumes, der im Sumpf keinen Halt mehr gefunden hatte. Der Pfeil steckte in einem runden Loch des Wurzelholzes, wo einmal ein Ast herausgewachsen war. Voller Hochachtung zog er die Augenbrauen hoch.
»Donnerwetter! Das war ein Schuss!« kommentierte er die Präzisionsleistung. Er war sichtlich angetan von der Kunstfertigkeit diese Kindes, aber auch deutlich überrumpelt. Er beugte sich zu dem Mädchen auf Augenhöhe herab, und sagte mehr zum Scherz:
»Vollführt dieses Kunststück noch einmal, und ich versichere euch, ihr werdet meine persönliche Leibwache.« Noch ehe er den Satz ganz beendet hatte, lag ein neuer Pfeil an der Sehne ihres Bogens, und schnellte durch die Luft. Sie hatte einfach über sein Haupt hinweg geschossen, so schnell, dass er keine Gelegenheit hatte, den Kopf einzuziehen.
Auch dieser Pfeil steckte nun in dem kleinen Astloch. Sebastian war sichtlich beeindruckt. Dieses Kind besaß eindeutig Naturtalent. Basti erhob sich, und ging zu dem Wurzelholz hinüber. Er zupfte die Pfeile aus dem harten Material, und musste sich redlich bemühen, so fest steckten sie. Dann nahm er das Holzstück, trug es weitere zehn Meter von der Gruppe fort, und platzierte es auf einem kleinen Buckel.
Anschließend holte er seinen Beutel hervor, und fingerte ein silbernes Quartstück heraus, das in etwa dem Wert eines guten Schwertes entsprach. Er steckte einen Holzspan in einen dünnen Riss, und schob das Ringgeld darauf. Die Pfeile des Mädchens in der Hand kehrte er zu seiner Bogen- Gruppe zurück, gab ihr die Pfeile zurück, drehte sich um, und beschattete die Augen mit der Hand, um nach dem Quartstück zu sehen. Hoffnungslos schüttelte er den Kopf.
»Nein, das war wohl zu weit«, zweifelte er, »das trifft kein Menschenwesen. Ich werde es etwas näher holen.« Mit diesen Worten wollte er schon loslaufen, um das Holzstück näher heranzuholen. Doch das Mädchen hielt ihn am Arm fest. Sie blickte ihn mit ihren großen, unschuldigen Augen an, nahm einen ihrer Pfeile, spannte den Bogen, und begann ruhig zu zielen.
»Ihr habt etwas großartiges geleistet, kleine Kriegerin, ihr müsst nichts mehr beweisen«, sagte er, denn er wollte ihren erfolg nicht damit zunichte machen, dass er das Spiel einfach übertrieb. Das Mädchen ließ den Bogen sinken, und sah ihn an.
»Eure Leibwache, ja? Das sagtet ihr doch, Herr? Oder?« Sebastian war erstaunt, mit welcher Selbstsicherheit diese kleine Îval mit ihm sprach. Er antwortete:
»Ja, das sagte ich, aber ihr solltet euch diesen Pfeil sparen, der Quart...« Während er sprach schnellte der Bogen des Mädchens abrupt hoch, und der Pfeil schoss von der Sehne. Basti kniff die Augen zusammen, um zu sehen, wo das Geschoss gelandet war. Es schien, als hätte die Kleine das Holz getroffen, und ein lobendes Raunen ging durch die Gruppe.
Basti schritt die Distanz ab, und vermutete, dass keiner seiner eigenen Pfeile so weit fliegen würde. Als er das Holz erreichte, staunte er noch einmal. Der Pfeil hatte sich in den Ring des Quart gebohrt, und ihn gesprengt. Wie ein kleiner Armreif hing der Quart am Schaft des Pfeils. Er zog den Pfeil heraus, achtete aber darauf, dass der Ring auf dem Schaft blieb.
Die Trophäe der kleinen Kriegerin in der Hand schritt er zu ihr zurück, und fächelte sich mit der anderen Hand Luft ins Gesicht, um allen zu zeigen, wie beeindruckt er war. Vor der kleinen Bogenschützin blieb er stehen, hielt den Beweis ihres Könnens in die Luft, und sagte laut:
»Mitten durch!« Dann zog er den Quart vom Pfeil, und gab das Geschoss an seine Eigentümerin zurück. Isane prüfte den Pfeil und steckte ihn zufrieden in ihren Köcher zurück
»Wie ist euer Name, kleine Kriegerin?« fragte er, während er den zerstörten Quart in seinem Beutel verschwinden ließ, und einen neuen herausholte.
»Isane, Herr, mein Name ist Isane«, antwortete das Kind mit leichtem Stolz in der Stimme. Sebastian musterte die kleine Künstlerin, und sprach:
»Isane, soso. Isane und weiter? Wer sind eure Eltern, woher kommt ihr, Isane?« Sebastian war längst klar geworden, dass er dieses Mädchen, so jung und klein sie auch sein mochte, nicht mehr zurückweisen konnte. Isane hob gleichmütig die Schultern und antwortete:
»Wer meine Eltern sind weiß ich nicht, Herr. Ich habe sie nie gesehen. Ich komme aus Falméra.« Noch während sie sprach, trat ein anderes Mädchen aus der Reihe, etwa sechzehn Jahre alt, mit dunkelbraunen, langen Haaren, und einem durchtrainierten, von der Sonne Falméras gebräunten, kräftigen Körper.
»Ich bin Tiskaja, die Tochter einer Wäscherin und eines Fischers, Herr. Isane ist meine Schwester. Unser Vater brachte sie als Baby von einem Oranuti- Wasserwagen zu uns. Woher sie kam, wissen wir nicht, doch seither ist sie meine Schwester.« Basti zog anerkennend die Augenbrauen hoch.
»Nun, Isane, wie eine Oranuti siehst du mir nicht gerade aus. Du wirst neben deiner Schwester einen Platz als Kriegerin in unserer Gemeinschaft bekommen. Und ihr, Tiskaja, schießt ihr eure Pfeile ebenso sicher, wie eure Schwester?« wandte er sich dem größeren Mädchen zu, das einen Ra-li mit Fellbesatz und ein knappes Oberteil aus gewebtem Stoff trug.
Die junge Frau, deren Füße in zotteligen Fellmokassins steckten, und die ihre Haare, ähnlich wie Antarona, mit bunten Perlensträngen und Federn verziert hatte, legte einen Pfeil an die Sehne ihres Bogens, deutete mit der Geschossspitze erst auf den neuen Quart, den Basti in der Hand hielt, und dann auf das weit weg liegende Holzstück. Sie sagte nichts, machte nur diese eine Geste. Eine Îval redete nicht, sie handelte, dachte Basti für sich. Er reichte Isane das silberne Quartstück, die es erstaunt entgegennahm, und sagte:
»Das, meine junge Kriegerin, ist eine Anerkennung für euer großes Können. Kriegerinnen wie ihr, geschickt, klug, und bereit, für Falméra, für das Land der Îval zu kämpfen, brauche ich. Ihr seid die Hoffnung und die Zukunft Volossodas!« Anschließend holte er ein weiteres Quartstück aus seinem Beutel, hielt es hoch, damit alle es sehen konnten, und stapfte damit ein weiteres Mal zum Ziel.
Wieder steckte er es im Holz mit einem Span fest. Diesmal aber ersparte er sich den Rückweg, ging nur ein par Schritte zur Seite, zog sein Schwert und hielt es hoch. Dann ließ er die Klinge nach unten fallen. Tiskaja deutete sein Zeichen richtig, und augenblicklich sirrte ihr Pfeil heran. Mit einem dumpfen Klock bohrte sich die Metallspitze in das Holz. Den Ring hatte sie nur um einen Zentimeter verfehlt. Das mochte durchaus an einem leichten Windzug gelegen haben.
Basti zeigte auf die nächste Schützin in seiner Gruppe, und hob erneut die Schwertklinge. Er wartete, bis sich die Kriegerin bereit gemacht hatte, und ließ das Schwert sinken. mit singendem Geräusch flog ihr Pfeil heran und schlug in das Holz. Die Spitze steckte knapp eine Hand breit neben dem Quart. So ließ er alle Bogenschützen und -schützinnen ihre Fähigkeiten unter Beweis stellen.
Als alle in der Gruppe einen Schuss versucht hatten, sah das Holzstück gespickt aus, wie ein überdimensionaler Igel. Basti winkte seine talentierten Schützlinge zu sich heran. Alle hatten das Holz getroffen, und vielen war es gelungen, dem Quart gefährlich nahe zu kommen. Doch nur einer hatte es geschafft, seinen Pfeil durch den Ring zu schießen.
Die jungen Frauen und Männer umstanden ihn und das Wurzelholz, begutachteten ihre Leistungen und schnatterten dabei wie eine Schar Gänse, bis Sebastian die Hand hob. Er zog den Pfeil heraus, der den Quart getroffen hatte, und hielt ihn hoch.
»Wer hat den geschossen?« wollte er wissen. Da die meisten Jo-lie ihre Pfeile selbst fertigten, kannten sie diese unter Hunderte anderer heraus. Ein junger Mann, vielleicht siebzehn Jahre, trat aus der Gruppe. Er war schlank sehnig, ein wenig muskulös, wie eben ein junger Mann war, der sich alltäglich vor anderen beweisen wollte.
Er war mit einem selbst gefertigten Kriegsrock bekleidet, einer Imitation der Kriegsröcke der königlichen Heerlager. Er trug noch ein Messer und ein Schwert mit sehr breiter Klinge. Seine kräftigen Arme ragten aus den Seitenöffnungen einer knappen Fellweste heraus. Ein ehrlicher, fester Blick aus dunklen Augen begegnete Basti. irgendwo in der Ahnenreihe dieses Jungen mochte es eine, oder einen Oranuti gegeben haben.
»Nun, mit wem habe ich das Vergnügen«, fragte Basti, als der junge Mann schwieg. »Wollt ihr mir euren Namen nennen, und das Haus aus dem ihr seid?« Der Körper des Jungen straffte sich etwas, bevor er knapp und präzise antwortete:
»Rahan aus dem Hause Prehins, des Seilmachers, Herr. Meine Familie lebt in Falméra.« Anscheinend war sich Rahan nicht ganz schlüssig, wie er sich verhalten sollte. Gewöhnlich bedachten Heerführer, oder gar Mitglieder des Hofes seinen Stand nicht einmal mit einem Blick. Doch für Sebastian Lauknitz, Areos von Falméra, existierte der Unterschied der Stände nicht.
»Rahan von Prehin, wollt ihr so freundlich sein, diese hier, Isane aus Falméra, dorthin zu begleiten, von wo aus ihr geschossen habt.« Sebastian ließ sein Ansinnen bewusst eher wie einen Befehl klingen, als eine Frage. Während er die anderen Pfeile aus dem Holz zog, fuhr er fort:
»Ihr beide werdet abwechselnd je noch einen Pfeil auf den Quart hier abschießen, sobald ich das Zeichen gebe. Wer von euch auch dieses Mal nicht fehlt, soll ihn zum Lohn erhalten«. Rahan machte eine Handbewegung, um seiner kleinen Konkurrentin den Vortritt zu lassen.
Gemeinsam gingen sie dorthin zurück, wo die Gruppe vorher gestanden hatte. Nein, sie schritten nebeneinander her, wie zwei Geschwister, die sich ihrer Zugehörigkeit bewusst waren. Basti nickte zufrieden. Sie alle waren Brüder und Schwestern, so sollte es sein! Mit einer Armbewegung scheuchte er die übrigen Schützinnen und Schützen zur Seite.
»Nicht, dass euch noch ein Pfeil trifft, bevor wir noch die Wilden Horden Torbuks lehren, wie die Jo-lie zu kämpfen verstehen.« Wie die Jo-lie zu kämpfen verstanden, musste sich erst beweisen, doch Basti verstand es, die jungen Menschen mit seinen Worten zu begeistern. Mit lautstarker Zustimmung postierten sich die anderen in einem weiten Kreis außerhalb der Schusslinie.
Als Basti sicher war, dass sich niemand mehr im Gefahrenbereich aufhielt, zog er das Schwert, hielt es einen Moment in die Höhe, und ließ es schließlich sinken. Schon surrte der erste Pfeil heran, und schlug mit einem hohl klingenden Ton in das Holz, und nagelte das Stück Ringgeld regelrecht fest. Isane hatte geschossen, und den Quart in der Mitte getroffen.
Nun war Rahan an der Reihe. Er zielte wohl etwas zu lange. Sein Pfeil blieb drei Finger breit daneben im Holz stecken, dennoch eine großartige Leistung. Kaum, dass Rahans Pfeil ausfederte, sauste Isanes zweiter Pfeil heran. Er traf so dicht neben ihrem ersten, dass keines Haares Breite Platz zwischen ihnen war, und die Pfeile den silbernen Ring verformten und sprengten. Mit einem metallischen Klingen sprang der Quart davon. Laute, erstaunte Ausrufe der anderen Schützen quittierten die Treffsicherheit Isanes. Damit war ein Zufall ihrer Schießkunst ausgeschlossen. Das Mädchen konnte offenbar besser treffen, als Antarona.
Noch einen Quart musste Basti opfern, um ihn als Ziel zur Verfügung zu stellen. Dann gab er das Zeichen für den letzten Schuss. Rahan zielte nun mit Bedacht. Doch auch sein zweiter Pfeil bohrte sich vier bis fünf Zentimeter neben dem Quart ins Holz. Damit stand die Siegerin fest.
Das kleine Mädchen wurde von seinen Kameradinnen und Kameraden mit großem Applaus bedacht, als sie Seite an Seite mit Rahan zurückkam. Basti erwartete die beiden bereits mit den zerstörten und dem ganzen Quart. Kopfschüttelnd hielt er dem kleinen Mädchen die Trophäen ihrer Schießkunst hin.
»Nehmt dies, meine kleine Kriegerin, zum Zeichen meiner Wertschätzung. Wollten wir das Wettschießen weiter fortführen, so befürchte ich, würdet ihr mich in kurzer Zeit an den Bettelstab bringen.« Die Umstehenden lachten und kicherten, verstummten aber wieder als er weiter sprach:
»Darum lasst es uns gut sein. Ihr habt bewiesen, kleine Isane, dass ihr es versteht, euch eurer Haut zu erwehren. Seid mir also als meine Kriegerin und Leibwache willkommen. Euer Zelt und das eurer Schwester soll stets neben dem von Sonnenherz und mir stehen.« Dann wandte er sich dem anderen Schützen zu.
»Rahan von Prehin, den Quart habt ihr nur knapp verfehlt. Dennoch ist eure Hand so Zielsicher, dass ihr das Herz eures Gegners auf große Entfernung zu treffen wisst. Glaubt ihr, es würde euch gelingen, die Anderen zu trainieren? Ich brauche einen Kohortenführer, der diese Schützinnen und Schützen in eine Einheit bringt, der sie dazu ausbildet, im Einklang miteinander zu kämpfen. Ich will, dass alle zu gleicher Zentare auf verschiedene Gegner zielen, und sie gleichzeitig treffen können. Meint ihr, das bekommt ihr hin?«
Die Haltung des jungen Mannes straffte sich. Plötzlich war er in den Mittelpunkt der Gruppe gerückt, und von einer Zentare zur nächsten war ihm die Verantwortung für diese Bogenschützen zugedacht worden. Mit dem Stolz darüber ging aber auch eine anfängliche Unsicherheit einher. Sebastian bemerkte es, als Rahan antwortete:
»Herr, ich will es versuchen, ich will meine ganze Kraft für diese Aufgabe geben!« Sebastian trat ganz dicht an ihn heran, und er musste zugeben, dass er sich diese Taktik bei König Bental abgeguckt hatte. Er blickte Rahan scharf in die Augen und sagte leise, so dass nur er ihn verstehen konnte:
»Ich will nicht, dass ihr es versucht, Rahan von Prehin. Ich will, dass ihr es tut! Habt ihr verstanden?« Basti wartete nicht auf eine Antwort, sondern sprach weiter.
»Und eure ganze Kraft will ich nicht, denn damit kann ich nichts anfangen. Ich brauche euren Verstand! Benutzt euren Kopf. Überlegt gut, und handelt klug. Wenn ihr das beherzigt, und euch das zutraut, und mir das versichern mögt, so ist die Aufgabe als Kohortenführer die eure. Als lohn kann ich euch zunächst nur das bieten, was wir in den Tälern unter dem ewigen Eis von den Dörflern bekommen. Denn wir werden eine Befreiungsarmee sein. Doch wenn Torbuk und Karek einmal besiegt sind, sollt ihr jenen gleichen Lohn erhalten, wie die Kohortenführer der Heerlager des Königs.«
Der junge Bursche verbeugte sich vor seinem zukünftigen König Areos, doch nicht so tief, dass Basti den Eindruck erhalten musste, dieser ließ sich jeglichen Willen aufdrücken, und erwiderte:
»Herr, ich will euch mit List und Klugheit, mit Mut und Tatkraft dienen. Erfülle ich nicht eure Erwartungen, so will ich ohne ein Wort vor einem anderen zurücktreten.« Basti nickte gewichtig, und sagte:
»Das genügt mir, junger Herr Kohortenführer.« Und lauter fügte er hinzu, dass alle in der Gruppe es hören konnten:
»Ich übergebe euch die besten Bogenschützinnen und Bogenschützen, die ich in Falméra zu finden mochte. Macht aus ihnen allen ein Ganzes, das einheitlich zu handeln vermag. Und diese hier«, damit legte er Isane und Tiskaja die Hand auf die Schulter, und schob sie nach vorn, »nehmt ebenfalls in eure Obhut. Doch wo immer ich bin, wo immer mein Zelt steht, oder wo ich raste, wenn die beiden es wünschen, wird ihr Zelt neben dem meinen stehen.«
Zum Zeichen, dass er verstanden hatte, nickte Rahan übertrieben, dann wandte er sich an die Gruppe. Sebastian ging davon, um die nächste Gruppe aufzusuchen, die in einiger Entfernung untätig herumlungerte. Auf dem Weg fragte er sich, ob Rahan tatsächlich der geeignete Kandidat war, die Schützinnen und Schützen zu trainieren. Er war noch sehr jung, und musste erst lernen, mit seiner neuen Führungsrolle umzugehen. Basti nahm sich vor, ihn gut im Auge zu behalten.
Unterdessen war Antarona bei den Schwertkämpfern gewesen. Die meisten der Jo-lie, die ein Schwert, ob nun ein langes, schweres, oder kurzes zu führen verstanden, waren junge Burschen. Nur wenige Mädchen besaßen überhaupt die Kraft, eine schwere Klinge zu halten, geschweige denn, diese durch die Luft zu lenken.
Da Antaronas Kampfkunst weit über alle Grenzen hinaus bekannt war, und die Tatsache, dass Nantakis nicht gerade eine kleine Waffe zu nennen war, flößte jedem sofort Respekt ein. Niemand vermutete, dass Nantakis eines der berühmten Schwerter der Götter war. Die meisten Îval hielten die Mythen von den besonderen Waffen ohnehin nur für Gerüchte, die aus einer Mär geboren waren.
Antarona trug Nantakis in einem weichen Lederfutteral quer über den Rücken gehängt. Selbst bei den Jo-lie konnte sie nicht riskieren, das gut gehütete Geheimnis um ihre Waffe preiszugeben. Geübt wurde sowieso nur mit Holzschwertern. Obwohl die Jo-lie ausnahmslos ihre echten Waffen mitführten, hatten sich alle eine mehr oder weniger perfekte Attrappe aus Holz gefertigt.
Die Schwertkämpfer bildeten den größten Teil der Freiwilligen Mehi-o-rateas. Als Antarona zu ihnen trat, öffneten sie ihr eine Gasse in ihre Mitte, und umringten sie in einem lockeren Kreis. Das Krähenmädchen wusste, dass viele von ihnen bereits die neue Kampftechnik durch die Elsirentänze verinnerlicht hatten. Doch diese schnellen Drehungen, Wendungen und Bewegungen richtig einzusetzen, allein mit dem Ziel zu töten, war etwas anderes. Diese Notwendigkeit musste sie ihnen nun beibringen.
Jede Finte, jede Parade, jeder Schwung und jede Regung musste sie die Jo-lie üben lassen, bis diese ihnen in Fleisch und Blut übergegangen waren, und sie die Bewegungsabläufe beherrschten, selbst wenn man sie aus dem Schlaf riss. Erst dann konnten sie gegen die kampferprobten Krieger der Wilden Horden bestehen.
Die meisten Anwesenden hatten in der Geisterschlacht mitgekämpft, und erste Erfahrungen mit dem Töten gemacht. Doch es war leicht gewesen. Torbuks Männer waren gerannt, wie die verängstigten Wasel. Auf dem Festland war das anders. Dort kämpften sie gegen einen übermächtigen Feind auf dessen Territorium. Dort mussten sie weiterkämpfen, auch wenn sie nicht siegreich waren. Rückzugsmöglichkeiten gab es dort keine.
Die effiziente Kampftechnik mochte Antarona den Jo-lie wohl beibringen, doch mit dem Sterben mussten sie sich allein, jeder für sich, auseinandersetzen. Dem Tod als Unterlegene zu begegnen, diese Erfahrung vermochte sie keinem dieser jungen Burschen und Mädchen abnehmen, die mussten sie selbst machen. Doch um so sicherer sie in den Kampf gingen, desto leichter würden sie diesen Erfahrungen begegnen können.
Zunächst musste Antarona sich einen Überblick verschaffen, wie gut ihre Schüler wirklich waren. Dazu teilte sie die Kriegerinnen und Krieger in Gruppen zu je drei Kämpfern ein, die jeder gegen jede sich im Schwertkampf beweisen mussten. Sie überließ den Jo-lie selbst die Wahl, denn sie wollte, dass jene sich in Gruppen zusammenfanden, die einander vertrauten, und sich nicht schon in der ersten Übungsstunde zu Krüppeln schlugen.
»Denkt daran«, gab sie ihnen zu verstehen, »in dieser Zentare übt ihr nur. Übt hart, doch schadet euren Gegenüber nicht, denn jene, die euch in diesen Zentaren als Gegner gegenüberstehen, werden gegen die wahren Feinde der Îval und der Jo-lie Rücken an Rücken und Schulter an Schulter mit euch stehen. Nur, wenn ihr einander vertraut, könnt ihr gegen die Wilden Horden siegreich sein.«
Dann ließ sie die Gruppen kämpfen. Naturgemäß mussten die Jo-lie zuerst ihren Ehrgeiz, zu gewinnen, bremsen. Bis dahin lag bereits der eine, oder die andere mit schmerzverzerrtem Gesicht am Boden. Es gab auch Beulen und kleinere Wunden. Sonnenherz eilte von Gruppe zu Gruppe, und lehrte sie, worauf es ankam. Erst einmal ging es nicht darum, den Gegner so rasch wie möglich auszuschalten, sondern darum, ihn mit perfekter Kampftechnik auf Distanz zu halten, um ihm im geeigneten Augenblick wirkungsvoll zu attackieren.
Bis dieses Ziel jeder und jede in den Gruppen verinnerlicht hatten, und sinnvoll trainierten, durften alle schmerzliche Erlebnisse sammeln. Erst, als das Training den Charakter erreichte, den Antarona sich vorgestellt hatte, nahm sie sich die Zeit, jeden einzelnen Kämpfer zu studieren, seine Stärken und Schwächen herauszufinden, und ihn in die für ihn geeignetste Technik einzuweisen.
Bei aller Individualität der einzelnen Krieger und Kriegerinnen mussten dennoch alle nach bedarf im Kollektiv handeln können. Antarona musste ihnen die Gabe antrainieren, in winzigen Zentaren reagieren zu können, ihre Taktik zu ändern, und vom Einzelkampf in einem geordneten Angriff, oder Rückzug als ganze Einheit zu funktionieren.
Sehr schnell wurde dem Krähenmädchen bewusst, dass diese Kämpfer besonders viel Zeit für ihre Ausbildung beanspruchten. Sie mussten auf dem Kampffeld in Kohortenstärke, wie auch einzeln perfekt sein, um in den bevorstehenden Kämpfen bestehen zu können. Sie mussten ständig in Gruppen, wie auch einzeln trainieren, egal, wo sie sich gerade befanden. So, wie sie Ba - shtie geschult hatte, so musste sie es auch mit dieser kleinen Armee tun.
Einige Burschen aber waren so individuell, dass sie sich keiner Gruppe und keiner gemeinschaftlicher Vorgehensweise unterordnen konnten. Diese wollte sie zusammen mit Ba - shtie extra ausbilden. Sie sollten besondere Aufgaben im Alleingang ausführen können, wie etwa das Einschleichen in fremde Heerlager, um Verwirrung zu stiften, oder um gezielte Personen in einer gegnerischen Gruppe auszuschalten. Für diese Aufgaben waren sie stets auf sich allein gestellt, und mussten darauf trainiert werden, mit jeder Situation fertig zu werden, die im Bruchteil einer Zentare entstand.
Antarona war bestrebt, allen Gruppen den Grundgedanken eines schnellen, präzisen Kampfes zu vermitteln, denn sie wusste, dass die Jo-lie grundsätzlich den erfahrenen, großen und massigen Kriegern Torbuks in Ausrüstung, Kraft und Ausdauer unterlegen waren. Ihre eigenen Stärken lagen in der Technik, der Schnelligkeit und Wendigkeit, des flexiblen, phantasievollen Handelns, des Überraschens. Gegenüber den plumpen Kerlen der Wilden Horden mussten sie wie Schattengeister auftreten, dann hatten sie eine gute Aussicht auf Erfolg.
Einer unter den vielen Schwertkämpferinnen und Schwertkämpfern tat sich besonders hervor. Antarona beobachtete ihn bereits eine ganze Weile. Mit traumwandlerischer Sicherheit und tänzerischer Leichtigkeit kämpfte er jeden Gegner nieder, als besaß er magische Fähigkeiten. Schon vermutete Antarona, dass er, wie sie selbst, die Gabe besaß, in die Sinne anderer Wesen einzudringen, und so jeden Streich vorauszusehen vermochte.
Noch hielt sie sich zurück, sich vor den versammelten Jo-lie mit ihm zu messen, denn eine Niederlage konnte sie den Respekt und die Achtung kosten, die sie von den Bewohnern Mehi-o-rateas dringend benötigte. Die legenden, die sich um Sonnenherz rankten, waren in diesen Zentaren wichtiger denn je. Dieser junge Bursche brachte ihre innere Sicherheit ins Schwanken.
Sie war hin und her gerissen zwischen einer heimlichen Angst und einer treibenden Neugier. Sie stand zwischen dem Verlust ihrer Unbesiegbarkeit und ihres fast übermenschlichen Ansehens, und der Wissbegier, ob jener dort ihre Fähigkeiten besaß. Noch eine weitere Möglichkeit musste sie in Betracht ziehen. Den Legenden und Mythen nach gab es nicht nur ihr Schwert, dass die Eigenschaft besaß, mit eigener Kraft die Bewegungen seines Besitzers zu unterstützen. Was, wenn dieser junge Mann dort ebenfalls eines der Schwerter der alten Könige besaß, und dadurch sehr viel geübter war?
Vorsichtig und unauffällig beobachtete das Krähenmädchen den Jungen, und seine Waffe, die er zu den vielen anderen gelegt hatte. Sie ahnte, dass er für sie eine Konkurrenz darstellen konnte. Wie zufällig schlenderte sie an den abgelegten Waffen der Jo-lie vorbei. Das Metall seines Schwertes schimmerte nicht so blau, wie das Nantakis, und als Antarona scheinbar aus Versehen mit einem Fuß gegen den Haufen Schwerter stieß, gab seine Waffe auch nicht den singenden Klang wieder, den Nantakis hätte vernehmen lassen.
Aber was besagte das schon? In den alten Mären war beschrieben, dass die Schwerter, die Talris den alten Königen gab, verschiedenster Beschaffenheit waren. Verschieden von Aussehen und Eigenschaft sollen sie gewesen sein, so dass ein jeder der Könige eine eigene Besonderheit besaß. Da ein Mann nicht mehrere Schwerter gleichzeitig führen konnte, war sichergestellt, dass einer allein, sollte er sich die Schwerter der anderen aneignen, ihre Macht nicht missbrauchen konnte.
Selbst Ba - shtie, der das Schwert Tálinos in den Händen gehalten hatte, vermochte in der kurzen Zentare nicht herauszufinden, welche besondere Gabe in dieser Waffe steckte. Die Fähigkeiten der Schwerter der alten Könige offenbarten sich ihren Trägern erst nach und nach, und so manch einer entdeckte sie erst, nachdem er die Klinge ein halbes Menschenleben lang geführt hatte.
Der angeborenen, drängenden Neugierde der Frau erlag schließlich auch Antarona. Nachdem sie mehrmals um die Gruppe des jungen, begabten Kämpfers herumgeschlichen war, so dass es schon auffallen musste, trat sie nun offen hinzu. Die Gruppe unterbrach ihre Übungen, die einem Schaukampf glichen, und sahen dem Mädchen, dem ein legendärer Ruf vorauseilte, erwartungsvoll entgegen.
»Ihr seid mit einer hervorragenden Kampfkunst gesegnet«, stellte sie fest, indem sie den Burschen offen ansah. Sie sprach weiter, und es sollte ein wenig wie eine Provokation klingen, um den jungen Mann aus seiner Anonymität zu locken:
»Haltet die Tochter Hedarons des Holzers nicht für unhöflich, doch warum hat man noch nicht von euch gehört, wo ihr doch so gut ein Schwert zu führen wisst, Herr von... Wie ist euer Name, und von woher seid ihr? Mögt ihr es Sonnenherz verraten, oder brecht ihr damit ein Gelübde oder Geheimnis?«
Der Angesprochene blickte offen und mit wachen Augen zu Antarona hinunter, denn er maß wenigstens einen Kopf größer, als sie. Muskel bepackte Oberarme und ein mächtiger Brustkorb dominierten seinen von Schweiß glänzenden Oberkörper. Dennoch wirkte er schlaksig, geradezu dürr. Sein schmaler, wespenartiger Unterbau, der auf wiederum langen, kräftigen und stämmigen Beinen ruhte, gaben ihm das gertenschlanke Aussehen.
Er trug nicht mehr, wie seinen Kriegsrock und lederne Mokassin, die ihm bis in die Kniekehlen reichten. Doch selbst der schwere Rock vermochte sein unproportionales Erscheinungsbild nicht auszugleichen. Er schien mit einem unsichtbaren, viel zu engen Korsett geboren worden zu sein, und aus dem er längst herausgewachsen war, es jedoch nicht ablegen konnte.
Wäre da nicht seine außergewöhnliche Fähigkeit im Kampf, die Antarona aufgefallen war, so hätte sie ihn beinahe lächerlich finden können. Andererseits waren da die feinen Züge seines Gesichts, die wasserblauen, ehrlichen Augen, und die breiten Schultern, die eine Frau schwach werden lassen konnten. Für einen Augenblick schoss ihr die Frage durch den Kopf, welches berauschende Gefühl sie erobern würde, von diesem Abbild der Götter in die Arme genommen, und geliebt zu werden.
Sicher hätte sich so manche Frau und so manches Mädchen ihm hemmungslos in die Arme geworfen. Doch in Antarona schlummerte die Klugheit, die nötige Bodenständigkeit und ein gesundes Maß an Scheu und Vorsicht. Sie gab sich bewusst kühl und neutral, was sicherlich viele Männer dazu verleitete, sie gerade deshalb erobern zu wollen.
»Mein Name ist Kadim, Sohn des Bathan von Turu. Geboren wurde ich in Falméra, doch mein Vater stammt aus Turu, ein Dorf bei Zarollon, das nun von den Wilden Horden besetzt ist. Meine Mutter ist eine Oranuti aus dem Hause Hanudrim in der Stadt Almathra.« Antarona nickte anerkennend, doch sie wusste zumindest mit Almathra nicht viel anzufangen.
Sie kannte keine Orte in Oranutu, oder noch weiter im Land der wandernden Sonne. Ihre Welt hatte vor den Toren Quaronas aufgehört. Selbst Falméra war für sie so etwas wie ein unerreichbarer, heiliger Ort gewesen, den ihre Vorstellungskraft an ihre Phantasie übergeben hatte.
Die Oranuti waren für sie immer ein exotisches Volk gewesen, das irgendwo fern der Sonne auf einem Land lebte, das Talris verbrannt hatte. In den Dörfern Val Mentiérs nannte man sie nur die Unbekleideten, was sie nie verstanden hatte. Denn sie, die Îval waren es ja, die, wenn es die Witterung irgend erlaubte, nur mit einem Ra-li bekleidet herumliefen.
Das Bild, das sie seit ihrer Kindheit von den Oranuti hatte, waren Gestalten, die sich in unendlich lange Wickeltücher hüllten, und oft nur die Gesichter, oder die Augen frei ließen. Erst in Falméra, und nun auch in Mehi-o-ratea hatte sich ihre Sichtweise gewandelt. Jene Oranuti-Mädchen und Frauen, die den Ra-li trugen, wirkten mit ihrer bronzenen Haut feingliedriger, anmutiger, und graziler, als jede Îval.
Und noch etwas war ihr erst außerhalb des Val Mentiér bewusst geworden. Sie selbst, eine Îval, besaß in ihrem Aussehen viele Merkmale einer Oranuti, mehr, als ihr recht waren. Obwohl sie die Möglichkeit innerlich ablehnte, dass sie die Tochter Bentals und Asgarinia, einer Oranuti- Prinzessin sein sollte, konnte sie ihr Aussehen nicht verleugnen. Sie war anders, als die meisten Îval. Sie war dunkler in Haut und Haar, und auch ihre Augen waren nicht wie die Farbe des Meeres und der Seen, oder des Himmels.
Die Erinnerungen an ihre Kindheit waren vom Tod ihrer Mutter überschattet, und es schien, als hätte dieses Ereignis alles andere ausgelöscht. Ihr Vater, Hedaron, sprach nicht über die Zentaren davor. Er trauerte immer noch. So war sie, die Îval mit dem Aussehen einer Oranuti, allein gewesen. Nur die Tiere, die Bäume, die Bäche und die Seen waren ihr als Vertraute geblieben, und ihre Höhle am See, ihr Rückzugsort.
»Der Stallmeister meines Vaters lehrte mich den Schwertkampf. Er war Heerlagerführer unter Lehen des Areos in der ersten Schlacht.« Antarona brauchte eine Weile, bis sie aus der Vergangenheit zurückkehrte, und realisierte, dass der Junge weitergesprochen hatte.
Eine alte Kriegerfamilie also, dachte sie, und musterte den jungen Mann etwas zu lange, so dass ihr die anderen Schwertkämpferinnen bereits vorwurfsvolle bis eifersüchtige Blicke zuwarfen. Da keimten schon erste Versuche auf, eine Nebenbuhlerin in ihre Schranken zu weisen:
»Kämpft gegen ihn, und ihr seht, dass er der Beste ist!« Welches von den Mädchen dies aus der Menge heraus gerufen hatte, konnte Antarona nicht feststellen, doch sie konnte ebenso wenig den herausfordernden, ja spöttischen Klang überhören. Sofort wurde diese Idee von anderen Stimmen unterstützt, und es entwickelte sich eine wahre Hetztirade, die Antarona und Kadim kämpfen sehen wollten. Und wäre es nach dem Willen einiger Sensationslustiger gegangen, so wäre es ein Kampf mit echten Waffen geworden, ein Kampf auf Leben und Tod.
Die Jo-lie kannten von Haus aus keinen Respekt, und wie es schien, seit ihrem Sieg über Torbuks Landungstrupp auch keine Gnade mehr. Sie waren immer noch im Blutrausch, im Kampffieber. Und schon nach wenigen Augenblicken schloss sich der Kreis der Umstehenden um Kadim und Antarona. Kadim grinste sie herausfordernd an, und sagte ölig:
»Ich bin bereit, meine Prinzessin. Seid ihr es auch?« Gleichzeitig flogen zwei hölzerne Übungsschwerter aus dem Kreis der Schaulustigen, und landeten zu Füßen der auserkorenen Gegner im Sand. Nun gab es für Antarona kein zurück mehr. Kadim, dem plötzlich die Bewunderung bewusst wurde, mit welcher ihn die Jo-lie regelrecht hofierten, streckte sich, packte eines der Schwerter und ließ es unter hörbarem Luftzug durch die Luft sausen, um ein Gefühl für die Waffe zu bekommen. Dabei stolzierte er im Kreis, wie ein Wafanhahn.
Insbesondere die Frauen und Mädchen unter den Kämpferinnen jubelten ihm zu, und feuerten ihn an, die legendäre Sonnenherz in den Staub zu schicken. Offenbar empfanden die Jo-lie Antaronas Ruf, der ihr voraus eilte, als überheblich und aufgesetzt.
Anders als in Falméra, oder im Val Mentiér galt eine Popularität bei den Jo-lie nichts. Sie wollten Beweise. Sie wollten Sieg oder Vernichtung. Sie wollten Sonnenherz anbeten können, oder in den Staub treten. Antarona spürte das, und wusste, dass dieser Kampf darüber entscheiden würde, ob sie bei Areos Geisterarmee jemals Anerkennung finden, oder Verachtung ernten würde.
Wäre Ba - shtie bei ihr, so hätte er dieses Machtspiel sofort beendet. Areos musste nichts mehr beweisen. Er hatte die Jo-lie zum Sieg über Torbuks Wilde Horden geführt. Er war bereits ihr Held. In diesem Augenblick wünschte sich Antarona zu ersten Mal flehentlich seine Stärke an ihrer Seite. Doch diesen Kampf musste sie allein ausfechten. Und sie fühlte sich so einsam und verlassen, wie nie.
Doch der Geist, der sie stets angetrieben hatte, erwachte in ihr. Der Geist einer in die Enge getriebenen Tigerin, die ihr Leben so teuer als möglich verkaufen würde. Ihr Gesichtsausdruck wurde steinern, ja fast verachtungsvoll. Diese Jo-lie waren eine Bande rebellischer Kinder, die vom Leben noch nicht viel wussten. Sie würde ihnen nun zeigen, was das Leben an Überraschungen bereit halten konnte.
Die jugendlichen Krieger sahen das zierliche Krähenmädchen bereits besiegt im Staub der kleinen Arena liegen. Und ihre Prophezeiung übertrug sich eins zu eins auf Kadim. Die lautstarken Ovationen suggerierten ihm, dass er dieses grazile Geschöpf, das sich Prinzessin, Sonnenherz und Krähenmädchen nannte, bereits geschlagen hatte.
Doch er ahnte nichts von Antaronas Fähigkeiten, einen Gegner mit der harten Schule einer kurzen, aber intensiven Lebenserfahrung richtig einzuschätzen. Ebenso wenig wusste er von ihrer Gabe, sich zuweilen in die Sinne anderer Wesen einzuschleichen.
Antarona war erstaunt, wie leicht sie in seinem Geist zu lesen vermochte. Und sie hatte eines gelernt. Je leichter sich die Sinne ihres Gegners offenbarten, desto schwächer war er. Denn nicht nur körperliche Stärke zählte in einem Kampf. Entscheidend für den Ausgang eines Kampfes war auch der Charakter des Kriegers. Überheblichkeit und Siegesgewissheit waren noch nie gute Berater gewesen.
Ruhig, beinahe gelassen hockte sich Antarona hin, und hob das Holzschwert auf. Sie wog es kurz in der Hand. Es schien schwerer, als Nantakis. Die imaginäre Klinge war an den Schneiden abgerundet, jedoch aus hartem Holz gefertigt, wie auch Parierstange und Griff. Letzterer und der Knauf waren vom häufigen Gebrauch blank poliert. Zu blank! Sie waren so glatt, wie Metall.
Damit ihr die Waffe beim Kampf nicht aus den Händen rutschte, rieb sie sich die Handflächen gründlich mit Sand ein. Das gleiche tat sie mit dem Griff des Holzschwertes. Niemand beobachtete sie, denn aller Augen waren auf den Favoriten, den perfekt aussehenden Krieger, den heimlichen Geliebten der jungen Frauen, gerichtet.
Tatsächlich hatte auch Antarona ihre heimlichen Bewunderer. Doch sie hatte das Gefühl, dass sie keiner mehr beachtete, seit die Jo-lie erfahren hatten, dass sie schwanger war. Sie trug das Herz eines Mannes unter ihrem Herzen, und somit war sie für jeden anderen Mann nicht mehr attraktiv. Eine Rücksichtnahme auf das Kind, das in ihrem Bauch heranwuchs, kannten die Jo-lie nicht. Unter ihnen gab es keine Mütter. Eine Jo-lie, die schwanger wurde, ging meist mit ihrem Verbundenen in ihr Dorf, oder nach Falméra zurück.
Das Krähenmädchen bereitete sich darauf vor, im Kampf nicht nur sich selbst zu schützen, sondern auch ihre ungeborene Tochter. War das ihrem Gegner bewusst? Nahm er darauf Rücksicht, oder nutzte er diese Schwäche aus? In seinen Sinnen las sie nichts, was ihr hätte einen Hinweis geben können. Vielleicht hatte Kadim die Möglichkeit einfach ausgeschlossen? Sein Geist offenbarte ihr lediglich, dass er sie vor allen lächerlich machen, und demütigen wollte. Freilich waren es seine heimlichsten Gedanken, denn offen gezeigt hatte er nur ein freundliches Wesen.
Antarona merkte rasch, dass Kadim eigentlich ein harmloser Blender, ein von sich über die Maßen überzeugter, junger Mann war, der die Aufmerksamkeit der Frauen und Mädchen allein für sich wollte. Doch wie weit ging er dabei? Würde er um jeden Preis versuchen, auch eine weibliche Konkurrenz auszuschalten?
Die Anfeuerungsrufe, die in lauten Intervallen gegen ihre Schläfen hämmerten, rissen Antarona aus ihren Gedanken. Kadim stand in ihrem Rücken. Die Mauer der Kriegerinnen und Krieger, die sie umringten schien undurchdringlich, gebärdete sich wie ein einziges, riesiges, sie umschließendes Wesen, das sie gefangen hielt, um sie einem Dämon zur Vernichtung zu reichen.
Langsam stand Antarona auf, und drehte sich herum, den Griff des Holzschwertes mit beiden Händen umfasst. Kadim stand lässig da, als könnte ihn nichts auf der Welt umwerfen, hielt sein Schwert in einer Hand und ließ es hin und her pendeln, als wäre es etwas völlig Nebensächliches. Er hatte sich seines Hemdes und seiner Mokassin entledigt. Seine riesigen Füße drückten tief in den Sand.
Da ihr Gegner alles andere als massig war, vermutete Antarona einen starken Knochenbau. der mochte ihm dienlich sein, konnte ihn aber ebenso gut behindern. Sie rammte ihr Holzschwert in den Boden, löste die Bänder ihres Metallgürtels und ließ die großen, aneinander gereihten Scheiben mit einem Rasseln zu Boden fallen. Dieser Ziergurt, in dem gewöhnlich ihr Dolch steckte, nützte ihr nichts, und konnte sie nur in ihrer Bewegungsfreiheit hemmen, oder sie gar verletzen.
Mit eleganter, zur Schau gestellter Geste nahm sie ihr Schwert, und warf mit dessen Spitze den schweren Gürtel aus der gedachten Kampfarena. Nur noch mit dem Ra-li bekleidet, stellte sie sich ihrem Herausforderer, spreizte die Beine, beugte sich etwas vor, und erwartete seinen Angriff. Doch Kadim schien unschlüssig, und versuchte sein Zögern mit Lächerlichkeiten zu überspielen.
»Hättet ihr nicht gut daran getan, den Gürtel umzulassen, holde Prinzessin?« Seine Stimme klang nun nicht mehr freundlich. Hohn und Spott sprachen aus ihr. Antarona reagierte nicht, und Kadim setzte nach:
»Er hätte euren Unterleib vor meinen Hieben schützen können, und anschließend hätte man euch daran zurück ins Dorf tragen können. Doch wie ihr meint. Im Gegenzug bin ich so gütig, und überlasse euch den ersten Angriff.«
Antarona konzentrierte sich auf seine Sinne und spürte eine Gosse Unsicherheit. Mehr noch war es schon eine Angst. Die Angst davor, zu versagen. Sie drang in die tiefsten Winkel seiner Seele vor, und fand ein unsicheres, ängstliches Kind, das sich minder Wert fühlte, und nur von seiner Bewunderung lebte. Es überraschte sie ein wenig, den dominant in seinem Wesen, war die zur Schau gestellte Überlegenheit und Brutalität. Die schien aber nur oberflächlich, und sie konnte sie nicht mehr allzu ernst nehmen.
Sie wusste nun, dass sie diesen Kampf gewinnen konnte, wenn sie nur lange genug durchhielt, und darauf achtete, dass er sie nicht zu schwer verletzte. Gewiss war er ein ausdauernder Kämpfer, doch sie besaß die nötige Phantasie für Neues, für Überraschungen, und sie trumpfte mit ihrer außergewöhnlichen Wendigkeit und Schnelligkeit.
Antarona blieb ruhig, und ließ sich nicht provozieren. Sie stand da, auf gespreizten Beinen federnd, den Oberkörper wiegend in einem kaum wahrnehmbaren, wiegenden Takt. Den umstehenden Betrachtern und ihrem Gegner musste es erscheinen, als wäre sie zu einer Lehmfigur erstarrt. Nur ihre Augen schienen Kadim zu durchbohren. Dieser wurde angesichts ihrer Ruhe und Reglosigkeit immer nervöser. Er pries sich selbst gern als Mann der Tat, doch nun stellte Antarona fest, dass er die Entscheidungen gern anderen überließ.
Das Publikum johlte, feuerte ihn an, und rief ihm Ratschläge zu. Doch Kadim tänzelte unschlüssig in einem weiten Halbkreis um seine Gegnerin hin und her.
»Los, kämpft, Sonnenherz mit dem Ruf der Unbesiegbarkeit. Kämpft, oder seid ihr etwa zu feige? Oder könnt ihr nicht? Greift ihr nur an, wenn ein Mann euch den Rücken kehrt? Nun, hier, bitte, hier habt ihr ihn!«
Damit präsentierte er sich in einer Drehung, hielt das Schwert über seinem Kopf, ließ seine beeindruckenden Muskeln spielen, und sonnte sich im Kreischen der jungen Frauen, die sich offenbar erträumten, von ihm beglückt zu werden. Dann begann er seinen sinnlosen Tanz aufs neue, und gab Antarona unwissentlich Gelegenheit, sich in jede seiner Regungen zu versetzen.
Das Krähenmädchen hatte sich nicht einen Millimeter gerührt. Nur ihr langes Haar bewegte sich im leisen Wind, wie die Zierfedern die sie an den Beinen trug. Ihre Untätigkeit, die mittlerweile schon verächtlich gegen Kadim wirkte, ließ eine ungezügelte Wut in ihm hochkochen. Damit hatte sie ihn, wo sie ihn haben wollte. Wer in hasserfülltem Zorn angreift, macht Fehler. Das wusste sie aus vielen Kämpfen gegen die kräftigen, aber dummen, einfältigen Krieger der Wilden Horden.
»Wenn ihr jetzt nicht beginnt, dann werde ich es tun!« schrie Kadim, und seine Stimme überschlug sich in einem heiseren Misston. Antarona wartete.
»Ihr wollt wohl nicht, was?« Er machte zwei, drei Schritte vorwärts, blieb aber auf sicherer Distanz. Als sie sich immer noch nicht rührte, sprang er die gleiche Strecke wieder zurück, und keifte:
»Ihr redet nur vom Kämpfen, und von eurer großen Kampfkunst, doch wenn es ernst wird, tut ihr nichts«, stellte er mehr für das Publikum, als für sich selbst fest.
»Wenn ihr nicht kämpfen wollt, dann werde ich euch dazu zwingen, dann werde ich euch so verprügeln, wie es euer Areos tun sollte. Wenn ihr euch nicht wehrt, dann werde ich euch lehren, eine gehorsame, ehrfürchtige Wäscherin zu sein, dann seid ihr keine Kriegerin und Prinzessin.«
Wieder tanzte er wie ein blindwütiger Stier um sie herum. Wieder rührte sich Antarona nicht. Kadim begann unter müder werdenden Zurufen mit seinem Schwert herumzufuchteln. Die Zurufe der inzwischen gelangweilten Zuschauer reizten in indes mehr, als die Untätigkeit seiner Gegnerin. Antarona erkannte an seiner Stimme, dass er immer mehr die Kotrolle verlor. Damit wurde er für sie noch berechenbarer, denn sein Geist sperrte sich nicht mehr gegen ihren Zugriff auf seine Sinne. Kadim blaffte:
»Los, kämpft! Wehrt euch, wie es einer Prinzessin gebührt! Zeigt endlich, was ihr wirklich könnt, oder überlasst anderen, die Jo-lie zu führen! Wenn ihr nicht sofort eure Waffe erhebt, und gegen mich antretet, werde ich euch mit der flachen Seite meines Schwertes so lange schlagen, bis ihr von allen hier verspottet werdet, das sage ich euch. Ich werde euch schon dazu bringen, zu kämpfen, ich werde euch...«
»Dann tut es doch endlich.« Durchdringend, doch in aller Seelenruhe gesprochen, unterbrach Antaronas klare Stimme in seine Verbaltiraden. Auf einen Schlag herrschte Stille. Ein Blatt hätte man hören können, das von einem Baum fiel. Die Umstehenden schienen gebannt den Atem anzuhalten. Nun war auch einem Kadim von Turu klar, dass er etwas tun musste, um nicht selbst als Versager dazustehen.
Er japste nach Luft, seine Augen traten hervor, und er zitterte leicht, was aber nur Antarona über seine Sinne wahrzunehmen vermochte. Für die Augen der Zuschauer riss er urplötzlich sein Schwert hoch, und stürmte auf Antarona los. Sie hatte es erwartet. Und sie wusste auch, dass er es auf ihre Beine abgesehen hatte. Sie spürte, dass er ihre eigene Kampftechnik von den Elsirenfeuern Eins zu Eins übernommen hatte.
Kadim holte aus, und säbelte mit aller Kraft gegen ihre tiefe Flanke. Wäre sie nicht im letzten Augenblick aus der Grätsche hochgesprungen, so hätte ihr sein gewaltiger Schlag zumindest einen Unterschenkel gebrochen. So aber zog ihn der Schwung seiner eigenen Attacke stolpernd vorwärts. Antarona landete auf den Füßen, wirbelte herum und die Kante ihres Schwertes krachte gegen seine Rippen. Die Zuschauer schrieen überrascht auf.
Antarona sah diesen Kampf als reine Übung, deshalb legte sie nicht ihre ganze Kraft in den Schlag. Es sollte niemand ernstlich verletzt werden. Doch schmerzhaft war ihre Finte allemal, was sich in Kadims verzerrtem Gesicht zeigte und er lautstark mit einem Schrei bestätigte. Er landete auf Händen und Knien im Staub.
Als er sich wieder erhob und umdrehte, stand Antarona genauso da, wie bereits die ganze Zeit vor seinem Angriff, scheinbar ungerührt von seinem Ausbruch. Ihre scheinbare Gelassenheit und Ruhe, die pure Provokation war, machte ihn noch wütender. Er sprang auf, stürzte sich erneut auf das Krähenmädchen, hob das Schwert, um es ihr nun von schräg oben zwischen Hals und Schulter zu treiben. Im letzten Augenblick bog sie sich in unglaublicher Akrobatik zur Seite, und lenkte seine Waffe mit ihrem Schwert ab, sodass es mit einem Knirschen in den Boden fuhr. Der Schwung ließ Kadim vorwärts stolpern, an seiner Gegnerin vorbei.
In einer Drehung mit ihrem Oberkörper schwang Antarona herum und versetzte dem zornigen Mann einen empfindlichen Hieb in die Nieren, der ihn erneut fallen ließ. Die Menge dokumentierte den künstlerischen Streich mit einem weiteren, lauten Ausruf, jedoch nicht mit Beifall. Antarona hatte ihre Beine und den Unterkörper nicht bewegt. Nun richtete sie sich mit einem einzigen Sprung aus ihren Kniegelenken zu ihrem Gegner hin aus, und stand dann wieder unbeweglich vor ihm, als hätte sie sich nicht gerührt.
Kadims Augen wurden zu gefährlichen Schlitzen, und man sah ihm an, dass er sich kaum noch unter Kontrolle hatte. Trotzdem zwang er sich zur Ruhe. Die beiden schmerzhaften Schlappen, die er einstecken musste, während seine Kontrahentin sich kaum bewegt hatte, kratzten gewaltig an seinem Ehrgefühl. Das sollte ihm nicht noch einmal passieren. Allerdings wusste er auch nicht recht, wie er nun weiter vorgehen sollte. Die Zuschauer durften jedoch seine Unschlüssigkeit nicht bemerken, und so versuchte er eine Entscheidung wiederum mit Worten hinauszuzögern.
»Ihr haltet euch für besonders klug und überlegen, nicht wahr? Doch mit der Art kommt ihr bei mir nicht weit. Ich werde euch vierteilen, und zum Gespött aller Jo-lie in den Dreck werfen. Na, was sagt ihr dazu?« Antarona blieb völlig ausdruckslos und sagte nur:
»Wollt ihr es tun, oder wollt ihr nur darüber reden?« Dieser eine Satz traf ihn wie ein Peitschenhieb. Über so viel Schnippigkeit und Arroganz war Kadim zunächst sprachlos. Seine gewohnte Ausstrahlung, die sonst jede Frau schwach werden ließ, zeigte bei dieser Prinzessin offenbar keine Wirkung. Wieder packte ihn der jähe Zorn, und seine unmittelbare Attacke hatte Antarona bereits vorausgesehen.
In einem großen Ausfallschritt fuhr Kadim nach vorn. Er setzte seinen kräftigen Hieb höher an, als beim ersten Mal, denn er hatte erfahren, wie schnell Antarona über seinen Streich hinweggesprungen war. Dieses Mal wollte er sie in der Seite erwischen. Antarona aber ließ das Schwert fallen, bog sich blitzschnell nach hinten, stützte sich mit den Händen ab, und Kadims Hieb sauste knapp über sie hinweg. Beinahe gleichzeitig stieß sich Antarona mit den Armen ab, federte zurück, ergriff das Holzschwert, und wirbelte um die eigene Achse, die hölzerne Klinge knapp über dem Boden führend.
Noch bevor Kadim wieder fest stand, knallte das harte Holz gegen seine Waden und schlugen ihm die Beine unter dem Leib weg. Zum dritten Mal lag er im Staub, während Antarona sich wieder in aller Ruhe in Position brachte. Die umstehenden Kriegerinnen und Krieger riefen erschrocken auf, und zum ersten Mal applaudierten einige verhalten der jungen Prinzessin. Die Bewunderung der Frauen für den begehrten Jüngling ließ merklich nach.
Kadim brauchte eine Weile, um wieder auf die Beine zu kommen. Er rieb sich die Unterschenkel und funkelte das Krähenmädchen düster und böse an. Gepresst stieß er durch die halb geöffneten Zähne hervor:
»Ich werde nicht aufgeben. Ich werde erst ruhen, wenn ich euch besiegt habe, so, oder so. Ihr werdet nicht immer Glück haben.« Antarona sagte nichts. Sie fand, dass sie schon zu viel gesprochen hatte. Statt dessen konzentrierte sie sich auf Kadims Sinne. Und die verrieten inzwischen grenzenlosen Hass. Dieser Kampf war nicht mehr nur ein Spiel.
Antaronas Gegner stand einen Moment lang schwankend da, dann festigte sich sein Stand, und er ließ seine durchtrainierten, eisernen Muskeln spielen, die in der Sonne glänzten, wie gebogene, polierte Platten. Sein nächster Angriff galt wieder ihren Beinen. Ein Hieb von ihm würde ihr die Unterschenkel, oder Knie brechen, wenn er ihn mit aller Kraft ausführte, das wusste sie. Doch immer noch glaubte sie, dass sie hier lediglich einen Schaukampf ausführten.
Mit einem Satz sprang Kadim vor, und ließ das Schwert Ellen hoch über den Boden sausen. Wie bei seinem ersten Streich sprang sie federnd hoch, um dem Schlag zu entgehen. Doch dieses Mal drehte sich ihr Gegner um seine Achse, und als Antarona mit den Füßen wieder auf dem Boden stand, hatte er sein Schwert angehoben, und ließ es mit der vollen Wucht seiner Drehung in ihre Rückenpartie krachen. Es gab ein dumpfes Geräusch und Antarona wurde in die Luft gehoben, und zur Seite geschleudert.
Sterne explodierten in ihrem Kopf, und als sie auf dem Boden aufschlug, breitete sich ein taubes Gefühl von ihrem Rücken in alle Richtungen aus. Ihr blieb die Luft weg, und vor Schmerz krallten sich ihre Finger in den Sand. Die überraschten Rufe der Zuschauer nahm sie nur wie durch eine unsichtbare Wand wahr. Das Schwert war einen halben Meter von ihr entfernt liegen geblieben. Reflexartig hielt sie die Luft an, da ihr das Atmen stechende Schmerzen bescherte, kroch jedoch tapfer vorwärts, packte den Griff, und hob die Waffe, um sich mit dem Schwung ihres Gewichts wieder zu erheben.
Kaum hielt sie das Schwert in der Hand, war Kadim über ihr. Ein weiterer Schmerz durchzuckte ihren Arm, das Schwert wurde ihr aus der Hand geschlagen, und eine summende Taubheit befiel nun auch ihre Schulter. Die nächste Empfindung, die sie spürte, war ein brennender Schmerz auf ihrem Po, kurz nachdem sie ein knallendes Geräusch gehört hatte.
Ihr Ra-li war zur Seite gerutscht, und hatte ihr Gesäß entblößt. Kadim nutzte die kurze Gelegenheit, holte weit aus, und drosch die breite Seite seines Schwertes mit aller Kraft über ihren Po. Antarona schossen die Tränen in die Augen. Dieser Hieb war schmerzhafter, als der Schlag gegen ihre Nieren. Und sie spürte, dass er ihn wiederholen würde, wenn sie reglos liegen blieb. Sie las es in seinen Gedanken, obwohl sie sein Gesicht nicht sehen konnte.
Sie nahm all ihren Willen zusammen, ignorierte die Schmerzen, und drehte sich auf dem Boden. In diesem Augenblick krachte Kadims Schwert in den Sand, dorthin, wo sie eben noch gelegen hatte. Bei jeder Attacke ging ein Aufruf des Entsetzens durch die umstehende Menge. Antarona orientierte sich auch daran, wann sie den nächsten Hieb zu erwarten hatte. Sie sah hoch, blickte in die Sonne, und sah einen hohen Schatten über sich. Die Rufe kündigten den nächsten Streich an.
Antarona drehte sich ein weiteres Mal unter tauben Schmerzen, winkelte dabei kurz die Beine an, und nahm mit ihnen Kadims Fußgelenke in die Zange. Sie legte all ihre Kräfte in die Beinmuskulatur, straffte die Sehnen, und drehte sich ein weiteres Mal. Mit dumpfem Poltern schlug Kadim in den Sand. Sie hatte ihn schlicht von den Füßen gerissen.
Blitzschnell wand sie sich, kroch auf ihr Schwert zu, das im Staub lag, und nutzte die Zeit, die ihr Kadims Sturz verschaffte. In einer Drehung auf dem linken Knie kam sie herum, und hob das andere Bein über Kadims Oberkörper. Ehe ihr Gegner sich aufrichten konnte, hatte sie seinen Brustkorb in der Klammer ihrer kräftigen Oberschenkel, und drückte ihm mit quer gehaltenem Holzschwert die Kehle zu. Das verschaffte ihr wiederum etwas Zeit, zu Atem zu kommen.
Kadim ruderte mit den Armen, stützte sich mit den Ellenbogen ab, und wollte sich aufrichten. Doch mit einem jähen Ruck drückte ihn Antarona in den Staub zurück. Dabei spannte sie ihre Oberschenkel jedes Mal an, um ihm die Luft aus der Brust zu drücken. Das Szenario wiederholte sich einige Male, bis Kadim scheinbar der Atem ausging. Er ließ seine Arme kraftlos zur Seite fallen, und erntete von den Zuschauern buhende Rufe.
Als Antarona das Signal seiner Sinne auffing, und spürte, dass er sie nur täuschte, war es bereits zu spät. Mit einem Ruck zog er seine Arme an, und seine Fäuste fuhren wie Rammböcke je links und rechts in ihre Seite. Ihr blieb für Augenblicke der Atem weg, sie ließ in ihrer Anspannung nach, und Kadim nutzte diesen Moment ihrer Schwäche, um sich mit aller Kraft aufzubäumen. Wie ein auftauchender Wal ein kleines Boot, so warf er sie seitwärts in den Sand, und stand sofort wieder auf den Beinen.
Er torkelte kurz hin und her, suchte nach seinem Schwert, hob es auf, und stürmte auf die noch am Boden liegende Gegnerin zu. Antarona war noch zu benommen, um aus dem Liegen aufzuspringen, doch sie ahnte die Gefahr, und rollte seitwärts. Keinen Wimpernschlag später schlug Kadims Schwertspitze eine Hand breit neben ihrem Kopf in den Boden. Hätte sie nicht noch einen Rest der Geistesgegenwart besessen, so hätte er ihr den Schädel zertrümmert. Die Schwerter waren zwar nur aus Holz, doch einen Kopf mochten sie ohne Mühe wie eine Melone zu Brei schlagen.
Kadim schien nun jenseits jeglicher Fairness und Ehre. Er wurde offenbar nur noch vom Hass aus seinem verletzten Stolz geleitet, blind vor Wut. Schlagartig wurde Antarona bewusst, dass er es darauf anlegte, sie ernsthaft zu verletzen, oder zu töten. Aus dem Schaukampf war blutige Wirklichkeit geworden. Es gab keine Regeln. Sie musste um ihr Leben, und das ihrer Tochter kämpfen. Kämpfen, oder sterben!
Schon holte der vom Wahnsinn Getriebene zum zweiten Vernichtungsschlag aus. Antarona reagierte nur noch aus ihren jahrelang antrainierten Reflexen heraus. Sie wand sich am Boden, stützte sich mit den Beinen ab, um Schwung zu bekommen und ließ ihr Schwert gegen seine Schienbeine krachen. Kadim ging zu Boden, und der Schmerz trieb nun auch ihm das Wasser in die Augen.
Das Krähenmädchen versuchte Zeit zu gewinnen, aus dem Gefahrenbereich seines Schwertes zu kommen, und kroch davon. Doch die großen Pranken Kadims packten sie derbe an den Fußgelenken, und versuchten sie zurückzuziehen. Sie wand sich herum, holte mit dem Schwert aus, und schlug ihm die breite Seite der Holzklinge über den Schädel. Sie wollte ihn nicht verletzen, doch so einen athletischen Riesen schonend kampfunfähig zu machen, war fast unmöglich, wenn man selbst nicht mehr als ein Fliegengewicht war.
Der junge Mann grunzte und schnaufte, und verharrte wie benommen auf allen Vieren. Antarona nutzte seine vorübergehende Wehrlosigkeit, um wieder auf die Beine zu kommen. Ihr Körper schmerzte, die Schläfen in ihrem Schädel hämmerten, und durch ihren Fuß fuhr ein prägnantes Stechen. Vermutlich hatte sein Griff ihr Fußgelenk ausgedreht. Damit war sie nicht mehr so beweglich, und einer ihrer großen Vorteile war dahin.
Leicht hätte sie ihn nun ausschalten können, wie er so im Sand hockte, sie mit irrem Blick verfolgte, und neue Kräfte sammelte. Doch sie war keine Mörderin. Sie hatte nicht einmal mehr den Ehrgeiz zu siegen. Sie hatte bewiesen, dass sie sich durchaus gegen einen viel größeren, kräftigeren Mann zur Wehr setzen konnte. Das war das eigentliche Ziel des Schaukampfes gewesen, der als Beispiel dienen sollte.
Doch Kadim war nur noch im Trieb der Vernichtung gefangen. Er wollte es beenden, er wollte Blut sehen! Und die Jo-lie, die das kämpfende Paar umstanden, ließen sich von der Welle der Sensation und dem Reiz des Mitfieberns einfangen und mitreißen. Sie hatten kaum realisiert, dass aus der Übung tödlicher Ernst geworden war.
Auf wackeligen Beinen stand Antarona da, das Schwert in beiden Händen, unsicher, ob Kadim nun zur Besinnung kam, oder seinem Blutrausch folgen wollte. Für einen weiteren Angriff von ihm musste sie sich etwas einfallen lassen. Ihre Kräfte gingen zur Neige, und ihre Schnelligkeit und Wendigkeit war eingeschränkt. Kadim hingegen konnte noch viel einstecken. Er wirkte wie ein Fels in auflaufender Brandung, der kurz unterging, aber sofort wieder aus der Gischt ragte.
Langsam, mit starrem Blick, der sie fixierte, wie die Augen einer Schlange, stemmte sich Kadim hoch. Sein Mund stand halb offen, Speichel rann ihm aus den Mundwinkeln, tropfte auf seine staubige Brust und hinterließ dunkle Flecken. Antarona hatte ein ähnliches Verhalten bei Torbuks Männern gesehen, die vom Mestas ihrer Sinne beraubt, und über gefangene Mädchen und Elsiren hergefallen waren. Ihr Verstand war einem raubtierhaftem Trieb gewichen.
Nicht mehr ganz so elegant, wie zu Beginn des Kampfes, tappte der muskulöse Hüne auf sie zu. Seine Haare hinten ihm wirr im Gesicht, was ihn nicht mehr zu stören schien. Seine Eitelkeit war zumindest in dem Punkt auf der Strecke geblieben. Sein Schwert schwang hoch, und Antarona war überrascht, wie viel Kraft noch in seinen Armen war. Nur mit knapper Not konnte sie seinem Hieb ausweichen, der von unten kam, und sie unweigerlich aufgeschlitzt hätte.
Sie strauchelte, denn ihr Fuß schien nicht mehr auftreten zu wollen. Doch sie schaffte es, dem Angreifer ihre Schwertkante so kräftig auf die Unterarme zu schlagen, dass er die Waffe sinken ließ. Auf dem anderen Fuß wirbelte sie halb herum, und ließ das Holz mit dem Schwung ihrer Drehung in seine Kniekehlen fahren. In einem Kampf mit echten, scharfen Waffen wäre dieser Streich ihr Sieg gewesen. So aber knickte Kadim nur ein, fiel auf die Knie, und schnaufte wie ein wild gewordener Büffel.
Auf sein Schwert gestützt erhob er sich gleich wieder, und schwankte erneut auf seine kleine Gegnerin zu, die er schlicht umzurennen drohte. Antarona sprang zur Seite, und ließ ihn in die Leere laufen. Doch ihr Fuß knickte ein, und sie stürzte längs zu Boden. Kadim drehte sich um, und nahm wieder Geschwindigkeit auf. Er wirkte wie ein erblindeter Xebron, der ohne Verstand auf seinen Gegner zustürmte, wo immer er ein Geräusch vernahm.
Antarona kam nicht so schnell hoch, wie Kadim heran war. Breitbeinig stand er über ihr, holte aus, und ihr blieb nur, sich wie eine Schlange um die eigene Achse zu winden, um so seinem Hieb zu entgehen. Doch Kadim verhielt, wartete, bis Antarona herum war, und mit erstauntem Blick zu ihm aufsah. Dann schlug er gnadenlos mit der flachen Seite seines Schwertes zu. Das Holz klatschte hässlich auf ihren ungeschützten, nackten Bauch, und sie hatte Glück, dass sie in diesem Augenblick die Bauchmuskeln angespannt hatte.
Der brennende und stechende Schmerz lähmte dennoch kurz ihren Atem. Übelkeit stieg in ihr hoch, und sie musste dagegen ankämpfen, ihre Galle hochzuwürgen. Doch der Schmerz weckte auch ihre Sinne neu. Den nächsten Schlag, den er der am Boden Liegenden mit der harten Kante seiner Waffe verpassen wollte, konnte sie mit ihrem Schwert reflexartig abfangen. Die Wucht trieb ihr einen singenden Schmerz durch die Arme, und verursachte eine kurze Lähmung.
Wieder rollte sich Antarona zur Seite, dieses mal schneller, so dass Kadim keinen weiteren Schlag anbringen konnte. Die kurzen, stechenden Schmerzen trieben ihr wieder Kraft in die Glieder. Antarona verdrängte das Ziehen und Stechen in ihrem Fuß bewusst aus ihrem Gedächtnis, und sprang auf. Etwas unsicher kam sie so zu stehen, wie sie sich zu Beginn des Kampfes präsentiert hatte. Federnd auf beiden Beinen, etwas vornüber geneigt, erwartete sie ihren Übungspartner, der scheinbar ihr Feind geworden war.
Kadim ließ ihr nicht die Zeit, zu Atem zu kommen. Schon attackierte er sie erneut mit einem Streich aus seiner Körperdrehung heraus, der ihre Seite treffen sollte. Antarona reagierte um den Bruchteil einer Sekunde zu spät, sprang hoch, und sein Hieb traf ihn am angespannten Oberschenkel. Den Schmerz merkte sie erst, als sie wieder fest auf dem Boden stand. Er war erträglich. Sie tauchte unter dem nächsten Schlag hinweg, den er mit dem Schwung seines Körpers führte, drehte sich selbst um die eigene Achse, und ließ ihr Schwert in Kadims rückwärtige Seite fahren.
Sie hatte ihn an einer empfindlichen Stelle getroffen, denn er strauchelte und fiel wiederum auf die Knie. Die Zuschauer zollten Antarona lautstark Bewunderung. Die Jo-lie hatten gesehen, wie viel das zierliche Mädchen einstecken musste, das doch immer wieder mit dem Mut der Verzweiflung aufstand, um sich gegen den körperlich um ein Vielfaches Überlegeneren zu stellen.
Antarona wartete, bis Kadim sich wieder hochgerappelt hatte, und schwer atmend dastand. Kadim an ihrer Stelle hätte gewiss unverzüglich nachgesetzt, um ihr den Rest zu geben. Und Antarona selbst wäre mit einem Krieger der Wilden Horden wohl ebenso verfahren. Doch Kadim stand wie sie gegen Quaronas. Er war ein Verbündeter. Kadims persönlicher Hass auf sie war ihr unverständlich, sie brachte es nicht fertig, ihn zu verletzen, wenn er sich nicht erwehren konnte.
Kadim dachte über so etwas nicht nach. Seine Sinne waren verblendet vom Zorn seiner Eitelkeit. Ohne Antarona eine Chance zum Ausruhen zu geben, stürmte er von neuem auf sie zu. Diesmal rechnete er damit, dass sie sich wegdrehen, oder ausweichen würde, und setzte seinen Hieb von oben nach schräg unten an. Die harte Kante des Holzschwertes traf sie in der Taille, und warf sie aus der Bahn.
Wie eine im Flug getroffene Krähe wurde Antarona zur Seite in den Staub geschleudert. Sie rollte sich noch gekonnt ab, kam jedoch nicht sofort wieder auf die Beine, denn ihre Kräfte schwanden in dem zermürbenden Kampf zusehens. Kadim nutzte seine Stärke nun schamlos aus. Er sprang hinterher und wollte schonungslos auf das am Boden liegende Mädchen einschlagen.
Doch Antarona war durch seine Sinne, die er im Zorn nicht mehr zu kontrollieren vermochte, gewarnt. Als er breitbeinig über ihr stand, und mit seinem Holzschwert ausholte, rollte sie sich beinahe zu einer Kugel zusammen, schlüpfte zwischen seinen Beinen hindurch, und richtete sich hinter ihm wieder auf. Dieses Kunststück vollführte sie so schnell, dass Kadim nur dumm schauen konnte. Und als er begriff, wie sie sich ihm entzogen hatte, knallte ihr Schwert auf seine Nieren, genau auf die gleiche Stelle, die sie vorher schon getroffen hatte.
Antarona wirbelte um die eigene Achse und ließ das Schwert noch einmal dorthin treffen. Das war selbst für einen durchtrainierten Muskelprotz wie Kadim zu viel. Grunzend, wie ein Xebron knickte er ein, und fiel erneut auf die Knie. Auf sein Schwert gestützt verhielt er schwer atmend. Scheinbar leichtfüßig sprang Antarona um ihn herum.
»Nun, Kadim von Turu, gebt ihr auf?« Als er nicht antwortete, stützte auch Antarona ihre ausgestreckten Arme auf ihr Holzschwert, und sagte versöhnlich:
»Lasst es uns beenden, Kadim, ihr habt bewiesen, dass ihr hier der beste Krieger mit dem Schwert seid. Es mag nun genügen.« Kadim blinzelte sie aus tief liegenden Augen feindselig an.
»Euch mag es genügen«, stellte er fest, »doch mich fordert man nicht ungestraft heraus, und zieht sich zurück, wenn man meint, den Sieg vertan zu haben.«
Noch während er den Satz beendete, rissen seine kräftigen Arme das Holzschwert aus dem Sand. Die harte Kante traf Antarona wiederum am Unterschenkel. Auf seine Fairness vertraut, hatte sie viel zu spät reagiert. Die Zuschauer schrieen erschrocken auf, denn auch sie hatten nicht mit einem schnellen Streich gerechnet. Antarona lag am Boden und spürte Knie und Bein nur noch als explodierenden Schmerz, wenn sie sich bewegte.
Sofort war Kadim über ihr, holte aus, und hieb ihr das Holz in die Hüfte, hob wieder das Schwert und ließ es auf ihren Rücken hämmern. Verzweifelt versuchte sie ihr eigenes Schwert ihm entgegen zu halten, um wenigstens die größte Gewalt seiner Schläge abzufangen. Ihr Gegner stand wieder, trat auf ihre Fußgelenke und fixierte so ihre Beine.
Nun musste sie um ihr nacktes Leben bangen. In ihrer Not nahm sie alle Kraft zusammen, spannte ihre Bauchmuskeln zum Zerreißen an, wand ihren Oberkörper so weit herum, wie es ihr möglich war, und holte mit beiden Armen aus. Die Schwertspitze krachte auf Kadims Brustkorb. Er taumelte zwei Schritte zurück, hielt schwankend und wollte wieder vorwärts stürmen, um dem widerspenstigen Mädchen den Rest zu geben.
Doch dieses Mal reagierte Antarona zu schnell für ihn. Nur rein mechanisch, jeglichen Schmerz ignorierend, kam sie auf die Knie, beschrieb mit dem Holz einen Kreis, und zog die Kante von schräg unten herauf. Es kostete sie fast die letzte Kraft ihrer Arme. Doch der Hieb verfehlte seine Wirkung nicht, als die Holzklinge zwischen Kadims Beinen aufwärts fuhr.
Zunächst sah es so aus, als würde er zu einer Steilsäule erstarren. Doch dann beugte sich Kadim langsam vornüber, ließ sich auf die Knie fallen, und krümmte sich mit verzerrtem Gesicht im Sand zusammen. Der dumpfe Schmerz musste ihm bis in den letzten Nerv gehen. Antarona ließ es dieses Mal nicht dabei bewenden. Sie setzte nach, ebenfalls ziemlich angeschlagen, drückte Kadim ihr Holzschwert in den Nacken, und fragte für alle hörbar:
»Gebt ihr nun endlich auf?« Die Zuschauer jubelten Antarona zu. Und es waren nicht nur die jungen Männer, die ihr zugetan waren. Mittlerweile wurde sie auch von den Frauen bewundert, die von ihrem Helden nun eine andere Meinung hatten. Kadim hob seine Hand und sofort verstummte jeglicher Beifall.
»Tötet mich, so habt ihr gesiegt«, presste er gequält hervor. Antarona schüttelte unverständlich den Kopf, nahm ihm das Schwert aus dem Nacken, warf es achtlos beiseite, und winkte müde ab.
»Wozu?« Sie sagte es zu niemand Bestimmten, doch so laut, dass alle es hören konnten. Sie hatte schon genug Kraft vergeudet, sie war müde, so unendlich müde. Schleppend ging sie noch ein par Schritte bis zu einem der Grasköpfe, die überall aus der Weide sprossen. Ausgelaugt und kraftlos ließ sie sich darauf nieder, und starrte vor sich auf das Gras. Sie fragte sich, wozu dieser Kampf nun gut gewesen war.
Inzwischen waren auch Sebastian und den Bogenschützen das Auf und Ab des Anfeuerns und Jubelns aufgefallen. Immer wieder spähte Basti zu der Gruppe der Schwertkämpfer hinüber. Dabei ließ er immer mehr die Konzentration auf seine eigene Gruppe fahren. Irgendwann hielten ihm die Anfeuerungs- und Schreckensrufe etwas zu lange an. Sein Bauchgefühl sagte ihm, dass dort irgend etwas nicht stimmen mochte. Hielt Antarona mit ihrer Gruppe einen Wettstreit ab?
»Ich glaube, dort drüben gibt es Interessanteres zu sehen«, sprach er zu seinen Schützinnen und Schützen, »wir sollten uns das nicht entgehen lassen, oder?« Ohne die allgemeine Zustimmung abzuwarten, nahm er seine Waffen auf und setzte sich neugierig in Bewegung. Isane und Tiskaja flankierten ihn rechts und links wie eine Leibgarde, und der Rest der Gruppe folgte respektvoll hintenan.
Antarona rang immer noch nach Atem und betastete die Stellen, wo sie Kadims Schwert schwer getroffen hatte. Schmerzhaft verzog sie ihre Miene, als sie die Stellen berührte, die begannen blau anzulaufen. Als sie ihren Fuß massierte, stellte sie fest, dass dieser im Gelenk leicht angeschwollen war. In diesem Augenblick nahm sie wahr, dass der Schatten, den sie auf den Boden warf, sich plötzlich vergrößerte, ohne dass sie sich vornüber gebeugt hatte, oder aufgestanden war.
Sie wandte den Kopf und sah dass Kadim über ihr emporgewachsen war, wie eine Statue, die jemand von unsichtbarer Hand aufgestellt hatte. Mit beiden Armen hielt er das Holzschwert erhoben, und ehe Antarona reagieren konnte, ließ er es auf ihren Kopf niederfahren. Doch im letzten Moment fuhr ein weiteres Holzschwert dazwischen, blockte den heimtückischen Schlag ab, und eine der Kriegerinnen drängte Kadim von Antarona fort.
»Das reicht jetzt aber, der Kampf ist entschieden, Kadim. Ihr wurdet von einer Frau besiegt; nehmt es hin, oder lasst es. Doch ihr werdet Sonnenherz nicht hinterrücks angreifen, solange noch eine Frau stolze Kriegerin der Îval ist!« Das Mädchen, dass sich dem schlechten Verlierer entgegen gestellt hatte, war von gleicher Gestalt, wie Antarona. Sie trug ebenfalls nur den Schurz des Rali, hatte lange, dunkelbraune Haare, und eine dunkle Haut. Man sah ihr an, dass ein Teil ihrer Vorfahren das Blut der Oranuti in seinen Adern hatte.
Sie besaß feine, und doch keine lieblichen Gesichtszüge. Intelligent und revolutionär, so mochte man wohl ihr Wesen nach ihrem Antlitz interpretieren. Kadim, zunächst vom überraschenden Widerstand überrumpelt, fasste sich schnell wieder. Mit seinem kräftigen Unterarm stieß er das Mädchen zur Seite, so dass sie rücklings in den Staub viel.
»Kümmert euch um euren eigenen Kehricht, Weib. Wenn ich eine willige Magd brauche, so mögt ihr mir willkommen sein, doch wenn ich einen guten Rat brauche, so hole ich ihn mir woanders!«
Das Mädchen wollte gerade wieder auf die Beine springen, und sich ihm erneut in den Weg stellen, als der Kreis der Zuschauer sich verengte, und vornehmlich die Mädchen und Frauen sich zwischen ihn und Antarona drängten. Kadim schrie ihnen entgegen:
»Was, ihr auch? Was geht's euch an? Lasst sie ihren Kampf allein ausfechten. Wer bin ich denn, dass ich mir von so einer Hergelaufenen, die sich selbst Prinzessin nennt, beibringen lasse, wie ich mein Schwert zu führen habe!«
»Offenbar seid ihr nicht in der Lage, zu begreifen, dass wir nur gemeinsam gegen Torbuks Streitmacht antreten können. Ihr seid jemand, der es nicht ertragen kann, dass jemand anderer, und dazu noch eine Frau, besser ist, als er!«
Bastis Stimme ließ Kadim herumfahren. Gerade war Sebastian mit seiner Gruppe angekommen, und hatte sich den Weg durch die eng stehenden Zuschauer gebahnt. Furchtlos trat er dem riesenhaft und athletisch wirkenden jungen Mann entgegen. Der hob sein Holzschwert, und es war nicht ganz klar, ob er die Waffe gegen Areos führen wollte. Es kam auch nicht dazu, dies festzustellen.
Augenblicklich hatten Tiskaja und Isane einen Pfeil an die Sehne ihrer Bogen gelegt, und zielten beide auf den Kopf Kadims.
»Wagt es ja nicht«, sprach Tiskaja in scharfem Ton, »ihr würdet nicht mehr die Zeit haben, es zu bereuen.« Angesichts dieser überragenden Allianz gegen ihn gab er auf, und warf das Holzschwert den umstehenden Jo-lie demonstrativ vor die Füße. Mit verächtlichem Ton sagte er:
»Wenn ihr die Schwäche der Stärke vorzieht, so werden wir niemals etwas gegen Torbuk ausrichten können. Ihr tut mir leid. Und ihr wollt Krieger sein?« Sebastian trat vor, hob das Übungsschwert wieder auf und hielt es Kadim hin.
»Ihr seid ein begnadeter Kämpfer, junger Mann, doch wenn ich gegen Quaronas ziehe, brauche ich Männer und Frauen, die nicht nur mit der Waffe umzugehen wissen, sondern auch mit ihrem Kopf. Ich brauche Kriegerinnen und Krieger, die zusammen, miteinander, in einer Einheit kämpfen. Einzelne Krieger, so gut sie auch sein mögen, nützen mir nicht, wenn sie nicht nachdenken, und nur ihren eigenen Sieg im Sinn haben.«
Er trat noch einen Schritt auf Kadim zu, so dass sich ihre Nasen beinahe berührten. Basti mahnte ihn so leise, dass nur er es vernehmen konnte:
»Es mag eure Entscheidung sein. Ich brauche auch gute Kämpfer, die allein bestehen können, denn es gibt auch Dinge zu tun, die nur ein Einzelner zu tun vermag. Wenn ihr bereit seid, mit den Jo-lie, mit mir, und mit Sonnenherz gemeinsam zu kämpfen, so wird alsbald eure Zentare kommen, da ihr euch als herausragender Krieger bewähren könnt. Es ist eure Entscheidung, ob ihr bleibt, oder geht.«
Sebastian stieß ihm den Griff seines Holzschwertes vor den Bauch, um ihm einen Ruck zu geben, sich zu entscheiden. Zögernd nahm Kadim das Schwert, denn auf den Ruhm im Kampf um die Freiheit Falméras und Volossodas wollte er nicht verzichten. Sebastian nickte zufrieden.
»Wollt ihr mir euren Namen nennen, Krieger? Wie soll ich euch nennen, wenn ich euch eine besondere Aufgabe zugedacht habe?«
»So mögt ihr mich bei meinem Namen nennen, Herr, Kadim von Turu.« Basti reichte dem Mann, der sich allmählich versöhnlich zeigte, die Hand, zog ihn noch ein Stück zu sich heran, und sprach beinahe im Flüsterton:
»Ihr werdet Sonnenherz als eure Führerin, als Prinzessin, und als eure künftige Königin anerkennen, ist das klar? Kämpft gegen sie zur Übung, doch erhebt niemals wieder die Hand gegen sie, oder gegen eine meiner Kriegerinnen. Tut ihr es doch, so lasse ich euch vierteilen, habt ihr das verstanden?« Kadim nickte beschämt, und Basti fügte hinzu:
»Unser Feind ist dort drüben, hinter dem großen Wasser, vergesst das nicht. Dort mögt ihr euch nach all euren Gelüsten austoben.«
Dann wandte sich Sebastian dem Mädchen zu, das den Mut gehabt hatte, gegen die Entgleisung Kadims mit beherzter Tat einzuschreiten. Er nahm ihre Hand, und zog sie in die Mitte des Geschehens. Laut sagte er:
»Ihr habt den Mut gehabt, für eine richtige und gerechte Sache einzutreten, ohne auf euer eigenes Wohlbefinden zu achten. Das macht euch zu einer großen Kriegerin. Wie nennt man euch, Tochter der Îval?« Das Mädchen straffte sich und hob stolz den Kopf.
»Ich bin Te-itika, Herr, aus einem Dorf nahe Falméra. Meine Mutter ging zu den Göttern, als mein Vater mich zum ersten Mal in das Licht Talris hielt.« Basti blickte ihr in die Augen und sah Ehrlichkeit und die flammende Entschlossenheit ihres Herzens.
»So teilt ihr mit Sonnenherz fast ein gleiches Schicksal.« Und laut für alle hörbar, verkündete er: »Diese hier, die sich Te-itika nennt, wird die Kriegerinnen, welche mit den Schwertern üben, stets dann führen, wenn Sonnenherz nicht bei ihnen ist. Die jungen Männer aber sollen von Kadim geführt werden, welcher die hohe Kunst des Schwertkampfes allen Jo-lie vermitteln mag.«
Schließlich wandte er sich endlich seiner Frau zu. Er trat zu ihr, hob sie in seine Arme, und trug sie für alle zum Zeichen ihrer Verbundenheit aus dem Kreis der Jo-lie. Antarona ließ es geschehen, denn sie war stolz darauf, allen Augen einen Mann an ihrer Seite zu präsentieren, der innere, wie äußere Stärke zeigte. Verliebt schmiegte sie ihren Kopf an seine Schulter, und schlang die Arme um seinen Hals. Basti küsste ihr staubiges Gesicht, und die sanften Rundungen ihrer Brüste, und sagte leise:
»Ich danke den Göttern, dass dir nichts Schlimmeres geschehen ist. Du musst mir aber versprechen, dass du dich nie wieder auf eine solche Sache einlässt. Ich will nicht bei jeder deiner Übungsstunden vor Angst vergehen müssen, verstehst du?« Antarona versprach es mit schwacher Stimme.
Demonstrativ trug Basti seine Frau durch das ganze Dorf, bis hin zu ihrer Hütte auf der kleinen Landzunge. Ihr weicher, warmer Körper lag wie ein süßes Verlangen in seinen Armen, wie etwas, das ihm Sinn und Wärme seines Lebens spendete, das aber gleichzeitig unschuldig und hilflos wirkte, und seinen Beschützerinstinkt weckte. In diesem Augenblick war Antarona für ihn keine Kriegerin; sie war nur noch seine tiefe Liebe, die er festhalten und an sich drücken, und nie wieder loslassen wollte. Er legte sie in der Jaen-tè auf das weiche Lager, und ging, frisches Wasser vom Fluss zu holen.
In der Hütte verstaute er Antaronas Waffen unter der Kaminsohle, dann wusch er ihre Wunden, die zumeist nur als Blutergüsse unter der Haut lagen.
»Ich will, dass du fortan solche Auseinandersetzungen bleiben lässt«, sagte er, und es klang wie ein erlassenes Gesetz, klar und kompromisslos. Antarona sah ihn mit großen, unschuldigen Augen, mit ihrem entwaffnenden Blick an. Basti ging nicht darauf ein.
»Ich meine es ernst«, fügte er nachdrücklich hinzu. »Himmel noch mal, ich kann doch nicht ständig aus Angst um dich vergehen, und gleichzeitig einen Krieg gegen Torbuk führen!« Seine Stimme bekam einen vorwurfsvollen, deutlicheren Charakter. Antarona ergab sich in seine Autorität und Fürsorge, etwas, das sie nie zuvor einem Mann zugebilligt hatte, und es auch keinem weiteren gestatten würde. Nicht einmal Hedaron, ihrem Vater, hatte sie so viel Einflussnahme auf ihr Leben, auf ihr Handeln gestattet.
Sebastian tastete ihren Fuß ab. Gebrochen schien er nicht zu sein, doch die Verstauchung und Prellung setzte das Krähenmädchen erst einmal außer Gefecht. Er wiegte nachdenklich den Kopf hin und her, und sagte schließlich:
»Den Aufbruch nach Falméra wirst du wohl auf dem Rücken eines Pla-ka anführen.« Antarona wollte protestieren, doch Bastis gebieterischer Blick ließ sie ihren Kommentar hinunterschlucken. Etwas, das sie zuvor noch nie getan hatte, empfand sie nun als wohltuend, als den Gedanken an ein Zuhause, das sie seit ihrer Kindheit niemals wirklich gehabt hatte: Ihre Selbstständigkeit und ihren Stolz unter das Gefühl ihrer Liebe zu stellen.
In diesem Moment klopfte jemand an die Tür der Hütte. Antarona wollte auffahren, doch Sebastian drückte sie sanft aber bestimmt wieder auf ihr Lager zurück. Ruhig, wie im Ablauf eines vorgegebenen Plans, zog Basti sein Schwert aus dem Futteral, stellte sich seitlich neben die Tür und zog den Riegel zurück. Nichts geschah. Mit dem Fuß stieß er gegen das Holz, und die Tür schwang auf. Gleichzeitig fuhr das Schwert in seiner Hand hoch. Doch er ließ es sogleich wieder sinken.
Draußen standen Vesgarina und Frethnal. Basti bedeutete ihnen einzutreten, da drängte sich die stumme Wenderin, mit einem kleinen Bündel bewaffnet, auch schon an ihm vorbei, und eilte zu Antaronas Lager, ihn keines weiteren Blickes würdigend. Sebastian zog die Augenbrauen hoch und folgte mit seinem erstaunten Blick dem blonden Mädchen, die sich inzwischen mit der Selbstsicherheit einer stolzen Kriegerin bewegte.
Vesgarina untersuchte ihre Freundin gründlich, dann drehte sie sich um. Basti sah sie unsicher und fragend an. Er war kein Sanitäter, und die Verarztung seiner Frau schätzte er eher stümperhaft ein. Doch wider Erwarten erntete er von der Wenderin einen anerkennenden Blick. Dann wandte sich das Mädchen wieder Antarona zu.
Er drehte sich nun zu Frethnal herum, der immer noch unschlüssig draußen vor der Hütte stand und neugierig hereinspähte. Basti forderte ihn mit einer fahrigen Handbewegung auf, einzutreten, und verschloss die Tür hinter seinem Diener, der nun wie ein überflüssiges Objekt im Raum stand.
»Gina hat mir keine Ruhe gelassen. Hat mich so lange gedrängt, bis ich nachgegeben habe. Hatte ihr gesagt, dass ihr Sonnenherz gut versorgen werdet, aber sie wollte sich selbst davon überzeugen, dass alles...«
»Ist schon in Ordnung so«, unterbrach ihn Basti, »die beiden sind eben unzertrennlich, und ehrlich gesagt, beruhigt mich das. Außerdem seid ihr beiden unsere Freunde, unsere Kampfgefährten, und unsere Vertrauten.«
Frethnal straffte sich, und Basti spürte, wie gut ihm dieses Lob tat. Er nahm seinen einstigen Kammerdiener bei den Schultern, öffnete die Tür, und schob ihn hinaus.
»Die beiden wollen sicher etwas unter sich sein, meint ihr nicht auch?« Basti ließ den Riegel hinter ihnen zufallen, und wollte sich mit Frethnal auf die Verandakante setzen, als sein Blick auf den Feuerplatz fiel. Dort, wo das Elsirenfeuer gebrannt hatte, lagen noch die Baumstämme darum herum, auf denen die Jo-lie gesessen hatten.
Auf diesen Hölzern saß nun, mit etwas Übertreibung betrachtet, das halbe Dorf. Alle waren sie gekommen. Isane und Tiskaja, Fiala mit Ravid, Daffel und Èliza, Te-itika und Rahan, sowie einige andere Jo-lie, die Basti bereits vertraut waren, ohne dass er ihre Namen kannte. In diesem Augenblick trat noch ein kleiner Trupp aus dem Schatten der Bäume hervor, welche ihre kleine Landzunge zum Dorf hin begrenzte.
Sebastian kniff die Augen zusammen, und spähte den Ankommenden entgegen. Er verlieh seiner Überraschung Ausdruck, indem er ausrief:
»Na die müssen ja geflogen sein!« Die anderen erhoben sich von den im Kreis liegenden Rundhölzern, und erwarteten ebenfalls die kleine Gruppe. Halem, Permina, Femra und Simas, Tariz und Miranor sahen müde und ein wenig verdreckt aus. Doch sie grinsten breit, als sie herankamen, und Bastis erstauntes Gesicht sahen. Und sie hatten noch ein weiteres Mädchen bei sich, die Basti jedoch erst auf den zweiten Blick erkannte: Raspina, die Tochter des Oranuti- Fürsten Jamálin, der sein Töchterchen gern an Areos Seite gesehen hätte.
Basti umarmte alle Sieben, und wunderte sich laut, dass sie bereits von Falméra zurück waren. Bei Raspina, die sich einmal in ihn verliebt hatte, hielt er sich ein wenig mehr zurück. Doch sie schien die Enttäuschung überwunden zu haben. Sie war in kurzer Zeit eine kluge, junge Frau geworden, die ihm das Gefühl gab, nicht mehr, als ein langjähriger Freund zu sein.
»Genrath, jener, der über die Tore wacht, hat eure Botschaft erhalten«, berichtete Tariz, »Tomrack ist vor den König gebracht worden, und soll vor dem Rat aussagen. Wir haben uns ohne zu verweilen wieder auf den Rückweg gemacht.«
Sebastian führte die kleine Gruppe zur Feuerstelle. Sofort gingen einige Mädchen los, um Holz zu holen. Wenig später brannte ein wärmendes Lagerfeuer. Kein Elsirenfeuer, nur ein kleiner Feuerkegel beleuchtete zuckend die Gesichter ringsum. Einige Mädchen hatten sich Felle umgehängt, denn die Abendluft wurde kühl, und sie trugen ausnahmslos nur ihren Ra-li und ihre Waffen.
Kurz darauf öffnete sich die Hüttentür, und Vesgarina kam mit Antarona heraus. Das Krähenmädchen bewegte sich geschmeidig und sicher wie immer. Von den Folgen des ungleichen Kampfes war nichts mehr zu entdecken. Selbst die Blutergüsse waren nicht mehr zu sehen. Sie hatte ihren Körper mit Mondöl eingerieben, und des Feuers Schein schimmerte auf ihrer Haut wie das Sonnenlicht auf einer blank polierten Bronzestatue.
Die Mädchen bestürmten Antarona, und schnatterten wie eine Schar Gänse, wenn es Futter gab. Der Kampf hatte sich in allen Einzelheiten herumgesprochen, und die Mädchen und Frauen Mehi-o-rateas hatten ihre Sympathien verlagert.
Selbst jene, die Kadim angehimmelt hatten, bewunderten nun Sonnenherz. Es ging nicht mehr darum, einen gut aussehenden, wohl gebauten Krieger zu erobern. Der Held war in den Augen seiner weiblichen Bewunderer allein durch sein Verhalten in sich zusammengefallen. Nun überflügelte der Gedanke, dass die Kriegerinnen ihren männlichen Kampfgefährten in nichts nachstanden, die Gemüter der Mädchen. Mit Antaronas Beispiel bildeten sie eine gemeinsame Front gegen jeden Mann, der sie nicht als gleichwertige Kriegerinnen anerkannte.
Sebastian Lauknitz platzte fast vor Stolz auf seine junge Frau, die in all ihrer Anmut und scheinbarer Zerbrechlichkeit so viel Stärke und Mut nach außen trug. Er schloss sie in seine Arme und presste sie so fest an sich, dass sie ihm stöhnend ins Ohr flüsterte:
»Nicht so fest, Ba - shtie, euer Engelsen spürt noch den Schmerz des Kampfes.« Da hob er sie auf, und trug sie auf seinen Armen zu ihrem Platz am Feuer, und setzte sie sanft auf den Baumstamm, als wäre sie ein Gebilde aus filigranem Eis. Er setzte sich daneben, legte seinen Arm schützend um ihre Schultern, und zog sie sanft zu sich heran.
Tariz, Permina, und die anderen Rückkehrer berichteten noch von den Neuigkeiten aus Falméra, und ließen Basti Zeit, sich die Worte zu überlegen, die er an seine engsten Vertrauten richten wollte, die, wie er feststellte, immer zahlreicher wurden.
Nach einer Weile kamen Fiala und Èliza heran, nahmen Antarona in ihre Mitte, und zogen sie mit sich ein Stück weit abseits, auf einen anderen Baumstamm. Sebastian sah die beiden Mädchen tadelnd an, und Fiala warf ihm schnippisch über die Schulter hinweg zu:
»Nun schaut nicht so erschreckt, wir werden euch eure Prinzessin schon nicht rauben, Areos, Herr.« Und Èliza fügte beschwichtigend hinzu:
»Wir haben etwas zu reden, das nur Frauen angeht!« Basti gab den Versuch eines Protestes auf, und winkte müde ab. Statt dessen rückte Frethnal zu ihm auf.
»Meint ihr, es war klug, Kadim mit der Aufgabe zu betrauen, die jungen Burschen am Schwert üben zu lassen? Was ist, wenn er wieder das Maß verliert, und sich über euch aufschwingt?« Freundschaftlich legte Basti ihm die Hand auf den Arm, und sagte:
»Guter Frethnal, eure Sorge ist berechtigt. Doch ist es klüger, sich einen Verbündeten zu machen, als einen Feind, oder?« antwortete er, und erklärte weiter:
»Hätte ich ihn erniedrigt, so wäre er womöglich zu unseren Gegnern übergelaufen. So habe ich ihn erhöht, ihm Verantwortung übertragen, die er bewältigen muss. Damit haben wir einen guten Kohortenführer, der sich aufs Kämpfen versteht. Den Rest wird er schon noch lernen, wenn ihm echte Schwertklingen um die Ohren fliegen. Er kennt nun seine Grenzen, und ich glaube, er wird sie respektieren.«
Frethnal hob skeptisch und gleichgültig zugleich die Schultern. Er überlegte einen Moment, dann meinte er wie beiläufig, und wie zu sich selbst:
»Hoffen wir, dass er nicht wieder auf eines der Mädchen losgeht, weil sie ihm womöglich über ist.« Basti blickte ihn forschend und mit verengten Augen von der Seite her an. Frethnal traute diesem jungen Emporkömmling nicht, und machte keinen Hehl daraus.
»Frethnal, was glaubt ihr, warum habe ich Te-itika zur Führerin der Kriegerinnen mit dem Schwert bestimmt? Sie hatte den Mut, Kadim entgegenzutreten. Sie wird sich von ihm nicht einschüchtern lassen, und die Mädchen und Frauen vor ihm schützen. Und gibt es dennoch einen Zwischenfall, so kommt sie zu mir, und ich werde die passenden Schritte überlegen.«
Frethnal nickte, und blickte dabei auf seine Stiefel. Basti wusste, dass ihn seine Antwort nicht beruhigt hatte. Befürchtete er etwa, Kadim könnte gefallen an seiner Vesgarina finden? Möglich. Doch er hielt Vesgarina für klug genug, auf so einen Pfau nicht hereinzufallen. Sie liebte ihren Frethnal, und was Kadim Antarona angetan hatte, würde sie niemals vergessen. Eher wahrscheinlich war, dass Vesgarina bereits einen heimlichen Hass auf Kadim entwickelt hatte.
Nachdenklich sah Basti zu den Mädchen hinüber, die im Kreis beieinander sitzend, tuschelnd und kichernd die Köpfe zusammensteckten. Sie alle waren gleich. Weder äußerlich, noch im Verhalten unterschieden sich die anderen jungen Frauen von Antarona. Ein neutraler Beobachter mochte nicht vermuten, dass eine von ihnen eine wahre Prinzessin war. Antarona sah, und gab sich als eine vom Volk. Er war glücklich, mit dieser Frau verbunden zu sein.
Antarona blickte plötzlich auf, und sah zu ihm hinüber, als hätte sie seine Gedanken erhört. Vermochte sie seine Sinne auch über diese Entfernung, und trotz der Ablenkung durch die Mädchen zu lesen? Sie lächelte. Nun war er sicher, dass sie jede seiner Empfindungen spürte. Und als er sich erhob, um eine kleine Ansprache zu halten, stand sie auf, und kam zu ihm herüber. Jedem möglichen Missverständnis zum Trotz, stellte sie sich an seine Seite. Jeder sollte sehen, dass sie zu ihm stand, ganz gleich, was er zu sagen hatte.
Die Freunde verstummten, und erwarteten mit Spannung seine Worte. Es war so still, dass man das Knacken im Feuer, und die Zikaden gleichermaßen hören konnte. Basti hob die Hand, und begann:
»Freunde... Ich möchte euch danken, dass ihr alle gekommen seid, um zu sehen, wie es Sonnenherz geht. Daran sehe ich, dass ich euch vertrauen kann; dass ihr zu uns steht. Darum will ich euch etwas sagen, das ihr vielleicht schon wisst, oder zumindest ahnt.« Er blickte in die Runde, in jedes Augenpaar, und sah feste Entschlossenheit. Basti nickte leicht, und fuhr fort:
»Wir werden einen sehr langen, und sehr schweren Weg zusammen gehen. Er wird uns Kraft, Ausdauer, Entbehrungen und Schmerzen kosten, vielleicht sogar das Leben. Wir werden hungern, frieren, schwitzen und von den Anstrengungen erschöpft auf das Lager fallen. Aber wenn ihr das auszuhalten bereit seid, dann kann ich euch versprechen, dass wir das Val d' Aróne, das Val Mentiér, Val Etynn, und die Täler weiter in der schlafenden Sonne erreichen werden, dass wir noch viele Freunde finden, die mit uns kommen werden, und dass wir Torbuk an den Taleingängen aufhalten werden.« Wieder sah Basti von einem Gesicht ins nächste.
»Und noch etwas kann ich euch versprechen. Ich sehe hier viele, die sich zueinander verbunden fühlen. Einige von euch erleben miteinander die Liebe, und ich weiß, weil es mir ebenso geht, dass ihr sie leben wollt. Dennoch zieht ihr mit uns, und bringt euch, und was ihr liebt in Gefahr. Doch wenn wir Erfolg haben, dann könnt ihr euch in fruchtbaren Tälern niederlassen, und werdet unter Freunden willkommen sein. Es gibt dort Seen, von Elsiren gehütet, grüne Weiden, klares Wasser, soviel ihr wollt, und so viel Wild, dass ihr nicht zu hungern braucht. Doch dieses Land braucht zuerst euch! Wir müssen es befreien, schützen und behüten. Dann wird es uns zum Dank gut leben lassen. Wer mag, kann freilich nach Falméra zurückkehren, denn wenn Torbuk und Karek besiegt sind, besteht auch für Falméra keine Gefahr mehr.« Begeisterter Beifall erhob sich. Basti aber hob die Hände, und sprach weiter:
»Aber es wird Opfer kosten. Viele schmerzliche Opfer. Vergesst jedoch niemals, dass wir sie für unsere Freiheit, und für ein friedliches Leben bringen. Wenn euch das nicht schreckt, so seid mit all den anderen, wenn Talris den höchsten Punkt seines Laufs erreicht hat, auf dem Dorfplatz. Von dort werden wir gemeinsam nach Falméra ziehen. Ich danke euch allen, natürlich auch im Namen des Königs Bental.«
Damit verbeugte sich Sebastian vor seinen Freunden, und erntete damit neuen Respekt. Niemals zuvor hatte sich bei den Îval ein Fürst, Clanführer, oder jemand aus der Königsfamilie vor seinen Untertanen, und Untergebenen verbeugt. Basti setzte ein Zeichen. Er begann zu praktizieren, was er im Val Mentiér vor dem Achterrat gepredigt hatte. Alle Menschen im Volk waren gleich. Und Dank und Anerkennung ging für Jeden von Jedem aus.
Die neue Art und Weise des Umgangs miteinander gefiel gerade den jungen Leuten der Jo-lie, die ohnehin verweigernde, revolutionäre Gedanken gegen die alten, eingefahrenen und überholten Gepflogenheiten und Zwänge ihrer Eltern und Großeltern hegten. Die alten Traditionen jedoch, die Freude, Tanz, Ausschweifung und Spaß verhießen, waren ihnen nach wie vor willkommen. Diese jungen Menschen, die Sebastian nun wie eine auf ihn eingeschworene Armee führte, lechzten nach Neuem. Sie folgten dem Aufbruch in eine neue Ära, in der Veränderung, an der sie aktiv mitwirken konnten, die treibende Kraft war.
Sebastian musste angesichts eigener Erkenntnis in sich hinein schmunzeln. Schon immer in der Geschichte der Menschheit, egal, in welchem Land, waren es die jungen Menschen gewesen, die mit Neugier, und dem Streben nach Glück Neues bewegten. Nun hatte der Aufbruch auch die Jo-lie, die Kinder der Îval Falméras erfasst.
Ziemlich früh verabschiedeten sich die Gäste des Lagerfeuers, und begaben sich in ihre Quartiere. Die nächste Nacht würden sie alle in tragbaren Zelten, oder nur in Decken eingerollt verbringen. Antarona und Basti warteten, bis der Schein der letzten Fackel zwischen den Bäumen zum Dorf hin erloschen war.
Sie holten ihre Messer, die Leichtesten ihrer Waffen, und begaben sich zum Flussstrand. Das Feuer ließen sie brennen. So konnten sie sich nach dem Bad rasch trocknen. Doch selbst ohne das Lagerfeuer wäre ihre Haut binnen kürzester Zeit getrocknet, denn die Temperatur fiel nun selbst in der Nacht nicht mehr weit ab. Allerdings bestand eine hohe Luftfeuchtigkeit, und mancherorts wusste man sich vor aggressiven Moskitos nicht zu retten.
Das Klügste war, mit dem Körper unter Wasser zu bleiben, um den Attacken der kleinen, lästigen Plagegeister zu entgehen. Antarona sprang zuerst in den Fluss. Doch sie tauchte nicht, sondern ließ sich an einer ruhigen Stelle, abseits der Strömung im Kreis treiben. Ihre Knochen schmerzten noch vom Kampf. Das Pfeile-Spiel mochte bis zur nächsten Gelegenheit warten.
Sebastian spürte sofort, dass sein Krähenmädchen an diesem Tag keinen Bedarf an akrobatischen Tauchspielen mehr hatte. Also genossen sie es, faul im Wasser zu liegen, und die Sterne zu beobachten, bis sie müde genug waren, sich in die Hütte zurückzuziehen.

Am Morgen glich das Wettermuster jenen der vorangegangenen Tage. Es war frisch, aber warm, und es kündigte sich erneut ein drückend heißer Tag an. Grund genug für Antarona und Sebastian den Sonnelauf damit zu beginnen, womit sie am Abend zuvor aufgehört hatten.
Antarona fühlte sich schon wieder besser, und sie tobten ausgelassen beim Pfeile-Spiel in den frischen Fluten, die von den Bergen herab kamen. Dort oben musste in der Nacht ein Gewitter niedergegangen sein, denn das Wasser hatte nichts mehr von der warmen Brühe des Abends.
Sebastian musste zugeben, dass Antarona die ersten zwei Runden für sich entschieden hatte. Irgendwie hatte sie es immer wieder geschafft, mit den Händen voller Steinchen vor ihm aufzutauchen. Nun versuchte Basti sie auszutricksen. Er tauchte stromaufwärts von ihr unter, und ließ sich von der Strömung des Flusses an ihr vorüberziehen. Dann griff er in den Grund, holte sich zwei Hände voll imaginärer Pfeile, und schwamm näher zum Ufer hin, wo das Wasser nicht so tief war, und er nicht so rasch abgetrieben wurde.
Doch Antarona schien seine List geahnt zu haben. Als er auftauchte, spürte er ihre Attacke wie einen Schwarm Wespen auf seinem Kopf. Bis er sie ausgemacht hatte, war sie längst wieder abgetaucht, und seine Steinchen hinterließen nur eine Vielzahl von Ringen auf der Wasserfläche. Runde um Runde versuchte er sie zu überlisten, doch jedes Mal erwartete ihn das Krähenmädchen mit prasselnden Geschossen. Wie machte sie das? So viel Zufälle konnte es ja nicht geben!
Erneut tauchte Basti ab, füllte seine Hände gleich zu Beginn, und strampelte dann unter Wasser stromauf. Doch dieses Mal machte ihm der Zufall einen Strich durch die Rechnung. Er und Antarona prallten in der Mitte des Flusses aneinander. Vor Schreck ließ er die Steinchen fallen. Sofort versuchte er sie zu fassen zu bekommen, erwischte aber nur ihr Fußgelenk.
Antarona ihrerseits fühlte sich in seiner Hand gefangen, wusste, dass sie ihm mit Flucht nicht entkommen konnte, und ging zum Angriff über. Ihre Finger krabbelten wie kleine Krebse über Bastis Seite, denn sie wusste, dass er dort besonders empfindlich war. Das Kitzeln durchzuckte ihn überraschend, und er ließ ihren Fuß los. Sofort aber setzte er nach, und bekam sie mit den Armen um ihre schmale Taille zu fassen.
Das Mädchen in seiner Umklammerung begann derart zu strampeln, dass er den Halt verlor, und sie beide ein Stück weit abgetrieben wurden. Er dachte gar nicht daran, seinen Vorteil aufzugeben, und Antarona loszulassen. Mit den Beinen ruderte er näher zum Ufer hin, um wieder Fuß zu fassen, doch Antarona bewegte sich konträr. Sie wusste, dass sie ihm nur im tiefen Wasser überlegen war.
So kämpften sie eine Weile hin und her, bis das Krähenmädchen zum letzten Mittel weiblicher Überlegenheit griff, um ihn erneut zu überlisten. Sie tat, als erschlafften allmählich ihre Muskeln, und wand sich zunächst wie ermüdet in seiner Umklammerung. Als sie bemerkte, dass Basti wieder Stand im Wasser hatte, und sie ihn ohnehin nicht umzuwerfen vermochte, begann sie ihre Reize auszuspielen, derer sie mehr als gewiss war.
Wie zufällig streifte sie mit ihrem Gesäß immer wieder Bastis Schoß. Sie wusste, dass sie damit Begehrlichkeiten weckte. Zusätzlich versuchte sie sich so in seinem Griff zu winden, dass seine Unterarme ihre Brüste berührten. Ihre Taktik blieb nicht lange ohne Erfolg. Basti versuchte sie fester an sich zu ziehen, und sie spürte seine steigende Sehnsucht nach ihrem Körper. Sie hatte ihn in der Falle. In der Venusfalle!
Um seine Schwäche noch weiter auszunutzen, schlang sie ihre Beine weit oben um seinen linken Oberschenkel und begann zu rudern, als wollte sie sich von ihm losreißen. Tatsächlich aber sorgte sie dafür, dass ihr Schoß auf Bastis angespannten Muskeln hin und her rutschte. Dass sie gar nicht mehr versuchte, sich von ihm abzustoßen, bemerkte er in der aufkeimenden Erregung gar nicht. Für ihn galt es nur noch das Objekt seiner Begierde näher an sich zu drücken.
Antarona ließ ihm das Gefühl, dass sie sich ihm willig ergab, und sie musste sich eingestehen, dass selbst ebenfalls drohte schwach zu werden. Seine kräftigen Beinmuskeln zwischen ihren Schenkeln zu spüren, raubte auch ihr den Kampfgeist. Doch der Trotz in ihrem Wesen überwog. Klein beigeben, nur weil sie eine Frau war? Zu lange hatte sie in ihrem eigenen Schatten der widerspenstigen Kriegerin gelebt. Ihr Stolz gebot, dass sie Basti in seine Schranken wies. Anschließend konnte sie ihn mit ihrer Sanftmut und Anhänglichkeit belohnen.
Als Basti ihren reizvollen Berührungen fast erlegen war, und seine Hände begannen, hoffnungsvoll nach ihren Rundungen zu tasten, sah sie ihre Chance. Mit einem Ruck rammte sie ihm die Ellenbogen in die Seiten, winkelte die Beine an, ihre Füße bekamen seine Beine zu fassen, und mit aller Kraft stieß sie sich von ihm ab. Der plötzliche Stoß und ihre flinke Bewegung machten es ihm unmöglich, das glitschige Wesen zu halten.
»Na warte, du kleine Schlange«, rief er ihr hinterher, als sie unter ihm hinweg tauchte. Doch so sehr Basti sich bemühte, er bekam ihren wendigen, biegsamen Körper nicht noch einmal zu packen. Es wunderte ihn, dass sie schon wieder so viel Kraft besaß, sich nach Minuten langem Ringen von ihm zu befreien. Sie machte sich einen Spaß daraus, ihn zu reizen und dann abzuservieren.
Tatsächlich wollte Antarona ihn provozieren, um seine Begierde zu wecken. Im letzten Sonnenlauf fühlte sie sich zu schlapp und zu müde dazu. Doch nach einer Nacht ausgedehnten Schlafes, vermochte sie wieder jeden Schalk locken. Sie wusste, dass Ba - shtie nicht eher ruhen würde, bis sie in seinen Armen hielt. Und das Verlangen, dass sich in ihr aufbaute, war ebenfalls angefüllt von wilden Phantasien.
Doch kampflos wollte sie sich ihm nicht hingeben. Er sollte sie erobern, er sollte sie im Rausch seiner Begierde einfangen. Wenn sie gewollt hätte, so wäre ihm das niemals gelungen. Aber Antarona war selbst in einer Sehnsucht gefangen, die nach seiner Nähe, nach seinen kräftigen Muskeln, nach seiner Zärtlichkeit schrie.
So schwamm sie zum Ufer, an eine Stelle, die vom Wasser her gut zu sehen war. Ein abgeschälter, blanker Baumstamm lag parallel zur Wasserkante am Strand, gerade mal einen Meter vom Fluss entfernt. Wahrscheinlich hatte der letzte Regen, der den Strom anschwellen ließ, ihn an dieser seichten, sandigen Stelle angespült. Antarona kroch aus dem Wasser und zog sich mit den Armen am Stamm hoch, und klammerte sich an das warme, feuchte Holz, um das Wasser von ihrem Körper abtropfen zu lassen.
Basti hatte aufgegeben, seine kleine Frau erneut einzufangen. prustend tauchte er auf, und sah sich um. Da er zunächst die Wasserfläche nach Blasen, oder kleinen Strudeln absuchte, die Antarona unter Wasser verraten hätten, nahm er die Bewegung am Ufer zunächst gar nicht wahr. Doch dann fixierte sein Blick etwas, das sein Herz höher schlagen ließ.
Wie eine Amphibie kroch Antarona aus dem Wasser, und zog sich auf den gestrandeten Baum, der einladend im Sand lag. Ihr nasser, makelloser Körper glänzte wie lackiert, spiegelte stellenweise das Sonnenlicht, und verlieh ihren verführerischen Rundungen zusätzlich Plastizität. Wie aufgebügelt klebte ihr Ra-li auf ihrem Hintern, und weil sich das nasse, dünne Leder an jede Form anschmiegte, und sich in Farbe von ihrer Haut nicht unterschied, mochte einem fremden Betrachter einfallen, der Fluss hätte ein nacktes Mädchen geboren.
Sebastian ließ dieser Anblick nicht kalt. So lautlos wie möglich schwamm er zu der Ursache seiner permanenten Sehnsucht hinüber. Wie ein Krokodil auf Beutezug schlich er sich an, und kam hinter Antarona hoch. Es war dumm zu glauben, sie bemerkte ihn nicht.
Die Tropfen, die von seinen Haaren, von seinem Körper zurück ins Wasser fielen, hatten ihn längst verraten. Doch Antarona verharrte still, innerlich angespannt. Die Ungewissheit, wie er sie eroberte, wie er sich ihr näherte, wo er sie zuerst berühren würde, reizte sie. Ihr ganzer Körper zitterte, war elektrisiert, erwartete seine Hände, seine Liebkosungen, seine Zärtlichkeiten. Und mit ihr schien der Fluss, der Wald, schien die ganze Welt den Atem anzuhalten. Die Vögel schienen den besonderen Moment zu spüren, und verstummten, die Zeit schien stehenzubleiben, und sie ließ sich in das Gefühl der sie umspülenden Liebe fallen.
Dann lagen sie Seite an Seite, ihre Hände ineinander verkrallt, auf dem Strand, schweißnass und zu erschöpft, um sich noch zu rühren. Basti legte ihr seinen Arm, der ihr bleischwer vorkam, um die Schulter und barg sein Gesicht an ihrer Wange. Als Antarona ihm mit dem Finger über die Seite fuhr, erschauerte er.
»Schön, dass ihr wieder da seid, Ba - shtie«, murmelte sie in kehliger, rauer Stimme. Ihre Stimmbänder waren offenbar vom heftigen Atmen, oder von ihren spitzen Schreien wund geworden. Basti küsste zärtlich ihre Brüste, und ihren Bauch und raunte ihr zu:
»Schön, wieder da zu sein!« Glücklich und zufrieden schliefen sie ein...

Die Sonne stand hoch am Himmel, als ein Nin-ga-la, ein Nachahmervogel, der in der Krone irgendeines Baumes saß, sie weckte. Erst bei genauerem Hinhören konnte Sebastian heraushören, was dieser Vogel in wer weiß welchem Winkel der Insel aufgeschnappt hatte.
Tötet sie endlich, tötet sie beide, tötet sie endlich, flötete das Tier aus dem Blätterdach herab. Als der Sinn des Nachgeplapper des Vogels in Bastis Kopf drang, war er auf einem Mal hellwach. Auch Antarona setzte sich auf, als wäre sie mit einem unsichtbaren Band mit ihm verbunden. Sie lauschten, und hörten dem Nin-ga-la eine Weile zu.
»Ich schätze, der war in der Nähe, als der Gor landete, und die beiden Frauen beschlossen hatten, uns in das Reich der Toten zu schicken«, kommentierte er die sich wiederholenden Rufe aus dem Blättergewirr, während er seinen Ra-li suchte, und sich das schmutzig gewordene Leder um die Hüften hängte. Antarona stand langsam auf, lauschte, und blieb nackt, wie die Götter sie geschaffen hatten, angespannt und nachdenklich stehen. Dann schüttelte sie wie in Zeitlupe den Kopf.
»Nein, Ba - shtie«, sagte sie leise, »zu lange her. Nin-ga-las merken sich, was sie gehört haben einen, vielleicht zwei Sonnenläufe lang, nicht länger. Was dieser hier spricht, hat er erst vor wenigen Zentaren gehört«, erklärte sie. Basti sah sie überrascht an.
»Das hieße ja, die zwei Mordweiber sind uns immer noch auf den Fersen.« Er ließ es als Feststellung und Frage zugleich klingen. Antarona starrte wie abwesend in eine imaginäre Weite und nickte langsam und bedächtig. Immer noch lauschte sie dem Vogel, als könnte sie aus seinem Rufen ergründen, wann und wo er die Worte aufgeschnappt hatte.
»Wenn ich daran denke, dass wir hier so friedlich unter den Bäumen geschlafen haben, während die Meuchelmörderinnen noch ungestört durch das Land streifen...« Was hätte passieren können, ließ er offen. Antarona antwortete nicht, lauschte nur weiter nach dem Nachahmervogel. Mehr um das Schweigen zu brechen, fragte er:
»Glaubst du, eine von beiden ist noch irgendwo in der Nähe?« Antarona verneinte wieder mit einer langsamen Bewegung ihres Kopfes. Wie in einem Zustand geistiger Abwesenheit ging sie ein Stück den offenen Strand entlang, hockte sich hin, und starrte in die Luft. Basti kam sich in diesem Augenblick ziemlich überflüssig vor. Aber er blickte ihren graziösen Bewegungen sehnsüchtig nach. Sie war noch immer unbekleidet, und weckte neues Begehren in ihm. Seine Sinne ergötzten sich an dem Bild, dass sich ihm bot.
Wie ein Dschungelmädchen, nein, wie eine Dschungelkönigin, verharrte Antarona, nur mit ihren langen, schwarzen Haaren bekleidet, vor der Kulisse des urwüchsigen Waldes, und des ruhig dahinströmenden Flusses, wie ein weiblicher Tarzan, beinahe wurde sie selbst zu einem Bäumchen. Der Anblick aber faszinierte Sebastian. Dieses wunderschöne, naturverbundene Wesen dort, war seine Frau!
Plötzlich durchbrachen zwei kleine Schatten die leuchtend grüne Mauer der Blätter, und Tekla und Tonka, Antaronas zwei Schwarzvögel flatterten heran, und ließen sich auf einem angespülten, dicken Ast nieder. Sebastian begriff, dass sie die beiden gerufen hatte. Sie murmelte wieder in ihrem leisen Singsang, und die beiden Krähen hörten ihr aufmerksam zu. Dann erhoben sie sich wieder in die Lüfte, zogen einen großen Kreis über den Fluss, und verschwanden irgendwo über den Bäumen.
Offenbar war sich Antarona doch nicht so sicher, was den Aufenthaltsort ihrer ärgsten Gegnerinnen anging. Warum sonst sandte sie ihre Krähen aus, die Umgebung auszukundschaften? Das Krähenmädchen stand auf, und blickte einen Moment ihren schwarz gefiederten Freundinnen nach, bevor sie Ra-li und Gürtel aufhob, und sie sich um die Taille knüpfte. Zuletzt steckte sie sich wieder den Dolch in den schweren Metallgurt.
»Tonka und Tekla werden sehen, wer davon spricht, Sonnenherz und Ba - shtie - laug - nids in das reich der Toten zu schicken«, sagte sie beinahe emotionslos. Wieder wunderte sich Basti über die Wandelbarkeit seiner Gefährtin. Vor einer Stunde noch zerfloss sie in seinen Armen, dann brachte sie ihn mit ihrem wilden Temperament fast um den Verstand, und nun tat sie, als ginge es lediglich darum, jemanden beim Pilzesuchen aufzustöbern.
Für Sebastian hatte die Lage etwas Bedrohliches. Sollten Eisilia und die unbekannte Gorreiterin, möglicherweise Medunzia, sich noch in der Nähe aufhalten, so mochten sie sich überall verstecken können, nur die Götter wussten wo. Und sie konnten jederzeit und überall erneut zuschlagen, aus dem Hinterhalt, bei Tag und bei Nacht, hinter jedem Baum, Felsen, Strauch, konnten ihre gespannten Bogen, oder ihre Verbündeten auf eine Gelegenheit lauern. Sebastian war nun nicht mehr so naiv zu glauben, dass sie aufgegeben hatten.
Allein schon deshalb war er froh, dass sie an diesem Tag nach Falméra aufbrachen. So lange sie in Bewegung waren, würde es einem Angreifer ungleich schwerer fallen, eine Attacke vorzubereiten. Das einzige, das ihm Sorgen bereitete, war die Möglichkeit, dass sie herausbekommen konnten, was er, seine Freunde, und die Jo-lie vorhatten. Verräter gab es überall, sogar unter den Jo-lie. Deshalb mussten sie schnell handeln!
Hatten sie es erst einmal bis zum Festland geschafft, war es auch für sie ein Leichtes, sich in der Wildnis zu verbergen, solange sie sich unauffällig bewegten. Innerlich etwas beruhigter ging er neben Antarona her, ihrer Jaen-tè zu. Als er die Tür öffnen wollte, stutzte er.
Der Riegel lag nicht mehr gegen das Begrenzungsholz gedrückt. Er war eingehängt, und die Tür war fest verschlossen, doch Sebastian hatte es sich zu eigen gemacht, das runde Holz bis zum Anschlag zuzuschieben. Hatte der Wind die Tür bewegt, und den Riegel verschoben? Nein Wind hatten sie keinen. Waren Freunde der Jo-lie da gewesen, die sie zum Thingplatz begleiten wollten? Antarona bemerkte Bastis Zögern.
»Stimmt irgend etwas nicht?« fragte sie, ebenfalls misstrauisch geworden. Sebastian drückte seine Frau etwas von der Tür weg, als stünde das Holz unter Strom, und sagte leise:
»Weiß noch nicht, irgend etwas ist komisch, anders als sonst, nur so ein Gefühl.« Antarona spannte sich an, zog wie mechanisch den Dolch aus ihrem Gürtel. Instinkt und Vorahnungen gehörten zu ihrem Lebensalltag so lange sie denken konnte. Wenn jemand Argwohn hegte, dann nicht ohne Grund. Jeder andere rational denkende Mensch aus Bastis Welt hätte sein Zögern als Verfolgungswahn abgetan. Nicht so Antarona. Sie selbst reagierte auf jedes Merkmal einer Veränderung, welches ihr auffiel, deshalb fand sie Bastis Verhalten auch kaum befremdlich.
Vorsichtig, mit zwei Fingern hob Basti den Riegel an, und zog ihn zur Seite. Dann trat er mit dem Fuß gegen die Tür, dass diese langsam aufschwang. Doch er trat nicht ein, sondern wartete einen Augenblick. Ihre eigene Hütte mochte sich in ihrer Abwesenheit in eine falle verwandelt haben. Antarona war hoch alarmiert, ohne dass es eines Wortes bedurfte. Er war stolz darauf, dass sie beide so eine eingespielte Gemeinschaft waren, einander in jeder Hinsicht vertrauten.
Als nichts geschah, zog auch Basti sein Messer, und betrat vorsichtig den Innenraum. Augenscheinlich war alles unverändert. Er ließ den Blick über ihr kleines Zuhause schweifen. Alles schien an seinem Platz. Und doch störte ihn etwas. Eine kaum wahrnehmbare Spannung lag in der Luft, als lauerte etwas Unsichtbares in der Hütte, etwas, das sie vernichten wollte. Ein Blick in Antaronas Augen bestätigte ihm, dass auch sie es spürte.
»Gibt es so etwas wie einen bösen Fluch, der uns schaden könnte?« fragte er unsicher. Noch nie hatte er an solcherlei Zauber geglaubt, doch er hatte auch gelernt, dass hier einiges möglich war, das in seiner Welt als nicht existent galt. Antaronas Antwort war für ihn einigermaßen Überraschend.
»Ja, Ba - shtie, manche vermögen böse Geister, oder Dämonen zu beschwören, welche bestimmten Menschenwesen schaden, oder sie töten sollen. Es ist nicht einfach dies zu tun, und wer dies nicht beherrscht, mag selbst oft von diesen Mächten anheim gesucht werden.« Basti sah sie zweifelnd an.
»Glaubst du, dass das wirklich möglich ist, dass jemand einen Fluch über uns bringen will, oder sprichst du davon, was die Alten erzählen?« Im Grunde kannte er die Antwort. Deutlich erinnerte er sich noch an ihr Abenteuer in den Hallen von Talris, wo sie nach Antaronas Meinung einen Feuerdämon aus der Tiefe der Berge geweckt hatten, der sie daraufhin mit blauen Blitzen zu töten versucht hatte.
»Es ist möglich, Ba - shtie, die Dämonen und bösen Zauberer neiden Talris und den Göttern ihre Macht. So suchen sie alles zu zerstören, das die Götter gemacht haben, manchmal auch die Menschenwesen. Einige Menschenwesen haben magische Kräfte. Die meisten von ihnen erkennen sie erst, wenn sie älter sind. Sie können die Dämonen beschwören, und machen, dass sie bestimmte Dinge tun.« Sebastian blieb im Türrahmen stehen, spähte weiter in das Halbdunkel ihrer Hütte hinein, und fragte:
»Kannst du mir auch sagen, wie wir den Zauber brechen, wie wir eure Dämonen wieder besänftigen können? Oder können wir gegen sie kämpfen?« Basti war sich selbst nicht sicher, ob er diese Frage wirklich ernst gemeint hatte. Doch in dieser Sekunde geschah etwas, das auch ihn das Fürchten lehrte.
In der hinteren Ecke des Wohnraums hatten sie halb fertige Speere und Pfeile in einem Tonkrug stehen. urplötzlich bewegte sich der Krug, kratzte über den Boden, und rückte nur wenige Zentimeter zur Seite. Das genügte um die Stangen und Leisten der Schwerkraft zu überlassen. Klappernd und scheppernd fielen sie um, schlugen gegen einen Eimer aus Eisenblech, und verursachten einen solchen Heidenlärm, dass Sebastian erschrocken zusammenfuhr, zwei Schritte nach draußen zurückwich, und gegen Antarona stieß.
Die Dämonen lebten. Und sie lebten in ihrer Hütte. Sie hatten zugehört, und hatten sie gewarnt. Nun glaubte er selbst daran. Doch wer hatte ihnen diese Geister in ihr Nest gesetzt? Medunzia? Eisilia? Und wie vermochten sie diese wieder loszuwerden? Nachdem sich der erste Schreck gelegt hatte, antwortete Antarona auf seine Frage:
»Die Îval können nicht gegen Dämonen kämpfen, Ba - shtie. Sie brauchen den Schutz der Götter und die Kraft der Einigkeit, welche sich nur mit bestimmten Steinen, Kräutern, und Va-ra-hi Opfern erlangt werden kann.«
»Kannst du so etwas machen?« fragte Sebastian lauernd. Antarona hob die Schultern zum Zeichen ihrer Unsicherheit, und blickte respektvoll, fast ängstlich in das dunkle Viereck des Türrahmens, hinter dem offenbar das Grauen lauerte. Leise antwortete sie:
»Sonnenherz weiß, wie man es tut. Sie hat es der alten Waldlerin abgesehen. Diese wird von den Îval des Val Mentiér gerufen, wenn die Dämonen in das Vieh, oder in eine Hütte, oder in einen Wald eingezogen sind. Der Götterzauber dauert drei Sonnenläufe und drei Sternenläufe, wenn man es richtig tut. Dann sind die Dämonen vertrieben.«
Basti sah seine Frau zweifelnd und vorwurfsvoll an. Dann starrte er mit entschlossener Miene in das Dunkel der Hütte, und zog sein Bowiemesser. Irgendwie war ihm aber seine unzureichende Bewaffnung nicht geheuer. Er blickte sich suchend um, und entdeckte zwei größere Steine unter einem Gebüsch nahe der Hütte.
»Wollt ihr wieder mit Steinen werfen, Ba - shtie?« fragte das Krähenmädchen mehr besorgt, als belustigt. Er hob die beiden schweren Kloben auf, und stampfte wütend auf die Hüttentür zu.
»Warum nicht? Hat doch schon mal geklappt, oder? Sind zwar keine schwarzen Reiter, da drin, aber weh tut's trotzdem.« Noch einmal trat Basti gegen die Tür, die sofort wieder gegen die Wand krachte. Dabei brüllte er beinahe seinen Zorn heraus:
»Wir haben keine drei Tage und Nächte. Ich will meine Sachen jetzt haben!« Damit stürmte er in das dämmerige Innere der Jaen-tè, und blieb mitten im Raum, beim eher unentschlossen stehen. Seine Augen gewöhnten sich nur langsam an die Dunkelheit. Da bewegte sich etwas unter dem Tisch.
Erschrocken wich Basti einen Schritt zurück. Doch dann sah er, was dort lauerte. Ein Sis-tà-wàn schlängelte sich ihm entgegen, ein armdickes Tier, gewiss zwei bis drei Meter lang, den Kopf dreißig Zentimeter über dem Boden erhoben, die spitzen, langen Zähne zum Zubeißen bereit.
Rasch hob er die Hand mit dem Stein. Doch die Schlange befand sich noch unter dem Tisch, sodass er sie nur in einem sehr flachen Winkel bekämpfen konnte. Der Stein krachte unter den Tisch, erwischte das Reptil aber nur am Schwanz. Der Sis-tà-wàn wand sich vor Schmerz, wurde durch die Attacke aber nur noch wütender. Blitzschnell schoss der Kopf des Tieres vor, und hätte Basti nicht damit gerechnet, und wäre sofort zurückgewichen, so hätte ihn das Biest gebissen.
Der zweite Stein, den er vor Schreck übereilt warf, verfehlte das zornige Tier. Polternd rollte das Geschoss in die Ecke und traf scheppernd den Eimer. Unaufhaltsam bewegte sich die Schlange nun auf ihn zu. Basti wich weiter zurück, und erkannte zugleich, dass er in der Falle saß. Den Ausgang konnte er nicht mehr erreichen, ohne in den Bereich des vorstoßenden Kopfes zu gelangen. Ebenso wenig konnte er sein Schwert unter dem Kamin hervorholen. Das Reptil war zu schnell.
Nur noch das Messer in der Hand zog sich Sebastian auf das Bett zurück. Er wusste, dass es zwecklos war. Die Schlange konnte den Kopf zu weit anheben, es wäre ihr ein Leichtes, sich über die Kante des Bettes zu winden. Und er war mit dem Messer gewiss nicht annähernd so schnell, wie der Sis-tà-wàn mit seinen Zähnen.
Sollte er sich still verhalten? Basti hatte davon gehört, dass angreifende Schlangen von ihren Gegnern abließen, wenn man sie nicht weiter reizte. Das jedoch hatte er in seiner Welt gehört. In Antaronas Land schien aber grundsätzlich vieles anders zu sein. Das Tier bewegte sich nun langsamer, aber lauernd und mit dem Kopf hin und her wiegend, auf ihn zu. Basti überlegte, ob er das Messer werfen sollte. Doch verfehlte er, dann war er dem Vieh ausgeliefert. Auf seiner Stirn bildeten sich Schweißtropfen, die ihm in die Augen rannen. Er ignorierte sie, versuchte krampfhaft den Sis-tà-wàn im Auge zu behalten.
Da krachte unverhofft ein weiterer, schwerer Stein in die Hütte. Er traf das Tier in der Mitte, und musste es ernsthaft verletzt haben, denn die Schlange begann sich zuckend um sich selbst zu ringeln. Sie verwandelte sich in ein um sich selbst windendes Knäuel, und hatte nun offensichtlich andere Sorgen, als den vor Angst schwitzenden Mann anzugreifen. In diesem Moment flog noch ein zweiter, größerer Stein, beinahe schon ein kleiner Felsen, durch die Türöffnung ins Innere der Hütte. Er traf das lebendige Knäuel mit voller Wucht. Der Sis-tà-wàn wand sich noch in zwei, drei Zuckungen, dann wich das Leben aus ihm.
Ein Schatten verdunkelte die Tür, und vorsichtig, sehr zögerlich, streckte Antarona den Kopf herein, um sich umzusehen. Schließlich kam sie herein, und sah sich das verendete Reptil aus respektvoller Entfernung an. Basti stieg vom Bett herunter, griff sich einen Reisigbesen, und stupste das Knäuel damit an. Es rührte sich nicht mehr. Der Sis-tà-wàn lag mit geöffnetem Maul da, die gefährlich spitzen Zähne entblößt.
Im Grunde war es ein schönes Tier. Sein Leib war schwarz und hatte eine gelbbraune, längst gewellte Zeichnung. In den Wellentälern waren schwarz umrandete, rote Tupfen angeordnet, die wie eine Reihe wacher Augen aussahen. Das Muster war schön, mutete jedoch etwas gruselig an
Auch Antarona wagte sich nun näher heran, besah sich das Tier, und für einen Moment sah es so aus, als erschrak sie. Es war nur das Aufflammen ihrer Augen, und ein leichtes Zucken, doch Sebastian bemerkte es.
»Danke!« sagte er. »Das war Rettung in letzter Zentare.« Dann grinste er sie breit an, hob den letzten Stein auf, und frotzelte:
»Ich bin hier wohl nicht der einzige, der mit Steinen wirft, nicht wahr? Und Dämonen sind das doch wohl nicht, oder?« Das Krähenmädchen blickte düster drein, als hätte sie Torbuk selbst vor Augen. Mit dem Messer drehte und wendete sie das tote Tier hin und her, als suchte sie etwas Bestimmtes.
»Ihr hättet jetzt gut im Reich der Toten sein mögen, Ba - shtie«, sagte sie bedeutungsvoll, »dieser Sis-tà-wàn bringt den Tod. Sein Biss lässt das Blut jedes Wesens zu Stein werden. Er tötet schnell und leise.« Basti blickte sie zunächst ausdruckslos an.
Dieses Vieh war also hochgiftig. Er hatte in seiner Welt schon davon gehört, dass es Schlangen gab, die mit ihren Giftcocktails das Blut ihrer Opfer gerinnen ließen, oder es so dünn machten, dass es sogar aus den Poren austrat. Wie beiläufig fragte er:
»Gibt es etwas, das den Tod nach so einem Biss aufhalten kann?« Antarona wiegte den Kopf hin und her, dann zuckte sie mit den Schultern und meinte:
»Die alte Waldlerin vermag dem Tod zu widerstehen, der von Sis-tà-wàns kommt. Sie hat das Gift aus ihren Zähnen gestreichelt, und es sich mit Dornen in die Haut geritzt, immer wieder, immer nur ein wenig. Als sie einmal von einem Sis-tà-wàn gebissen wurde, welcher den Tod bringt, bekam sie nur etwas Hitze im Leib. Mehr geschah nicht.«
Kopfschüttelnd bugsierte Sebastian den Kadaver mit dem Besen nach draußen, und wollte ihn schon in die Büsche kicken, als Antarona ihn aufhielt. erstaunt sah er zu, wie das Krähenmädchen das Schlangentier streckte und dehnte, und schließlich mit ihrem Dolch am helleren Bauch aufschlitzte. Mühsam, Stück für Stück, zog sie dem Sis-tà-wàn die schuppige Haut ab. Zum Schluss trennte sie den Kopf vom Rumpf.
Das hellbeige, fast weiße Fleisch der Schlange warf sie ins Gebüsch. Die Haut aber legte sie fein säuberlich aus. Anschließend ging sie zu einem Dornengebüsch, brach einige der langen Dornen ab, und kam damit zurück. Mit den leichten Schlägen eines runden Steins nagelte sie die Haut mit den Dornen an die Holzwand der Jaen-tè. Staunend sah ihr Basti zu, und überlegte laut:
»Wie mag dieses Biest nur in die Hütte gelangt sein? Hatte es sich durch die Ritzen in der Tür gezwängt? Was meinst du, gibt es hier am Fluss noch mehr von diesen Biestern?« Antarona drehte sich kurz zu ihm um, und sagte bestimmt:
»Nein, Ba - shtie, diesen Sis-tà-wàn gibt es hier gar nicht. Diese Art lebt nur im Land der Oranuti, weit im Land der wandernden Sonne. Hier gibt es eine andere Art, welche aber dort lebt, wo raue, gespaltene Felsen sind. Dieser Sis-tà-wàn war nicht von allein an diesen Ort gekommen.« Verwundert über die gleichmütige Ruhe, mit der seine Frau ihm das offenbarte, hakte er nach.
»Du meinst, jemand hat uns dieses Vieh da absichtlich in die Hütte getan, damit es uns tötet? Glaubst du wirklich, jemand macht sich diese Mühe, um uns so zu beseitigen?« Antarona wandte sich kurz lächelnd um.
»Wer auch immer es war, er oder sie hat es damit doch beinahe geschafft. Still und leise töten, ohne Lärm, ohne Kampf, ohne Aufsehen. Sonnenherz und Glanzauge hatten das Wohlwollen der Götter verloren«, kommentierte Antarona die Möglichkeit, wenn es anders ausgegangen wäre. Betont fügte sie hinzu:
»Wärt ihr nicht misstrauisch gewesen, hättet ihr nicht um des Riegels Stellung gewusst, Ba - shtie, dann...« Sie ließ den Satz unausgesprochen, doch er wusste, was sie damit andeuten wollte. Sein Blick fürs Detail, seine Skepsis, seine unheilvolle Ahnung, hatte ihnen möglicherweise das Leben gerettet. Dennoch blieb eine Frage.
Wer hatte ihnen ganz bewusst dieses Tod bringende Tier in die Hütte gesetzt? Waren sie weiteren hinterhältigen Angriffen ausgesetzt? Waren die Meuchelmörder noch in der Nähe? Torbuks Häscher und Spione waren überall. Selbst unter den ihnen noch treuen Jo-lie vermutete Basti potentielle Verräter.
Während Antarona die Haut der Schlange mit einem scharfkantigen Stein von Fleischresten befreite, und einen Sud aus Kräutern kochte, untersuchte Sebastian die Umgebung der Hütte. Selbst in dieser scheinbar friedlichen Stille trugen sie nun ihre Waffen. Niemand vermochte zu sagen, wann und wo der nächste Anschlag auf sie verübt werden würde.
Basti fand nur ein par nichtssagende Spuren, die von jedem der Jo-lie stammen konnte. Manchmal verirrten sich Liebespaare, die für ein par Zentaren allein sein wollten, auf die Sandbänke der kleinen Halbinsel. Die einzigen Hinweise auf ungebetene Gäste erwiesen sich aus dem Sis-tà-wàn, und dem nicht ganz vorgeschobenen Riegel. Damit konnte man niemanden bezichtigen, selbst Eisilia von Kandar nicht.
Als er von seiner Exkursion rund um die Hütte zurückkehrte, fand Basti seine Gefährtin bei ihren zwei gefiederten Freundinnen. Die Krähen hockten auf einem Baumstamm bei der Feuerstelle, und Antarona kniete vor ihnen, als würde sie die Tiere anbeten.
Sebastian kümmerte sich nicht weiter darum. Tekla und Tonka waren nach wie vor ziemlich Scheu und misstrauisch. Besser er ließ die drei allein. Statt dessen ging er in die Hütte, und suchte all das zusammen, was sie auf ihrem Marsch nach Falméra brauchen würden. Irgendwann stand das Krähenmädchen im Raum.
»Tekla und Tonka haben Sonnenherz ihre Augen gegeben. Eine Frau ist allein an jenem Ort bei den Felsen, dort, wo Thies in das Reich der Toten gehen musste.« Sebastian erinnerte sich noch sehr gut an das traurige Ende des Jünglings, der eines der vielen Opfer von Torbuks Herrschaft gewesen war.
»Wollen Sonnenherz und Ba - shtie nachsehen, wer sie ist?« Gewöhnlich stellte Antarona bei solchen Gelegenheiten keine Frage. Sie legte fest, was zu tun war. Sebastian wusste genau, warum sie unsicher war, ob sie dieser Sache auf den Grund gehen sollten, und antwortete:
»Wozu? Beweisen können wir nichts. Und war sie diejenige, welche uns den Sis-tà-wàn gebracht hat, so werden wir ihr sicher noch einmal begegnen, denn sie wird es wieder versuchen. Warum also die reise nach Falméra noch einen Tag aufschieben?« Antarona nickte zustimmend, und Sebastian fügte hinzu:
»Vielleicht ist es ganz gut, die Täterin, oder den Täter in Sicherheit zu wiegen. Wer sich zu sicher fühlt, macht irgendwann einen entscheidenden Fehler, und verrät sich meistens selbst. Eigentlich müssen wir nur abwarten und auf der Hut sein.«
Antarona stimmte ihm zu, und strich die Haut des Sis-tà-wàn noch einmal mit der streng riechenden Paste ein, die sie aus dem gekochten Sud gewonnen hatte. Dies diente dazu, die Schlangenhaut zu gerben, und dauerhaft haltbar und geschmeidig zu machen. Eine Stunde später hatten sie beide ihre Bündel und Waffen für den Marsch nach Falméra bereit gestellt. Die erbeutete Haut des Sis-tà-wàn hatte das Krähenmädchen auf ihr Bündel gespannt, so dass sie gedehnt, und getrocknet wurde.
Beinahe feierlich verriegelte Sebastian die Hüttentür. Sie nahmen Abschied von der kleinen Kate, die ihr Zuhause geworden war. Sebastian wurde erst in diesem Moment bewusst, dass es ihr erstes, gemeinsames, eigenes Häuschen gewesen war. Sehnsüchtig ließen sie noch einmal ihren Blick über die kleine Halbinsel streifen, die sich dort unten am weißen Flussstrand und am Waldrand begrenzte. Hier hatte es sich gut leben lassen.
Mehi-o-ratea. Der Name ging Basti durch den Kopf. Er klang nach Südsee- Zauber. Und würde dieses Land jemals den Frieden finden, den Antarona und er sich wünschten, so mochten diese kleine Halbinsel, diese kleine Hütte, das Dorf, die Gemeinschaft, der Fluss und das Meer ihre Südsee sein.
Doch nun galt es, sich höheren Zielen zuzuwenden, die persönliche Gefühle und Sehnsüchte zu verdrängen drohten. Dennoch sahen sich die beiden Menschenwesen, die hier gelebt und geliebt hatten, noch einige Male um. Ein durch zufällige Umstände bestellter Königssohn und eine echte, wahre Prinzessin, beide gekleidet in das jugendliche, freizügige Gewand der Îval, schritten über den Grasteppich zwischen den mächtigen Bäumen dahin, und blickten noch ein letztes mal zurück.
Areos legte stumm seine Arme um die Taille seiner Prinzessin und zog sie an sich. Seine Hände streichelten ihre Rundungen, die durch das Leder des Ra-li noch betont wurden. Sonnenherz ihrerseits legte ihre Arme um seinen Hals. Ihre Wangen berührten sich zärtlich, als sie beide auf das Häuschen blickten, das abseits der riesigen Bäume geradezu winzig wirkte. Dies war ein Ort, an dem sie einmal sie selbst sein durften.
Sie träumten einen Augenblick, dachten zurück an ihre Ankunft in Mehi-o-ratea, an die Schlacht der Geister, an die Entführung, an den Gor, die wilden, ausgelassenen Elsirentänze, und an ihre innigen Stunden der Liebe am Fluss und am Meer bei der kleinen Fischer- Jaen-tè. Es fiel ihnen schwer, ihn wieder loszulassen, diesen Traum, den sie, wenn sie nur wollten, bis in alle Ewigkeit weiter träumen konnten.
Doch sie waren nun einmal jene, die sie waren. Sohn und Heerführer des Königs, wenn auch durch Missverständnisse geboren, und die wahre Prinzessin dieses Landes, die sie eigentlich doch nicht sein durfte. Außer für sich selbst waren sie Bruder und Schwester, die sich verbotenerweise liebten, die sich einen Kehricht darum scherten, was andere dachten.
Sie gingen einem unbekannten Schicksal entgegen. Doch für diesen kleinen Moment umklammerten sie sich, wollten sich nicht mehr loslassen, aus Angst, sich durch ihre Aufgaben und Bestimmungen zu verlieren und auseinander gerissen zu werden. Sebastians Herz krampfte sich zusammen. Er wusste, dass auch das allerhöchste Glück nicht von ewiger Dauer sein konnte.
Arm in Arm schritten sie wie ein Wesen, wie ein Herz, durch die Baumgruppe, welche die Halbinsel vom Dorf trennte, und verließen ihr kleines Paradies, das ihnen aufregende Zentaren, aber auch wunderbare Zweisamkeit beschert hatte, und Basti fragte sich im Stillen, ob sie jemals an diesen Ort würden zurückkehren können, wenn ihre große Aufgabe einmal vollbracht war.
Der Dorfplatz war angefüllt mit jungen Menschen, als sie die Mitte Mehi-o-rateas erreichten. Alle waren mit ihren Bündeln und Waffen, mit ihren Habseligkeiten und ihrem kleinen, oder großen Besitz gekommen. Einige hatten kleine Handkarren dabei, wieder andere standen neben radlosen Tragegestellen, die man hinter sich her ziehen konnte. Pla-kas standen an einem schnell errichteten Seilpferch, und scharrten ungeduldig mit den Hufen. Sie schienen zu spüren, dass ihnen eine große Wanderung bevorstand.
Die meisten der Jo-lie trugen kaum mehr als ihre abgewetzten Ra-lis und leichte Mokassins. Ihre guten Gewänder und Elsirenkleider trugen die Frauen in ihren Bündeln, um sie zu schonen, denn Kleidung war nur mühsam herzustellen, und dementsprechend teuer und wertvoll. Die Männer und Jungen trugen über dem Ra-li meist einen Waffenrock aus derben Lederstücken, die mal mehr, mal weniger gleichmäßig aneinander gefügt waren. Ihre Hemden trugen auch sie in den Bündeln verwahrt.
Für Sebastian bot sich ein Bild, das ihn an den Aufbruch der von Moses befreiten Sklaven aus Ägypten erinnerte. Nur dass diese Menschen hier ein erklärtes Ziel hatten, und nicht ins Ungewisse marschierten. Einige Jungen und Mädchen hatten sich sogar in der Weise bemalt und eingeölt, wie sie es getan hatten, bevor sie Torbuks Vorhut angegriffen, und die Gefangenen befreit hatten. Das Öl hatte dazu gedient, ihre Körper glatt und rutschig zu machen, damit sie von den Kriegern Torbuks nicht gepackt, und festgehalten werden konnten. Offenbar dienten ihnen Farbe und Öl an diesem Tag als Symbol dafür, dass sie zu einem Kriegszug aufbrachen.
Bastis Blicke überflogen den Dorfplatz, und er musste sich eingestehen, dass ihm nicht so ganz klar gewesen war, mit was für einem bunten, großen Haufen agiler Jo-lie er losziehen würde. Aber er hatte erfahren, was für eine schlagkräftige, kleine Armee diese jungen Menschen sein konnten, wenn man sie richtig einsetzte. Und sie hatten ihre erste Feuertaufe bereits hinter sich gebracht.
Antarona ging zu den Pla-kas hinüber, um sich ein Reittier auszusuchen. Ihr Knöchel war immer noch etwas geschwollen, und sie konnte es nicht riskieren, nach Falméra zu Fuß zu gehen. Währenddessen gesellte sich Basti zu Frethnal, Vesgarina, und den anderen Freunden, die vor der Veranda des Hauses Temrins standen. Der stand etwas abseits, mit einem hübschen, dunkelhaarigen Mädchen an seiner Seite. Es hatte anscheinend nicht lange gebraucht, bis eine seiner Bewunderinnen den Platz Eisilias einnahm.
Nachdem Antarona sich eine kleine, schwarze Stute mit glänzendem Fell ausgesucht hatte, kam sie, das Tier am Zügel führend zu Basti und den Freunden herüber, und band den Pla-ka an der Verandabrüstung an. Dann belud sie das Reittier mit ihrem und Bastis Habseligkeiten.
Sebastian kletterte auf die Veranda und hob die Hände, um Ruhe zu erbitten, denn das ganze Volk der Jo-lie schnatterte durcheinander, wie eine riesige Gänseschar. Als die Gespräche allmählich verstummten, und er schon zur Begrüßung der Jo-lie ansetzen wollte, schwang sich Antarona auf die Veranda, und trat an ihn heran. In den Händen hielt sie die seltene Schlangenhaut, deren Trägerin ihnen beinahe den Tod gebracht hatte.
Für alle sichtbar, wickelte sie die Haut als Schmuck um Bastis Oberarm, und band sie mit Lederschnüren fest, die sie zuvor angebracht hatte. Dabei beobachtete sie aufmerksam die Menge, versuchte überraschte, oder zornige Blicke auszumachen, die eventuell den, oder die Täterin entlarven konnte. Doch die meisten Jo-lie interpretierten es als ähnliches Ritual, für das sie sich eingeölt, oder bemalt hatten. Die Gesichter zeigten Interesse und Anerkennung, jedoch nicht mehr.
Erstaunt war Sebastian darüber, wie angenehm sich die Schlangenhaut anfühlte. Wie ein weiches, glattes, und warmes Leder schmiegte sie sich an seinen Oberarm, und war elastisch genug, jedes Spiel seiner Muskeln auszugleichen, ohne zu rutschen, oder unangenehm zu spannen.
»Freunde der Îval und Jo-lie, hört, was ich euch zu sagen habe«, begann er laut in die Runde zu sprechen, und jedes Reden, Flüstern, und Lachen erstarb. Basti meinte sogar den Wind durch die Hütten pfeifen zu hören.
»Ich sehe, ihr alle seid zum Aufbruch bereit«, fuhr er fort, »wir werden am Strand entlang nach Falméra ziehen, und an geeigneten Stellen unser Nachtlager aufschlagen. Ich selbst und Sonnenherz werden voraus gehen, und den Weg erkunden, und jagen, wenn es notwendig ist. Wer uns bei der Vorhut begleiten mag, soll nun vortreten.«
Ziemlich erstaunt blickte Antarona ihn an. Basti hatte ihr gegenüber nichts von einer Vorhut erwähnt, die sie stellen würden. Leise zischte sie ihm zu, und er bemerkte ihre heimliche Kritik:
»Wann hattet ihr vor, mich in eure Ansinnen einzuweihen, Ba - shtie?« Zusätzlich knuffte sie ihn mit dem Ellenbogen verdeckt in die Seite, so dass es die Menge unter ihnen nicht sehen konnte. Basti musste schmunzeln. Sie war einfach süß, wenn sie ärgerlich wurde. Ohne ihr das Gesicht zuzuwenden, raunte er ihr zu:
»Es war keine Zentare dazu. Das mit der Vorhut ist mir eben gerade erst eingefallen.« Er ließ seine Erklärung bewusst nicht wie eine Entschuldigung klingen. Inzwischen waren mehrere junge Frauen vorgetreten, die meinten, für eine Vorhut von Nutzen sein zu können. Unter ihnen waren Te-itika, Isane und Tiskaja. Antarona sah sie erwartungsvoll zu Sebastian hinaufstarren, und augenblicklich war ihre Eifersucht geweckt.
»Untersteht euch, eine andere Frau als Sonnenherz mit euch gehen zu lassen!« fauchte sie ihn von der Seite an. Basti tat unschuldig verwundert, und gab zurück:
»Was regst du dich so auf? Wir können Isane mitnehmen. Sie könnte unsere Tochter sein.« Das Krähenmädchen blitzte ihn mit kleinen Zornesflammen in den Augen an. Basti wusste, dass Isane zu alt war, um ihr Kind zu sein. Antarona konterte:
»Wohin die kleine Kunstschützin geht, folgt ihr Tiskaja. Ihr wisst es, nicht wahr? Die beiden verehren euch; ihr sonnt euch in ihrer Bewunderung, ist es nicht so?« Antarona steigerte sich so rasch in ihre Eifersucht, dass Basti befürchtete, sie würde ihm vor den versammelten Jo-lie eine handfeste Szene machen, und versuchte zu beschwichtigen:
»Sei nicht albern, mein Engelchen, die beiden sind doch nur stolz, die Leibwächterinnen des Areos sein zu dürfen, das ist alles.« Mit unsichtbaren Lanzen der Vernichtung aus ihren Augen bedachte Antarona die wartenden Frauen. Dann zischte sie ihrem Mann zu:
»Also gut, so sei es. Isane und Tiskaja. Keine sonst. Und gebt acht, großer Areos! Sollte sich Tiskaja einbilden, euch zu nahe kommen zu können, so wird Sonnenherz ihr die Haare abschneiden, und sie nach Mehi-o-ratea zurück jagen.« Basti hatte kein Argument dagegen, also winkte er Tiskaja und ihre jüngere Schwester Isane heran. Die anderen Freiwilligen reihten sich enttäuscht wieder in die Versammelten ein.
Bevor die beiden Bogenschützinnen die Veranda erklommen hatten, stellte sich Antarona demonstrativ neben die Seite Bastis, als könnte sie ihn dadurch vor zu viel Vertrautheit der beiden Schwestern abschirmen. Isane blickte Sebastian dankbar und erwartungsvoll an, Antarona jedoch legte ihm sogleich eine Hand auf den Arm, um ihre Besitzansprüche deutlich klar zu machen.
Das mochte ja noch heiter werden, dachte Basti, und legte seinen Arm um die Taille seiner Frau. Es war eine Geste, einerseits um Antarona zu beruhigen, andererseits um Isane und Tiskaja das unmissverständliche Signal zu senden, dass sie sich in dieser Hinsicht keine Hoffnung zu machen brauchten. Wieder hob Basti die Hand, und wieder horchten die Jo-lie auf. Er sah in die Runde, und verkündete laut:
»Jemand muss die Nachhut bilden, und dafür sorgen, dass niemand zurück bleibt, und dass wir nicht hinterrücks angegriffen werden, solange wir unterwegs sind.« Er ließ seine Blicke über das junge Volk schweifen, doch niemand fühlte sich berufen, diese Aufgabe zu übernehmen. Es war unattraktiv und galt als eine niedere Handlung, hinter dem Tross her zu laufen. Sebastian rief hinunter:
»Rahan von Prehin, und Te-itika, vermögen wir euch für diese ehrenvolle Aufgabe zu gewinnen? Ich weiß, dass ihr vortrefflich mit euren Waffen umzugehen wisst, und gute Krieger seid. Diese vertrauensvolle Aufgabe mag ich niemandem außer euch anzuvertrauen, was sagt ihr dazu?«
Irgendwie glaubte er, dass die beiden jungen Îval zueinander passten. Beide schienen entschlossen, für die große Sache der Freiheit zu kämpfen. Beide hatten gezeigt, dass sie etwas Wichtiges beitragen konnten. Als sie vortraten, löste sich noch ein weiterer, junger Mann aus der Menge, um sich anzubieten: Kadim von Turu. Basti war nicht ganz klar, welche Absicht hinter seinem Auftritt steckte, denn zuvor, als er Freiwillige suchte, hatte er sich nicht gemeldet.
Hoffte Kadim darauf, mit Te-itika zusammen ausgesucht zu werden, um sich an ihr für das mutige Einschreiten beim Kampf mit Antarona zu rächen, sobald sie allein waren? Oder wollte er sich ein ums andere Mal erneut profilieren? Wie auch immer, Basti dachte nicht daran, diesen Bock zum Gärtner zu machen. Dennoch wollte er Kadim nicht vor den Kopf stoßen, um nicht noch einen erklärten Feind in seiner kleinen Armee zu haben.
»Rahan und Te-itika, ihr bildet die Nachhut«, bestimmte er daher, »euch vertraue ich den Schutz unserer Wanderung an. Kadim wollte sich schon zurückziehen, als Basti fortfuhr:
»Und euch Kadim, übertrage ich, dafür zu sorgen, dass es innerhalb des Wandertrosses keinen Streit gibt. Achtet auf die Schwächsten, handelt und urteilt gütig und gerecht, so mag euch ein Platz und Titel als Krieger eines Heerlagers sicher sein.«
Kadim war überrascht, oder tat zumindest so, verbeugte sich knapp, und zog sich wieder in die Anonymität der Versammelten zurück. Sebastian bat abermals um Ruhe, und verkündete:
»Macht euch bereit, füllt eure Wasserschläuche, wir ziehen in einer Zentare los. Wir gehen den Jagdweg am Fluss entlang bis zum großen Wasser. Dort folgen wir der Küste bis Falméra. Die Pla-ka werden diejenigen ziehen, oder tragen, die nicht gehen können. Also los.., eine Zentare! Die Vorhut, die Nachhut und die Führer der Waffengruppen kommen bitte zu mir.«
Die Jo-lie begannen eine Emsigkeit, die aus der Entfernung einen Markttag vermuten ließ. Da wurden Pla-kas beladen, oder mit dem einfachen Sattelzeug der Îval, das aus einem großen Fell bestand, gegürtet. Wasser wurde in Kürbisflaschen und Lederschläuche gefüllt und an die Reittiere, oder um die Hälse der Jo-lie gehängt, Tragebündel wurden noch einmal geöffnet und wieder verschlossen, und einige, die ihre Fuß- und Beinkleider bisher hatten schonen wollen, zogen diese nun an.
Die eine Führungsposition, oder eine Aufgabe inne hatten, lösten sich aus der allgemeinen Geschäftigkeit, und versammelten sich direkt unter der Veranda. Basti schärfte ihnen ein, während ihrer Wanderung ständig nach Goren am Himmel, oder nach Hinterhalten Ausschau zu halten, und den Tross zusammenzuhalten. Zuletzt ermahnte er alle Verantwortlichen, die für ihre Aufgaben eigentlich noch viel zu jung waren:
»Es bleibt mir niemand zurück! Wir bewegen uns so schnell, wie der Schwächste unter uns. Wer nicht mehr laufen kann, wird auf einer Trage mitgenommen. Wir kommen alle gemeinsam in Falméra an, oder es wird keiner dorthin gelangen. Niemand wird zurückgelassen, ist das klar?« Alle stimmten zu, und die kleine Versammlung löste sich auf.
Nun begannen Sebastian und seine Freunde ebenfalls sich für die Reise fertig zu machen. Antarona war bereits dabei, ihrem Pla-ka das große Zebronfell aufzubinden. Das Tier tänzelte hin und her, und das Krähenmädchen musste ihm gut zureden. Wahrscheinlich nahm der Pla-ka die Witterung des Zebron auf, die immer noch im Fell haftete.
Anschließend behängte sie den breiten Ledergurt von beiden Seiten gleichmäßig mit Wasserschläuchen, und ihren beiden Bündeln. So konnte sich Basti im Gegensatz zu den meisten Jo-lie frei und ungehindert bewegen, und schnell dort sein, wo es erforderlich war.
Dann gab er das Zeichen zum Aufbruch. Antarona auf dem Pla-ka, und die engen Freunde hinter sich, setzte sich Basti an die Spitze des Zuges. Es sah aus, wie ein mittelalterlicher Schützenumzug, als der Tross durch das Dorf zog, der Furt über den Fluss entgegen.
Vor dem von Temrins Heim zum Lazarett umgestalteten Haus versammelten sich jene Verletzte und Pfleger, die nicht an ihr Lager gefesselt waren, und winkten dem Zug nach. Sie wünschten den Gruppen eine schnelle Reise, und diese wiederum versprachen, den Zurückgebliebenen rasch Hilfe zu senden. Auch an einigen Hütten standen noch vereinzelte Jo-lie, die zurückbleiben, und auf das Geleit aus Falméra warten wollten. Sie hatten sich entschieden, in die Obhut ihres Elternhauses zurückzukehren.
Am Übergang über den Fluss staute sich der Zug zum ersten Mal. Jene Jo-lie, die zu Fuß gingen, hielten an, um ihre Mokassin auszuziehen, um sich später nicht die Füße wund zu laufen. Dann, ihre Bündel und persönliche habe über den Köpfen tragend, wateten sie hüfthoch durch den ruhig dahinziehenden Fluss, der an diesem Tag klares Wasser führte. Die Kälte des Wassers, das von den Bergen kam, biss ihm in die Gliedmaßen, solange er sich nicht daran gewöhnt hatte. Und am anderen Ufer hatte er das Empfinden, unter der Gürtellinie zu kochen, als ihn die warme Luft wieder umfing.
Auf der anderen Seite geriet der Marsch wieder ins Stocken. Die Beinkleider und Fußschoner wurden wieder angelegt, und festgebunden. Als es endlich weiterging, zog sich der Treck weit in die Länge, denn der Jagdpfad war schmal, und bisher nur von den Jagdtrupps benutzt worden. Doch es war ein sicherer Weg, weitaus gangbarer, als der Weg durch dichten Wald, oder die endlosen Schilffelder, die noch dazu von Sümpfen durchzogen waren.
Sebastian dachte daran, dass man den Fluss auch mit Flößen bis zu der Stelle hätte befahren können, wo die alte Fischerjaen-tè stand. Die letzten par hundert Meter am Ufer entlang, wären dann nicht mehr ins Gewicht gefallen. Allerdings hätten sie einen weiteren Tag mit dem Bau der Flöße zugebracht, und weitere Zentaren verloren. Nun zog sich die Wanderung weit auseinander, und Sebastian verlor völlig den Überblick über das große Unternehmen.
Er konzentrierte sich daher auf seine Aufgabe der Vorhut, und steckte seine Nase hinter jeden Busch, hinter jeden Baum und Felsen, und teilte die ersten des Zuges dazu ein, hinderliches Gestrüpp und Äste vom Weg fernzuhalten, bis der letzte des Zuges die Stelle passiert hatte. Isane und Tiskaja fühlten sich in ihrer Rolle der Vorhut bestätigt. Sie sprangen, liefen, oder schlichen voraus, je nach Beschaffenheit des Geländes, und sicherten den Weg vor unliebsamen Überraschungen, die aber insgesamt ausblieben. Antarona folgte mit ihrem Pla-ka.
Bis zum Meer kannten Antarona und Basti den Weg, und wussten, was sie erwartete. Sebastian warnte Isane und Tiskaja vor den abschüssigen Wegpassagen auf halber Strecke, und die beiden versprachen darauf zu achten, und das Gebüsch links und rechts abzuschlagen. Langsam folgte die lange Prozession dem Pfad, der oft genug so nahe am Fluss entlang führte, dass in schönster Wiederholung irgendjemand die Balance verlor, und unter dem Jubel und Gelächter der anderen ins Wasser fiel.
Manchmal scheuten die Pla-ka vor zurückschlagenden Ästen und Zweigen neben dem schmalen Pfad, und die sie an den Zügeln führten, hatten Mühe die Tiere wieder zu beruhigen. So quälte sich der Zug langsam durch die wilde und üppige, beinahe weglose Vegetation, und Sebastian schien es, als kämen sie überhaupt nicht voran.
Der Nachmittag brach herein, und sie hatten noch nicht einmal die Stelle erreicht, wo Antaronas Entführer damals den Hund getötet hatten. Basti musste sich eingestehen, dass er den Weg kürzer in Erinnerung hatte. Möglicherweise lag es daran, dass er seinerzeit die Männer verfolgte, die seine Frau verschleppt hatten. Die Hatz, und die ständige Konzentration auf den Weg und mögliche Hinterhalte, hatte seine Einschätzung damals anders beeinflusst. In dem langsamen Trott, in dem sie nun dahin schlichen, verlor sich sein Blick in eintönigem Grün, das nicht enden wollte.
Dann kamen sie an die Stelle, wo der Pfad auf lehmigem Boden und von Fels durchsetzt, steil abfiel. Die ersten kamen noch gut über das Hindernis. Doch mit jedem Hut, mit jedem Fuß, weichte der Boden mehr auf, der Lehm zog sich über die aus der Erde ragenden Steine, und die Passage glich sehr schnell einer Schweinesuhle. Nur noch rutschend gelangte man tiefer. Anfänglich hielten sich die Jo-lie an Ästen und Zweigen fest, die aber bald ausgerissen, oder so verdreckt waren, dass niemand mehr wagte sie zu berühren. Letztlich ließ man sich auf den Hintern fallen, und überließ sich dem glitschigen Boden, der das weitere Geschick lenkte.
Einige gingen ein par Meter links und rechts durchs Gestrüpp, was zur Folge hatte, dass auch diese Umwege rasch im Schlamm versanken. Dazu holten sich die Mutigen noch Schrammen und Kratzer ohne Ende, denn die Schwerkraft wurde auch durch Dornen nicht aufgehalten. Viele Burschen setzten den Weg mit blutigen Schrammen fort. Die Mädchen waren meist weniger abenteuerlustig. Sie ließen sich an der Kante zum Steilhang auf der Sitzfläche nieder und glitten im lehmigen Schlamm abwärts. Den Dreck konnte man ja wieder abwaschen.
Für die Pla-ka allerdings wurde die Passage zum Problem. Sie mussten mit Seilen gesichert und gehalten werden, um zu verhindern, dass sie sich die Hufgelenke brachen. Die Tiere waren für die Jo-lie unersetzlich, denn wer wollte schon seine Habe den weiten Weg bis Falméra auf dem eigenen Buckel schleppen. Mensch und Tier sahen nach der Rutschpartie aus, als hätten sie sich durch blanke Erde gewühlt.
Dafür ging es nun etwas zügiger voran. Der Weg wurde breiter, wenn auch nicht besser. Der Boden wechselte allmählich von Humus zu Sand, eine Tatsache, welche die nahe Küste ankündigte. Irgendwie schien es jeder zu spüren, alle beschleunigten die Schritte, selbst die Pla-ka gingen folgsam und williger neben ihren Führern her.
Plötzlich wehte ein frischer Wind heran, der den Geruch nach Meer in die Nasen der Wanderer trieb. Kurz darauf öffnete sich der grüne Blättervorhang, und ein abschüssiger, breiter Sandweg führte zum Strand hinunter. Das Meer war ruhig, kleine Wellen rollten an den Strand, und die wenigen Wolken verschwammen mit der ohnehin hohen Luftfeuchtigkeit.
Weißer Sand leuchtete in einem knapp hundert Meter breiten Streifen zu beiden Seiten schier endlos dahin. Nach rechts, zur Fischerjaen-tè und zur Flussmündung hin, säumte dichter, sattgrüner Urwald den Strand. Links sah man im Dunst als schemenhafte Schatten die steilen Felsen aufragen, die teils bis ins Meer reichten, und die Küste unpassierbar erscheinen ließen.
Als die Jo-lie das große Wasser sahen, gab es für sie kein Halten mehr. Wie sie waren, stürzten sie sich in die Fluten. Die Waffen wurden fallen gelassen, wo Platz war, einige Burschen und Mädchen entledigten sich noch im Laufen ihrer Ra-lis, andere sprangen mit ihren Hüftschürzen ins kühlende Wasser. Sie hatten geschwitzt, und waren von der lehmigen Steilpassage verdreckt. Nun bot ihnen das Meer jenen Luxus, den sie in Mehi-o-ratea dem Fluss zu verdanken hatte.
Als sie merkten, dass die leichte Brandung des Meeres einen anderen Reiz bot, waren sie kaum noch aus dem Wasser zu bekommen. Die große Wanderung war vergessen. Herumtollen, Spielen, sich necken und bespritzen, sich im Spiel angreifen, oder sich einfach nur vom Wasser treiben lassen, hatte jeden anderen Gedanken verdrängt. Einige, miteinander verbundene Jo-lie standen eng umschlungen im ausgelassenen Massenbad, und Sebastian mutmaßte, dass sie sich nicht nur berührten, um den Schmutz des Weges loszuwerden.
Auch in ihm keimte die Sehnsucht auf, mit Antarona in die Wellen zu springen, und sich ihren Gefühlen hinzugeben, sich einfach treiben zu lassen. Wer würde es ihnen übel nehmen? Sie waren frei; so frei, wie Sebastian mit Janine in seiner Welt nie hätte sein dürfen. Hier war alles möglich. Die Jo-lie scherten sich nicht um die Gelehrten und ihre Eltern im fernen Falméra, oder sonst wo. Sie lebten. Sie liebten. Sie taten, was ihnen ihr Herz sagte. Und doch gab es so gut wie keinen Streit untereinander, denn bestehende Partnerschaften wurden nach einem Kodex respektiert, der einem ungeschriebenen Gesetz der Götter gleichkam.
Basti stand an der Wasserkante, und sah dem überschwänglichen Treiben zu. Es war das Paradies. Wo sonst gab es glücklichere Menschen? Wo in seiner Welt hatte er so geballte Unbeschwertheit erleben dürfen? Doch er wagte nicht, sich ebenfalls das Vergnügen zu gönnen. Er meinte, er müsste auf seine Schützlinge Acht geben, und über sie wachen, solange sie unbeschwert herumtollten.
Antarona schien wieder einmal seine Gedanken zu kennen. Sie war von ihrem Pla-ka herabgestiegen, hatte ihn mit einem Holzpflock im Boden gesichert, und ihre Waffen an den Gurt des Tieres gehängt. Ihre Hände legten sich von hinten an Bastis Hüften, und sanft schob sie ihn vorwärts, dem Wasser zu, während sie ihm ins Ohr raunte:
»Sonnenherz ist bereit für ein Bad mit euch, Ba - shtie. Kommt, das große Wasser wartet.« Behutsam wand er sich aus ihrer Berührung, umarmte ihre Taille und mahnte:
»Einer muss hier aufpassen. Wir sind nicht mehr in Mehi-o-ratea, oder im Wald. Hier sind wir völlig ohne Deckung und Angreifern ungeschützt ausgeliefert.« Ihre Arme um seinen Hals schlingend blickte sie ihm tief in die Augen. Dann sagte sie, und es klang wie eine Mischung aus Betteln, Vorwurf, und Belustigung:
»Hier ist nichts, Ba - shtie, was irgendwie bedrohlich sein kann. Seht euch um, nur frohe Menschenwesen, die Spaß haben. Sonnenherz mag ebenfalls an der Freude teilhaben. Los, kommt schon, die Jo-lie mögen auf sich selbst achten, sie sind nicht eure Kinder!«
Damit krallten sich ihre kleinen Hände in seine Handgelenke und zogen ihn demonstrativ zum Wasser hin. Der hintere Teil ihres Ra-li wippte auf und ab, während sie vor ihm her sprang, ihn zerrte und drängte, und Basti wurde wieder einmal Opfer ihrer verführerischen Reize. All seine Bedenken über Bord werfend, folgte er seinem Krähenmädchen in die anlandenden Wellen, die mit kleinen Schaumkronen an den Strand spülten.
Das Wasser war erstaunlich warm. Aufgeheizt vom tropischen Strom, und der Sonne Falméras umspülte es seine Beine und sorgte dafür, dass er Antaronas Verführung nur um so williger nachgab. Gerade schaffte er es noch, den Waffenrock aufzuhaken, und das schwere Leder nebst seinen Waffen auf den Sand des Strandes zurückzuwerfen. Sich seines Ra-li zu entledigen gelang ihm nicht mehr, denn im kindlichen Übermut sprang ihn Antarona an, klammerte sich an ihn, und wie eine Krake umschlangen ihre Arme und Beine seinen Leib.
Damit sie nicht wieder von ihm herabrutschte, fasste er sie unter die Beine, und trug sie mehr ungelenk als elegant in tieferes Wasser, und etwas abseits der badenden Masse. Hoffnungslos erlag er ihrer Weiblichkeit, und als das warme Wasser ihre schmutzigen Leiber umspülte, hatte er das Gefühl, in eine Glut von Sehnsucht und Verlangen selbst getaucht zu werden. Wie alle Jo-lie ließen sie sich von ihren Herzen leiten und treiben, und vergaßen alles andere um sich herum.
Sebastian zog sich irgendwann den Ra-li zurecht, und wollte Antarona auf seinen Armen zum Strand tragen. Doch seine Frau wehrte sanft ab:
»Ba - shtie, Sonnenherz Ra-li ist davongeschwommen, könnt ihr ihn sehen?« Er sah sich um, doch es trieb nichts auf dem Wasser, das nach ihrem Schurz aussah. Außerdem war es in der leichten Wellenbewegung schwer, etwas auszumachen, das kaum aus dem Wasser ragte. Sie tauchten unter, um besser sehen zu können. Da trieb das Stückchen Leder mit den Schnüren unter Wasser, und sah aus, wie ein seltenes, exotisches Meerestier.
Schnell war Antarona darauf zugeschwommen und hatte sich das Objekt, das sie bekleidet aussehen lassen sollte, wieder um die Taille gebunden. Sebastian wusste, dass Antarona kein Problem damit gehabt hätte, auch ohne Hüftschurz ans Ufer zurückzukehren. Die Jo-lie dachten sich nichts dabei, denn viele hatten ihre Ra-lis bereits auf dem Sand ausgezogen, und liegen gelassen. Diese Freizügigkeit gehörte zum ganz normalen Lebensalltag junger Îval, wie der Umgang mit Werkzeugen, Waffen und Tieren.
Tatsächlich verbarg Antaronas Ra-li im durchweichten Zustand noch weniger, als er es bereits im trockenen tat. Er betonte sogar noch ihre weiblichen Reize, und als sie an den Strand taumelten, klebten ihnen die nassen, schweren Accessoires auf der Haut, wie Parasiten, die sie befallen und sich an ihnen festgesaugt hatten.
Viele Jo-lie lagen inzwischen träge auf dem Strand, sonnten sich, aalten sich im Sand, und einige Pärchen hatten sich eng umschlungen ineinander verwunden. Einige planschten und tobten noch im Wasser, und hier und dort sah Sebastian ein Mädchen und einen Burschen hauteng beieinander stehen. Er musste grinsen. Ein fremder Beobachter würde meinen, sie unterhielten sich miteinander. Sebastian Lauknitz wusste es besser. Wie er und Antarona, so nutzten viele der Jo-lie ebenfalls die Gelegenheit, sich sehr nahe zu kommen.
In einer teilweise windgeschützten Sandmulde, dort, wo das Meer in zahllosen Sturmnächten ein Stück aus dem Wald herausgerissen hatte, ließen sie sich nieder. Antarona streckte sich genüsslich in der Sonne und zupfte ihren Ra-li zurecht, damit er ebenmäßig trocknen konnte.
In fahrigen Bewegungen strich sie sich über die Brüste, über ihren Bauch und die Schenkel, als wollte sie unsichtbare Insekten fortwischen, die sich auf ihr niedergelassen hatten. Dann versuchte sie ihre langen, in wirren, nassen Lagen verwühlten Haare mit den Fingern einer Hand zu ordnen, während sie die Strähnen mit der anderen in die Luft hielt.
Abwechselnd zog sie das eine, dann das andere Bein an, um sich vom Wind trocknen zu lassen. Ab und zu wischte sie den Sand herunter, der sich an ihre feuchte Haut geheftet hatte, und nun ihre reizvollen Rundungen mit einer weißen Pulverschicht überzogen hatte.
Basti lag neben ihr ausgestreckt auf der Seite, ebenfalls seine Glieder reckend. Innerlich zufrieden, und fasziniert sah Basti ihr zu, seinen Kopf auf die linke Hand und den Ellenbogen in den Sand gestützt. Wie wunderschön sie war! In solchen Momenten wurde ihm besonders bewusst, welches Glück ihn in dieser Welt erwartet hatte. Er war aus seiner Welt der Sicherheit herausgerissen worden, und in eine fremde, oft grausame und teils unzivilisierte Welt gestoßen worden. Doch das Schicksal hatte es gut mit ihm gemeint. Es hatte ihm die schönste Frau, die er sich je in Träumen hätte vorstellen können, zur Seite gestellt.
Immer noch gab es oft Momente, in denen er das Reale seiner Erlebnisse anzweifelte. Dann stellte er sich die Fragen, ob er nicht doch in einem ewigen Traum gefangen war. Oder ob er vielleicht längst tot war, und dies alles um ihn herum das Paradies war, der Himmel, die ewigen Jagdgründe, eben das Leben nach dem Tod, das laut vieler Glaubenslehren etwas Gutes, Schönes, Verheißungsvolles sein sollte. Etwas, das die meisten Menschen mit reinem Glück interpretierten.
Doch wie passten Torbuk und Karek in dieses paradiesische Glück? Wieso mussten auch hier so viele Menschen sterben, wie beispielsweise Annuk, das Mädchen, das sich für seine Gefährtinnen geopfert hatte, oder Syriel, die von Torbuks Männern geschändet und zu Tode misshandelt wurde, und noch viele andere?
Befand er sich in einer weiteren Dimension, auf dem Weg durch mehrere Welten, die nach Ewigkeiten zu einem vollkommenen Paradiese führten? Sebastian Lauknitz war zu sehr Realist, als das er bereit war, bedingungslos an solche Mären zu glauben. Aber er stellte fest, dass er sich an das Leben, so wie es in Antaronas Welt Gegebenheit war, gewöhnt hatte. Immer seltener tauchte die Frage auf, wohin, in welche Zeit, oder in welche Dimension es ihn eigentlich verschlagen hatte.
Er hatte das neue Dasein akzeptiert, und sich daran gewöhnt. Und Antarona selbst hatte einen nicht unerheblichen Anteil daran. Ja mehr noch; sie allein war der Grund dafür, dass er nicht mehr gegen seinen Aufenthalt in dieser neuen Welt aufbegehrte. Ganz im Gegenteil. Oft befiel ihn eine Angst, er könnte irgendwann aufwachen, und feststellen, dass alles nur ein schöner Traum gewesen war. In diesen Phasen wurde ihm klar, dass er nie wieder von hier fort wollte.
Basti war inzwischen sogar bereit, diese Welt für ein glückliches Leben mit Antarona zu verändern. Ob es nun der Zufall gelenkt hatte, oder sich durch die Umstände entwickelt hatte, oder es gar vorbestimmt war; seine Rolle als Areos, Sohn des Königs Bental von Falméra und Volossoda hatte er bereitwillig angenommen, weil er allein mit dem Ziel, das Böse zu besiegen, und eine Demokratie anzustreben, einen lebenswerten Lebensraum für sich, Antarona, und ihre gemeinsame Tochter erschaffen konnte.
Wie war der Mensch doch ein anpassungsfähiges, entwicklungsbedürftiges, nach Fortschritt strebendes Wesen! Wo immer Menschen auch strandeten, sie waren bemüht, ihren Lebensraum nach ihren Bedürfnissen zu gestalten, und wo sie nicht erreichen konnten, sich auf die vorherrschenden Gegebenheiten einzustellen, und sie zu nutzen, stellten sie ihre Lebensweisen um. Nach diesen Gedanken war Sebastian über sich selbst erstaunt, überrascht von seiner Fähigkeit, über sich selbst hinauszuwachsen. In seiner alten Welt hätte er diese Fähigkeiten niemals entwickeln können. Viel zu sehr war er in einem sicheren Trott gefangen gewesen.
Antarona hatte ihre langen Haare fertig geordnet, und sie mit ihrem Diadem, das mehr einem geflochtenen, metallenen Stirnband ähnelte, gebändigt. Sie schob sich eine Hand unter den Kopf und ließ die andere auf ihrem Bauch ruhen. Basti beugte sich zu ihr hinüber, küsste sie sanft, und legte seine Hand über ihre auf ihren Bauch.
»Spürst du sie schon?« fragte er behutsam. Antarona wandte sich ihm mit einem Lächeln zu. Sie nahm seine Hand und presste sie vorsichtig auf ihren nackten Bauch, der nur bei genauerem Hinsehen vermeintlich eine leichte Rundung entwickelt hatte.
»Nicht, so wie ihr denkt, Ba - shtie«, erklärte sie mit mütterlicher Sanftmut, »fühlt selbst, ob ihr etwas spürt. Sonnenherz fühlt sie schon lange, ihre Seele lebt unter ihrem Herz, und sie spricht zu Sonnenherz, manchmal im hellen Lauf Talris, oft aber während der schlafenden Sonne. Sie sagt Sonnenherz, dass sie kommen wird, und eine große, starke Kriegerin sein wird.«
Sebastian streichelte liebevoll über ihren Bauch, bedeckte ihn mit zarten Küssen und blickte ihr dann nachdenklich in die Augen und sagte leise:
»Du bist die wundervollste Frau, und ich liebe dich so sehr. Wir werden dafür sorgen, dass sie frei und behütet aufwachsen kann, egal, ob Torbuk nun besiegt ist, oder nicht. Wir gehen zu deinem Vater nach Fallwasser, und wenn wir dort nicht in Frieden leben können, weiß ich einen Ort, wo wir uns verbergen können, und wo uns niemand finden kann.«
Das war nicht das erste Mal, dass Basti an das verborgene Hochtal dachte, welches er einmal oberhalb der Felsbarriere über Högi Balmers Alp entdeckt hatte. Oft war ihm dieser versteckte Ort in den Sinn gekommen, wenn er darüber nachgedacht hatte, wohin er mit Antarona gehen konnte, wenn Torbuks Heerscharen im Val Mentiér einfallen würden. Es war kaum wahrscheinlich, dass sie bis zu Väterchen Balmers Alm kamen, und es war so gut wie ausgeschlossen, dass sie dem Bachlauf in die Felsen folgen würden, der nahezu unpassierbar war.
Die Höhle Antaronas, am See zwischen Zumweyer und Mittelau, das Hochtal, und die Hallen von Talris waren sichere Zufluchtsorte, die sie beinahe von überall im Tal binnen eines Tages erreichen konnten. Außerdem gab es eine Vielzahl von kleinen Nebentälern und darüber gelagerte Alpweiden, die bislang nur von Wildtieren aufgesucht wurden. Sebastian schätzte, dass es lange dauerte, bis Torbuk und Kareks Soldaten bis dorthin vordringen würden. Die Dörfer unter Kontrolle zu halten, würde ihre Kräfte für lange Zeit binden.
Doch Antarona, Basti, und ihre Freunde mussten erst einmal ungesehen in die Täler gelangen. Die große, teilweise sumpfige Ebene zwischen der Küste und den Taleingängen, wurde von den Heerlagern Quaronas kontrolliert. Dort, oder weiter im Norden nahe Zarollon hindurchzuschlüpfen, war für eine kleine Gruppe, die sich vorsichtig bewegte, gut möglich. Doch mit einer kleinen, unerfahrenen Armee? Sie würden eine große Portion Glück, und viel Geschick benötigen.
»Was ist dies für ein Ort?« fragte Antarona neugierig, und Basti wusste, dass sie wieder zu Gast in seinen Gedanken war. Er fragte sich, ob sie auch die Bilder wahrnehmen konnte, die in seinem Kopf entstanden, die Erinnerungen an das Hochtal, daran, wie es dort ausgesehen hatte. Oder vermochte sie nur die Tatsache zu sehen, dass er von einem solchen Tal wusste?
»Es gibt ein Tal«, verriet er ihr, »im ewigen Eis, umgeben von den Bergen von welchen der Schnee kommt. Dort ist es grün und sonnig, es gibt frisches Wasser und Wild. Niemand gelangt dorthin, denn niemand kennt den Weg dorthin. Es liegt verborgen, so, wie deine Höhle am See. Man muss im Wasser des Baches durch eine Höhle gehen, um dorthin zu gelangen. Doch der Eingang ist schwer zu finden, und mühsam zu gehen.«
»Wo ist dieses Tal, Ba - shtie, dass Sonnenherz noch nie etwas davon gehört hat?« Sie war in den Tälern aufgewachsen, und es musste ihr seltsam vorkommen, dass er von einem solchen Ort wusste, den sie nicht kannte. Sebastian lächelte überlegen, und enthüllte ihr:
»Dort, wo Högi Balmers Alm an der hohen Felsenkante endet. Aber nicht einmal Balmer selbst weiß von dem grünen Hochtal. Es würde ihm auch schwer fallen, dorthin zu gelangen. Der Weg durch den Bach ist gefährlich, und vermutlich nur in der Zeit der Ernte und des langen Schnees zu gehen. Aber genau weiß ich das nicht. Einmal nur war ich in diesem Tal, und es mutete an, wie Palast der Götter. Weiße Säulen und Wände ragen unüberwindbar hoch in den blauen Himmel. An ihrem Fuße wachsen grüne Wälder, aus denen Bäche frisch und klar springen, gesäumt von saftigen Weiden, die von Blumen und Kräutern überquellen. Das Wild vermehrt sich ungestört, und die Fische in Bächen und Seen...«
Basti geriet hoffnungslos ins Schwärmen, und erreichte, dass Antarona sich aufsetzte, den Sand von ihren Beinen strich, und ihn argwöhnisch musterte. Dann lächelte sie, als wäre sie seine Verbündete in einem großen Schwindel.
»Das hat euch die Mutter der schlafenden Sonne erzählt, nicht wahr, Ba - shtie? Es ist ein Wunsch, welcher sich euch bemächtigte.«
Basti kannte die Reaktionen seines Krähenmädchens inzwischen ziemlich genau, und er war sich sicher, dass sie sich niemals aufgesetzt hätte, wenn sie nicht einen Funken Wahrheit in seinem abenteuerlichen Bericht erahnt hätte. Außerdem klang ihr letzter Satz nicht mehr wie eine Frage. Vielmehr war es die Aufforderung, die Geschichte zu bestätigen, oder als Phantasterei zu denunzieren. Er setzte seine ernsthafteste Miene auf, legt ihr eine Hand auf den Oberschenkel und versicherte:
»Was ich dir soeben anvertraut habe, das Tal hinter den Bergen oberhalb Väterchen Balmers Weiden, das gibt es wirklich. Ich hatte es zufällig gefunden, als ich einen Weg nach Hause gesucht hatte. Aber ich habe es nur einmal gesehen, und weiß daher nicht, ob es sich eignet, dort dauerhaft zu leben. Doch als Versteck ist es beinahe sicherer, als deine Höhle.«
Mit staunenden Augen verfolgte Antarona Bastis Bericht. Er wusste, dass sie die gleichen Überlegungen anstellte, wie er selbst. Sollte Torbuks Heer das Tal überrennen, so konnten jene, die entkamen, dorthin fliehen, und sich verbergen. Möglicherweise, so überlegte Basti selbst, war es zu schaffen, den Zugang mit Baumstämmen und Geröll so weit zu verschließen, dass nur noch allein das Wasser den Felsspalt passieren konnte. Doch nur ein geringer Fehler in der Umsetzung dieser gewagten Handlung, vermochte das ganze Hochtal binnen kürzester Zeit in einen See verwandeln, wenn sich das nachströmende Wasser aufstaute.
Andererseits mochte man sich das auch zunutze machen. Staute man das Wasser bewusst und gut geplant auf, entstand ein künstlich angelegter See, dessen Wasser nach Bedarf abgelassen und die Schlucht gelenkt werden konnte. Eine bessere Verteidigungswaffe gab es nicht.
»Ba - shtie, wann wolltet ihr Sonnenherz dieses Tal zeigen?« fragte sie plötzlich, und es klang eine Spur Vorwurf in ihrer Stimme mit, wohl, weil er ihr bislang dieses Geheimnis verschwiegen hatte.
»Engelchen«, antwortete Basti darauf, »wenn wir nur ein wenig mehr Zentaren für uns gehabt hätten, so würden wir ein, oder zwei Monde dort verbracht haben, und ich hätte dir dort eine kleine Jaen-tè gebaut. Antarona nickte, als hätte sie endlich eine schwer zu begreifende Sache verstanden.
»Ihr meint also«, bohrte sie nach, »dass Sonnenherz mehr Zentaren für euch haben sollte, und sich nicht so viel für das Volk der Îval einsetzen sollte?« Basti erkannte am Klang ihres Tones, dass es nun klug war, vorsichtig zu antworten. Doch wenn Frauen in dieser Weise Fragen stellten, mochten Männer antworten wie sie wollten, es war grundsätzlich falsch.
»Nein«, versuchte er es behutsam, »ich meinte nur, wenn wir Torbuk und einen Krieg mit ihm nicht zu fürchten brauchten, so hätte ich dich längst dorthin entführt, und dich auf meinen Armen durch die Blumenwiesen getragen. Doch mit deiner Schönheit hättest du die Blumen traurig gemacht, denn sie hätten sich vor dir geschämt.«
Das Kompliment, das ihm spontan einfiel, verfehlte seine Wirkung nicht. Antarona wälzte sich mit einem Schwung auf ihn, ihre Schenkel drückten ihn in den Sand, und ihre Hände hielten seine Schultern am Boden. Wie ein Vorhang fielen ihre langen Haare herab, rahmten ihre beiden Gesichter ein und schützten sie vor den Blicken anderer. Ihre Augen leuchteten groß, und blitzten, als sie lauernd fragte:
»Ihr findet Sonnenherz also schöner als die Blumen auf den Wiesen?« Bastis Arme legten sich um ihre Taille und zogen sie zu sich herab. Leise gestand er ihr:
»Du bist schöner, als jede Blume; leuchtender, als jeder Stern am Himmel; süßer, als der Saft der Ná-chins; dein Blick ist strahlender, als die Sonne, und deine Küsse sind betörender, als Mestas. Wenn ich dich berühre, und ganz nah bei mir spüre, dann ist es, als würden so viele Elsiren um mich tanzen, wie es Wellen auf dem großen Wasser gibt. Und wenn wir vereint sind, dann habe ich das Gefühl, als würde ich eins mit dir werden, und du würdest ganz in mein Herz hinein fließen. Du bist mir das Schönste und das Liebste von allem, das jemals mein Glück bedeutete.«
Angesichts dieser Antwort wurde Antarona weich und anschmiegsam, als wollte sie tatsächlich in ihn hineinfließen. Sie kuschelte sich an ihn, und sie küssten sich, und er konnte nicht genug von ihren zarten Lippen kosten. Dass um sie herum die Jo-lie sich am Strand niederließen, ebenfalls außer Atem, vom Herumtollen im Wasser, das störte sie nicht. Sie waren unter Freunden. Sie waren ein Teil der Armee von Mehi-o-ratea.
Irgendwann keimte die Idee auf, an diesem Tag nicht weiterzuziehen, sondern das Nachtlager aufzuschlagen. Die Jo-lie waren müde. Und Sebastian wusste, dass er diese ungezwungene, kaum disziplinierte Gemeinschaft von jungen Menschen nicht dazu drängen konnte, noch ein par Kilometer weiter zu laufen. Trieb er die jungen Krieger unnötig an, konnten sie rasch das Interesse an ihrer Mission verlieren, und sich entscheiden, in Falméra zu bleiben.
Die Taktik der scheinbaren Gleichgültigkeit schien eher aufzugehen. So entwickelten die Jo-lie selbst eine Neugier, die sie mit eigener Motivation antrieb. Und mit dem eigenen Elan des Einzelnen war ihm mehr gedient, als mit einem kollektiv aufgezwungenen Pseudo- Engagement, das nicht wirklich verlässlich war.
Also tat Sebastian die Absicht kund, für die Nacht an diesem Ort zu bleiben. Damit aber begann für ihn und Antarona eine Aufgabe, die einem Treckführer gleichkam. Zunächst musste er die Jo-lie davon überzeugen, dass es ratsam war, dicht am Waldrand zu lagern. Dort waren sie zwar den Moskitos mehr ausgesetzt, als am Wasser, doch bei einsetzender Flut blieben ihre Lagerstätten trocken.
Außerdem mussten sie sich darum kümmern, dass die Pla-ka versorgt und gut gesichert wurden, damit ihnen nicht die Hälfte der Reit- und Lasttiere über Nacht fortliefen. Sebastian kümmerte sich darum, dass jede Gruppe zumindest eine Zeltplane, oder ein Xebronfell hatte, und bei einem plötzlichen Regenschauer geschützt war. Besonders die Gruppen mit den jüngeren Jo-lie besaßen kaum ein größeres Fell, da sie noch nicht so erfolgreich bei der Jagd waren.
Hier und dort gab es kleine Reibereien, weil ein gut ausgestatteter Clan nicht bereit war, eine Zeltbahn, oder ein Fell abzugeben. Mit langen Vorträgen über solidarisches Verhalten in einer Gemeinschaft, und Aufteilen der minder begüterten Clans auf andere Gruppen, erreichte er, dass jedes Dorfmitglied versorgt war.
Als endlich die Lagerfeuer brannten, und den Strand mit einem rötlichen Flackerschein in eine skurrile Licht- und Schattenwelt verwandelten, kehrte er zu seinem eigenen Lager zurück, das mit dem großen Fell des Xebron überspannt war, das sie auf dem Weg nach Mehi-o-ratea erbeutet hatten. Ein kleines Feuerchen brannte, das von drei Stücken Schwemmholz genährt wurde. Doch Antarona war nirgends zu sehen.
Links neben ihrem Lager hatten sich Tiskaja und Isane niedergelassen, und rechts von ihnen Frethnal und Vesgarina, Fiala und Ravid, sowie Èliza und Daffel und die anderen Freunde. Später erfuhr Basti, dass es beim besetzen der Lagerplätze beinahe zum Eklat gekommen war. Isane und Tiskaja beanspruchten einen Platz neben Antarona und ihm, den bereits andere eingenommen hatten. Dem Bericht Frethnals zufolge, hatten die beiden Mädchen schon mit Pfeil und Bogen auf jene angelegt, die den Lagerplatz nicht räumen wollten. Frethnal, Daffel und Ravid gingen dazwischen, und schließlich räumten die ersten Besetzer freiwillig das Feld.
Einen Augenblick lang war Basti versucht, die beiden Mädchen zu maßregeln, doch dann besann er sich anders. Er selbst hatte ihnen doch einen höheren Status suggeriert, indem er Isane öffentlich zu seiner Leibwächterin erklärt hatte. Die beiden Mädchen waren stolz darauf, an seiner Seite zu stehen, und sie würden dieses Privileg mit allen Mitteln verteidigen. Er musste still in sich hineinlächeln. Im Grunde imponierte ihn das Durchsetzungsvermögen der beiden Schwestern. Auf solche Kriegerinnen konnte er bauen!
Wie Antarona dazu stand, dass die beiden Mädchen den Platz neben ihnen notfalls mit Gewalt erobert hätten, wusste er nicht. Zumindest die Nähe von Tiskaja schürte eine gewisse Eifersucht, denn die Ältere der beiden Schwestern war attraktiv und durchaus in dem Alter, ihr Konkurrenz zu machen, sollte er schwach werden. Auch darüber musste er lächeln. Erhöhte Konkurrenz belebt das Geschäft, dachte Basti. Er war nicht geneigt, Antarona zu betrügen, doch ihn reizte der Gedanke, dass ihn sein Krähenmädchen angesichts der nahen, möglichen Rivalin mit besonderer Aufmerksamkeit bedachte. Basti fragte die beiden Lagernachbarinnen nach Antarona.
»Sonneherz ist dort hin gegangen, wo das Elsirenfeuer brennen soll«, gaben sie nüchtern Auskunft, und wiesen in die Richtung, aus der er gerade gekommen war. Sebastian schüttelte verwirrt den Kopf.
»Elsirenfeuer? jetzt und hier? Das gibt es doch nicht!« Unter böser Vorahnung stapfte er zurück, und hielt die Augen offen. Im Schein der untergehenden Sonne sahen die Gestalten, die sich auf dem Strand bewegten, wie kupfern glühende Geister aus, die scheinbar ziellos umherirrten. Nach einer ganzen Weile entdeckte er in der Mitte des Strandes einen kleinen Haufen aufgeschichteten Holzes, der von einigen der Geister umringt war. Als er näher kam, entdeckte er Antarona unter ihnen.
»Es ist nicht klug, in dieser schlafenden Sonne zu tanzen«, hörte er sie gerade sagen, »so hättet ihr ebenso gut in Mehi-o-ratea bleiben können.« Murrend widersprachen einige der umstehenden Jo-lie, und als sie Basti erblickten, der eben hinzutrat, sahen sie ihn hoffnungsvoll an.
»Was ist hier los?« fragte er laut und bestimmt, obwohl er sich bereits denken konnte, worum es ging. Ein übereifriges Mädchen, das ihn bereits bei den Probekämpfen angehimmelt hatte, trat vor, und beklagte sich:
»Sonnenherz will uns das Recht verweigern, die Elsiren zu ehren, und zu tanzen«, stieß sie aufgebracht hervor. Die anderen stimmten in ihren Protest mit ein, bis Basti die Hände hob, und Ruhe einforderte. Das Mädchen, das bereits sein Elsirenkleid trug, einen durchscheinenden Stoff, kaum mehr als ein dünner Nebel, der sich im Schein des letzten schrägen Sonnenlichts aufzulösen schien, blickte erwartungsvoll zu ihm auf. Doch die Enttäuschung huschte ihr schnell übers Gesicht, als Basti erklärte:
»Sonnenherz hat ganz recht, wenn sie sich Sorgen macht. Ihr könnt nicht die ganze Nacht tanzen, und im Beginn des Sonnenlaufs weiterziehen. Ein par von euch mögen wohl ausdauernd und kräftig sein, doch viele werden müde sein vom Tanz, und lahm, und wollen dann schlafen. Außerdem würde ein so großes Feuer weit über das große Wasser leuchten, und Torbuks Wasserwagen anlocken. Diese Gelegenheit würden sich die Wilden Horden nicht entgehen lassen, und mit einer ganzen Armada auflaufen. Wie wollt ihr euch dann verteidigen, hier am bloßen Strand, ohne den Schutz des Waldes?« Er ließ ihnen eine kleine Pause zum Nachdenken, bevor er fortfuhr:
»Kehrt an eure Lager zurück, ruht euch aus, esst und trinkt, und schlaft. Wenn wir Falméra erreicht haben, werdet ihr mehr als genug Gelegenheit haben, und so viele Elsirenfeuer, wie ihr wollt. In Falméra brennen sie jeden Abend!« Ein junger Bursche widersprach noch.
»Wer will denn die Elsirentänze der Alten und Angepassten? Wir wollen Freude haben, und unsere Freiheit, auch beim Tanzen!« Sebastian musste grinsen, denn ihm stand das Bild vor Augen, das die Elsirentänze außerhalb Falméras Stadt boten. In seiner Welt hätte man die zügellose Freizügigkeit so bezeichnet: Ein Tanz nackter, wilder Teufel. Doch in Antaronas Welt war es ein Teil der Kultur, der im Umbruch war, in einer Entwicklung zu einem revolutionären Aufbruch der Jugend.
»Mein Freund«, ging Basti freundlich auf den jungen Mann ein, »auch Sonnenherz und ich wollen die Freude und die Freiheit der neuen Tänze, dafür haben wir sie ja verändert, wie ihr wisst. Aber bedenkt, dass wir uns diese Freiheit nur erhalten, wenn wir für sie kämpfen. Und dazu ist nötig, so schnell und ausgeruht wie möglich nach Falméra und in die Täler unter dem ewigen Eis zu gelangen. Denn dort wird die erste Entscheidung fallen, ob wir weiter nach unserer eigenen Phantasie für die Elsiren tanzen werden, oder als Sklaven in den Bergen der schlafenden Sonne verrotten.«
Beschämt blickte der Bursche zu Boden, und mit ihm die anderen, die seinem lauten Protest gefolgt waren. Er schob vor lauter Verlegenheit mit seinem nackten Fuß den Sand hin und her, und sagte kleinlaut:
»Verzeiht Herr, ich hatte nur an das Vergnügen jetzt und hier gedacht, und ganz vergessen, dass wir ja losgezogen waren, um genau das für immer zu behalten.« Sebastian nickte und sprach:
»Ihr werdet nicht lange darauf verzichten müssen. An den Stränden außerhalb der Stadtmauer brennen jede Nacht die Elsirenfeuer, auf denen nicht die Augen des Königs ruhen. Dort werden wir uns sehen. Und was ihr sonst während der schlafenden Sonnen unseres Weges nach Falméra tut, sei euch selbst überlassen.«
Damit deutete Basti mit dem Kopf auf das junge Mädchen, das im filigranen Hauch eines Elsirenkleides neben dem Jungen stand, und ihre Hand wie Besitz ergreifend auf seinen Unterarm gelegt hatte. Selbst im Feuerlicht der letzten, roten Sonnenstrahlen fiel die Farbe auf, die das Gesicht des Burschen eroberte, und seine Wangen krebsrot erglühen ließ.
Die kleine Gruppe, die das Tanzfeuer vorbereiten wollte, zerstreute sich ohne weitere Kommentare. Sebastian spürte, dass sie sein Urteil akzeptierten, und er wusste, dass sich diese Akzeptanz bei den Jo-lie verdient werden musste. Er hatte sie sich verdient.
Antarona stand neben ihm, und sie blickten den jungen Männern und Frauen nach, die zwar noch etwas enttäuscht waren, aber auch stolz auf ihre große Mission. Das anerkennende Lächeln des Krähenmädchens nahm Basti gar nicht wahr. Seine Augen verfolgten noch die Jo-lie, die zu ihren Clans an die Lagerfeuer zurückkehrten. Antaronas Blick aber hatte sich verändert, seit sie sich das erste Mal im Val Mentiér begegnet waren.
Inzwischen hatten sie gemeinsam eine Vielzahl von Prüfungen durchlebt, und hatten Vieles ertragen müssen, das sie eng verbunden, und ihre Liebe gefestigt hatte. Sie blickt nun einen Mann, dem sie vertrauen konnte, zu dem sie aufschauen konnte, und vor den sie als Frau achten konnte. Sie war stolz auf ihn, wenn er mit seinem Urteil überzeugte, oder mit seinem Handeln feste Tatsachen schaffte. Sie hatte den Mann gefunden, den sie so viele Jahre lang gesucht hatte. Einen Mann, den sie respektieren, bewundern, und lieben konnte.
Wäre da nicht das Böse über dem Land ihrer Vorfahren, und ihre schwere Aufgabe, die ihre Zukunft immer wieder in Gefahr zu bringen drohte, so konnte sie die glücklichste, zufriedenste Frau unter der Güte und Gnade Talris sein. Ja, sie würde Ba - shtie sogar in seine Welt folgen, in die Welt von den Göttern, die ihrem Ba - shtie, dem Areos von Falméra, ihre Zeichen auf seinen Leib geschrieben hatten.
Doch im Grunde träumte sie davon, mit Ba - shtie und ihrer Tochter ein einfaches Leben im Val Mentiér zu führen, Pla-ka zu züchten, oder zu jagen, und das Geheimnis der Hallen von Talris zu hüten, sowie das der Höhle am See. Auch wenn sie Gewissheit darüber hätte, dass König Bental ihr leiblicher Vater war, was sie immer noch bezweifelte, wollte sie nicht in Falméra leben. Die Elsiren hatten ihre Verbindung mit Ba - shtie gesegnet. Diese kleinen Leuchtwesen wussten immer, was sie taten. Sonnenherz und Ba - shtie - laug - nids, das war richtig und gut!
Ihr Zuhause war das Val Mentiér mit seinen vielfältigen Tälern, den unendlichen Wäldern und den unerreichbaren Bergspitzen, hinter denen das ewige Eis die Welt enden ließ. Das Haus Hedarons, des Mannes den sie als ihren Vater kennengelernt und erlebt hatte, den sie liebte. Das Land, das ihr seit jeher die Freiheit und Freizügigkeit gewährt hatte, zu tun und zu lassen, was ihr in den Sinn kam.
Dort, in den Tälern, wo sie sich überall verstecken konnte, wenn es nötig war, wo sie wie ein Dämon aus den Wäldern auftauchen, und ihre Feinde bekämpfen konnte, um dann genauso plötzlich wieder zu verschwinden; wo sie Pfade zu nutzen wusste, die nur sie allein kannte, und Kräuter fand, die in jeder Lebenslage halfen; dort war sie zu hause, dort war ihre Heimat.
Dies alles ging ihr durch den Kopf, als sie neben Basti zu ihrem Lager zurück ging. Irgendwie fühlte sie, dass ihre Welt auch Ba - shties Welt war. Sie spürte, dass auch er mit der rauen, wilden Landschaft des Val Mentiér besser zurechtkam, als mit dem Regieren des riesigen Stadtstaates Falméra und der Burg.
Dann aber wühlten jene Bilder wieder Herz und Geist in ihr auf, die sie vom Berg aus gesehen hatte, als sie auf dem Weg nach Falméra gewesen waren. Die endlos in der Ebene verteilten Haufen weißer Punkte im Grün. Jeder Punkt ein Zelt mit fünf bis sechs Mann, erfahrene Krieger, schwarze Reiter, wilde Horden. Sie waren so viele, dass einem Mann der Îval so viele Krieger gegenüber standen, wie Finger an beiden Händen waren.
»Mein Engelchen, woran denkst du?« Sie hatten das Lagerfeuer erreicht. Basti hatte sich auf ein Baumstück gesetzt, und beobachtete, wie Antarona stehen blieb, als wäre plötzlich das Leben aus ihr gewichen, und sich ihr Blick in fernen, namenlosen Weiten verlor. Sie stand verloren da, als hätte jemand einen Schalter an ihr umgelegt, und ihre Sinne abgeschaltet. Über die Flammen des Feuers hinweg blickte sie die schwarze Wand des Waldrands an, als spiegelten sich dort die Bilder der Zukunft. Basti kannte das schon, und wusste, dass sie in solchen Stimmungen nicht sofort reagierte.
»Was bewegt deine Sinne, mein Stern des Himmels«, fragte er noch einmal lauter, und fasste ihre Hand. Sie wandte ihm den Kopf zu, als erwachte sie aus einem tiefen Traum. Mit den Gedanken noch fern, sah sie auf ihn herab. Dann lächelte sie kurz, und setzte sich neben ihn. Sie schmiegte ihren Kopf in seine Halsbeuge und schlang ihre Arme um ihn. Ihre Stimme klang leise, rau und kehlig:
»Ba - shtie, können Sonnenherz und Glanzauge und ihre Freunde das Böse aus Quaronas besiegen?« Eine große Unsicherheit, ja fast schon Ängstlichkeit schwang in ihrer Frage mit. Er legte ihr den Arm um die Taille, als wollte er sie damit beruhigen. Was sollte er sagen? Er selbst wusste ja noch nicht einmal, was auf sie zukam. Das sie nicht einfach in die Täler gehen, und Torbuks Truppen hinauswerfen konnten, das wusste er definitiv.
Ebenso unmöglich war es, die Heerlager in der Ebene anzugreifen. Sie waren zahlenmäßig so unterlegen, dass es einem Selbstopfer gleichkam. Und die Taktik, stets aus dem Hinterhalt angreifen, und sich wieder zurückziehen, bedeutete einen langen, zermürbenden Krieg, der möglicherweise jahrelang zu keiner Entscheidung führen würde. Für die Dörfler aber würde es ein endloses Leiden bedeuten. Sebastian vermochte noch nicht einmal abzuschätzen, wohin dieser Konflikt hinauslaufen würde. Aber sie hatten keine Wahl, denn der Konflikt war bereits da, in den Tälern. Tatsächlich hatte er sie jedoch schon auf Falméra eingeholt.
»Glaubt ihr, dass die Jo-lie, die Îval, Ogbéni und Keháni, und die Elohim siegen können, Ba - shtie, ja, glaubt ihr das?« Beinahe bettelnd blickte sie ihn an, und sie tat ihm leid. Er ahnte, dass der Krieg noch lange nicht vorüber sein würde, wenn ihre Tochter geboren wurde, was offenkundig Antaronas größte Sorge war. Sebastian hob müde die Schultern und sagte:
»Ich weiß es nicht, mein Engelchen, es wird sehr schwer werden. Wenn die Leute in den Dörfern und in Falméra zusammenhalten, und sich einig sind, dann können wir Torbuk und Karek so viel Schaden zufügen, dass seine Heere irgendwann die Strapazen satt haben, und sich möglicherweise gegen Quaronas stellen. Ja, ich glaube, dass wir mit Geduld und Beharrlichkeit die Truppen Torbuks aufhalten, und irgendwann besiegen können, wenn wir nicht müde werden, sie zu piesacken, wie die Moskitos in den Sümpfen.«
Zweifelnd sah ihn das Krähenmädchen an, und er wusste, dass ihr diese Antwort nicht genügte. Seine Aussage beinhaltete keine zuverlässige Aussage, sondern ließ alles für unbestimmte Zeit offen. Das wiederum verunsicherte ihn selbst. Er kannte die Täler unter dem ewigen Eis nur von den Karten aus der Bibliothek der Burg Falméra. Außer dem Val Mentiér hatte er nichts von dem Land gesehen, in dem Antarona aufgewachsen war.
Kamen sie dorthin, so musste er zunächst die Täler bereisen, um sich einen Überblick zu verschaffen. Er musste die Menschen in den Dörfern einschwören, sie ausrüsten, und organisieren. Er musste quasi eine Armee aus völlig ungeübten, einfältigen Bauern aufstellen. Als Helfer für das gigantische Unterfangen hatte er nur Antarona, seine Freunde, die Windreiter, und den Achterrat. Reichlich wenig für einen, der einem hunderttausend Mann starken Heer die Stirn bieten wollte.
Und dann mochten Jahre der Scharmützel und kleinen Gefechte vergehen, bis etwas entschieden war. Möglicherweise mussten sie fliehen, sich irgendwo verbergen, oder in abgeschiedenen Verstecken leben, aus denen heraus sie immer wieder Torbuks Truppen angreifen würden, um sich sogleich wieder zurückzuziehen. Das konnte ewig so weitergehen. Ihre Tochter würde vielleicht nie in Frieden und Geborgenheit aufwachsen. Womöglich würde sie eine ähnliche Kindheit erleben, wie Antarona selbst.
Sebastian schüttelte stumm den Kopf, als wollte er diese Vorstellung von sich abschütteln. Doch vor Antarona konnte er seine Empfindungen nicht verheimlichen. Sie spürte die Sorge in ihm, die Unsicherheit, die in ihm wuchs, je länger er darüber nachdachte.
»Die Îval werden niemals in Frieden leben, nicht wahr, Ba - shtie?« Ihre Frage war mehr eine Feststellung, die sie aus seinen Gedanken heraus interpretierte. Er schloss seine Arme enger um sie, und drückte ihren warmen Körper an sich.
»Wenn wir uns den Frieden nicht mit dem Kampf erringen können, gehen wir irgendwohin, wo es gutes Land gibt, wo wir willkommen sind, wo wir nicht jeden Tag Angst um unser Kind haben müssen«, versprach er. Gleichzeitig wusste er, dass er ihr ein Stück der Hoffnung nahm, die er ihr gemacht hatte, als sie sich begegnet waren. Ernüchtert musste er zugeben, dass er, geblendet durch ihre Schönheit, mehr in Aussicht gestellt hatte, als er garantieren konnte. Was einem Mann alles so einfällt, um das Herz einer Frau zu erobern.
Aber er hatte ja nur bestärkt, was Antarona ohnehin geglaubt hatte, versuchte er sich vor seinem Gewissen zu entschuldigen. Verliebt sah er das Mädchen an, das sich in seine Arme geschmiegt hatte. Er würde es wieder tun. Jederzeit! Antarona war etwas Besonderes, das Höchste, was ein Mann für sich gewinnen konnte; ohne sie würde er nicht mehr leben wollen. Für sie allein wagte er das unsichere Spiel. Für sie und ein Leben mit ihr wurde er zum Krieger, zum Feldherrn, abenteuerlich sogar zum König.
Dieses zierliche Mädchen an seiner Seite, das so zerbrechlich wirkte, und sich doch so stark in vielen Lebenslagen zeigte, war der Grund für das Abenteuer, dass er in diesem Land blieb, und die Absicht aufgegeben hatte, einen Weg zurück in seine Welt zu finden.
Sie besaß eine unergründliche Macht über ihn, sie gab ihm die Kraft, Dinge zu tun, die er niemals für möglich gehalten hatte, sie entfachte nie gekannten Mut in ihm, und weckte eine seinen Körper durchflutende Leidenschaft in ihm, wenn er sie nur ansah. Er war ihrem Wesen, ihrer Anmut und ihrer Schönheit hoffnungslos verfallen. Und es war ein gutes, stürmisches, und tiefes Gefühl, das er intensiver nie gespürt hatte. Es war grenzenlose Liebe!
Antarona sagte nichts mehr. Zunächst war Basti verunsichert darüber, ob sie nicht doch hoffnungslos enttäuscht von ihm war. Doch dann rollte sie sich in seinen Armen zusammen, streichelte ihn, und ihre Finger spielten zärtlich mit seinen Brusthaaren. Er betrachtete das kleine, bronzefarbene Wesen mit den langen schwarzen Haaren und den großen, unergründlichen Augen.
Dies war die Kriegerin, bei Freunden geachtet, bei Feinden gefürchtet, die Legende, die Hoffnung vieler Îval. So zart, zerbrechlich, und anschmiegsam; so sensibel und feingeistig. Und doch, wenn sie explodierte, ihrem Temperament freien Lauf ließ, wenn sie gegen das Unrecht aufstand, ja selbst, wenn sie liebte, mochte sie zu einer Pantherin werden, deren Kraft, Ausdauer und Willensstärke jeden beeindruckte.
Der Schein des Feuers tanzte auf ihrer nackten, glänzenden Haut, bis ihr ruhiger, gleichmäßiger Atem verriet, dass sie eingeschlafen war. Basti zog das Fell bis über ihre Schultern, hielt sie fest, und streichelte ihr liebevoll über das kräftige, seidige Haar. Ihre Hand lag auf seiner Brust, und es fühlte sich an, als strömte eine wohlige Hitze aus ihr heraus, und umfasste sein Herz. Es war ein wunderbares Gefühl, und er spürte die innige Verbindung zwischen ihnen, als würde das Feuer der Elsiren durch ihre Körper hin und her strömen.
Vorsichtig sah Basti sich um. Doch Elsiren sah er keine. Dennoch hatte er das Gefühl, die kleinen Leuchtwesen wären allgegenwärtig. Aber vielleicht waren sie das ja auch. Die Elsiren waren es, die ihre Liebe gesegnet hatten. Und im Vertrauen auf diese Liebe schlummerte Antarona an ihn gekuschelt sorglos und behütet. Nun glaubte auch Basti, dass die Macht und die Kraft der Elsiren in ihrer innigen Verbindung wohnte.
Seine Gedanken reisten ein par Monde zurück, an jene Orte im Val Mentiér, wo er mit seiner kleinen, starken Frau die ersten Schlachten gegen Torbuk geschlagen hatte. Er erinnerte sich, was ihm ein Mann aus dem Val Mentiér damals über Antarona verraten hatte:
Sonnenherz ist wie die Mutter der Seelen und wie eine Felsenbärin gleichermaßen. Sie ist die Hoffnung aller Menschen hier im Tal. Und sie ist des Holzers liebstes Kind, sein ganzer Stolz... Der Holzer ist ein guter Mann.., aber verstockt und eigensinnig. Eine raue, harte Schale umgibt sein Herz, das vor Kummer krank ist! Seid ihr so stark, Herr, dass ihr ihm die einzige Rosenknospe in seinem Garten nehmen könnt, ohne, dass er euch den Schädel einschlägt?
Ja, Sebastian Lauknitz vermochte dem groben Holzer diese zarte Rosenknospe zu nehmen. Doch ohne die Elsiren, die ihnen im nächtlichen Sumpf ihren Segen gegeben hatten, wäre ihre Liebe wohl von Hedaron verboten und behindert worden. Immer mehr wurde ihm klar, welche Macht, welchen Einfluss diese kleinen Wunderwesen auf die Menschen der Îval hatten. Im Grunde waren sie so etwas wie Engel. Kleine, leuchtende, brennend heiße Götterboten.
Was unter dem Schutz der Elsiren stand, war va-ra-hi, heilig, unantastbar. So wurde ihre Liebe für Hedaron den Holzer va-ra-hi. Und seltsamerweise schienen die Elsiren ein untrügliches Gespür dafür zu haben, wer für eine Verbindung aus ehrlicher Liebe bereit ist. Als Vesgarina und Frethnal ihre Liebe fanden, waren die Elsiren plötzlich ebenfalls zur Stelle, und segneten die Verbindung. Selbst die Jo-lie waren in die Sümpfe Mehi-o-rateas gegangen, um ihre Liebe von den Elsiren begründen zu lassen.
Soweit Sebastian inzwischen wusste, vermochten selbst beide Eltern von Verliebten die Verbindung ihrer Kinder nicht mehr aufzulösen, wenn sie unter dem Schutz der Elsiren standen. Allein die Liebenden selbst hatten das gemeinsame, oder einseitige Recht dazu. Dies stand allerdings nicht in den Gesetzen der Regierung in Falméra festgeschrieben. Es war ein ungeschriebenes Gesetz des Volkes, des Glaubens, und der Traditionen.
Regungslos saß Sebastian vor dem kleinen Feuer, an eine riesige Baumwurzel gelehnt, die das Meer irgendwann dem Waldrand abgerungen hatte, und hielt das schlafende Krähenmädchen im Arm. Allmählich wurde sein Rücken von der einseitigen Haltung taub. Doch er wagte nicht, sich zu rühren, um Antarona nicht aufzuwecken. So ließ er seinen Blick über den Strand und das Meer gleiten, um sich abzulenken.
Das letzte Rot der Sonne hatte sich in Violett verwandelt, das allmählich vom Dunkel der Nacht abgelöst wurde. Das lustige Zwitschern der Vögel im nahen Wald hatte sich mit zunehmendem Lichtverlust in andere, fast mystisch klingende Geräusche verwandelt. Die Grillen hatten ihr Konzert an die Zikaden übergeben, die ungleich lauter den akustischen Hintergrund der Nacht füllten.
Andere Geräusche durchbrachen die friedlichen, geheimnisvollen Klänge der schlafenden Sonne. Verhaltenes Lachen und Erzählen, hier und dort der Gesang einer wirklich begabten Stimme. Die Frauen der Îval und Jo-lie waren begnadete Sängerinnen, wenn sie nicht gerade damit beschäftigt waren, Feuer zu machen, zu waschen, Felle zu gerben, oder den Männern und Burschen als Kriegerinnen Konkurrenz zu machen. Basti lauschte dem lieblichen Klang eines Liedes, das so viel Frieden und Liebe, so viel Geborgenheit und Ruhe vermittelte, wie er es selten vernommen hatte.
Zwischendurch sah er Pärchen ins Wasser springen, in den kleinen, weiß gekräuselten Wellen hin und her tollend, bis sie erschöpft, und triefend, Hand in Hand auf den Strand zurückkehrten, und sich im Sand niederließen. Viele liebten sich ungeniert und ungehemmt im weichen Sand, von jedem zu sehen, denn die Lagerfeuer, die über eine lange Strecke den Strand und die Mauer des Waldrands erleuchteten, verbargen kaum etwas.
Die Freizügigkeit und Offenheit der Jo-lie erstaunte ihn. Überall sah er im Feuerschein nackte, Bronze glänzende Körper sich umeinander winden, sich aufbäumen und senken, ohne die geringste Scham und Intimsphäre sich aneinander reiben und im Rausch der Ekstase sich beglücken. Es war wie der Zauber einer Legende, die Philosophie von Mehi-o-ratea, Falméras Enklave der freien, unbegrenzten Liebe.
In Sebastians Welt hätten unzählige Ordnungshüter den Strand getürmt, um die vermeintliche Orgie sexistischer Sekten zu beenden. Die Mächtigen von Falméra blickten wohl mit Sorge und ohne Wohlwollen auf das Dorf der freien Liebe, in das sich ihre Teenager vor den Zwängen ihrer Welt flüchteten, doch eingeschritten waren sie nie. Die Macht der Elsiren, und vielleicht die Furcht vor einer geschlossenen Opposition der Jugend hatte sie stets davon abgehalten.
Im Val Mentiér und den angrenzenden Tälern gab es die gleichen Freiheiten, das wusste er von Antarona. Doch lebten die jungen Menschen dort ihre erotische Freizügigkeit nicht in einer solidarischen Kommune. Zwei, die sich liebten, zogen sich in einsame Winkel oder Gegenden zurück, wo sie Elsiren anzutreffen hofften, die ihre Verbindung ohne Zustimmung der Eltern segneten, und somit traditionell legitimierten.
Freilich gab es jene, die sich an die Gebote ihrer Eltern hielten, und sich mit Partnern verbanden, die ihre Eltern akzeptierten, oder aussuchten. Eine Verbindungszeremonie, die einer Hochzeit in Bastis Welt gleichkam, wurde so oder so dennoch gefeiert. Nicht selten geschah es, dass Eltern eine solche Feier für ihre Kinder ausrichteten, die ihnen bereits Enkel beschert hatten.
Basti fragte sich, ob ihm dieses Zeremoniell auch noch bevorstand. Hedaron würde kaum darauf verzichten, sein einziges Töchterchen in die Hand eines Mannes zu geben, ohne dies mit einem großen Fest vor dem Dorf zu bekunden. Wahrscheinlich wartete er bereits sehnsüchtig auf die Rückkehr seiner Tochter, in der Hoffnung, die Geburt seines Enkelkindes mitzuerleben. Da er von ihrer Verbindung durch die Elsiren wusste, konnte er kaum davon ausgehen, seine Tochter als unangetastete Knospe wiederzusehen.
Aber er, Sebastian Lauknitz, nahm sich vor, dem alten Holzer eine wunderschöne, leuchtend erblühte Blume zurückzubringen. Und er würde jedes nur erdenkliche Verbindungsritual über sich ergehen lassen, um Hedaron und die Dorfgemeinschaft davon zu überzeugen, dass Sonnenherz und der Mann mit den Zeichen der Götter untrennbar zusammengehörten.
Nicht weit von ihrem Lager entfernt, entstiegen Frethnal und Vesgarina gerade dem Meer, dessen kleine Wogen den Tanz der orangenen Flammen der Lagerfeuer glitzernd widerspiegelten. Mitten auf dem Strand ließen sie sich nieder, und Basti sah, wie Frethnal sich über den hell schimmernden Körper der Wenderin warf. Es befremdete ihn zunächst etwas, auch seinen Diener und Antaronas Zofe ohne jede Scheu ihre Liebe ausleben zu sehen. Aber auch sie waren Îval, und sie waren jung und voller Abenteuer. Wie ganz natürlich gehörten sie damit ebenfalls zur Gemeinschaft der Jo-lie.
Sebastian gebot sich, nicht zu den beiden hinüberzustarren. Wenngleich die Jo-lie ihren Leidenschaften und erotischen Ausschweifungen auch ohne jede Hemmungen und Intimsphäre nachgingen, respektierten sie die Zweisamkeit von Verliebten. Dazu gehörte wohl nicht ein zwanghaftes Wegschauen, aber ebenso wenig das Beobachten. Dennoch warf er einen flüchtigen Blick auf die beiden. Vesgarinas helle Haut und ihr blondes, fast weißes Haar leuchteten weithin im Schein der vielen Feuer, der schonungslos ihr Tun preisgab.
Beim Gedanken daran, welchen Gelüsten sich die beiden hingaben, stieg auch in Basti ein Verlangen nach Antaronas Reizen auf. Doch er ließ sie schlafen. Viel zu selten war ihnen ein scheinbar unbekümmerter, behüteter Schlaf beschert gewesen. Langsam, um Antarona nicht aufzuwecken, ließ er sich seitlich an seiner Wurzellehne zu Boden gleiten, zog seine kleine Kriegerin an sich, und war bald selbst in tiefen Schlaf gefallen.
Es war noch nacht, als er durch die Hitze unter dem dicken Xebronfell geweckt wurde. Er hatte unangenehm geschwitzt, und auch Antaronas Haut fühlte sich feucht an. Vorsichtig wand er sich unter der wärmenden Tierhaut hervor. Die Nacht war drückend und heiß. Kaum ein Lüftchen regte sich, das imstande gewesen wäre, seinen nass geschwitzten Körper zu trocknen.
Am Strand war es ruhig geworden. Die Feuer waren zu flachen, glimmenden Flecken zusammengesackt, und die meisten Jo-lie schliefen tief und fest. Ein einsames Pärchen wanderte langsam den Strand entlang, die Füße durch das anspülende Meerwasser ziehend. Arm in Arm gingen sie vorüber, schienen nur sich selbst wahrzunehmen.
Der abnehmende Halbmond warf still sein silbernes Licht über das Meer, und ließ die kleinen Wellen wie Tausende leuchtender Fische erscheinen, die sich scheinbar an der Wasseroberfläche tummelten. Der Geist der Welt schien in ewigem Frieden versunken, als hätte sie ihr Gesicht abgekehrt, von den bösen Ereignissen, die auf ihr wirkten. Bastis Augen wurden schwer, und Antaronas gleichmäßiger Atem ging auf ihn über, versetzte ihn in eine tiefe Ruhe, bis er eingeschlafen war.
Irgendwann, der Mond war bereits ein schönes Stück gewandert, regte sich Antarona neben ihm. Sofort war er hellwach, und änderte seine Position, denn sein Rücken war steif geworden, und fühlte sich an, als hätte jemand eine glühende Eisenstange seine Wirbelsäule hinabgeschoben. Antarona lag nun halb in seinem Schoß und blinzelte ihn an.
»Ihr habt euch nicht bewegt, um Sonnenherz nicht aus der Mutter der Nacht zu holen«, stellte sie fest. Was zunächst sehr nüchtern klang, meinte sie anerkennend, denn sie schlug die Augen nieder, als wollte sie sich entschuldigen. Sebastian winkte ab.
»War nicht so schlimm«, tat er heldenhaft, »ich hatte mich mit dem Treiben am Strand abgelenkt.« Antarona musterte ihn mit fragendem Blick.
»Na ja«, versuchte er zu erklären, »die Jo-lie scheinen selbst ihre geheimsten Zweisamkeiten nicht vor Anderen zu verbergen. Während du schliefst, konnte ich alles mitbekommen, wer sich mit wem vereinigte, wer...«
»Und, hatte es euch auch verlangt, euch zu vereinigen?« Basti war überrascht und ein wenig schockiert von Antaronas direkter Offenheit, mit der sie ihn unterbrach. Er hob nichtssagend die Schultern, und antwortete nicht. Er wusste in diesem Moment nicht, was er hätte sagen sollen. Das Krähenmädchen aber bohrte nach.
»Die Jo-lie verbergen nichts voreinander«, sagte sie mit einem unterschwelligen Tadel. Offenbar hielt sie Sebastian für prüde.
»Ihre Liebe und Verbundenheit ist kein Geheimnis. Wolltet ihr Sonnenherz auch am Strand lieben, ohne es zu verstecken?« fragte sie schonungslos direkt, und lächelte ihn herausfordernd an. Das verunsicherte ihn. In seiner Welt, zumindest nach seiner Erziehung, wurde das Thema mit etwas mehr Diskretion behandelt. Doch angesteckt von der freizügigen Enthüllung aller zwischenmenschlichen Beziehungen, gab er zu:
»Ja, in diesem Moment hatte ich Sehnsucht nach dir, nach.., deiner Haut, nach deiner.., ach nach dir einfach!« Er wusste nicht, wie er es ausdrücken sollte, er war es nicht gewohnt, sein Begehren, sein Verlangen nach Sex offen auszusprechen. Das wiederum amüsierte Antarona. Sie spürte seine Unsicherheit, die letzte Bastion, die sie an ihm noch erobern konnte, die sie reizte, ihn aus seiner Sicherheit zu locken.
»Nach Sonnenherz weichem Schoß, nach der Glut unter ihrem Ra-li?« Sie provozierte und funkelte ihn dabei neckisch an. Sebastian verlor nun völlig den Faden.
»Ja, vielleicht, also ich glaube schon«, stotterte er unsicher. Antarona setzte sich auf und funkelte ihn einladend und auffordernd an.
»Wollt ihr mit Sonnenherz zum Wasser hinabgehen?« Diese eindeutige Aufforderung wirbelte alles in seinem Kopf hoffnungslos durcheinander. Er dachte darüber nach, was alles noch kommen konnte; sie konnten morgen schon nicht mehr leben! Dieser Möglichkeit geschuldet ließ er alle restlichen Hemmungen fallen. Er stand auf, nahm ihre Hand und führte sie zum Meer hinunter.
Das Wasser fühlte sich kühl an, als sie hineinwateten. Das Licht der Feuer am Strand glitzerte romantisch auf den Wellen, und indem Bastis Ra-li von der Gischt umspült wurde, spürte er die magische Anziehungskraft, die ihn zu seiner Gefährtin hinzog. Die kleine Eroberung seiner letzten Hemmschwelle, die Antarona genießen wollte, endete damit, dass er im Sturm zum Gegenangriff überging.
»Ich möchte dir für vorhin danken, mein kleines Engelchen«, raunte er ihr zu, während er ihren schlanken Körper an sich zog, »ich hatte nicht gedacht, dass du so sehr nach mir verlangst.« Sie sahen sich fest in die Augen, als Basti sich langsam vorlehnte, bis Antarona seinen Atem in ihrem Gesicht fühlen konnte. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals, als sich seine Lippen fordernd auf ihre pressten.
Plötzlich drehte sich das Krähenmädchen weg, und mit einem satten Knall klatschte ihre kleine Hand auf seine Wange. Gerade noch bekam er rechtzeitig noch rechtzeitig ihr Handgelenk zu fassen, ehe sie erneut zuschlagen
konnte. Völlig perplex starrte er sie an, blickte von einem Moment auf den anderen in die sprühenden Funken ihrer Augen.
»Was bildet ihr euch bloß ein?« zischte sie ihn an, »glaubt ihr, Sonnenherz bettelt um eure Zärtlichkeit, und sie schmachtet hinter euch her? Glaubt ihr, sie kann euch nicht widerstehen, ja, glaubt ihr das?« Es kam es zu einer Rangelei, während sie versuchte, ihn nochmals zu ohrfeigen. Doch gegen seine Kraft hatte sie keine Chance. Mühelos gewann er die Oberhand und dreht sie wieder zu sich.
Ihr Widerstand, ihr plötzlich losbrechendes Temperament, und das Feuer, das Funken in ihren dunklen Augen zu sprühen begann, reizte ihn um so mehr, sie zu zähmen, und seine Begehren stieg ihm in den Kopf.
»Ach komm schon, Engelchen, jetzt tu bloß nicht so«, versuchte er zu beschwichtigen, »du hast mich doch eben noch aufgefordert, mit dir ans Meer hinunter...« Weiter kam er nicht. Wütend fauchte sie ihn an:
»Was? Sonnenherz hört wohl nicht richtig? Ihr wolltet es doch auch, oder nicht?« Aber anstatt ihr zu antworten, ließ er einfach seine rechte Hand über ihren nassen Körper wandern, während er ihr mit der linken die Handgelenke über dem Kopf zusammenhielt.
Das tut er jetzt nicht, dachte Antarona noch, aber schon im nächsten Augenblick spürte sie, wie seine kräftigen Hände ihre Taille umfassten, und sie kompromisslos zu sich zog. Sprachlos starrte sie ihn an, wütend, entsetzt. Ihr Stolz gebot ihr, sich noch zu wehren, ihre Arme und Hände gegen seine Brust zu stemmen. Doch dann sah sie ihm in die Augen. Der Stolz der Kriegerin, ihre Gegenwehr brach zusammen, die Kraft ihres Widerstandes wich.
Aber noch mehr als die Unverschämtheit ihres dreisten Gefährten erschrak sie über das lustvolle Prickeln, das sich in meiner Mitte bemerkbar machte, kaum dass seine Handflächen ihre erhitzte Haut berührten. Warum bei den Göttern reagierte sie so auf ihn? Warum blieb sie nicht einmal stark? Wo sie sein Verhalten doch gerade eben noch mit jeder Faser ihres Körpers verabscheuen wollte?
Hör auf dagegen anzukämpfen! Du willst es doch genauso haben hörte sie das Echo in ihrem Kopf. Sie spürte die Wärme Bastis Haut und ihre Knie versagten ihr den Gehorsam. Gleichzeitig entfuhr ihr ein letztes Aufbäumen.
»Nein, verdammt, hört sofort auf!« Ihr halbherziger Versuch, ihn von sich zu weisen, löste in seinem Gesicht nur ein freches Lächeln aus. Dann bestimmte Basti, was geschah, und sie gab sich dem Gefühl hin, das sie beide wie eine gigantische Welle überrollte...
Schwer atmend lagen sie unter dem mit Sternen überladenen Himmel, blickten hinauf, und ließen ihre Körper vom leichten Wind, der über das Meer heranwehte, abkühlen. Ihre Hände suchten sich, umfassten sich, verkrallten sich ineinander, als könnte irgend eine fremde Macht sie trennen wollen.
Erst, als der Wind sie leicht frösteln ließ, suchten sie ihre Ra-li, hängten sie sich um, und gingen den flach geneigten Strand hinauf zu ihrem Lager, dessen Feuer nur noch still vor sich hin glomm. Einige Jo-lie hatten sich mitten im Strand zum schlafen gelegt, einige waren wach, und blickten verträumt in die Sterne.
Ein einzelner Bursche lag auf seinem Fell, schien nicht schlafen zu können, und wandte kurz den Kopf, als Basti und Antarona Hand in Hand vorübergingen. Sebastian erkannte ihn. Kadim. Der junge Mann tat, als registrierte er das Paar nur am Rande. Doch er hätte schon schwerhörig gewesen sein müssen, wenn er Antaronas und Bastis Aktivitäten am Strand nicht mitbekommen hätte. Basti malte sich aus, was er empfunden haben musste, als sie sich in Sicht- und Hörweite seines Lagers geliebt hatten.
Kadim hätte selbst gern Hand an das Krähenmädchen gelegt, sie gezähmt, sie erobert, sie ihm zu Willen gemacht. Das war ihm nicht gelungen. Statt dessen musste er nun in einsamer Nacht miterleben, wie sie sich Areos mit jeder Faser ihres Geistes und Körpers hingegeben hatte. Das musste ihn fast um den Verstand gebracht haben. Doch er ließ sich die heimliche Eifersucht nicht anmerken. Sebastian wusste aber, dass er nun einen erklärten Feind, einen heimlichen Nebenbuhler hatte, der ihm noch das Leben schwer machen konnte.
Kadim hatte sich kaum in Antarona verliebt, das zeigte sein Verhalten ihr gegenüber bei dem Kampf, den sich die beiden geliefert hatten. Aber er war es nicht gewohnt, zu verlieren. Ihm ging es allein darum, sie zu erobern, ihren Stolz zu brechen, und sie zu einem handzahmen Kätzchen zu machen. Danach würde er wohl ohnehin das Interesse an ihr verlieren, und sich einer neuen Herausforderung zuwenden.
Nun, Sebastian hatte ihm gehörig dazwischengefunkt. Und um der Angelegenheit noch die Krone aufzusetzen, hatte er vor Kadims Augen geschafft, was dieser nie würde erreichen können. Er besaß Antaronas Liebe, ihr Vertrauen, und ihre völlige Hingabe ohne irgendwelche Tabus. Außerdem schien Kadim eigenartigerweise der einzige der Jo-lie zu sein, der ihre Verbindung durch die Elsiren nicht anerkannte. Offenbar bestimmten purer Neid, Habsucht, und ständige Eifersucht jedem gegenüber sein armseliges Leben.
Als sie ihren Lagerplatz erreicht hatten, und Basti sich noch einmal umdrehte, war Kadim mitsamt seiner Felle verschwunden. Sebastian war plötzlich klar, dass er sie nur beobachtet hatte. Nun hatte er genug gesehen, und schmollte wohl in irgend einer stillen Ecke vor sich hin. Im Grunde freute es Basti, dass er diesem überheblichen jungen Mann einen Dämpfer verpassen konnte, und musste still in sich hinein grinsen.
Auch ihre Vereinigung vor den Augen und Ohren ihrer Freunde und Verbündeten, war kein Problem mehr für ihn. Wie rasch doch alle Hemmungen und jede Scham fielen, sobald man sich bewusst war, dass es alle tun, und sobald es zu einer üblichen Gepflogenheit einer Gemeinschaft gehörte. Sebastian Lauknitz fühlte sich in dieser Nacht zum ersten Mal der Gemeinschaft der Jo-lie wirklich zugehörig. In diesem Gedanken zog er Antarona an sich, zupfte das Fell über sie beide, und eng aneinander geschmiegt waren ihnen noch ein par Stunden Schlaf gegönnt.

Der Morgen überraschte damit, dass es bereits Vormittag war. Antarona und Sebastian wurden durch das Schnauben und Wiehern der Pla-kas geweckt. Einige Feuer waren schon wieder geschürt worden, und in den Lagern herrschte müde Betriebsamkeit. Alles kam nur sehr langsam in Gang. Offenbar hatten alle Jo-lie die späten Abendstunden für die annehmlichen Seiten des Lebens genutzt.
Auf der ganzen sichtbaren Länge des Strands schlichen unausgeschlafene Geister zwischen den Schlafstätten und dem großen Wasser hin und her. Basti selbst kroch mit müden Gliedern unter dem Fell hervor, und wankte zur Wasserlinie, den Ra-li sich unterwegs zurechtrückend. Sich in diesem Zustand vor den Jo-lie zu zeigen, wäre ihm vor der letzten Nacht nie eingefallen. Doch nun war er einer von ihnen, und das Schamgefühl hatte sich auf Null reduziert.
Antarona hatte sich nach ihm aus den Decken gewunden, holte ihn stolzen Schrittes ein, und nahm demonstrativ seine Hand. Es stand außer Frage, dass sie allen Jo-lie zeigen wollte, dass sie eine glückliche Nacht gehabt hatten. Basti straffte sich automatisch, denn es hätte ein leidiges Bild gegeben, wenn er wie ein angeschossener Troll neben ihr her getaumelt wäre. Ihre Zurschaustellung hatte Erfolg.
Überall wurden sie mit anerkennendem Kopfnicken begrüßt, und Basti musste hier und dort das solidarische Grinsen eines jungen Mannes mit verstecktem Blick beantworten. Er zog das Fazit, dass er und Antarona eine gesellschaftliche Barriere durchbrochen hatten, wenn dies nicht bereits durch die neuen Elsirentänze längst geschehen war. Mit ihnen war das Königshaus Falméra beim Volk angekommen. Es war nicht mehr nur eine elitäre Gesellschaft, weit oben abgehoben in der weißen Burg über der Stadt. Und mit ihnen war eine Legende unter das Volk getreten, die dem revolutionären Aufwind gegen die Unterdrückung neue Kraft verlieh.
Nun von dieser Kraft sah Basti an diesem Morgen nicht viel. Die Energie schien in der Nacht eher in die Ströme der Fortpflanzung des Volkes geflossen zu sein. Aber gerade das war ein Stückchen Freiheit, das mit Billigung und Unterstützung des Thronfolgers Areos diesem neuen Aufwind den nötigen Antrieb gab.
Die jungen Menschen der Îval, die Begründer der Jo-lie, waren es Leid gewesen, ihr Dasein unter dem Zustand der Unterdrückung, der Zwänge und Gebote, sowie der Einschränkungen des Lebens zu fristen. Sie hatten mit den überholten Regeln der Alten gebrochen, ohne jedoch die Traditionen ihres Volkes aufzugeben. Sie lebten sie nur ein par Nuancen freiheitlicher und freizügiger. Und diese Freiheit nährte die Motivation, für ein besseres Ideal zu kämpfen.
Der Himmel spannte sich an diesem Morgen warm und diesig auf. Wolken waren keine zu sehen, doch die hohe Luftfeuchtigkeit war allgegenwärtig. Der leichte Wind von See her frischte mal auf, ebbte aber genauso plötzlich wieder ab. Es war, als versuchte der Winter, der auf dem Festland noch die Luft beherrschte, auf die Insel vorzudringen. Doch der Riegel des warmen Meeresstroms blockierte die kalte Wetterfront immer wieder erfolgreich.
Antarona und Basti wuschen sich bei einem kurzen Pfeile-Spiel die Schleier der Nacht von den Körpern, hängten sich wieder ihre Ra-lis um, und sprangen vergnügt zu ihrem Lager zurück, wo Isane und Tiskaja bereits damit begonnen hatten, Antaronas Pla-ka zu zäumen, und zu beladen. Ihr eigenes Lager hatten die beiden Mädchen längst abgebrochen und zu handfesten Bündeln geschnürt, die problemlos auf dem Rücken zu tragen waren.
Viele hatten bereits ihre Bündel geschnürt, und warteten auf den Abmarsch. Doch der verzögerte sich noch eine ganze Weile, denn einige waren, wie Antarona und Basti selbst, viel zu spät aus den Fellen gekrochen. Manche badeten noch ausgelassen im Meer, übten sich in der Kampftechnik, oder maßen ihre Fähigkeiten im Wettstreit. Das war freilich zu begrüßen, war dem Vorwärtskommen aber nicht sehr dienlich.
Basti grub noch schnell ihre Waffen aus, die sie vor den Augen der Jo-lie geschützt in einer Sandmulde verbuddelt hatten. Insbesondere Nantakis musste nicht unbedingt die Aufmerksamkeit derer wecken, die ihnen möglicherweise nicht hundertprozentig loyal gesinnt waren.
Bis alle zum Aufbruch bereit waren, verging noch eine Stunde. Dann setzte sich der Zug in Bewegung. Durch die Jüngsten der Jo-lie, die das ganze Unternehmen nicht so ernst nahmen, und durch einige Verletzungen, die sicher hätten vermieden werden können, geriet die Karawane von jungen Kriegerinnen und Kriegern, nebst ihren Pla-kas immer wieder ins Stocken. Ständig preschte Antarona auf ihrem Pla-ka zwischen dem Ende und der Spitze des Zuges hin und her, um kleinere Probleme zu lösen, und diejenigen weiter anzutreiben, die langsam zurückfielen.
Sebastian ging mit Tiskaja und Isane, sowie mit Vesgarina und Frethnal an der Spitze. Doch diese Position wurde ihm bald leid. Alle par Minuten musste er sich umdrehen, um festzustellen, ob ihm der Zug noch folgte. Bei jedem Mal, bei dem er einige Schritte zur Seite ging, um die Wanderung in ganzer Länge zu überblicken, stellte er fest, dass sich die Jo-lie immer mehr auseinander zogen. Er glaubte zwar nicht, dass sie während der Wanderung nach Falméra noch einmal angegriffen würden, aber er wollte auch nicht, dass jemand verloren ging, weil er nebenbei schwimmen ging und abgetrieben wurde.
Um Mittag, als die Sonne am höchsten stand, und der Wind nachgelassen hatte, rasteten sie. Die Jo-lie ließen ihre Bündel fallen, wo sie gerade standen, und so verteilten sich die Rastplätze über zwei Kilometer am Strand entlang. Antarona und Basti berieten sich mit Vesgarina, Frethnal, Fiala und Ravid, Èliza und Daffel, und einigen anderen engen Freunden. Diejenigen ihres Vertrauens sollten sich im Zug aufteilen, und dafür sorgen, dass die Jo-lie zusammen blieben. Basti und Antarona wollten selbst und mit Isane und Tiskaja auf die Jagd gehen. Das Fleisch wurde rasch knapp, und von Algen und Wurzeln allein konnten sie nicht leben. Aus den restlichen Getreidevorräten Brot backen war auch nicht möglich, solange sie unterwegs und ständig in Ruhelosigkeit waren.
Als der Zug sich wieder in Bewegung setzte, nahmen sich die Vier je einen Pla-ka, und ritten die Böschung am Waldrand hinauf, und in den Wald hinein. Sie hatten die Stelle bereits passiert, wo der Pfad auf das Grasplateau hinaufführte, auf dem Antarona und Basti den Gor und die beiden Frauen belauscht hatten. Sie stiegen ab, und führten die Pla-ka an den Zügeln über einen licht bewaldeten Hang.
Im Grunde war es für die Jagd bereits zu spät am Tag. Das Wild hatte sich inzwischen in dichter bewachsenes Gelände, oder nahe an die Felsen zurückgezogen. Sie benötigten daher einen längeren Anweg in die Jagdgründe, als das früh am Morgen der Fall gewesen wäre. Außerdem war der Tau auf dem Waldboden weitestgehend abgetrocknet, so dass jeder Tritt, selbst mit bloßen Füßen, unweigerlich Geräusche verursachte.
In langen Kehren stiegen sie den Hang hinauf, und hofften, dass sich die Antilopen nicht zu weit ins Land hinein zurückgezogen hatten. An einer Stelle breitete sich eine Lichtung aus, die als Wildweide geeignet schien. Die vier Jäger pflockten die Pla-kas an den Boden. Nicht sehr fest, so dass sie sich bei Gefahr selbst befreien konnten. Vorsichtig schlichen sie an den Rand der Lichtung.
Doch das Anpirschen war umsonst gewesen. Verlassen lag das Stück Grün zwischen den Bäumen. Nur ein par Schwärme Moskitos sahen sie im Gegenlicht der Sonne über der Wiese tanzen. Auf leisen Sohlen setzten sie ihre Pirsch bis zum Ende der Lichtung fort. Noch ein par gedrungene Bäume wuchsen dort, dann standen sie unverhofft an einer Felskante, die abrupt bis kurz vor den Strand beinahe senkrecht abfiel. Der Blick reichte zu beiden Seiten den Strand entlang, bis eine Biegung, oder Klippen die Sicht begrenzten.
Sebastian sah hinab, auf den Zug von Menschen und Tieren, die sich scheinbar mit letzter Kraft und mit ihrer spärlichen Habe beladen über den Sandstreifen zwischen Meer und Wald schleppten. Es sah aus, wie ein Strom von Flüchtlingen, die gerade eben mit dem nackten Leben davongekommen waren. Die drei Frauen traten neben ihn hin, sahen hinab, und blickten dann zu ihm, als erwarteten sie einen gewichtigen Kommentar.
»Soll sie nur kommen, die Gorreiterin«, sagte er mehr zu sich selbst, »dann sieht sie, was sie sehen soll, verängstigte, fliehende Menschen. Die kommen nie darauf, dass all die dort unten gegen Quaronas ziehen werden, und das ist gut so!« Wer immer den Zug von Menschen aus der Ferne beobachtete, da war sich Basti sicher, würde niemals auf den Einfall kommen, dass dieser zerrissene Haufen eine kleine Armee bilden konnte.
Sebastian blickte in Gedanken auf den großen Zug hinunter. »Sieht aus wie eine große Flucht, oder?« Antarona folgte seinem Blick und sagte: »Sie werden es denken, wenn sie die Jo-lie beobachten.«
»Es war eine gute Entscheidung, offen auf dem Strand zu gehen«, bemerkte sie, »so hegen sie keinen Argwohn. Wären sie versteckt über die Berge gezogen, so hätten sie Misstrauen erweckt.«
Basti nickte zufrieden. Genauso hatte er sich das vorgestellt. Sollten sie beobachtet werden, musste der Eindruck entstehen, die Jo-lie flohen vor einer eventuellen Rache Torbuks nach Falméra. Der abenteuerliche Gedanke, die Jo-lie zogen in den Krieg, zur Unterstützung der Täler auf das Festland, durfte im Kopf eines Betrachters erst gar nicht entstehen. Schließlich meinte er laut:
»Genau so ist es. Und wenn wir schnell handeln, dann sind wir in den Tälern, bevor Torbuk und Karek erahnen können, was wir vorhaben.«
Isane und Tiskaja sagten nichts. Sie machten sich wohl ihre eigenen Gedanken, bei dem Bild, dass ihnen offenbarte, welchem zusammengewürfelten, planlosen Haufen sie angehörten, der im Sinn hatte, das mächtige Quaronas herauszufordern. Sie vertrauten auf ihre Bogen. Doch sie hatten die Schlacht der Geister mitgemacht, und ihr gesunder Menschenverstand verriet ihnen, dass sie in jener Nacht nur das Glück und die Überraschung als Verbündete gehabt hatten.
Hätten sie, wie Antarona und Sebastian, die ausgedehnten Zeltstädte der Heere vor Quaronas gesehen, so würden sie wohl zurück unter die Obhut ihrer Eltern kriechen, die Köpfe einziehen, und demütig erdulden, was das Schicksal ihnen antat. Sebastian schwieg. Die Euphorie, die sich unter den Jo-lie manifestiert hatte, war die einzige Triebfeder dessen, was man Kampfgeist und Widerstand nannte. Würde dieser Antrieb sterben, so mussten sie jeden Gedanken an Freiheit beerdigen.
Von der Stelle, wo die Klippen über den Abgrund ragten, zog sich ein felsiger Grat durch den Wald weiter hinauf. Je höher sie gelangten, desto öfter und massiver traten die Kalkfelsen aus den Bäumen heraus, und bildeten ein kleines Gebirge. Am Fuße der Steinsäulen, Grate und Wände folgten sie dem Kamm. Der Wald wurde niedriger, dafür aber dichter. Immer öfter mussten sie ausweichen, weil die Pla-kas nicht durch das Dickicht kamen.
Da ihre Reittiere Wesen der Steppe waren, fühlten sie sich in der dicht gewachsenen Vegetation wenig wohl. Ständig scheuten sie vor einem zurückfedernden Zweig, oder vor den Blättern, die der Wind plötzlich bewegte. Um so erleichterter waren die vier Freunde, als der Wald unvermutet eine weite Trockengraslandschaft freigab, die sich bis an die Fluchten der Felsen hinaufzog.
Unten durch den Wald begrenzt, erstreckte sich eine weite Alplandschaft vor ihnen aus, die in der flimmernden Sonne lag. Die weißgrauen Felsformationen schützten vor dem Wind, den das Meer brachte, und sanfte Hügel wechselten mit Bäumen in kleinen Gruppen, die wie zerzauste Gestalten gebeugt zusammenstanden. Wenn es an diesem Ort kein Wild gab, dann mussten sie mit leeren Händen zurückkehren.
»Es ist ein guter Platz für die Jagd«, bestätigte Antarona Bastis Gedanken. Also banden sie die Pla-ka an langen Leinen an einen abgestobenen Baum, der wie ein gespenstisches Denkmal ein par Steinwürfe vom Waldrand entfernt stand, und ließen sie grasen. Die Tiere begannen sofort am kurzen, spröden Gras zu rupfen. Sie waren eine Weile beschäftigt.
Ihre starren Waffen ließen die Jagdgefährten unter einer alten, verwitterten Wurzel zurück, und machten sich nur mit Messern und Bogen auf, das Gelände zu erkunden. Gleich an der ersten Baumgruppe scheuchten sie eine Antilope auf, die mit weiten Sätzen davon sprang. Sehr eilig hatte sie es aber nicht. Offenbar wusste das kluge Tier, dass es ihnen in diesem von Bodensträuchern und Steinen durchsetzten Grasland weit überlegen war.
Nun hieß es, jede Deckung nutzen, Stück für Stück vorwärts pirschen, bis sich eine Gelegenheit ergab. Gebückt schlichen die Jäger über die hoch gelegene Savanne, zu einer Baumgruppe, von dort zu einem großen Felsen, der im Gelände lag, wie ein Kloß auf dem Teller. Sie huschten durch eine Senke, dann weiter zu einer Erhebung, auf deren Kuppe kleine Felsstücke verstreut lagen.
Den Hang bis zum Kamm krochen sie langsam, weit auseinandergezogen auf dem Bauch hinauf. Antaronas Sinne vermuteten das Wild in der Senke dahinter. Wie Schlangen wanden sie sich durch das kurze Gras, das wenig Deckung bot. Zwar konnten sie von den erahnten Tieren nicht gesehen, oder gehört werden, doch Antarona wusste aus Erfahrung, dass es eine Vielzahl von kleineren Tieren, insbesondere Vögeln gab, welche die Antilopen vor jeder sich annähernden Gefahr warnen konnten.
Sie krochen etwas im Bogen zu den Felswänden hin, um nicht im Luftstrom der Witterung auf die Hügelkuppe zu gelangen. Antarona erreichte den Kamm als erste, und ließ sofort eine Hand über dem Boden auf und ab federn; das Zeichen, die anderen sollten nur sehr vorsichtig die Nasen über die Kuppe strecken.
Das Krähenmädchen kroch ein par Schritt weit rückwärts, rupfte eine Handvoll von dem trockenen Gras aus, und ließ es unter kritischer Beobachtung zu Boden rieseln. Sie nickte zufrieden. Der Wind stand günstig. Wenn er nicht abrupt drehte, hatten sie gute Chancen, sich nahe an die Beute heranzupirschen.
Als Sebastian über den Hügelkamm spähte, staunte er nicht schlecht. Eine Herde von zwanzig bis dreißig Antilopen weidete ruhig und entspannt auf den von der Sonne gelbbraun gedörrten Hangwiesen. Muttertiere und Kitze. Böcke sah er nicht. Die gesellten sich wohl erst zur Brunft wieder dazu. Die scheuen Tiere grasten weit auseinandergezogen. Es würde schwierig werden, sich ihnen zu nähern, und mehr als ein Tier zu erlegen. Basti war froh, dass Isane bei ihnen war, die bewiesen hatte, dass sie auch auf große Distanz treffsicher war.
Antarona, mit der größten Jagderfahrung, beschloss, dass sich Basti und Tiskaja um die Herde herum bewegen sollten, um von der anderen Seite aus ihr Jagdglück zu versuchen. Verfehlten sie die Tiere, würden diese in die Richtung von Antaronas und Isanes schussbereiten Bogen, zum Wald hin flüchten. Sich gefächert von einer Richtung anzuschleichen, war ein Risiko. Bemerkten die Tiere sie, so waren sie auf und fort.
Sebastian begann also mit Tiskaja die Herde weit zu umgehen. Sie wählten den weiter unten liegenden Waldrand als Route. Wurde ihre Beute aufgescheucht, so konnten sie mit etwas Glück doch noch zum Schuss kommen. Andererseits mussten sie Acht geben, dass nicht irgendein Vogel der Herde ihre Anwesenheit verriet.
Obwohl Tiskaja nicht die zierliche Gestalt Antaronas besaß, kroch sie geschmeidig wie eine Schlange durch das kurze Gras. Basti merkte sofort, dass ihr die Jagd nichts Unbekanntes war. Auch sie trug nur den Ra-li und ihre Fellmokassin. Das Messer hatte sie sich am Bund auf den Rücken geschoben, damit es nicht gegen einen Stein schlug, und unliebsame Geräusche verursachte. Um ihre Brüste hatte sie sich ein breites Band aus weichem Leder gebunden, schließlich krochen sie durch natürliches Terrain.
Bogen und Pfeile mit beiden Händen gepackt, robbte sie auf den Ellenbogen vorwärts. Basti erinnerte sich an seine Ausbildung beim Militär. Den Hintern unten halten, war die ständige Devise. Tiskaja beherrschte das mustergültig, und sein ehemaliger Feldwebel wäre stolz auf das Mädchen gewesen. Sebastian selbst hatte diese tiefste Gangart erst wieder unter Antaronas Anleitung lernen müssen. Das, was in seiner Fernspäh-Ausbildung in Fleisch und Blut übergegangen war, hatte er im Berufsleben nach seiner Wehrdienstzeit rasch wieder verlernt.
Er musste zugeben, dass sein Krähenmädchen eine bessere Ausbilderin war, als seine Gruppenführer bei der Armee. All die Fähigkeiten, die Antarona ihm während der Wanderung vom Val Mentiér nach Falméra hatte angedeihen lassen, kamen ihm jetzt zugute. Schulter an Schulter robbte er mit Tiskaja zum Waldrand hin. Erst im Schatten der Bäume wagten sie sich aufzurichten, huschten aber dennoch gebückt weiter. Bis zu einer großen Felsgruppe pirschten sie auf leisen Sohlen vorwärts.
Im Schutz der hingewürfelten Felsen konnten sie endlich ihre Glieder strecken. Beinahe zwei Kilometer hatten sie unter der Anspannung zurückgelegt. Nun schoben sie ihre Oberkörper langsam zwischen den Felsen hoch, um über das wellige Grasgelände zu spähen. Die Antilopen grasten immer noch friedlich in der großen Senke. Sie waren von ihnen weiter entfernt, als Antarona und Isane.
Doch aus dieser Perspektive bemerkte Basti ein einzelnes Tier, das etwas erhöht auf einem Hügelgrat stand. Ein Wächter. Was er bei schnellen Paarhufern für unüblich hielt, hatte hier Methode. Näherte sich ein Feind, so wurde die Herde vom einzelnen Tier rechtzeitig gewarnt. Tiskaja und er beobachteten eine Weile das Verhalten. Ab und zu senkte sich der Kopf des Wachtieres, wenn es selbst einem Büschel Gras nicht widerstehen konnte. Doch sofort hob sich das Haupt wieder, und ließ die großen Ohren nervös drehen.
An diesem Wächtertier vorbeizukommen, war so ziemlich unmöglich. Wenn sie zu lange warteten, hatte sich die Herde womöglich den Bauch vollgeschlagen, und zog in den schützenden Wald ab. Und schreckten sie die Tiere zu früh auf, so flohen sie ebenfalls in den Wald, und nicht in die Richtung ihrer beiden besten Schützinnen. Basti musste sich schnell etwas einfallen lassen. Er rief sich die grundlegendsten Regeln seiner Militärausbildung in Erinnerung.
»Wir müssen uns tarnen, wir müssen für die Tiere unsichtbar werden«, flüsterte er dem Mädchen zu. Sie verstand sofort und nickte stumm. Gleichzeitig zogen sie sich in die Deckung des Waldes zurück.
»Habt ihr das einzelne Tier auf der Anhöhe gesehen?« fragte er sie. »Wir müssen aussehen, wie etwas, das überall auf den Weiden ist, damit wir keinen Argwohn wecken.« Er sah Tiskaja an, die ihre Stirn in kleine Fältchen legte, und leise antwortete:
»Wir müssen aussehen, wie die Büsche, die überall wachsen. Und wir müssen so langsam sein, wie ein Sis-tà-wàn in kalter Nacht.« Diesmal war es Basti, der nur zustimmend nickte. Das Mädchen an seiner Seite war aufgeweckter, als er vermutet hatte. Die Jagd versprach doch noch erfolgreich zu werden.
Tiskaja begann mit ihrem Messer lange Fasern aus der Rinde eines Baumes zu lösen, der einer Pappel aus Bastis Welt ziemlich ähnlich war. Die aufgedröselten Fäden waren erstaunlich reißfest, und mit ihnen ließen sich beblätterte Zweige und Gras um Beine, Arme, und um den Leib binden. Als sie endlich so aussahen, wie die Jo-lie beim Angriff auf das Lager von Quaronas Invasoren, eben wie kleine Bäumchen, machten sie sich auf den Weg.
In kurzem Abstand verließen sie die Deckung, und bewegten sich auf allen Vieren ganz langsam auf die grasende Herde zu. Sebastian hatte dem Mädchen eingeschärft, dass sie den Abstand zueinander einhalten mussten. Das Tier auf dem Hügelkamm nahm sie als Bäumchen wahr, die kaum sein Misstrauen weckte. Doch wenn die Bäumchen ständig ihre Stellung zueinander änderten, so war das recht unnatürlich, und dies musste das Tier unweigerlich warnen.
Zunächst bewegten sie sich parallel zur Herde, um den Anschein zu erwecken, kein Interesse an den Tieren zu haben. In Abständen hielten sie an und senkten die Köpfe. Das suggerierte ihrer Beute, dass sie ebenfalls Gras fressende Vierbeiner waren. Und die gehörten naturgemäß nicht zu den Feinden der Antilopen. Es dauerte eine Stunde von ihrem Aufbruch bei Antarona und Isane, bis sie endlich eine Position erreicht hatten, die einen gewagten Schuss zuließ. Doch Basti wollte noch näher heran, denn er wusste, dass er nicht der beste Schütze war. Eine Jagd in der Wildnis war ein Spiel zwischen Glück, List und Geduld.
Er gab Tiskaja ein Zeichen, dass sie in einer spitzen Kehre zurück kriechen, und sich dabei den Tieren noch weiter nähern sollte. Das Mädchen war eine gute Schauspielerin. Sie mimte ein grasendes Tier nahezu perfekt. Sebastian lernte, und verhielt sich ebenso unauffällig. Sie schlüpften tatsächlich in die Rolle von Pflanzen fressenden Paarhufern. Sie hoben und senkten die Köpfe, und ihre Gesichter machten auffällige Kaubewegungen. Für die Tiere in ihrem Visier hieß das: Sie sind welche von uns, sie fressen Gras, und wer Gras frisst, tut uns nichts.
Was für eine raffinierte Vortäuschung. Doch allmählich mussten sie zur Tat schreiten, denn allzu nahe würden die Tiere selbst befreundete Paarhufer nicht an sich heran lassen. Tiskaja und Basti tauschten sich mit Blicken aus, so, wie er es auch mit Antarona praktizierte. Sie verständigten sich, jeweils ein Tier zu fixieren, und sich seine Bewegungen einzuprägen.
Es war schwer, weiter den Vierbeiner zu mimen, dabei den Bogen zu spannen, und auch das simulierte Fressen und Kauen nicht zu unterlassen. Höhere Schauspielkunst. Doch dann waren sie bereit. Zielen und Schießen mussten schnell erfolgen, ehe die Tiere reagieren konnten. Basti signalisierte Tiskaja mit den Fingern eine Vier, und nickte leicht mit dem Kopf. Ihr Blick bestätigte, dass sie verstanden hatte.
Als würden sie mit Heißhunger über das trockene Gras herfallen, senkten sie die Köpfe vier Mal zu Boden und hoben sie wieder kauend. Dabei spannten sie die Bogen und brachten sich in eine stabile Lage. Im letzten Moment, nach dem vierten Kopfnicken, richteten sie sich halb auf, nur so weit, dass sie sicher hocken und schießen konnten. Bevor eines der Tiere aufmerksam wurde, atmeten sie aus, und ließen ihre Pfeile nach kurzem Zielen von den Sehnen sausen.
Die neue Körperhaltung der vermeintlichen Artgenossen kam für die Herde viel zu überraschend, und erst als die Pfeile in die Körper der Antilopen fuhren, sprangen die Tiere mit einem Pfiff aus ihren Nüstern auf und sprengten in Richtung Antarona und Isane davon. Tiskajas Ziel sprang auf, überrollte sich, und blieb liegen. Der Schuss hatte gesessen. Bastis Tier knickte ein, machte noch ein par Schritte, und blieb dann ebenfalls liegen. Zu einem zweiten Schuss kamen sie nicht.
Neugierig richtete Basti sich auf, um hinter den flüchtenden Tieren her zu blicken. Sie schlugen die Richtung ein, die Antarona vorausgesehen hatte, schräg über die Weide hinab zum Wald. Das Wächtertier war ebenfalls fort. Vermutlich schlug es einen Bogen, und schloss sich dann wieder der Herde an.
Mit Tiskaja machte er sich daran, die Qual der Tiere zu beenden, sie mit den Schnüren ihrer Tarnung an den Hinterläufen zu binden, und sie an einem nahen, vertrockneten Baum aufzuhängen, um sie ausbluten zu lassen. Tiskaja suchte ein Büschel Kräuter, das Basti unbekannt war, und steckte den Tieren davon in den Kehlschnitt. Das hatte er auch schon bei Antarona beobachtet. Es sollte Insekten daran hindern, durch die Wunde in den Körper der Beute einzudringen.
Bevor sie ihre Jagdbeute aus der Decke schlagen, und zerteilen konnten, mussten sie die Pla-ka herbeiholen. Das Fleisch musste sofort mit Kräutern und Salz abgerieben und aufgeladen werden. Allzu rasch legten Fliegen und andere Fluginsekten ihre Maden in frisches Fleisch, das dann möglicherweise ungenießbar wurde. Also machten die beiden sich auf den Weg, zu ihrem Ausgangspunkt zurück.

Inzwischen wurde Antaronas und Isanes Geduld auf eine lange Probe gestellt. Nachdem Tiskaja und Basti davongeschlichen waren, hatten sie ihre Bogen überprüft, und warteten angespannt. Abwechselnd lugten sie über den Kamm der Bodenwelle hinweg. Doch die Herde graste in friedlicher Ruhe. Isane hatte zwei Pfeile aus ihrer langen, ledernen Tasche genommen, und fuhr beinahe liebevoll mit den Fingern über die Schäfte auf und ab. Sie zupfte die Federseiten zurecht, und tat, als wollte sie die Geschosse auf ihre bevorstehende Aufgabe einschwören.
Immer wieder überprüfte Antarona die Windverhältnisse, die sich im Laufe von Stunden jederzeit ändern konnten. Dann maß sie mit den Augen die Entfernung zur Herde. Beim Grasen wanderten die Tiere kaum merklich den gegenüberliegenden Hang hinauf, was die Fluchtrichtung ändern mochte, sobald Sebastian und Tiskaja angriffen. Sie blickte sich um, und fand einen flachen Einschnitt zwischen den Hügeln, eher eine langgezogene Mulde. So, wie die Herde nun stand, musste sie bei der Flucht genau dort hindurch kommen.
Etwas unterhalb fand sich die einzige Deckung in einer kleinen Buschreihe, welche die Mulde flankierte, und sicherlich auch die Herde kanalisieren würde. Antarona und Isane wechselten ihre Position zwischen die Büsche, an Stellen, wo sie noch genügend Armfreiheit für Pfeil und Bogen hatten. Dann warteten sie.
Die Sonne stand mittlerweile am Zenit, und es wurde gerade in der windgeschützten Mulde unerträglich heiß. Die dürren Zweige der Büsche spendeten keinen Schatten, und die beiden Mädchen spürten, wie die stechenden Lanzen der Sonnenstrahlen auf ihrer Haut brannten. Kein Lüftchen, das etwas Kühlung versprach, erreichte sie. Sie entledigten sich Allem, bis auf die Ra-lis, und harrten in der Glut aus.
Irgendwo war zwischen den Graswellen ein kleiner Tümpel als Rückstand des Regens und Nebels entstanden, den auch die Tiere als Tränke nutzten. Doch sie wollten ihren Platz nicht wegen der Suche nach Wasser verlassen, und möglicherweise dadurch die Herde verpassen.
Die Zentaren zogen sich quälend langsam dahin, und die beiden Mädchen kontrollierten zum hundertsten Mal ihre Waffen. Sie wagten nicht, zu reden, denn sie könnten die nahenden Tiere überhören, wenn sie herangestürmt kamen. Da sie in der Warterei völlig das Zeitgefühl verloren, fragte sich Antarona irgendwann, ob Basti und Tiskaja irgend etwas zugestoßen war. Dann beruhigte sie sich wieder damit, dass Ba - shtie inzwischen hinreichende Erfahrungen besaß, um auch unvorhergesehene Situationen zu meistern.
Als nach einer gefühlten Ewigkeit noch immer nichts geschah, entschloss sich Antarona dazu, auf den Hügelkamm zu schleichen, und einen Blick zu riskieren. Sie ließ Isane in der Mulde zurück und schärfte ihr äußerste Wachsamkeit ein. Geduckt schlich sie den Grashang hinauf, und legte sich oben flach auf das angenehm warme Gras, und schob den Kopf vorsichtig über die Kuppe.
Das Land lag in der glühenden Sonne, wie es friedlicher nicht sein konnte. Die Herde stand ruhig. Einige Tiere hatten sich sogar ins Gras gelegt. Nun entdeckte Antarona das einzeln stehende Tier auf einem Hügel über der Herde. Kein Wunder also, dass die Gemeinschaft so entspannt graste. Sie würden rechtzeitig gewarnt werden, falls Gefahr drohte. Antarona schickte ein Stoßgebet zu den Göttern, Ba - shtie möge den Wächter ebenfalls entdeckt haben.
Gerade wollte sie die Stellung der Herde zu ihrer Position neu einschätzen, als die Tiere sich plötzlich in Bewegung setzten. Als hätte eine heftige Windböe die Antilopen erfasst, und vorwärts getrieben, stürmten sie gleichzeitig los, in ihre Richtung. Antarona wartete so lange, bis sie abschätzen konnte, welchen Weg die Tiere nehmen würden. Dann sprang sie den Hang hinunter.
»Isane, Isane, auf, die Herde kommt!« rief sie noch im Lauf, und schreckte das vor sich hin träumende Mädchen auf. Ihre Kleidung, die restlichen Waffen, und alles andere ließen sie liegen, wo sie diese abgelegt hatten, und sprangen hinab, dem Wald zu. Isane folgte Antarona blind. Das Krähenmädchen lief um die Bodenwelle herum, und duckte sich hinter die nächste. Über diesen Hügel mussten ihrer Einschätzung nach die in Panik versetzte Herde kommen.
Die Mädchen spannten ihre Bogen, und visierten ein imaginäres Ziel an, wo der Himmel die Hügelkuppe begrenzte. Es war nicht vorteilhaft, bergauf zu schießen, und die einzige Hilfe war, dass sie die Sonne im Rücken hatten. Wie ein Grummeln tief aus der Erde hörten sie die Hufe der Tiere herannahen.
Trotzdem kam es für sie völlig unerwartet, als die Herde in einer dichten Staubwolke über den Hügel gesprungen kam. Wie Antarona vermutet hatte, rasten die Tiere durch die Senke zwischen den beiden Hügeln, dem Wald zu. Die Mädchen hatten keine Zeit, ein bestimmtes Tier auszuwählen. Sie zielten auf das nächst beste, und ließen ihre Pfeile von den Bogen schnellen. Sofort legten sie einen neuen Bogen an die Sehne, doch der Spuk war schon vorbei. Die Antilopen sprangen zuletzt über die Büsche, und augenblicklich hatte sie der Schatten des Waldes verschluckt.
Nachdem der Staub sich wieder gelegt hatte, begutachteten die beiden ihre Strecke. Antaronas Pfeil mit den gelben Federn am Schaft hatte eine Antilopenkuh hinter dem Schulterblatt getroffen. Das Krähenmädchen erlöste das Tier von seinem Leid, und bekränzte es mit dem Zweig eines Busches. Dann dankte sie den Göttern mit einem leisen Lied für diese Gabe.
Isanes Pfeil, zu erkennen an den weißen Schaftfedern, war einer Jungantilope von vorn in die Brust gedrungen. Das Tier war bereits verendet. Es hatte sich anscheinend überschlagen, und zusätzlich den Hals gebrochen. Unter größter Anstrengung zogen die beiden ihre Beutetiere an den Hinterläufen über den Ast an einem Baum hoch, und ließen das Wild ausbluten. Nun war es Zeit, die Pla-kas nachzuholen.
Dort, wo sie die Reittiere angebunden hatten, stießen sie auf Basti und Tiskaja, die ebenfalls ihre Reittiere holen wollten. Kurz tauschten sie ihre Erfolge aus, und waren gegenseitig erstaunt, dass sie vier Antilopen erlegen konnten. Unter diesen Jagdbedingungen war das eine große Beute. Tiskaja und Basti ritten zu der Senke hinüber, wo sie ihre erlegten Tiere aufgehängt hatten.
Isane und Antarona hatten nur ein par Zentaren zu gehen. Die beiden Mädchen schärften ihre Messer an einem Stein, dann gingen sie ans blutige Werk. Sie nahmen die Tiere aus, häuteten sie, und portionierten das Fleisch. Die einzelnen Stücke rieben sie rasch und gründlich mit Salz und Kräutern ein, um zu verhindern, dass Insekten ihre Eier in die Poren legten. Dann spießten sie die Portionen auf frisch geschlagene Stangen, die sie rechts und links an die Pla-kas hängten. Dazu dienten lederne Gurte, die über die Rücken der Reittiere gelegt wurden, und die an jedem Ende eine Schlaufe besaßen.
Nachdem das erledigt war, schnitten die beiden Mädchen kräftige Astgabeln aus den Bäumen, um die Felle mit der Innenseite nach außen darauf zu spannen. So konnten sie die Felle transportieren, ohne dass sie verklebten. Freilich mussten die Häute alsbald bearbeitet werden. Die restlichen Fleischfetzen, die beim Häuten hängen geblieben waren, mussten abgeschabt, und die Felle gegerbt und geräuchert werden. Gut aufgeteilt würden sie eine große Anzahl neuer Ra-lis ergeben.
Sebastian und Tiskaja verbrachten die nächsten beiden Stunden mit genau derselben Arbeit. Anschließend trafen sie sich mit Antarona und Isane bei einer Felsgruppe. Zusammen hatten sie nun vier Pla-kas mit Fellen und reichlich Fleisch beladen. Und nur Isane hatte einen Pfeil eingebüßt, weil ihr Beutetier beim Überschlagen das Geschoss zerbrochen hatte. Alle anderen Pfeile waren ganz geblieben. Ein nahezu perfekter Jagdzug.
Eben wollten die Freunde die Zügel ihrer Pla-ka ergreifen, und den Rückweg antreten, als sie ein durchdringendes Geräusch in der Bewegung erstarren ließ. Ein schriller, kreischender Schrei hallte über die Wälder, und als Echo von den Felswänden zurück. Sie alle kannten diesen Ruf. Es war der Schrei eines Gors. Basti reagierte sofort.
»Los, in den Wald«, brüllte er, »schnappt die Pla-ka, und nichts wie in den Wald!« Sofort begann er zu rennen. Als er sah, dass Isanes Pla-ka sich nicht von der Stelle rühren wollte, gab er ihm einen heftigen Schlag auf das Hinterteil, so dass er lostrabte, und das kleine Mädchen Mühe hatte seinem beladenen Reittier zu folgen. Kaum hatten sie die Bäume erreicht, da schwebte ein dunkler Schatten über sie hinweg.
Im Wald waren sie relativ sicher. Basti und Antarona hatten zwar erlebt, wie der Gor durch den Wald gepflügt war, und die Bäume wie Streichhölzer geknickt hatte, doch das waren junge, dünne und biegsame Bäume. Die Bäume an diesen Hängen waren ziemlich betagt, und alles andere als biegsam. Ein Gorreiter würde kaum riskieren, dass sich sein wertvolles Tier die Flügel brach.
Überdies schien der Gor gar kein Interesse an den vier Freunden und ihren Fleisch beladenen Pla-ka zu haben. Der Schatten wanderte talwärts und verschwand zum Strand hin. Doch das alarmierte Sebastian ebenso. Er blieb stehen, lauschte kurz, und rief erschrocken:
»Die Jo-lie, sie sind dem Vieh am Strand schutzlos ausgeliefert! Los, lasst uns so schnell wie möglich runter zum Strand!« Antarona, die ebenfalls stehen geblieben war, und versuchte, ihre Ohren mit leichtem Kopfdrehen in den Wind zu halten, legte ihm beruhigend ihre Hand auf den Arm.
»Keine Sorge, Ba - shtie. Er wird die Jo-lie nicht angreifen. es sind viel zu viele, als dass ein Gorreiter das wagt. Außerdem würden wir uns eher den Hals brechen, als rechtzeitig bei den Jo-lie zu sein. Ravid und Daffel werden wissen, was zu tun ist, verlasst euch auf die beiden Windreiter.«
Tiskaja stimmte ihr zu, und auch Sebastian musste nun einsehen, dass es sinnlos war, in Panik hinunterzustürmen. Er nickte zustimmend und sagte:
»Dann lasst uns wenigstens keine Zeit verlieren.« Sie trieben die Pla-ka zur Eile, mussten aber an einigen Stellen sehr vorsichtig sein, damit die Reittiere nicht auf dem Fels abrutschten, und mitsamt ihrer Last den Hang hinunter fielen. Die vier Freunde brauchten etwa die halbe Zeit vom Aufstieg, bis sie den hellen Strand durch das Laub der Bäume hindurchschimmern sahen.
Etwas raschelte plötzlich im Unterholz, Tiskajas Pla-ka scheute, und das Mädchen musste alle Kräfte mobilisieren, um das Tier am Boden zu halten. Wäre das Tier mit der Vorderhand aufgestiegen, so wäre das Fleisch von den Stangen gerutscht.
Antarona und Isane hatten ihre Tiere geistesgegenwärtig losgelassen, und jede von ihren hatte zwei Pfeile an der Sehne ihres Bogens. Das ging so schnell, dass Basti nur staunen konnte.
»Kommt heraus, wer ihr auch seid, oder unsere Pfeile werden euch treffen!« rief Antarona zu dem Gebüsch hinüber, das sich noch immer bewegte. Die Zweige teilten sich, und zwei Mädchen kamen schüchtern hervorgekrochen. Sebastian erkannte sie; sie waren aus dem Zug der Jo-lie. Ihre Körper waren mit Kratzern überzogen, die sie sich wohl zugezogen hatten, als sie sich durch das Unterholz geschlagen hatten.
Tiskaja, Antarona und Isane kümmerten sich um die verängstigten Mädchen, und rasch offenbarte sich ein Bild des Geschehenen. Die Jo-lie waren unbekümmert weiter am Strand entlanggezogen, als sie von dem Gor überrascht wurden, der von der wandernden Sonne her aus großer Höhe plötzlich auf sie niederstieß. Jeder warf ab und ließ fallen, was er gerade trug, und flüchtete sich in den schützenden Wald. Das erklärte auch, warum die beiden Mädchen nichts außer ihrem Ra-li trugen.
Die Wanderung in der Sonne am Strand entlang erlaubte eine freizügige Bekleidung. Doch für einen Spatziergang im Wald zog sich jeder naturgemäß schützende Hemden, oder Fellwesten, oder lederne Leggings an. Die Mädchen hatten offensichtlich keine Zeit mehr gehabt, sich zu schützen. Sie mussten in panischer Flucht in den dichten Wald gelaufen sein. Sie vermochten auch keine Auskunft darüber zu geben, ob es Verletzte, oder Verwundete gab, und ob der Gor sie tatsächlich angegriffen hatte.
Der Schrei und der Anblick des Drachen hatte genügt, um alle in Angst und Schrecken zu versetzen. Die Jo-lie flohen in alle Himmelsrichtungen, und Basti vermutete, dass ihnen noch einige Versprengte über den Weg liefen, bis sie das Meer erreicht hatten.
Da sie dem Waldrand schon so nahe waren, dass sie den hellen Sand des Strandes bereits durch das Blattwerk hindurch sehen konnten, gabelten sie nur noch einen jungen Krieger auf, der sich unter der überhängenden Wurzel eines stattlichen Baumes verborgen hielt. Kurz darauf standen sie auf dem Strand, und zunächst zeigte sich ihnen das Bild eines chaotischen Durcheinanders.
Die Jo-lie liefen plan- und kopflos hin und her, einige kamen noch aus dem Wald gestolpert, ein par sogar aus dem Wasser. Sämtliche Habseligkeiten und Ausrüstungen für die Nacht lagen verstreut über den Strand verteilt, und die Pla-ka hatten sich freilich allesamt auf und davon gemacht. Nur ein junger Krieger hatte einen kühlen Kopf bewahrt, und führte seinen Pla-ka immer noch fest an der Leine.
Sebastian sah Frethnal und Vesgarina, die ihre Habe im Sand zusammensammelten, und hielt auf sie zu. Frethnal richtete sich auf und blickte ihm Schulter zuckend entgegen. Ohne Bastis Frage abzuwarten, erklärte er entschuldigend:
»Es ging alles so schnell. Plötzlich war das Biest über uns. Der Gor flog so tief, dass wir seinen Luftzug spürten. Dann hat er ein, zwei Mal Flammen gespieen. Nichts großes, aber jeder ließ fallen, was er gerade trug, und rannte davon. Wir konnten nichts machen. Eine Frau war die Gorreiterin, das konnte ich noch sehen.«
Basti nickte, und sah sich um. Verletzte, oder gar Tote konnte er nicht erkennen. Offenbar ging es der Gorreiterin nur darum, die Jo-lie zu beobachten. Nebenbei hielt sie es wohl für einen lustigen Einfall, den ganzen Zug ein wenig zu erschrecken, was ihr jedenfalls gelungen war.
Ob die Gorreiterin jene gewesen war, die er und Antarona auf dem Felsplateau beobachteten, war nicht eindeutig festzustellen. Nach Antaronas Aussage galt als ziemlich sicher, dass es so gut wie keine Gorreiter mehr gab. Viele glaubten bis zu dieser Stunde sogar, sie wären eine Mär, ein Mythos aus uralter Zeit. Nun, diesen Irrtum konnte nun jeder für sich verbuchen. Grinsend deutete Basti mit dem Kopf auf die Jo-lie, die wie Ratten aus den Löchern, aus ihren Verstecken gekrochen kamen.
»Da ist man mal zwei Zentaren nicht bei euch, und schon geht alles aus dem Leim. Ist nicht einer mal auf den Gedanken gekommen, das Vieh mit einer Schwert- oder Lanzenspitze am Bauch zu kitzeln. Wohl eher nicht, was? Nur schnell das Heil in der Flucht suchen, Hintern und Köpfe einziehen, und rasch fort! Wo waren die Bogenschützen? Wo die Kriegerinnen mit den Bolas?« Eine Antwort erwartete er nicht.
Die Jo-lie, die zusammengelaufen kamen, um zu hören, was er zu sagen hatte, blickten betreten zu Boden. Den meisten war klar, dass sie sich nicht wie Kriegerinnen und Krieger, sondern wie ein armseliger Haufen von Feiglingen verhalten hatten.
So war es nun einmal. Es hatte wenig Sinn, die Gemeinschaft am diesem Tag noch weiterzutreiben. Weit waren sie nicht gekommen. Aber das Fleisch musste noch zerwirkt, und auf die Gruppen und Clans verteilt werden. Basti beschloss, die Jo-lie an diesem Platz zu versammeln, fixierte seinen Pla-ka im Sand, indem er einen Pflock mit den Zügeln im Sand eingrub, und einen großen Stein darauf wuchtete. Die drei Mädchen taten es ihm nach. Dann erhob er die Hände, um sich Gehör zu verschaffen.
»Also hört mal alle her! Es ist nun nicht mehr zu ändern, was geschehen ist, ist nun einmal geschehen. Ich will sichergehen, dass mir niemand verloren geht. Ihr geht jetzt alle los, und bringt alle, die ihr findet hierher. Wir versammeln uns in einer Zentare wieder an dieser Stelle. Jede Gruppe und jeder Clan, stellt fest, ob jemand fehlt. In einer Zentare berichtet ihr mir, los jetzt!«
Damit trotteten die Jo-lie auseinander, und gaben es an jene weiter, die in einiger Entfernung noch damit beschäftigt waren, ihre Siebensachen zusammenzuklauben. Einige der Mädchen machten sich bereits daran, das Fleisch von den Pla-kas abzuladen, und zu zerkleinern. Eine willkommene Aufgabe, schließlich würde diese Tätigkeit letztendlich die Bäuche aller füllen.
Basti wartete, bis er seine engsten Vertrauten, Antarona, Isane und Tiskaja, Frethnal und Vesgarina, sowie die beiden Windreiter mit ihren Frauen um sich geschart hatte. Als alle im Kreis um ihn herum Platz genommen hatten, und ihre Glieder im Sand ausstreckten, begann er zu reden.
»Meine Freunde, diese Geschichte hier war natürlich nicht geplant. Der Gor hat alles ganz schön durcheinandergebracht. Aber ich will euch nicht verschweigen, dass ich jener, die auf dem Gor saß, beinahe dankbar bin. Ganz sicher war die Gorreiterin unterwegs, um die Lage zu erkunden. Dass wir Torbuks Vorhut in die Sümpfe getrieben, und seinen Wasserwagen in eine Fackel verwandelt haben, muss der alte Despot inzwischen mitbekommen haben. Es ist ganz selbstverständlich, dass er Späher aussendet, die ihm berichten sollen, wie sich die Jo-lie nun verhalten.« Er machte eine Pause, um festzustellen, ob ihm gedanklich alle folgen konnten. Dann fuhr er fort:
»Was die Gorreiterin gesehen, und Torbuk wahrscheinlich berichtet, ist ein Dorf, dass sich auf der Flucht befindet. Torbuk wird nie auf den Einfall kommen, dass wir eine kleine Armee sind, die nach dem Festland übersetzen will. Ebenso wenig wird er annehmen, dass ein Sicherungsheer Mehi-o-ratea besetzen wird, für den Fall, dass er an dieser Stelle noch einmal einen Landungsversuch zu unternehmen plant. Die Gorreiterin hat also genau das gesehen, was sie sehen sollte. So, und nun lasst uns mal feststellen, welche Verluste wir zu beklagen haben.«
Damit ging Sebastian mit Antarona und mit Daffel und Ravid durch die Gruppen der versammelten Jo-lie, um zu hören, ob noch jemand vermisst wird. Es brauchte eine Weile, bis feststand, dass einzig ein kleines Mädchen von etwa elf Jahren fehlte. Sie gehörte zu einem Clan von Jugendlichen, die einer reichen, aristokratischen Oranuti-Familie aus Falméra entstammte.
Ihren Brüdern und Schwestern sah Basti die Oranuti Abstammung nicht an. Sie besaßen zwar allesamt einen dunklen Teint, aber das bedeutete nichts. Auch Antaronas Haut besaß diese kupferne Färbung, wie sie den Oranuti zueigen war. In ihrem Verhalten und in der Art sich zu kleiden zeigte der Clan keinen Unterschied zu den anderen Jo-lie. Die Jungen trugen den Kriegsrock, oder einen Ra-li, die Mädchen hatten sich nur den Ra-li umgehängt, und ein, oder zwei Ältere trugen dazu ein Oberteil.
Das vermisste Mädchen war die Jüngste ihrer Sippe, und zur Zeit des Gorangriffs mit Freundinnen anderer Clans zusammen, was die Klärung über ihren Verbleib noch verkomplizierte. Sebastian ordnete an, nicht weiterzuziehen, und an Ort und Stelle zu lagern. Das Fleisch musste noch aufgeteilt, und die Felle bearbeitet werden. Außerdem warteten die Jo-lie nur darauf, die Beute über die Feuer zu hängen. Junge Leute verspürten ständig, und auf einer Wanderung insbesondere, Hunger.
Antarona und Basti machten sich daran, alle zu befragen, die mit dem Mädchen, Feyach mit Namen, Kontakt hatten, oder sie vermeintlich zuletzt gesehen hatten. Es wurde zu einer Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Es wurden Suchtrupps eingeteilt, die loszogen, um den Küsten nahen Wald zu durchkämmen. Einige vertraten die Meinung, dass man die Mission nicht gefährden dürfte, nur um eines kleinen Mädchens willen. Doch Basti verkündete mit einem Satz seinen unumstößlichen Standpunkt.
»Wir lassen niemanden im Stich, auch den geringsten nicht, und wir ziehen erst weiter, bis wir wissen, was mit Feyach geschehen ist!« Insbesondere die Frauen teilten seine Ansicht, und da die Mehrheit der Gemeinschaft ebenfalls hinter ihm stand, war es beschlossene Sache, das Mädchen notfalls auch den ganzen nächsten Tag hindurch zu suchen.
Die Sonne verabschiedete bereits den Tag, als die Suchtrupps ohne Ergebnis ins Lager zurückkehrten. Die Dunkelheit senkte sich über den Küstenstreifen, und ein angenehmer Wind wehte vom Meer herüber. Der Stand war übersät von kleinen Feuern, die am Waldrand eine imaginär undurchdringliche Wand aus Blättern beleuchteten. An einem der größeren Feuer saßen Antarona und Basti, Isane und Tiskaja, Frethnal, Vesgarina, sowie Daffel und Ravid mit Èliza und Fiala im Kreis. Später gesellte sich noch Te-itika hinzu, die für Feyach beinahe so etwas wie eine große Schwester war.
Die Freunde berieten, wie sie nun weiter verfahren sollten, und ob es möglich war, dass der Gor Feyach getötet haben konnte. Vielleicht war das kleine Mädchen von der Gorreiterin und ihrem Tier verschleppt worden. Basti hob unwissend die Schultern, und sprach:
»Also ich habe noch nicht davon gehört, dass ein Gor einen Menschen durch die Luft getragen hat, und Blut war keines am Strand zu sehen. Dennoch müssen wir die Möglichkeit bedenken, dass Feyach verschleppt wurde, um aus ihr herauszupressen, was wir vorhaben. Vielleicht war das sogar der Grund, warum die Gorreiterin den Zug angegriffen hat?« Basti ließ es als Frage im Raum stehen, um dazu die Meinung der anderen zu hören.
»Der Gor flog ja gar nicht tief genug, um sich einen von uns zu krallen«, warf Te-itika ein. »Ich ging ziemlich weit hinten, und konnte alles sehen. Er stieß wie ein Raubvogel herab, gewann aber rasch wieder Luft. Er hatte nichts, rein gar nichts in seinen Klauen, das habe ich genau gesehen.« Anschließend meldete sich Èliza zu Wort:
»Meine Großeltern und Eltern haben mir viel von den Gorreitern erzählt. Einer meiner Vorfahren gehörte dieser Zunft an. Doch ich habe nie gehört, dass Gore Menschenwesen davongetragen haben. Schon mal eine Antilope, ja, aber Menschen..?« Sie schüttelte ungläubig den Kopf. Basti stellte eine Überlegung an, und fragte mit wiegendem Kopf in die Runde:
»Eine Antilope? Wie viel schwerer ist ein Mädchen in Feyachs Alter? Kann es nicht doch sein, dass es die Gorreiterin auf ein einzeln gehendes Menschenwesen von Feyachs Größe abgesehen hatte? Eine gefangene, die man ausfragen kann, wenn man ihr nur genug Angst macht?« Te-itika schüttelte den Kopf.
»Nein, Feyach ging nicht alleine. Ich hatte sie noch kurz vorher gesehen, als sie mit ein par Freundinnen Steine für ihre Schleudern sammelten. Sie war nicht allein.«
»Das stimmt«, bestätigte Antarona, »ihre Freundinnen sagten, dass sie fortgerannt waren, als der Gor über ihnen war, weil sie Angst hatten, er könnte zurück kommen. Doch er kam nicht zurück. Er flog weiter, und verschwand über dem Wald, wo wir ihn ja nach der Jagd gesehen hatten. Und da trug er nichts in seinen Klauen.« Sebastian nickte.
»Das stimmt, allerdings konnte ich ihn nicht richtig sehen, ich hatte nur seinen Schatten wahrgenommen. Hattet ihr ihn genau gesehen?« Er sah in die Runde, und heftete seinen Blick besonders an Tiskaja und Isane. Tiskaja sagte leise, als wollte sie sich nur mit ihrer eigenen Stimme erinnern:
»Es ging ja so schnell. Ich habe ihn nur ganz kurz gesehen, aber.., nein, ich glaube der trug nichts mit sich. Das hätte ich gesehen, als er über den Bäumen davon flog.« Sebastian sah zu Isane und Antarona hinüber, die aber nur mit den Schultern zuckten.
»Sonnenherz und Isane hatten Mühe, die Pla-ka zu halten«, wandte Antarona ein, »Sonnenherz hat nur kurz nach oben geschaut, und gegen das Licht Talris. Sie vermochte nicht, etwas Genaues zu erkennen.« Basti dachte nach. Er sah zu Te-itika, und fragte:
»Wisst ihr noch genau, was Feyach auf dem Leibe trug, als der Gor kam?« Die junge Frau musste nicht lange überlegen und antwortete:
»Es war sehr warm, sie trug nur ihren Ra-li und ihr Bündel. Ihre Schleuder steckte im Bund des Ra-li. So sah ich sie zuletzt. Das war etwa we-nu-ara-ti Wellenschläge bevor der Gor uns angegriffen hatte.« Sebastian nickte zunächst stumm. We-nu-ara-ti war in der Sprache der Îval das Wort für Zwanzig. Er malte sich in Gedanken aus, wie lang die Zwischenräume der Wellen waren, die hier an den Strand schlugen. Er konzentrierte sich auf die Geräusche vom Meer her. Man konnte die Wellenschläge hören. Etwa alle drei bis vier Sekunden rauschte eine Welle heran. Das waren etwa eineinhalb Minuten, die Te-itika das vermisste Mädchen noch vor dem Gor gesehen hatte.
»Wenn das stimmt, so hätten wir im Sand Blut, oder Feyachs Schleuder finden müssen«, erklärte Basti. »Wenn sie keine Kleider trug, und der Gor fest zugepackt hätte, so hätte er Feyach verletzen müssen. Und sie hätte mit großer Wahrscheinlichkeit ihre Schleuder und ihr Bündel verloren. Wir haben aber nichts gefunden, oder?«
Basti stellte diese Frage nachdrücklich. Er wollte sicher gehen, dass sich das Bündel und die Schleuder des Mädchens nicht plötzlich im Besitz jemanden anderes befand. Antarona stand auf, und sie wirkte sehr entschlossen.
»Sonnenherz wird zu den Feuern gehen, und alle Jo-lie noch einmal nach diesen Dingen fragen«, kündigte sie an. Auch die anderen standen auf, um sich an der neuerlichen Suche zu beteiligen. Kurz darauf flackerte das Feuer der Freunde einsam und verlassen vor sich hin. Jeder ging in eine andere Richtung, um die Jo-lie an den zahlreichen Feuern zu befragen.
Erst nach einer guten Stunde kehrte Sebastian an sein Feuer zurück. Fiala und Ravid, Vesgarina und Frethnal saßen schon davor, und hatten kräftig Holz nachgelegt. Der Wind hatte gedreht, und zog nun vom warmen Hinterland auf das Meer hinaus. Trotzdem wurde es etwas kühl. Vesgarina und Fiala hatten sich dicht nebeneinander gesetzt und sich gemeinsam ein großes Fell übergeworfen, das sie im Rücken abschirmte wie ein Kälteschild, und die Wärme des Feuers um ihre Körper hielt. Die vier Freunde hatten jedoch keinen Erfolg gehabt.
Kurze Zeit später kamen Daffel und Èliza zum Feuer zurück. Sie schüttelten stumm die Köpfe. Dann erschienen aus dem Dunkel drei weitere Gestalten. Tiskaja und Isane brachten einen Jungen mit und Tiskaja trug etwas in der Hand. Als sie heran waren, stieß das sehnige Mädchen den Jungen nach vorn, und ließ ein Bündel neben das Feuer plumpsen.
»Der hier, Kengal vom Clan der gelben Fische, hat dieses Bündel gefunden und behalten, obwohl es nicht das seine war.«
Basti musterte den kleinen Jungen, der schüchtern und mit gesengtem Kopf vor ihm stand. Es war ein schmächtiger, kleiner Knabe, der ein Kurzschwert an seinem Rock trug, das für ihn eindeutig zu groß war. Basti befürchtete, dass er sich mit dieser für ihn viel zu schweren Waffe eher die Zehen abschneiden, als denn einen Gegner verletzen würde. Er winkte den Jungen heran.
»Kommt einmal etwas näher ans Feuer, damit ich euch sehen kann«, forderte Basti ihn auf. Der Knabe blickte schuldbewusst und zögerte. Tiskaja stieß ihn von hinten an die Schulter.
»Macht schon, was Areos sagt«, unterstrich sie ihren groben Stoß. Der Junge machte noch zwei Schritte auf Basti zu, blieb dann stehen. Tiskaja wollte nachsetzen, doch Basti hob die Hand.
»Es ist gut, Tiskaja. Wir wollen doch nicht, dass unser Gast noch ins Feuer fällt, oder? Setzt euch. Das gilt für euch beide«, erklärte er. Der Junge nahm neben Basti Platz, Isane und Tiskaja gesellten sich zu Fiala und Vesgarina.
»Kengal vom Clan der gelben Fische, ja?« Sebastian ließ seine Frage so warmherzig und vertrauensvoll klingen, dass der schmächtige, kleine Kerl den Mut fasste, zu nicken. Die Clans der Jo-lie gaben sich oft abenteuerliche Namen, die nichts mit ihrer wahren Herkunft zu tun hatten. Der Clan der gelben Fische sagte Sebastian gar nichts.
»Woher stammt ihr, Kengal?« fragte Basti weiter. Der Junge senkte sein kindliches, engelhaftes Gesicht, und stammelte unsicher:
»Aus Falméra, Herr. Aus dem Hause Levinar, Sohn des Kengal Levinar, des Seilmachers, Herr.« Basti betrachtete den Jungen, der ihm viel zu dürr und zu jung erschien, um an einem Krieg teilzunehmen.
Seine großen, treuen und ehrlichen Augen blickten ihn kurz an, und Basti meinte, solche Augen schon einmal bei jungen Sattelrobben, den sogenannten Heulern gesehen zu haben. Nein, dieser Junge führte nichts Böses, oder Verwerfliches im Schilde! Dieser hier hatte mehr Angst vor sich selbst, als vor irgend etwas anderem. Lächelnd fragte Basti:
»Woher habt ihr das Bündel? Ist es Euer?« Der Knabe sprang hoch, trat erschrocken einen Schritt zurück, als hätte er sich an Bastis Frage verbrannt, und gestand leise:
»Nein, Herr, es ist nicht mein. Ich hatte es gefunden, als alle nach ihren Dingen suchten. Ich habe doch kein Fell, und keine Decke, und es ist doch so furchtbar kalt in der Nacht. Und das da wollte keiner, da hab ich es genommen. Ich wollte es nicht stehlen, Herr, ganz gewiss nicht, doch es wollte ja sonst niemand haben.«
»Ist schon gut, niemand hier wirft euch etwas vor. Aber ich möchte euch bitten, uns zu zeigen, wo ihr das Bündel gefunden habt.« Der Junge wies den Strand entlang in die Richtung aus der sie gekommen waren. Basti hakte nach:
»Könnt ihr uns genau die Stelle zeigen?« fragte er den immer noch Verängstigten. Der Knabe mit dem viel zu großen Schwert nickte. Sebastian ließ nicht locker.
»Es ist dunkel, und überall brennen die Feuer. Wie wollt ihr sicher sein, dass ihr die Stelle wiederfindet, wenn die Feuer in der Dunkelheit eure Augen blenden?« Der Junge antwortete sogleich:
»Da war eine Wurzel am Waldrand, die sah so aus wie der Kopf von einem Pla-ka. Dort, nahe am Wasser lag das Bündel.« Basti nickte, winkte ihn heran, und bedeutete ihm, sich wieder neben ihn zu setzen. Zögernd ließ sich der Knabe erneut am Feuer nieder, wohl eher wegen des kalten Windes, der ablandig wehte, als denn aus neu gewonnener Vertrautheit heraus.
»Ihr beobachtet sehr gut, das gelingt nicht jedem«, versuchte Basti sich das Vertrauen des Jungen auf Umwegen zu erschleichen. »Daher denkt mal genau nach. Lag an dieser Stelle noch etwas, eine Schleuder vielleicht? Möglicherweise hat die sich jemand anderes genommen, von dem ihr dachtet, sie gehört ihm?« Langsam, als ob er noch angestrengt nachdachte, drehte Kengal den Kopf hin und her.
»Nein, Herr, da war nichts weiter«, erklärte er nach einer Weile. Sebastian bedeutete den anderen mit einer eindeutigen Kopfbewegung, die von dem Jungen bezeichnete Stelle genau zu untersuchen. Sie nahmen ein par Fackeln, und gingen den Strand hinunter. Nur Isane und Tiskaja blieben auf ihren Plätzen, als befürchteten sie, der schwächliche Knabe könnte ein Attentat auf Areos planen.
»Nun«, fuhr Basti fort, indem er Kengal freundschaftlich eine Hand auf die Schulter legte, »das Bündel müssen wir erst einmal hier behalten, bis wir wissen, wem es gehört. Ihr findet sich einen warmen Platz in eurem Clan, nicht wahr?« Zu Bastis Erstaunen schüttelte der Knabe den Kopf. Mit hochgezogenen Augenbrauen und offener Verwunderung fragte Sebastian:
»Ist niemand in eurem Clan, der mit euch sein Fell teilen mag? Wie ist das möglich?« Der Junge druckste umständlich herum. Basti wurde ungeduldig.
»Nun mal heraus mit der Sprache, was ist da los? Ihr seid ein Clan; warum hilft euch niemand?« fragte er mit Nachdruck. Kengal antwortete vorsichtig, als müsste er sich für ein Verbrechen rechtfertigen.
»Herr, die wollten nicht, dass ich mitkomme. Die sagen ich wäre zu klein, ich könnte nicht kämpfen. Sie lassen mich nicht an ihr Feuer, weil sie wollen, dass ich umkehre, Herr.«
»Na das sind ja tolle Geschichten«, entfuhr es Sebastian. Er sah den Jungen eine Weile an, bevor er ihn mit durchdringendem Blick fragte:
»Aber ihr wollt mit uns kämpfen, nicht wahr? Und ihr wollt euch nicht zurückschicken lassen, oder? Warum seid ihr so begierig darauf mit uns zu kommen?« Kengal blickte ihm offen in die Augen, und Sebastian sah einzelne, kleine Tränen auf seinen Lidern funkeln.
»Herr, die haben meine Schwester. Sie haben sie gefangen genommen, aber sie war nicht unter den Befreiten. Ich will sie retten, ich will nach Quaronas, oder dorthin, wohin die sie gebracht haben. Ich gehe mit, Herr, und wenn ich jede Nacht frieren muss!« Sebastian war fassungslos. Dieser kleine Knabe wollte es notfalls mit der größten Armee aufnehmen, um seine Schwester wiederzufinden. Dafür war er bereit, in den Nächten in einer Wind umwehten Sandmulde zu frieren. Ein mehr an Mut war kaum vorstellbar.
»Donnerwetter, ihr seid ein wahrer Krieger«, würdigte Basti ihn. »Ihr mögt vielleicht nicht sehr kräftig sein, doch euer Mut reicht an drei Männer heran. Kengal, ich sage euch, ihr dürft bleiben! Und wenn euer Clan keinen warmen Platz für euch hat, so werde ich ein Lager an einem Feuer für euch finden!«
Tiskaja und Isane hatte bis dahin still an ihrem Platz gesessen und der Unterhaltung gelauscht. Plötzlich streifte Isane das Fell von ihren Schultern, unter dem sie mit ihrer Schwester gesessen hatte, stand auf und trat vor Kengal hin. Sebastian sah, dass selbst Tiskaja erstaunt aufblickte. Das kleine Mädchen nahm Kengals Hände in die ihren und zog ihn hoch.
»Kengal, das Feuer, das meine Schwester und mich wärmt, ist viel zu groß für uns beide. Ihr werdet von nun an mit uns das Feuer teilen. Ihr seid von nun an mein Bruder, und wir werden zusammen nach eurer Schwester suchen.«
Isane sagte das so bestimmt, als wäre es bereits besiegelt. Dennoch warf sie einen kurzen fragenden Blick auf Tiskaja. Die setzte ein mildes Lächeln auf, und trat zu den beiden gleich großen Kindern, die sich offenbar wie Pech und Schwefel gefunden hatten. Sie legte einen Arm um Kengals Schultern und sagte beinahe mütterlich:
»Ihr seid in unserem Lager willkommen, Kengal von Levinar. Und verzeiht, dass wir euch so unsanft zu Areos brachten. Aber eine unserer Schwestern ist verschwunden, und ihr hattet ihr Bündel bei euch. Teilt trotzdem das Feuer mit uns, ja?«
Der Junge war misstrauisch und zögerte, doch Isane packte ihn einfach bei den Handgelenken, und zog ihn mit sich auf ihren Platz. Als befürchtete sie, dass sie ihn wieder verlieren könnte, hielt sie seine Hand fest auf ihren Schenkel gedrückt.
»Als mein Bruder müsst ihr nun neben mir sitzen«, verkündete sie ihm stolz und bestimmt. Sie legte dabei so viel Wärme in ihre Stimme und ihre Gesten, dass Kengal seinen äußeren, wie inneren Widerstand aufgab, und es einfach geschehen ließ. Ja sie überrannte mit ihren herzlichen, lebensfrohen, und unbekümmerten Charme einfach seine Ängste und Zweifel. Das Mädchen, kaum eine Frau, hatte den Knaben, kaum ein Mann, fest in ihren Bann gezogen.
Basti und Tiskaja beobachteten die Entwicklung mit Freude, aber auch mit fürsorglichem Abstand. Eine kleine Romanze in diesen Zentaren war wie ein Licht in finsterer Nacht. Doch es war eben eine Romanze zwischen Kindern, obwohl Isane in ihrer körperlichen Entwicklung zur fraulichen Reife schon etwas fortgeschrittener war, als Kengal zum Jugendlichen. Die spontane Anwandlung Isanes mochte mancher Betrachter für den aufkeimenden Fürsorgewunsch einer jungen Frau halten, ähnlich der Liebe zu einem Haustier. Was Kengals Eltern zu der neuen Konkurrenz sagen würden, konnte Basti nur mutmaßen.
Er beruhigte sich damit, dass die beiden sich zunächst einmal als Bruder und Schwester gefunden hatten, und ihre Zuneigung sich auf einen familiären Charakter beschränkte. Er warf Tiskaja mit einem wohlwollenden Nicken einen zustimmenden Blick zu. Die junge Frau, beinahe selbst noch ein Mädchen, antwortete mit dankbaren Augen. Das große Fell, das die beiden Schwestern gewärmt hatte, zog sie nun auch über Kengals Schultern. Der Junge, offensichtlich todmüde, ließ es kommentarlos zu. Und als Isane einen Arm um ihn legte, und ihn an sich zog, schien er es zu genießen, und schlief schnell ein.
Erstaunlich, wie rasch das kleine, selbst zu behütende Mädchen sich in seiner neuen Beschützerrolle zurechtfand. Für Sebastian war hier eine kleine Familie innerhalb der Gemeinschaft der Jo-lie entstanden. Und da Tiskaja und Isane ihr Lager stets in der Nähe von Antarona und seinem aufschlugen, mochte er immer einen aufmerksamen Blick auf den neu entstandenen Clan haben.
Inzwischen waren die anderen Freunde von ihrer Suche zurückgekehrt, und zumindest die Mädchen wunderten sich ein wenig über die enge Vertrautheit zwischen Isane und Kengal, die ihnen natürlich nicht verborgen blieb. Antarona sah Basti vielsagend an und ihre Blicke wanderten zwischen dem kindlichen Paar und ihm hin und her. Er beugte sich zu seiner Frau hinüber, und erklärte flüsternd:
»Junge Liebe. Wie zwei kleine Blüten, so zart und zerbrechlich. Ein Stern in den Wolken, die über diesem Land stehen.« Antarona verstand seine Sprache, die für andere möglicherweise ein Rätsel geblieben wäre. Sie spürte seine Freude über das anmutige, viel zu junge Pärchen, das Hoffnung, Zukunft, und Lebensfreude trotz der düsteren Gegenwart symbolisierte.
»Was habt ihr gefunden? Hat der Junge die Wahrheit gesprochen? Habt ihr irgend einen Hinweis darauf, was mit Feyach geschehen ist?« fragte Sebastian, gerade so laut, dass Antarona ihn verstehen konnte. Das Krähenmädchen schüttelte enttäuscht den Kopf.
»Ba - shtie, da waren so viele Spuren, von so vielen Füßen, die den Sand wie ein Pflug durchzogen haben. Sonnenherz und ihre Freunde haben die Wurzel am Wald gefunden, wie Kengal sie beschrieben hatte. Doch von Feyach vermochten sie keine Fährte zu finden, kein Zeichen, ob sie je dort gewesen war.« Sebastian hob den Kopf, und sagte:
»Dann müssen wir darauf vertrauen, dass der Junge die Wahrheit gesprochen hat.« Die Freunde, die wieder rings um das Feuer saßen, nickten zustimmend, zeigten aber offen ihre Enttäuschung, weil nicht geklärt war, was dem Mädchen zugestoßen sein mochte.
Allein Isanes Augen blitzten Basti angriffslustig an. Was erdreistete sich dieser Areos, die Worte ihres kleinen Bruders anzuzweifeln? Der bekam von alledem nichts mehr mit. Er war in Isanes Armen eingeschlafen. Basti nahm das zum Anlass, die kleine Runde aufzulösen.
»Wir können hier nicht mehr viel machen. Es ist zu dunkel, um noch einmal die Wälder abzusuchen. Wir müssen warten, bis Talris seinen neuen Lauf beginnt. Es ist besser, wenn ihr euch alle schlafen legt, und bei Tagesanbruch ausgeruht seid.«
Die Freunde erhoben sich, rieben sich die Glieder, und schlenderten zu ihren eigenen Feuern davon. Isane und Tiskaja hatten ihr Feuer nur ein par Meter entfernt. Dennoch blieb Isane unschlüssig sitzen, den kleinen neuen Freund im Arm. Sebastian ging zu ihr, und sagte leise:
»Keine Angst, ich nehme ihn, er wird es nicht einmal merken.« Damit nahm er ihr den Jungen ab, und trug ihn behutsam zum Feuer der beiden Mädchen hinüber, wartete, bis Tiskaja ein kleines Lager gebettet hatte, und legte ihn sanft darauf ab. Das Zudecken mit dem Fell besorgte Isane selbst, bevor sie ihr Lager dicht neben Kengals einrichtete. Tiskaja legte sich wie ganz selbstverständlich auf der anderen Seite neben ihn. Wie zwei Wölfinnen ein Junges bewachen, dachte Basti, beinahe neidisch auf den kleinen Kengal.
Antarona hatte inzwischen ihr eigenes Feuer auf die halbe Größe reduziert, indem sie die teils abgebrannten Hölzer enger aneinander geschichtet hatte. Sie hatte das Lager in einer Sandmulde angelegt, und Sebastian fragte sich, ob er sich daran gewöhnen mochte, später auf dem Festland auf dem hart gefrorenen Boden zu lagern. Er würde den weichen, von der Sonne aufgeheizten Strand Falméras vermissen.
Bevor Antarona und Sebastian sich zum Schlafen hinlegten, gingen sie noch einmal zum Wasser hinunter. Hand in Hand standen sie schweigend vor dem Meer, das seine Wellen leise plätschernd gegen die flache Sandböschung anlaufen ließ. Wie eine dunkle, hier und dort aufglitzernde Fläche lag der Wasserspiegel da. Der ablandige Wind beruhigte die See.
»Glaubst du, dass wir Feyach noch finden werden?« unterbrach Basti die einschläfernd monotonen Wellenschläge. Das Krähenmädchen hob die Schultern zum Zeichen, dass sie keine Antwort wusste. Sanft schmiegte sie sich an Bastis Seite, legte ihm ihre Arme um den Hals und legte ihren Kopf an seine Schulter. So standen sie eine Weile da. Ihre Blicke verloren sich dort, wo das Meer mit dem Himmel verschmolz.
»Sonnenherz spürt, dass Feyach noch am Leben ist«, sagte Antarona plötzlich. Sie wisperte es nur. Und für Basti war es mehr als nur ein dahergesagter Glaube. Er hatte sich an die Gabe seiner schamanischen Frau gewöhnt, eine geistige Verbindung mit anderen Lebewesen herzustellen, nicht rational, mental aber sehr zuverlässig und oft intensiv. Vorsichtig, um sie nicht aus ihrer Wahrnehmung zu reißen, fragte er:
»Glaubst du das?« Antarona schwieg einige Wellenschläge lang, und er wagte nicht, nachzubohren. Ihr Blick ging in die Weite, weiter hinaus, als der Horizont maß. Er kannte das bereits. Antaronas Sinne gingen auf eine weite Reise. Basti nannte es gerne bis in eine andere Dimension.
»Feyach lebt. Sie ist ganz in der Nähe. Aber sie braucht Hilfe. Sie fühlt sich einsam, allein gelassen, kalt.« Das Krähenmädchen sprach diese Worte fast in einem leisen, feierlichen Singsang, und Basti vermutete, dass ihr Empfinden, das ihr diese Worte eingab, möglicherweise nicht von dieser Welt war. Er schwieg.
Er wartete, ob noch irgend etwas kommen würde. Nach einer geraumen Zeit, er war fast schon im Stehen eingeschlafen, weil die Intervalle der leisen Wellen mit ihrem monotonen Rauschen seinen Geist immer mehr einschläferten. Antaronas Stimme, ohne Betonung, ein Widerhall aus einer geistigen Abwesenheit, holte ihn ein Stück weit in die Gegenwart zurück.
»Feyach friert, sie weiß nicht, wo sie sich befindet, und doch ist sie sehr nahe.« Die Worte flossen einfach so aus ihrem Mund, obwohl Antarona bewegungslos, ja geradezu steif an ihn geschmiegt stand, und auf das Meer hinaus starrte. Auf einem Mal löste sie sich aus der mental entspannten Starre, ging in die Hocke und griff mit einer Hand in den Sand.
»Ba - shtie, das Mädchen Feyach lebt und befindet sich auf diesem Boden, und doch nicht auf diesem Land. Sie ist in Sicherheit, und doch nicht geborgen. Ihr Herz ist voller Angst.« Basti zog das Krähenmädchen hoch und umschloss ihre Schultern mit seinem Arm. Er spürte, dass sie fror.
»Komm, wir werden bei Tagesanbruch nach ihr suchen, und zwar so lange, bis wir sie gefunden haben. Und wenn wir jede Zentare dieses Strandes umgraben, und jeden Baum fällen müssen, um sie zu finden.« Trotz seiner Versicherung gingen ihm Antaronas Worte nicht mehr aus dem Kopf. Sie machten für ihn einfach keinen Sinn. Aber sie mussten schlafen, denn ohne ausgeruht zu sein, konnten sie das vermisste Mädchen nicht suchen.
Gerade wollte Basti seine Frau zum Lager hin mit sich ziehen, als er etwas hörte. Ein leises Weinen, ein Heulen, oder ein Wind verwehtes Rufen? Er hielt inne, lauschte und horchte.
»Was habt ihr, Ba - shtie?« fragte Antarona. Er lauschte noch eine Weile, ohne sich zu bewegen, hörte aber nur das gleichmäßige Rauschen der kleinen Wellen.
»Ach nichts, glaube ich. Aber es hörte sich so an, wie Weinen, oder Rufen. Wahrscheinlich sind wir alle schon völlig überreizt.« Er schob Antarona sanft in Richtung Lagerfeuer, als er es wieder hörte. Leiser als zuvor. Undeutlicher, undefinierbarer. Wieder hielt er inne.
»Hast du nichts gehört?« fragte er. »Ganz leise, draußen auf dem großen Wasser, wie ein Heulen.« Antarona, wieder ganz rational, blickte einen Moment aufs Meer hinaus.
»Der Wind, Ba - shtie, es ist der Wind. Er weht von Land auf das große Wasser hinaus, und fängt sich in den Rissen und Klüften der Klippen. Dies macht das Geräusch, das ihr hört.« Sebastian überlegte.
»Welche Klippen?« fragte er erstaunt, »hier ist doch überall nur feiner, weißer Sand?« Er blickte sich suchend um, bis Antarona ihn neckisch anstieß.
»Dort draußen, Ba - shtie, im großen Wasser, seht ihr nicht die Wellen, wie sie weiß sprühen, wie sie sich an den Klippen brechen? Das Wasser hat den Fels gehöhlt und zerklüftet. In den Öffnungen heult der Wind.«
Basti sah angestrengt hinaus, wo Meer und Horizont in einheitlichem Schwarz gähnten. Tatsächlich sah er zwischendurch ein weißes Aufblitzen, die Schaumkronen der Wellen. Die Klippen waren ihm am Tage gar nicht aufgefallen. Sie lagen zu weit draußen, als dass er sie hätte einer genaueren Betrachtung unterziehen wollen. Von dort kamen die Laute, die beinahe menschlich klangen. Allerdings vernahm er sie doch recht deutlich, dafür, dass der Wind von Land auf die See hinaus wehte. Doch wer vermochte schon zu sagen, welches Naturphänomen da seine Hand im Spiel hatte.
»Was haben die Klippen dort draußen schon zu klagen, wenn sie keinen Torbuk und Karek, keinen Gor, oder sonst eine Kreatur zu fürchten haben«, sinnierte er laut. Antarona schlang wieder die Arme um ihn und sagte:
»Es ist der Wind, welcher klagt, Ba - shtie. Er gelangt überall hin, und sieht alles, und weiß alles, wie Talris selbst allwissend ist«, sprach sie, als wollte sie alles Unrecht der Welt irgendwie mit einer Erklärung rechtfertigen.
»Wenn das so ist«, antwortete Basti, »dann hat er allerdings viel zu jammern.« Er dachte darüber nach, wie wandelbar die Ansichten dieses Naturkindes waren.
Antarona verfügte über einen aufgeweckten, durchaus realistischen Verstand, der in der Lage war, jedes Naturphänomen zu erklären, und fast jede Situation in Gefahr zu meistern. Andererseits glaubte sie an die einfältigsten Lehren über Talris und die Götter, an die Mythen und Mären, welche die Vorfahren den Îval seit Generationen hinterlassen hatten. Sie forschte nicht, sie sah, hörte, und akzeptierte das, was ihre Sinne ihr übermittelten. Selten dachte sie darüber nach, warum etwas so war, wie es war.
So fortschrittlich die Îval in der Infrastruktur auch waren, so waren sie geistig doch Kinder, ein Naturvolk geblieben. Sie hatten Glas in den Fenstern ihrer Herrschaftssitze und bauten monumentale Burgen. Doch gleich nebenan lebten sie in einfachen Hütten und Häusern, die keine Wasserleitungen kannten. Gemessen an der Entwicklung seiner eigenen Kultur empfand Basti die Lebensweise dieses Volk als surreal. Viele Entwicklungsstufen der Îval passten nicht wirklich zusammen, als hätte eine fremde, weitaus fortschrittlichere Macht für kurze Zeit in die Entwicklung dieser Menschen eingegriffen.
Irgendwie konnte er es nicht lassen, Antarona in dieser Sache noch eine Spitze zu versetzen. Nein, er wollte sie nicht kränken, oder gar verärgern. Vielmehr wollte er sie ein wenig herausfordern, sie zum Nachdenken bewegen. Manchmal war es für ihn unerträglich, in seinem Handeln oder Denken von ihrem Glauben eingeschränkt zu sein. Dann wieder, in Situationen und Erfahrungen, die er nicht erklären konnte, war er selbst geneigt, von Talris und den Göttern zu sprechen. Ein hin und her Gerissensein zwischen den Kulturen aus Liebe heraus. Wie beiläufig, aber nicht ganz ernst gemeint, sagte Basti:
»Dann frag doch den Wind, wo Feyach ist. Wenn er alles sieht und überall hingelangt, so wird er es dir sicher verraten, nicht wahr?« Antarona nahm es erstaunlicherweise mit Humor.
Zu anderer Zeit hätte sie ihm eine flammende Szene gemacht, und ihn mit Funken sprühenden Blicken gestraft. Hatte auch sie sich ihm etwas angepasst? Akzeptierte sie inzwischen seinen freizügigen Umgang mit dem Glauben der Îval? Oder überhörte sie es einfach nur, weil sie wusste, dass er in allen Dingen und Fragen treu hinter ihr stand?
»Ja, Ba - shtie, wenn Feyach nicht gefunden wird, will Sonnenherz den Wind befragen.« Diese Antwort hatte er nicht erwartet. Er blickte sie an. Ihre Augen waren starr auf das Meer hinaus gerichtet. Ihre Stimmung war nicht eindeutig zu ergründen.
Basti hatte aber mittlerweile so viele überraschende Fähigkeiten hinsichtlich der Sinne seiner kleinen Frau entdeckt, dass er es nicht mehr für ausgeschlossen halten mochte, dass sie tatsächlich in der Lage war, Informationen aus dem Wind herauszuhorchen, also mit dem Wind zu sehen. Würde er das alles etwas naiver betrachten, so müsste er wohl annehmen, sie wäre mit besonderen Gaben ihrer Götter gesegnet. Antarona holte ihn aus seinen gedanklichen Ausschweifungen zurück.
»Lasst uns schlafen, Ba - shtie, wenn Talris neu erwacht, werden Sonnenherz, ihr, und die anderen noch einmal nach Feyach suchen. Es ist dunkel, Wolken ziehen vor das Licht der Nacht, und die Augen erkennen nichts mehr.« Basti nickte, legte seinen Arm um ihre Taille, spürte ihre fröstelnden Haut, zog sie an sich und führte sie zu ihrem Lager zurück, wo das Feuer fast ausgebrannt war.
Sie legten noch ein par große Holzstücke quer über die Glut, so dass diese langsam abbrennen mussten, und wickelten sich in ihre Felle und Decken, wie Raupen in einen Kokon. In der Hülle gegenseitiger Körperwärme schliefen sie rasch ein.

Am Morgen waren alle sehr früh auf den Beinen. Die Gruppen und Clans saßen an ihren Feuern und warteten, dass Areos sie zu sich rief.
Antarona und Basti hatten bereits ihre Bündel geschnürt, und zu den verbliebenen Pla-ka gebracht, die ein par der jüngeren Jo-lie bewachen sollten. Dann versammelten sich alle in der Mitte des Strandes. Sebastian teilte mehrere Gruppen für die Suche ein, groß genug, um auch eine größere Fläche abzusuchen, aber klein genug, um genügend Trupps zusammenzubringen.
Die größte Aufmerksamkeit galt dem nahen Wald, denn Basti konnte Antaronas Gespür nicht ignorieren, dass Feyach irgendwo in der Nähe war. Auf dem Meer treibend und auf dem Strand hätte man sie längst gesehen. Hätte man? Bastis Blicke glitten über die Wasserfläche, die sich weit vor ihnen ausdehnte. Irgendetwas hatte er übersehen. Etwas, das ihm noch beim Einschlafen eingefallen war. Etwas, das ihn am Abend beschäftigt hatte. Es wollte ihm nicht mehr einfallen. Antarona rüttelte ihn unauffällig am Arm.
»Ba - shtie, alle sind bereit. Sie warten nur noch auf euer Zeichen zum Aufbruch.« Er nickte, musste sich von dem Gedanken lösen, etwas außer Acht gelassen zu haben. Jetzt war nicht die Zentare, sich um Unwichtiges zu kümmern. Er hob die Arme, so dass ihn alles sehen konnten, und verkündete:
»Geht jetzt los. Wir suchen, wie es besprochen ist. Erst gemeinsam Rufen, dann lauschen, und wieder Rufen. Vielleicht antwortet Feyach. Ansonsten seht hinter jeden Felsen, hinter jeden Baum, unter jede Wurzel. Dreht von mir aus jeden Stein um, und klettert auf Bäume. Aber findet sie, und denkt daran, dass jeder von euch sich in Feyachs Lage befinden könnte. Denkt in jeder Zentare daran, wie froh ihr wärt, wenn man euch nicht einfach zurücklässt. Geht!«
Die Jo-lie schwärmten auseinander, und man spürte, dass die Gemeinschaft hoch motiviert war. Jede Gruppe wollte diejenige sein, die Feyach fand, und die Achtung und Bewunderung der anderen genießen. Ein zweifelhafter Antrieb, doch, wie Basti fand, der Zweck heiligte in diesem Fall die Mittel.
Antarona und Sebastian, Tiskaja und Isane bildeten mit Kengal eine Gruppe. Sie wollten den Wald in dem Bereich durchkämmen, wo sie gejagt hatten. Dort kannten sie sich bereits aus. Sie gingen den Weg, den sie nach der Jagd zum Strand zurück gekommen waren. Basti links, Antarona rechts, Tiskaja in der Mitte, und dazwischen Isane und Kengal, so durchstreiften sie in einer Linie im Abstand von zehn Metern den Wald.
Sie riefen den Namen des vermissten Mädchens, dann blieben sie stehen und lauschten. Weitergehen, Rufen, und Lauschen wechselten, bis sie am Rand der Lichtung standen, wo die Hochweiden bis unter die Felsen reichten.
»Weiter brauchen wir nicht zu suchen«, bemerkte Basti, »so weit kann sie in Angst und Aufregung nicht gekommen sein. Eher hätte sie sich irgendwo versteckt.« Antarona und Tiskaja stimmten ihm zu.
Bevor sie den nächsten Streifen absuchten, wollte Basti zu dem Felsvorsprung gehen, von dem aus man den ganzen Strand überblicken konnte. Möglicherweise erkannte man von oben eine Spur, einen Hinweis, der unten einfach übersehen wurde. Also schlugen sie sich durch die Büsche, bis sie die Steinplatte erreichten, die einige Meter weit über die Felsen hinausragte.
Aber auch von dort aus war nicht viel mehr zu entdecken. Beinahe ein Stück weit resigniert blickte Basti über den Strand und über das Meer, das sich als spiegelnde, blassblaue Fläche bis zum Himmel ausdehnte, nur unterbrochen von den Klippen, die zwei- bis dreihundert Zentaren vor der Küste aus dem Wasser ragten, und die Basti am Abend gar nicht wahrgenommen hatte.
Das war es! Die Klippen! Die hatten ihm keine Ruhe mehr gelassen. Einige Jo-lie waren beim Anflug des Gor einfach ins Wasser gesprungen. Was, wenn Feyach ebenfalls ins Meer gesprungen war? Was, wenn sie abgetrieben wurde? Vielleicht bis zu den Felsen dort draußen? War sie es, die in der Nacht gerufen hatte; war es gar nicht der Wind, wie von Antarona vermutet?
»Wie weit mögen die Klippen wohl vom Strand weg sein?« Bastis Frage nahmen die anderen zunächst nur nebensächlich wahr. Alle zuckten ahnungslos mit den Schultern.
»Als der Gor angriff, war das Wasser in dieser Zentare gekommen, oder abgezogen?« Erst jetzt, da er Ebbe und Flut ansprach, wurde zumindest Antarona aufmerksam.
»Ihr meint, Feyach konnte zu den Klippen dort hinübergetrieben sein?« Basti wiegte den Kopf hin und her, bevor er seine Gedanken aussprach:
»Auszuschließen ist es ja wohl nicht. Wenn sie ihr Bündel hat fallen lassen, und war, wie andere auch, ins Wasser gesprungen? Sie ist klein und leicht. Gegen die Strömung hätte sie möglicherweise gar nicht anschwimmen können, oder? Außerdem, Antarona, denk mal an das Heulen in der Nacht. Was, wenn es nicht der Wind in den Klüften der Klippen war? Kann es auch Feyach gewesen sein, die um Hilfe rief?«
Sebastian sah direkt, wie es hinter Antaronas und Tiskajas Stirn zu arbeiten begann. Ausschließen konnte man diese Möglichkeit freilich nicht. Aber nun einfach die Suche abbrechen, und einer Idee nachjagen, die vielleicht völlig absurd war? Basti wollte Tatsachen schaffen, wollte eine Entscheidung, die seine Zweifel beruhigten. Aber er wollte auch die Suche nicht abblasen. Er suchte nach einer Lösung.
»Wer von euch kann am besten schwimmen?« Seine Frage musste auch Antarona schon durch den Kopf gegeistert sein. Sie sah Tiskaja an und fragte:
»Seid ihr eine gute Schwimmerin? Mögt ihr euch zutrauen, zu den Klippen zu schwimmen, ohne dass ihr fortgetrieben werdet?« Tiskaja antwortete vorsichtig.
»Ich schwimme viel, doch wenn die Strömung zu stark ist...« Sie ließ den Satz offen, sagte dann aber: »Ich weiß nicht, wie gut ich schwimme, aber ich will es versuchen.« Sebastian hörte ihre Unsicherheit heraus. Antarona machte eine fordernde Handbewegung, und sagte fest entschlossen:
»Sonnenherz wird es versuchen. Wenn Feyach dort draußen ist, und die ganze Nacht auf den Felsen verbracht hat, so ist ihr Leben in Gefahr, denn sie hatte keine Wärme.« Für das Krähenmädchen war es offenbar beschlossene Sache, zu den Klippen hinauszuschwimmen. Für Sebastian Lauknitz keineswegs.
»Das kommt nicht in Frage!« rief er dazwischen. »Du wirst nicht dein Leben, und das unserer Tochter aufs Spiel setzen. Wenn wir bei den Klippen nachsehen, so werden wir uns ein Floß bauen, und hinrudern.«
»Das dauert viel zu lange, Ba - shtie, bis dahin kann Feyach erfroren sein.« Und dieses Mal war es Basti, der sich durchsetzte, und bestimmte:
»Wir sind Viele, und wenn alle mit anfassen, wird es rasch fertig sein. Der Wind hat gedreht; das gibt uns die Möglichkeit, ein Segel anzubauen, um schnell zurück zu gelangen. Du wirst jedenfalls nicht so weit hinausschwimmen, auch wenn du im Wasser eher ein Fisch bist, als ein Menschenwesen.« Antarona wollte aufbegehren, doch Basti setzte schnell noch hinzu:
»Und wenn ich dich an einen Baum binden muss, wenn du unvernünftig sein solltest. So lange ich lebe, wirst du das nicht tun!« Es klang endgültig, so, wie er es gemeint hatte. Nebenbei registrierte er Tiskajas Erleichterung. Sie hatte es sich eindeutig nicht zugetraut, hatte aber auch nicht gewagt, zu kneifen. Eine tapfere Kriegerin.
Dass sie den Versuch unternehmen wollten, zu den Klippen zu gelangen, um nachzusehen, stand nun fest. Augenblicklich traten sie den Rückweg an. Am Strand angelangt trat Antarona ohne zu zögern ins Wasser. Sebastian löste bereits die Lederschnüren am Bund seines Ra-li. Er würde seine Warnung konsequent wahr machen, und sie fesseln, sollte sie tatsächlich Anstalten machen, ins Meer hinauszuschwimmen.
Doch statt dessen ließ sich Antarona im Wasser auf die Knie sinken, und schien zu meditieren. Basti kannte das Spiel bereits, und beruhigte sich wieder. Es schien, als wollte sie Tekla und Tonka herbeirufen, ihre beiden schwarz gefiederten Freundinnen. Allerdings fragte er sich, wie die beiden Krähenvögel auf dem Wasser landen wollten. Sie zu rufen, um sie auszusenden, Feyach zu suchen, wäre oben auf dem Felsabsatz sinnhafter gewesen.
Inzwischen waren Isane, Kengal und Tiskaja nicht untätig geblieben. Sie schwärmten aus, um einige in der Nähe befindlichen Gruppen zurückzuholen, damit rasch ein Floß gebaut werden konnte. Antarona aber hatte offenbar anderes im Sinn. Denn kurz nachdem sie einige Gebärden im Wasser vollführt, und das Gesicht einige Male unter Wasser gehalten hatte, geschah etwas, das Basti wiederum erstaunen ließ.
Plötzlich tauchten einige Zentaren vor dem Krähenmädchen drei große Finnen im Wasser auf, die sich schnell näherten. Das Mädchen das mit den Tieren spricht, wurde sie oft genannt. Sie hatte die Plon-tàs gerufen, jene Meeressäuger, die den Basti bekannten Schwertwalen ähnlich waren, und die ihn und Antarona vor einiger Zeit in abenteuerlichem Ritt nach Falméra gebracht hatten.
Mit einer ordentlichen Bugwelle schoben sich die Tiere bis nahe an den Strand heran. Antarona ging ohne Scheu auf sie zu, begann mit sanfter Stimme mit ihnen zu sprechen, streichelte ihre glänzende Stirn, und fasste ihnen sogar ins Maul, das mit scharfen, kleinen Zähnen bestückt war. Die Tiere streckten ihre Zungen vor, und Antarona rieb sie mit ihren Handflächen. Offenbar schien den Plon-tà diese Liebkosung zu gefallen, denn sie fiepten geradezu genüsslich dazu.
Mittlerweile kamen Tiskaja, Kengal und Isane mit einigen anderen Jo-lie zurück. Ehrfürchtig staunend blieben sie im Halbkreis um die Attraktion stehen, und gafften mit offenen Mündern. Die kleine Ansammlung lockte immer mehr Jo-lie herbei, und bald stand fast die ganze Gemeinschaft am Strand und beobachtete das Geschehen. Anerkennende Rufe wechselten mit geheimnisvollem Wispern und Tuscheln.
Wer bis zu dieser Zentare Zweifel an der Legende um Sonnenherz, das Krähenmädchen hatte, die mit den Tieren sprechen konnte, der war nun davon überzeugt. Antaronas Ansehen bei den Jo-lie stieg in diesen Minuten um das Hundertfache, und Basti vermutete, dass die Legende in diesem Augenblick um eine weitere Geschichte gewachsen war.
»Worauf wartet ihr, Ba - shtie, die Plon-tàs werden sich nicht den ganzen Sonnenlauf lang anstarren lassen.« Antaronas Aufforderung war unmissverständlich. Wie am Strand des Festlands, zögerte er. Doch das Krähenmädchen drängte:
»Ba - shtie, ihr kennt das. Ihr wisst, dass ihr ihnen vertrauen könnt. Die Plon-tàs kennen euch, es sind jene, die uns nach Falméra brachten.« Sebastian konnte nicht riskieren, vor all denen zu kneifen, die ihn inzwischen als Krieger und Areos, den Sohn Bentals, akzeptierten und bewunderten.
Unter teils überraschten, teils staunendem Kommentar vom Strand her, ging er auf die Wale zu, konzentrierte sich voll auf sie, und auf den Wunsch zu den Klippen gebracht zu werden. Er sprach ihnen mit freundlicher Stimme zu, streichelte sie, und kraulte sie wie Hunde unter dem Maul. Ein Gurren und Fiepen sagte ihm, dass es ihnen gefiel, und dass er ihr Vertrauen hatte.
Beinahe gleichzeitig schoben Basti und Antarona ihre Waffen auf den Rücken, umfassten vorn die Finne eines Plon-tà, und schwangen sich auf den Rücken eines Tieres. Vom Strand her erklangen immer wieder erstaunte und überraschte Ausrufe. Die Tiere wanden sich wie Aale in das tiefe Wasser zurück, und schossen sogleich wie Torpedos durch die Fluten, dass Basti zuweilen die Augen schließen musste, um sie vor dem anbrausenden Spritzwasser zu schützen.
Wider Erwarten war das Wasser wärmer, als die Luft am Strand. Basti versuchte sich mit den Schenkeln auf dem breiten Rücken seines Plon-tà festzuklemmen, doch das Wasser machte ihre Haut glatt, und ein par Mal drohte er von seinem Reittier zu rutschen. Als er endlich eine Position gefunden hatte, die es ihm erlaubte, entspannt auf dem Wal zu reiten, halb im Sitzen, halb im Liegen, war der ganze Ritt schon vorbei.
Ein par Minuten, und die Klippen waren erreicht. Die Tiere wurden langsamer, umrundeten die größere der Felsen, an denen sich noch immer die Wellen Gischt sprühend brachen, und schwammen dicht an die scharfen Klippen heran. Basti und Antarona klammerten sich an die rauen Felsen, und spähten hinauf.
Unzählige Nester von Vögeln thronten auf den Vorsprüngen und in Nischen. Tölpel und weiße Möwen stiegen kreischend auf, und umrundeten die beiden Eindringlinge, und versuchten sie mit attackenartigen Flugmanövern von ihren Nestern fernzuhalten. Doch die Plon-tà hatten Antarona und Basti nicht ohne Grund an dieser Stelle abgesetzt. Sie wussten, wo sich das vermisste Mädchen befand.
Basti suchte die schwarz glänzenden, zerklüfteten Felsen ab. Es fiel schwer, denn immer wieder donnerten Wellen gegen die Klippen, und sie wurden von einer wahren Flut aus Meerwasser übergossen. Sie mussten höher hinauf. Das aber missfiel den Seevögeln, denn sie sahen in den beiden nichts anderes, als Nesträuber. Sie griffen zwar nicht an, doch ihre Attacken kamen näher, so dass Basti die Luftzüge ihrer Vorbeiflüge spürte. Antarona, die sich wie eine nass glänzende Seespinne die Felskanten hinaufzog, deutete plötzlich auf eine größere Nische im Fels, weiter oben, wo ein breiterer Absatz zu vermuten war.
»Dort ist sie, Ba - shtie, wir müssen da hinauf!« versuchte sie ihm zuzurufen. Das Tosen der Brandung rund um die Klippen verschluckte beinahe jeden Laut, außer natürlich das intensive Kreischen der Möwen. Antarona wies mit ausgestrecktem Arm ein par Mal auf die Stelle, bis auch Sebastian das zusammengekrümmte Wesen auf dem Absatz erkennen konnte. Feyach, kein Zweifel! Bis an diese unwegsame Stelle hatte sich das kleine Mädchen vor der tosenden See gerettet, bevor sie unweigerlich aufs offene Meer hinaus getrieben worden wäre.
Hastig kletterten Basti und Antarona zu ihr hinauf, immer noch umschwärmt von wütenden Vogeleltern, die ihren Nachwuchs zu verteidigen suchten. Da spürte Basti die ersten Schnabelhiebe auf seinem Rücken. Die Viecher pickten ihm tatsächlich die Haut vom Leib! Das machte ihn unendlich zornig, und mit der Kraft der Wut, schob er sich schnell auf das Felspodest, auf dem Feyach inmitten von Vogelnestern zusammengekauert lag.
Ihr schmächtiger Körper war von unzähligen, kleinen Wunden übersät. Offenbar hatten die Vögel versucht, sie genau wie Basti und Antarona, mit heftigen Schnabelattacken abzuwehren. Basti fühlte ihren Puls, am Handgelenk und an der Halsschlagader, während Antarona versuchte, die aufgebrachten Möwen und Tölpel zu besänftigen. Sie stimmte ihr leises Singsang an, und konzentrierte ihre Sinne auf die erregt hin und her flatternden Tiere. Und tatsächlich beruhigten sich die Tiere allmählich, und ließen sich wieder auf ihren Nestern nieder.
Das Mädchen lebte. Doch ihr Atem ging sehr flach. Ihre Augenlider flatterten, und sie war hoffnungslos unterkühlt. Sie befanden sich auf der Schattenseite der Felsen. Die Kleine über die scharfen Kanten und Klippen auf die andere Seite, in die Sonne zu bringen, war viel zu riskant, wenn nicht unmöglich. Egal wie, sie musste von diesem Felsen herunter und an den Strand.
Antarona nahm sie in die Arme und drückte und knetete sie fest, um ihre eigene Körperwärme mit ihr zu teilen. Mit dem Reiben der bloßen Handflächen versuchte Haut und Glieder des Mädchens wieder zu durchbluten.
»Los, Ba - shtie, macht mit, umschließt sie von der anderen Seite«, befahl das Krähenmädchen. Sebastian kniete unschlüssig daneben. Er konnte doch nicht dieses halb nackte, fremde Mädchen... Antarona ließ keine Überlegungen zu.
»Macht schon, los, Feyach braucht Wärme, bevor wir sie zu den Plon-tà ins Wasser bringen können. Sie muss aus dem Schatten und aus dem Wind heraus, an den Strand, in die Sonne!« Basti war nicht ganz wohl bei der Sache, denn in seiner Kultur konnte diese Art der Wärmezufuhr mit empfindlichen Folgen für den Helfer falsch interpretiert und missverstanden werden. Dennoch gehorchte er.
Sie nahmen das leicht benommene Mädchen in ihre Mitte, umschlossen sie mit ihren Körpern, und versuchten sie gleichzeitig aufrecht zu stellen, um ihren Blutkreislauf anzuregen. Basti spürte ihre nackte, eiskalte Haut, und fröstelte leicht. Sie fühlte sich an, wie ein überdimensional großer Frosch. Kalt, feucht, leblos. Und doch regte sich noch Leben in diesem kleinen Geschöpf.
Feyach schlug die Augen auf, und starrte Basti halb verwundert, halb entsetzt an. Aber sie war zu keiner Gegenwehr fähig. Antarona redete ihr ununterbrochen zu, beruhigte sie, und rieb mit den Händen die Körperpartien des Kindes, die sie mit ihren Leibern nicht abdecken konnten. Diese ungewöhnliche Behandlung führten sie eine ganze Weile fort, bis in Feyach neue Lebensgeister erwachten, und sie sich gegen die hautenge Körpernähe zu wehren begann.
»Sie kämpft, Ba - shtie, das ist gut«, befand Antarona mit Genugtuung. »Lasst nicht nach, sie soll sich wehren, sie soll sich bewegen, sie soll alle Kräfte gegen Sonnenherz und euch tun. So wird sie wieder lebendig!« Basti presste den schmächtigen Körper des Mädchens noch fester an sich, und je mehr er sie und Antarona umklammerte, desto heftiger wehrte Feyach sich.
Als Antarona befand, dass es genug war, setzten sie das Mädchen auf das Felspodest, und Antarona begann ihre Beine und Füße zu massieren. Basti tat dasselbe mit ihren Armen und Händen. Inzwischen begriff das Mädchen, dass die beiden ihr nur helfen wollten, und ließ es geschehen. Dann schoss das Blut wieder durch ihre Adern, und suchte sich den Weg zurück in die Finger und Zehen.
Das Mädchen brüllte und schrie vor Schmerzen, dass Basti Angst und Bange wurde. Doch Antarona rieb sie gnadenlos weiter und sagte atemlos:
»Das ist gut so, Ba - shtie, wo sie Schmerz empfindet, ist sie nicht tot! Los, macht weiter, bis die Schmerzen nachlassen!« Sie rieben dem Mädchen beinahe die Haut von den Knochen, bis sie rot wie ein Krebs aussah. Plötzlich sagte Feyach Zähne klappernd:
»Ihr könnt jetzt aufhören, ich friere nicht mehr.« Natürlich fror sie noch. Aber sie war wieder soweit hergestellt, dass Stolz und Würde größer wurden, als ihre Notlage.
»Wir müssen euch von diesen Klippen herunterbringen, Feyach«, erklärte ihr Antarona, »glaubt ihr, dass ihr hinabsteigen könnt, bis zum Wasser?« Das Krähenmädchen sah die Gerettete skeptisch an, und beobachtete ihre immer noch steifen Bewegungen mit kritischem Blick. Feyach nickte, und machte Anstalten von selbst zu stehen. Es ging nur recht wackelig, doch es ging.
Basti kletterte voran, führte einen nach dem anderen Feyachs Füße auf sichere Tritte und Absätze, während Antarona hinter dem Mädchen wie eine schützende Hülle stand, sie hielt, und ihre Hände lenkte. So gelangten sie langsam, aber sicher tiefer, bis Feyach unter sich im Wasser die Finnen der Plon-tàs bemerkte. Erschrocken wollte sie wieder hinaufklettern. Antarona beruhigte sie:
»Die Plon-tàs sind unsere Freunde, sie fanden euch und brachten Areos und Sonnenherz zu euch. Vertraut ihnen, und ihr werdet ebenso ihre Freundin. Sie bringen uns zum Strand zurück, zu den anderen. Alle warten bereits voll Ungeduld auf euch.« Feyach blickte immer noch zweifelnd in die Gischt sprühenden Wellen, die sich an den Klippen brachen, und in denen die Schwertwale hin und her schwammen.
»Was die Menschenwesen oft von den Plon-tàs erzählen, sind reine Mären, glaubt mir«, versuchte Basti Antaronas Aussage zu bestätigen, »sie waren es nämlich, die Sonnenherz und mich ungesehen nach Falméra brachten.«
Allmählich ließ sich das Mädchen dazu bewegen, vollends abzusteigen. Dann standen alle drei am Fuße der Klippen, die Unterkörper von den heranbrausenden Wellen umspült. Sie mussten springen, weit springen, denn die Plon-tàs konnten nicht dichter an die steinigen Inselchen heranschwimmen, ohne dass die Macht der Wellen sie gegen die scharfen Klippen warf.
»Ihr müsst euch mit aller Kraft abstoßen, und weit ins Wasser springen«, instruierte Antarona das zitternde Mädchen, »versucht euch an der Flosse eines Plon-tà festzuhalten, und zieht euch dann auf seinen Rücken. Ihr werdet sehen, es ist so einfach, wie auf dem Rücken eines Pla-ka zu sitzen, eben nur im Wasser.«
Das Mädchen nickte tapfer, traute sich aber nicht recht die Felsen loszulassen. Basti machte den Anfang, um ihr zu zeigen, wie es ging, und um ihr die Angst zu nehmen. Er stieß sich ab, und sprang mitten unter die wartenden Wale. Er griff sich die erste Finne, die er erreichen konnte, und als er sie fest im Griff hatte, winkte er den beiden Frauen mit einer Hand zu. Und schon schoss der Plon-tà mit ihm in Richtung Strand dahin. Aus den Augenwinkeln sah er gerade noch, dass Antarona und Feyach gleichzeitig sprangen.
Sie tauchten ins Wasser, und Antarona half Feyach, sich an einer Finne festzuklammern. Dann griff sie selbst nach einer Flosse. Die Plon-tà der beiden Mädchen holten rasch auf, und Basti sah, dass der Plon-tà, der Feyach auf seinem Rücken trug, links und rechts von seinen Artgenossen flankiert wurde. Sie schwammen so dicht neben ihm, dass sie Feyach auffangen konnten, sollte sie vom Rücken ihres Tieres rutschen.
Sie waren beeindruckende Wesen, diese Plon-tàs. Wegen ihrer intelligenten Jagdmethoden eilte ihnen ein Ruf als Killer voraus. Doch hatte man sie erst einmal zu Freunden, so waren sie die sozialsten, treuesten, und fürsorglichsten Begleiter, die man sich nur wünschen konnte.
Feyach saß tapfer und wie festgeleimt auf dem Rücken ihres Tieres, und es schien ihr zu gefallen, auf diese Weise durch die See zu reiten. Basti hatte beim Sprung ins Wasser bemerkt, dass das Meer wesentlich wärmer war, als die Luft oben in den Klippen. Er vermutete, dass Feyachs Wohlbefinden sich im Wasser noch verbesserte. Als sie den Strand in Sichtweite hatte, und all die Wartenden erkennen konnte, wagte sie sogar, ihnen mit einer Hand zuzuwinken.
Der Ritt durch die See war ein Vergnügen von nur kurzer Dauer. Die Plon-tà brachten die drei unversehrt an den Strand, und Feyach traute sich sogar, sie zum Abschied zu kraulen, und ihnen die Zungen zu streicheln. Basti sah in ihren Augen die Begeisterung, als die Wale vor Dankbarkeit für die Liebkosungen laut fiepten.
Die Plon-tà wanden sich wieder ins tiefere Wasser hinaus, und bald sahen sie nur noch ihre Finnen davon rauschen, immer kleiner werden, und schließlich ganz verschwinden.
Das war der Moment, wo die neugierige, staunende Meute von versammelten Jo-lie aus ihrem Bann erwachte. Hunderte Hände tasteten freudig nach Feyach, und ein lautes Stimmengewirr begrüßte das gerettete Mädchen. Die Willkommensbekundungen wollten kein Ende nehmen, und Feyach wurde herumgereicht, wie ein besonderer Becher Mestas, bis Te-itika, Tiskaja, Isane und Kengal das kleine, schmächtige Mädchen gegen die begeisterten Jo-lie abschirmten.
Fürsorglich kümmerten sich die Vier um Feyach, schlossen sie in die Arme und führten sie zu Tiskajas Lager. Später sah Basti, wie Te-itika ihre Bündel nahm, und sie an das Feuer von Tiskaja, Isane und Kengal trug. Ein neuer Clan, eine neue, kleine Familie war geboren. So waren die Jo-lie. Unbekümmert ließen sie sich von ihren Gefühlen treiben, und handelten frei nach ihren Emotionen. Entstanden Freundschaften, fanden sich Sympathien, so schlossen sie sich zu familiären Gruppen zusammen.
Der neue Clan in Antaronas und Bastis direkter Nachbarschaft bestand nun aus Tiskaja, Te-itika, aus Isane, Feyach und Kengal, die nun dicke Freunde waren. Später erfuhr Basti, dass sich die neu zusammengefundene Gruppe der Plon-tà-Clan nannte. Und irgendwann beobachtete er, dass sie sich neue Schilde machten, auf denen der Umriss eines Plon-tà zu sehen war.

Nach diesem Ereignis lagerten Antarona und Basti mit den Jo-lie noch einen vollen Tag an der Stelle, wo sie Feyach an Land gebracht hatten. Das Wetter war beständig schön und warm, sie hatten reichlich Fleisch, und somit stand einer längeren Rast nichts im Wege. Der Gor war indes nicht mehr aufgetaucht. Sebastian vermutete, dass Torbuks verlängerte Augen gesehen hatten, was sie wollten, nämlich das ganze Dorf der Jo-lie auf der Flucht nach Falméra.
Ob der Feind diese Situation nutzte, um eine erneute, unbeobachtete Landung beim Dorf zu versuchen, oder ob es ihm nur um die gefangenen Jo-lie gegangen war, blieb Sebastian verborgen. Tatsache war, dass sie beim Blick auf die See hinaus, nicht ein einziges Mal ein Segel, oder andere Anzeichen von Wasserwagen erkennen konnten. Vermutlich setzte Quaronas zunächst einmal auf die Eroberung der Täler unter dem ewigen Eis.
Am Tag, an dem die Jo-lie rasteten, und sich mit Müßiggang die Zeit vertrieben, machten Antarona und Basti sich auf, nach den Pla-ka zu suchen, die beim Angriff des Gors verloren gegangen waren. Dieser Aufwand bescherte ihnen nur mäßigen Erfolg. Sie fanden nur eines der Tiere, und das auch nur, weil es sich einen Vorderlauf gestaucht hatte. Sie nahmen den Pla-ka mit, und Antarona bereitete aus Kräutern, Schlamm und Antilopenfett eine Salbe, die sie mit großen Blättern um den verletzten Lauf des Pla-ka band.
Schon am nächsten Morgen, als sie wieder zum Aufbruch rüsteten, war zumindest die Schwellung der Fessel zurückgegangen. Dennoch konnte das Tier für den Marsch nicht belastet werden. Die Jo-lie mussten ihre Bündel, Waffen und andere Habseligkeiten selbst schleppen. So kam es, dass beim Aufbruch so mancher Gegenstand am Strand liegen blieb, der noch vor kurzem einen geschätzten Wert besaß, nun aber lästig wurde. Basti hoffte insgeheim, dass sie auf der weiteren Wanderung noch versprengte Pla-ka finden würden, doch vermutlich waren sie Land einwärts gelaufen. Sie auf der großen Insel jemals wiederzufinden, hieß, die Nadel im Heuhaufen zu suchen.
Der Zug der Jo-lie setzte sich in Bewegung. Doch erstaunlicherweise blieben die Gruppen dieses Mal dichter beieinander, als fürchteten sie einen erneuten Gorangriff. Auch schien ihr Tatendrang gewachsen zu sein. Es war, als hätten die Jo-lie erkannt, wie dringend ihre Mission war. Ihre Verwundbarkehit auf dem langen Marsch die Küste entlang, spielte sicher ebenfalls eine nicht unbedeutende Rolle.
Sie legten an diesem Tag eine größere Strecke zurück, als jemals zuvor seit ihrem Aufbruch von Mehi-o-ratea. Sichtbar änderte sich die Landschaft. Die Waldhänge wurden flacher, und der Dschungel schob sich bis direkt an den Strand heran. Am Abend erreichten sie das kleine Flussdelta, über dem die alte, halb verfallene Jaen-tè stand, in der Antarona und Basti einige Male übernachtet hatten.
Sie bezogen wieder ihre kleine, zugige Fischerhütte, während die Jo-lie am Strand, links und rechts der Flussmündung lagerten. Der Plon-tà-Clan richtete sein Lager zu Füßen der Holztreppe, über welche die winzige Terrasse der alten Hütte zugänglich war. Isane und Tiskaja nahmen ihre Aufgabe als Leibwache Areos ernster, als Basti es jemals für möglich gehalten hätte.
Antarona und Basti wussten, dass an dieser Stelle das Meer nicht tief war. Weit zogen sich flache Sandbänke in die See hinein, wohl eine Folge der ausgeschwemmten Landmasse an der Mündung. Sie beschlossen, diese Gelegenheit noch einmal zu nutzen und ausgiebig zu baden. Zuvor machten sie noch einen Rundgang, und besuchten die weit verstreuten Lagerfeuer, erkundigten sich nach dem Befinden der Gruppen und Clans, und bekamen manchen Tropfen Mestas angeboten. Woher die Jo-lie immer noch dieses Zeug bekamen, blieb Basti ein Rätsel.
Bald aber bemerkten sie die Wirkung des berauschenden Getränks, das sie an keinem der Feuer ausschlagen konnten, um nicht unhöflich zu erscheinen. Antarona wurde immer ausgelassener, und auch in Bastis Adern begann das Blut zu kochen. Nachdem sie die letzten Lager besucht hatten, waren sie so angetrunken, dass sämtliche Hemmungen von ihnen abzufallen schienen. Die Jo-lie, die sie beobachteten, nahmen jedoch keinen Anstoß daran. Eher das Gegenteil war der Fall. Je freizügiger Antarona und Basti sich gaben, desto mehr stiegen sie in der Achtung dieser jungen Menschen.
Ziellos torkelte Antarona den Strand entlang, albern kichernd, und mit den Füßen das Wasser der anrollenden Wellen aufspritzend. Basti lief hinter ihr her, und versuchte sie zu fangen. Ihre glänzende, bronze farbene Haut, ihr schlanker, geschmeidiger Körper, ihre verführerischen Rundungen und Reize hielten ihn gefangen, weckten unstillbare Gelüste, und entfachten einen unlöschbaren Brand in ihm. Die kalt blinkenden Sterne sahen, und die Jo-lie hörten, welche Sehnsüchte zwischen Sonnenherz und Areos zum feurigen Ausbruch kamen.

Am nächsten Morgen schlich sich Basti aus der Fischerkate, als Antarona noch schlief. Er hatte ein schlechtes Gewissen, und wurde das Gefühl nicht los, dass er etwas gegen ihren Willen getan hatte, das sie ihm möglicherweise nicht verzeihen würde. Wie ein Dieb kam er sich vor, der sich heimlich davonschlich, um seiner gerechten Strafe zu entgehen.
Dass sie sich ihm am Abend anfänglich verweigert hatte, und er sie dennoch mit sanfter Gewalt zur Liebe gezwungen hatte, bohrte in ihm, wie ein Verbrechen, das er nun versuchen wollte, wieder gut zu machen. Doch er wusste nicht wie. In solch komplizierten Beziehungsentwicklungen fehlten ihm schlichtweg die Erfahrungen.
Unschlüssig stand er, nur mit seinem Ra-li bekleidet, und mit seinen Waffen behängt, zwischen den ausgebrannten Lagerfeuern, und seinen noch schlafenden Besitzern, und der Hütte. Es war warm, doch ein leichter, unablässiger Wind wehte vom Festland herüber, und brachte dunkle Wolken und kühlere Luft mit. Sebastian hatte das Gefühl, dass es Regen geben würde, und blickte sich um.
Der Wind bewegte die Bäume auf den Hängen, und das Strandgras in den nahen Sanddünen. Über den Klippen und Kalkbergen, die sich über den bewaldeten Flanken erhoben, hatten sich bereits Wolken festgesetzt. Verschwommen und düster starrten die Konturen der Felskanten und Klüfte zu ihm herab. Aus Erfahrung wusste er, dass dort oben bereits einige Regenschauer niedergingen.
Natürlich wusste er auch, dass sich das Wild bei Regen auf die unteren Weiden, oder in die Wälder zurückzog. Allmählich reifte in ihm der Entschluss, zur Jagd zu gehen. Die Jo-lie, so schätzte er die Gemeinschaft inzwischen ein, würde bei Regen kaum den Drang verspüren, weiterzuziehen. Sie würden sich unter ihre Decken und Felle verkriechen, und besseres Wetter abwarten. Frisches Fleisch für alle war da sicher willkommen.
Zufrieden, dass er nicht mitten durch die Kolonie der Lagerfeuer ein Spießrutenlaufen machen musste, ging er auf den Waldrand zu, der vom Fluss geteilt war, und der wiederum sich in einem breit gefächerten Delta ins Meer ergoss. Er wusste, dass die Jo-lie Antaronas hemmungslose Schreie gehört hatten, und ihrem Liebesleben lauschend beigewohnt hatten. Und die, welche es nicht hören konnten, hatten es noch in der Nacht von anderen erfahren.
Nicht, dass die Jo-lie davon peinlich berührt waren, denn sie lebten grundsätzlich die freie Liebe, und ihre mehr als freizügige Gestaltung. Eher war er, Sebastian Lauknitz, pikiert darüber, dass er sein Intimstes zwischen ihm und Antarona preisgegeben hatte. Im Nachherein wurde ihm klar, dass er die jahrelangen Zwänge und moralischen Regeln seiner eigenen Kultur nur schwerlich ganz abzulegen vermochte. Er war es, der peinlich berührt war!
Sein Jagdgang kam ihm jetzt vor, wie eine Flucht. Doch was sollte dieses Davonlaufen bewirken? Spätestens, wenn er das Wild erlegt hatte, musste er den Jo-lie und, was er als weitaus schlimmer erachtete, seinem Krähenmädchen wieder unter die Augen treten. Wie sollte er sich dann verhalten? Triumphierend grinsen? Beschämt zu Boden schauen? So tun, als sei nichts gewesen? Zumindest die Jo-lie hätten an seiner Stelle keinen Gedanken an die letzte nacht verschwendet, außer vielleicht jenem, das Spiel in der nächsten Nacht zu wiederholen.
Aber die Gemeinschaft war nicht das Problem, wie Basti befand. Auch nicht Antarona. Er selbst war die Ursache seiner Befürchtungen und Unsicherheit. Er war es, der Angst vor der Ungewissheit hatte, wie Antarona die letzte Nacht erlebt hatte, und wie sie ihm gegenüber darauf reagieren würde. Immerhin wusste er nicht mehr alle Einzelheiten. Nur noch bruchstückhaft erinnerte er sich an die erotischen Ausschweifungen, denen sie sich hingegeben hatten. Der Mestas, dieser verfluchte Mestas! Hätte er sich bloß nicht zu diesem Teufelszeug hinreißen lassen!
Sebastian versuchte seine Grübeleien zu verdrängen, und dass nun ein leichter Landregen einsetzte, der warm und schmeichelnd auf das Land fiel, half ihm dabei. Es war kein kalter, plötzlicher Guss, vielmehr begann es erst leise zu Tröpfeln. Basti hielt an und lauschte. Jeden einzelnen Tropfen glaubte er auf dem trockenen Laub zu hören. Ein feines Rauschen, fast nur ein Wispern wehte umher, als der Regen sich verdichtete, wie schwerelos und behutsam niederging.
Die Erde begann zu dampfen, und die Luft nahm die Gerüche von Gras, Kräutern und Bäumen an, bis sie schwer davon gesättigt schien. Seine nackten Füße trugen Basti geräuschlos über das rasch aufgeweichte Laub, und die nassen Zweige am Boden, die nun nicht mehr mit einem lauten Knacken seine Schritte verrieten. Der Regen senkte ein Tuch leisen Raunens über das Land, das andere Geräusche zu ersticken schien.
Der Regen war so warm, dass Basti ihn als angenehm empfand, als er sich halb im Gehen, halb im Laufen den Weg durch den Wald aufwärts bahnte. Er kühlte die erhitzte Haut, und die Nässe, die bald von seinem ganzen Körper troff, und allgegenwärtig war, störte nicht mehr. Leichtfüßig, wie er es von Antarona gelernt hatte, federten seine Füße über den weichen Waldboden. Er bemühte sich, jeden tritt möglichst auf Laub, oder auf ein Moospolster zu setzten, um nicht doch ein verräterisches Geräusch zu erzeugen.
Bald hatte er eine große, in den Wald eingeschlossene, Gras bewachsene Lichtung erreicht. Ein idealer Weideplatz für Wildantilopen. Doch so weit seine Augen sehen konnten, war keine Beute in Sicht. Geduckt verharrte Basti am Waldrand, spähte auf die Lichtung und lauschte. Waren die Herden wider Erwarten auf den oberen Weiden geblieben, weil die Regenfront rasch wieder abzog?
In Gedanken zog er den Bund seines Ra-li fester, denn das dünne Leder war nass und schwer geworden, und zog das spärliche Kleidungsstück tief auf seine Hüften. Da! Ein Geräusch hinter ihm! Basti hielt in jeglicher Bewegung inne, als sei sein Körper plötzlich zu Stein geworden. Er wagte sich nicht umzudrehen, und lauschte angestrengt. Ein Raubtier würde sich bei Augenkontakt sofort auf ihn stürzen. Anderes Wild floh augenblicklich bei der geringsten Regung seinerseits.
Ganz langsam, Millimeter für Millimeter, ging Basti in die Hocke. Dieses Manöver kostete große Körperbeherrschung und beanspruchte die Muskeln aufs Äußerste. Doch ein unumstößlicher Grundsatz galt bei der Jagd auf fliehendes Wild, wie Antilopen. Suggerierte man der Beute, man sei selbst ein Vierbeiner, so hegten die Tiere weniger Argwohn, als bei einem Zweibeiner. Langsam beugte Sebastian sich vor, und einem neutralen Betrachter musste er erscheinen, wie ein von einem Bandscheibenvorfall geplagtes Wesen.
Er neigte den Kopf soweit, dass er aus den Augenwinkeln in die Richtung blicken konnte, aus der das Geräusch gekommen war. Zunächst konnte er nichts erkennen, als Zweige, Blätter, und Gestrüpp, von denen in unregelmäßigen Abständen schwere Wassertropfen zu Boden platschten. Basti hatte nun seine Vierbeiner-Stellung erreicht, und verharrte einen Moment, um seine Glieder wieder zu entspannen.
Mit quälend langsamen Griffen zog er den Brustgurt seiner Waffen straffer, damit Schwert, Bogen und Pfeile ihm nicht unverhofft vom Rücken rutschten. Plötzlich machte er hinter einer Buschreihe eine kaum wahrzunehmende Bewegung aus. Sofort kniff er die Augen zusammen, um besser sehen zu können. Eine Gruppe Antilopen zog beinahe geräuschlos durch den Wald. Durch ihre fast perfekte Tarnung waren sie nur mit Mühe auszumachen. Auch sie bewegten sich so langsam, dass sie dauerhaft mit ihrer Umgebung verschmolzen.
Die Tiere suchten am Waldboden nach Früchten und frisch sprießenden Gräsern. Sebastian ahmte ihr Verhalten nach, und da die Antilopen nicht so gut sehen, wie sie hören und wittern konnten, vermuteten sie in ihm keine Gefahr. Schwierig war es dennoch, sich ihnen unauffällig auf sichere Schussweite zu nähern, und gleichzeitig den Bogen schussbereit zu machen. Auf jeden Fall musste Basti hastige Bewegungen vermeiden, denn diese hätten die Tiere sofort aufgeschreckt.
Parallel zu den Tieren zog Basti nun mit der Herde, tat, als suchte er den Laub bedeckten Boden ab, und passte seine Geschwindigkeit der seiner potentiellen Beute an. Dabei achtete er darauf, den Tieren nicht zu nahe zu kommen, sich ihnen aber doch soweit zu nähern, dass er einen sicheren Schuss anbringen konnte. Hinter einem Busch nahm er die Gelegenheit wahr, spannte mit ruhigen Handgriffen seinen Bogen, und fischte zwei Pfeile aus dem ledernen Köcher. Einen nahm er zwischen die Zähne. Gleichzeitig fühlte er mit seinen sensibel gewordenen Füßen jeden seiner Schritte, belastete die Fußsohlen nur, wenn er Moos, oder nasses Laub spürte.
Die Antilopen hatten ihn mittlerweile als einen der ihren akzeptiert, und würden kaum noch die Flucht ergreifen, wenn er sich nicht äußerst dumm anstellte. Basti hielt mit der Herde Schritt, beobachtete, suchte nach einem geeigneten, gesunden Tier, und nach einer Gelegenheit, zum Schuss. Dass die Tiere ihn nicht witterten, lag wohl am regen, und daran, dass er zufällig den Wind gegen sich hatte.
Hinter einem Dornenbusch spannte Basti den Bogen. Er musste halb aufgerichtet schießen, was er mit Antarona bis zur Ermüdung geübt hatte. Er atmete stets aus, wenn sein Fuß eine neue Stelle betrat, so fand er einen Rhythmus zwischen innerer Entspannung und konzentrierter Tat, was seinem Handeln eine beinahe stoische Ruhe verlieh. Dieser Rhythmus ging ihm so in Muskeln und Sehnen über, dass er fast mechanisch zielte, und ebenso emotionslos den Pfeil los ließ.
Ein kaum hörbares Sirren, ein leises Plop der zurückschnellenden Sehne, und die Tiere schreckten hoch. Doch der Pfeil erreichte sein Ziel, bevor Basti das zweite Geschoss an die Sehne gelegt hatte, und spannte. Die Antilopen brachen in wilder Flucht durch das Unterholz, und nur das Tier, das er anvisiert hatte, machte einen hohen Sprung vorwärts, und brach dann zusammen.
Sekundenlang hörte Basti noch die durchs Dickicht brechenden Tiere, dann legte sich eine unnatürliche Ruhe über den Wald. Nur das unregelmäßige Top, Top, Top der von den Bäumen fallenden Regentropfen auf dem Laub und das leise Rauschen des Niederschlags im Hintergrund blieb. Einige Sekunden lang wartete er, dann hängte er sich seinen Bogen wieder über den Rücken, zog das Bowiemesser, und bahnte sich einen Weg zu jener Stelle, wo er das Wild hatte fallen sehen.
Mit verrenktem Hals und auf dem Rücken lag die Antilope am Hang. Ihre angewinkelten Läufe zuckten in Abständen, die länger wurden. Für Sebastian, der noch nicht sehr viel Jagderfahrung hatte, bot sie ein abstruses Bild. Der Pfeil steckte seitlich in der Brust über der Vorderkeule. Sofort packte Basti den Hals des Tieres, und schnitt ihm quer in den Kehlkopf, um seinen Todeskampf zu beenden.
Gleich danach hieb er mit seinem schweren Messer, wie er es sich bei Antarona abgeguckt hatte, in einem niedrigen Baum zwei annähernd gleich hohe Astgabeln frei, die etwa einen halben Meter auseinander lagen. Die Gabelung ließ er eine gute Klingenbreite stehen. Ohne Verzögerung schnitt er nun die Hinterläufe der Antilope der Länge nach zwischen Sehne und Knochen auf. An diesen Durchschnitten hängte er das Tier mit dem Bauch nach vorn an die angespitzten Gabeln. Den Schnitt am Kehlkopf erweiterte er nun längs bis zum Brustansatz. Blut und Körperflüssigkeit liefen aus dem Hals und der Regen verstärkte noch den ungewohnten Geruch, an den Basti sich erst einmal gewöhnen musste.
Sebastian Lauknitz hatte in seinem Leben nie selbst ein Tier geschlachtet. Beim Schweineschlachten seiner Großeltern, die im landwirtschaftlichen Siedlungsbau nach dem zweiten Weltkrieg Selbstversorger waren, spielte er als Kind nur die Rolle des Zuschauers. Aber er konnte sich gut an all die erforderlichen Handgriffe und Tätigkeiten erinnern, die aus einem lebendigen Schwein die Nahrung für ein halbes Jahr machten.
Mehr wusste Basti nicht vom Töten, Ausweiden, und Fell abziehen. Seinen Fleischbedarf deckte er viele Jahre lang ohne näher darüber nachzudenken aus den Kühltheken der Supermärkte und Discounter. Nun befand er sich plötzlich in einer Welt, in der er das blutige Handwerk selbst verrichten musste, wenn er essen wollte. Mit einiger Verwunderung über seine Unkenntnis hatte Antarona ihm alles gezeigt, was er dazu wissen musste. Doch diese Antilope war seine erste Beute, die er selbst ausweiden, aus der Decke schlagen, und zerwirken musste.
Der Kopf seiner Beute wackelte hin und her, während Basti den Halsschnitt ausführte, und das Blut bespritzte ihn an Oberkörper, Armen und Beinen. Doch das machte ihm nichts aus. Der Regen würde es rasch wieder abwaschen. Wichtiger war, das Wild gut zu versorgen, damit es nicht verschmutzte und ungenießbar wurde. Seine Füße standen im Schlamm aus Laub, Erde und Blut.
Basti trat einen Schritt zurück, ging in die Knie, und dankte den Göttern für die gnädige Gabe. Er hatte nie wirklich an Gott geglaubt, obgleich er getauft und konfirmiert worden war. Diese Rituale hatte er nur dem Wunsch seiner Großeltern zuliebe über sich ergehen lassen. Nun aber bedingten ihn der Respekt und die Dankbarkeit für diese erlegte Beute zu der spontanen Ehrerbietung. Er hatte sich aus den Schätzen der Natur bedient, um seinen Magen füllen zu können. Das, so meinte er, war diesen Dank wert.
Er wollte sich gerade wieder der Versorgung seines Wildbrets widmen, als ihn ein leises Geräusch hinter ihm herumfahren ließ. Das kurze Schwert flog geradezu in seine Hand, und er war bereit, seine Beute gegen jeden Feind zu verteidigen. Zuerst vermochte er nichts zu erkennen. Doch dann gewahrte er im Gebüsch ein braunes Fell mit hellen Flecken, das sich bewegte.
Den Schrecken noch in den Gliedern, erstarrte er mit vorgehaltener Klinge. Aus dem dicht beblätterten Strauch kam ein leises Fiepen, wie das eines verängstigten Vogels. Doch Vögel besaßen selten ein Fell. Als sich nichts weiter rührte, erhob Basti sich langsam und trat auf das Dickicht zu. Vorsichtig drückte er mit der Schwertklinge die Zweige zur Seite, und staunte.
Ein kleines Antilopenkitz blickte ihn erwartungsvoll mit großen Augen an. Es stand zitternd in der Deckung, und traute sich nicht heraus. Basti drehte sich zu seiner Beute um, und sah dann wieder auf dieses kleine Wesen, das auf seinen wackeligen Beinchen stand und ihn hoffnungsvoll anfiepte. Mit Bestürzung wurde ihm schlagartig klar, dass er ein Muttertier getötet hatte. Offenbar hatte es die Natur so eingerichtet, dass sich die Kitze bei einer Flucht versteckten, und später von ihrer Mutter wieder abgeholt wurden. Dieses Kitz wartete vergeblich auf seine Mutter. Sie hing ausblutend im Baum.
Sebastian war beschämt, fühlte sich plötzlich als schändlicher Verbrecher, und beinahe hilfloser, als das kleine Antilopenkalb. Wahrscheinlich hatte es sich nicht von der Stelle gerührt, weil die Witterung der Mutter immer noch in der Luft lag. Vielleicht sah es sogar den Jäger als eine Mutter an, weil ihr Geruch überall an ihm haftete.
»Ach herrje, das habe ich nicht gewusst«, sagte Basti leise, und seine Worte kamen ihm selbst vor, wie eine Entschuldigung an die Götter gerichtet.
»Das habe ich nicht gewollt«, fügte er mehr für sich selbst hinzu, aber auch, um das Kitz mit seiner Stimme zu beruhigen, um es nicht noch mehr zu verschrecken. Bemüht, keine hastigen Bewegungen zu machen, streckte er langsam seine Hände nach dem zerbrechlich wirkenden Kitz aus. Ängstlich wich es zurück. So ging das nicht. Er konnte sich nicht noch auf eine Hetzjagd auf ein kleines Kitz einlassen. Wenn es flüchtete, würde es eine leichte Beute für jedes Raubzeug sein. Dabei kam Basti in den Sinn, dass er ja das größte Raubzeug war, das sich im Augenblick im Wald befand.
»Tja, was mache ich denn nun mit dir? Ich glaube, ich werde dich mitnehmen müssen«, versuchte er das Kleine zu beruhigen. Noch im Sprechen griff er zu. Das Kitz strampelte erst mit den kleinen Läufen, hielt dann aber überraschend schnell still. Die Witterung seiner Mutter, die überall an Basti klebte, beruhigte es wieder. Basti trug das Kitz aus dem Dickicht, löste eine Lederschnur vom Bund seines Ra-li, knüpfte eine Schlaufe, und legte sie dem Kleinen über den Kopf. Das andere Ende band er an einen Baum neben seiner aufgehängten Beute fest.
Da stand nun das kleine Antilopenkind, und musste zusehen, wie Basti seine Mutter ausweidete. Er fühlte sich schlecht, und so schuldig, als hätte er einen Mord begangen. Seltsam. Seit Basti in dieser Welt war, hatte er einige Menschen getötet. Doch das hatte ihn nicht so belastet, wie der Tod der Antilopenkuh durch seine unglücksselige Hand.
Sebastian musste seine Beute ausnehmen, ob er nun wollte, oder nicht, ob nun das Kitz dabei zusah, oder nicht. Er versuchte sich zu zwingen, nicht zu dem Kleinen hinzusehen, während er hand an das Wildpret legte. Doch der eine, oder andere Blick zu dem Kalb zerriss ihm fast das Herz. Wie ein Kind, das darauf wartete, von seiner Mutter in den Arm genommen zu werden, blickte der Kitz zu seiner im Baum hängenden Mutter. Basti meinte, in den Augen des Jungen ein flehentliches Bitten erkennen zu können. Dabei ließ das Kleine immer wieder sein bettelndes Fiepen hören, das freilich unbeantwortet blieb. Allein der Geruch des Muttertieres in der Luft ließ das Kitz geduldig ausharren.
Basti setzte sein blutiges Werk fort. Doch niemals zuvor hatte er sich so elend gefühlt, wie bei dieser Arbeit. Und doch musste das Werk schnell erledigt werden, damit das Fleisch nicht verdarb, oder von Insekten und ihren Eiern verunreinigt wurde. Dass das kleine Antilopenkalb ihm zusah, trieb ihm den trotz des Regens den Schweiß auf die Haut.
Das Kälbchen sah ihn, so meinte er, mit anklagendem, durchdringendem Blick an, und ließ ihn von Minute zu Minute nervöser werden. Es jedoch einfach davonzujagen und seinem Schicksal zu überlassen, brachte er auch nicht fertig. Er fühlte sich vielmehr für dieses kleine, hilflose Wesen verantwortlich. Er hatte ein Leben genommen, nun war es seine Pflicht, ein anderes zu schützen. Möglicherweise suchte er auch nur nach einer Gelegenheit, seine frevelhafte tat wieder gut zu machen.
Wider Willen setzte Basti sein Messer am After des Beutetieres an, und trennte den Darmansatz, sowie das erste Stück des Darms vom Fell, zog den Darm ein Stück weit heraus, und drückte ihn aus. Dann öffnete er mit einem vorsichtigen, kleinen Schnitt die Bauchdecke, knapp oberhalb der Unterschenkel und schnitt den Bauch bis zum Brustbein auf. Er musste dabei nur die Messerspitze benutzen, um nicht Innereien zu verletzen, und das Fleisch ungenießbar zu machen.
Mit seinem großen Bowiemesser erforderte das eine hohe Konzentration, die er angesichts des zuschauenden Antilopengeißleins nicht aufbringen konnte. Stets hatte er das Gefühl, die Seele des kleinen Kitzes, sowie sein Vertrauen in das Leben zu zerstören. Er empfand es als genauso schlimm, als wollte man ein Kind vergewaltigen. Für Sebastian war der Moment gekommen, wo er begann, die Jagd zu hassen, ja geradewegs zu verabscheuen. Doch die Beschaffung von frischem Fleisch war Überlebensnotwendig.
Zwischendurch dachte er darüber nach, dem Kitz die Augen zu verbinden, was bei seinen übergroßen Ohren keine große Sache gewesen wäre. Doch die Tatsache, dass er des Kleinen Mutter getötet hatte, und sie nun in seinem Beisein auseinandernehmen musste, blieb. Er zuckte mit den Schultern. Was sollte er tun? So war das Leben. Geben und Nehmen. Und er tröstete sich damit, dass es legitim war, solange man nur nahm, was man selbst zum Erhalt seines Lebens benötigte.
Basti griff der Beute in den Bauch, löste mit dem Messer den Darm und die Blase, zog diese vorsichtig heraus, indes er mit dem Messer ringsherum das anhaftende Gewebe frei schnitt. Immer wieder hatte er seine Tätigkeit unterbrochen, um zum Kitz hinüber zu schauen, das stumm dastand, als wollte es sich sein Tun für eine spätere Rache einprägen.
Nun hob Basti die Gedärme und Innereien aus dem Bauch seines Wildbrets, trennte sie am Zwerchfell ab, und nahm die Nieren heraus, die er auf frische Blätter legte. Das Fett ließ er in der Bauchhöhle hängen, damit das ohnehin schon sehr magere Fleisch nicht allzu sehr austrocknete. Das Zwerchfell schnitt er seitlich links und rechts ein, um den Brustkorb auseinander zuziehen. Nachdem er die Leber vom Zwerchfell getrennt hatte, und sie ebenfalls auf die Blätter gelegt hatte, schnitt er die Innereien zwischen Schlund und Magen ab, und warf sie weit weg, damit dem kleinen Kitz die Witterung nicht noch stärker in die Nüstern stieg. Herz und Lunge ließ er vorerst in der Brust.
Basti musste nun das Brustbein durchtrennen, was nicht ganz einfach war. Er benutzte das schwere Messer wie eine Axt, und hieb ein par Male gezielt zu, um den Knochen zu spalten. Dabei sah er immer wieder verstohlen zu seinem kleinen Zuschauer hin, und hatte das Gefühl, das Kleine spürte die rohe Gewalt, die er seiner toten Mutter antat. Aber es musste sein.
Anschließend trennte er das Fell bis zum Zungenansatz auf, zog Gurgel, Herz und Lunge heraus, und schnitt sie ab. Zum Schluss nahm Basti das Wild von den Astgabeln, legte es mit der geöffneten Bauchdecke nach oben über zwei niedrig liegende Baumgabelungen und spreizte die Bauchhälften mit Stöckchen auseinander, so dass der Regen ungehindert in sie hineinfallen konnte. Das Innere seiner Beute musste ausgewaschen werden, und da er keinen Bach in der Nähe wusste, ließ er es einfach den Regen erledigen, der nun leicht aber beständig fiel.
Basti blickte sich nach den Kräutern um, mit denen Antarona für gewöhnlich solche Partien auswusch. Doch er musste eine halbe Stunde lang suchen, und das Kitz mit seiner ausgeweideten Mutter zeitweise allein lassen, bis er die gesuchten Blätter gefunden hatte, die offenbar nicht überall wuchsen.
Er wischte mit einigen Büscheln das angesammelte Regenwasser aus dem Bauch der Antilope, und stopfte frische Kräuter hinein sowie die in Blätter gewickelten Nieren, Leber, Herz und Lunge, bevor er die Bauchdecke mit kleinen, spitzen Stöckchen schloss, die er einfach durch das Fell stach. Er hatte kein Salz dabei, um den offenen Bauch einzureiben. Aber er wusste, dass die Kräuter jene Parasiten und Insekten abhielt, die das Fleisch mit Maden verunreinigen konnten.
Anschließend vergrub Basti die Innereien und die Blut getränkte Erde mit seinem Bowiemesser. Er wusste nicht, ob es in dieser Gegend Eishunde gab, doch er war nicht auf die Art Überraschung erpicht, die irgend ein Raubzeug auf seine Fährte lockte, und ihm seine Beute abjagte, oder ihn und das Kitz selbst als frühstück ansah.
Das Beutetier band er an den Läufen zusammen, sodass er es sich über die Schulter hängen konnte. Aus der decke schlagen mochten es die Frauen. Sein Bedarf an blutiger Arbeit war gedeckt. Zuletzt band er das Kitz los, und nahm es in die Arme, um es vor seinem Bauch zu tragen. Das Kleine wehrte sich nicht. Dafür schmiegte es sein Köpfchen an das Fell seiner toten Mutter und fiepte zufrieden. Wie es sich gebärden würde, wenn es Hunger bekam, darüber hatte Basti noch nicht nachgedacht.
Vorsichtig Schritt um Schritt gezielt setzend, machte er sich auf den Rückweg, den Hang hinab. Alles war mittlerweile durchnässt, und er drohte ein par Male auszurutschen, und vermochte sich damit nur im letzten Augenblick vor einem Sturz bewahren, indem er Fersen, oder Zehen tief in den Boden grub. Mit dem Beutetier auf dem Rücken, und dem kleinen Antilopenkitz auf dem Arm, wurde der Abstieg zu einem anstrengenden Eiertanz ganz anderer Art.
Ständig rutschte ihm das Schwert nach vorn, und drohte ihm von der Schulter zu rutschen, oder schlug ihm mit dem Knauf ins Gesicht. Ab und zu rutschte Basti auf dem nassen Laub, oder auf lehmigem Boden aus, landete auf dem Hintern, und musste sich mit voller Last wieder hochrappeln. Das andere Ende der Schlinge, die er dem Kitz um den Hals gelegt hatte, war an seinem Handgelenk befestigt, so dass sich die kleine Antilope nicht aus dem Staub machen konnte, wenn er fiel.
Der Weg zurück kam ihm unendlich lang vor, und er hatte längst den Grund vergessen, warum er eigentlich zur Jagd aufgebrochen war. Als er die ersten Lager der Jo-lie erreichte, fiel es ihm wieder ein, und all sein erhebendes Gefühl für das Jagdglück, sein Stolz, seine Freude, verflogen augenblicklich. Er hatte Angst, Antarona unter die Augen zu treten. Er fürchtete sich vor der Möglichkeit, sie könnte ihm seine Aufdringlichkeit nachtragen, mit welcher er sie in der Nacht erobert hatte.

Antarona hatte lange geschlafen, und erwachte erst, als Wassertropfen in sich gleich wiederholenden Abständen in ihr Gesicht klatschten. Sie zog das Fell über ihren Kopf und lauschte. Ba - shties regelmäßige Atemzüge, die sie stets beruhigten, waren nicht zu hören. Statt dessen umgab sie ein monotones, leises Rauschen, und ein unregelmäßiges Platschen, das eindeutig nicht vom Meer her kam.
Regen! Es war sehr schwül gewesen, in den letzten Tagen. Nun regnete es. Diese Feststellung machte sich in Antaronas Kopf breit, und gleichzeitig überlegte sie, wo Ba - shtie sein mochte. Die Möglichkeit, dass er bei diesem Wetter freiwillig draußen herumlief, kam ihr absurd vor. half er den Clans der Jo-lie, einen Wetterschutz zu bauen?
Nach einer so wilden Liebesnacht, wie sie eine hinter sich hatten, schlief er meist länger als sie. Und was es für eine Nacht war! Antarona wusste nicht mehr alle Einzelheiten, denn der Mestas hatte ihre Gedanken vernebelt. Doch die Passagen, an die sie sich erinnern konnte, hatte sie als wilden Rausch erlebt. Nie zuvor hatte sie sich begehrter, eroberter, erfüllter gefühlt.
Für eine Weile lag sie noch behütet in die Felle eingewickelt, schloss die Welt aus ihren Gedanken aus, und versuchte sich an Einzelheiten der letzten Nacht zu erinnern, wie man an ein wunderschönes, aufregendes Abenteuer zurückdachte, an einen wilden, erlebnisreichen Traum. Dieser Traum war Ba - shtie!
Dass er in diesem Moment nicht neben ihr lag, und seine Haut an ihrer reib, und seinen beruhigenden Atem in ihren Nacken hauchte, bescherte ihr ein Empfinden der Ausgehöhltheit. Es war das Gefühl der Leere, ein Loch, das ein großes gelebtes Abenteuer hinterlässt. In dieser Zentare hätte sie Ba - shties Nähe mehr als alles andere gebraucht, wie zur Bestätigung, dass sie diese heiße, mitreißende, und erfüllende Nacht tatsächlich erlebt hatte.
Vielleicht war es wichtig, dass er so früh ihr warmes Nest verlassen hatte? War es nicht ihre Pflicht, in wichtigen Dingen an seiner Seite zu sein? Dieses Verbundenheitsgefühl trieb sie schließlich aus dem Knäuel aus Fellen und Decken hervor. Noch in süßer Erinnerung schwelgend taumelte sie durch den Raum, und suchte ihren Ra-li. Sie fand ihn vor dem Kamin liegend.
Er war völlig durchnässt gewesen, in der Nacht am Feuer ausgetrocknet, und klein und hart geworden. Die Ränder hatten sich nach außen aufgerollt, wie die abgeschälte, trocknende Rinde eines jungen Baumes. Missmutig nahm sie das kleine Stück Leder, das sowieso kaum ihre intimen Körperstellen bedeckte, rieb es kräftig mit Palmöl ein, und dehnte es. Das Leder wurde dadurch noch dünner und so labil, wie ein nasser Lappen. Aber es genügte, um zu suggerieren, dass sie ein Kleidungsstück trug.
Immer noch halb verträumt entwirrte Antarona das Band, das die Lederfetzen auf ihrer Hüfte hielt. Sich ihre Nacktheit bewusst, wünschte sie sich, dass Ba - shtie sich in diesem Augenblick von hinten an sie schmiegte, dass sie seine starken Arme und seine warmen Hände auf ihrer Haut spürte, und sich in seine Obhut fallen lassen konnte. Doch das einzige, das sie in dieser Zentare als Wirklichkeit wahrnahm, war der regen, der auf das Dach der Fischerhütte trommelte, und hier und dort ein Schlupfloch fand, um seine Tropfen in die Hütte klatschen zu lassen.
Antarona trug noch eine Schicht Palmöl auf ihren Ra-li auf, damit er nicht sofort wieder völlig durchweichte, und trat vor die Hütte. Der Regen war angenehm warm. Sie ging hinter die baufällige Jaen-tè, wo sie unbeobachtet war, und begann sich im fließenden Wasser des Himmels gründlich zu waschen. Dabei träumte sie davon, dass Ba - shtie bei ihr war, und sie sich gegenseitig abwuschen. Doch seine imaginären Hände, die sie berührten, über ihre Haut strichen, und sie massierten, waren ihre eigenen.
Nachdem sie sich sauber genug fühlte, hängte sie sich den Ra-li um, und ging zum Strand hinunter. Die Jo-lie waren emsig dabei, notdürftige, kleine Hütten aus Schilf und Strandgras zu errichten, um den Regen halbwegs geschützt abzuwettern. Antarona half hier und dort beim Errichten der Stangen, oder beim Flechten des Daches. Aber sie war nicht konzentriert bei der Sache. Ständig blickte sie sich um, versuchte Ba - shtie irgendwo im geschäftigen Treiben zu entdecken. Doch er war nicht zu sehen.
Alle, die sie nach ihm fragte, schüttelten den Kopf. Niemand hatte ihn kommen, oder gehen sehen. Es war, als hätten ihn die Dämonen der Erde verschluckt. Antarona fühlte sich nicht mehr vollkommen ohne ihn. Besonders nach der letzten Nacht nicht. Kein anderer Mann zuvor hatte es geschafft, sie in all den abenteuerlichen Facetten zu beglücken, die eine Liebe herzugeben vermochte. Sie musste zugeben, mittlerweile regelrecht süchtig nach ihm zu sein, wie nach einer regelmäßigen Portion Mestastan. Seine Nähe allein genügte bereits, um ein inneres Kribbeln in ihrem Schoß auszulösen, und ihr Herz springen zu lassen.
Um so unverständlicher fand sie es, dass er ohne eine Nachricht fortgegangen war. Wo war er hingegangen, was hatte er vor? Sie konnte sich keinen Reim darauf machen. Sie wurde nervös und unruhig. Allein ihre Sinne erzählten ihr, dass er lebte, und dass es ihm gut ging. Um das zu wissen, brauchte sie nicht einmal Tekla und Tonka. Es wäre ihr auch wie der schändlichste Verrat an ihm vorgekommen, wenn sie die beiden Schwarzvögel losgeschickt hätte, um ihn zu überwachen.
Rastlos wanderte Antarona von Gruppe zu Gruppe, von Clan zu Clan, bis sie davon überzeugt war, dass alle Jo-lie ein einigermaßen trockenes Dach über dem Kopf hatten. Doch insgeheim wusste sie, dass dies nicht der Grund für ihre Fürsorge war. Sie gestand sich ein, dass sie immer noch gehofft hatte, Ba - shtie - laug - nids, Glanzauge, irgendwo beim Bau einer Schilfhütte zu finden.
Als diese Hoffnung sich im Regen aufgelöst hatte, der in einem ruhigen Rhythmus wie eine Selbstverständlichkeit vom Himmel rauschte, schlenderte sie zurück zu ihrer alten, löcherigen Fischerhütte oben am Hang. Sie legte Holz nach, bis eine wohlige Wärme sie umfing, und wartete. Doch trotz des wärmenden Feuers war ihr kalt. Die Wärme Ba - shties, an die sie sich gewöhnt hatte anzulehnen, wann immer ihr danach war, fehlte. Es war, als hätte man ein Teil von ihr abgerissen, und fortgenommen.
Erst als es Mittag wurde, und Ba - shtie immer noch nicht erschien, wandelte sich ihre Stimmung von Enttäuschung und Traurigkeit in Trotz und verborgenem Zorn. Wie konnte er ihr das nur antun? Erst benutzte er sie wie eine Ve-ni-tries, und dann ließ er sie allein! Sie war nicht sein Lustobjekt, sie war seine Frau! Na warte, das werdet ihr noch bereuen, dachte sie, sprach sie in Gedanken zu einem imaginären Ba - shtie.
Sie würde ihn reizen, bis er sie anbettelte, das Lager mit ihr zu teilen. Dann war es ihr Triumph, sich ihm hinzugeben, oder zu verweigern. Im Geiste sah sie Ba - shtie vor sich, wie er sich bewegte, wie seine Muskeln unter seiner Haut ihr Spielchen spielten, wie seine kräftigen Arme sie umfassten. Sie gab sich völlig ihrer Phantasie hin, während sie ihren Ra-li mit Zierwerk versah, das ihm die Sprache verschlagen musste.
Antarona erwachte aus ihren Phantasien der Sinnlichkeit und blickte sich um. Sie lag nackt auf dem Lager, den neu verzierten Ra-li mit den Knochennadeln, die sie zum Sticken benutzt hatte, neben sich. Nur ganz allmählich sickerte ihr in den Kopf, dass sie sich ihren Gefühlen vollständig hingegeben hatte. Ohne Ba - shtie.
Geweckt aber hatten sie laute Stimmen, die vom Strand zu ihr herauf drangen. Irgendetwas musste da vor sich gehen, das die Jo-lie begeisterte. Noch etwas benommen stand Antarona auf, band sich ihren Ra-li um, und trat vor die Jaen-tè. Vor der Schilfhütte des Plon-tà Clans waren einige Jo-lie zusammengelaufen. Und mittendrin in diesem Menschenauflauf stand Ba - shtie!

Basti steuerte zuerst das Lager von Te-itika und Tiskaja an, das nur einen Steinwurf von der alten Fischer-Jaen-tè entfernt lag. Wie die meisten Jo-lie hatten auch die beiden Mädchen ihrem Plon-tà Clan eine Schilfrohrhütte gebaut, um vor dem ärgsten Regen geschützt zu sein. Isane und Feyach sahen Basti schon von weitem, und liefen ihm entgegen. Sie umringten ihn und wollten wissen, was er da auf dem Arm trug. Das Kitz strampelte aufgeregt mit den Läufen, denn die vielen, plötzlich um ihn herum auftauchenden Zweibeiner machten ihm Angst. Erleichtert ließ er die kleine Antilope auf den Boden gleiten, und gab Isane die Leine in die Hand.
»Hier, das Kleine hat keine Mutter mehr. Es ist allein, und braucht jemanden, der es aufzieht. Wollt ihr das tun, und es füttern, und ihm sein Fell reinigen, und es in der nacht wärmen?« fragte Basti scheinheilig.
Er wusste genau, dass die beiden Mädchen vor Begeisterung förmlich zersprangen. Mit großen leuchtenden Augen schlossen sie das kleine zappelnde Wesen liebevoll in die Arme, und riefen nach ihrem Bruder Kengal, der sofort interessiert herangesprungen kam. Das Kitz hatte nun zwei Mütter und einen Vater.
»Wir werden es Fleckchen nennen«, bestimmte Feyach fest, »weil es so viele Streifen und Punkte auf seinem Fell hat.« Und Isane fügte mit verantwortungsvoller Miene hinzu:
»Und wir werden uns um Fleckchen kümmern, und es versorgen, wie ein Schwesterchen«, versprach sie. Der Tumult um das kleine Kitz lockte auch Tiskaja und Te-itika aus der Schilfhütte. Kopfschüttelnd kamen sie heran, musterten erst das Kitz, dann Sebastian mit dem Wildpret über den Schultern.
»Da habt ihr ja etwas schönes angerichtet«, sagte Tiskaja mit versteckter Freude, und deutete auf die ausgelassenen Kinder, die ihr neues Pflegekitz umringten. Te-itika meinte zynisch:
»Nur um den Kindern einen Spielgefährten mitzubringen, hättet ihr keine Antilope töten müssen.« Die beiden Mädchen erkannten natürlich mit einem Blick, dass Basti dem Kitz versehentlich seine Mutter geraubt hatte. Aber sie waren auch glücklich, dass er das hilflose Kälbchen den drei neuen Geschwistern schenkte. Die Pflege um das Kitz würde die drei als Geschwister fest zusammenschweißen.
Inzwischen war auch Antarona auf den Auflauf vor der Hütte des Plon-tà Clans aufmerksam geworden. Sie trat aus der Jaen-tè, und blieb einen Augenblick lang auf der schmalen Veranda stehen. Sebastian starrte wie vom Donner gerührt hinüber. Jedoch nicht, weil er immer noch Hemmungen hatte, Antarona nach der letzten Nacht offen gegenüberzutreten. Vielmehr raubte ihm ihre bloße Erscheinung den Atem, und ließ sein Herz einige Frequenzen höher schlagen. Ja es sprang ihm aus Freude, Verlangen und Liebe geradezu aus der Brust. Er sah verstohlen zu Tiskaja und Te-itika hinüber, denn es war ihm peinlich, seine Begierde nach seiner Frau offen vor den Mädchen preiszugeben. Doch die hatten längst seine Reaktionen mitbekommen, und kicherten sich belustigt zu.
Antarona trug nur ihren Ra-li. Sie hatte die vom Trocknen hochgerollten Ränder abgeschnitten. Das Leder, das ihre Reize kaum bedeckte, war damit noch kleiner geworden. Dafür hatte sie das Band des Ra-li mit Perlen, Federn und praktischen Lederschnüren verziert, was ihre Sinnlichkeit noch mehr hervorhob. Tief saß das knappe Bekleidungsstück auf ihrer Taille, das Messer im Bund. Den Rand des Ra-li hatte sie mit weißen Perlen besetzt, zum einen wohl, damit er sich beim Trocknen nicht wieder aufrollte, zum anderen zum Schmuck.
Der weiße Rand hob sich kontrastreich von ihrer gebräunten, kupfernen Haut ab, brachte ihre langen Beine und ihre grazil elegante Gestalt noch mehr zur Geltung. Die langen, schwarzen Haare umwehten Antaronas Gesicht wie die Mähne eines Rappen. Sie hatte sie mit kleinen, bunten Federn an Perlenbändern verflochten. Ihre Haut schimmerte wie das Meer, rein, makellos, verführerisch. Schmale Lederbänder, die mit weißen Muscheln besetzt waren zierten ihre Hand- und Fußgelenke, betonten noch ihre vermeintliche Zerbrechlichkeit.
Um den Hals trug sie ihre weiße Muschelkette, die sich irgendwie zwischen ihren festen Brüsten einen Platz gesucht hatte, und den dunklen Bronzeton ihrer Haut hervorhob. Sebastian schwanden beinahe die Sinne vor Verlangen, als sie nun mit wiegenden Hüften, ihren Stolz in ihrem ebenmäßigen Gang manifestiert, die kleine Treppe, und den Hang herunter kam.
Te-itika und Tiskaja tuschelten miteinander, kicherten, und beobachteten Basti aus den Augenwinkeln ihrer verschwörerisch zusammengesteckten Köpfe. Es bedurfte einiger Zentaren, bis Basti bewusst wurde, dass sein Begehren nach Antarona an der äußeren Form seines Ra-li deutlich abzulesen war. Seine unmissverständliche Reaktion unter dem dünnen Leder vermochte er nur noch dadurch zu verbergen, dass er sich abwandte.
»Ihr wart zur Jagd, und hattet Erfolg«, stellte Antarona freudig fest, als sie herangekommen war. Ihr Verhalten wies keinerlei Anzeichen dafür auf, dass sie die vergangene Nacht in unangenehmer Erinnerung hatte. Basti atmete erleichtert auf, und legte einen Arm um ihre nackte Taille. Er spürte ihre Narben auf dem Rücken, ließ seine Hände tiefer gleiten, und auf dem Bund des Ra-li ruhen. Antaronas Nähe verströmte eine solch anziehende Verlockung, dass er keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte.
Er wollte sie nur noch an sich ziehen, ihre Haut vollständig auf seiner spüren, und alles um sie herum vergessen. Der regen perlte auf ihren Schultern ab, rann in glitzernden Tropfen über ihre Brüste, und sammelte sich imaginär in ihrem Bauchnabel. Er verfolgte den Weg der Tröpfchen mit ausgehungertem Blick, und wurde beinahe eifersüchtig auf das Wasser, das vom Himmel fiel.
»Wollt ihr das Wild nicht uns geben, damit wir es abziehen, und teilen können?« Antaronas sanfte Stimme ließ ihn erschaudern. Am liebsten hätte er sie sofort an sich gerissen, und vor aller Augen heftig geküsst. Im Geiste stellte er es sich vor, wie er gleichzeitig seine Hände auf ihren Po legte und sie fest an sich drückte.
»Baa - shtie! Nehmt die Antilope herunter, wir bringen sie in das Plon-tà-Clan Zelt. Sonnenherz wird sie mit Tiskaja und Te-itika zerteilen.« Antaronas Ermahnung riss ihn in die Wirklichkeit zurück. Unendlich langsam ließ er das Beutetier von seinen Schultern gleiten. Sein Blick war immer noch wie gebannt auf Antaronas geschmeidige Bewegungen geheftet, die ihre Rundungen aufreizend in Szene stellten.
Eigentlich wollte er nun mit ihr allein sein, ihre Liebe und Zweisamkeit in der kleinen Fischerhütte genießen. Statt dessen schien Antarona nur Augen für seine Beute zu haben. Zusammen mit Te-itika schleifte sie das erlegte Tier in die Schilfhütte der beiden Mädchen und ihrer angenommenen drei Kinder. Basti war tief enttäuscht. Er fühlte sich vernachlässigt und überflüssig. Bekam er gerade die Rache dafür zu spüren, dass er in vergangener Nacht so fordernd und bedrängend mit ihr umgegangen war? Aber es hatte Antarona doch gefallen, sie hatte ihn nicht einmal abgewehrt. Oder doch?
Sebastian wusste nicht mehr woran er mit seiner Prinzessin war. Und plötzlich verschwammen die Erinnerungen an die letzten Stunden immer mehr. Es war, als schaute und lauschte er durch einen nebelartigen Vorhang, der seine Erlebnisse zu verschleiern suchte. Und nun war er beinahe davon überzeugt, dass er unrecht getan hatte. Er hatte Antarona unwürdig behandelt, und nun ließ sie ihn warten, bis sie bereit war, ihm das zu verzeihen.
Als ob er eine Bestätigung für seine Vermutung suchte, ging er den drei Frauen in die Schilfhütte nach. Es war eine eher unstabile Behausung, die einem kräftigeren Wind kaum standhalten konnte. Doch die eingeflochtenen großen Blätter im Schilf des Daches schützten vor Nässe. In ein Gerüst aus Ästen und Zweigen war Schilf und Strandgras so dicht eingeflochten, dass es eine Wind undurchlässige Wand ergab.
In der Mitte der runden Hütte brannte ein Feuer. Der Rauch konnte vorzüglich durch ein Loch abziehen, das sich dort befand, wo die Haltestangen sich kreuzten. Dort waren die Schilfhalme und Blätter einfach ausgespart worden. Tiskaja, Antarona und Te-itika hatten die Antilope auf eine fertig gegerbte Haut gelegt, und begannen nun damit, ihr das Fell abzuziehen.
Basti hockte sich neben sein Krähenmädchen, und legte ihr wieder den Arm um die Hüfte. Er wollte ihr zeigen, dass er sie begehrte, wollte ihr damit sagen, dass die beiden Frauen auch allein mit der Beute fertig wurden, und er für sie und ihn eine bessere Beschäftigung wusste. Als Antarona nicht auf sein Werben reagierte, sagte er ihr leise ins Ohr:
»Nun, mein Engelchen, was meinst du zu uns?« Antarona wandte sich ihm kurz zu, ohne ihre flinke Arbeit mit den Messer zu unterbrechen, und antwortete ungeniert:
»Ihr habt sie sauber erlegt, Ba - shtie, ein guter Schuss! Nun, wir werden gutes Fleisch haben, und die Haut gibt drei gute, neue Ra-lis.« Resigniert und schweren Herzens wandte Basti sich ab. Spürte sie nicht sein Verlangen nach ihr, oder ignorierte sie ihn einfach, zur Strafe, aus Rache, aus purem Eigensinn?
»Ba - shtie, warum kümmert ihr euch nicht um Wichtigere Dinge, und lasst Sonnenherz und die Frauen ihre Arbeit tun?« Antaronas Stimme drang wie aus einer entfernten Welt zu ihm. Sie versetzte ihm einen tiefen Stich ins Herz, machte ihn traurig und gleichzeitig wütend.
Wie benebelt taumelte er aus der Hütte, und blieb im Regen stehen, der sich etwas verstärkt hatte. Er warf den Kopf in den Nacken, ließ die Tropfen in sein Gesicht trommeln, und hoffte auf einen klaren Gedanken. Doch genau das Gegenteil bewirkte das Wasser, das an seinem Körper herunterrann. Es verstärkte noch den Drang, Antarona fest in seine Arme zu schließen, sie zu streicheln, sie zu küssen, sie in den Rausch ihrer Liebe zu entführen.
Isane, Kengal und Feyach tollten mit dem kleinen Kitz vor der Hütte herum. Sie liebkosten es abwechselnd, nahmen es auf den Arm, und umsorgten es. Basti wurde direkt eifersüchtig. Dieses kleine unscheinbare Ding hatte es besser, als er! Es wurde beachtet, geliebt, umhegt. Und er war allein. Allein im Regen, verstoßen von der Frau, die er über sein eigenes Leben hinaus liebte!
Basti ging kurz in die Jaen-tè hinauf, wusste dort aber nichts mit sich anzufangen. Er legte seinen Bogen und die Pfeile unter die Liegestatt, wo auch Antaronas Waffen verborgen lagen, wärmte sich am Feuer, das fast ausgebrannt war, wanderte ziellos von einer Ecke in die andere.
Nein, er musste hier raus. Er musste sich ablenken, von all den Dingen, die Antarona allgegenwärtig machten. Er wollte ihr für ihre abweisende Art einen Denkzettel verpassen. Würde sie ebenso um ihn trauern, ihn ebenso vermissen, und beharrlich suchen, wenn er verschollen war? Würden die Jo-lie nach ihm suchen, so, wie sie es bei Feyach getan hatten? Er wusste, dass dies nicht die zentrale Frage war.
Vielmehr spürte er in seinem Innern den Drang, sein Krähenmädchen mit seiner Abwesenheit zu strafen. Sie sollte spüren, wie es war, wenn er nicht mehr bei ihr war. Vielleicht würde sie ihn dann wieder mehr schätzen lernen! Er wollte ihr zeigen, was sie vermisste, ohne seine Zärtlichkeiten, ohne seine Liebe. Er ließ sich von seiner Stimmung leiten, die auf ein absolutes Tief gesunken war.
An der Uferböschung entlang, aus der teilweise die Wurzeln des Waldrands heraushingen, schlich Basti missmutig bis zu der Stelle, wo der Pfeiler mit der alten Laterne und der seltsame Stein den Weg hinauf in den Wald und zum Grasplateau markierten. Immer noch ohne Ziel stieg er den Pfad hinauf. Bald erreichte er die Stelle, wo er mit Antarona vor dem Gor geflüchtet war, und sie den Weg gekreuzt hatten.
Die Schneise, die der Gor bei seiner Verfolgung gerissen hatte, war noch deutlich zu erkennen, wenn auch die ersten Wildkräuter begonnen hatten, die Schmarre in der üppig bewachsenen Landschaft wieder auszufüllen. Basti blieb stehen, und überlegte. Das Geräusch, das er selbst beim Aufstieg gemacht hatte, verstummte, überließ dem feinen Rauschen des Regens die Bühne, und dem monotonen, leisen Klopfen, das die Wassertropfen verursachten, die aus den Baumkronen auf die tiefer liegenden, größeren Blätter fielen.
Tropfnass stand er da. Unschlüssig, in der ungewohnten Situation, einmal keinen Plan für die nächsten Stunden zu haben. Er lauschte nur den Geräuschen des Regens, und bewegte sich nicht, denn Bewegung hieß, eine Entscheidung treffen. Basti wandte leicht den Kopf, versuchte hinunter zum Strand zu horchen. Suchten sie ihn schon? Seine Spuren waren bei dem kontinuierlichen Regen rasch verwischt. Nein. Es war auch gar nicht möglich. Die drei Mädchen konnten mit dem Fell abziehen, und dem Aufteilen des Fleisches unmöglich schon fertig sein.
Sein Fleisch. Sie verteilten sein Fleisch, das er gejagt, und herbeigeschafft hatte. Und nun bekam er nicht einmal etwas davon ab. Verstoßen, und dazu noch beraubt! Sein Selbstmitleid holte ihn ein, ergriff Besitz von ihm, vernebelte ihm das rationelle Denken. Wie ein gehetztes Tier kam er sich plötzlich vor. Wie ein geprügelter, davongejagter Hund. Unwillkürlich fiel ihm das Sprichwort aus seiner Welt ein, das besagte, dass man bei diesem Wetter nicht einmal einen Hund vor die Türe setzte. Er war noch weniger, als ein Hund.
War er jemals mehr gewesen? Das Schicksal hatte ihn doch schon immer gestraft. Auf dem Bau musste er sich bei Wind und Wetter seine Knochen zerschinden, während andere am sonnigen Südseestrand lagen, und sich mit hübschen Mädchen vergnügten. Die im Hintergrund seines Kopfes wispernde Stimme, die ihm sagte du hast einen Strand in der Sonne, du hast das schönste Mädchen der Welt, du bist Teil des Abenteuers, das du dir immer herbeigesehnt hast, überhörte er, verdrängte er, schob er mit einer imaginären Hand in seinem Kopf beiseite. Das Gekränktsein hatte ihm voll im Griff.
Basti wollte sich nur noch verkriechen, tief im tiefsten Loch auf dieser Welt! Sollten sie doch alle mal sehen, wie sie ohne ihn fertig wurden. Um alle hatte er sich gekümmert, und nun vermisste ihn nicht einmal jemand. Sein Blick fiel auf die Schneise der Verwüstung in der Vegetation. Vor dem alles niederwalzenden Gor waren sie zusammen geflohen, hatten in einer Höhle Zuflucht gefunden...
Die Höhle! Sie würde ihm ein trockenes Plätzchen bieten. Er musste nicht in der Nacht um die Jaen-tè schleichen, und Antarona reumütig um Einlass bitten. Er konnte dort bleiben, warten, und, wenn es ihm danach war, von oben, von den Felsen herab, den Strand beobachten. Er konnte sie sehen, konnte sie beobachten, ob sie nach ihm suchen würden, ob er so wichtig war, wie Feyach.
Ein seltsames Gefühl durchströmte ihn. Dieser kleine Gedanke an Sicherheit, an den kleinen Vorteil, den ihm der trockene Platz verschaffen würde, hob sich seine Stimmung schlagartig. Er brauchte nicht mehr demütig angekrochen kommen, wie ein nasser Hund. Er bestimmte jetzt wieder die Regeln! Das neue Ziel hieß Höhle.
Die Grotte wiederzufinden, in der er sich mit Antarona vor dem Gor versteckte, war ein Leichtes. Das Untier hatte einen breiten Weg in das Unterholz geschlagen, hatte gewütet, wie ein Bulldozer in einem Maisfeld. Dieser Bahn der Zerstörung brauchte er nur zu folgen. Am Ende fand er das Gelände platt getrampelt, als hätte man versucht, einen Flugplatz am Berghang zu bauen. Basti wandte sich gegen die Felsen, und suchte die steinernen Fluchten ab. Irgendwo musste doch der Spalt sein, durch den sie damals in den Berg gelangt waren.
Der Riss im Felsgestein war so schmal, dass Basti ihn im diffusen Licht des Wolken verhangenen Himmels glatt übersehen hätte. Nicht mehr als eine schattige Felskluft musste er dem oberflächlichem Betrachter erscheinen. Doch Basti, der gezielt danach gesucht hatte, war er sofort ins Auge gefallen. Er wunderte sich, wie schmal der Durchlass im Fels war. Als sie sich damals vor dem Drachen in Sicherheit brachten, war ihm der Spalt größer vorgekommen. Wie doch die Wahrnehmungen in verschiedenen Situationen unterschiedlich ausfallen konnten.
Nur mit Mühe zwängte sich Basti durch den Schlitz in die Grotte, und stand von einem zum anderen Moment in völliger Dunkelheit. Muffige, nach verschimmeltem Staub und alter Erde riechende Luft schlug im entgegen. Ein leichter Luftzug schien aus dem Inneren der Höhle nach außen zu strömen. Kaum zu bemerken, und damals mit Antarona war ihm dieses Detail nicht aufgefallen. Doch auf der nassen Haut spürte er deutlich die Bewegung in der Luft.
Zitternd und frierend stand Basti da, den Spalt, durch den er in die Unterwelt getreten war, im Rücken, und glotzte angestrengt in die Tiefe der Grotte. Allmählich gewöhnten sich seine Augen an die Finsternis. Kaum vermochte er die Stufe im Fels zu entdecken, auf der er mit Antarona die kurze Belagerung durch den Gor ausgesessen hatte, und wo sie ihm die alte Mär der Drachenreiter erzählt hatte. Auch die Feuerstelle von jenem Tag konnte er wiederfinden. Das Feuer, das er mit List dem Gor abgerungen hatte, konnte sie beide für einige Stunden in der Höhle wärmen.
Insgeheim wünschte Sebastian sich den Gor wieder vor den Felsspalt, um wiederum ein wärmendes Feuer zu haben, das er an diesem Tag dringender als damals brauchte. Doch dieses Mal war alles anders. Die Grotte kam ihm nass, kalt, finster, und feindselig vor. Ja geradezu unheimlich. Er hatte kein Feuer, keinen Menschen, für den er stark sein musste, und der ihn wieder motivieren konnte, und aus der schwarzen Finsternis spürte er eine unbekannte Bedrohung.
Sebastian musste nachdenken, was er nun tun sollte. Zurückkehren, oder erst einmal in diesem moderigen Loch verweilen. Vor allem aber musste er einmal warm werden. Der nasse Ra-li klebte ihm zwischen den Schenkeln, und entließ immer noch Wassertropfen an die Schwerkraft, die sie als kleine Rinnsale seine Beine hinablaufen ließen. Ein weitaus unangenehmeres Gefühl war der trockene, pulverartige Staub, der sich an seine nassen Füße heftete, und zwischen seinen Zehen verklumpte.
Einen Augenblick lang war er versucht, den Ra-li abzulegen. In dieser Dunkelheit gab es schließlich niemanden, den seine Nacktheit gestört hätte. Doch allein an seinem Körper konnte das dünne knappe Leder des Schurzes trocknen, ohne steif und brüchig zu werden. Der Rauch eines Feuers würde die Geschmeidigkeit des Materials noch besser erhalten haben. Aber welch ein Luxus ein offenes Feuer war, das er in seiner Welt am liebsten für alle Zeiten aus seiner Wohnung verbannt hätte, wurde ihm hier nur allzu deutlich offenbar.
Ruhelos, und um seinem Körper durch die Bewegung Wärme zuzuführen, wanderte er um die alte Feuerstelle herum, und dachte daran, wie wunderbar kuschelig es mit Antarona unter dem Berg von Fellen und Decken war. Die Hitze, die das eher zierliche Krähenmädchen in jeder Nacht neben ihm verströmte, glich einem glühenden Ofen aus feuchter, duftender Haut und einem Gewirr in der Nase kitzelnder, langer Haare.
Oft hatte er sich im Schlaf weggedreht, weil ihm die übertriebene Wärme und die ihn überall hin verfolgenden Haare der kleinen strampelnden Frau aus seinen Träumen gerissen hatten. Doch wenn ihn jemand in dieser Zentare gefragt hätte, wo er sich am liebsten aufgehalten hätte, so hätte er rundheraus geantwortet: Unter einem Berg Felle, eng angeschmiegt an die glühende Haut, und eingewickelt in die kitzeligen, langen Haare seiner geliebten Frau.
Eine wehe Sehnsucht, ein heimliches Verlangen überfiel ihn bei diesem Gedanken, und stellte sich gegen seine Gekränktheit und missmutige Stimmung. Es bedurfte ja nur eines Schrittes, und er war aus der Finsternis der Grotte heraus. Ein geschmeidiger, schneller Lauf, ein par pantherartige Sprünge, und er war am Ort seiner Wünsche. Doch da war sie wieder, diese Hals zuschnürende, im Bauch rumorende Ungewissheit. Diese Angst.
Ja, in diesem Moment wurde ihm klar, dass es eine Angst war. Es war die unüberwindliche Furcht vor Antaronas nachhaltiger Reaktion auf seine kompromisslose, bedrängende Annäherung an sie in vergangener Nacht, die er aufgrund des Mestas nicht einmal mehr vollständig in Erinnerung hatte. Er befürchtete, dass er möglicherweise eine moralische Grenze überschritten hatte.
Nachdem Basti unzählige Runden um die kalte Feuerstelle gedreht hatte, kam ihm sein Tun allmählich närrisch vor. Was tat er da? Entweder ging er zurück, und stellte sich seiner quälenden Frage, oder er blieb, und versuchte sich mit der kalten, zugigen Höhle zu arrangieren. Nein, er wollte bleiben! Wieder sah er die Bilder vor seinen Augen, wie Antarona die letzte Nacht trotz erster Gegenwehr genossen hatte. Und er erinnerte sich, wie kühl und unnahbar sie ihn aus der Schilfhütte des Plon-tà Clans gewiesen hatte.
Was Sebastian als erstes brauchte, war ein Feuer. Er musste Feuerstein suchen, den es eigentlich überall auf der Insel gab. Doch gerade, wenn man welchen brauchte, war keiner zu finden. Basti befühlte den kleinen Anhänger, den er immer noch um den Hals trug. Das blaue Licht, das er von Antaronas Tante bekommen hatte. Ob es noch funktionierte? Es war ihm seit damals, als er es erhalten hatte, nie wieder in den Sinn gekommen es auszuprobieren. Eigentlich war es sinnlos, denn es war seither täglich im Wasser gewesen. So dicht konnte selbst eine Lampe aus dem zwanzigsten Jahrhundert aus seiner Zivilisation nicht sein. Oder doch?
Ohne Hoffnung auf Erfolg drückte er den kleinen, silbernen Knopf, der in das Messinggehäuse eingelassen war. Fast erschrak er, als ein intensiver, blauer Lichtkegel über die Felswände der Höhle zuckte. Es leuchtete noch! Nachdem er es ständig getragen hatte, beim Schwimmen im Meer, beim Baden im Fluss, im Regen... Immer wieder nass, aber es leuchtete!
Welche Taschenlampe aus seiner Welt vermochte das zu leisten? Abgesehen davon, dass die winzigen Batterien längst leer und ausgelaufen sein mussten. Oder war dieses Licht gar nicht aus seiner Welt? Kam es von einem Ort, oder aus einer Zeit, die er sich nicht einmal vorstellen konnte? Wie auch immer, es leuchtete. Und das genügte ihm für den Moment.
Immer wieder drückte er den Knopf, leuchtete einen Bereich der Höhle aus, und tastete ihn anschließend blind ab. Er wagte nicht, das Licht dauerhaft brennen zu lassen, aus Angst, die Batterien könnten nicht lange durchhalten. Das war natürlich unsinnig. Hatte das Licht über zwanzig Jahre hinweg trotz ständiger Nässe seine Energie behalten, so war kaum anzunehmen, dass es gerade in dieser Stunde verlosch.
Doch seltsam war es allemal. Denn bereits Zinthia, Antaronas Tante, hatte ihm versichert, dass es seit Jahren nicht mehr geleuchtet hatte. War es möglich, dass es sich irgendwo von selbst aufgeladen hatte? Durch die Sonne vielleicht? Immerhin lag es bei Zinthia über Jahre hinweg in der Truhe. Seit Basti es um den Hals trug, war es regelmäßig dem Sonnenlicht ausgesetzt. Aber er hatte nie etwas von solch wiederstandsfähigen Akkus gehört. Die wären patentreif!
Im kurz aufflammenden Schein des blauen Lichts erkannte Basti etwas höher an der Felswand kleine Vorsprünge und Nischen, die nicht aussahen, als hätte die Natur sie zufällig geformt. Eher schienen sie von Menschenhand aus dem Fels geschlagen. Er musste sich weit hinaufrecken, um die Absätze mit den Händen zu erreichen. Er tastete, und zog die Finger erschrocken wieder zurück.
Irgendetwas lag dort, mit Staub und Spinnweben vermischt, das nicht in das Schema passte, das er gewohnt war zu fühlen. Etwas Fremdes. Etwas, das nicht in diese Welt gehörte. Er schaltete kurz das blaue Licht ein, und sah sich um. Ein flacher Felsblock, der wohl einmal als Sitz gedient hatte, fiel ihm auf. Das schwere Stück Stein wuchtete er mühsam unter die Felsenwand, und stieg hinauf.
Wieder flammte das blaue Licht auf. Da lag ein Stapel Fackeln! Nicht solche, die er mit Antarona in den Hallen von Talris benutzt hatte, und die bei den Îval und Jo-lie üblich waren. Diese hier waren von anderer Herkunft. Sie waren auf runde, glatte Hölzer gewickelt, die allerdings schon reichlich morsch schienen. Der brennbare, mit Wachs und Jute umwickelte Teil war aber gut erhalten, und sah aus, wie aus einer maschinellen Massenfertigung. Solche Fackeln kannte Basti aus Gartencentern und Baumärkten seiner eigenen Zivilisation.
Daneben lag eine Tüte aus einem Stoff, den er schon lange nicht mehr gesehen hatte. Plastik! Reichlich eingestaubt, und spröde, doch es war Plastik. Eine Tüte aus seiner Welt! Der Inhalt verblüffte ihn noch mehr. Einwegfeuerzeuge, noch in der Originalpackung der Ladenkette Coop! Was für ein Glück! Seine eigenen Feuerzeuge, die er lange gehütet hatte, lagen zwischen seinen Sachen, vergraben am Strand vom Festland!
Er nahm, was seine Hände tragen konnten, drei Fackeln, die Feuerzeuge, und noch einen Gegenstand, der sich warm und glatt anfühlte, und ging durch den Felsspalt zurück ins Freie. Unter einem Felsüberhang begutachtete er seinen Fund. An den Fackeln haftete jeweils ein vergilbter Aufkleber, der sie als Verkaufsware einer Landwirtschaftsgenossenschaft bei Regensburg, Deutschland, auswies. Der kleine, glatte Gegenstand war eine hellblaue Trillerpfeife aus Plastik, eingestaubt, verblasst.
Vorsichtig riss Basti die aufgeweichte Pappverpackung der Feuerzeuge auf. Er hielt eines gegen das Licht, und stellte fest, dass noch Gas darin war. Doch das Rädchen, mit dem Funken erzeugt wurden, war völlig verrottet, und bewegte sich nicht einmal. Als er den kleinen schwarzen Gashebel niederdrückte brach der sogleich ab. So viel zu den Errungenschaften der modernen Zivilisation, dachte er.
Obwohl er eigentlich nicht wieder nass werden wollte, suchte er im Regen den Waldboden nach einem passenden Stück Feuerstein ab. Das dauerte eine halbe Stunde, und er war wieder nass. Am ganzen Körper dampfend, flüchtete er schließlich wieder in die Höhle. Dort, wo noch Tageslicht hinkam, nahe dem Eingang, drückte er den Kopf des Feuerzeugs gegen eine scharfe Felskante. Nach einigen Versuchen strömte das Gas aus, er konnte es riechen.
Vorsichtig drückte er das Feuerzeug gegen den Stein, und schlug mit dem Flintstein Funken dagegen. Aber das Felsgestein war so weich, dass er eine weitere halbe Stunde brauchte, bis ein Funke das Gas entzündete. Es flammte kurz auf, und verlosch sofort wieder. So ging das nicht. Er musste etwas gut Brennbares bereit halten.
Noch einmal zwängte er sich durch den Spalt nach draußen, und schälte die innere Rinde einer Birke ab, von der er wusste, dass sie im trockenen Zustand wie Zunder brannte. Dann wiederholte er das ganze Prozedere. Dieses Mal hielt er sofort, als die Flamme aufflackerte, die Rinde daran, die sofort Feuer fing. Auch wenn er sich die Finger ansengte, hielt er nun das brennende Material an die Fackel. Die Sekunden, bis das alte Wachs, und die eingelegte Jute brannten, kamen ihm wie Stunden vor, und es roch nach dem verbrannten Horn seiner Fingernägel.
Doch dann flammte die Spitze der Fackel auf, und erhellte sofort den Höhlenraum. Basti steckte die Fackel in einem kleinen Felsspalt fest, trug das teils angekohlte Holz zusammen, das im ganzen Raum verteilt lag, und häufte es auf der Feuerstelle auf. Es war trocken und ließ sich mit der Fackel sofort in Brand stecken.
Als das Feuer brannte, und Wärme spendete, untersuchte Basti die Ablagen im Fels genauer. Er fand insgesamt zwölf Fackeln, die in einem mehr oder weniger guten Zustand waren. Vorsichtig musste er sie auseinanderbrechen, denn die Wachsschichten hatten sich im Laufe der Zeit miteinander verbunden. Einige Feuerzeuge, gleicher Art wie das erste, lagen noch dabei, doch auch an diesen waren die Metallteile verrottet.
Auf einem anderen Sims standen einige Konservendosen, die aber total verrostet, und irgendwann ausgelaufen waren. Auf dem halb zerfallenen Papieretikett konnte er aber noch das Zeichen des Coop erkennen. In einer tieferen Ablage, die wie eine Wanne ausgeschlagen wurde, lagen eine verrostete Axt, sowie eine kleine Spitzhacke, deren Stile sich in Moder aufgelöst hatten.
Je mehr Basti die umliegenden Felswände absuchte, desto mehr Vorsprünge und Simse fand er, auf denen sich wie auf natürlichen Regalen, Dinge befanden, die alle eindeutig aus seiner Welt stammten. Einen kleinen, Batterie betriebenen Reisewecker, verrostet, eine Taschenlampe aus der die Säure der Batterien ausgetreten und am Gehäuse verkrustet war, eine Schaufel, deren zerfallener Stil nur noch an der Form zu erkennen war.
Er fand einen Trommelrevolver, ungeladen, völlig verrostet, vermutlich russischer Bauart. Daneben in eine Plastiktüte eingewickelt mehrere Feuerwehrkarten des Gebietes Bayrischer Wald. Auf einem Felsabsatz daneben stapelten sich noch einmal zwanzig Fackeln, die jedoch von einfacherer, Art waren, wie jene, welche die Îval herzustellen pflegten.
In einer geschützten Nische, eingewickelt in eine Plastiktüte, entdeckte Basti einen Kompass und einen Höhenmesser. Beide bestanden zum großen Teil aus Plastik und schienen noch zu funktionieren. Dabei lag ein Schulheft, das bis zur letzten Seite vollgeschrieben war. Doch als Basti es in die Hand nahm, zerfiel es hoffnungslos zu Staub, und nahm sein Geheimnis mit in die Ewigkeit.
Die Höhle setzte sich in einer weiteren Halle fort, die bereits mehrere Stalagmiten und Stalaktiten aufwies. Dieser folgende Raum war weitaus großer, als der erste, und Basti musste die Wände mit der Fackel Stück für Stück ableuchten, weil sich das Licht aus der Raummitte heraus in Dunkelheit verlor.
In diesem Raum fand er weitere Werkzeuge mit weitaus besser erhaltenen Holzgriffen. An der Wand standen aus Ästen selbst gefertigte Regale, die teilweise zusammengebrochen waren. Offenbar hatten sie Konserven und Vorräte getragen, als sie noch neu waren. Einige verrottete Blechdosen lagen zwischen den Stangen im Staub.
Basti leuchtete in eine weitere Nische und fuhr erschrocken zurück. Auf einem massiven, einfach zusammengezimmerten Bett lag ein völlig bekleidetes Skelett. der Schädel hatte sich vom Torso gelöst, war ein par Zentimeter zur Seite gefallen, und glotzte ihn nun starr an. Spinnweben in den Augenhöhlen erzählten ihm von den letzten Bewohnern des Schädels.
Aus der Kleidung des Toten ragte ein schmaler Schaft, der in seinen Rippen zu stecken schien. Basti fasste den Stab vorsichtig an, und zog ihn heraus. Ein abgebrochener Pfeil. Er war von solcher Art, wie sie die Îval, aber auch Torbuks wilde Horden verwendeten. So, wie der Pfeil in der Leiche steckte, musste er für den Tod dieser Person verantwortlich gewesen sein.
Sebastian verstand zu wenig von Anatomie, doch soviel er erkennen konnte, handelte es sich um ein männliches Skelett. Die Kleidung zumindest sprach dafür. Dieser Mann hatte sich offenbar nach der Schussverletzung auf sein Bett geschleppt, und war dann gestorben. Vielleicht hatte er nicht einmal lange leiden müssen. Wer war dieser einsame Mann gewesen, der ebenso wenig in diese Welt gepasst hatte, wie Basti selbst, und der offensichtlich in dieser Höhle gelebt hatte und in ihr gestorben war?
Im zuckenden Schein der Fackel untersuchte Basti das Skelett genauer. Das zerrissene Hemd, das der Mann getragen hatte, gehörte wohl einmal zu einer Uniform. Es wies Knöpfe an Ärmeln und Taschen, sowie auf den Schulterstücken auf. Um den Hals trug der Mann eine silberne Kette, die stumpf, ohne Glanz und völlig angelaufen über den Knochen hing. Ein Feuerwehrabzeichen hing als Anhänger daran.
Um das Handgelenk trug der Tote eine Armbanduhr, die noch erstaunlich gut erhalten war. Edelstahl, stellte Basti nach genauer Betrachtung fest. Ebenso das Armband, das er am anderen Handgelenk des wahrscheinlich ermordeten Mannes fand. Es trug die eingravierte Inschrift Marianne-Sophie. Papiere, die auf die Identität des Mannes hätten schließen können, fand er indes nicht.
Basti nahm den Schmuck und die Uhr an sich, verstaute sie in der Tüte, in der bereits der Kompass und der Höhenmesser steckten. Er hatte nicht das Gefühl einen Toten zu berauben. Vielmehr lag es in seiner Absicht, herauszufinden, wer diese arme Seele gewesen war, und möglicherweise irgendwann die Angehörigen zu verständigen, die sicherlich nie etwas über sein Schicksal erfahren hatten.
Eine kleine Kammer, durch die man nur geduckt hindurch gehen konnte, gelangte Basti in eine weitere Halle, die etwas gedrungener schien, als die vorige. Auch hier fand Sebastian Fackeln unterschiedlichster Art, als seine sie von verschiedenen Herkunftsorten zusammengetragen worden. Außerdem fanden sich an den Höhlenwänden Markierungen, die offenbar eine einfache Orientierung im Höhlensystem zuließen.
Spätesten in dieser Halle fragte Basti sich, wie weit er noch in das unterirdische Labyrinth vordringen sollte. Eigentlich hatte er für einen Tag genug Neues gesehen. Doch der Entdeckertrieb packte ihn, und das Unbekannte zog ihn magisch an. Wer weiß, was er noch alles finden würde? Solange der Weg ins Unbekannte mit einem Nachschub an Fackeln ausgestattet war, und er sich an den angebrachten Zeichen eindeutig orientieren konnte, wagte er einen weiteren Vorstoß.
Mit erhobener Fackel suchte er nach dem nächsten Zeichen. Er fand es am Durchgang zu einer neuen Halle, die ungefähr zehn Meter tiefer gelegen war, und weiter schräg abfiel. Erst jetzt begriff er die Bezeichnungen. Die in den Fels gehauenen, und mit weißer Farbe ausgefüllten Pfeile, sowohl in die eine, als auch in die andere Richtung wiesen wohl entlang eines Hauptganges.
Alle anderen Symbole, die meist nur einmal vorhanden waren, markierten wahrscheinlich die Gänge, die der Unbekannte bis zu seinem gewaltsamen Tod untersucht hatte. Wofür die verschiedenen Zeichen standen, und ob sie überhaupt eine bestimmte Bedeutung hatten, blieb für Basti unergründlich. Klar war indes, dass die Kammern, Gänge und Hallen irgendwo hinführten. Sonst hätte sich der Mann kaum die Mühe gemacht, die Gänge zu bezeichnen, und den Weg mit reichlich Fackeln auszustatten.
Wahrscheinlich hatte der unbekannte Tote den Weg durch das Höhlensystem regelmäßig, wenn nicht täglich benutzt. Der reichliche Vorrat an Leuchtmitteln ließ diesen Schluss durchaus zu. Basti vermutete sogar, dass der Mann in diesen verborgenen, unterirdischen reich eine längere Zeit gelebt hatte. Überall fand er Spuren, die das vermuten ließen.
Es gab Feuerstellen, Vorratsecken in beinahe jedem Höhlenraum, kleine Wasserzisternen, die anscheinend immer wieder aufgefüllt worden waren, und an exponierten Stellen sogar Sicherungsanlagen, die aber inzwischen teilweise verfallen waren.
Basti ging durch einen schräg nach unten führenden Durchgang, der offensichtlich mit Werkzeugen mühevoll vergrößert worden war. Ursprünglich war es wohl nur ein Spalt, oder Riss im Fels gewesen, vielleicht nur ein Durchlass für Wasser und Zugluft. Möglicherweise waren an dieser Stelle zwei Höhlensysteme durch diesen Durchbruch miteinander verbunden worden. Wer einen solchen Aufwand betrieben hatte, musste vorgehabt haben, ein Leben in der Abgeschiedenheit im Berg zu führen.
Die nächste Halle war beinahe rund, und besaß eine hohe Kuppel, von der mächtige Stalaktiten herabhingen. Der Boden war, gewiss auf natürliche Weise entstanden, mit Schwemmsand angefüllt. Es musste also in früheren Zeiten regelmäßig Wasser durch die Gänge geströmt sein. Ein wenig erinnerte dieser Raum an eine rund gebaute Kathedrale. Die Tropfsäulen, die von der Decke herabhingen, verstärkten noch den Vergleich.
Auch in dieser Halle waren an verschiedenen Stellen Fackeln deponiert. Dabei lagen Flintsteine und gehärtetes Eisen, so dass man notfalls ein verloschenes Feuer wiederherstellen konnte. Der Tote musste ein umsichtiger Mann gewesen sein. Er hatte an alles gedacht. Selbst an den zum Teil aus dem Fels geschlagenen Zisternen lagen verrostete Schöpfkellen, oder Kupferschalen zum Trinken.
Dann gelangte Sebastian bei seinem Rundgang in der Kapelle, wie er den runden Raum nannte, an eine Sensation. Aus der Felswand war an einer Stelle ein größerer Felsteil herausgebrochen, so dass eine große Nische, fast ein kleiner Raum entstanden war. Das Bruchmaterial war säuberlich fortgeräumt worden. In die Nische war mit Felsstücken eine Art Altar gebaut worden, der mit Tüchern oder Decken belegt worden war. Auf den Resten dieser sauber hindrapierten Stoffe lag ein Skelett.
Halb erschrocken, halb ergriffen und fasziniert starrte Basti die Tote an. Dass dort eine Frau lag, war unschwer zu erkennen. Sie war in einem langen Kleid fein säuberlich, beinahe liebevoll aufgebahrt worden. Es musste einmal ein sehr hübsches, geblümtes Sommerkleid gewesen sein. Die langen Haare, die geordnet den bleichen Schädelknochen umrahmten, waren grau, aber noch gut erhalten. Möglicherweise waren sie einmal schwarz gewesen, als diese Frau noch lebensfroh durch diese Welt lief.
Ihre Arme waren auf der Brust gefaltet worden. In den Knochenhänden hielt sie einen Rosenkranz mit einem stark oxydierten Kreuz daran. Um den hals trug sie ein angerostetes Kollier mit Glitzersteinen, um ein Handgelenk ein Schlangenarmband, das sich einige Male um ihren Arm wand. Sebastian konnte oberflächlich keine Verletzungen, oder Knochenbrüche erkennen. Vielleicht war sie an einer Krankheit gestorben, oder ertrunken, oder auch nur eines natürlichen Todes in das Reich der Toten gegangen.
Wie eine Heilige war sie offen bestattet worden. Um sie herum in der Felswand fand Basti eingehauene Absätze und Konsolen. Auf den meisten klebten halb abgebrannte und in Tropfen zerlaufene Kerzen. Das Wachs war hart, verstaubt, und sehr alt. Auf einer Konsole aber stand ein kleiner, Handteller großer, schön verzierter Bilderrahmen. Vorsichtig, ja geradezu ehrfürchtig nahm Basti das Bild zur Hand, blies den Staub herunter, und hielt die Fackel daran.
Er war überrascht und bestürzt zugleich, über die wahrhaft jugendliche Schönheit der Frau, die darauf abgebildet war. Es gab für ihn keinen Zweifel, dass die Tote jene Frau auf dem Bild war. Sie musste sehr jung gestorben sein, vielleicht zwanzig bis fünfundzwanzig Jahre, aber kaum sehr weit darüber.
Die runde Felshalle und die Nische waren ihr Mausoleum. Sebastian hielt es für gut möglich, dass die Frau vor dem Mann verstorben war, der sie dann wie in einem Grabmal bestattet hatte. Der Sockel ihrer steinernen Lagerstätte war mit allerlei Muscheln verziert, die am Strand Falméras zu finden waren.
Wieder stellte Basti in Gedanken die Frage: Wer war diese Frau, die zu Lebzeiten eine liebliche Schönheit gewesen sein musste? War sie die Frau des Ermordeten, seine Geliebte, oder vielleicht seine Tochter? Wahrscheinlich würde er niemals die ganze Geschichte der beiden ergründen können. Aber offenbar wurde die Frau von dem Toten in der zweiten Halle so sehr geliebt, dass ihn der Verwesungsgeruch nicht gestört hatte.
Je mehr Sebastian darüber nachdachte, desto sicherer kam er zu dem Schluss, dass der Mann in dem hinteren Höhlensystem gelebt haben musste, womöglich mit der Frau zusammen. Das Mausoleum war die letzte Kammer der Höhle, das Ende. Aber es musste durch den Felsspalt eine Zugluft gegeben haben, die von vorn nach hinten zog, sodass der Geruch kaum in Erscheinung getreten war. Den Durchbruch zur anderen Höhle hatte der Mann vermutlich erst viel später angelegt, gewissermaßen als Fluchtmöglichkeit.
Welches Drama hatte sich hier einmal abgespielt, dass schließlich zur Tragödie wurde? Wer, außer dem Berg und dem Meer mochte das beantworten? Würde ihr Schicksal für immer ein Geheimnis bleiben?
Basti sah sich weiter um. Rund um in der ganzen Halle waren an den Wänden im Abstand von zwei Metern hölzerne Halterungen eingelassen, die zum Teil verrottet waren. Vermutlich hatte der Mann die ganze Kammer ringsum mit Fackeln ausgeleuchtet, und regelmäßig um die schöne Dahingeschiedene getrauert.
Es war kaum mehr anzuzweifeln, dass die beiden aus Sebastians Welt stammten. Vielleicht waren sie, ebenso wie er, auf plötzliche, mysteriöse Weise in Antaronas Welt gelangt, und hatten, wie er selbst, keinen Rückweg mehr gefunden. Sebastian hatte das Glück auf Antarona zu treffen, und dem Thronfolger von Falméra verwechselnd ähnlich zu sehen. Doch lebhaft erinnerte er sich noch an seine erste Begegnung mit den Dörflern von Val Mentiér. Skepsis und Feindseligkeit schlugen ihm damals entgegen.
Waren die beiden Toten als Fremde so etwas wie Aussätzige für die Îval gewesen? Mussten sie deshalb fern jeder Siedlung in dieser Höhle hausen? Hatten sie sich in die Unterwelt verkrochen, um im Verborgenen zu leben, und waren sie dennoch eines Tages dem Hass der Inselbewohner zum Opfer gefallen? Doch wie waren sie in diese Welt gelangt? Gab es so etwas, wie Zeittüren, unsichtbare Tore in andere Welten, oder andere Zeiten?
Sebastian war wieder bei der Frage angekommen, die ihn beschäftigte, seit er in Högi Balmers Hütte aufgewacht war. Waren sie alle Gestrandete, die durch ein Zeitloch gefallen waren, das unsichtbar und unkontrolliert auf der Welt umherwanderte? War Andreas, der Medicus von Falméra, ebenfalls einer dieser Gestrandeten? Woher hatte er sonst moderne medizinische Kenntnisse, in einem Land, das in seiner Entwicklungsstufe dem Mittelalter entsprach?
Woher hatte die Burg Falméra die modernen Bauelemente in ihren Gemäuern, wie Fensterglas, Kacheln, Öfen, und Holzvertäfelungen? Wurde sie einst ebenfalls von einem Menschen entworfen und erbaut, der aus einer anderen Welt, aus Bastis Welt stammte?
Gegenüber der Nische mit dem Altar fand Basti wieder die Pfeile, die den Fortgang des unterirdischen Systems bezeichneten. Er trat in mehrere Kammern, die alle einen ebenen Boden, bedeckt mit Schwemmsand, besaßen, und nicht allzu groß waren. In allen Räumen gab es wieder reichlich Fackeln, und Flintsteine, sowie verrostete Konservendosen, in denen sich Zunder befand.
Immer weiter drang Sebastian in das unbekannte Dunkel vor, beleuchtete es, holte es aus der Finsternis, und hatte das Gefühl, als erweckte er Raum für Raum zum Leben. Dabei schien es, als führte ihn die Höhle immer tiefer in die Erde hinab. In jedem Gang, in jeder Halle gab es ein Gefälle nach unten. Aber immer wieder stieß er auf Kammern, deren Boden mit Schwemmsand bedeckt war.
Basti überlegte, ob der Sand aus der Zeit stammte, da die Gletscher in dieser Welt abgeschmolzen waren, oder ob die Höhle noch immer bei Flut voll Wasser lief. Inzwischen musste er die Höhe des Meeresspiegels erreicht haben. Was, wenn plötzlich Wasser in das Labyrinth einbrach? Konnte er sich dann noch in Sicherheit bringen?
Er untersuchte den Sand und die Lagerstätten der Fackeln, die er beinahe in jedem Raum zahlreich vorfand. Es musste lange her sein, als das letzte Mal Wasser durch das System gerauscht war. Es hätte die Fackeln unweigerlich fortgespült. So, wie die Höhle eingerichtet und ausgestattet worden war, musste Basti davon ausgehen, dass sich die einstigen Bewohner für ein dauerhaftes Leben in diesen unterirdischen Räumen eingerichtet hatten.
Irgendwann, Basti hatte längst jegliches Zeitgefühl verloren, schien das Höhlensystem wieder anzusteigen. Die Kammern und Hallen wurden am Boden wieder ebener, und der Schwemmsand nahm zu. Es ließ sich angenehm darauf gehen. Neben den Fackeln, die nach wie vor in Depots ausreichend vorhanden waren, fand er nun auch Speere, zweigezackte, und einfache, sowie Netze zum Fischfang. Auch Bogen und Pfeile waren in höher angeordneten Lagern deponiert.
Inzwischen fühlte er sich ausgebrannt und müde. Er suchte sich eine Stelle im weichen Sand, steckte drei Fackeln neben sich in den Boden, legte drei neue daneben, und ließ sich erschöpft nieder. Die Feuersteine und die Feuerzeuge steckte er zur Vorsicht in den kleinen Lederbeutel, den er am Bund seines Ra-li trug.
Als er wieder erwachte, fror er. Die Fackeln waren verloschen, verbrannt. Es war stockdunkel. Basti wusste zunächst nicht, wo er sich befand, blieb liegen, und dachte nach. Ach ja, der Regen, die Höhle, die Toten... Die Fackeln, die neben ihm liegen mussten. Er tastete um sich, bekam die Stile zu fassen, setzte sich auf, und klemmte sich eine Fackel zwischen die Knie. Dann fingerte er das Zündzeug aus seinem Lederbeutelchen, und begann Funken zu schlagen. Er hatte den Zunder vergessen! So schlug er sich beinahe die Finger wund, bis eines der Feuerzeuge aufflammte, und die Fackel entzündete.
Sofort setzte er sich wieder in Bewegung, um die Kälte aus seinem Körper zu vertreiben. Basti ging im Kreis, suchte die Pfeile, und orientierte sich an ihnen, bis er sicher war, nicht wieder dorthin zurück zu gehen, von wo er gekommen war.
Er gelangte in eine Kammer, die offenbar als Wohnraum genutzt worden war. Feiner Schwemmsand bedeckte den Boden, in der Mitte war eine alte Feuerstelle angelegt, dessen Rauch offenbar durch einen Spalt in der Höhlendecke abgezogen war. Auf breiten Simsen lagen alte, verrottete Felle. Sie waren ganz offenkundig als Schlafstätte genutzt worden.
Die nächsten zwei Hallen sahen aus, wie Vorratslager. Alte verrostete Schwerter und andere Waffen standen fein säuberlich an den Wänden, und in Regalen, die mittlerweile zusammengefallen waren, lagerten Gebrauchsgegenstände des alltäglichen Lebens. Töpfe, Pfannen, Kupferkessel, und anderes lagen halb oxydiert im Staub. In einem Bereich der letzten Halle schienen die Bewohner die Fackeln hergestellt zu haben. Überall lagerte das Material dazu, und ein grob gezimmerter Tisch, der die Jahre überdauert hatte, diente anscheinend als Werkbank.
Hinter dieser Halle führte ein schmaler Gang, eher ein Bergwerksschacht, als denn eine natürlich gewachsene Höhle bergauf. Sebastian spürte deutlich einen Luftzug, der ihm mit frischer Luft entgegenschlug. Auch ein leises Rauschen drang nun an sein Ohr, das kontinuierlich stärker wurde.
Plötzlich öffnete sich der Gang, und Basti befand sich an einem Ort, den er bereits kannte. Er stand vor den erhöhten Kammern, die vom Gang abzweigten, und in den Antarona und er einst den Jungen Thies aufgebart hatten. Von hier aus ging es steil hinab zum Eingang der Höhle, und Basti stand unvermittelt auf den Klippen, die schäumende Brandung des Meeres unter sich.
Es war anscheinend gerade Ebbe, denn er konnte sich erinnern, dass der Meeresspiegel, als er mit Antarona Thies bestattet hatte, deutlich höher stand. Bei einer Sturmflut mochte das Meer vielleicht sogar bis in die Höhle branden. Nie wäre er auf den Einfall gekommen, die beiden Höhlen könnten miteinander verbunden sein.
Allmählich setzte sich für Basti aus dem Puzzle der Entdeckungen ein Bild zusammen, welches das Schicksal jener beiden Menschen beschrieb, die in der Höhle lagen. Irgendwann und irgendwo, vermutlich in Deutschland, Österreich, oder der Schweiz, war das Pärchen durch das Zeittor geraten, das auch ihn, Sebastian Lauknitz, in diese Welt geschleust hatte. Vielleicht waren sie auf einer Wanderung gewesen, vielleicht hatten sie auch nur ein stilles Plätzchen auf einer Lichtung, in einem Wald gesucht, um ungestört zu sein.
Plötzlich befanden sie sich in einer fremden Welt. Möglicherweise an diesem Strand von Falméra. Hatten sie Schutz vor dem Wetter gesucht, und dabei diese Höhle entdeckt? Doch wie passte das Bild der Frau in diese Geschichte? Hatte sich das Zeittor vielleicht in ihrem Garten geöffnet, als sie an einem Sommersonntagmorgen draußen beim Frühstück saßen? Es gab reichlich Unbekannte in Bastis Interpretation.
Jedenfalls mussten sie in der Höhle gelebt haben. Als die Frau gestorben war, die der Mann offensichtlich sehr geliebt hatte, musste er ihr in dem zu der Zeit bekannten Ende der Höhle das Grabmal eingerichtet haben. Ob die tote Schönheit gleich bei der Ankunft, oder später verstorben war, blieb offen. Es war nicht ausgeschlossen, dass sie in den nahen Dörfern um Nahrung oder Gegenstände gebettelt, oder diese sogar entwendet hatten, um zu überleben. So hatten sie sich die Îval möglicherweise zu Feinden gemacht, was ihnen schlussendlich zum Verhängnis wurde.
Irgendwann musste der Mann den Durchlas zum anderen, höher gelegeneren Höhlensystem gefunden, und verbreitert haben, möglicherweise, um sich einen Fluchtweg zu erschließen. Solange er in den Hallen und Kammern der Höhle gelebt hatte, musste er sie erforscht und bezeichnet haben, um sich in ihnen zurechtzufinden. Die vielen Depots mit Fackeln und Waffen wiesen darauf hin.
Wer die beiden gewesen waren, das würde Sebastian aber vielleicht niemals herausfinden. Was er nun aber sicher zu wissen glaubte, war die örtliche Flexibilität des Zeitlochs, das ihn in diese Welt gebracht hatte. Wahrscheinlich konnte das Tor in andere Welten überall und zu jedem Zeitpunkt erscheinen und wieder verschwinden. Vielleicht war es aber auch an einen Ort gebunden. Basti nahm sich vor, das zu gegebener Zeit zu überprüfen.
Doch er ging zunächst davon aus, dass es zufällig kam und verschwand, denn er hatte in seiner Welt nie davon gehört, dass jemand in eine andere Welt geraten, und wieder zurückgekehrt war. Ein solcher Bericht wäre eingeschlagen wie eine Bombe. Es sei denn, so etwas wurde bewusst geheimgehalten.
Als Sebastian müde und abgeschlagen, dreckig und mit verschrammten Füßen auf den Klippen stand, und vom Höhleneingang über die Felsen nach unten in die anbrandenden Wellen blickte, war er sich nicht sicher, ob es dämmerte, oder bereits ein neuer Tag anbrach, so lange hatte er in der Höhle zugebracht. Doch dann kroch die Sonnenscheibe milchig, wie hinter einem dünnen Laken, aus dem Meer hervor. Es war Morgen!
Der Regen hatte aufgehört, und die Welt in einem Dunst hinterlassen, der träge auf dem Land lag. Selbst das Meer schien lustlos zu sein. Kraftlos plätscherten die kleinen Wellen an den Strand, zu schwach um weiße Schaumkronen zu bilden. Draußen auf See lag dichter Nebel. Das Meer schien geradezu auszudampfen. Sebastian überlegte, dass so ein Wetter ideal für eine Landung war, sowohl für Torbuk auf Falméra, als auch für Basti und seine Gefährten auf dem Festland von Zarollon.
Der Nebel zog den Strand entlang, vermischte sich mit dem süßlich duftenden Dunst, der aus den Waldhängen herabzog, und an einigen Stellen lugte die Sonne hervor, und ließ ihre Lichtstrahlen im bewegten Dampf tanzen. Die Luft hatte sich kaum abgekühlt, sie war nur vom Staub reingewaschen worden. Basti hatte im Gegenteil das Gefühl, es wäre wärmer geworden.
Vermutlich lag es daran, dass die Wolken, die vom winterlichen Festland herübergezogen waren, sich über dem warmen Meeresstrom aufgeheizt hatten. Aus seiner Welt kannte Basti so etwas im Sommer nicht. Regen, der Wärme brachte. Während er träumerisch in die dahinziehenden Dunstschwaden blickte, die in allen Facetten der Helligkeit mit dem gelben Sonnenlicht zu spielen schienen, dachte er an Antarona.
Plötzlich flatterten zwei Schatten aus dem Dunst heran. Zwei Krähen ließen sich in einiger Entfernung auf einem kleinen Vorsprung im Fels nieder, und schienen ihn misstrauisch zu beobachten. Vermutlich war Basti ihrem Nistplatz zu nahe gekommen, und nun saßen sie da, unschlüssig, ob sie ihn als Feind, oder als ungefährlich einstufen sollten. Nach einer Weile hoben sie ab, und ließen sich von kaum wahrnehmbarer Thermik davontragen.
Die beiden Krähen tauchten gerade auf, als er an seine geliebte Frau dachte. War das Zufall, oder waren es Tekla und Tonka gewesen. Noch immer vermochte er die beiden Krähen nicht von anderen Schwarzvögeln zu unterscheiden. Was mochte Antarona gerade tun? Würde sie ihn suchen?
Er war die ganze Nacht fortgeblieben, ohne eine Nachricht zu hinterlassen. Der Abstand, mit dem er Antarona ein wenig bestrafen wollte, machte ihm nun noch mehr ein schlechtes Gewissen. Ob sie mit den Jo-lie nach ihm gesucht hatte? Wohl kaum, denn sonst hätte er längst jemanden am Strand entdeckt. Oder sie hatten die ganze Nacht hindurch gesucht, und schliefen noch.
Basti hatte eine Höhle und eine fantastische Geschichte dazu entdeckt. Das hatte ihn von seinem inneren Irrweg abgelenkt. Doch nun stellte er deprimiert fest, dass sich nichts geändert hatte. Er war noch genauso unschlüssig und voller Zweifel, wie am Tag zuvor. Für ihn ein haltloser Zustand. Aber nur er selbst konnte etwas daran ändern. Also ändere etwas, sagte er sich, und stieg die Klippen zum Meer, und zum Strand hinab...

Antarona hatte mit Te-itika und Tiskaja die Antilope aus der Decke geschlagen, das Fleisch aufgeteilt, und das Fell auf eine Astgabel gespannt, abgeschabt, und mit einer Tinktur bearbeitet, die das spätere Leder schön weich und geschmeidig machen sollte. Wenn man es sparsam verwendete, würde es für drei bis vier knapp geschnittene Ra-lis reichen.
Während sie arbeiteten, lauschte Antarona auf die Geräusche vor dem Zelt. Sie hörte Isane, Feyach und Kengal mit dem Kitz herumtoben. Doch so sehr sie sich auch anstrengte, Ba - shtie vermochte sie nicht zu hören. Sie hatte gehofft, dass er bei den Kindern auf sie wartete. Statt dessen trommelte der Regen monoton auf das Dach aus Palmblättern, und sie ertappte sich dabei, wie sie den Schabstein beinahe im Takt der fallenden Tropfen hin und her bewegte.
Als das letzte Stückchen Fleisch, und der letzte Blutfleck beseitigt war, beeilten sich die Mädchen damit, die Innenseite des Fells mit dem Gerbmittel einzustreichen, bevor es ganz austrocknete, und sich noch mehr zusammenzog. Die Tinktur stank fürchterlich und stach in Nase und Augen. Te-itika schlug die Eingangsplane zurück, um die Schilfhütte besser zu belüften. Neugierig spähte Antarona hinaus. Ba - shtie war verschwunden. Sie vermutete ihn in der Fischerjaen-tè vor dem Kamin.
Nachdem auch die übel riechende Arbeit des Vorgerbens erledigt war, nahm Antarona das ihnen zustehende Fleisch und ging langsam zur Fischerhütte hinauf. Sie ließ sich Zeit. Zum einen spürte sie, dass etwas zwischen ihr und Ba - shtie ungeklärt war, und sie wollte darüber nachsinnen. Zum anderen kam ihr der warme Regen gerade recht, um sich zu waschen, und um den Geruch loszuwerden, der von der Arbeit mit dem Fell an ihr haftete.
Der neu hergerichtete Ra-li war in kurzer Zeit wieder nass, und das Leder weitete sich. Auch ihr Körperschmuck litt unter der Nässe. Doch mit dem Geruch des Gerbstoffes auf ihrer Haut wollte sie Ba - shtie nicht entgegentreten. Triefend wie eine frisch ersäufte Katze trat sie in die Hütte, und blickte sich erstaunt um. Ba - shtie war nicht da. Enttäuscht warf sie das Fleisch auf den Tisch, wie einen lästig gewordenen Gegenstand.
Einen Augenblick lang stand Antarona unschlüssig im Raum. Sie registrierte, dass Ba- shtie sich nicht länger aufgehalten hatte. Niedergeschlagen und wütend zugleich brach sie in Tränen aus, und warf sich hemmungslos schluchzend auf das Lager, das sie so oft mit ihm geteilt hatte. Heimlich befürchtete sie, dass Ba - shtie sich einer anderen Frau zugewandt hat. Welche andere Erklärung mochte es sonst für sein Verhalten geben?
Warum sonst ging er ihr seit letzter Nacht aus dem Weg? Nach dem berauschenden, neckischen Liebesabenteuer mit ihm fühlte sie sich richtig gut, als Frau begehrt und bestätigt. Und dann war er verschwunden, als hätte er sie tatsächlich nur benutzt, das was sie gespielt geglaubt hatte, drängte sich ihr als ernüchternde Wahrheit auf, obwohl sie nicht daran glauben wollte.
Hatte sie etwas falsch gemacht? War sie nicht genug auf sein Spiel eingegangen? Oder war tatsächlich eine andere Frau im Spiel? Doch welcher hätte er sich zugewandt haben können? Te-itika, Tiskaja? Nein, das hätten ihr ihre Sinne verraten. Aber es gab hundert junge, reizvolle Frauen bei den Jo-lie, die nicht zögern würden, Areos von Falméra in ihrem Schoß versinken zu lassen.
Bei diesem Gedanken weinte sie hemmungslos in die Felle hinein, krallte die Finger in die Häute, bis ihr die Hände schmerzten, und sie ließ ihrem Beben und Zittern freien Lauf. In diesem Moment klopfte es gegen die Tür, langsam und quietschend schwang das Holz auf, und ließ einen kühlen Luftzug und den Geruch nach Regen herein. Antarona schluchzte ungehemmt weiter. Sollte der egoistische Kerl nur ruhig sehen, wie sie sich über sein Verhalten grämte!
»O Sonnenherz, was ist mit euch, geht es euch nicht gut?« Tiskajas Stimme drang nur langsam in Antaronas Sinne.
»Wir wollten euch noch Herz, Lunge und Leber bringen, wie es der Brauch ist«, hörte sie nun Te-itika sagen. Die beiden Mädchen standen zuerst betroffen und überrascht da. Dann kamen sie heran, nahmen ihre Freundin in die Arme und wiegten sie tröstend in ihrer Mitte. Tiskaja trocknete ihr mit einem Fellzipfel liebevoll die Tränen.
»Wo ist Areos? Hat er euch geschlagen?« fragte Te-itika besorgt. Antarona richtete ihren Oberkörper auf, und versuchte gegen ihre Schwäche anzukämpfen. Mit schluchzender Stimme sprach sie leise:
»Wenn er es wenigstens getan hätte, so wüsste Sonnenherz woran sie ist. Doch er ist einfach nur verschwunden. Sonnenherz wird ihm wohl zu vertraut geworden sein, er sucht sich sicher eine jüngere, unverbrauchte Jo-lie für seine Liebesnächte.« Die tiefe, bohrende Enttäuschung klang in ihrer Stimme mit.
Die beiden Freundinnen schüttelten sie an den Schultern, und richteten sie wieder auf, nachdem sich das Krähenmädchen vor Kummer wieder auf ihre Knie beugte.
»Nein, denkt nicht einmal daran,« beruhigte sie Tiskaja. »Jeder andere, aber nicht Areos. Er liebt euch mehr als sich selbst, glaubt mir. Auf der Jagd hatte ich ihn mit allem Charme und allen Reizen provoziert. Nur so aus Spaß. Jeder Kerl hätte etwas versucht. Nicht aber Areos. Der ist euch mit Haut und Haaren verfallen, glaubt mir, da kenne ich mich aus.« Te-itika nickte zustimmend.
»Tiskaja hat recht, Man sieht es an jeder seiner Bewegungen und in seinen Augen. Der schlägt sich eher die Beine ab, als euch gegen eine andere einzutauschen. Ich hatte schon einige Burschen. Aber Areos ist etwas Besonderes, der sieht nicht mal ernsthaft eine andere an. Und wenn, dann vergleicht er sie mit euch, Sonnenherz, und wird doch immer wieder feststellen, dass ihr allein seine Königin seid!« Antarona sah die beiden aus verweinten Augen an.
»Aber er geht Sonnenherz seit der Nacht vor dem Regen aus dem Weg, etwas steht zwischen uns, was, wenn nicht eine andere Liebe?« Tiskaja und Te-itika lachten offen heraus.
»Was?« fragte Te-itika, »nur eine Nacht und einen Tag? Deshalb sorgt ihr euch? dann wisst ihr noch nicht viel über die Liebe!« Und Tiskaja fügte hinzu:
»Seid ganz beruhigt, das ist nichts Besonderes. So sind diese Kerle nun mal. Ab und zu brauchen die eine Zeit lang für sich selbst. Dann rennen sie wie kopflose Xebrons umher, glauben, alles hat sich gegen sie verschworen, und sie müssen sich mit Taten neu beweisen. Dann kommen sie handzahm, wie kleine Jungen zurück, sehnsüchtig nach Liebe und ihrem warmen Heim.« Zweifelnd blickte Antarona auf ihren seit kurzem reich verzierten Ra-li.
»Aber er beachtete Sonnenherz gar nicht, als er von der Jagd kam, und er war noch nie ohne Sonnenherz zur Pirsch aufgebrochen.« Wieder glucksten die Mädchen von unterdrücktem Lachen vor sich hin.
»Da irrt ihr euch aber«, klärte Tiskaja sie auf. »Dem sind fast die Augen aus dem Kopf gefallen, als er mit dem Kitz kam, und euch auf der Veranda stehen sah. Mag sein, dass ihr es nicht gesehen habt, doch wir kennen die lüsternen Blicke, mit denen Männer uns ansehen, wenn sie uns begehren. Areos begehrt euch, und er sieht euch ständig so an, dass manche der Jo-lie Frauen schon eifersüchtig auf euch sind. Doch der hat nur Blicke für euch!«
»Aber was mache ich, damit er mir nicht wieder davonläuft?« fragte Antarona etwas naiv. Das Krähenmädchen, geachtete, wie gefürchtete Kriegerin der Îval, von Freunden geschätzt, und von Feinden gehasst und gefürchtet, ließ zum ersten Mal ihrer Unsicherheit freien Lauf. Te-itika legte beruhigend ihre Hand auf Antaronas nackten Schenkel, und sagte verschwörerisch:
»Wenn ihr es wollt, ich habe da einen Plan, und Tiskaja wird sicherlich auch mitmachen.« Tiskaja nickte zustimmend, und gemeinsam lauschten sie der Verschwörung, die Te-itika sich erdacht hatte. Und Antarona wusste von diesem Augenblick an, dass sie neben Vesgarina, Fiala und Èliza noch zwei weitere Freundinnen und verbündete gewonnen hatte.
Gemeinsam heckten die drei Mädchen einen Plan aus, um Ba - shtie in den Bann seines geliebten Krähenmädchens zurückzutreiben. Später gesellte sich noch Vesgarina dazu, die stumm, aber mit strahlendem Lachen in den verschwörerischen Komplott mit einstieg.
»So wollt ihr Sonnenherz also helfen, ja?« fragte Antarona mit neuer Hoffnung in der Stimme. Die Mädchen versicherten ihr, dass der Plan garantiert funktionieren würde, wenn Areos kein absoluter hirnloser Robrum war. Dann ließen sie das Krähenmädchen allein. Antarona hatte noch einiges vorzubereiten.
Fieberhaft machte sie sich daran, die Jaen-tè, das Lager, einfach alles vorzubereiten. Als dies erledigt war, und Ba - shtie noch immer nicht aufgetaucht war, setzte sie sich auf das grobe Bett, und blickte sich um. Sie hatte das Wunder bewirkt, und aus dem halb verfallenen Häuschen ein gemütliches Nest geschaffen.
Später saß sie gedankenverloren da, und bürstete ihr langes, pechschwarzes Haar, das ihr wie ein Schleier vor das Gesicht fiel. Sie schloss die Augen und seufzte. Wie sehr sehnte sie sich nach Ba - shties Berührungen. Sie legte die Bürste auf den frisch abgeschrubbten Tisch, ging zurück zum Lager, legte sich auf das warme Fell, und begann zu träumen.
Irgendwann gewahrte sie, dass dieser Traum Realität gewesen war, dass aber nicht Ba - shtie, sondern sie selbst den lustvollen Traum hatte wahr werden lassen. Ihr von duftendem Öl glänzender Körper dampfte. Das Feuer im Kamin war nur mehr eine fade Glut, und die Kühle des Regens drang durch die Ritzen der undichten Hütte. Sichtlich befriedigt, aber immer noch von Leere erfüllt, krümmte sie sich zusammen, und zog das warme Fell über ihren erhitzten Leib, der allmählich auf die herankriechende Kälte zu reagieren begann.
Als Antarona erwachte, war es bereits Abend geworden. Der Regen hatte nachgelassen, aber immer noch senkte sich ein feiner, sprühender Schleier über Wald, Berge und Strand. Aus den behelfsmäßigen Hütten der Jo-lie ringelte sich der Rauch der Feuer, als das Krähenmädchen vor die Tür der kleinen Hütte trat, und den Strand hinauf und hinab blickte. Von Ba - shtie war nichts zu sehen.
Die quälende Ungewissheit bohrte schmerzhaft in ihrem Leib, schien ihren Magen zusammenzupressen, und ihr das Herz aus der Brust zu reißen. Hin und her gerissen, zwischen Loslaufen, und ihn suchen, und erwartungsvoll auf ihn zu warten, tigerte Antarona wie eine gefangene Raubkatze in der engen Jaen-tè Stunden lang auf und ab. Zwischendurch verbesserte sie die Dekoration von Blumen und Kerzen, wo ihr ein Mangel auffiel, der sie sonst kaum gestört hätte.
Am frühen Morgen hielt sie es nicht mehr aus. Und sie tat etwas, das sie nie in Anspruch nehmen wollte. Sie rief ihre beiden schwarz gefiederten Freundinnen Tekla und Tonka. Obwohl sie mithilfe ihrer Schwarzvögel niemals vertraute Personen überwachen wollte, teilte sie den beiden Krähen ihren Wunsch mit. Sie wollte Gewissheit haben, dass es Ba - shtie gut ging. Sehnsuchtsvoll blickte sie den beiden Vögeln nach, als diese über den Strand davonflogen.

Sebastian versuchte den Strand entlang zu schlendern, und sich viel Zeit zu lassen. Doch unbewusst beschleunigte er immer wieder seinen Schritt. Der Drang, so rasch wie möglich in Antaronas Nähe zu kommen war geradezu magisch. Das Bild des Krähenmädchens, wie sie so dastand, in ihrem geschmückten, immer knapper werdenden Ra-li, mit ihrer samt glänzender Bronzehaut und ihren langen Haaren, die ihr beinahe bis zum Po reichten, ging ihm nicht mehr aus dem Kopf.
Basti spürte deutlich, wie sich unter seinem Ra-li die Begierde nach seiner Frau regte. Kurz entschlossen sprang er ins Meer, um sich abzukühlen. Doch das Wasser war so warm, dass er eigentlich das genaue Gegenteil erreichte. Warum nur machte ihn dieses zickige, stolze Weib so verrückt? Er war ihr so sehr verfallen, dass er in diesem Moment sogar auf Knien zu ihr angekrochen kommen würde. Ohne sie war er nur noch ein orientierungsloses Kind, das nicht mehr klar denken konnte.
Nass, wie er war, setzte er seinen Weg fort. Irgendwann bemerkte er, dass er fast rannte. Und plötzlich war es ihm egal. Er verfiel in einen leichten Trab, ließ sich vom schwachen Wind trocknen. Doch im nächsten Augenblick kamen ihm schon wieder Zweifel. Wollte er ihr wirklich offenbaren, wie sehr er sie begehrte, wie schmerzlich er sie vermisst hatte? Nein!
Es war endlich an der Zeit, ihren Stolz ihm gegenüber zu brechen. Sie sollte diejenige sein, die sich nach ihm verzehrte! Er, Sebastian, war der Mann. Sie sollte zu ihm angekrochen kommen! Nun hatte er es auf einem Mal wieder eilig. Aber er wollte es niemandem offenbaren, nicht einmal sich selbst. Darum zwang er sich, völlig ruhig zu gehen, gleichgültig, so, als gäbe es niemanden auf der Welt, in dessen Richtung sich Eile geboten hätte. Niemand sollte seine innere Ruhelosigkeit, seine verborgene Sehnsucht, sein Verlangen erkennen.
Scheinbar gelangweilt zwang er sich auszusehen, als die ersten Bambus- und Palmblätterhütten in Sicht kamen, die sich die Jo-lie zum Schutz gegen den Regen gebaut hatten. Basti spähte heimlich nach der Jaen-tè hin, doch das Lager hatte sich so weit auseinandergezogen, dass er die kleine Hütte noch nicht erkennen konnte. Verstohlene Blicke trafen ihn von den ersten Jo-lie, die sich im Morgendunst heraustrauten, um Schwimmen zu gehen.
Ob sie wussten, dass er einen Tag und eine Nacht fortgeblieben war? Natürlich wussten sie es. Jede Kleinigkeit, und war sie auch noch so unbedeutend, sprach sich wie ein Lauffeuer unter den Jo-lie herum. Nichts blieb verborgen. Nicht einmal die Intimsphäre.
Sebastian schlenderte durch die Hütten und Bambusverschläge, grüßte die erwachenden Kriegerinnen und Krieger, wie er es immer tat, so, als sei nichts Außergewöhnliches gewesen. Das ging so eine Weile, bis die kleine Fischerhütte am Hang optisch aus dem aufgelösten Grün des Waldes trat. Gleichzeitig erreichte er den Unterschlupf vom Plon-tà Clan. Te-itika und Tiskaja lüfteten gerade die Felle, und die drei Kinder spielten ausgelassen mit dem kleinen Kitz, das erstaunlich schnell Zutrauen zu Kengal, Isane und Feyach gefunden hatte.
Die beiden großen Mädchen sahen Basti entgegen, und hielten in ihrer Arbeit inne. Er erkannte an ihrem Blick, dass etwas nicht stimmte.
»Areos, Herr! Es ist etwas passiert. Ihr müsst unbedingt kommen«, ertönte die aufgeregte Stimme von Te-itika.
»Was ist denn nun schon wieder?« entgegnete Basti bewusst etwas unfreundlich, und setzte eine genervte Miene auf.
»Ist schon wieder jemand verschwunden?« Er wollte nicht sofort wieder allzu fürsorglich klingen. Tiskaja kam um die Bambushütte herum, und sagte aufgeregt:
»Areos, Ihr müsst schnell kommen. Es.., es ist etwas mit Eurer Frau. Sie.., sie ist...« Tiskaja deutete mit beiden Händen wie verzweifelt zu der kleinen Hütte am Hang hin. Basti war sofort hellwach und sprang auf die beiden Mädchen zu. Sein Herz hatte sich schmerzhaft zusammengezogen. Antarona! Was konnte mit ihr geschehen sein, dass die Mädchen so aufgelöst waren? Unwillkürlich fiel ihm wieder Kadim von Turu ein, der gegen das Krähenmädchen eine Art Hassliebe entwickelt hatte, die Sebastian für bedenklich hielt.
»Was ist mit ihr? Sagt schon, was ist mit Sonnenherz? Ist sie verletzt?« Basti war nun voller Sorge, und so aufgeregt, als sei etwas Fürchterliches geschehen. Sein Herz raste und die Angst um Antarona trieb ihm den Schweiß auf die Stirn.
»Nein, sie ist krank. Ich weiß nicht, was ihr fehlt, aber sie sieht nicht gut aus, sie ist...« Tiskaja suchte nach Worten. Ihr Gesichtsausdruck ließ nichts Gutes erahnen.
Sebastian wartete nicht weiter ab, was die Mädchen ihm zu berichten hatten und stürmte aus dem Stand los, den Strand hinauf. Er sah nicht mehr, wie sich die beiden Mädchen von einem Ohr zum anderen angrinsten. Tiskaja kratzte sich zufrieden am Schenkel, sie hatte ihren Teil der Komödie gespielt, jetzt war Sonnenherz an der Reihe.
Basti rannte den Hang hinauf. Er nahm die Stufen zur kleinen Veranda beinahe in einem einzigen Satz, riss die Tür zu ihrer Jaen-tè auf und eilte an ihr gemeinsames Lager. Antarona lag mit geschlossenen Augen bis zur Nasenspitze zugedeckt da. Eigentlich sah sie recht gesund aus, Basti erkannte keine geröteten Fieberwangen oder auffällige Blässe. Ihr Atem schien auch regelmäßig zu gehen.
Als die Tür, die er hatte offen stehen lassen, mit einem Knall zufiel, schreckte er zusammen. Er hörte, wie der schwere Riegel, den er dort selbst einmal angebracht hatte, vorgeschoben wurde. Irgendetwas stimmte hier ganz und gar nicht! Hier war ganz eindeutig etwas faul!
»Was bei den Göttern...«, begann er, schaute erst zur Tür, dann zu Antarona, die ihre Augen
aufschlug und ihn mit einem merkwürdig entschlossenen Blick ansah. Etwas Listiges sah er in ihren Augen blitzen, etwas Hinterhältiges, doch nichts Böses.
»Du bist gar nicht krank«, stellte er mit Verwunderung fest. Antarona lächelte erst, dann wurde ihr Blick traurig und ernst.
»Doch, ich bin krank«, bestätigte sie. »Aber nicht so, wie ihr denkt, Ba - shtie - laug - nids. Sonnenherz ist krank, und nur ihr habt die Medizin dafür.« Basti schaute sie begriffsstutzig an. Waren jetzt hier alle verrückt geworden?
Die beiden Mädchen mussten in der eigenartigen Schau mit drin stecken, schließlich hatten sie ihn alarmiert.
Antarona schlug plötzlich das große Fell zurück, und Basti schnappte nach Luft. In diesem Augenblick wusste er, dass sie ihn immer noch uneingeschränkt liebte, und dass sie die Hütte die nächsten Stunden nicht verlassen würden...
»Ich wusste gar nicht, dass du so wild sein kannst, meine kleine Tigerin«, lächelte Sebastian, als sie wieder zu Atem gekommen waren.
»Ich werde wohl ein paar Tage nicht ohne Waffenrock herumlaufen können«, scherzte er. Er stützte sich auf den Ellbogen auf und schaute seine kleine Frau fasziniert an.
»Hat Sonnenherz euch sehr wehgetan?«, erkundigte sich Antarona mädchenhaft schuldbewusst. Basti lachte leise und schaute sie liebevoll an.
»Mein Engelchen, wenn ich auch Narben davontrage, dieses Erlebnis war jede einzelne Furche davon wert.«
Antarona errötete und schlug die Augen nieder.
»Nein, sieh mich an, meine Geliebte. Ich will nicht, dass du dich schämst. Du bist meine Frau, von den Elsiren gesegnet und durch die Götter an mich gebunden. Was wir miteinander teilen, kann niemals etwas Verwerfliches sein. Ich mag es, wenn du so feurig und wild bist. Ich bin sicher, man hat uns bis in jede Hütte der Jo-lie gehört.«
»Ihr... Du Unhold, du findest das wohl komisch«, schalt sie ihn zum Spaß, und boxte ihm mit ihren kleinen Fäusten auf die Brust. »Die werden mich alle grinsend ansehen und ihre Witze reißen, wenn ich mich das nächste Mal auf dem Strand blicken lasse.« Basti hob unbekümmert die Schultern.
»Und wenn schon, lass sie doch. Die meisten von ihnen haben uns doch selbst gezeigt, dass sie nicht unschuldiger sind. Die leben ihre Vereinigung doch schamlos vor unseren Augen aus.« Er strich ihr zärtlich die Haare aus dem Gesicht, streichelte ihre Wange, und hauchte warme, sanfte Küsse auf ihre duftende Haut. Und während draußen die Jo-lie in der beginnenden Hitze des Tages ihre hastig errichteten Behausungen auslüfteten, kuschelten sie sich selig und überglücklich aneinander.
Der letzte Gedanke, bevor Antaronas ruhiger, regelmäßiger Atem ihn einschläferte, war die flüchtige Erinnerung, dass sie ihn endlich einmal mit du angesprochen hatte.
  Wichtiger Hinweis: Die Texte des Autors Frank Adlung, insbesondere die des Romans "Das Geheimnis von Val Mentiér", sind durch notarielle Hinterlegung urheberrechtlich geschützt. Ein Herunterladen und Ausdrucken ist nur für den privaten Zweck des Lesens gestattet. Kommerzielle Nutzung, öffentlicher Vortrag, oder Vervielfältigung und Verfälschung des Inhalts, sowie öffentliche Verbreitung ohne Genehmigung des Autors sind untersagt und werden zur Anzeige gebracht.
 
 
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