Das Geheimnis von Val Mentiér
 
41. Kapitel
 
Die Hölle bricht los
 
ie Jo-lie waren nicht weitergezogen. Das stellte Basti beruhigt fest, als er am Nachmittag auf die kleine Veranda der alten Fischerkate trat. Antarona schlief noch, und er hatte sich heimlich, mit zeitlupenartiger Bewegung aus ihrer Umarmung und unter den Fellen hervor gestohlen. Ihre Arme hatten ihn umklammert, als hatte sie Angst, ihn über Nacht zu verlieren. Mit seinem Bowiemesser wollte er den von außen vorliegenden Riegel anheben, als er überrascht feststellte, dass ihn irgend jemand bereits wieder geöffnet hatte. Antaronas Mitverschwörerinnen waren gründlich.
Basti reckte sich und sah über das Lager. Die jüngeren Jo-lie spielten, oder tollten im Wasser herum, die Älteren saßen vor den Schilfhütten, oder schliefen neben den notdürftigen Behausungen. Wenn Antarona oder Basti nicht dafür sorgten, dass sie weiterzogen; die Jo-lie selbst kamen nicht auf diesen Einfall. Sie sonnten sich völlig ungeniert in einer weiteren Auszeit. Zwänge und Verpflichtungen ignorierten sie einfach. Sie lebten in den Tag hinein, und taten nur das Allernötigste, das zum gerade Überleben erforderlich war.
Die Luft war aufgeheizt von der Sonne und der Feuchtigkeit, die der Regen hinterlassen hatte. Eine unerklärbare Spannung, wie ein unsichtbares Flirren lag über dem Land. Es war schwül und heiß. Jede Bewegung trieb den Schweiß aus den Poren. Das Meer schien genauso lustlos zu sein, wie die Jo-lie. Die Wasserfläche lag unbewegt da, wie eine riesige Glasplatte, die das Gelbgrau des Himmels wiederspiegelte. Basti vermutete, dass es am Abend ein heftiges Gewitter geben würde.
Auch die Jo-lie schienen das zu spüren. Viele lungerten tatenlos herum, dösten vor ihren Hütten, und schienen auf den großen Knall zu warten. Andere schwammen träge im Meer, das sich für den großen Auftritt auszuruhen schien. Basti ging langsam über den Strand, an einigen Schilfhütten vorbei. Überall sahen ihn die Jo-lie seltsam an. Oder bildete er sich das nur ein? Was hatten sie tatsächlich vom Intimsten mitbekommen, das sich zwischen ihm und Antarona in der Hütte abgespielt hatte?
Ob Sebastian wollte, oder nicht, er musste auf dem Weg zum Wasser auch an Tiskajas und Te-itikas Lager vorbei. Es wäre ein Zeichen von Scham und großer Schwäche gewesen, hätte er einen weiten Umweg gewählt, um den beiden Mädchen nicht unter die Augen zu treten. Also ging er direkt auf das Lager des Plon-tà Clans zu. Die beiden Mädchen hockten vor dem Eingang ihrer Behausung und flochten an einem Fischnetz.
Mit scheinbarer Gelassenheit und frech grinsend sah er sie provozierend an und schlenderte an ihnen vorbei, dem Meer zu. Die beiden grinsten verschwörerisch, mit forschendem Blick zurück, und kicherten albern. Sollten sie denken, was sie wollten, aber sie wussten nun, dass es nichts zu verbergen gab.
Sie mussten weiter, schoss es ihm durch den Kopf. Die Jo-lie begannen sich am Strand häuslich einzurichten. Auf diese Weise würden sie niemals nach Falméra, und schon gar nicht ins Val Mentiér kommen. Basti blickte bei dem Gedanken aufs Meer hinaus, und erschrak.
Das Meer hatte sich in ein schmutziges Grün verfärbt, eine Farbe, die er seiner Welt kaum imstande gewesen wäre, aus seinen Ölfarben zu mischen. Es war eine Mischung aus Olivgrün, Grau und Ocker. Als hätte es eine Riesenhand aufgewühlt, und den Grundschlamm mit dem Wasser verwirbelt. Dann sah er zum Himmel.
Das gelbgrau des Himmels, wohl der hohen Luftfeuchtigkeit aus dem Dunst geschuldet, löste sich eine fahlgelbe Fläche auf, als hätte jemand ein apokalyptisches Tuch über dem Zenit aufgespannt. Die Luft stand. Basti hatte das Gefühl, dieser unnatürliche Himmel saugte alles auf, die Wolken, die Sonne, ja sogar den Sauerstoff. Es war, als holte sich der Himmel alles von der Erde, das er in Energie umwandeln konnte, um mit einem nie da gewesenen Unwetter um sich zu schlagen.
Der Schweiß brach Sebastian aus allen Poren. Selbst den schien ihm der Himmel aus dem Körper zu saugen. Bastis Haut fühlte sich an, als müsste sie verglühen, oder richtiger, als würde sie abgebrüht. In Erwartung auf eine angenehme Abkühlung, band er seinen Ra-li los, ließ ihn fallen, wo er gerade war, und warf sich aus dem Stand ins Meer. Doch er stellte fest, das Wasser war wärmer, als die Luft draußen. Er vermochte sich nicht zu bewegen, ohne auch unter Wasser in Schweiß auszubrechen, und hatte das Gefühl, in einer dicken Suppe umherzupaddeln.
Also ließ er sich auf dem Rücken treiben. Er brauchte auch nicht die Augen zusammenzukneifen, denn die Sonne war weg. Es war zwar noch so hell, als leuchtete sie, doch sie schien sich in dem Gelb, das sich nun langsam in ein fahles Lila verfärbte, aufgelöst zu haben. Der Himmel war eine Fläche ohne Struktur, ohne Wolken, ohne irgend ein Zeichen, das hätte eine Höhe erkennen lassen. Basti verlor sich in seiner Eintönigkeit und Bewegungslosigkeit, und wäre wohl eingeschlafen, wenn nicht eine Welle über sein Gesicht gewaschen wäre.
Er zog die Beine an, streckte sie wieder, und spürte den Boden unter seinen Füßen. Er sah sich um. Das Wasser war grauviolett geworden, und merkwürdig spitze Wellen tanzten mit Schaumkronen umher, als versuchten sie selbst dem Meer in größter Anstrengung zu entfliehen. Eine unerklärbare Unruhe, eine Spannung durchzog das Wasser, Basti spürte es deutlich.
Da rollte eine größere Welle heran. Sie zog sich fast über die gesamte Breite der Küste hin, und trug eine nur hier und dort unterbrochene Schaumkrone. Bevor Basti noch reagieren konnte, hob sie ihn hoch und ließ ihn in ein folgendes Wellental stürzen. Eine kleinere Welle überspülte ihn, und er rang nach Atem. Darauf war er nicht vorbereitet gewesen. Er blickte der Woge nach, und sah, dass sie bis weit in den Strand hinein auslief, beinahe bis vor die kleinen Schilfhütten. Dann wurde das Meer still.
So plötzlich, als hätte jemand einen Schalter umgelegt, verwandelte sich das Wasser wieder in eine glatte, ebene Fläche. Basti schwamm in einem Wasser, das stumpf schimmerte, wie mit Platin übergossen. Die rasche Verwandlung machte ihm Angst, und er geriet beinahe in Panik, als er ans Ufer zurückschwamm.
»Habt ihr das gesehen, die Welle hat uns beinahe die Hütte fortgespült.« Aufgeregt gestikulierend kam ihm Tiskaja entgegengelaufen. Erst jetzt wurde Basti bewusst, wie weit die Welle den Strand hinaufgerast war. Deutlich waren der Rand zu erkennen, und die Rinnsale, wo das Wasser ins Meer zurückgeflossen war. Tatsächlich hatte die Woge ihre Gischt bis einen Meter vor das Lager des Plon-tà Clans geschoben. Dreißig bis vierzig Meter weiter, als jede Welle, die Basti hier hatte anrollen sehen.
Basti stand unschlüssig da. Das Atmen wurde plötzlich zur Qual. Da kam Antarona von der Fischerkate herab, und blickte sich wie verwundert um.
»Was ist geschehen, Ba - shtie?« fragte sie etwas verunsichert. »Das große Wasser sieht seltsam aus, und der Himmel.. Der Himmel hat sich aufgelöst.« stellte sie erschrocken fest. Sebastian nickte.
»Ich war eben schwimmen, als mich eine verflucht große Welle beinahe ersäuft hätte«, erklärte er. Dann zeigte er auf die verwaschene Fläche, die ihnen zu Füßen in einer geschwungenen Linie endete.
»Bis hier her ist die gelaufen. So etwas habe ich noch nicht gesehen.« Ratlos sah er sich um, vom Strand zum Himmel, zum Meer, wieder zurück in die Gesichter von Tiskaja und Antarona und sagte dann fast demütig:
»Was heute geschieht, mit dem großen Wasser, mit dem Himmel, der kein Himmel mehr ist, mit Talris der Sonne, die in Luft zerfließt, das sieht aus, als wollten die Götter das Land vernichten.« Antarona sah ihn ängstlich an, und es schien tatsächlich, dass sie an eine Bedrohung durch die Götter glaubte.
»Vielleicht vernichten sie uns ja, weil wir nicht lernen, miteinander zu leben, und uns statt dessen in Kriegen umbringen. Vielleicht sind sie unserer Kämpfe untereinander überdrüssig geworden?« überlegte sie laut.
»Ja vielleicht«, gab Basti knapp zurück. Er war mit seinen Gedanken woanders. Immer noch versuchte er die Veränderungen in ein ihm bekanntes Muster einzuordnen. Die Farben des Meeres, des Himmels, ja selbst die der Bäume am Waldrand, waren wie verwaschen. Der Himmel saugte nun auch noch jede Farbe auf; alles wirkte nur noch stumpf grau, und irgendwie tot. Das Atmen ging nur noch mühsam, die Luft schien zu brennen, und sie sehnten sich einen Windstoß herbei, der etwas Sauerstoff mitbrachte.
Da kam auf einem Mal Kengal angelaufen, und hinter ihm Feyach und Isane, die das kleine Antilopenkälbchen auf dem Arm trug. Es zappelte ängstlich und nervös mit den Beinen, und Isane hatte ihre liebe Not, es festzuhalten.
»Das große Wasser... Das große Wasser geht fort, es flieht vor dem Gor. Bestimmt kommt gleich der Gor wieder. Das große Wasser flieht vom Strand fort!« Basti, Tiskaja und Antarona sahen ihn ungläubig an.
»Was sagst du da? Was soll das? Welches Wasser flieht?« fragte Basti, der von all den Geschehnissen etwas überfordert war. Atemlos kamen nun auch Feyach und Isane vor ihnen zu stehen.
»Kengal sagt die Wahrheit, das große Wasser verschwindet. Erst kam eine große Welle, dann wurde es glatt, und nun flieht es vor irgendetwas!« Basti hörte dem aufgeregten Bericht nur noch mit halbem Ohr zu. Mit zusammengekniffenen Augen spähte er zum Meer hinaus. Er konnte kaum etwas erkennen, so verwaschen waren die Konturen. Langsam ging er den Strand hinab.
Deutlich konnte man die Linie erkennen, an der die Meereswogen gewöhnlich anrollten. Da lagen Muscheln, angespülte Krebse und Krabben, Holz, und Gräser mit Tang verwoben. Doch das Wasser war fort. Die bleierne glatte Fläche, die Basti vor ein par Minuten noch tropfnass in die schwülwarme, dicke Luft entlassen hatte, war nicht mehr da. Hier und dort, in einer Vertiefung, lag noch eine riesige Pfütze, wie eine kleine Lagune, aber das anrollende Meer war verschwunden. Und weit draußen, waren nur zwei kaum voneinander zu unterscheidende Farbflächen ineinander verlaufen, sodass Basti nicht sagen konnte, ob und wo das Meer begann, und der Himmel endete. Alles war eins geworden.
Gut, dass ihn die große Welle dazu bewogen hatte, rechtzeitig aus dem Wasser zu steigen. Nicht auszudenken, wenn es ihn mit hinaus gezogen hätte... Die große Welle. Was, wenn nun eine noch viel größere Welle, ein sogenannter Tsunami zurückkam? Basti hatte in seiner Welt einmal davon gehört, dass sich bei unterseeischen Beben, oder unterseeischen Vulkanausbrüchen das Meer von den Küsten zurückzog, um dann plötzlich mit Alles vernichtender Gewalt mit einer gigantischen Woge zurückzukommen. Oft wurden dabei ganze Küstenregionen bis weit ins Hinterland überflutet und zerstört.
Wieso eigentlich sollte es hier anders sein? Eine gehetzte Unruhe trat an seine Unschlüssigkeit. Wenn das Meer fortging, kam es irgendwann zurück, das war nur logisch. Aber wie würde es zurückkehren? In einer dreißig Meter hohen Flutwelle? Eine solche Wasserwand würde alles auf dem Strand einfach zerschmettern, zertrümmern, ersäufen, in die Unendlichkeit dieses unbekannten Meeres hinausreißen.
Die Jo-lie mussten vom Strand weg. Alle! Basti musste so schnell wie möglich das weit über den Strand zerstreute Volk in höhere Lagen evakuieren. Sofort. So schnell, wie nur möglich! Er warf sich im Stand herum, und rannte zu den Mädchen und den Kindern den Strand hinauf, als wären sämtliche Erddämonen hinter ihm her. Er nahm sich nicht einmal die Zeit Luft zu holen, noch im Laufen erteilte er seine Anweisungen:
»Schnell, geht sofort los, sagt allen, dass sie sich allesamt am langen Laternenpfahl, an dem wir vorübergezogen sind, sammeln sollen. Sie sollen schnell machen, wenn sie nicht sterben wollen. Sie sollen nur ihre Waffen und das Nötigste mitnehmen, alles andere bleibt zurück! Sagt ihnen meinetwegen eine Armee von Goren greift an, erfindet sonst etwas, aber es muss schnell gehen! Los macht schon!«
Alle starrten ihn an, als hätte ihn plötzlich der Wahnsinn gepackt. Niemand rührte sich. Sie standen da, und glotzten, sahen ihn an, als hätte er sich in einen Robrum verwandelt.
»Was ist nur los mit euch, Ba - shtie?« wollte Antarona wissen. »Es gibt einen Sturm, das sieht Sonnenherz. Und das Wasser ist fortgegangen. Es wird den Jo-lie also nicht gefährlich werden. Warum also diese Eile?«
Basti geriet fast in Panik, denn er wusste, wenn das Wasser zurückkam, ging es nicht mehr um Minuten, dann entschieden Sekunden über Leben oder Tod. Er musste sich zur Ruhe zwingen, um es ihnen plausibel zu machen. Aber in seinem Kopf hämmerte die Warnung, dass zuviel Zeit verging.
»Das Wasser wird zurückkommen. Und es wird schnell kommen, so schnell, dass keine Zentare mehr zur Flucht bleibt, wenn ihr es seht. Es wird mit einer gewaltigen Welle zurückkommen, die höher ist, als alle Bäume, die ihr kennt. Es wird alles mitreißen und ersäufen, was nicht dort oben ist. Damit wies Basti auf den Hang, wo die Wiese lag, auf dem er und Antarona die beiden Gorreiterinnen belauscht hatten.
»Alle müssen da hinauf, sofort! Bringt alle dort hinauf, und wenn ihr sie hinauf prügeln müsst! Lauft los, die Jo-lie sollen alles stehen und liegen lassen, sie sollen nur ihre Waffen nehmen, und das, was sie im Laufen tragen können. Es geht um Tod oder leben, macht ihnen das klar!«
Die Starre fiel mit einem Mal von Tiskaja, Antarona, Te-itika und den Kindern ab, wie ein Schutzpanzer, hinter dem sie sich versteckt hatten. Dann rannten sie los, als wären die Feuerdämonen nun hinter ihnen her. Und nur fünf Minuten später kamen die ersten Jo-lie mit ihrer Habe unter den Armen herangelaufen. Basti leitete sie weiter, und gebot ihnen, am Götterstein, beim langen Pfahl, zu warten.
Immer mehr Jo-lie, groß und klein, Kriegerinnen, Krieger, und solche, die es erst werden wollten, zogen fluchtartig an ihm vorbei. Alle par Augenblicke spähte Basti auf die unendliche Ebene hinaus, wo das Meer gewesen war. Aber außer dem verwaschenen Horizont, der nun in der drückenden, dumpfen Schwüle immer dunkler wurde, war nichts auszumachen.
Nach einer viertel Stunde hetzten Antarona, Te-itika und Tiskaja hinter den letzten Jo-lie her. Der Strom von Menschen bewegte sich auf dem Pfad zurück, woher sie gekommen waren.
»Kehrt das große Wasser schon zurück?« fragte Antarona mit angstvollem Blick. Sebastian, der gerade wieder hinaus in die Weite gestarrt hatte, schüttelte langsam den Kopf. Das war seine Antwort. Die Mädchen sahen weiter erwartungsvoll an.
»Denkt daran«, ermahnte Basti sie, »wenn ihr das große Wasser erkennen könnt, wird es zu spät sein, ihm zu entfliehen, so schnell wird es kommen!« Dann lächelte er gequält.
»Seht jetzt zu, dass ihr die Jo-lie den Pfad hinauf bringt. Ich gehe, und hole unsere Waffen, und komme dann nach. Und achtet darauf, dass niemand zurückbleibt!« rief er ihnen noch nach, indem er schon zur kleinen Fischerjaen-tè hinaufhetzte.
Basti trat die Tür auf, schnappte sich die Waffen aus dem Versteck unter dem Kamin, ramschte die wichtigsten Dinge zusammen, sein kleines Bündel, Antaronas Kräuter und ihr Werkzeug, warf alles auf das große Fell, und band die vier Enden zu einem großen Bündel zusammen. Dann trat vor die Tür, und erstarrte.
Was er von der etwas erhöhten warte der kleinen Veranda erblickte, ließ ihm das Blut in den Adern steif werden. Weit draußen, dort wo das Meer gewesen war, aber wie weit draußen, vermochte er nicht einzuschätzen, hatte sich ein dunkler Streifen gebildet, der eine weiß leuchtende Linie auf seiner oberen Kante besaß. Basti wusste, was das zu bedeuten hatte. Die Welle kam. Das Wasser eroberte sich mit unaufhaltsamer Gewalt seinen Raum zurück!
Und er hatte nicht vergessen, was er den Jo-lie eingebläut hatte: Wenn ihr es seht, wird es für eine Flucht zu spät sein! Basti nahm die ganze Treppe von der Veranda zum Strand in einem Satz, knickte um, ein viehischer Schmerz durchzuckte seinen Fuß. Er stolperte, biss die Zähne zusammen, und humpelte weiter. Den in kurzen Intervallen stechenden Schmerz ignorierte er, rannte statt dessen um sein nacktes Leben. Die Waffen schlugen ihm um die Beine, das Bündel schlug im Takt seiner Laufschritte schmerzhaft in seine Seite; auch das nahm er nicht mehr wahr. Wenn er nicht rannte, würde er nie mehr einen Schmerz spüren, keinen Schmerz, keine Freude, keine Erregung in Antaronas Nähe!
Immer wieder blickte er gehetzt zum Meer. Der dunkle, drohende Streifen wuchs unaufhörlich. Basti wusste, dass es eine gigantische Wand aus aufgewühltem Wasser war, die mit vernichtender Gewalt auf das Land zurollte. Noch war sie weit weg. Aber er hatte zu wenig Kenntnisse über Tsunamis, um abschätzen zu können, mit welcher Geschwindigkeit die Flutwelle anrollte.
Er lief, und lief, und die kurze Strecke bis zum Bergpfad kam ihm unendlich lang vor. Er bewegte sich mit einer scheinbaren Zähigkeit, die ihm die Verzweiflung ins Herz trieb. Wieder und wieder warf er einen Blick auf die Wasserwand, die nun immer offensichtlicher wurde, und weiter wuchs. Wie hoch konnte so ein Tsunami werden? In seiner Welt waren die höchsten Wellen, von denen er gehört hatte, dreißig bis vierzig Meter hoch. Aber was er von seiner Welt wusste, mochte in Antaronas Welt noch lange keinen Bestand haben.
Endlich erblickte er den hohen Pfahl, an dem einmal die Laterne gehangen hatte. Von den Jo-lie war nichts zu sehen. Hatten sie ihn etwa missverstanden? Wo waren sie? Er gab das Äußerste, und legte noch einmal im Laufen zu. Da sah er, wie ihm jemand entgegen kam. Das wird doch nicht..? Es war Antarona.
»Was fällt dir ein, hier noch herumzulaufen?« fuhr er sie an. »Siehst du nicht, was da auf uns zukommt? Wo sind die anderen?« Er musste husten, so sehr war er außer Atem. Antarona nahm ihm die Waffen ab.
»Sonnenherz hatte Angst um euch, Ba - shtie. Wir sahen die Wand von Wasser und Sonnenherz hatte die Jo-lie sofort den Berg hinauf geschickt. Doch sie will nur mit euch leben, oder mit euch sterben!«
Basti sah sie kurz an. Was für eine Frau! Das höchste Glück dieser Erde! Doch nun mussten sie machen, dass sie fortkamen. Er nahm das Krähenmädchen bei der Hand, und zog sie mit sich. Der Tsunami sah inzwischen sehr bedrohlich aus. Basti schätzte die Höhe auf mindestens fünfzig Meter. Ein leichtes Beben war unter ihren Füßen zu spüren, und ein Rauschen erfüllte nun die Luft, ein unterschwelliger Ton, der die ganze Atmosphäre zu beherrschen schien.
Die Wand aus Wasser war nicht etwa durchscheinend, oder grün, oder blau. Eine Wand aus schmutzigem, leicht ins lila schlagendem, dunklem Grau. Irgendetwas schwamm in der Wand mit, Holz, Bäume, Häuser, wer weiß was noch. Eine mächtige Schaumkrone kräuselte sich auf dem Kamm der Riesenwoge, wie elektrisiert. Basti hatte das Gefühl, dass die Wand nun immer schneller heranrauschte. Der Horizont war bereits verschwunden, die Wasserwand war nun der Horizont.
Antarona und Basti rannten um ihr Leben. Sie hatten das Gefühl, in dem weichen Sand überhaupt nicht mehr vorwärts zu kommen. Doch dann hatten sie den Waldrand erreicht, und den Pfad, der den Hang hinaufführte. Mehr stolperten sie hinauf, als dass sie stiegen. Das Rauschen verwandelte sich inzwischen zu einem Pfeifen und Grollen, das viel zu rasch näher kam.
An einer Stelle, wo die Bäume lichter standen, blickte Basti zurück. Wie eine riesige Barriere schob sich das Wasser heran, düster, beinahe schwarz, mit der weißen Gischt oben auf. Die Wand aus Wasser nahm die gesamte Breite der Küste ein. Sie war nun so hoch, dass Basti nicht mehr über sie hinweg sehen konnte. Sie mussten höher hinauf!
Verzweifelt stolperten sie weiter, und sie hatten den Eindruck, als wäre der Weg hinauf in der Länge gewachsen. Als sie vom Gor verfolgt wurden, waren es nur Augenblicke, bis sie die Höhle erreicht hatten. Nun zog sich der Pfad mächtig in die Länge. Ihre Knie zitterten bereits, doch die Angst vor der Monsterwelle trieb sie weiter. Von den Jo-lie war nichts zu sehen, oder zu hören.
Irgendwann, nach einer gefühlten Ewigkeit, wurde der Pfad flacher, dann erreichten sie das Plateau. Die Jo-lie standen wie gelähmt auf der Wiese und starrten ihnen entgegen. Doch sehr schnell bemerkte Basti, dass sie nicht ihm und Antarona gebannt entgegen sahen, sondern der Riesenwelle, die sich mittlerweile bis auf die Höhe der Plateaukante aufgebaut hatte. Basti fing schon von Weitem zu gestikulieren und zu brüllen an.
»Weiter! In den Wald und den hang hinauf zu den Felsen, macht schon, los, rennt, lauft um euer Leben!« Als er mit Antarona die Jo-lie erreicht hatte, stieß er die Langsamsten von ihnen grob vorwärts.
»Los, lauft, was ihr könnt, immer hinauf, so weit es geht!« Und sie rannten. Es war, als wollten sie eine Felsenfeste im Sturm erobern. Breit gefächert stoben die Kriegerinnen und Krieger in den Wald, und suchten sich einen Weg durch das Dickicht hinauf, wo ihnen die Felsen in seltsam hellem Grau entgegenstarrten. Plötzlich spürte Basti einen kalten Luftzug in seinem verschwitzten Rücken.
Auf einer kleinen Kuppe im Wald blieb er kurz stehen, und sah sich um. Zwischen der Wasserwand und den Klippen der Plateaukante schien nicht einmal mehr eine Stecknadel Platz zu finden. Aber das täuschte, und das wurde ihm bewusst, als er weiter hinaussah. In der Ferne sah er die Klippen, dort, wo die Höhle im Berg endete. Der Felsgrat am Ende der Bucht ragte einhundert, oder zweihundert Meter weiter ins Meer, als die Kante ihres Plateaus.
Die Riesenwelle traf auf den Grat auf und rauschte an der Steilwand hoch. Es krachte und donnerte, und Sebastian meinte, die Felsen unter der mächtigen Gewalt zusammenbrechen zu sehen. Doch das Wasser spritzte nur hoch, schlug zurück, und die weiß schäumenden Fluten wurden von einer zweiten, nachrollenden Welle hochgehoben. Es sah aus, als würde das Meer vollständig überlaufen. Die Erde bebte, und der Himmel verfinsterte sich unter einem mächtigen Sprühnebel aus schmutzigem Wasser.
Als eine dritte Welle heranrollte, die aber nur noch kraftlos über die höchsten Felsen wusch, krachte die erste Woge gegen die Kante ihres Plateaus. Sie schien ein Erdbeben auszulösen, denn der Boden wankte unter ihren Füßen. Einige Kriegerinnen schrieen in Panik auf, als die Bäume mächtig hin und her schwankten, als wären sie allesamt betrunken und zum Leben erweckt.
Dann schoss eine mächtige, breite Fontaine aus braunem Spritzwasser über die Kante, schwappte auf die Wiese, auf der sie vor ein par Minuten noch gestanden hatten, und setzte sie unter Wasser. Die zweite Woge schob eine Wasserflut von zwei bis drei Metern Höhe hinterher, und überflutete das Plateau vollends bis zum Waldrand, der die große Weide umgab. Von der dritten Welle sahen sie nur noch das Spritzwasser über der Kante aufsteigen, und in die schäumende Wasserwand zurückschwappen.
Der Meeresspiegel hatte sich so weit gehoben, dass die anrollenden Wellen, die nun viel kleiner waren, über die Kante des Plateaus wuschen. Doch um in das Plateau noch weiter einzudringen, dazu fehlte ihnen die Kraft. Von der Wiese lief das Wasser bereits in langen Strömen zurück ins Meer. Als sie das sahen, ließen die Jo-lie ihre Sachen fallen, wo sie standen, und sanken erleichtert zu Boden.
Es folgten noch einige größere Wogen, die noch einmal bis in das Plateau hineinliefen, doch dann hatte sich der Tsunami ausgetobt. Dafür wurde die Welt immer dunkler. Wie in Blei gegossen überspannte sie der Himmelsbogen. Violett-schwarz färbte sich alles über ihnen, und formte sich zu einer einzigen Wolke, die sich wie ein dicker Vorhang auf die Welt legte. Sie ließ ihre Regenarme im Wind schräg herabhängen. Doch am Hang, wo die Jo-lie verstreut im Wald standen, hielt die Luft noch immer den Atem an. Nichts regte sich.
Nur dort, wo man bis vor ein par Minuten noch über die Plateaukante zum Strand hinabblicken konnte, schlug das Meer mit unruhigen Wellen und weißen Schaumkronen gegen das Land. Die steile Küste und der Strand waren verschwunden. Das Wasser reichte nun bis an das Plateau heran. Und draußen über dem Meer braute sich ein Sturm zusammen, der Sebastian Angst machte.
Wartend standen die Jo-lie da, und starrten aufs Meer hinaus. Der düstere Himmel schien mit dem ebenso dunklen Wasser zu verschmelzen. Die Welt geht unter, dachte Basti. Und dann traf es sie wie eine Riesenfaust. Aus dem Nichts, aus dem schwarzen Himmel fuhren Blitze herab ins Meer, und beinahe zeitgleich schlug der Sturm mit einem wilden Aufbrüllen auf das Land ein.
Die Bäume bogen sich, Äste und Laub prasselten herab, einige Bäume brachen einfach wie Streichhölzer ab, und wie durch ein Wunder wurde durch diese erste Böe niemand verletzt. Das Meer türmte sich erneut auf, drang mit tanzenden, Gischt sprühenden Wellen wieder auf das Plateau vor, rollte heran, und begrub alles, was sich unter dem Hang befand, auf dem sie standen.
»Bei den Göttern, wir werden ertrinken!« hörte Basti jemanden sagen, und er spürte förmlich das Entsetzen in der Stimme. »Das Meer verschlingt das ganze Land«, sagte jemand anderes. Die Bäume knarrten und knirschten, als der Sturm immer wieder in ihre Arme fuhr. Rings um sie herum stürzten die Baumriesen um, wie welkes Schilf. Der Sturm riss sie einfach aus dem Hang. Die Jo-lie rannten schreiend von einem Fleck zum anderen, um nicht vom umstürzenden Holz getroffen zu werden.
Und als hätte jemand eine Schleuse geöffnet, peitschte plötzlich ein kalter Regen daher, der den Boden in einer Minute in Schlamm verwandelte. Jeder versuchte sich verzweifelt an irgend etwas festzuhalten, um nicht vom Regenwasser hinab in das überflutete Plateaubecken gespült zu werden. Die älteren Jo-lie banden die Jüngeren an Baumstämmen fest, damit sie nicht in die unter ihnen entstandene Wasserwüste abrutschten.
Plötzlich ging ein Zittern durch den Boden, und Basti glaubte schon, dass der Hang, auf dem sie Zuflucht gefunden hatten, komplett auf das Plateau abrutschen würde. Doch nicht der Hang, sondern die Kante zum Meer hin wankte. Es entstand ein riesiger Erdriss fünfzig bis hundert Meter von der Kante entfernt, quer über das gesamte Plateau, in den das Wasser in mächtigen Strudeln hineinlief.
Langsam, ganz langsam konnte man verfolgen, wie sich der Riss verbreiterte, das Land absank, und schließlich die ganze Scholle ins schäumende, brüllende Meer kippte. Sofort warf sie die Flut darüber und das Wasser drang wieder auf das Plateau, das nun eine Kante in der Form einer tiefen Bucht aufwies. Das Meer verschlang tatsächlich das Land!
Da wankte nun auch auf der gegenüberliegenden Seite ihres Hangs die Erde. Ein ganzer Pfeiler aus Felsen, hang und Bäumen neigte sich erst, schien dann in sich zusammenzusinken, und rutschte ins Meer ab, das die Welt mit schäumendem Maul zu verschluckten schien.
»Wir müssen höher hinauf, bis zu den Felsen!« schrie Basti gegen den Sturm an, und hatte Mühe, mit seiner Stimme Tiskaja, Te-itika und Antarona zu erreichen. Er schrie es ihnen in die Ohren, und sie schrieen es weiter, von Ohr zu Ohr, bis die Jo-lie sich in Bewegung setzten, sich weiter den Hang hinauf kämpften.
Je höher sie stiegen, desto härter zerrte der Sturm an ihren Körpern, und wurden sie vom strömenden Regen ausgepeitscht. Dafür wurde die Gefahr geringer, von einem der Baumriesen erschlagen zu werden, denn weiter oben wuchsen nur noch Sträucher und eine kleine Kiefernart, die sich zwar im Sturm bis zur Erde bog, aber stand hielt.
Unter ihnen rutschte ein Hang nach dem anderen ins Meer, schien das Land im unersättlichen Wasser zu versinken. In panischer Angst, ihr hang könnte ebenso ins Wanken geraten, kletterten die Jo-lie immer höher hinauf, bis sie die Steinwände der Felszinnen erreichten, die sich in das Land hinein zogen. Blind vom Regen, der in ihre Gesichter wehte, tasteten sie sich an den Felsen entlang, bis sie eine etwas geschützte Wand fanden, und Schutz zwischen riesigen Felsbrocken fanden, die über Jahrtausende aus den Bergen gebrochen waren.
Sie kauerten sich unter Steine und in Nischen, in Felsspalten und unter Absätze, und beteten zu den Göttern, sie mögen doch ein Erbarmen mit den Jo-lie haben. Basti und Antarona verkrochen sich unter einem mächtigen Felsblock und sahen hinab, in das Chaos. Entwurzelte Bäume wurden mit ausgewaschenem Boden die Hänge hinabgespült. Riesige Rinnsale fraßen sich in den Boden, bis die Schollen auseinanderbrachen, abrutschten, und ins Wasser stürzten. Sturm und Meer holten sich mit einem Schlag zurück, was sich ihnen über Jahrtausende entzogen hatte.
Nur allmählich ließ die Heftigkeit des Sturmes nach, und das Wasser ging zurück. Es dauerte Stunden, gefühlt drei Tage. Es wurde Nacht. Es wurde kalt. Viele Jo-lie drängten sich aneinander, um sich gegenseitig warm zu halten. Die meisten waren nur mit ihrem Ra-li bekleidet, und viele konnten nicht viel mehr retten. Bastis Waffenrock und Antaronas Baumwollkleid waren ebenfalls Opfer der Fluten geworden.
Allein das große Zebronfell war ihnen geblieben. Sie kuschelten sich aneinander, zogen das Fell über sich, so dass nur ihre Köpfe herausschauten, und wärmten sich gegenseitig. So saßen sie eine lange Zeit da, am Fuße der Felswände, unter einem Granitblock, ohne ein Wort zu sprechen. Es gab auch nichts zu sagen. Erst wenn die Flut zurückgegangen, der Sturm sich vollends gelegt hatte, und es wieder hell geworden war, konnten sie darüber nachdenken, wie es weiterging.
So lange mussten sie am Berg ausharren, und zusehen, wie ihre Welt zu großen Teilen unterging. Basti fragte sich, was aus den Jo-lie geworden war, die mit den Kranken in Mehi-o-ratea zurückgeblieben waren. Die Riesenwelle und der Sturm mussten das Wasser den Fluss hinaufgedrückt haben. Möglicherweise wurden das gesamte Sumpfgebiet und die Wälder rund um das Dorf von der gigantischen Wasserwand einfach überrollt. Dann lebte dort niemand mehr.
Basti dachte darüber nach, zurückzugehen, und nach Überlebenden zu suchen. Antarona las, wie oft schon in der Vergangenheit, seine Gedanken.
»Die Jo-lie sind am Ende, Ba - shtie. Es ist sinnlos, nach den anderen zu suchen. Falméra muss sich darum kümmern.« Ein leichtes Zittern lag in ihrer Stimme, ob nun von der Vorstellung, dass Mehi-o-ratea ausgelöscht worden war, oder vor der nassen Kälte. Er zog sie fester zu sich heran, und antwortete leise:
»Hoffen wir, dass es Falméra nicht ebenso schlimm getroffen hat. Die große Bucht mit den hohen Bergen hat vielleicht das Schlimmste verhindert. Aber wir müssen erst einmal hinkommen.« Antarona schwieg eine Weile, dann sagte sie beinahe versöhnlich:
»Sonnenherz ist froh, dass sich so viele Jo-lie in Sicherheit bringen konnten. Das war eure Tat, Ba - shtie. Ihr habt alle vor dem zurückkehrenden Wasser gewarnt. Euch verdanken alle ihr Leben. Die Jo-lie werden das niemals vergessen. Ihr seid nun ihr Führer, ihr König. Euch folgen sie von nun an, egal wohin ihr sie führt.«
»Wohin sollte ich sie schon führen, wenn ihre Welt, so, wie sie diese gekannt haben, zerstört ist?« fragte Basti bitter. Sie wussten ja noch nicht einmal, wie furchtbar die Auswirkungen des Tsunami waren. Sie saßen oben in den Bergen, umgeben von Dunkelheit, Kälte und Nässe, froh, gerade eben dem urweltlichen Chaos entgangen zu sein. Erst am Morgen würde sich zeigen, was von der bekannten Welt übrig geblieben war. Antarona unterbrach seine Gedanken.
»Woher wusstet ihr es?« fragte sie. Basti drehte ihr sein Gesicht zu, doch er konnte sie unter dem Fell nicht sehen, nur spüren.
»Woher wusste ich was?« fragte er zurück. Antarona schmiegte sich enger an ihn, wie ein Küken, das Schutz unter der Henne suchte.
»Ihr hattet die Jo-lie gewarnt. Ihr wusstet, das große Wasser würde mit großer Gewalt zurückkehren. Ihr hattet keinen Stein der Wahrheit. Woher wusstet ihr es?«
»In Teilen der Welt, aus der ich komme, gab es öfter einen solchen Tsunami«, erklärte Basti ihr. »Mutter Erde bebte unter dem großen Wasser, oder sie spie Feuer in der Tiefe des Wassers. Dadurch entstanden solche Riesenwellen, die über ganze Inseln hinwegfegten. Jedes Mal, wenn dies geschah, ging das Wasser kurz vorher fort. Und jedes Mal kam es mit heftiger Wut zurück, und zerstörte alles, das nicht hoch genug lag.«
Sebastian fühlte, wie seine kleine, nackte Frau neben ihm in Nachdenklichkeit versank. Eine Weile sagte sie nichts. Dann fragte sie schließlich:
»Warum tun die Götter so etwas? Warum machen sie einen Zu-na-mi, der ihre eigene Welt zerstört? Das ist dumm! Und wie mag es sein, dass tief unter dem Wasser ein Feuer brennt? Sonnenherz kennt kein Feuer, das im Wasser nicht verlischt. Sind die Götter große Zauberer?«
»Nein«, antwortete Basti seufzend, »große Zauberer sind die gewiss nicht. Aber dir das so zu erklären, dass du es verstehst, mein Engelchen, das dauert etwas länger. Dazu müsste ich dir zeigen, wie Mutter Erde in ihrem Leib aussieht. In ihrem Herzen brennt ein Feuer, das stärker, größer und heißer ist, als jedes Elsirenfeuer, das du kennst.«
»Ihr wisst, wie es dort ist, wo die Feuerdämonen gefangen sind?« fragte sie erstaunt. Dann fügte sie hinzu: »Talris ist alles, aber die Feuerdämonen sind die Feinde der Götter. Wie können sie dann im Herzen von Mutter Erde wohnen?«
Für das Krähenmädchen war nicht nur ihre Welt aus den Fugen geraten. Je mehr sie darüber sprachen, desto skurriler und unverständlicher wurde für sie alles, woran sie glaubte. Basti versuchte sie zu beruhigen, und seine Erklärungen auf später zu verschieben. Er hatte selbst noch kein Rezept dafür, wie er Antarona sein Wissen so verständlich als möglich vermitteln sollte, ohne, dass sie ihn für völlig verrückt hielt.
»Engelchen, lass es mich dir erklären, wenn wir von diesem Berg herunter sind, und wenn wir geschlafen haben, ja? Wir müssen uns jetzt ausruhen. Wer weiß, was uns im neuen Sonnenlauf erwartet. Wir werden all unsere Kraft brauchen.«
Damit legte er seine Arme um sie, zog sie fest an sich, und raffte das Fell so eng um sie, dass es wie ein Schlafsack wirkte. Dann streichelte er seine Geliebte, bis sie vor Erschöpfung eingeschlafen waren.

Sebastian träumte vom Untergang der Welt. Riesige Wassermassen verschlangen jedes Stückchen Land, Berge, Städte, ganze Landstriche. Der Boden unter seinen Füßen bebte, die gesamte Scholle, auf der er stand schwankte hin und her, schüttelte ihn. Er klammerte sich an Antarona, hielt sie fest, zog sie an sich. Er wollte mit ihr verbunden sein, wenn es mit dieser Welt zuende ging.
»Ba - shtie, hört auf, was soll das?« Antaronas Stimme riss ihn aus dem Schlaf. Gleichzeitig spürte er, wie etwas von außen gegen das Zebronfell rüttelte, das sie beide überdeckte. Antarona schlug ihre Seite des Fells zurück, wie eine Zeltplane. Sie blinzelten in die fahle Sonne, die zwischen schweren, niedrig ziehenden Wolken hervorlugte. Ein seltsam warmer, kräftiger Wind pfiff, und die gegen das Licht wie Schatten um sie herumstehenden Gestalten entpuppten sich als Te-itika, Tiskaja, Frethnal und Vesgarina.
»Was sollen wir tun, Herr, wo sollen wir jetzt hin?« fragte Frethnal stellvertretend für alle anderen. Die Jo-lie standen in einem weiten Halbkreis um sie herum, auf einem Hang, der nur noch aus Geröllblöcken zu bestehen schien. Basti versuchte schwankend sich aufzurichten, noch benommen von seinem schrecklichen Traum. Daffel trat aus der Anonymität der sie Umstehenden, reichte ihm die Hand, und half ihm aufstehen. Sebastian hielt noch immer Antarona an der Taille umfasst, und zog sie mit sich hoch. Dann sah er sich um.
Eine andere, neue Welt umgab sie. Das Land, das sie gekannt hatten, das grüne Plateau, die bewaldeten Hänge, der Strand darunter, das alles existierte nicht mehr. Der Humusboden, der den Hang bedeckt hatte, auf dem sie standen, war an vielen Stellen herausgewaschen. Der nackte Fels lag da, bleich und kahl, wie das Knochengerüst der Erde.
Bäume und Sträucher waren mit ihren Wurzeln herausgerissen, lagen verstreut zwischen den Felsblöcken, oder waren den Hang hinuntergeschwemmt worden und hatten sich an den Rändern des Plateaus Meter hoch gestapelt, wie hingeworfene Streichhölzer. Das einstige Plateau selbst glich einem wild und ungleichmäßig umgepflügten, schmalen Acker in einer Schlucht. Die Farbe Grün war aus der Landschaft verschwunden. Eigentlich war es gar keine Landschaft mehr. Alles glich mehr einer nassen, trostlos düsteren Wüste.
Dort, wo das saftige Gras auf dem Plateau von bunten Blumen geschmückt wurde, war ein enges Tal entstanden. Erdrutsche und Gerölllawinen waren von den umliegenden Hängen gerutscht, und ragten nun als schmutzig graubraune Kegel in das Chaos aus Felsen, aufgewühlter Erde und nackten Baumstämmen hinein.
Wo die Kante des Plateaus gewesen war, klaffte ein tiefer Einschnitt, der den Blick auf den früheren Strand und das Meer freigab. Riesige Murgänge und ausgewaschene Rinnen zogen sich durch diese Schlucht zwischen Häuser großen Felsen dahin, und schienen direkt ins Meer abzufallen. Auf der See tanzten Gischt aufwerfende Wellen, als wüsste das Wasser selbst nicht, wo es sich nun niederlassen sollte. Ein Meer aus kabbeligen Wogen und Treibgut, soweit das Auge es vom Hang aus zu erfassen vermochte.
Über der ganzen Endzeitszenerie hingen schwere, dunkle Wolken. Das Unwetter war offenbar noch nicht vorbei. Es machte nur eine Pause, um Atem zu holen, um neue Kraft zu schöpfen, um erneut erbarmungslos auf das Land einzuschlagen. Die Zeichen waren offensichtlich.
Kalter Wind fegte heran, und ließ die im Kreis stehenden Jo-lie mit den Zähnen klappern. Sie mussten unbedingt Schutz finden, bevor der Sturm sich wieder verstärkte. Aber wohin sollten sie sich wenden? Bis nach Falméra würde es Tage dauern. Bei dem kalten Wind war dieser Weg undenkbar. Außerdem fragte Basti sich, was von Falméra noch übrig geblieben war. Wenn die Flutwelle direkt in die Bucht gelaufen war. musste die halbe Stadt zerstört sein.
Basti dachte auch an die kleinen Fischerdörfer an der Küste. Viele von ihnen, die er auf dem Weg nach Falméra aufsuchen wollte, existierten wahrscheinlich nicht mehr. Und die meisten Wasserwagen, die er in Betracht gezogen hatte, um sich von ihnen nach dem Festland übersetzen zu lassen, dürften auch arg in Mitleidenschaft gezogen worden sein. Aber das waren nur flüchtige Gedanken, die im Augenblick keine wirkliche Relevanz besaßen.
Für den Moment musste er für das Volk der Jo-lie Schutz finden, soweit jedenfalls, dass sie nicht vom neu aufkommenden Sturm erschlagen wurden, oder an Unterkühlung starben. Sie mussten einen Wind geschützten Unterschlupf finden, eine Grotte, eine...
In dieser Zentare fiel Sebastian die Höhle ein, die er durchwandert hatte. Er überlegte, ob sie hoch genug gelegen war, dass der Tsunami sie nicht erreichen konnte. Zumindest drüben bei den Felsen, die man nun von dieser Stelle aus sehen konnte, musste die Monsterwelle in den Höhleneingang geschlagen sein. Doch das hieß nicht zwingend, dass die gesamte Höhle voll Wasser gelaufen war. Außerdem gab es Schlünde, Risse und Spalten im Fels, wo das Wasser gut ablaufen konnte.
Doch wo war der Eingang auf dieser Seite? Basti blickte angestrengt zu der Stelle, wo er den Zugang vermutete. Aber nichts sah mehr so aus, wie vor dem Tsunami. Dort, wo der Eingang liegen musste, standen nur noch Baumstümpfe. Lange Rinnen von Murgängen durchzogen den Hang schräg unter ihnen. An manchen Stellen hatten sich Bäume, Geäst, und Gebüsch zu kleinen Wällen aufgestaut, die von oben aussahen, wie die Nester urzeitlicher Riesenvögel.
»Baa - shtie!« Antaronas mahnender Ruf riss ihn aus seinen Überlegungen. »Ba - shtie, was sollen die Jo-lie nun tun? Sie können nicht noch einen Sturm ohne warme Kleidung und ohne Schutz vor dem Regen ausharren!« Sebastian wurde schlagartig bewusst, dass er Areos war. Areos, der König dieses Volkes, das armselig, nackt, verdreckt und wie aus Erde geboren, mit blauen Lippen und blassen Gesichtern frierend vor ihm stand.
Er hatte die Verantwortung für diese Menschenkinder übernommen, und ihm wurde mit einem Male bewusst, wie Noah sich gefühlt haben musste, als er die Verantwortung aller Überlebenden der Welt von Gott dem Herrn aufgebürdet bekam. Ein Bild, aus dem Neuen Testament, verwoben mit Bildern aus dem Alten Testament huschten an seinem geistigen Auge vorbei.
Noah, und später auch Moses, führten ihre Schützlinge im absoluten Gottvertrauen in eine neue Zukunft. Und wie sprach Jesus im Neuen Testament noch gleich? Dein Glaube hat dir geholfen! Sebastian Lauknitz war nie ein sehr gläubiger Mensch gewesen. Doch in dieser Zentare besann er sich dessen, was er vor langer Zeit im Konfirmandenunterricht gelernt, und später in der Bibel gelesen hatte. Er vertraute darauf, dass eine höhere Instanz nicht im Sinne haben konnte, die Menschenwesen, die Jo-lie vor Torbuks Schergen zu erretten, um sie dann einem urweltlichen Chaos zu opfern.
»Wir werden den Eingang zu einer Höhle suchen, die Sonnenherz und mir einst Schutz vor dem Gor bot. Der Zugang muss irgendwo dort unten liegen«, sprach Basti laut, und wies gleichzeitig dorthin, wo sich der Einschnitt im Fels befinden musste. Mit Entschlossenheit in der Stimme forderte er die Jo-lie auf:
»Haltet Ausschau nach einem schmalen Spalt im Felsen, dort müssen wir hin. Wir finden dort keine Kleidung, keine Nahrung, und vermutlich auch kein trinkbares Wasser. Doch wir haben Schutz vor dem Wind, und vielleicht können wir Feuer machen. Bis der Sturm vorüber gezogen ist, genügt das. Fürs erste. Was dann ist, müssen wir dann sehen!«
Damit nahm er Antarona bei der Hand und demonstrativ gingen sie voran, suchten sich einen Weg den Hang hinab, zu der Stelle, wo Basti die Höhle vermutete. Eine genaue Orientierung war durch die stark veränderte Landschaft nicht möglich, wenn man überhaupt noch von einer Landschaft sprechen konnte.
Es wurde zu einer Qual, unter diesen Bedingungen über einen Hang zu klettern, der nichts mehr von einer bekannten, gewohnten Bodenstruktur besaß. Die Jo-lie und auch Basti und Antarona waren es gewohnt, auf bloßen Füßen unterwegs zu sein. Doch in der Kälte und Nässe mit zerschundenen Füßen über rutschige, haltlose Erde, über Geröll und scharfkantigen Fels zu laufen, und dabei immer wieder zwischen kreuz und quer liegende Baumstämme, Äste, und Steine zu geraten, war eine andere Geschichte. Sie hatten noch keine hundert Meter zurückgelegt, als die ersten, meist die Mädchen mit ihren zarteren Füßen, nicht mehr weiter kamen.
Sebastian musste einsehen, dass die Suche so nicht weitergehen konnte. Er sammelte die Jo-lie unter einem vom zurückgelaufenen Wasser zusammengeschobenen Haufen Bäume, Äste und Sträucher, gebot ihnen sich gegenseitig zu schützen und zu wärmen, und machte sich mit Antarona und einigen Freunden auf, den Höhleneingang zu suchen.
Als sie den Hang, der sich durch den Tsunami in seiner Form ebenfalls verändert hatte, zur Seeseite hin umrundet hatten, wurde das ganze Ausmaß der Sintflut offenbar. Der Wasserspiegel war auf seine ursprüngliche Höhe abgesunken. Doch dort, wo einst der schöne, weiße, Sandstrand gewesen war, fielen Erd- und Geröllhänge steil, und direkt ins Meer ab. An Stellen, wo der Strand von Erdrutschen und Murgängen verschont geblieben war, hatte sich alles gesammelt, was das Wasser mitgerissen hatte. Baumstämme, Äste, entwurzeltes Gebüsch, Bauteile von Hütten und Häusern, alles lag im wilden Durcheinander vermischt mit Seetang in den neu entstandenen, kleinen Buchten.
So viel Material hatte sich dort gesammelt, dass es bis weit ins Wasser hineinreichte, und im Takt der unruhigen See auf und ab wippte. Wie Hunderte von Streichhölzer willkürlich in eine Schale geworfen, so lagen ganze Bäume ineinander verkeilt in den Buchten und flacheren Küstenabschnitten. Zwischendurch gab es Stellen, wo ganze Felspfeiler aus dem Boden gespült worden waren, die dann offensichtlich in sich zusammenbrachen, und ein heilloses Trümmerfeld hinterlassen hatten, das bis weit in das Meer hinein reichte. An diesen neu entstandenen Klippen brachen sich weiß spritzend die Wellen, angetrieben vom neu anfachenden Wind.
Als die ersten, schweren Regentropfen auf die Haut der ungeschützten Körper Bastis, Antaronas, und ihrer Freunde klatschten, trieb Basti zur Eile. Sie mussten die Höhle finden, und er betete mit nie verzweifelterem Flehen zu dem Gott, den er immer ignoriert, und oft sogar verleugnet hatte, er möge ihm doch einen Hinweis geben.
An einer Stelle ragte ein steiler Felspfeiler, beinahe schon eine schmale Felswand empor, die der Tsunami aus dem Boden gewaschen hatte. Ein unüberwindbares Bollwerk, das ein Weiterkommen am Hang unmöglich machte. Dieser Felsvorsprung war vorher noch nicht da gewesen. Oder doch? Sebastian hatte sich als Bergsteiger ein fotographisches Gedächtnis von Bergformen und Felsformationen angeeignet, das beim Klettern oft über Tod oder Leben entschieden hatte. Diese Gabe kam ihm nun zugute, gebot ihm zweimal hinzuschauen. Eine Stelle in dieser neuen Felsformation kam ihm irgendwie bekannt vor.
Und dann sah er es! Ein Riss, ein Spalt, mehr nicht aus dieser Perspektive, inmitten der neu entstandenen Felsflucht. Davor ein Gewirr aus schroffen Zacken, Graten und Absätzen, etwa zwanzig, dreißig Meter hoch. Die Höhle. Das musste sie sein! Er hatte sie gefunden, und ein gedanklicher Satz schoss durch den Kopf: Dein Glaube hat dir geholfen!
Hinaufzuklettern war für Sebastian nicht schwierig. Er zwang sich durch den Spalt, und stellte fest, dass er mit den Füßen Knöchel tief im Wasser stand. Also hatte der Tsunami auch vor der Höhle nicht Halt gemacht. Im Dunkel tastete er sich vor, bis zu der Stelle an der Höhlenwand, wo er die Absätze mit den Fackeln in Erinnerung hatte. Er fühlte die Fackeln, die Zunderschachteln, die Feuersteine. Sie waren trocken geblieben! Also hatte das Wasser die Höhle nicht komplett durchspült.
Basti nahm eine Fackel zwischen die Beine, klemmte ein Büschel Zunder in einen Felsriss in Bauchhöhe, und begann mit den Flintsteinen Feuer zu schlagen. Als das nicht gelang, nahm er den Rücken seines Bowiemessers zu Hilfe. Es dauerte eine Weile, bis er den richtigen Winkel gefunden hatte, und die Funken unregelmäßig spritzten, wo er Metall und Stein aneinander schlug. Und es dauerte noch einmal so lange, bis der Zunder, der nicht wirklich trocken war, an einer Stelle aufzuglimmen begann.
Vorsichtig, als wollte er einem Schmetterling die Flügelchen trocknen, blies er gegen die Glut, bis das Büschel ein winziges Flämmchen nährte. Sofort hielt Basti ein zweites, größeres Büschel in das neu geborene Feuer, und klemmte auch dieses in den Spalt. Fand das Feuer erst einmal seine Nahrung, so war es nicht mehr aufzuhalten. Mit einem Mal stand das ganze Büschel in Flammen, und Basti musste sich beeilen, den Kopf der Fackel in die zuckenden Flammenzungen zu halten.
Augenblicklich fraß sich das Feuer in das Tran getränkte Gewickel und erhellte den Raum. Basti steckte die Fackel in einen breiteren Riss im Fels, und nahm eine zweite Fackel, und eine dritte, die er anzündete, und an der gegenüberliegenden Wand fest verklemmte. Dann blickte er sich um.
Nur ein Teil des Höhlenraumes stand einige Zentimeter unter Wasser. Der hintere Teil war trocken geblieben, und der pulverfeine Sand auf dem Schwemmboden blieb an seinen nassen Füßen haften, wie Paniermehl. Mit einer vierten Fackel drang Basti in den nächsten Höhlenraum vor. Dieser war komplett trocken, abgesehen von der Nässe, die durch die Risse und Spalten der Höhlendecke tropfte. Auch in diesem Abschnitt entzündete Basti drei Fackeln, und leuchtete den Raum aus. Anschließend beeilte er sich, zum Eingang zurückzukommen.
Unten warteten die Freunde mit Antarona immer noch gespannt, als er den Kopf aus dem schmalen Zugang steckte. Der Wind hatte deutlich aufgefrischt, und die Wellen stoben mit frischer Kraft gegen die neu entstandenen Klippen, und wirbelten das Treibgut krachend durcheinander. Ein heftiger Schlagregen kam von See herangebraust, und peitschte gegen die Felsen.
»Holt die anderen, hier oben sind wir erst mal in Sicherheit!« schrie er gegen den Sturm hinab. Doch der Wind zerfetzte seine Worte, sodass die anderen unten weiterhin unschlüssig dastanden. Basti winkte, und gab die untrüglichen Zeichen, dass man die Jo-lie nachholte. Er sah von oben, wie Antarona den Freunden Anweisung gab, die sich dann eilig entfernten. Sie selbst kam zu ihm hinaufgeklettert.
Das Krähenmädchen staunte nicht schlecht, als Basti sie in die Höhle zog, und sie sich plötzlich in einem geschützten, von Lichtern erhellten Raum befand. Verwundert und fasziniert sah sie sich um.
»Ba - shtie, wie habt ihr das gemacht? Die Götter müssen mit euch sein!« stellte sie ehrfürchtig fest. Sie sah den Schimmer, der aus dem nächsten Höhlenraum herausleuchtete, und wollt sich schon dorthin wenden, als Basti sie am Arm festhielt.
»Erst einmal müssen wir die Jo-lie heraufholen, wir können sie nicht länger dem Regen und dem kalten Wind aussetzen, sonst bleibt nichts mehr von ihnen übrig!« Antarona nickte, und begab sich wieder zu dem schmalen Eingang. Weit entfernt sahen sie das Volk der freien Liebe langsam in einer langen Kolonne herannahen.
Viel zu langsam, wie Basti befand, denn der Sturm drückte die immer höheren Wellen gegen die Küste, schob das sperrige, schwere Treibgut mit jeder Woge weiter gegen das Land, türmte es auf, und baute es zu einem unüberwindlichen Wall aus sich bewegenden Stämmen. Wenn die Jo-lie dort dazwischengerieten, würden sie gnadenlos zerquetscht.
Basti und Antarona stellten sich weithin sichtbar in den Eingang und begannen wild zu gestikulieren, um die Jo-lie zur Eile anzutreiben. Doch viele konnten nicht mehr, waren müde, durchgefroren, entmutigt, und kraftlos. Einige mussten von den übrigen getragen, oder gestützt werden, über Felsen, Geröllhalden, und Treibgut hinweg. Sebastian ging das viel zu langsam, und er befürchtete, dass der Sturm sie einholen, und zerschmettern würde.
Kurz entschlossen stieg er hinab, und lief den Gestrandeten entgegen. Antarona folgte ihm leichtfüßig, Sie schien voll ungebrochener Energie zu stecken, obwohl sie ebenso mitgenommen aussah, wie alle in der Gemeinschaft. Sie erreichten die Jo-lie, die sich nur noch mühsam vorwärts schleppten, als die ersten Wellen über das Treibgut hinwegsprühten, und sie mit einem zusätzlichen Regen übergossen.
Erbarmungslos und mit ganzem körperlichen Einsatz trieben sie die Jo-lie vorwärts. Wer sich einfach hinsetzen und resignieren wollte, wurde mit Knüffen und Stößen wieder hochgetrieben und vorwärts geschoben. Sie machten den Heimatlosen Mut, halfen ihnen über Hindernisse hinweg, und trugen diejenigen, die auf ihren zerschundenen Füßen nicht mehr stehen konnten. Wo gutes Zureden nicht mehr half, setzte es Püffe, Flüche und gemeine Drohungen. Alles war nun erlaubt, wenn sie nur die Jo-lie in Sicherheit brachten, und niemanden mehr verloren.
Irgendwie gelangte der ganze Zug schließlich den Fuß der Felsenflucht, in deren Mitte der Eingangsspalt der Höhle lag. Der Regen peitschte mittlerweile schräg von der Seite her auf sie ein. Wer noch einen Ra-li trug, dem klatschte das dünne Leder im Sturm wie eine böse Hand um die Oberschenkel. Doch einige hatten sogar diese letzte, winzige Körperbedeckung eingebüßt. Sie trugen nur noch ihr nacktes Leben der dunklen Sicherheit im Berg entgegen.
Die Kräftigsten halfen den Schwächsten, und so erklommen sie einer nach dem anderen die schroffen Felsen, und einem unbeteiligten Beobachter musste es ein Erstaunen entlocken, wie die lange Schlange nackter, schmutziger Leiber unablässig in dem schmalen Felsspalt verschwand, bis auch das letzte Gemeinschaftsmitglied der Jo-lie vor dem Sturm in Sicherheit gebracht war.
Drinnen leiteten Basti und Antarona die Leid geplagten Menschenkinder in die Tiefe der Höhle. Frethnal und Vesgarina entzündeten weitere Fackeln, und steckten sie in Halterungen, oder Felsspalten. Müde und abgeschlagen ließen sich die Jo-lie in den Schwemmsand sinken, oder setzten sich auf Felsvorsprünge, oder legten sich einfach dort nieder, wo sie gerade standen.
Es war ein gespenstischer Anblick, wie die nackten, zerschundenen Körper, die Mädchen mit strähnigen, wild zerzausten und verfilzten Haaren, stumm, wie benommen und trunken in die Ecken und Nischen wankten, und viele von ihnen einfach in sich zusammensackten. Sie blieben dort, wo sie niedersanken, blickten aus leeren, starren Augen in die Lichtkegel der Fackeln, und hatten noch gar nicht begriffen, dass sie nur knapp dem Tod durch Ertrinken, oder Unterkühlung entgangen waren.
Antarona, Basti, und die anderen, noch halbwegs bei Kräften befindlichen versuchten den Geschundenen so gut es ging zu helfen. Sie holten das Holz herbei, das Basti bei seiner Höhlenerkundung gefunden hatte, und zündeten Feuer zum Wärmen an. Sie fingen Trinkwasser mit bloßen Händen auf, das von den Höhlenwänden lief, oder von den Stalagmiten tropfte, und brachten es denen, die vor Erschöpfung nur noch flach atmeten. Sie wuschen ihnen die blutigen, schmutzigen Füße, um Infizierungen zu verhindern, und Antarona braute aus den kleinen Resten von Kräutern, die Basti in letzter Minute vor dem Tsunami gerettet hatte, einen Sud, der die schlimmsten Entzündungen zu behandeln.
Tiskaja und Te-itika saßen mit Isane und Feyach im Lichtschein einer zusätzlichen Fackel in einer Ecke. Sie hatten sich das große Zebronfell Antaronas und Bastis zwischen sich gelegt, und waren dabei, mit einem scharfen Feuerstein die Haare aus der Haut zu kratzen. Kleingeschnitten, so hatte Antarona gemeint, könnte man daraus einige Ra-lis schneiden, um denjenigen, die nur ihr nacktes Leben behalten hatten, zumindest die Scham zu bedecken.
Das steinerne Bett, auf dem der Tote lag, beachtete indes niemand. Basti hatte diesen Teil der Halle bewusst im Dunkeln gelassen. Doch selbst die Jo-lie, die es trotzdem entdeckten, ließ das Skelett unbeeindruckt, ein Zeichen dafür, wie ausgelaugt und kraftlos sie waren. Zu anderer Zeit hätten sie den Raum gemieden, in dem ein Menschenwesen lag, das nicht zum Tor in das Reich der Toten gebracht wurde.
Als alle Gestrandeten wenigstens im Gröbsten versorgt schienen, nahmen sich Antarona und Basti je eine Fackel, und drangen tiefer in das Höhlensystem ein. Basti erklärte ihr die Zeichen an den Wänden, und wie diese zur Orientierung dienten. Irgendwo hatte er bei seiner ersten Erkundung Töpfe, Gefäße und einen Kessel gesehen. Heißes Wasser konnte zwar nicht den Hunger seiner kleinen, heruntergekommenen Armee stillen, doch es würde den Jo-lie gut tun.
In einer der Hallen, die sie durchquerten, war ein kleiner Wasserfall entstanden, vermutlich durch den starken Regen. Klares, sauberes Wasser rieselte in einem halb Meter dicken Fall aus einer Öffnung hoch oben in der Felswand, und stürzte im freien Fall auf eine riesige Steinplatte auf dem Höhlenboden, wo es gleich nebenan in Rissen und Spalten in der Tiefe verschwand. Eine gute Gelegenheit zum Waschen, beinahe eine perfekte Dusche, befand Sebastian und stellte sich, wie er war, unter das Fallwasser.
Antarona stellte sich dazu, und sie wuschen sich gegenseitig den Dreck vom Körper. Die Ra-lis behielten sie an, sie waren ohnehin schon nass, und konnten eine Wäsche ebenfalls vertragen. Da in der Höhle offenbar immer die gleiche Temperatur herrschte, trockneten Haut und Ra-li beim Weitergehen. Es war nicht so warm, wie in der Sonne, doch auch nicht so kalt, dass sie allzu schnell auskühlen konnten.
Die angezündeten Fackeln in den Kammern und Hallen ließen sie brennen, um den Rückweg schneller zu finden. Zwischendurch gelangten sie an Passagen, die hüfthoch mit Wasser vollgelaufen waren. Es war Süßwasser, kein Salzwasser, was Basti in der Weise deutete, dass der Tsunami nicht weit in das Höhlensystem eindringen konnte. das Wasser hatte sich also durch den starken Regen in tiefer gelegeneren Abschnitten gesammelt.
Vorsichtig durchwateten sie diese Stellen. Basti ging voran und Antarona wartete, bis er festen Stand hatte. Sie konnten nicht riskieren, beide in tieferes Wasser abzurutschen, und plötzlich ohne brennende Fackel in der Finsternis zu stehen. Erst als sie dem anderen Eingang der Höhle näher kamen, besaß das Wasser einen Salzanteil. Das Seewasser war durch den Tsunami in den Eingang geschwappt, hatte sich mit dem Süßwasser vermischt, und war zum Teil wieder abgelaufen. Nur an einigen tieferen Stellen stand es noch wie eine spiegelnd glatte Fläche im Lichtschein der Fackeln.
Als sie eine der letzten Räume vor dem Eingang erreicht hatten, fanden sie, wonach Basti gesucht hatte. Die einstigen Bewohner dieses unterirdischen Reiches hatten einiges hinterlassen. Antarona und Basti behängten sich zusätzlich zu ihren Waffen mit Töpfen, und zwei Kesseln. Basti nahm zusätzlich ein großes, schweres Dreibein aus geschmiedeten Stangen auf seine Schulter.
Wie schwer das Gerät war, wurde ihm während des Rückwegs mehr als deutlich bewusst. Es drückte schmerzhaft auf seine Schultern, egal wie herum er es trug. Antarona lud sich so viel Feuerholz auf die Arme, wie sie tragen konnte, ohne die Fackel fallen zu lassen. So traten sie den Rückweg an, beladen mit ihren neuen Schätzen, die ihnen dankbar und freudig abgenommen wurden, als sie endlich wieder in der Mitte der Jo-lie standen.
Sebastian bemerkte bei ihrer Rückkehr etwas, das ihm Sorgen bereitete. In den beiden Hallen, in denen sich die Jo-lie niedergelassen hatten, herrschte eine spürbar schlechte Luft. Es war sicherlich als normal anzusehen, dass es dort, wo eine Vielzahl von Menschen nackt, verdreckt und in Feuchtigkeit hausten, nicht nach Rosenblüten duften konnte. Doch in dieser Höhle stank es entsetzlich, trotz des leichten Luftzugs, der das System von einem Eingang zum anderen durchzog.
Nasse Haare, schmutzige feuchte Haut, menschliche Ausdünstungen, all das schwebte in der Luft, und biss Sebastian in seine empfindliche Nase. Er sah sich um, und schüttelte nachdenklich den Kopf. Sie waren in der untersten humanoiden Entwicklungsstufe angekommen. Sie waren zu Höhlenmenschen geworden. Wie schnell das gehen konnte, wenn die Natur erst einmal zurückschlug!
Viele Jo-lie waren vor Erschöpfung eingeschlafen. Sie lagen nackt, oder nur mit dem schmutzigen Ra-li bekleidet, teilweise Wärme suchend dicht aneinander gedrängt, auf dem blanken Höhlenboden. Die Körper mit Erde beschmiert, die Haare mit dem Glitzern von Salzkristallen durch das trocknende Seewasser geschmückt, so lagen sie da, wie Tote. Nur das hin und wieder erklingende Seufzen oder Husten, und das sanfte Heben und Senken der Körper bescheinigte ihnen schlafendes Leben.
Stöhnen und leises Wimmern erklang dort, wo die Gliedmaßen nach der nassen Kälte in die Blutzirkulation zurückfanden, und allmählich die Schmerzen von Hautabschürfungen, Verstauchungen und anderen Verletzungen wahrnahmen. Diejenigen, die schliefen, ließen die anderen schlafen. Doch für die Leidenden stellten sie das Dreibein auf, machten ein großes Feuer, und hängten den Wasser gefüllten Kessel darüber. Die letzten von Antaronas Kräutern wanderten in den Kessel, viel zu wenig, um einen wirkungsvollen Trank zu brauen.
Doch auch das scheinbare Gefühl, nicht alles von der Zivilisation verloren zu haben, half. Allein der Duft des kochenden Suds vermittelte so etwas, wie Hoffnung in der Hoffnungslosigkeit. Fürs Erste waren sie gerettet. Doch wenn erst der Hunger die vielen Leiber peinigte, mussten sie sich einer weiteren Herausforderung stellen. Deshalb dachte Basti daran, den Jo-lie keine Gelegenheit zu geben, sich in der Höhle häuslich einzurichten. Sie mussten weiter nach Falméra, egal, was sie dort vorfinden würden.
Erst nachdem alle Verletzten im Rahmen den ihnen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten versorgt waren, dachten auch Antarona und Basti daran, sich etwas Ruhe zu gönnen. Das große Xebronfell hatten sie nicht mehr. Es hatte seine Verwendung in einem Haufen Ra-lis gefunden. Also suchten sie sich eine stille Nische in der großen Höhlenkammer, die abseits des permanenten Durchzugs lag, und weichen, feinen Schwemmsand als Unterlage bot.
Basti zog Antarona an sich, und legte seine Arme um sie. Ihr Kopf lag auf seiner Brust, und seine Hände ruhten auf ihren bloßen Brüsten. So schliefen sie erschöpft ein. Wie lange sie geschlafen hatten, war in der Finsternis kaum abzuschätzen, denn Sebastian hatte die Jo-lie angewiesen, immer nur zwei Fackeln je Kammer brennen zu lassen. Niemand konnte ahnen, wie lange sie in diesem Loch im Berg Gefangene des Sturms sein würden.
Irgendwann wachte Basti auf, weil er spürte, dass eine seltsame Spannung in der Luft lag. Als er die Augen aufschlug, standen die meisten der Jo-lie im Halbkreis dicht gedrängt um ihn und um Antarona herum, und leuchteten ihnen mit drei Fackeln in die Gesichter. Sebastian fuhr erschrocken hoch, und weckte dabei das Krähenmädchen, die alarmiert aufsprang und Nantakis zur Abwehr bereit in den Händel hielt.
»Fürchtet nichts, es ist alles in Ordnung!« Tiskajas Stimme drang aus dem Gegenlicht an Bastis Ohr. Er kniff die Augen zusammen, um gegen den Schein der Fackeln besser sehen zu können. Te-itika und Tiskaja trugen je eine Fackel, die dritte hielt Daffel in den Händen, der mit Ravid, Èliza und Fiala in erster Reihe weiter links stand. Antarona ließ ihr Schwert sinken, und sie blickten den Jo-lie neugierig entgegen.
»Ist etwas geschehen? Wie lange haben wir geschlafen? Wie geht es den Verletzten?« Bastis Fragen waren eher eine Überspielung seiner Überraschung, als ernst gemeinte Neugier. Te-itika sagte mit klarer Stimme:
»Ihr habt eine und eine halbe Sonne verschlafen, Areos, und wir dachten schon, ihr seid ins Reich der Toten eingegangen.« Sie machte eine Pause, um seine Reaktion abzuwarten, bevor sie fortfuhr:
»Die Verletzten erholen sich rasch, und geschehen ist nichts, außer, dass der Sturm nachgelassen hat. Dafür fällt das Wasser ohne Unterlass aus dem Himmel.« Sebastian stand ächzend auf. Er spürte all seine Knochen im Leib, und hatte das Gefühl, einen Ringkampf mit einem Xebron ausgefochten zu haben.
»Nein, tot sind wir noch nicht«, erklärte er nicht ganz ernst gemeint, »aber auch noch nicht ganz wach. Was gibt es denn so Wichtiges, haben wir irgend etwas verpasst?« Fiala trat nun mit Permina, Femra und Tariz vor, und sagte mit wichtiger Miene:
»Wir.., also die Jo-lie, wollten euch etwas sagen, Areos, Herr.« Sie blickte sich um, und vergewisserte sich, dass alle anderen einhellig mit dem Kopf nickten, und hinter ihr standen. Bestärkt sprach sie weiter:
»Ihr, Areos, den wir nun einstimmig als unseren König anerkennen, habt die Jo-lie bereits ein zwei Mal vor dem Tod errettet. Einmal habt ihr uns gegen Torbuk in einen siegreichen Kampf geführt, und nun habt ihr uns vor dem großen Wasser gerettet, das uns alle getötet hätte, wenn uns euer Wissen nicht davor bewahrt hätte.« Als hätten sie sich untereinander abgesprochen, redete nun Tariz weiter:
»Ich und meine beiden Freundinnen hier, sie meinte Femra und Permina, wir haben euch bereits einiges zu danken, Herr. Doch nun habt ihr uns vor dem Tod des Ertrinken gerettet, und habt uns in diese Höhle in Sicherheit geführt. Wir hatten König Bental, euren Vater, nie als den König der Jo-lie gewollt. Aber wir wollen euch, Areos, als unseren König. Ihr habt uns gegeben, was euer Vater uns nie geben konnte.« Sie holte tief Luft, bevor sie weitersprach. »Ihr habt uns als euer Volk behandelt, ihr habt uns geholfen, habt uns beigestanden, obwohl wir für uns sein wollten. Und ihr habt uns gezeigt, dass ihr einer von uns seid.« Tariz langte hinter sich ins Dunkel, und zog Feyach aus der Menge hervor, die sie nach vorn, auf Basti zu schob.
»Nehmt das zum Dank von allen Jo-lie, Herr«, wisperte das kleine Mädchen schüchtern, und reichte ihm ein Lederband mit zwei Anhängern.
»So werdet ihr immer Feuer bei euch haben, wo ihr auch hingeht«, fügte Tiskaja hinzu. Und Te-itika erklärte weiter:
»Feyach und Kengal hatten diesen Einfall, und die beiden haben auch das Meiste daran gemacht.« Basti nahm das Band und besah es sich genau, soweit das bei diesem Licht möglich war.
An dem Lederband, das vermutlich von dem Zebronfell stammte, und aus geflochtenen, dünnen Hautstreifen bestand, hingen ein Feuerstein und ein Stück einer alten Schwertklinge, aus denen sich leicht Funken schlagen ließen. Die beiden Stücke waren an den Enden durchbohrt worden, um sie auf das Lederband zu fädeln. Die Ecken und Kanten waren rund geschliffen worden.
Sichtlich berührt umarmte er die beiden Kinder, die Krieger sein wollten, und dankte ihnen. Allen anderen gab er freundschaftlich die Hand. Antarona, die sich nun ebenfalls das Geschenk ansah, sagte ehrfurchtsvoll:
»Es ist ein großes, wertvolles Geschenk, Ba - shtie. Es drückt die Treue und Ergebenheit der Jo-lie aus, wie nichts anderes es vermag.«
Zum Schluss stand Sebastian, der ungekrönte König Areos von Falméra im Schein der Fackeln vor dem Volk der Jo-lie, und suchte nach würdigen Worten, ihnen zu danken. Erwartungsvoll standen sie um ihn herum, und blickten ihn an, als würde er ihnen ein Wunder versprechen können. Alle standen sie da, und viele sah er in dem großen Kreis, die ihn ein Stück weit des Weges begleitet hatten, seit er in diese Welt geraten war.
Raspina, Tariz, Permina und Femra; Te-itika, Tiskaja, Kengal und Isane, sowie die kleine Feyach; Ravid und Daffel mit Èliza und Fiala; Vesgarina und Frethnal; Rahan, der Bogenschütze, und viele andere, die inzwischen seine Freunde geworden waren. Selbst Kadim gab ihm und Antarona respektvoll die Hand, und in seinen Augen spiegelte sich echte Anerkennung wieder.
»Also, ich weiß nicht, was ich sagen soll«, begann Basti sichtlich gerührt. »Ich möchte euch allen für das wunderbare Geschenk danken. Wo immer ich bin, wird es mich an euch erinnern. Ihr alle seid meine Freunde. Und für Freunde tut man alles, was möglich ist, ob man nun Heerführer, König, oder Krieger ist. Wisst ihr, im Reich der Toten, in der Welt der Götter, in der ich gewesen war, gab es einen, welcher ein großer König unter den Göttern war, und der eines jeden Menschenwesens Freund war, der selbst seine Feinde als Menschenwesen liebte. Dieser sagte einmal: Das was ihr einem Geringsten unter uns tut, das tut ihr mir selbst.« Basti machte eine kleine Pause, denn er vermutete, dass nicht jeder der Jo-lie seine Worte verstand. Deshalb versuchte er zu erklären:
»Das heißt, wenn einer von euch einem anderen hilft, oder ihn achtet, auch wenn dieser weniger wichtig scheint, als er selbst, so hilft und achtet er damit auch alle anderen, und jene Gebote, welche die Gemeinschaft der Jo-lie und die Götter uns geben. Und wenn wir alle so tun, werden wir eine starke, gute, und freundschaftliche Gemeinschaft sein, in welcher niemand allein ist, und sich niemand verloren fühlt. Ich will damit auch sagen, dass jeder von euch gleich wertvoll und wichtig ist. Und wenn ich dem Schwächsten unter euch helfe, und ihn liebe, wie einen Bruder, oder wie eine Schwester, so helfe und liebe ich euch allen und alle gleichermaßen.«
Die Menschen um ihn herum wurden erst ein wenig nachdenklich, doch dann jubelten sie ihm zu, als hätte er ihnen ein sorgenfreies Leben in Reichtum versprochen. Es war ein skurriles Bild. Schmutzige, nackte Höhlenmenschen, denen ein Beobachter gerade mal ein Gegrunze zugestanden hätte, ließen ihn hochleben, obwohl Temrin noch immer ihr selbst erwählter Anführer war. Basti hob die Hände, wartete, bis wieder Ruhe eingekehrt war, und sagte:
»Wer frisches Wasser haben, und sich den Schmutz von der Haut waschen möchte, mag nun mit uns kommen, wir zeigen euch, wo ihr welches findet. Doch seid gewarnt! Geht niemals allein dorthin, denn es gibt dort Spalten und Risse im Boden, mit denen euch die Erde verschlucken kann. Gebt aufeinander Acht, und haltet euch aneinander fest.«
Dann gingen er und Antarona allen voran in die Höhle hinein, bis zu dem fallenden Wasser. Basti ließ rings um den Wasserfall Fackeln anbringen, damit die Jo-lie sehen konnten, wohin sie traten. Einige der Schlünde, in die das Wasser ablief, waren so groß, dass ein ausgewachsener Mensch leicht darin verschwinden, und ins Bodenlose fallen konnte.
Die Jo-lie nahmen das Wasser dankbar an. Sie tanzten und hüpften vor Freude auf der Steinplatte herum, und wuschen sich dicht gedrängt den Dreck von den Leibern, dass Basti Angst hatte, sie könnten sich gegenseitig von dem Podest stoßen, und in einen der tückischen Spalten fallen. Schließlich ließ er Frethnal, Daffel und Ravid an den gefährlichsten Abgründen Aufstellung nehmen, um die ausgelassen badenden Jo-lie zu sichern.
Der Badespaß schien kein Ende nehmen zu wollen, und als endlich die Letzten sich von verkrusteter Erde gereinigt hatten, machten sich die ersten Gedanken um die Nahrung. Sie hatten geschlafen, getrunken, sich gereinigt, nun hatten sie Hunger. Basti beschloss daher, mit einem kleinen Trupp auszuziehen, um die Lage außerhalb der Höhle zu erkunden.
Als sie den engen Eingang erreichten, stellten sie fest, dass es dunkel geworden war. Wolkenfetzen zogen mit schneller Geschwindigkeit am Himmel dahin, und ein warmer, kräftiger Wind wehte von Süden heran. Die kleine Bucht unter ihnen war mit Bergen von Trümmern, Treibgut, und Schlamm übersät. Das Meer war erneut gekommen, war gegen die Küste angerannt, und hatte anstelle den Strand sauber zu spülen, im Gegenteil noch mehr Material mitgebracht.
Mit Fackeln bewaffnet kletterte Bastis kleiner Aufklärungstrupp über die Felsen hinab, um etwas Essbares zu suchen. Sie fanden eine riesige, verletzte Meeresschildkröte, die sich im Treibholz verfangen hatte, und einige Fische, sowie Krebstiere, denen es im Wirrwarr des Strandguts nicht gelungen war, mit dem Wasser abzuziehen, als die Ebbe einsetzte.
Im Schein des Halbmonds wurden die Meerestiere getötet, ausgenommen, und auf gerade Äste gespießt, um sie hinauf in die Höhle zu tragen. Einige Kriegerinnen fanden eine Art Seegras, oder Seetang, das gekocht eine gute Suppe geben sollte. Dem Geruch des bräunlichen Krauts nach, fiel es Basti schwer, sich eine appetitliche Speise aus dieser Substanz vorzustellen. Er nahm sich vor, seine Gaumenfreude auf die tierische Nahrung zu beschränken.
Sie mussten zwei Mal den Auf- und Abstieg bewältigen, bis sie alle Beute, und einiges von dem angetriebenen Holz in die Höhle geschafft hatten. Sofort machten sich die Mädchen über die Dinge her, die nun ihr Überleben sicherten. Sie wuschen, entschuppten, filetierten, und schnitten. Andere sorgten für reichlich Feuer. Wo es brannte, wurde bereits das Holz getrocknet, das als nächstes in die Glut geschoben wurde. Die Rauchentwicklung durch die Feuchtigkeit war enorm. Doch der Qualm zog ungehindert durch Spalten und Risse in der Höhlendecke ab, oder wurde einfach vom Sog des Durchzugs mitgenommen, so dass sich die Rauchbelastung in Grenzen hielt.
Nachdem alle gegessen hatten, Basti fand die Schildkröte köstlicher, als alles, was er zuvor zu sich genommen hatte, berief Basti eine Versammlung ein. Alle Jo-lie setzten sich im Kreis um ein überschaubares Feuer, und sie berieten, was sie nun tun sollten. Sie konnten nicht Tagelang in der Finsternis des Berges hausen. Sebastian ermutigte sie, hinauszugehen, und sich den neuen Herausforderungen zu stellen, die ihnen die Götter mit dem großen, reinigenden Wasser beschert hatten. Antarona bewunderte ihren Ba - shtie dafür, wie er den Jo-lie die katastrophale Situation als eine von den Göttern auferlegte Prüfung verkaufte.
Es entbrannte keine große Diskussion. Nur hier und dort wurde eine Frage gestellt, die Basti zur Zufriedenheit aller beantwortete. Die Jo-lie vertrauten ihm. Sie gaben sich ihm in die Hände, denn sie waren letztendlich Îval, und nicht gewohnt, ihre Lebensweise selbst zu bestimmen. Stets hatten sie einen Anführer, der für sie dachte. Nun war es Areos, Sebastian Lauknitz, der Mann mit den Zeichen der Götter, der aus dem Reich der Toten zurückgekehrt war.
Sebastian entschied jedoch nichts, das er nicht vorher mit Antarona besprochen hätte. Auf ihr Urteil legte er, gerade in der momentan unsicheren Situation, großen Wert. Sie kannte ihr Land, sie kannte die Îval, und sie besaß die untrügliche Gabe, allein mit Luft und Sonnenschein zu überleben.
Sobald sich alle Jo-lie von den zurückliegenden Strapazen erholt hatten, so kam man überein, sollten sie versuchen, Falméra zu erreichen. Wo die Ortschaften an der Küste zerstört waren, und sie von den Dörfern keine Hilfe erwarten konnten, wollten sie ins Landesinnere ausweichen. Es war kaum anzunehmen, dass der Tsunami seine Zerstörung bis dorthin getragen hatte.
Angesichts dieser Überlegungen schlug Basti vor, noch einen Tag auszuruhen, und am Morgen des darauffolgenden aufzubrechen. Sebastian ließ die Jo-lie darüber abstimmen. Die meisten kannten keine Mitbestimmung, und fanden Bastis Maßnahme befremdlich. Doch schnell akzeptierten sie diese Art, Entscheidungen zu treffen, denn sie fühlten sich wahrgenommen, wertgeschätzt, und hatten das Gefühl, dass ihre Meinung etwas zählte. Mit dem Verfahren, die Hand zu heben, um die eigene, persönliche Meinung kund zu tun, und die Möglichkeit zu haben, Entscheidungen zu beeinflussen, wurde den Jo-lie ein ganz neues Selbstwertgefühl geboren.
Damit hatte Sebastian Lauknitz die Saat für ein elementares Recht eines jeden Menschenwesens gestreut. Er hatte einem absolut autokratischen System die Idee der Demokratie eingeimpft. Er begann, den Menschen in dieser Welt Selbst- und Mitbestimmung zu vermitteln. Und allmählich begriff er, wie ein Umbruch des herrschenden Systems möglich war: Über die Jugend!
Neue Ideen brauchten Entdeckerfreude und eine unbeugsame Aufsässigkeit. Diese Eigenschaft besaßen gerade die Jo-lie, die sich als im gesellschaftlichen Aufbruch befindliche Gruppe des Volkes der Îval von der üblichen Lebensweise abgewandt hatten, um, wenn auch nur für eine bestimmte Zeit, eine neue Freiheit und Freizügigkeit zu erfahren. Nun wurde ihnen von Basti als Areos ganz allmählich aufgezeigt, dass ein freies Leben auf der Grundlage von Mitbestimmung auch als gesamtes Volk möglich war.
Insbesondere Antarona und Basti besaßen den Zugang zu den jungen Menschenwesen der Îval. Diesen Zugang hatten sie sich, zunächst eher unbeabsichtigt, über die Elsirentänze verschafft, mit deren Revolutionierung sie der Jugend ein neues Freiheitsgefühl vermittelt hatten. Dass in den neu gestalteten Tanzweisen eine Kampftechnik verborgen lag, die den Îval so unbewusst vermittelt wurde, war ein brauchbarer Nebeneffekt.
Die Verbindung des neuen, des freiheitlichen und freizügigen Lebensstils mit Sonnenherz und Areos, die dieses Gefühl in den Herzen der jungen Îval und Jo-lie bestärkten, ebnete Basti den Weg, um den Menschenwesen in dieser Welt die wertvolle Demokratie zu bringen, die er in seiner eigenen Welt stets eher unbeachtet, am Rande, und als allgegenwärtiges Selbstverständnis wahrgenommen hatte.
Basti und Antarona gingen noch einmal jedes Lager ab, bevor sie sich selbst in ihre Ecke zurückzogen. Die meisten besaßen nichts mehr, womit sie sich hätten bedecken können. Es war nicht gerade kalt in der Höhle, aber jemand, der sich nicht bewegte, fror dennoch nach einiger Zeit. Die Mitglieder von Clans oder Gruppen rückten hauteng zueinander, um sich zu wärmen. Die allein, oder nur zu zweit waren, versuchten so nahe an die Feuer heranzurücken, wie es eben ging, ohne sich zu versengen.
So verbrachten sie eine unruhige Nacht. Das war jedoch immer noch besser, als draußen Wind und Wetter ausgesetzt zu sein. Früh am Morgen, als ein leichter, kalter Luftzug durch das Höhlensystem zog, und die Feuer beinahe niedergebrannt waren, machten Antarona und Basti sich auf, draußen das Gelände zu erkunden, und vielleicht doch ein Stück Wild zu erlegen.
Tiskaja und Isane wollten sie begleiten, und führten ihr erwiesenes Talent als Bogenschützinnen an, als Basti ablehnen wollte.
»Wir wissen noch nicht, was uns dort draußen erwartet«, gab er zu bedenken, als die beiden nicht locker ließen. »Möglicherweise müssen wir sehr weit über Stock und Stein marschieren, bis wir wissen, auf welcher Fährte wir weiterziehen können.« Und zu Isane gewandt sagte er:
»Allein können wir dich nicht zurück gehen lassen, wenn der Weg zu beschwerlich ist. Die Erkundung ist aber zu wichtig, als dass wir dann alle umkehren, verstehst du das?« Das Mädchen nickte enttäuscht.
»Außerdem«, versuchte Basti die Kleine umzustimmen, »muss jemand auf Feyach und Kengal, sowie auf das Antilopenkitz Acht geben, nicht wahr?« Mit gesenktem Kopf schlich Isane davon.
»Sie wird es überleben«, stellte Basti fest, und sah Ravid und Daffel entgegen, die in diesem Moment auf sie zukamen. Ravid grinste freundlich, und meinte wie beiläufig:
»Wir hörten, ihr wollt euch anschauen, wie sich die Welt dort draußen verändert hat.« Halb klang es wie eine Frage, halb wie eine Feststellung. Und Daffel fügte wie eingeübt hinzu:
»Da dachten wir, ihr braucht vielleicht noch ein, oder zwei Krieger, die ganz gut mit dem Schwert umgehen, und euch den Rücken freihalten können, sollte es nötig sein.« Sebastian nickte, und da er befürchtete, dass noch weitere Ungeduldige mitkommen wollte, sagte er laut und weithin hörbar:
»Na dann herzlich willkommen im Aufklärungstrupp. Aber mehr als fünf brauchen wir nun wirklich nicht zu sein!« Flüchtig dachte er an seine erste Begegnung mit Daffel und Ravid zurück. Damals hatten sie eine Vorstellung geboten, die jener eines Komödiantenduos gleichkam. Er hoffte, dass sie durch ihre Aufnahme bei den Windreitern gereift waren, und inzwischen wussten, was sie taten.
Die fünf Freunde nahmen ihre Waffen auf, und verließen die Höhle. Daffel und Ravid trugen noch ihren Waffenrock. Ihre Hemden jedoch konnten sie auch nicht mehr retten. Doch durch die Metall besetzten, ledernen Lamellenröcke werteten sie das Äußerliche der Gruppe etwas auf. So gaben sie nicht ganz das Bild einer steinzeitlichen Jagdgruppe wieder.
Draußen war es früher Morgen. Die Sonne war gerade hochgekommen, und ein Dunst, wie der Rauch nach einer großen Schlacht, lag über dem Land, und färbte das morgendliche Licht mit gelbroten Pastelltönen. Es war fast windstill geworden, und die Sonne spendete eine angenehme Wärme, obwohl sich ihre Strahlen durch den dünnen Nebel kämpfen mussten.
In der Luft lag der übliche Geruch, den man nach ausgiebigem Regen wahrnehmen konnte. Verstärkt roch es aber nach nassem Holz, aufgewühlter Erde und frischem Grün. Die See lag ruhig da. Wie vor dem Unwetter rollten kleine Wellen an den jetzt nur noch schmalen Strand. Das Land hatte seinen Frieden wiedergefunden.
Doch das Bild hatte sich verändert. Nachdem die kleine Gruppe zum Meer hinabgestiegen war, und sich umblickte, mussten sie feststellen, dass der paradiesische Strand, die mit Wald bewachsenen Hänge, und die Sträucher und Büsche, welche die Böschungen säumten, verschwunden waren.
Statt dessen erhoben sich steile Geröllhänge, die in endzeitig monotonem Grau unter dem Nebel lagen. Sie wurden unterbrochen von dunklen Felsklippen, die bis weit in das Meer hineinragten. Kleine Buchten, übersät mit Trümmern und Treibgut reihten sich aneinander, wo sich einst ein breiter, nicht enden wollender Strand mit feinem gelben Sand erstreckte.
Sebastian richtete seinen Blick dorthin, von wo sie gekommen waren. Fast schwarze Klippen, aus den bewaldeten Hängen frisch ausgewaschen, ragten bedrohlich empor, und fielen in die sanften Wogen ab, die das Meer an diesem Morgen gen Land sandte. Der Rückweg war ihnen verwehrt. Über diese bizarren, scharfen Felsen vermochte niemand zu klettern.
In der anderen Richtung, in die sie unterwegs gewesen waren, lag irgendwo die Flussmündung mit der alten Jaen-tè, nun verdeckt von steilen Schutthängen und Felsfluchten. Alles was Erde und Sand, was fruchtbarer, üppig bewachsener Boden gewesen war, in Jahrhunderten, oder Jahrtausenden abgelagert, zermahlen, bereit für das Leben, war wie von einer riesigen Hand fortgewischt worden. Die Natur hatte beschlossen, in diesem Teil der Welt neu zu beginnen.
Antaronas Intuition führte sie zunächst zu dem schmalen Streifen neu entstandenen Strandes, gerade mal zwei bis drei Meter breit, der sich an der Wasserlinie bis zum ersten Hindernis, einem scharfzackigen Felspfeiler hinzog. Ebbe und Flut hatten das Treibgut über diese drei Meter hinweg auf das Land geworfen. Teilweise türmten sich Baumstämme und ausgerissenes, zerfetztes Buschwerk Meter hoch an den kahlen Hängen.
Zwischen diesen sperrigen Barrieren und dem Wasser begannen sie ihren Erkundungsausflug. Ihre nackten Füße, die noch vor zwei Tagen ihre Zehen in den feinen, warmen Sand gruben, traten nun auf harten, spitzen Steinen herum. Auch im Wasser war das Gehen nicht angenehmer. bereits nach ein par Metern wurde klar, dass sie auf diese Weise nicht weit kommen würden.
Sie rasteten an einem riesigen Felsblock, der sich aus dem Hang über ihnen gelöst hatte, und bis an die Wasserkante gestürzt war, um zu beraten. Basti war nicht ganz wohl dabei. Die Hänge, gerade erst entstanden, frisch aus dem Land gewaschen, waren instabil. Immer wieder konnte ein Hang ins Rutschen geraten, konnte Felsen über seine Flanken poltern lassen, bis sich das lose Material gesetzt hatte.
Auf seinen Rat hin zogen sich die Freunde hinter den Schutz des mächtigen Steins ins Wasser zurück. Kam nun eine Steinlawine von oben herab, wurde sie von dem Koloss gestoppt.
»Das hatte ich freilich nicht bedacht«, gestand Basti, als sie sich gegen den kühlen Felsen lehnten, um ihre Füße zu entlasten, die auf scharfkantigen Steintrümmern im Wasser standen.
»Also hier unten können wir ohne Schuhe unmöglich weitergehen. Über die Trümmer geht es auch nicht, und ebenso wenig über die lockeren Hänge, die jederzeit abrutschen, und uns begraben können. Aber wir müssen hier hindurch, zumindest bis zur Flussmündung, wo die alte Fischerhütte stand. Von dort aus können wir ins Land einwärts vorstoßen, und auf der anderen Seite der Insel bis Falméra wandern.« Die anderen blickten betreten ins seichte Wasser, in dem sie standen, und schienen angestrengt zu versuchen, auf den Grund zu sehen. Basti wusste, dass sein erster Einfall unrealistisch war, sprach aber dennoch weiter, nur, um etwas zu sagen:
»Wir könnten natürlich aus den vielen Baumresten Flöße bauen, und an der Küste entlang fahren.« Die Freunde sahen ihn an, als hätte er vorgeschlagen, bis Falméra zu fliegen.
»Wie viele Flöße wolltet ihr dann bauen, um uns alle nach Falméra zu bringen?« fragte Tiskaja mit einem sarkastischen Unterton. Daffel setzte ihre Frage nicht minder ironisch fort:
»Wenn wir so viele Flöße bauen wollen, werden wir wohl verhungert sein, bis wir endlich einmal in See stechen können, oder?«
Sebastian musste zugeben, dass er ratlos war. Sie konnten sich nicht mit langwierigen Bauprojekten von Flößen beschäftigen, andererseits konnten sie nicht Tagelang barfüßig über die scharfkantigen Steine laufen. Eine alte Küste, deren Sand und Steine durch Jahrhunderte lange Tide geformt und geschliffen war, stellte selbst mit groben Steinen kein Problem dar. Doch sie befanden sich nun an einer Küste, die gerade erst geboren worden war. Alles, worauf sie sich bewegen konnten, war aus dem Felsensockel der Insel Falméra gebrochen.
»Bleibt uns nur, einen Weg durch die Wälder und die Berge zu suchen, also hier schon die Küste zu verlassen, und zu versuchen, den Fluss zu erreichen. Dann können wir am Fluss entlang gehen.« Tiskaja sah Basti zweifelnd an.
»So?« dabei wies sie mit den Händen vorwurfsvoll auf ihren und Antaronas nackten Körper. »Wir Frauen werden zerstochen und zerschunden sein, bevor wir noch den ersten Berg überquert haben!« Antarona indes sagte nichts. Sie schien nachzudenken. Statt dessen meldete sich Ravid zu Wort.
»Ach, das sagt nicht, teuerste Tiskaja. Wenn alle Männer, die ein Schwert tragen können voran gehen, und euch den Pfad ebnen, wird es schon gehen.« Er klopfte mit seiner Hand liebevoll gegen den Griff seines Schwertes, und schien zuversichtlich. Antarona erwachte schließlich aus ihren Gedanken und stellte fest:
»So, wie Ravid und Areos es denken, wird es gehen. Die Jo-lie können nur diesen Weg gehen, wenn sie nicht fliegen wollen, wie die Vögel.« Sie blickte alle der Reihe nach an, bevor sie hinzufügte:
»Außerdem wird das Wild vor dem großen Wasser in die Wälder an den Hängen geflüchtet sein. So mag die eine oder andere Antilope das Ziel unserer Pfeile werden. Die Strände auf dieser Seite von Falméra werden nicht mehr da sein. So ist es gut, von beginn an den Pfad über das Land zu nehmen, und in den Dörfern auf der anderen Seite um Hilfe zu bitten, und über Val Argón zu gehen. Hat das große Wasser auch diese vernichtet, so mag uns der Pfad am großen Fluss entlang nach Val Nieort und weiter nach Falméra Stadt führen.«
Alle nickten bedächtig, und auch Tiskaja wurde rasch klar, dass sie keine großen Alternativen besaßen. Sebastian straffte sich, rieb sich nachdenklich das Kinn, und sagte:
»Dann sollten wir keine Zeit verlieren, und einen Weg über die nächsten Berge suchen, über den wir die Jo-lie führen können. Auch dieser Weg wird zumindest für einen Teil sehr steinig werden. Dafür werden wir aber frisches Wasser haben, um die Wunden unserer Füße zu kühlen.«
Alle blickten die Hänge hinauf, dorthin, von wo sie zum Schutz vor dem Sturm herabgestiegen waren. Abschätzende Blicke maßen die Höhe bis zu den obersten Zinnen, die grau, und von Nebelfetzen umgeben, wie schemenhafte, unnahbare Turmspitzen in den Himmel ragten. Da mussten sie hinauf? Und noch darüber hinweg? Sebastian sah die Zweifel in ihren Blicken.
»Keine Sorge, das geht schon«, machte er ihnen Mut, »Sonnenherz und ich haben bereits viel steilere Felsen vor uns gehabt, und auch dort einen Weg gefunden.« Ravid schien es als einzigem nicht die Sprache verschlagen zu haben:
»Ja, nur habt ihr da keine Armee von unbekleideten Kindern dabei gehabt, oder?« Basti sah ihn böse an. Solche unkonstruktiven Einwände halfen auch nicht weiter. Er wollte aber auch keine neue Diskussion entfachen.
»Mein lieber Ravid«, sprühte sein Sarkasmus, »lasst es uns einfach mal versuchen, ja? Kommen wir da oben nicht weiter, dann will ich euch gern zuhören, wenn ihr einen besseren Vorschlag habt. Bis dahin bin ich schon zufrieden, wenn ihr mir helft, einen Pfad über diese Berge zu finden. Die Jo-lie in den Höhlen bekommen allmählich Hunger, und damit wird selbst ein ebener Weg zur Qual. Oder wisst ihr, wo wir so rasch Essen herbekommen, um die vielen Mäuler zu stopfen?«
Ravid schwieg betreten. Offenbar hatte er inzwischen gelernt, wann es klüger war, den Mund zu halten. Er war genauso ratlos, wie alle in der Runde. Selbst, wenn sie eine Armee zum Fische stechen ans Wasser stellen würden, kamen sie nicht weiter. Sie konnten nicht in den Höhlen hausen, bis es der Natur einfiel, die Strände wieder gangbar zu machen, und ihnen durch Wild schützende Kleindung zu spenden.
»Also versuchen wir es«, verkündete Basti bestimmt, und machte sich bereit, zu gehen. Inzwischen war Antarona nicht untätig geblieben. Sie hatte mit dem Messer Rindenstücke von den Baumstämmen geschält, die überall als Treibgut herumlagen. Dadurch, dass die entwurzelten Bäume regelmäßig vom Meerwasser überspült wurden, und permanent nass waren, ließ sich die Rinde so gut ablösen, dass die Innenseite angenehm glatt, und das Material relativ fest und elastisch geblieben war.
Antarona hatte die Stücke auf die Übergröße der Fußsohlen geschnitten, etwas länger, und sie an einem Ende Handspitzen breit eingeschnitten. An den Einschnitten und am Rand der Stücke hatte sie Löcher durchgestochen, und lange Bastfasern durchgezogen, die sie unter der Rinde vom jeweiligen Baumstamm gelöst hatte. Die Einschnitte hatte sie hochgeklappt, so dass eine Mulde für die Fersen entstand. Anschließend hatte sie die Ränder mit den Bastfasern hochgeschnürt, und über dem Fußspann verknotet.
Sebastian war beeindruckt. Sie hatte aus dem Material, das nach dem Tsunami haufenweise am Strand umher lag, Schuhe gefertigt, die zumindest die Fußsohlen schützten. Stolz präsentierte sie ihre Erfindung, und erntete uneingeschränkte Anerkennung. Tiskaja begann sofort damit, für sich ebenfalls solche Rindenmokkasinn herzustellen. Es ging kinderleicht. In kurzer Zeit schnürte sie die Rinden um ihre Füße fest, und trat zur Probe auf die spitzen Steine. Die neuen Schuhe schienen zu halten.
»Also los jetzt, jeder macht sich ein paar Rindenschuhe, und damit ist die Sache mit den Steinen erledigt«, bestimmte Basti.
»Heißt das, wir gehen doch am schmalen Strand entlang durch das Wasser?« fragte Ravid herausfordernd. Basti sah ihn eindringlich an.
»Nein, heißt es nicht, verehrter Ravid. Es sei denn ihr habt auch einen Vorschlag parat, wie wir die Jo-lie über die nassen, steilen Felswände dort vorn führen sollen. Geschützte Füße verhindern nicht, dass sie von den Felsen fallen und sich in den Klippen den Hals brechen. Aber wenn ihr auch dafür eine Lösung habt...«
Ravid gab sich mit dem Argument zufrieden, und fing an, sich ebenfalls ein Paar Rindensohlen zu fertigen. Antarona beaufsichtigte die Herstellung der Schuhe, und riet allen, zwischen die Löcher in der Rinde und dem Bast ein zusammengelegtes, grünes Blatt einzuklemmen, damit der Bast bei permanenter Bewegung nicht in die Rinde schnitt, und sie zerteilte. Dieses kleine Detail machte den Rindenmokkasin länger belastbar.
Nachdem endlich alle Teilnehmer des kleinen Stoßtrupps die neuen Rindenschuhe an den Füßen trugen, machten sie sich auf den Weg. Vorausschauend hatte Antarona darauf bestanden, dass jeder sich mehrere Rindenstücke an Baststreifen aufgezogen und umgehängt mitnahm. Sollte ein Schuh entzwei gehen, so war es ein Leichtes, ihn gegen einen neuen auszutauschen.
Von Basti und Antarona geführt, zog der kleine Trupp den Berg hinauf. Zunächst folgten sie der Route, die sie zu der Höhle gebracht hatte. Die Sonne hatte den Nebel mittlerweile soweit besiegt, dass sie den Boden mächtig aufheizte. Es dampfte überall, wo sich noch Nässe gehalten hatte. Das Steigen in der zunehmenden Hitze und Luftfeuchtigkeit machte das Atmen schwer.
Außerdem hielten die Rindensandalen in der Praxis nicht das, was sie in der Theorie versprochen hatten. Sobald sie begannen auszutrocknen, wurden sie brüchig, und nach einiger Zeit zerbröselten sie unter der Belastung des Körpergewichts. Die fünf Pfadfinder der Jo-lie legten Antaronas Erfindung nur noch dann an, wenn eine scharfkantige Felspassage zu begehen war. Solange es über Gelände ging, das vom Sturm, oder dem Tsunami nicht in Mitleidenschaft genommen worden war, gingen sie auf nackten Sohlen.
Es war früher Vormittag, als sie von der Stelle auf den Talgrund hinabblickten, wo sie nach dem Tsunami die erste Nacht verbracht hatten. Durch die neu entstandene, von Geröll und nackten Felsen geprägte, enge Schlucht rieselte nun ein dünnes Bächlein. Das Wasser, welches bisher im Humus der bewaldeten Hänge versickert war, und eine üppige Flora ermöglichte, sammelte sich jetzt in ausgewaschenen Rinnen und floss als kleiner Bach ins Meer. Zehn und mehr Jahre würde es dauern, so schätzte Basti, bis der Boden wieder fruchtbar wurde, und Pflanzen ihn neu besiedelt haben würden.
Sie stiegen weiter, und je höher sie gelangten, desto normaler zeigte sich die Vegetation. Unter den obersten Felszinnen zogen sich die grünen Matten dahin, wie eh und je. Das Laufen auf dem kurzen, harten Gras war eine Wohltat gegen den Aufstieg. Auch die einzeln stehenden, kleinen Bäume hatten in dieser Höhe den Sturm überlebt. Offenbar hatten sie den enormen Windstärken nicht genug Angriffsfläche geboten.
Auf der erhöhten Terrasse, auf der die Welt noch in Ordnung schien, machten sie erst einmal Halt. Der Dunst lag unter ihnen, und die Sonne bedachte sie mit unerbittlich stechenden Strahlen. Schlamm als Schutz gegen Sonnenbrand gab es nicht, solange sie nicht einen Hochwald erreichten, und so stellten sie sich auf unangenehme Einflüsse auf ihre Haut ein.
Die Sonne brannte aber so erbarmungslos vom Zenit, dass sie sich bald in den schattigen Schutz der steilen Felswände zurückzogen, um das weitere Vorgehen zu beraten. Sie mussten einen Pass zwischen den scheinbar unendlich aneinander gereihten Felsspitzen finden, der sie in das üppige Grün der im Landesinnern gelegenen Täler führte. Antarona und Basti vermuteten, dass sich auch das Wild dorthin zurückgezogen hatte. Demzufolge brauchten sie nur einen der Wildwechsel zu finden, und ihm zu folgen.
Basti und Antarona rieten dazu, den Hochweiden im Schutz der Felsen Land einwärts zu folgen. Dort, wo die Felszinnen unter der Sonne standen, wollten sie versuchen, einen Übergang ins nächste Tal zu finden. Der Vorschlag wurde von allen akzeptiert, und so wanderten sie anfangs unter sengender Sonne über das hügelige Grasland. Bald aber warfen die hohen Berge ihre Schatten auf die Weiden, und sorgten für ein angenehmeres Klima. Ein leichter Wind, der von See her kam, brachte angenehme Kühlung.
Zwei Stunden später wechselten die hohen Matten in einen steilen, Gras bewachsenen Talkessel, ein Kar, das von langen Rinnen alten Gerölls durchzogen war. Jahrhunderte lang hatten Regen und Sonne, Wind und Frost an den Felszacken über ihnen gewirkt, hatten den Fels gedehnt, Steine abgesprengt, Klüfte aufgetan. Der Schrott, der dabei entstand, wurde der Schwerkraft überlassen, und war in immer den gleichen Bahnen zu Tal gepoltert.
Diese grauen Furchen im grünen Hang strebten hinauf und schienen oben am Felsenkamm zusammenzulaufen. Darüber thronten die Felsen wie gigantische Finger, die in den Himmel griffen. Zwischen zwei der Felsgruppen war ein grüner Sattel eingelagert. Ein sanfter, samtener Einschnitt, knapp darunter eine mächtiger Felsblock und eine kleine Gruppe Nadelbäume.
»Da müssen wir hinauf«, sagte Basti mit dem erregten Ton eines Entdeckers, und wies auf den Pass, der von unten eher schmal aussah. Doch er wusste aus seiner alpinen Erfahrung und anhand der Baumgruppe, dass der begrünte Einschnitt mindestens zweihundert Meter breit war. Bequem genug, um ein ganzes Volk von einem Tal in das nächste zu bringen.
»Was, dort sollen wir mit allen Jo-lie hinauf?« fragte Tiskaja entsetzt. »Die fallen dort hinunter und brechen sich allesamt die Hälse!« Sebastian lachte und beruhigte sie:
»Keine Angst, das sieh von hier unten nur so steil aus. Ist es aber nicht. Wir gehen dort, immer von links nach rechts, und dann wieder zurück, immer in Kehren zwischen den beiden Geröllfurchen hinauf.« Er fuhr mit dem Finger in der Luft die gedachten Linien nach.
»Dann gehen wir dort, wo die eine Furche endet, hinüber zu dem Hang dort, der zu den Bäumen hinaufführt. Und schon sind wir oben. Glaub mir, das ist gar nicht so schlimm. Anstrengend ist nur die Höhe, die wir bewältigen müssen. Aber auch das geht, wenn wir sehr früh aufbrechen, und viele Pausen machen, damit die Jo-lie sich ausruhen können.« Tiskaja sah Basti etwas verwirrt an.
»Aber ich dachte, wir wollten jetzt einen Weg finden und auskundschaften, und nicht erst, wenn wir alle hier heraufkommen?« fragte sie leicht verunsichert. Basti grinste sie an.
»Das werden wir ja auch, jetzt. Wir sind doch schon unterwegs, oder etwa nicht?« Er blickte das Mädchen herausfordernd an, und sie schwieg, denn sie ahnte, dass sie in eine gedankliche Falle getappt war. Basti fuhr fort:
»Wir werden jetzt noch einen Moment rasten, dann gehen wir dort hinauf, und schauen, wie es auf der anderen Seite weitergeht.« Das klang endgültig.
Doch Sebastian wusste, dass nicht alle Jo-lie bergerfahren fahren, und nicht alle die Höhe auf Anhieb vertrugen. Sie mussten in der Nacht aufbrechen, um nur den Weg hinauf zu bewältigen. Sie mussten zum Sonnaufgang an dieser Stelle stehen, wo sie sich gerade befanden. Dann war es möglich. Den ganzen Aufstieg in der Sonne des Tages zu meistern, war nicht möglich.
Dabei wussten sie noch nicht, was sie auf der anderen Seite des Berges erwartete. Es konnte flach, über Wiesen hinabgehen, das Gelände mochte aber auch genauso gut in einer Felswand zur Tiefe hin abfallen. Alles war ungewiss, solange sie nicht oben standen, und sich davon überzeugten.
»Lasst uns weitergehen, wir müssen den ganzen Weg auch wieder zurück, und ich möchte hier nicht im Dunkeln herumtappen«, sagte Basti schließlich, und gab damit das Zeichen zum Aufbruch.
Sie querten als erstes das weit ausgedehnte Geröllkar. Dazu war volle Konzentration erforderlich, denn ein Fehltritt mit den nackten Füßen hätte äußere oder innere Verletzungen zur Folge. Sofort überlegte Basti, wie sie verhindern konnten, dass bereits an dieser Stelle die Hälfte der Jo-lie wegen verstauchten Füßen nicht mehr weiter konnten. Spontan fiel ihm aber keine Lösung ein.
Eine Stunde brauchten sie für das schräge Geröllfeld, dessen Steine teilweise mit Moosen und Flechten überzogen waren. Diese Tatsache erzählte ihm, dass sie zumindest keine Gerölllawine lostreten konnten, denn diese Steine lagen seit vielen Jahren unverändert. Eher zu fürchten hatten sie Trümmer die von oben, aus den Felsen kamen, gerade nach dem verheerenden Unwetter. Deshalb beobachtete er ständig das Terrain über ihnen, und hielt nach verräterischen Staubwolken Ausschau. Doch der Berg blieb friedlich.
Unendlich, so schien es, quälten sie sich hinauf. Immer im Zickzack, in ständigen Serpentinen, die wie schmale Terrassenbänder im Hang vorgegeben waren. Basti und Antarona wussten, dass diese ausgetretenen Spuren von Nu-hu-ruks, also Antilopen, oder den Bison ähnlichen Pò-ná-kas stammten. Frische Trittsiegel bestätigten ihnen, dass der Pass von diesen Tieren als Wildwechsel benutzt wurde. Wann, wie oft, und in welchen Zyklen die Tiere über die Einsattelung wechselten, war indes kaum nachzuvollziehen. Antarona schätzte das Alter des Kots, den sie fanden, auf mindestens drei Tage.
Demnach mussten die Tiere vor dem Tsunami auf die andere Seite gewechselt sein. Das taten sie natürlich nur, weil sie sich dort in Sicherheit wähnten. Für Antarona und Basti ein Zeichen dafür, dass sie sich auf dem richtigen Weg befanden. All dies während des Aufstiegs den anderen zu erklären, um sie anzuspornen, hätte Sinn gemacht, wäre aber zu anstrengend gewesen. Besser sparten sie sich die Kräfte für den immerwährenden, monotonen Anstieg, der kein Ende nehmen wollte.
Den einzigen Fortschritt am Höherkommen maßen sie an dem Tiefblick, den ihnen dieser Aufstieg bot. Sebastian malte sich aus, um wie viel schöner der Ausblick gewesen sein musste, als das Tal unter ihnen noch nicht von einem Tsunami verwüstet war.
Einige Male mussten sie erneut die Geröllrinnen queren, um die Linie zur Einsattelung nicht zu verpassen. Antarona und Basti suchten mühevoll einen trittsicheren Weg über das lose und lockere Gestein, das in dieser Höhe labiler war, als weiter unten. Trotzdem geschah es ein par Mal, dass ein Fuß einige Steine lostrat, die dann sehr deutlich demonstrierten, was geschehen würde, wenn jemand den Halt verlor.
Bald hatten sie diese gefährlichen Passagen hinter sich. Nun ging es nur noch über kurzwüchsiges Gras hinauf. Allerdings war die Neigung des Hanges so steil, dass selbst das zu einer Herausforderung wurde. Da die Îval, insbesondere die Jo-lie, aber gewohnt waren, meist auf nackten Fußsohlen zu laufen, kamen sie damit gut zurecht. In ihrer ureigensten Gewohnheit gruben sie die Zehen beim Gehen soweit es ging in den Boden, um besseren Halt zu bekommen. Beim Abwärtsgehen rammten sie dafür die Ferse in den Boden. Diese Techniken, die sich nur angewöhnt, wer viel barfüßig läuft, gereichte der Gruppe nun zum Vorteil.
Als der Hang flacher zu werden schien, wusste Basti, dass sie sich dem Scheitel des Passes näherten. Der Bewuchs aus niederen Pflanzen, einer Art Krüppelkiefer und Alpenrose nahm zu. Ebenso häufiger lagen riesige, Haus große Felsen herum, die irgendwann der Erosion erlegen, aus den Graten und Wänden gebrochen, und unter donnerndem Getöse auf den Hang gekracht waren. Meist gab es solche Felsstürze nach ausgiebigen Regenfällen, oder nach Frostperioden. Basti blickte forschend hinauf in die himmelhohen Zinnen, und hoffte, dass der Berg sich bereits ausgetobt hatte.
Die flachere Neigung des Hanges motivierte die Gruppe noch einmal für eine letzte Anstrengung, und bald hatten sie die kleine Baumgruppe erreicht, die von unten zu sehen war, die sich nun aber als kleines Wäldchen entpuppte. Sie umrundeten die dicht stehenden Nadelbäume und scheuchten eine kleine Herde Antilopen auf, die sich am Waldrand das karge Gras schmecken ließen. Die Tiere hatten in dieser Höhe nicht mit Menschenwesen gerechnet, und stoben augenblicklich erschrocken davon.
»Und Wild gibt es hier oben auch noch reichlich«, kommentierte Sebastian die Entdeckung der Fauna, anknüpfend an die Diskussion, die sie unten am Hang geführt hatten. Antarona lächelte verschmitzt dazu. Sie kannte ihn, und hatte erwartet, dass er die Zweifel nicht ohne Bemerkung auf sich beruhen lassen würde.
Der Pass, die Einsattelung zwischen hohen Felsbergen, die sie aus der Sicht von unten für beinahe unüberwindbar hielten, bestätigte seine Dramatik nicht. Es war eher ein kleines Hochplateau, das sich zwischen zwei Gipfelgruppen befand, und auf dem eine üppige Vegetation gedieh. Auf dem Scheitel befand sich sogar ein kleines Hochmoor mit einem glasklaren Bergsee, der etwa die Größe eines Kiesteiches hatte.
Als sie den See sahen, gab es kein Halten mehr. Sie ließen fallen, was sie bei sich trugen, und stürzten sich hinein, ungeachtet der Tatsache, dass dieses Gebirgswasser eisig kalt war, kälter noch, als das Wasser in der Höhle. Dabei war es gut möglich, dass es dasselbe Wasser war, denn welche Wege das kühle Nass durch Felsspalten, Risse und Schlünde nahm, blieb den Menschen seit jeher unergründlich.
Nach kurzer Zeit hatten sie sich abgekühlt, hatten sich den Schmutz von der Haut gewaschen, und ihren Durst gelöscht, freilich penibel in umgekehrter Reihenfolge. Nun saßen sie auf den herumliegenden Steinblöcken, die von der Sonne aufgeheizt worden war, und ließen sich vom warmen Wind, welcher über die Passhöhe strich, trocknen. Im Grunde befanden sie sich in einem Paradies, eingelagert zwischen himmelwärts strebenden Felstürmen, versorgt mit allem, was zum kurzfristigen Überleben nötig war.
Es gab Wild, es gab sauberes Wasser, Holz für ein Feuer, und wenn sie ein wenig suchten, dann ließ sich sogar Salpeter finden, um dem Fleisch einen Hauch von Würze angedeihen zu lassen. Das milde Klima Falméras und des warmen Meeresstroms schien Fauna und Flora in dieser Höhe zu begünstigen. Womöglich ließe sich auf diesem Pass sogar eine Siedlung errichten. Dass es machbar war, bewiesen die in großer Höhe angelegten Städte der Inkas.
Ein Dorf, auf diesem Gebirgssattel angelegt, war zu beiden Seiten leicht von einer Handvoll Krieger zu verteidigen. Die steinernen Zinnen links und rechts schützten die Flanken. Wer auf dieser Passhöhe saß, kontrollierte einen großen Teil der Küste zur einen, und das Tal zur anderen Seite.
Das Sitzen in der Sonne machte müde, und Sebastian hegte den ketzerischen Gedanken, einfach an diesem Platz sitzen zu bleiben. Doch sie mussten noch den Abstieg auf der anderen Seite erkunden, und wieder zurück zur Höhle, um den Aufstieg mit den Jo-lie zu organisieren. Also stand er widerwillig nach kurzer Zeit auf, und trieb auch die anderen mit seiner Unruhe hoch.
Die kleine Gruppe marschierte weiter, in dem Glauben, in kurzer Zeit an einer Kante, oder am Beginn eines steil abfallenden Hanges zu stehen. Doch nichts dergleichen geschah. Das Gelände entpuppte sich in ein schmales Hochtal, von etwa eineinhalb Kilometern Breite, und noch nicht abzusehender Länge. Die mächtigen Felstürme über ihnen, von denen sie angenommen hatten, dass sie einen Grat bildeten, wie die Hornplatten auf dem Rücken eines Gor, erwiesen sich als ein kleines, von diesem Tal unterbrochenes Gebirge, das Sebastian stark an die Dolomiten erinnerte, nur viel kleiner und enger in ihrer Ausdehnung.
Die bizarren, hohen Felswände und Grate begleiteten sie links und rechts; teilweise schienen kleine Täler, oder doch zumindest Schluchten in das Felsmassiv zu führen. Unter ihren Füßen breitete sich eine Art Heide aus. Hartes, gelbbraunes Gras, spröde und trocken, wechselte mit Gruppen von Nadelbäumen und weiten Feldern mit niedrig wachsenden Alpenrosen.
Nur dort, wo wieder einmal ein Bergsee auftauchte, wurde das Gras grün und saftig, und war mit den endlosen weißen Tupfern von Wollgras durchsetzt. Nach zwei Stunden, sie hatten etwas drei bis vier Kilometer zurückgelegt, begrenzte ein dichter Wald das Hochtal. Hier standen die Bäume höher von Wuchs, und es wechselten sich Tannen, Kiefern, Arven und Laubbäume ab. Im Wetterschatten der mächtigen Felszinnen, die Sturm und Regen vom Meer her abbremsten, war ein üppiger Misch-Urwald entstanden.
Ein Stück weit drangen sie in den Wald ein, doch bald mussten sie daran denken umzukehren. Die Vegetation wurde immer dichter, je weiter sie sich in den dunklen Wald hinein wagten. Riesige Felsen, mit Moosen und Gräsern überwuchert, zeugten von einstigen Felsstürzen. Uralte, knorrige Bäume mit Stämmen, so dick wie die Turmsockel von Burg Falméra, hatten ihre Schenkel dicken, harten Wurzeln über die Felsen gelegt, und sich für die Ewigkeit festgekrallt. Ein wildes Chaos von Steinen, Wurzeln, Stämmen und Gestrüpp, überwuchert von Farnen und Moosen, im kühlen Halbdunkel unter dem dichten Blätterdach der mächtigen Bäume, die gewiss unzähligen Tieren Schutz boten.
Sebastian staunte über die Wandelbarkeit der Landschaft. Von karger Heide ohne einen Übergang in einen finsteren, subtropischen Regenwald, der sich seinen Lebensraum auf Steinen erobert hatte. Gern hätte er gewusst, was sich hinter diesem dichten Wald befand, doch sie mussten zurück, wollten sie die Höhle noch bei Tageslicht erreichen. Eine kleine Pause nutzte Antarona dazu, ein par Kräuter zu sammeln, die sie entdeckt hatte.
Der Rückmarsch gestaltete sich insofern schwieriger, als es mit nackten Füßen schwerer und schmerzhafter war, bergab zu gehen, als zu steigen. Das Abbremsen auf den Steinen und dem lockeren Geröll wurde zum blutigen Eiertanz. Jeder verletzte sich mindestens an den Zehen, oder an der Ferse. Die Rindensohlen waren nun völlig nutzlos geworden. Der Fuß rutschte einfach aus dem Fasergeflecht heraus, und die Zehen stießen gegen die Steine.
Die meiste Kraft beim Abstieg mussten sie dazu aufwenden, um die Tritte so gezielt zu setzen, dass sich ihre Füße nicht zwischen den Steinblöcken verklemmten. Beinbrüche und Gelenkverstauchungen konnten ein Problem werden, denn die Gesunden mussten die Kranken tragen, oder stützen, wenn sie mit allen Jo-lie zum Hochtal aufbrachen.
Im Dämmern des Tages, die Sonne war bereits über dem Bergkamm, von dem sie gerade herabgestiegen waren, versunken, erreichten sie die Höhle. Der abgeschlagene Trupp mühte sich zum Eingang hinauf. In der ersten Kammer war niemand zu sehen, was Sebastian schon seltsam vorkam. Waren die Jo-lie weitergezogen?
Aber nein, nun hörte er Stimmen. Zunächst klang es, als würde ein ganzer Schwarm Hornissen irgendwo herumsummen. Doch dann waren schrille Schreie und Gebrüll zu hören, in das sich viele weitere Stimmen, wie ein Chor einmischten. Basti meinte erst, die Jo-lie würden singen. Für einen Gesang lag jedoch etwas undefinierbar Bedrohliches in der Luft, eine Spannung, die er nicht erklären konnte, so etwas, wie eine heimliche Verschwörung.
Sie betraten die zweite Halle, und nun hörten sie schon mehr. Jemand rief etwas, und der Chor antwortete mit zustimmendem Gebrüll. Wieder hörte man die einzelne, männliche Stimme lautstark argumentieren. Durch den Widerhall in den felsigen Kammern vermochten die Ankommenden aber nichts zu verstehen. Dann standen sie vor der dritten Halle. Sie mussten die Jo-lie, die am Eingang standen, grob wegdrücken, denn sie standen dicht gedrängt, und blockierten den Zugang.
In der großen Kammer bot sich ihnen ein skurriles Bild, das Basti an einen Hexenprozess aus dem Mittelalter erinnerte. Die Masse der Jo-lie stand in einem großen Halbkreis, Schulter an Schulter, und füllte beinahe den ganzen Raum. Die meisten hielten Fackeln in den Händen, und die Halle war in zuckendes, gelbes Licht getaucht, das den Rauch der Fackeln beleuchtete, und gespenstisch hin und her waberte.
Nachdem sich die fünf einen Weg durch die Masse gebahnt hatten, sahen sie zumindest die Gegner des aufgebrachten Mobs. Mit vorgehaltenen Schwertern, die Höhlenwand im Rücken, schier in die Enge getrieben, standen Frethnal, Vesgarina, Te-itika, Èliza und Fiala, Permina, Femra und Tariz. Dahinter duckten sich die Kinder Isane, Feyach und Kengal. Zu dem Ring der Verteidiger hatten sich noch zwei weitere Mädchen gesellt, die Basti nur vom Sehen her kannte. Zeana und Termiet, wie er später erfahren sollte.
Isane hielt schützend ihr Antilopenkitz im Arm, und blickte ängstlich zwischen der Verteidigungslinie hervor. Basti blickte in die entschlossenen Gesichter seiner Freunde und wusste, dass es eine erbarmungslose Schlacht gegeben hätte, wären sie nicht in diesem Augenblick zurückgekehrt. In vorderster Reihe derer, welche die kleine Gruppe umringten, stand Kadim von Turu, und seine Rolle wurde schnell klar. Er war der Sprecher des Mobs, eine Aufgabe die ihm offensichtlich immer noch gefiel.
Rahan von Prehin stand seitlich, beinahe neutral, und hielt einen Pfeil an der Sehne seines Bogens. Welche Seite er letztlich unterstützt hätte, blieb offen. Sebastian wusste, dass er handeln musste, egal worum es ging. Konnte Kadim erst einmal die Masse der Jo-lie hinter sich vereinen, so würde er auch nicht mehr zögern, auf Antarona und ihn loszugehen. Sebastian Lauknitz, Areos von Falméra musste entschlossen klarstellen, wer das Sagen hatte.
Er nutzte die allgemeine Verwunderung über ihr plötzliches Auftauchen, trat flankiert von Daffel und Ravid seitlich an Kadim heran, und riss ihm in einer schnellen Bewegung die Fackel aus der Hand. Dieser, durch die plötzliche Wendung überrascht, wusste im ersten Moment nicht, was er tun sollte. Diese Sekunden seiner Unsicherheit reichten wiederum Basti, um sich wirkungsvoll in Szene zu setzen.
»Was bei den Göttern ist hier los?« polterte er so laut, dass die Front des Mobs einige Schritte zurückwich. Kadim stand mit einem Mal allein da, sichtlich irritiert, dass er nun ohne Unterstützung Basti und seinen vier Freunden gegenüberstand. Basti setzte nach, ignorierte Kadim völlig, als sei dieser überhaupt nicht wichtig, und fuhr die umstehenden Jo-lie verbal an:
»Kann man euch nicht ein par Zentaren allein lassen? Kaum ist man mal weg, und schon geht alles aus dem Leim, was? Dass ihr euch nicht schämt! Fall übereinander her, wie wild gewordene Robrums. Nicht schon genug, dass wir alles verloren haben, und wollt ihr euch noch entzweien?«
Er machte eine Pause, um seine Worte, die in der Höhle unter einigen Echos wiederhallten, wirken zu lassen. Dann wandte er sich an einen jungen, zufällig neben ihm stehenden Krieger, und ließ Kadim bewusst unbeachtet.
»Du da, was ist hier los? Erklär mir, warum ihr die ganzen Fackeln verschwendet, und diese dort in die Ecke getrieben habt.« Dabei wies Basti auf die kleine Gruppe, die immer noch die Schwerter zur Verteidigung erhoben hatte.
Der Junge druckste herum, wusste offenbar nicht, wie er sich ausdrücken sollte. Da mischte sich Kadim ein, der seine Chance gekommen sah, sich zu profilieren.
»Wir alle haben seit zwei Sonnen nichts gegessen. Wir haben Hunger. Und die da«, er zeigte auf Isane, »die füttert ihr Kitz fett und...« Basti fuhr barsch dazwischen und funkelte Kadim vernichtend an.
»Ich hatte ihn gefragt, nicht euch. Ergreift ihr immer das Wort, wenn ihr nicht gefragt seid? Ist das eure Auffassung von ehrenvollem Verhalten, ja?« Dann wandte er sich sofort wieder dem jungen Krieger zu, als sei Kadim nur ein lauter, dummer Junge.
»Also wie war das mit der kleinen Antilope? Ihr wolltet sie ihr wegnehmen, und schlachten, nicht wahr?« Der Junge nickte betreten und antwortete:
»Ja Herr, wir leiden des Hungers, und sie tut, als sei das Antilopenjunge ihr Eigentum, wo doch die Götter bestimmt haben, dass Wild für alle Menschenwesen da ist.« Die Menge der Jo-lie unterstützte die Ansicht des Jungen mit lautstarken, zustimmenden Rufen, und Kadim grinste frech. Basti drehte sich zu ihnen um, hob die Arme um sich Gehör zu verschaffen, und sagte laut:
»Dieser junge Krieger hat recht. Das Wild steht jedem Îval und jedem Jo-lie zu, und gerade in der Not gilt das Gebot des Teilens untereinander. Doch solltet ihr eines nicht vergessen. Dieses Kitz ist kein Wild.« Erstaunte und empörte Rufe wurden laut, und Kadim rief dazwischen:
»Da hört ihr es ja! Der hält zu ihr, der will sich das Fleisch selbst unter die Arme reißen, und behauptet darum, dass es kein Wild ist!« Bevor sich die Jo-lie wieder laut äußern konnten, schnitt Basti ihm das Wort ab:
»Unterbrecht ihr mich schon wieder, ja? Ist es euch zueigen, andere nicht ausreden zu lassen?« Als Kadim sich ertappt fühlte, hielt er den Mund. Basti fuhr laut fort:
»Wie ihr euch erinnern könnt, brachte ich das Kitz als Beute mit. Es gehört somit mir. Und ich schenkte es Isane. Das konnte ich tun, weil es ja meine Beute war. Das wir vor einigen Sonnen. Nun ist das Kitz kein Wild mehr, oder habt ihr es fortlaufen gesehen? Nein! Es bleibt aus freien Stücken bei Isane, es ist ihr Bruder geworden, wie Kengal. Oder wollt ihr auch ihn schlachten?«
Die Jo-lie murrten zwar noch, weil sie ahnten, dass Areos mit fadenscheinigen Gründen argumentierte, doch er hatte sie so verunsichert, dass sie nicht mehr wagten, sich offen gegen ihn zu stellen. Um sicher zu gehen, dass die Jo-lie friedlich blieben, und auch um Kadim endgültig mundtot zu machen, sprach er laut weiter:
»Was habt ihr denn getan, während ich ausgezogen war, um zu jagen? Ich will es euch sagen. Ihr habt bequem in euren Hütten gelegen, und euch vor dem Regen verkrochen! Hat mir einer von euch geholfen, das Wild zu erlegen? Hat einer von euch versucht, was ich versucht habe? Aber jetzt, da es euch vor Hunger im Bauche zwickt, da wollt ihr teilhaben an der Beute, die sowieso nicht für alle reichen würde.« Er holte langsam Luft und machte ihnen dann klar:
»Ich habe auch Hunger, und Sonnenherz ebenfalls, auch Isane leidet Hunger. Wir alle haben nichts zu essen mehr. Deshalb waren wir fünf einen Sonnenlauf lang ausgezogen, um einen Weg nach Falméra, und um Wild zu finden. Wir haben es für euch alle getan. Einen Tag nur waren wir fort, nur einen Tag. Und was tut ihr? Ihr fallt übereinander her, wie dumme Robrums, streitet euch um ein Kitz, das nicht einmal für zwei Männer gereicht hätte! Ich bin von euch enttäuscht!« Basti ließ seine Worte wirken.
Die Jo-lie schwiegen, und sahen beschämt zu Boden. Basti hatte ihre Ehre ins Spiel gebracht, und hatte sie bloß gestellt. Sie waren sich ihrer eigenen Grundsätze untreu geworden, und sie wussten das. In einem letzten Akt von Widerstand versuchte Kadim noch einmal aufzubegehren.
»Aber was nützt uns das?« rief er dazwischen, »Wir haben immer noch Hunger. Eure Worte mögen beruhigen, doch sie ändern nichts daran, dass wir kein Fleisch und kein Brot mehr haben. Ihr redet und redet, doch...« Basti schnitt ihm mit einer heftigen Armbewegung das Wort ab, und rief:
»Seht, der große Kadim lässt Areos von Falméra noch immer nicht ausreden. Hätte er mich nicht unterbrochen, so wüsstet ihr inzwischen, dass wir einen Weg gefunden haben, und so viel Wild, dass ihr alle satt werdet!«
Nun richteten sich die ersten protestierenden Stimmen gegen Kadim. Einige Rufer aus dem Hintergrund verlangten, dass er verschwinden sollte. Basti hob wieder die Arme, bis Ruhe eingekehrt war.
»Nein«, ermahnte er die Menge, »jeder darf hier seine Meinung kund tun, das ist das Gebot eurer Gemeinschaft. Auch Kadim hat das Recht dazu. Aber nun hört, was ich euch als Kundschafter zu verkünden habe!«
Er wartete, bis alle gespannt auf seinen Bericht warteten, und es in der Höhle so still geworden war, dass man die Wassertropfen hören konnte, die von den Stalaktiten herab fielen. Dann begann er:
»Dort oben, wo die Felsen sind, welche in den Himmel ragen, dort oben gibt es einen Pass. Der Weg dort hinauf ist beschwerlich, doch gemeinsam werden wir es schaffen. Dort oben haben wir einen See gefunden, und frisches, klares Wasser, und Weiden voll mit Wildherden, und sogar einen Wald gibt es da. Wir sind nicht weiter gegangen, doch es ist anzunehmen, dass es auf der anderen Seite hinunter ins Tal geht, und dass wir einen Weg finden, der uns nach Falméra bringt!«
Ein par Sekunden lang schwiegen die Jo-lie. Dann rief jemand Lang lebe Areos, lang lebe Sonnenherz, lang leben die Jo-lie! Wie ein plötzlicher Dammbruch ergossen sich nun die Hochrufe und Freudensausbrüche über die fünf Entdecker. Sie wurden mit neuer Hoffnung, mit neu geborener Euphorie, und mit lautem Gebrüll bejubelt. Kadims aufrührerische Reden, das Kitz, Isane und der Hunger waren vergessen. Alle stürmten auf die Fünf ein, und wollten Genaues wissen, und wann sie aufbrechen würden, um dieses neue Paradies zu erobern.
Wieder hob Basti die Hände, um sprechen zu können. Es dauerte eine Weile, die Jo-lie zur Ruhe zu bringen. Sie waren derart aus dem Häuschen, dass er schon befürchtete, sie könnten auf der Stelle den Hang hinauf laufen. Sie waren nicht gewohnt zur Untätigkeit verdammt zu sein. Sie mochten ein ungeregeltes, bequemes Leben führen, doch ganz ohne Aufgabe, wie Gefangene nur dazusitzen und zu warten, war kaum ihre Natur.
»Wir werden bei Anbruch des neuen Sonnenlaufs losgehen. Ruht euch also noch gut aus, es wird ein beschwerlicher Weg, den wir zu gehen haben. Wir werden den ganzen Tag in der Sonne bergauf gehen müssen. Wasser gibt es nicht, das können wir nur mitnehmen. Trinkt also reichlich, denn das erste frische Wasser gibt es erst, wenn wir oben angekommen sind.« Basti machte eine Pause, und dachte an die Geröllfelder, die sie einige Male queren mussten.
»Wer irgend kann, sollte sich einen Schutz für die Füße machen, denn wir werden über viele Steine gehen«, empfahl Basti den gespannten Zuhörern, »Sonnenherz kann euch zeigen, wie ihr Sohlen aus Rinde und Fasern herstellen könnt.« Dann musste er abermals um Ruhe bitten, bevor er weitersprechen konnte.
»Wer krank oder verletzt ist, und nicht laufen kann, muss getragen werden. Wir werden gleich zu jedem Clan kommen, und sehen, wie viele es sind, und sogleich mit dem Bau von Tragen beginnen. Genügend Holz liegt unten am Strand, wir müssen es nur heraufholen.« Basti blickte in die Runde, und die Jo-lie schienen verstanden zu haben, worum es ging. Abschließend sagte er:
»Also los! Fangen wir an. Je eher wir losziehen können, desto schneller wird es uns allen wieder gut gehen!« Anschließend nahm er seine engsten Freunde beiseite und verteilte die Aufgaben.
»Daffel und Ravid, ihr geht mit Tiskaja und ein par kräftigen Jo-lie hinunter und sammelt geeignetes Holz für den Bau von Tragen.« Die drei nickten zustimmend, warteten aber noch, um weiter zuzuhören. Basti wandte sich nun an Vesgarina, Frethnal und Te-itika.
»Ihr versucht Gefäße zu finden, oder zu machen, um Wasser mitzunehmen. Geht in den hinteren Teil der Höhle, und seht, was von den Dingen noch zu gebrauchen ist, welche die einstigen Bewohner dagelassen haben. Aber achtet mir auf die Zeichen, dass ihr euch nicht verlauft! Am besten lasst ihr an jedem Durchgang zu einem neuen Raum eine Fackel brennen. Ich will nicht noch ausziehen müssen, um euch zu suchen!«
»Èliza, Fiala, Permina, Tariz und Femra, es würde mich freuen, wenn ihr euch darum kümmert, dass alle wenigstens ein Paar Fußsohlen aus Rinde bekommen, und dass beim Aufbruch niemand zurückbleibt. Wollt ihr das machen?«
Die fünf Mädchen versprachen, ihr Bestes zu tun, und Basti merkte, dass sie stolz waren, mit einer so wichtigen Aufgabe betraut zu sein. Als alle sich zerstreut hatten, sagte er leise zu Antarona:
»Komm, mein Engelchen, wir wollen schauen, wie viele von ihnen nicht laufen können. Es werden einige sein, die den Hang nicht von selbst hinaufkommen.« Antarona lächelte müde, nahm Bastis Hand, und zog ihn sanft mit sich.
Sie wanderten von Clan zu Clan, von Gruppe zu Gruppe, und machten sich ein Bild über den Zustand des kleinen Volkes, dessen Anführer sie nun geworden waren. Temrin war als Führer der Jo-lie nicht mehr gefragt. Seit die Autorität Eisilias nicht mehr hinter ihm stand, war er in der Masse der Jo-lie untergetaucht. Sie fanden den jungen Krieger ermattet, und mit zerschundenen Füßen in einer Gruppe, die bereits vor Antaronas und Bastis Ankunft in Mehi-o-ratea einen elitären Status besaß.
Nun waren sie ihrer Macht und ihres Einflusses beraubt, welche ihnen ein exklusiveres Leben als das der anderen gestattet hatte. Dementsprechend abgerissen und phlegmatisch, ja beinahe teilnahmslos, blickten sie Basti und Antarona an. Sebastian stellte sich die Frage, warum sie überhaupt mitgekommen waren. Aber sie waren nun einmal da, und gehörten, wie jeder andere auch, zur Gemeinschaft.
»Ist bei euch alles in Ordnung? Seid ihr bereit, loszugehen?« fragte Basti skeptisch, als er sie tatenlos herumsitzen sah, während alle anderen emsig damit beschäftigt waren, sich auf den schweren Weg vorzubereiten. Temrin zuckte schläfrig mit den Achseln.
»Was sollten wir schon tun?« fragte er antriebslos, »wenn ihr los sagt, Herr, dann gehen wir los.« Basti schüttelte verständnislos den Kopf über so viel passiver Gleichgültigkeit. Er machte eine weit ausholende Armbewegung und schlug vor:
»Nun, wenn ihr selbst bereit seid, so könntet ihr jenen helfen, die sich nicht aus eigener Kraft auf den Weg machen können. Es sind eure Freunde, Temrin, die hier versuchen zu überleben, in dem sie ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen. Wollt ihr ihnen nicht dabei helfen? Seid ihr ohne Eisilia kein Menschenwesen mehr, oder was ist mit euch los? Zeigt den Jo-lie, dass ihr immer noch um sie bemüht seid, und sie werden euch wieder als ihren Anführer akzeptieren!«
»Ja, nach euch!« sagte Temrin resigniert. Basti sah ihn mit scharfem Blick an. Er ahnte, dass Temrins Ideologie aus Alles oder Nichts bestand, und entgegnete:
»Das mag vielleicht sein. Aber denkt erstens mal darüber nach, warum das so ist, und zweitens liegt es bei euch allein, ob es so bleiben muss. Außerdem werden Sonnenherz und ich nicht für immer mit euch ziehen. Versteht mich nicht falsch, wir werden stets mit euch verbunden bleiben, doch wir haben noch andere Aufgaben zu erfüllen. Und es ist ganz eurem Bestreben allein geschuldet, ob ihr dann noch der vertraute zwischen den Jo-lie und uns seid, oder vielleicht ein Kadim, welcher nur den Vorteil seiner selbst im Auge hat. Wollt ihr solchen Männern die Führung der Jo-lie überlassen? Wollt ihr euch eines Tages von Kadims befehlen lassen, was ihr tun dürft, und was nicht?«
Basti sah Temrin eine Weile forschend an. Der blickte wie ein überführter Dieb zu Boden und schwieg. Doch Basti entging nicht, dass es in dem jungen Mann arbeitete. Er zuckte scheinbar gleichgültig mit den Schultern, und bevor er sich umdrehte, und weiterging sagte er:
»Ich an eurer Stelle würde mir ein braves, ehrliches Mädchen suchen, das zu euch steht«, dabei schwenkte er seinen Arm durch die Luft, als wollte er die Frauen in den Gruppen der Jo-lie feil bieten, »und den Jo-lie zeigen, wer wirklich wert ist, sie zu führen. Aber ihr müsst selbst wissen, was ihr tut.«
Dann wandte er sich dem nächsten Clan zu. Temrin musste seinen Weg selbst finden. Würden Basti und seine Freunde ihn bei der Hand nehmen, und ihm die Führung des kleinen Volkes als Hinterlassenschaft in die Hände geben, so würde er nie den nötigen Respekt und die wahre Achtung, und das Vertrauen der Jo-lie haben. So etwas musste man sich durch Taten und richtige Entscheidungen erwerben, sollte es Bestand haben.
Menschen wie Kadim drängten sich überall in dieser Welt in den Vordergrund, und Sebastian hatte erfahren, dass es auch in seiner Welt so gewesen war. Oft genug hatte er jedoch erleben müssen, wie solche Charaktäre ganze Völker ins Unglück gestürzt hatten. Hier, in einer Welt, in der die Menschenwesen gerade erst entdeckten, dass sie selbst über sich entscheiden konnten, in einer Welt, in der die Menschen begannen, sich zum ersten Mal von der Autokratie zu lösen, bestand die Chance, eine bessere, humanere Gesellschaft zu schaffen, die sich Volk nennen durfte.
Basti musste heimlich grinsen. Stets hatte er jene, die mit großem Engagement und Einfluss versucht hatten, Gemeinschaften zu formen, zu lenken, und in eine Richtung zu biegen, verspottet, ja geradezu verachtet. Denn nur allzu groß war jedes mal der Reiz, und allzu oft unterlagen diese Politiker der Versuchung, sich dabei zu bevorteilen, und zu bereichern.
Doch nun musste er sich eingestehen, dass er mittlerweile selbst zu diesen Initiatoren zählte. Er war, wie viele andere vor ihm bestrebt, das objektiv Beste für die Gesellschaft zu erreichen. Je länger er aber darüber nachdachte, desto mehr musste er feststellen, dass diese Objektivität auch nur wieder im Auge des jeweiligen Betrachters lag. Sobald man sich für eine Sache engagierte, wurde sie zur subjektiven Angelegenheit, weil immer welche da waren, die etwas anderes, andere Entscheidungen, für das objektiv Beste hielten.
Plötzlich war Sebastian Lauknitz, der einfache Baustuckateur, der sich nie um Politik gekümmert hatte, ein Politiker. Und während er so in sich hinein grinste, wurde ihm klar, dass man als Menschenwesen zum Politiker wird, sobald man das Bestreben verfolgt, sich für die Interessen seiner Mitmenschen einzusetzen und zu engagieren. Selbst Antarona war im weitesten Sinne eine Politikerin. Jeder Mensch war es, dem sein Schicksal und das seiner Gesellschaft nicht gleichgültig war, und der es in irgend einer Form versuchte, zu ändern.
Politiker wurde man also nicht, wenn man begann, als gewähltes Organ die Interessen von Gesellschaftsgruppen zu vertreten. Nein, man unterlag dieser Begriffsbestimmung bereits, wenn man darüber nachdachte, und im folgenden entsprechend handelte, mit dem Ziel, in einer Gesellschaft etwas zu verändern.
Nun musste Basti auch über den Grund lächeln, warum er zum Politiker geworden war. Die Liebe, und nur die Liebe allein war der Grund gewesen, das Herz des Anstoßes sozusagen. In seinem Fall nicht nur das Bestreben, für sich selbst einen Vorteil zu erzielen. Nein, es war das Bedürfnis, eine bessere, sichere, friedlichere Welt für die Menschen zu erkämpfen, die er liebte. Der treibende Gedanke, die anspornende Kraft war die Angst, diese Menschen durch die Willkür, durch böses Machtstreben anderer Menschen zu verlieren. Das Bedürfnis, diese Menschen zu schützen, entwickelt politisches Engagement.
Die Liebe ist die treibende Kraft des Lebens, und sie verändert das Leben. Sie verändert es stärker und weiter über die Grenzen zweier Menschen, oder einer Familie hinaus, als es den meisten Menschenwesen jemals bewusst werden wird. Aber dort, wo Liebe der Kraftstoff zur Veränderung einer Gesellschaft ist, besteht Hoffnung auf eine bessere, friedlichere Zukunft, auf eine bessere Gesellschaft mit Gerechtigkeit und einem gemeinschaftlichen Denken. Die Liebe ist also der Grundstoff der Politik.
Basti überlegte, wie vielen Menschen, die sich Politiker nannten und nennen, die sich in einer Gesellschaft für bestimmte Werte eingesetzt haben und einsetzen, dies jemals klar geworden war. Wie viele haben überhaupt darüber nachgedacht? Und wie viele handelten letztlich danach, nachdem sie tatsächlich gewählte Vertreter einer Gesellschaft geworden waren? Etwas irritiert schüttelte Basti den Kopf. Das ging nun schon weit in die Philosophie hinein. Es war bereits Philosophie!
»Ba - shtie, was denkt ihr für wirre Dinge?« Antarona riss ihn mit ihrer Frage aus seinen Überlegungen. Sie waren stehen geblieben, und ihm wurde bewusst, dass er in die Flammen einer Fackel starrte, die an der Höhlenwand befestigt war. Er blickte sich um. Sie hatten erst die Hälfte der kleinen Lagerfeuer besucht.
»Ach, das ist sehr schwer zu erklären«, wollte er abwiegeln, »es hat mit Temrin zu tun, und mit dem, was kommen wird, nach der zeit, wo wir Torbuk besiegt haben werden.« Er legte seinen Arm um Antaronas bloße Taille, und zog sie mit sich.
»Komm, zerbrich dir nicht dein schönes Köpfchen über jene Dinge, die noch weit von uns entfernt sind.« Basti wandte sich dem nächsten Clan zu, doch das Krähenmädchen hielt ihn am Arm fest, und sah ihm forschend in die Augen.
»Es ist auch Sonnenherz Leben, Ba - shtie. Also verbergt nicht, was euch berührt, denn es berührt sie gleichermaßen.« Sie wartete einen Moment, versuchte in seine Gedanken einzudringen, und fuhr dann fort.
»Sorgt ihr euch, so will Sonnenherz die Sorge mit euch tragen, seid ihr voll froher Gedanken, so mag auch Sonnenherz sich daran erfreuen. Sonnenherz und Glanzauge sind wie ein Herz, habt ihr schon vergessen?« Sebastian sah sie fast erstaunt an. Sie besaß die Gabe, die Dinge in schonungsloser Ehrlichkeit zu benennen.
Er nahm sie in seine kräftigen Arme, behutsam, zärtlich, in der heimlichen Angst, er könnte ihren zierlichen, nackten Körper zerbrechen, wenn er sie zu fest an sich drückte. Er fühlte ihre warme, samtene Haut auf der seinen, und küsste sie auf die Stirn, vorsichtig, als mussten sie ihre Zuneigung verstecken. Antarona legte ihre Arme um seinen Hals, schloss die Augen, und ihr halb geöffneter Mund lud ihn ein, seine Lippen auf ihre zu pressen.
Für eine kleine Weile vergaßen sie die Jo-lie, die ihnen mit wohlwollender Anteilnahme zusahen. Es gab keinen Neid und keine Missgunst, und somit mussten sie sich vor niemandem verstecken. Ein Volk mit so viel ehrlicher Toleranz war reif für den Wechsel von einer Autokratie zur Demokratie. Das dachte Sebastian, als sie weiter die Clans und Gruppen besuchten, die sich bereit machten, für den beschwerlichen Weg bei Tagesanbruch.
Irgendwann verkrochen sich Antarona und Sebastian in ihre Ecke und versuchten noch etwas zu schlafen. Es wurde eine unruhige Nacht. Immer wieder wachten sie auf, weil der Luftzug, der durch die Höhle ging, sie auskühlte, und sie zu frieren begannen. Dann wärmten sie sich gegenseitig, schliefen wieder ein, bis einer sich bewegte, und die Kälte erneut zwischen sie drang.

Sie waren froh, als endlich der Morgen heraufzog, und die Tätigkeiten zum Aufbruch sie aufwärmten. Basti und Antarona hängten sich ihre Waffen und die kleinen Bündel mit ihrer Habe um, und positionierten sich am Ausgang der Höhle. Sie achteten darauf, dass je ein Verletzter einer Gruppe, oder einem Clan überantwortet wurde, damit niemand vergessen wurde.
Einige Jo-lie hatten die Nacht hindurch an Tragen und Gehhilfen gebastelt. Das kam ihnen nun zugute. Basti würde sich für dieses Engagement noch besonders bedanken müssen. Aber er wusste auch, dass nur solche Taten das Gemeinschaftsgefühl der Jo-lie stärkten. Es war die Verantwortung aller für einen Einzelnen, wie die eines jeden Einzelnen für die Gemeinschaft. Nur so konnte das funktionieren, wohin er die Jo-lie und auch das ganze Volk der Îval führen wollte.
Als endlich alle auf dem kleinen, schmutzigen Strandabschnitt versammelt waren, die der Tsunami übrig gelassen hatte, übernahm Antarona die Führung. Tiskaja, Daffel und Ravid gingen irgendwo in der Mitte, um die Kolonnen zusammenzuhalten. Èliza, Te-itika und Fiala bildeten die Nachhut, und sollten dafür sorgen, dass niemand von der Hauptgruppe getrennt wurde.
So zogen sie den teilweise verwüsteten Hang hinauf, und wer die lange Kette der Aufsteigenden hätte sehen können, beobachtete etwas, das ihn, zumindest in Bastis Welt, an historische Märsche erinnert hätte, wie an die Kolonnen der Goldsucher im Klondike, oder die Alpenüberquerung Hannibals, oder die Wüstenwanderung Moses und seines Israeliten-Volkes.
Anfangs ging alles sehr diszipliniert. Die noch gut zu Fuß waren halfen jenen, die nicht laufen konnten, und die Kräftigsten trugen die Lasten, die Bündel, Waffen, und die wenigen Beutel mit Wasser. Doch bereits als sie den Teil des Anstiegs hinter sich gelassen hatten, der durch Geröll und verschwemmten Boden geprägt war, machten die ersten schlapp. Bevor sie noch den Standort erreicht hatten, wo sie in der Nacht der Katastrophe ausgeharrt hatten, geriet die lange Karawane ins Stocken.
Immer weiter zogen sich die Gruppen auseinander, einzelne blieben sitzen und rieben sich die Füße, eine kleine Gruppe wollte sogar umkehren. Sebastian ließ an einem flachen, mit Gras bewachsenem Hang halten, und ging mit Antarona ein Stück weit zurück. Mit viel Geduld und gutem Zureden musste er all seine Überredungskünste aufbieten, um die Unwilligen, wie die Erschöpften zu bewegen, wenigstens bis an den Fuß der Felswände weiterzugehen. Von dort bis zum großen Kar, dem Kessel aus steilen Geröllhängen, ging es etwas moderater weiter, und teilweise im Schatten der steinernen Wände.
Trotzdem in der Höhe ein leichter Wind über die Berge zog, machte die sommerliche Mittagshitze den Jo-lie reichlich zu schaffen. Das Wasser nahm, wie von Geisterhand verursacht, rasch ab, ohne dass Basti den Grund dafür erkennen konnte. Er hatte angewiesen, das höchste Gut penibel einzuteilen, und vorzugsweise an die Schwächsten auszugeben. Tatsächlich aber bediente sich wohl jeder heimlich an den knappen Vorräten.
Antarona und Basti wurden nicht müde, den Jo-lie immer wieder die unerschöpflichen Mengen an klarem, frischen Wasser vor Augen zu führen, sobald sie dort oben bei den Bäumen angekommen waren. Und hätten die Jo-lie nicht ständig das klare, sichtbare Ziel im Blick gehabt, sie hätten wohl aufgegeben. Geschwächte Körper, Hoffnungs- und Perspektivlosigkeit, Hunger und Durst waren die größten Feinde eines Feldherren. Das musste Basti in diesen Stunden lernen.
Doch mit dem scheinbar greifbaren Ziel vor Augen, ließen sich die jungen Menschen immer wieder neu anspornen und zum Durchhalten bewegen. Am Fuße der himmelwärts strebenden Felstürme und Wände machten sie im Schatten eine längere Rast. Tiskaja, Vesgarina, die Wenderin und Antarona kümmerten sich um die Fußverletzungen, die nun beinahe jeder zu beklagen hatte.
Sebastian erklärte den weiteren Verlauf der Route, und verheimlichte nicht, dass der schwerste Teil des Weges noch vor ihnen lag. Er machte aber deutlich, dass die Schwierigkeiten dort oben, wo die Bäume waren, abrupt endeten, und sie in ein Paradies entlassen würden. Diese Aussicht allein trieb die Jo-lie dazu, überhaupt weiterzugehen.
Die nächsten Stunden zogen sich endlos dahin. Mühsam, Schritt für Schritt, Meter um Meter quälte sich die Kolonne halb nackter Menschen in glühender Gebirgssonne über Geröllfelder und kurzen Grasabschnitten höher. Ein par Mal kippte jemand vor Erschöpfung einfach um, oder trat fehl, und rutschte einige Meter weit in den steilen Hang. Doch außer Hautabschürfungen und anderen oberflächlichen Blessuren waren keine ernsthaften Verletzungen zu beklagen.
Den Mut der Jo-lie, geboren aus purer Verzweiflung, konnte Basti gar nicht hoch genug einschätzen. Kein Mensch würde unter normalen Umständen versuchen, ohne Kleidung, ohne Wasser und Proviant, eine Bergtour starten. Die nackten Füße, die nur feinen Sand, weichen Waldboden, oder feuchtes Wiesengras gewohnt waren, mussten ihre Besitzer nun Stunden lang über raue, spitze, und scharfkantige, lockere Steine tragen. Der Staub trocknete die Haut aus, und die entstehenden Risse in den Fußsohlen schmerzten sehr.
Irgendwann, sie hatten bereits über die Hälfte des Kars hinter sich gebracht, dachte jeder nur noch an das köstliche Wasser, das sie oben erwartete. Wie Tote, die nur noch mechanisch reagierten wankten die Jo-lie hinauf, von den kräftigsten geleitet, damit sie nicht sinnlos in den Geröllfeldern umherirrten. Sebastian sah hier und dort einen Blutfleck auf den Steinen, Zeugnis der zerschundenen Füße seiner Schützlinge. Mittlerweile war er selbst aber viel zu erschöpft, um sich weiter darum zu kümmern. Solange niemand umkippte, oder zusammenbrach, verfiel er selbst in den monotonen Trott, einen Fuß vor den anderen zu setzen, das Denken auf die Bewegung allein zu reduzieren, und den sinnlosen Versuch zu unternehmen, die stechende Sonne zu ignorieren.
Knickten jemandem die Beine ein, so nahm ein anderer wortlos, fast teilnahmslos dessen Bündel auf, zog den Erschöpften an den Händen hoch, und ging weiter. Wie mechanisch in Bewegung gehaltene Tote zogen sie quälend langsam vorwärts, mit feinem, grauem Staub behaftete Gestalten, apathisch in den Bewegungen, stumm auf den Pfad blickend, den ihr Vorangehender mit seinen Füßen vorgab. Eine wankende Prozession, die nur noch einem einzigen Ziel folgte: Wasser!
Der Verstand war abgeschaltet. Das Gehen nur noch rein mechanisch. Die letzte Energie floss ausschließlich in die Beinmuskeln. Einige hatten sich Lederriemen um die Hüfte gebunden, und das andere Ende um die Handgelenke eines dehydrierten, geistlosen Mitglieds der Gruppe, um diesen nicht zu verlieren. Nur noch wenige besaßen die Trittsicherheit, um die Masse zu führen. Selbst Antarona, die sonst leichtfüßig wie eine Antilope über Felsen sprang, schlich wie benommen unter der gnadenlos brennenden Sonne dahin. Immerhin mussten sie, Basti, und die drei Freunde diese Tortour zum zweiten Mal bewältigen.
Dass inzwischen die eine oder andere Wolke über sie hinwegzog, registrierten sie nicht einmal mehr, so sehr waren sie in der Tretmühle des Aufstiegs gefangen. Und es brauchte eine ganze Weile, bis sie begriffen, dass es kurzes, borstiges Gras war, dass ihnen plötzlich in die Risse ihrer Füße stach. Ebenso plötzlich tauchten einige schattige Riesen vor ihnen auf. Die Bäume, die sie von unten gesehen hatten! Sie waren oben! Endlich.
Die Jo-lie schleppten sich noch bis in den Schatten der mächtigen Tannen und Arven, dann überließen sie ihre ausgedörrten Körper der Schwerkraft, und sanken in sich zusammen, wo sie gerade standen. Sie konnten nicht mehr. Mit der Wahrnehmung, das Ziel endlich erreicht zu haben, wich die letzte Kraft aus ihren Gliedern. Schwer atmend lagen sie wie verendende Wesen im Gras, und sahen mit glasigem Blick in den Himmel.
Jene, die noch etwas Kraft besaßen, schleppten sich noch bis zum ersten kleinen Bergsee. Sie ließen sich einfach in das Wasser fallen, und ergaben sich dem Rausch, den das eisige Nass in den überhitzten Körpern auslöste. Antarona, Basti, und einigen anderen gelang es nur mit Mühe, die Jo-lie wieder aus dem Wasser zu ziehen, damit sie keinen Schock bekamen.
Nachdem sie sich kurz erfrischt hatten, nahmen die Kräftigsten was sie fanden, große Blätter, Rindenstücke, ja sogar die eigenen Ra-lis und die bloßen Hände, um den bis zur Besinnungslosigkeit Erschöpften unter den Bäumen das Wasser entgegen zu tragen. Nur langsam erholten sich sie sich von den Strapazen und der Hitze.
Die Jo-lie schlugen ihr erstes Lager am kleinen See auf, der von einem schmalen Bächlein gespeist wurde, dass irgendwo aus den Felsen trat, und irgendwo in einem Riss, oder in einer Kluft wieder verschwand. Mit einer Emsigkeit, geboren aus neuer Hoffnung, suchten sie in der nahen Baumgruppe nach abgefallenen Tannen und Arvenzweigen, steckten diese schräg in den Boden, so dass immer zwei Astarme zueinander zeigten, und mit Fasern zu einem Bogen zusammengebunden werden konnten. Je an den Seiten und in der Mitte banden sie Äste längs zu den Bögen, so dass ein recht stabiles Gestänge entstand.
In dieses Grundgerüst flochten die geschickten Hände Tannen- und Fichtenzweige, und belegten diese wiederum mit Grassoden und Moos. So entstanden kleine, gut einen Meter hohe, und zwei Meter lange Tunnel, die an einem Ende auf gleiche Weise geschlossen wurden. Diese Wohnhöhlen polsterten die Jo-lie mit Zweigen der Nadelbäume und mit Moos aus.
Bald war die Weide am See von den kleinen Erhebungen, die dem Auge in der Landschaft kaum auffielen, regelrecht übersät. Jeweils zwei, höchstens drei Personen fanden in den Schlafhöhlen Platz. Und als Basti eine der fertigen Tunnel ausprobierte, musste er staunen, wie warm es im Innern dieser Konstruktion war.
Die Temperaturen mochten hier auf der Passhöhe durchaus bis auf Null Grad abfallen. Für den Schutz der nackten Leiber in der kühlen Nacht war also gesorgt. Sebastian faszinierte das Geschick der Îval, insbesondere der Jo-lie immer wieder. Innerhalb kürzester Zeit waren sie imstande, aus allen möglichen, verfügbaren Materialien kleine Hütten, oder Unterstände zu bauen.
Ob aus Steinen, Ästen, Schilfrohr, oder einfachen Wurzelhölzern; sie wussten sich in jeder Landschaftsform zu helfen. Diese Fähigkeit war den Menschen in der technisierten Zivilisation in Bastis Welt längst abhanden gekommen. Ebenso die Gabe, mit einfachsten Mitteln zu jagen. Die meisten Menschen aus Sebastians Kulturkreis verhungerten, oder erfroren, wenn sie sich unvorhergesehen in einer Wildnis ohne technische Hilfsmittel ausgesetzt wiederfanden.
Aber nicht die Jo-lie. Von frühester Kindheit an hatten ihre Eltern sie auf das einfache Leben und das Überleben vorbereitet. Ein Mädchen von fünf Jahren half bereits beim Ausweiden und Zerwirken von Beute, oder beim Gerben von Leder und Fellen. Ein Junge gleichen Alters konnte in der Regel mit Pfeil und Bogen umgehen. Einen Dolch besaß jede und jeder Jo-lie noch bevor sie laufen konnten.
Als die ersten Feuer zwischen den winzigen, tunnelartigen Hütten brannten, ließ sich Basti von Antarona zu einer Rundhütte am Rande des neuen Dorfes führen. Ihr neues Zuhause für die nächsten Tage. Tiskaja, Te-itika und die Kinder hatten mit Antarona in Gemeinschaftsarbeit drei Hütten nebeneinander gebaut. Der Krähenclan, so bezeichnete Basti sich und Antarona ab diesem Moment, war nun der inoffiziell festgeschriebene Nachbar des Plon-tà-Clans. Sie bildeten eine kleine Einheit, halfen sich gegenseitig, und saßen am Feuer beisammen, wie eine große Familie.
Vesgarina und Frethnal, die bis dahin treuen Begleiter Bastis und Antaronas, lagerten zusammen mit Daffel und Ravid mit ihren Frauen Èliza und Fiala. Die kleinen grünen Hütten dieser Gruppe lagen aber gleich nebenan. Und so verwunderte es nicht weiter, dass sich die Freunde von Mehi-o-ratea auch im neuen Dorf ein großes Feuer teilten, als die Dunkelheit hereinbrach.
Die Sonne war scheinbar sehr spät untergegangen. Freilich lag diese Einschätzung daran, dass sie sich knapp tausendsechshundert Meter höher befanden, als noch unten am Strand. Wie eine flammende, rote Scheibe war Talris im Meer versunken. Zuvor tauchte das Licht alles ringsum in einen feurigen Schein, der das Land zu verzaubern schien.
Einige Flanken der Berge über ihnen flammten erst in leuchtendem Orange, dann in tiefem Rot auf, bis der Schein auch auf der letzten Zinne verlosch. Der glühende Sonnenball, der ihnen den ganzen Tag mit seiner lastenden Hitze das Atmen schwer gemacht hatte, flüchtete sich nun hinter den Horizont.
Talris ging zur Ruhe und überließ nun die Welt den Geistern und Dämonen, die jene heimsuchten, die an sie glaubten und keinem schützenden Clan angehörten. Allein die Elsiren vermochten des Nachts mit ihrer Anwesenheit alles Böse von den Menschenwesen fern halten. Basti bezweifelte aber, dass sich diese kleinen Leuchtgeschöpfe bis zur Passhöhe hinauf verirrten.
Überall brannten kleine Feuer, die das Auge erst bewusst wahrnahm, als das Licht allmählich dem dunkelblauen Schirm des Himmels wich, und die ersten Sterne zu blinken begannen. Dennoch war es bemerkenswert still im Lager. Die Jo-lie waren offenbar zu erschöpft, um zu tanzen, zu spielen, und herumzuspringen. Ja selbst der Hunger, der in jedem Bauch am Magen nagte, wurde von der Müdigkeit überschattet.
Auch im Clanverbund von Antarona und Areos schien man nur noch darauf zu warten, bis das Lagerfeuer heruntergebrannt war. Mal sagte der eine etwas, mal die andere. Doch die lachenden, durcheinander plappernden Stimmen, und das Hin und Her zwischen den Feuern, wie es Basti in Mehi-o-ratea aufgefallen war, blieben an diesem Abend aus.
Sebastian und Antarona stellten noch rasch einen Jagdtrupp zusammen, der am frühen Morgen losziehen sollte, um für das Dorf die erste Nahrung zu schießen. Dabei wollten sie viele Jäger einsetzen, die das Wild umzingeln, und an den Felsen in die Enge treiben sollten. Praktisch eine Kesseljagd. Die herkömmliche Jagdmethode hätten ihnen bestenfalls drei Antilopen eingebracht, kaum genug für die vielen ausgehungerten Mäuler und brummenden Bäuche, die gefüllt werden wollten.
Aber für den Anfang, primär für die Gründung ihres neuen Dorfes, und für die weitere Wanderung nach Falméra brauchten sie Nahrung und Kleidung. Sie konnten wohl in den Dörfern, die im Innern der Insel lagen, Decken und gewebte Kleidung eintauschen, doch auch hierfür brauchten sie Fleisch, Felle und Leder. Einige Tage würden sie wohl hier oben auf dem Pass bleiben müssen, bis sie ihren Weg fortsetzen konnten.
Außerdem brauchten all jene, die verletzte, verstauchte, und zerschundene Füße hatten, ein par Tage Ruhe, um wieder belastbar zu werden. Mit einer angeschlagenen Armee durch das Land zu ziehen, war wenig ratsam. Also musste zunächst einmal eine groß angelegte Jagd die nötigsten Bedürfnisse stillen.
Mit den Jägerinnen und Jägern anderer Clans wurde für die Zentare vor dem Sonnenaufgang ein großer Felsen ausgemacht, wo sich alle treffen sollten. Von dort würden sie ihre Pirsch auf das Wild starten, das von den Menschenwesen bislang nicht behelligt worden war. Das würde sich am Morgen ändern.
Mit der Hoffnung in den Köpfen, am nächsten Tag wieder satt zu essen zu haben, schliefen die Jo-lie alsbald ein, und nur die sich himmelwärts kräuselnden Rauchfähnchen zeugten davon, dass an diesem Ort die Zivilisation gestrandet war und Fuß gefasst hatte.

Die ersten Vögel begannen ihr zunächst verhaltenes Konzert eineinhalb Stunden vor Sonnenaufgang. Es dauerte lange, bis die Vogelstimmen in Sebastians Bewusstsein vordrangen. Irgendwann setzte sein Gehirn ein, und begann zu arbeiten. Im Halbschlaf dachte er darüber nach, was geschehen war, und wo er sich befand. Es roch nach einer Mischung aus verwelktem Gras, Erde und Tannennadeln.
Dann sickerte die Erinnerung durch, und Basti sah alles bildlich vor seinen geschlossenen Augen, bevor sein Verstand ihm gestattete, sich zu orientieren. Er lag auf die Seite gedreht in der am Abend rasch errichteten Schlafhöhle. Antarona hatte ihren nackten Körper eng an ihn geschmiegt, und er hatte sein Gesicht in ihre langen Haare vergraben, und hatte einen Arme um ihre Taille geschlungen. Seine andere Hand ruhte auf ihren Brüsten, und spürte ihren Herzschlag, einen Rhythmus, der ihn zutiefst entspannte und beruhigte. Er hielt sie fest, als wollte er verhindern, dass sie ihm in der Nacht davonlief.
Ihm wurde bewusst, wie angenehm warm die kleine Erdhütte war. Das einzige, das ihn störte, war der Geruch. Langsam drehte er sein Gesicht, bis er nur noch den Duft von Antaronas Haut wahrnahm. Er spürte ihre Wärme und es erregte ihn, sie so verletzlich und verführerisch an seinem Körper zu spüren. Er wagte nicht, dieses schöne Gefühl zu stören, obwohl es ihn danach verlangte, sie sanft zu streicheln.
Sebastian genoss die enge Nähe Antaronas und ließ seine Augen geschlossen, als könnte er damit verhindern, wieder in das kalte, unbequeme Leben hinaus zu müssen. Aber er lauschte nach draußen. War irgendetwas außer den Vögeln zu hören? Er wusste, dass sie mit den anderen Jägern ausgemacht hatten, sich vor dem Sonnenlauf am großen Felsen zur Jagd zu treffen. Aber solange die anderen nicht wach waren, warum sollte er sich dann hinaus in die kalte Morgenluft begeben?
Statt dessen zog er den warmen Körper seines Krähenmädchens noch enger an sich und fühlte ihre Rundungen und jede Faser ihres Körpers. Er fühlte sich wie zerschlagen, und so müde, wie schon lange nicht mehr. Aber da war noch etwas anderes, eine treibende Kraft, ein Drang, wie eine süße Herausforderung, die verhinderte, dass er wieder einschlief, obwohl sein Körper immer noch Tribut forderte, für die Anstrengungen des vorangegangenen Tages.
Hin und her gerissen zwischen dem Wunsch zu weiterzuschlafen, und der Begierde, Antarona zu fühlen, ließ er sich in einen schönen Traum entführen, der nicht bloße Phantasie und nicht nur wirklich schien.
»Ba - shtie, Sonnenherz wünscht sich, dass ihr sie immer so weckt, jeden Sonnenlauf, solange ihr lebt.« Sie hauchte es außer Atem in sein Ohr, und Sebastian empfand sein Krähenmädchen nie süßer, als in diesem Augenblick. Er war versucht, sich mit ihr wieder in das Polster aus getrocknetem Gras zu kuscheln. Doch ein neuer Tag wartete auf sie, und mit ihm die leeren Mägen ihres kleinen Volkes.
Antarona war die treibende Kraft, die ihn daran erinnerte, dass sie eine Verabredung mit den Jägern hatten. Sie schlüpfte aus ihrem gemeinsamen, winzigen Erdhaus, und als Basti ihr nicht sofort folgte, zog sie ihn an den Füßen in die kalte Morgenluft. Dabei ließ sie ihr Lachen übermütig und kehlig durch die Stille schallen.
»Bist du närrisch, was tust du da?« fragte er entsetzt, als er so unerwartet aus dem muffigen, warmen Stall an die Kälte befördert wurde. Das Krähenmädchen lachte nur um so ausgelassener. Die neue Situation, in der die Jo-lie sich nun befanden, machte auch sie um Vieles unbeschwerter.
»Ihr seid ein müder, fauler Mann, Ba - shtie«, neckte sie ihn. Dabei rückte sie aufreizend ihren Ra-li zurecht, nahm ihre Waffen und rannte los, in Richtung des kleinen Sees.
»Müder, fauler..? Na warte, dir werd ich helfen!« Mit einem Satz war er auf den Beinen, schnappte sich Schwert, Bogen und Pfeile, sowie sein Bowiemesser, und hetzte hinter ihr her. Antarona machte am See nicht halt. Im laufen ließ sie ihre Waffen fallen und flog in einem hohen Sprung ins kalte Gebirgswasser. Sebastian wollte ihr erst folgen, zögerte jedoch. Er wusste aus Erfahrung, wie eisig diese Seen waren.
»Kommt doch her, und holt Sonnenherz aus dem Wasser, müder, fauler Mann!« Sie rief es mit zitternder Stimme, was Basti nicht weiter wunderte. Es war sehr kalt, und sie fror. Dennoch forderte sie ihn heraus. Nun trieb sie es eindeutig auf die Spitze. Er musste handeln, wollte er vor den Jo-lie sein Gesicht wahren. Es war durchaus nicht ungewöhnlich, oder unmoralisch, wenn eine Frau einen Mann provozierte. Es war sogar alltäglich und galt als Spaß. Doch reagierte der Mann gar nicht, oder nur zurückhaltend, so galt er als Weichling, und konnte schnell die Achtung der Gemeinschaft verlieren.
Basti musste damit rechnen, dass sie von anderen Jo-lie beobachtet wurden. Also musste er die kleine Hexe aus dem Wasser holen, bevor sie ihn noch weiter verspotten konnten, und er im Ansehen der Jo-lie sank. Beherzt hechtete er in den See, und war selbst erstaunt, wie er einem Fisch gleich durch das Wasser auf Antarona zu schoss. Er umklammerte ihre Taille mit den Armen, und versuchte im flachen Gewässer aufzustehen. Doch das Krähenmädchen strampelte so heftig mit den Beinen, dass sie beide in den See zurückfielen.
Ohne das zappelnde Wesen in seiner Armklammer loszulassen, stemmte er sich wieder hoch. Er brauchte eine Weile, um sich zu orientieren, und als das Wasser aus einen Augen gelaufen war, sah er die kleine Jagdgesellschaft den See umstehen.
»Soso, die beiden Verliebten amüsieren sich im Wasser. Ich dachte, wir wollten so früh wie möglich zur Jagd aufbrechen?« spöttelte Tiskaja. Sie stand im Kreis der Jägerinnen und Jäger, hatte die Arme vor der Brust verschränkt, und ließ Pfeile und Bogen wie einen drohenden Finger aus ihrer Armbeuge herausragen.
Antarona und Basti saßen im See wie auf einem Präsentierteller. Basti warf das leichte Krähenmädchen über seine Schulter und watete aus dem Wasser.
»Ein frisches Bad vor der Jagd, so wittert das Wild unseren Geruch nicht so rasch«, kommentierte er sein Verhalten bierernst, und setzte Antarona sanft auf die Füße. Tatsächlich wusste er nicht, ob ein Bad tatsächlich menschliche Düfte neutralisierte. Er hatte es nur gesagt, um etwas zu sagen, um seine Überlegenheit zu demonstrieren, und natürlich, um eine Ausrede zu haben.
Die Jägerinnen und Jäger sahen sich links und rechts erstaunt an, tuschelten miteinander und einige nickten wie zur Bestätigung. Dann geschah etwas, das Basti nicht vermutet hatte. Alle um den See herum Versammelten, einschließlich Tiskaja, ließen ihre Waffen auf den Boden fallen, wo sie gerade standen, und sprangen hinein. Sie tobten und tollten herum, wuschen sich, und schwammen herum.
Nur ein Gedanke, der Basti spontan eingefallen war, um das übermütige, frühe Bad zu erklären, und die Jo-lie nahmen es als Weisheit, als Verpflichtung es Antarona und ihm gleich zu tun. Basti war bei den Jo-lie zu einer anerkannten Respektsperson geworden. Niemand hinterfragte seine Meinung, seine Aussage. Alle nahmen, was er tat und sagte, uneingeschränkt als Vorbild an.
Als sich endlich alle ausgetobt hatten, war die Sonne schon ein Stück weit über die Felsen gekrochen. Lange Schatten, die sich immer mehr verkürzten, lagen auf der Hochweide zwischen dem See und dem dichten Urwald. Basti hatte ursprünglich vor, das Wild auf diesen Weiden zu überraschen, es zu umgehen, es einzukreisen, und gegen die Felswände zu treiben, wo es nur schwer ausbrechen konnte, und man mehrere Stücke erlegen konnte.
Doch nun pirschten sie sich über die Weide, jeden Baum, jede Mulde, und jeden Felsblock als Deckung ausnutzend, doch Beute war nicht in Sicht. Möglicherweise hatten sie die Antilopen mit ihrem lärmenden Morgenbad vertrieben. Die Tiere mochten überall und wer weiß wo sein. Sie konnten sich in den dichten Wald zurückgezogen haben, ebenso gut aber in die schmalen Seitentäler der Felsberge, die in hohe Grasflanken und Hänge mündeten.
Antarona und Tiskaja versuchten frische Fährten zu entdecken, doch auf dem kargen, festen Boden ließen sich nur wenige Trittsiegel finden. Die meisten Spuren zeigten sich noch an den Ufern der kleinen Seen, die aber oft zwei bis drei Tage alt waren. Wohin das Wild zum Grasen an diesem Morgen gezogen war, blieb zunächst ein Rätsel.
In einem winzigen Arvenwäldchen rasteten sie, um zu beraten. Sie beschlossen sich aufzuteilen, und beide Wildstrategien zu verfolgen. Antarona, Basti, Isane und Tiskaja wollten sich die Seitentäler vornehmen, der Rest ihrer kleinen Jagdgesellschaft wollte sein Glück im Wald versuchen. Sebastian erhoffte sich von dieser Entscheidung die Möglichkeit, die Umgebung zu erkunden.
Bisher wussten sie weder, wo der Wald endete, und was sich im angrenzenden Tal befand, noch, wie viele Seitentäler dieses zerklüftete Felsengebirge besaß, und wie der Gebirgszug gegliedert war. Auf dieser großflächigen Passhöhe konnte ein neues Mehi-o-ratea entstehen. Dazu mussten die Jo-lie wissen, wo das Wild stand, wo Kräuter und essbare Wurzeln zu finden waren, und ob von den Bergen Gefahren in Form von Lawinen oder Felsstürzen zu erwarten waren.
Auch der Wald spielte eine wichtige Rolle. Welche Bäume wuchsen dort? Waren sie geeignet, eines Tages das Material für neue, stabilere, und für den Winter wärmere Hütten zu liefern? Die Bäume auf dem direkten Pass zu fällen, machte wenig Sinn. Denn sie waren eine gute Deckung, und boten an sonnigen, heißen Tagen ausreichend Schatten.
Die Trinkwasserversorgung war ein weiteres Problem, das bedacht werden musste. Gab es in den Bergeinschnitten Quellen, oder ließ sich Wasser über Holzrinnen von möglichen Bächen bis ins Dorf leiten? All dies galt es herauszufinden.
Die Jo-lie würden zunächst mit Sonnenherz und Areos gegen Torbuk ziehen. Doch eines Tages würden sie zurückkehren, entweder in ihr altes Dorf, oder auf diesen Pass, der zur Besiedelung geeignet schien. Es war gut, im Voraus zu wissen, welche Umstände sie bei der Gründung einer neuen Siedlung erwarteten.
Basti, Isane, Tiskaja und Antarona blickten dem kleinen Trupp, der sich auf den Wald zu bewegte, noch eine Weile nach, dann wandten sie sich dem ersten Seitental zu, das vom breiten, flachen Pass abzweigte. Der Einschnitt, ein etwa dreißig Meter breiter Grashang, lag augenscheinlich zwischen zwei mächtigen Felstürmen, die bizarr und zerklüftet aufragten, und hinter denen sich noch höhere Steinzinnen aneinander reihten.
Vereinzelt standen Nadelbäume wie kleine Wächter auf dem Hang, als sollten sie jeden Eindringling abwehren. Der Fels, und das erfasste Bastis geschultes Auge sofort, ähnelte dem des Karwendelgebirges und der Dolomiten. Struktur und Aufbau schienen gleich. Als würden sie in einen dachlosen, riesigen Dom eintreten, streckten sich Felsnadeln, Simse, Karten, Schrofen und Grate links und rechts in den Himmel. Der Grashang wurde schmaler, öffnete sich dann aber flacher in einen weiten Talkessel, der ringsum von hohen, in der Sonne weiß schimmernden Wänden und Zinnen umrahmt wurde.
Der Grund des kleinen Tals war mit dem Gras der Hochweide bedeckt, hier und dort von Felsen bedeckt, die als Bergsturz, oder als einzelne Blöcke aus der umgebenen Felsmauer ausgebrochen, und zu Tal gedonnert waren. Kleine Rinnsale reflektierten in den Steilhängen das Sonnenlicht. Sie speisten den Bach, der aus dem Seitental zum Pass hinabsprühte.
Im Talkessel selbst standen nur ein par vereinzelte Bäume. Den Fuß der steilen Grashänge jedoch säumte ein Kranz von dichtem Nadelwald, vielleicht dreihundert bis vierhundert Meter breit, der nur von Steinschlagrinnen und Lawinenschneisen unterbrochen war. Die Luft im Kessel aus Felszacken und steinernen Wänden war frisch, aber warm. Das enge Tal schien sich bei Sonneneinstrahlung erbarmungslos aufzuheizen, um sich dann in der Nacht durch die Höhe und den Wind von der Seeseite her, wieder bis an die Frostgrenze abzukühlen. Solche klimatischen Bedingungen schafften besondere Lebensräume für besondere Flora und Fauna.
Wie schon früher in dem kleinen, versteckten Tal oberhalb von Högi Balmers Alm, fand Basti Edelweiß mit Handteller großen Blüten, Enzian, wie kleine Trinkbecher, und Vergissmeinnicht, deren Blüten die Ausdehnung eines Einfrankenstückes besaßen. Eine Pflanze, ähnlich des ihm bekannten Fingerhuts, die sich auf den Geröllhalden alter Felsstürze angesiedelt hatte, wuchs so hoch, wie ein kleiner Wald.
In dem Gürtel aus Nadelbäumen, der die Weiden vom Fuß der Felsfluchten trennte, entdeckten sie Heidelbeeren, und weiter oben wilde Brombeeren. Die Früchte waren so groß wie Zieräpfel und schmeckten köstlich süß. Antarona und Tiskaja wollten für die anderen Îval davon mitnehmen, so viel sie tragen konnten. Doch zunächst musste Fleisch beschafft werden.
Sie standen in der Deckung eines großen Felsblocks, und suchten mit angestrengten Blicken die weitläufige Weide, und die weit hinaufziehenden Grashänge ab. Antarona hatte zuvor frische Antilopenlosung gefunden. Also mussten eine kleine Herde, oder doch zumindest einzelne Tiere in der Nähe sein.
»Möglich, dass sie Kitze bei sich haben, und sich vor Tagräubern im Wald verbergen«, gab Sebastian zu bedenken. Antarona drehte langsam den Kopf hin und her, als befürchtete sie, dass eine schnelle Bewegung die kleine Jagdgruppe verraten würde.
»Es ist immer noch die Zeit des Fressens«, antwortete sie leise raunend, »sie fressen, ziehen dann zum Wasser, und suchen die Ruheplätze auf, wenn der Sonnenlauf in der Mitte steht.«
Basti wusste, dass er Antaronas jahrelanger Erfahrung mit der Jagd in den vielen Tälern um das Val Mentiér herum vertrauen konnte. Sie kannte das verhalten der Tiere genau. Und oft genug gelang es ihr, in den Geist der Tiere einzudringen, und in ihren Sinnen zu lesen. Sie wusste, wovon sie sprach.
Dennoch war kein einziges Stück Wild zu sehen. Isane folgte unterdessen einer ganz anderen Spur. Sie hatte im Gebüsch Federn von Khe-tòns, wilden Hühnervögeln, einer Art Birkhuhn, gefunden. Basti hatte sie schon gesehen. Sie waren kleiner, als die Birkhühner seiner Welt, aber größer als Rebhühner. Sie kamen den ihm bekannten Haushühnern in der Größe nahe.
Offenbar jagte Isane diese Vögel nicht zum ersten Mal. Professionell und methodisch ging sie nach einer bestimmten Strategie vor. Bedächtig legte sie einen Pfeil an die sehne ihres Bogens, spannte ihn aber nicht, und hielt Bogen und Pfeil mit einer Hand. Dann nahm sie mit der anderen Hand ein par Steinchen auf, und schlich sich an ein dichtes Gebüsch heran.
Als sie festen Stand hatte, warf sie die Steinchen mit voller Wucht ins Gebüsch, griff nach dem Schaft des Pfeils, und spannte den Bogen. Der Ablauf dieser Bewegungen war fließend und so schnell, dass Bastis Auge ihm kaum folgen konnte, hundertfach geübt und erprobt. Aber erst beim dritten Mal hatte das Mädchen Erfolg.
Die Steinchen flogen in das Strauchwerk, und augenblicklich flatterten drei Hühner daraus hervor. Beinahe gleichzeitig schoss Isanes Pfeil von der Sehne und traf ein Huhn im Flug. Ein Schuss, so sicher und schnell, dass er sogar Antarona staunen ließ. Das kleine Mädchen war eine Akrobatin mit Pfeil und Bogen, und eine große Bereicherung für jede Jagd.
Isane wiederholte ihr Manöver an die zwölf Male, und hatte am Ende acht Hühnervögel an dem Lederriemen baumeln, den sie sich umgehängt hatte. jedenfalls würden sie nicht mit ganz leeren Händen zurückkehren, dachte Basti. Antarona hatte mittlerweile die Fährte der Antilopen wiedergefunden. Ein Stückchen aufgeweichter Boden gab ein deutliches Trittsiegel frei.
»Sie sind in den Wald gezogen«, schloss das Krähenmädchen aus seinen Beobachtungen. Basti triumphierte heimlich, und sagte:
»Also doch! Die haben schon gefressen, und sind in Deckung. So werden wir uns wohl mit Geflügel zufrieden geben müssen.« Er legte Isane eine Hand anerkennend auf die Schulter und lächelte geheimnisvoll. Das Mädchen, stolz auf seine Beute, blickte ihn verschwörerisch an.
»Nein, Ba - shtie«, entgegnete Antarona, »sie fressen noch, glaubt Sonnenherz!« Mit ihren Pfeilen in der Hand beschreib sie einen weiten Bogen über den Waldsaum, und erklärte:
»Sie sind auf der anderen Seite, auf der Weide nahe am Waldrand, der ihnen bei Bedrohung rasch Deckung bieten kann.« Basti sah sie erstaunt an.
»Deckung? Wovor? Wir sind doch hier, und nicht dort oben! Welche Bedrohung also sollten sie fürchten?« Gleichmütig, als wäre es die normalste Sache der Welt, und in Antaronas Welt war es wohl auch die normalste Sache, erklärte sie:
»Vor einem Bro-wan, der großen Felsenkatze.« Basti sah seine Krähenfrau einen Moment lang an, als hätte sie von einem Saurier mit lila Tupfern gesprochen. Dann fragte er vorsichtig mit forschendem Ton:
»Was bitteschön für eine Felsenkatze? Sag mit jetzt nicht, dort oben schleicht etwas herum, von dem ich noch nichts weiß. Was ist das für eine Felsenkatze, die Antilopen gefährlich werden könnte?«
»Eine Felsenkatze eben, ein Bro-wan«, erwiderte Antarona gelassen, »jene, mit den langen Zähnen, welche unter den Kriegern eine begehrte Jagdbeute ist. Ba - shtie, habt ihr wirklich alles vergessen im Reich der Götter? Wer jemals eine Felsenkatze erbeutet hat, trägt ihre langen Fangzähne und Krallen als Zeichen des Mutes.«
Sebastian ließ erst einmal die Worte auf sich wirken, die ihm wie beiläufig erzählten, dass an diesem Ort ein weiteres Furcht einflößendes Geschöpf der Götter herumlief, das nichts anderes im Sinn hatte, als ihn zu umzubringen. Antarona wollte schon auf den Waldrand zulaufen, doch Basti hielt sie am Arm fest.
»Halt, halt, warte mal, einen Augenblick!« Blanke Empörung klang aus seiner Stimme. »Du willst mir damit sagen, dass dort oben so eine Art Säbelzahntiger herumläuft, ja? Ist es das, habe ich dich richtig verstanden?« Antarona drehte sich zu ihm um, und blickte ihn mit der Unschuldsmiene eines Kindes an.
»Von einem Säbelzahntier weiß Sonnenherz nichts, doch der Name passt eher zu einem Bro-wan, ihr habt ihn trefflich gewählt. Doch sorgt euch nicht, es geschieht sehr selten, dass ein Säbelzahntier ein Menschenwesen angreift. Sie sind sehr klug, und wissen, dass Menschenwesen todbringende Waffen tragen.
»Selten, ja?« hinterfragte Basti vorwurfsvoll. »Selten heißt aber niemals nie, oder? Und bitte von welcher Größe des Tieres sprechen wir hier eigentlich? Eine Katze ist so groß, nicht wahr?« Sebastian hielt seine flache Hand waagerecht auf Höhe der Mitte seiner Wade.
»Eine Felsenkatze ist ein wenig größer«, antwortete Antarona vorsichtig, inzwischen gewarnt vor Bastis Schreckensvorstellungen. Sebastian wurde nun auf seine zueigne Art sarkastisch.
»Ach guck mal an, ein wenig größer, ja? Wie viel wenig größer denn, wenn die Frage erlaubt ist? Und was die seltenen Angriffe auf Menschenwesen betrifft, vermute ich mal, dass sich in der Vergangenheit ebenso selten ein Menschenwesen hier hinauf verirrt hat, sehe ich das richtig? Also, wie groß und gefährlich ist das Vieh nun wirklich, von dem du hier sprichst? Ich will das jetzt wissen, bevor wir hier in der Gegend herumschleichen, die offenbar das Revier eines Säbelzahntigers, ich meine eines Bro-wan ist!«
Sebastian hatte schon einmal Bekanntschaft mit einem prähistorischen Geschöpf gemacht, das es eigentlich nicht geben dürfte. Auf eine weitere Überraschung solcher Art konnte er gut verzichten. Wo es jedoch Drachen gab, war auch die Existenz eines urzeitlichen Vertreter des Löwen nicht ganz ausgeschlossen.
Tiskaja war unterdessen mit Isane auf einen Felsen geklettert, um die Senken im Hochtal besser einsehen zu können. Der Wind hatte ihr das Gespräch Bastis und Antaronas zugetragen. Nun kamen die zwei herüber, und Tiskaja bemerkte, wohl auch in der Absicht zu beruhigen:
»Auch Tiskaja hat von den Bro-wan gehört. Die Leute in Falméra sprechen von ihnen, wie von Geistern oder Dämonen. Niemand hat sie gewiss gesehen. Doch ihre Fährten ziehen sich durch die Felsenberge. Ihre Spuren sind breiter und größer, als die der Eishunde.« Sebastian ließ sich leicht beruhigen.
»Wenn das so ist, dann sind diese Tiere wohl sehr scheu, vielleicht auch nur eine Legende. Aber haltet trotzdem die Augen offen, ja?« ermahnte er seine Begleiterinnen. Antarona aber erklärte:
»Sie sind keine Legende, Ba - shtie, denn Sonnenherz hat ihre Fährte gefunden.« Sie sagte das mit einer Sicherheit, die nicht nur Sebastian in Erstaunen versetzte. Auch Tiskaja und Isane rissen überrascht die Augen auf. Basti zog Antarona zu sich heran, und blickte ihr tief in die Augen.
»Was? das sagst du jetzt erst? Wo? Wo hast du ihre Spuren gesehen?« Sie deutete mit dem Kopf dorthin, von wo sie gekommen waren.
»Unten am See, bei unserem Lager. Ihre Fährte ist im weichen Ufersand deutlich zu sehen.« Basti starrte sie an. Freilich, am Morgen vor dem Aufbruch waren alle übermütig ins Wasser gesprungen. Auf Fährten hatte da niemand geachtet. Er wusste aber, dass Antarona kaum etwas entging. Ihre Sinne waren geschärft und geschult, wie kaum andere. Wie sonst hätte sie als Kind und Jugendliche allein in der Wildnis leben können, in der sie stets umherstreifte.
»Das Vieh schleicht des Nachts durch unser Lager? Wann hattest du eigentlich vor, uns das zu sagen?« fragte Basti ein wenig naiv, doch mit einer gehörigen Portion Vorwurf in der Stimme. Das Krähenmädchen blickte ihn herausfordernd, ein wenig schnippisch an, und sagte dann:
»Sonnenherz wollte es für sich behalten, weil Ba - shtie ihre Entdeckung mit zu großer Sorge sehen würde.« Sebastian war außer sich.
»Ja, genau das!« erwiderte er. »Ich sehe das mit großer Sorge, und weißt du auch warum? Darum!« Dabei verzog er das Gesicht, zeigte seine Zähne und hob seine zu Krallen geformten Hände vor ihr hoch. Er ließ ein böses dumpfes Knurren hören, eben wie er gerade meinte, dass ein Säbelzahntiger knurrte.
Doch anstatt seine Geste der Mädchen Phantasie mit Angst füllte, begannen die bei seinem Gehabe erst zu kichern, und als er eine strafende Miene aufsetzte, lauthals zu lachen. Sie steigerten sich so sehr in seine vermeintliche Komik hinein, dass sie sich vor Lachen krümmten, und ihnen die Tränen über die Wangen kullerten.
Sebastian verstand sie nicht mehr. Wie konnte man eine so ernste Bedrohung so lächerlich finden? Er erklärte es sich mit ihrer anderen Mentalität, und ihrem ganz natürlichen, alltäglichen Umgang mit solchen Gefahren. Eine Autopanne war in Bastis Welt bereits eine Katastrophe. Hier war das Töten eines Menschen immer noch ein gewohntes Geschehen. Die Îval lebten ständig in Gefahr. Es war nichts Besonderes. Und Bastis Nachahmung eines gefährlichen Raubtiers fanden sie einfach nur komisch. Wahrscheinlich hatten sie zu oft einem echten Räuber der Wildnis in die Augen geblickt.
»Also haltet die Bogen bereit, wenn wir durch den Wald gehen. Wir suchen die Antilopen, wo Sonnenherz gesagt hat, auf der anderen Seite.«
Sebastian überließ Antarona die Führung, bestimmte selbst nur den Punkt zwischen zwei Felssturzrinnen, an dem sie in den Wald eindrangen. Ein Puma genügte schon als Bedrohung, er musste die Gruppe nicht auch noch der Gefahr eines Steinschlags aussetzen.
Sie fanden sich in einem typischen hochalpinen Nadelwald wieder. Tannen und Arven wuchsen auf steilem Hang, dessen karge Felsstufen über Jahrhunderte durch Moose, Farne und Material der Bäume eine Humusschicht gebildet hatten. Hier und dort lugte noch der graue Fels hervor, insbesondere dort, wo der Wind einen Baum entwurzelt, und den Grund freigelegt hatte. Quer liegende Stämme mit mächtigen Wurzelrädern, an denen noch Erde und Steine hingen, zeugten vom letzten Sturm.
Über glitschige, Moos bewachsene Felsblöcke, unter umgestürzten Baumriesen hindurch, steile, tückische Hänge hinauf, und durch dichten Busch- und Farnwald ging es nur mühsam vorwärts. Die fehlende Kleidung machte sich bemerkbar. Die Mädchen hatten Mühe, ihre empfindlichen Brüste vor Dornen und zurückschlagenden Zweigen zu schützen, und gleichzeitig die Bogen schussbereit zu halten. Die ohnehin schon knappen Ra-li blieben überall hängen, und das dünne Leder zerschleißte rasch, wurde löchrig, und franste in zig Rissen aus.
Nach gefühlt Stunden langem hinaufkämpfen durch den Bergwald, erreichten sie schließlich den jenseitigen Waldrand. Antarona gab mit der Hand das Zeichen, langsam zu gehen, nicht einfach auf die Hangweide hinauszustürmen. Sie pirschte sich voran, bis hin zu zwei mächtigen Bäumen, deren Stämme gute Deckung boten. Zwischen Bein dicken Wurzelarmen hockte sie sich hin, zupfte die spärlichen Reste ihres Ra-li zurecht, und beobachtete den mit kargem Gras bewachsenen Hang, der sich auf ganzer Breite vom Waldrand bis zum Fuß der Felswände ausdehnte.
Oben, wo die schattigen Flühen fußten, strebte der graue Fels in breiten Absätzen, scharfen Graten, in schmalen Bändern, in Rissen, Blöcken und Türmen himmelwärts. Basti fühlte sich sofort in die heimatlichen Dolomiten versetzt. Die Hangwiesen lagen in der flimmernden Vormittagshitze verwaist da. Kein Stück Wild ließ sich sehen. Antarona hatte sich offenbar gründlich verschätzt. Dennoch wartete sie, und gebot den anderen, ebenfalls in Deckung zu bleiben.
Sebastian war das nur recht. Die Sonne brannte erbarmungslos vom Himmel, und das schützende Blätterwerk der Bäume verhinderte, dass er sofort einen Sonnenbrand bekam. Weiter rechts, über dem Fuße der Felswände, wo das Gelände wie zu einem weiteren Pass hinaufzog, kreisten ein par Aasvögel. Dort musste ein Tier verendet sein. Oder doch ein Menschenwesen? Das konnten sie später immer noch feststellen.
Antarona hob plötzlich die Hand, und winkte die anderen heran. Auf der Weide schien sich etwas zu tun. Vorsichtig schlichen Basti, Isane und Tiskaja zu den Bäumen, hinter denen ihre Jagdführerin kauerte. Antarona deutete nach links. Bastis Augen suchten das Grasland ab. Dann sah er es! Eine einzelne Antilope, eine ausgewachsene Kuh, schob sich wachsam aus dem Wald auf die offene Weide hinaus. Sie witterte und lauschte nach allen Seiten, und als sie nichts Verdächtiges und Störendes wahrnahm, begann sie zu äsen.
Die vier Freunde beobachteten das Tier geduldig weiter. Es war unwahrscheinlich, dass ein typisches Herdentier allein auftrat. Und wie zur Bestätigung traten nun drei weitere Tiere mit einem Kitz aus dem Blättergewirr des Waldes. Antarona gebot weiter zu warten. Sie mussten sicher sein, dass alle Tiere den Wald verlassen hatten, bevor sie sich heranpirschen konnten. Nur ein knackender Zweig, nur ein unbedachtes Rascheln in den Sträuchern, oder ein klackendes Steinchen, und schon würden die Beutetiere in den Wald zurückstürmen, und im undurchdringlichen Grün verschwinden.
Als erfolgreiche Jäger hatten sie nur dann eine Chance, wenn sie dem Wild den Weg in das sichere Dickicht abschnitten. Sie mussten warten, bis sich auch das letzte Tier weit auf die Weide gewagt hatte, bevor sie die Herde in einem weiten Bogen durch den Wald umgehen konnten. Sie mussten aus der vermeintlich sicheren Deckung heraus angreifen, und die Herde gegen die Felswände treiben.
Wenn sie sich vorsichtig aus dem Wald heraus anschlichen, und die besten Schützinnen sich links und rechts der Herde positionieren konnten, mochten zwei, oder drei Pfeile ihr Ziel finden, und Beute machen. Der Wind strich längs an den Felsmauern entlang, kam also schräg über den Wald geweht. Also mussten sie sich im spitzen Winkel von rechts anpirschen, seitlich gegen den Luftstrom.
Antarona gab das Zeichen, nachdem hinter dem dreizehnten Tier kein weiteres die Weide betrat, und die Herde sich ruhig und gelassen das karge Gras schmecken ließ. Sie zogen sich in den Wald zurück. Antarona führte sie über drei Felsstufen tiefer, was zu dem Vorteil gereichte, dass die Tiere auf der Weide ein Geräusch der Angreifer kaum noch wahrnehmen konnten.
Schlangengleich wanden sie sich um Büsche und Baumstämme herum, über bemooste Felsen, und halb verrottete, entwurzelte Bäume. Wo sich eine Lücke in den überwachsenen Felsstufen fand, nutzten sie diese, um wieder höher zu gelangen. Antarona musste die Entfernung schätzen, und ihre Erfahrung aus jahrelanger Wildnisschulung kam ihr zugute. Je höher sie stiegen, und desto näher sie wieder dem Waldrand kamen, um so behutsamer mussten sie vorgehen.
Zuletzt schoben sie sich im Zeitlupentempo durch die letzten Büsche, nutzten jeden Felsblock, jede Senke, um sich so wenig wie möglich im Gelände zu präsentieren. Antarona kroch letztlich flach auf dem Bauch vorwärts, um ihre Position zu der Herde festzustellen. Ein stummes Zeichen ihrer Hand nach hinten, gebot den anderen zu warten. Ganz langsam hob sie den Kopf aus dem hohen Gras am Waldrand, bis sie durch die Halme hindurch sehen konnte.
Dann zeigte sie zwei Finger nach hinten, was soviel bedeutete, dass zwei Personen, also die beiden Schützinnen, ihr folgen sollten. Wie zuvor das Krähenmädchen so schoben sich nun Isane und Tiskaja flach auf dem Bauch durch das Dickicht dem Rand des Waldes zu. Für Sebastian dauerte das eine Ewigkeit, und er zweifelte schon daran, dass die kleine Herde so lange in Schussweite blieb.
Dann zeigte Antarona nach links von ihrer Position, und machte eine wedelnde Handbewegung. Basti sollte die Tiere im Wald umgehen, und sie von der anderen Seite her den drei Mädchen zutreiben. Er schlich bis zum ersten Felsabsatz zurück, zwängte sich zwischen großen, bemoosten Felsblöcken hindurch, kletterte über Wurzeln, und biss die Zähne zusammen, als seine nackten Füße auf dem Nadelteppich am Boden sichere Tritte suchten. Dann war er dem Waldrand so nahe, dass er auf die Weide hinaus sehen konnte.
Vorsichtig robbte er auf allen Vieren weiter. Das Schwert und seinen Umhängebeutel ließ er an einem markanten Felsen zurück, und tarnte sich mit Gras, das er mit dünnen, elastischen Zweigen um seine Glieder flocht. Wie die Mädchen es getan hatten, so wand er sich nun mit einem Pfeil an der Sehne seines Bogens vorwärts. Wo die Weide in den Wald überging, stand das Gras kräftig und hoch. Wenn er es geschickt anstellte, konnte es sein Anpirschen bis zum letzten Augenblick verbergen.
Basti wartete auf einen Windstoß, der das Gras bewegte, und schob sich durch die Halme. Ließ der Wind nach, so verhielt er bis zur nächsten Brise. Die kleine Herde durfte durch nichts erschreckt, und seine Anwesenheit durch keine Bewegung verraten werden. Doch er befand sich nun im Luftstrom zu den Tieren. Wenn sie ihn witterten, war die ganze Mühe umsonst.
Mit langsamen Bewegungen rupfte Basti ein par Hände voll Gras und rieb sich damit gründlich ein, besonders an jenen Stellen, die vornehmlich Körpergerüche verströmten. Die Tiere bekamen anstelle von fremden Schweiß, den Geruch von frischem Gras in die Nüstern. Nun schob Basti sich so weit vorwärts, bis er die ersten Tiere durch das wehende Gras erkennen konnte.
Geduldig wartete er einen Augenblick ab, wo der Wind etwas kräftiger durch das hohe Gras strich. Er winkelte ein Bein an, machte sich fertig zum Sprung, spannte den Bogen an, und spannte seine Muskeln. Unter größter Körperbeherrschung drückten ihn seine Beine hoch, hielten das Gleichgewicht, und seine Arme spannten den Bogen durch. Für die kleine Herde musste es so aussehen, als wachse plötzlich ein Bäumchen aus dem Weidegrund. Die Tiere reagierten verunsichert, zögerten zwei Sekunden. Das genügte dem Angreifer. Im gleichen Moment, in dem die Herde auffuhr, und in einem langen Winkel auf den Waldrand zusprang, schnellte Bastis Pfeil von der Sehne...
Antarona, Tiskaja und Isane warteten, verharrten in absoluter Starre, lagen wie versteinert am Boden, die Bogen leicht gespannt, den Schaft des Pfeils an der Sehne, und einen zweiten Pfeil quer im Mund. Beim ersten Laut eines aufstampfenden Hufes würden sie aufspringen, das Ziel kurz anvisieren, und schießen. Wie lange brauchte Areos bloß, um sich den Tieren von der anderen Seite her anzupirschen? Es schien bereits eine Ewigkeit vergangen zu sein. Mit jedem Atemzug, den sie flach ausstießen, setzte die Herde einen Huf weiter auf die freie Weide, weg vom Waldrand. Mit jedem vorwärts bewegten Huf vergrößerte sich die Schussdistanz.
Wenn es Areos nicht gelang, die Tiere in die richtige Richtung zu treiben, war der ganze Tag vertan! Plötzlich schreckte etwas die Herde auf. Ein Tier hob alarmiert den Kopf, und schon stürmten die Antilopen auf die drei im Gras verborgenen Mädchen zu. Alle drei sprangen gleichzeitig auf, spannten die Bogen, zielten und schossen. Wie vorher abgesprochen, visierte Isane ein Tier rechts an, Antarona nahm eines aus der linken Flanke, und Tiskaja zielte auf eines in der Mitte.
Als ein Tier zusammenbrach, und zwei sich überschlugen, drehte die Herde bergauf, in Richtung der Felswände ab. Nur Isane und Antarona, die sich in ihren Fähigkeiten des Bogenschießens kaum unterschieden, gelang ein zweiter Schuss. Antaronas Pfeil fuhr einer Antilope in die Flanke. Die Beute brach zusammen, und blieb liegen. Isanes Pfeil traf ein Tier in den Weichteilen neben der Hinterhand. Die Antilope knickte ein, kämpfte sich wieder hoch, und versuchte halb kriechend, halb laufend, den anderen zu folgen, die sich unter den Felsen zerstreuten.
Das alles hatte nur ein par Sekunden gedauert. Es war schon vorbei. Die drei Mädchen standen schweigend da, regten sich nicht, wie in einem Schock, und versuchten zu begreifen, was geschehen war. Sie sahen sich nur um. Drei Tiere lagen verendet auf der Weide. Ein weiteres lag zuckend im Gras, und wollte von seinem Leid erlöst werden. Dem Tier, das Isane schwer verwundet hatte, blickten sie nach, bis es hinter einer Bodenwelle verschwand. Da kam Sebastian über die Wiese herangestürmt.
»Ich habe eine erwischt, ich habe eine Antilope erlegt, was sagt ihr dazu?« rief er schon von weitem. »Was sagt ihr, ich habe...« Er unterbrach seinen Freudentaumel, als er die drei Mädchen wie starr vor Schreck stehen sah. Dann erfasste er die Situation. Er sah zwei, drei, nein vier Tiere im Gras liegen. Unfassbar! So ein Jagdglück war ein Geschenk der Götter. Und natürlich eine Gabe des Erfolgs der besten Bogenschützinnen! Antarona fasste sich als erste.
»Machen wir uns an die Arbeit«, sagte sie knapp, zog ihren Dolch aus dem Band des Ra-li, und schritt zu dem noch mit dem Tod ringenden Tier. Mit einem raschen Schnitt durch den Hals erlöste sie das Geschöpf ihrer Götter von seinen Leiden. Anschließend griff sie um sich, rupfte ein par Blumen aus dem Grasmeer, und schmückte damit das Haupt ihrer Beute. Dann blickte sie zum Himmel und stimmte einen leisen Gesang an. Basti wusste, dass sie den Göttern für ihre reichliche Gabe dankte, und Mutter Erde um Vergebung dafür bat, dass sie sich an ihrem Reichtum bedienen durfte.
Isane und Tiskaja folgten ihrem Beispiel an je einem anderen Tier. Basti kam sich schlecht, undankbar, und frevelhaft vor. Im Erfolgswahn, dass auch sein Pfeil ein Ziel gefunden hatte, war er einfach losgelaufen, um den Mädchen seinen Erfolg zu berichten. Den Dank an die Natur, und das Wesen, das mit seinem Fleisch den Hunger stillen würde, hatte er vergessen. Das Ritual, das bei den Îval jedem Menschenwesen ins Bewusstsein brachte, dass sie dank der Gaben der Natur überleben konnten, und dem alle Îval wie ganz selbstverständlich folgten, weil sie es seit Generationen in den Herzen trugen, musste Sebastian Lauknitz erst als unabdingbare Wertschätzung lernen.
Er schämte sich dafür, dass er sich so hatte gehen lassen. Der Triumph des Erfolgs überwog für kurze Zeit in seinem Bewusstsein. Durch die Gesten der Mädchen aber wurde ihm klar, dass er ein Leben ausgelöscht hatte, um selbst überleben zu können. Dies gebot den Dank an die Schöpfung.
Nach und nach wurde ihm bewusst, dass er das Erntedankfest, dass er aus seiner Konfirmandenzeit kannte, stets nur als lästiges Kirchengehabe abgetan hatte, das ihn seiner Freizeit beraubte, weil er wieder einen Sonntag mit dem Besuch des Gottesdienstes verschwendet hatte. Nein, er hatte sich nie bei der Schöpfung für Nahrung und Kleidung bedankt. Er hatte alles immer nur als Selbstverständnis hingenommen, was ihm das Leben angenehm gemacht hatte.
Tief bewegt kehrte er zu seinem Beutetier zurück. Nachdem er den Pfeil entfernt, gereinigt und in den Lederschlauch zurückgesteckt hatte, bekränzte er das tote Tier mit Blumen, wie er es bei den Mädchen gesehen hatte. Unter den mächtigen Zinnen der Felsenberge gewann die Zeremonie etwas Sakrales. Basti begann die Gnade der Götter zu spüren, die ihm diese Gabe, dieses Fleisch zum Leben gespendet hatten.
Er nahm das Tier nur aus, ließ es aber in der Decke, da er kein Salz und keine Kräuter bei sich hatte, mit denen er das Fleisch gegen die Eiablage der Insekten hätte schützen können. In dieser Höhe gab es so gut wie keine Schmeißfliegen mehr, und es war lange nicht mehr so warm und feucht, wie im Tal. Dem zufolge konnte er seine Beute getrost mit Balg auf seine Schultern legen, und es zu den Mädchen hinüber tragen.
Die waren mit ihrem Wildpret ebenso verfahren, nur, dass sie das Wild innen mit Salz eingerieben hatten. Ein kleines Beutelchen Salz trug Antarona stets in ihrem Jagdbeutel. Sie reichte ihm das Salz, und Basti versorgte sein Tier in gleicher Weise. Fünf Beutetiere lagen nun gut versorgt im Gras. Basti war erstaunt, als er hörte, dass die Mädchen noch ein weiteres Tier verwundet hatten, das mit der Herde entkommen konnte.
»Es wird nicht weit kommen«, stellte Antarona fest, nachdem sie die Spur des angeschossenen Tieres untersucht hatte. Sie wies mit der Hand über die Weide hinauf zu den Felsen.
»Wir müssen es suchen, Isanes Pfeil steckt in seiner Hinterseite. Es wird unnötig Qualen erleiden, wenn wir es nicht finden. Außerdem wird ein Tier mehr die Bäuche der Jo-lie wohl füllen. Isane mag bei der Beute bleiben, um die gierigen Vögel fernzuhalten.« Damit ging sie der deutlichen Spur nach, die das weidwunde Wild hinterlassen hatte. Basti und Tiskaja folgten ihr, während Isane sich ins Gras neben die Wildstrecke hockte, Pfeil und Bogen bereit in den Händen.
Deutlich war das Blut auf den Grashalmen zu erkennen. Im Abstand von wenigen Metern fanden sich Blutstropfen, oder mit Blut verschmierte Steine. Isanes Pfeil musste eine Schlagader getroffen haben. Das Tier würde irgendwann an dem steten Blutverlust verenden. Es war gut, wenn sie es vorher fanden, bevor die Aasvögel über das Wild herfielen.
Sie durchquerten die Senke, in welcher die Antilope verschwunden war, und stiegen jenseits wieder über den Grashang auf. Die dünne Blutspur wies ihnen untrüglich den Weg. In einer Steinschlagrinne wurde die Spur deutlicher. Das Tier musste sich über die großen Felsblöcke quälen. Dementsprechend höher wurde der Blutverlust. Auf der anderen Seite des schmalen Trümmerfeldes verlor sich die Fährte im spärlichen, kurzen Gras, das immer spröder und gelber wurde.
Antarona ging, den Blick auf den Boden geheftet, hin und her, fand wieder einen Hinweis, ging ein par Meter, um dann erneut nach einer Spur zu suchen. Oft genügten ihr schon ein par umgeknickte Gräser, um zu interpretieren, wer, oder was wie dort entlanggezogen war. Sie stellte fest, dass die Herde unter der Felswand entlanggehetzt war, an einer Lawinenrinne aber wieder zum Wald hin abgedreht war.
»Die verwundete Antilope folgt der Herde, ist aber weit zurückgeblieben«, erklärte sie den anderen. Unverhofft blieb sie stehen, und sah sich verwundert um. Die Fährte hatte aufgehört, als hätte das Beutetier plötzlich Flügel bekommen, und war davongeflogen. Ein größerer Blutfleck zeichnete sich im Gras ab. Das war die letzte Spur.
»Etwas hat die Antilope verletzt, und fortgetragen«, mutmaßte das Krähenmädchen. Basti dachte sofort an einen Gor. Was sonst hätte eine Antilope vom Boden aufheben und verschwinden lassen können, ohne ein Zeichen zu hinterlassen? Doch einen Gor hätten sie in diesem engen Hochtal eigentlich bemerken müssen. Irgendetwas stimmte hier ganz und gar nicht! Antarona ging langsam weiter, zwischen Felsen hindurch, auf die Lawinenrinne zu.
»Sonnenherz, Basti und Tiskaja sollten zurückgehen, und die Beute aufgeben«, sagte sie leise über die Schulter nach hinten. »Was immer es war, das sie uns genommen hat, wir sollten es ihm überlassen.«
Sebastian hörte nur halb hin, wandte seine Schritte einem Hügel zu, der mit einer Vielzahl von Felsblöcken übersät war. Dahinter musste sich noch eine Senke befinden, bevor die Basis der riesigen Felswand begann, die den Hang bis in den Himmel überragte. Er zwängte sich durch die Steinblöcke, und fand an einem eine weitere Blutspur. Aha, also doch kein Geist, der ihnen die Beute streitig machte!
Tatsächlich fiel das Gelände noch einmal in eine schmale Grassenke ab, bevor sich die schattigen Felsen erhoben. Und da lag die Antilope, mitten zwischen einzeln liegenden Felsen, Isanes Pfeil noch im Fell. Basti vermutete, dass sich das Tier vor seinen Verfolgern verstecken wollte. Das zollte es mit dem hohen Blutverlust. Schließlich war es dann verendet. Vorsichtig näherte er sich der Beute, falls das Tier doch noch nicht tot war, und sich nicht doch noch in einem Schreck davon machte. Er war noch drei Schritte von der Antilope entfernt, als er ein seltsames Grollen wahrnahm, beinahe wie ein Knurren.
Erschrocken blickte er sich um, legte sofort einen Pfeil an die Sehne seines Bogens, und kniff gegen die Sonne die Augen zusammen. Wieder dieses warnende Grollen, das von irgendwo seitwärts zu kommen schien. Basti blieb stehen, und lauschte. Das Knurren war über ihm, leise, drohend, unmissverständlich. Halb drehte er sich um und sah zu den Felsblöcken hinauf, durch die er sich gerade hindurchgeschoben hatte. Der Schreck lief ihm eiskalt über den Rücken, ließ ihn in der Bewegung erstarren.
Oben auf einem abgeflachten Felsen stand etwas, das der Teufel persönlich sein musste. Eine Kreatur, größer als ein Eishund. Viel größer! Es schien eine Kreuzung aus einer Hyäne und einem grauen Löwen zu sein, nur, dass ein Löwe gegen dieses Wesen recht klein gewirkt hätte. Basti stand da mit gespanntem Bogen, bereit zum Schuss, der Monsterlöwe stand unbeweglich halb rechts über ihm, bereit zum Sprung. Wie das ausgehen würde, bewegte für die nächsten Sekunden fieberhaft Bastis Gedanken.
Bei der Masse, die dieses Tier auf die Waage bringen musste, hätte er selbst mit einem Treffer keine Chance. Sein Pfeil mochte das Vieh wohl verletzen, jedoch kaum zu töten. Und was gab es Gefährlicheres, als ein verwundetes Raubtier?
Lange Reißzähne ragten aus dem Kiefer des Tieres, was ihm bestätigte, einen prähistorischen Säbelzahntiger vor sich zu haben. Basti schätzte die Größe der Raubkatze auf eineinhalb Sibirische Tiger. Das Fell war beige, fast grau, borstig und struppig. Die Vorderschultern waren wesentlich höher, als die Hinterhand. Das Vieh war es offenbar gewohnt, mit den Zähnen und den krallen der Vorderpfoten anzugreifen. Auf dem Rückgrat der Urzeitkatze, wie auch auf ihren Ohren, standen etwas längere, borstige Haare ab, was dem Tier etwas das Aussehen eines Luchses verlieh. Nur das dieser Vertreter seiner Art wesentlich kleiner war.
Gelbgrüne Augen blitzten Sebastian an, und das drohende Grollen schien aus der Tiefe des Körpers zu kommen. Basti war unschlüssig, was er tun sollte. Ließ ihn das Monster ziehen, wenn er sich rückwärts von der Antilope entfernte? Ging es dem Biest nur um die Beute? Möglicherweise standen Menschenwesen gar nicht auf dem Speiseplan von Säbelzahntigern.
Die große Katze machte einen kaum merklichen Tatzenschritt nach vorn, schob den Oberkörper vor, und duckte sich tiefer auf den Felsen, auf dem sie stand. Ganz klar, sie machte sich fertig zum Sprung. Die Antilope in der Senke gab Basti augenblicklich auf. Er selbst war jetzt das Beutetier. Langsam, ohne eine hastige Bewegung hob er dem überlegenen Urtiger den Bogen entgegen. Er wusste, dass er keine Aussicht auf Erfolg hatte, doch vielleicht half das Glück etwas nach, und sein Pfeil traf eine empfindliche Stelle der Raubkatze.
Er wollte nicht als erster angreifen, doch wenn die Katze sprang, würde er ihr den Pfeil entgegen schießen. Einen zweiten an die Sehne zu legen, dazu würde er nicht mehr kommen. Da hörte er hinter sich eine vertraute Stimme:
»Geht ganz langsam rückwärts, Ba - shtie, und nehmt eine demütige Haltung ein. Macht keine schnelle Bewegung, geht ganz langsam und ruhig, und bei den Göttern, stolpert nicht!«
Antarona! Was machte sie hier? Sie sollte an sich und an ihre gemeinsame Tochter denken! Wenn das Biest vom Felsen sprang, würde es auch sie nicht verschonen!
»Ba - shtie, geht jetzt ganz langsam los! Er will nur die Antilope, lasst sie ihm, die Beute ist den Tod nicht wert. Zeigt ihm, dass ihr ihn achtet, und er wird euch ziehen lassen!«
Dann hörte er Antarona in der alten Sprache der Îval ruhig auf das Tier einreden. Es klang, als würde sie das Tier besingen. der Säbelzahntiger, der nach Sebastians Auffassung ein genetischer Streich der Natur war, entspannte sich etwas, blieb jedoch oben auf dem Felsen in Angriffshaltung stehen.
Basti tat, was Antarona ihm geraten hatte, und zog sich langsam, und in unterwürfiger Haltung dorthin zurück, von wo er gekommen war. Als er Antarona erreicht hatte, blickte er sie an, und stellte erstaunt und besorgt zugleich fest, dass sie ihm ohne Waffen gefolgt war. Sie schien in eine Art Trance verfallen zu sein, und hatte sich offenbar mit den Sinnen der Raubkatze verbunden. Sebastian ging bis in den schmalen Durchgang zwischen den Felsen zurück, und wartete dann auf sein Krähenmädchen.
Nachdem Antarona ihr seltsames Ritual beendet hatte, kehrte sie der Felsenkatze sorglos den Rücken zu, und folgte Basti. Augenblicklich war der scharfzähnige Räuber von dem Felsen verschwunden, als hätte er sich in Luft aufgelöst. Nur Sekunden später sprang das Biest aus der Deckung, schlug seine Zähne in die tote Antilope, und schleifte sie zwischen den Felsen davon. Die Schnelligkeit, mit der sich das Tier bewegte, erzählte Basti, was ihm widerfahren wäre, hätte er es mit einem Pfeil angegriffen.
Nun war ihm klar, warum niemand von der Begegnung mit der Felsenkatze erzählen konnte, warum dieses Tier beinahe ein Mythos war. Kaum einer hatte bisher das Zusammentreffen mit der Raubkatze überlebt. Und jene, die das Biest aus der Entfernung beobachten konnten, waren anscheinend dem sinnvollen Bestreben gefolgt, sich rasch sehr weit zu entfernen.
Allein Antarona war es durch ihre besondere Gabe möglich, sich solchen Wesen zu nähern, ohne sofort von ihren Fängen zerrissen zu werden. Dennoch fühlte Sebastian sich immer noch etwas schwammig im Bauch, als er sich ausmalte, wenn nicht die Antilope, sondern seine Frau von so einem Monster fortgezerrt würde.
Die Suche nach dem letzten Beutestück hatte sich damit erledigt. Antarona und Basti kehrten zu Tiskaja zurück, die an einen Felsen gelehnt wartete. Isanes mütterliche Freundin spürte sofort, dass es etwas Spektakuläres gegeben haben musste. Ihr Blick wechselte neugierig zwischen Basti und Antarona hin und her. Sebastians bitterer Sarkasmus kam der Erklärung des Krähenmädchens zuvor.
»Keine Beute«, stellte er klar, »die Antilope hat der Geist einkassiert, den nie jemand zuvor gesehen hat, und den es nur vielleicht gibt. Es gibt ihn, und wie es ihn gibt! Eure Felsenkatze hat sich das beste Stück gekrallt, mitsamt dem Pfeil. So möchte ich auch mal jagen, einfach anderen die Beute wegschnappen.«
»Ihr hättet sie ihm ja wieder abjagen können, Ba - shtie«, unkte Antarona schnippisch. Doch auch Sonnenherz Kräuter hätten euch dann nicht mehr helfen können.« Tiskaja musste nicht mehr hören. Sie begriff sofort, was vorgefallen war, nickte nur dazu, und sagte abschließend:
»Dann können wir ja gehen, Isane wartet sicher schon voller Ungeduld.« Damit stieß sie sich lässig vom Felsen ab, und ging voran. Sie ahnte, dass Basti und Antarona noch etwas zu klären hatten.
Sebastian und Antarona gingen nebeneinander her, seine Hand suchte die ihre, doch sie redeten nichts, bis Basti die Stille nicht mehr ertrug, und das Schweigen brach.
»Wolltest du mir irgendwann noch genauer erklären, was für ein Riesenvieh da in der Nacht durch unser Lager geschlichen war? Wusstest du, dass so eine Missgeburt hier oben in den Bergen lebt? Im Grunde hättest du uns ja schon vorher warnen können, nicht wahr?« Antarona sah ihrem Mann offen in die Augen.
»Ba - shtie, es hätte keinen Unterschied gemacht. Selbst wenn ihr Wachen aufgestellt hättet. Die Felsenkatze geht wohin sie mag, sie muss die Menschenwesen nicht fürchten. Sie ist nur neugierig, sie verletzt, oder tötet nicht, wenn sie sich nicht angegriffen fühlt, denn sie ist sehr klug. Hättet ihr von dem Bro-wan gewusst, so hättet ihr womöglich falsch gehandelt, und er hätte die Jo-lie angegriffen.«
»Neugierig und sehr klug, ja?« äffte Basti seine Frau nach. Antarona ließ sich von seiner teils gespielten Empörung nicht beirren. Sie kannte ihren Ba - shtie inzwischen wie ihren Kräuterbeutel. In dieser Phase konnte rasch ein Streit entstehen. Darum gab sie nur knapp zurück:
»So klug zumindest, dass er sich die Antilope geschnappt hatte, ohne die Menschenwesen anzugreifen, ohne ihnen zu nahe zu kommen. Ba - shtie, Sonnenherz und Tiskaja waren es, die ihm gefolgt sind. Es tut Sonnenherz leid, dass sie die Gefahr nicht sah, denn sie hätte durch die Fährte am See wissen müssen, dass ein Bro-wan in der Nähe ist. Die Verlockung einer verletzten Antilope war zu groß für ihn.« Forschend sah sie ihn an, ohne dass er es bemerkte.
»Ach nein, du hast ja recht, mein Engelchen«, gab Basti zu, »es ist nicht deine Schuld, ich sollte dir mehr vertrauen. Du kennst das Land und alles was darauf wandelt. Ich hätte mich nicht von euch entfernen sollen. Aber sag mal, woher wusstest du, wo ich war, und dass ich in Gefahr war?«
»Sonnenherz wusste nichts von der Gefahr«, verriet sie ihm bereitwillig, und erleichtert, dass er sich wieder beruhigte.
»Sonnenherz wusste nur, dass der Bro-wan in der Nähe ist, und die Menschenwesen beobachtete, die in sein Reich eingedrungen waren. Sie fand seine Spur an einer sandigen Stelle, und sie fand das Blut der Antilope. Ein Bro-wan geht einer Blutspur niemals aus dem Weg, er folgt ihr!« Sie ließen sich Zeit, und als sie bei Isane ankamen, hatte Tiskaja bereits alles berichtet.
Sie luden sich die Beutetiere auf die Schultern und begannen den Abstieg auf den Grund der Passhöhe. Es wurde eine elende Schinderei, die schweren Körper der Tiere nach unten zu schleppen. Ständig schlug ihnen etwas in den ungeschützten Rücken, oder in die Seite. Mal war es der Kopf der Beute, der im Rhythmus der Schritte hin und her pendelte, mal waren es die Waffen, die sich an den Bändern und Gurten selbstständig zu machen schienen.
»Wenn wir unten sind, warten wir auf die anderen, die können uns beim Tragen helfen«, keuchte Basti, der gleich zwei Tiere tragen musste. »Die haben sicher nicht so viel Glück gehabt, und kommen mit leeren Händen zurück.«
Am schwersten hatte es Isane. Sie hatten dem kleinen Mädchen zwar die leichteste Beute auf den Rücken gebunden, doch sie hatte schon genug damit zu tun, ihren für ihre Größe viel zu langen Bogen und die Pfeiltasche unter Kontrolle zu halten.
Einmal geriet sie ins Stolpern, versuchte noch sich zu halten, und fiel auf die Knie. Sie schlug sich beide Knie auf, die Antarona notdürftig mit Kräuterblättern und Bast verbinden musste. Isane nahm es mit dem Mut der Kriegerin. Sie war aber stolz darauf, ihre Beute nicht auf den Boden fallen gelassen zu haben. Was für Mädchen! Was für starke Frauen der Jo-lie und der Îval!
In Bastis Welt hätte ein Teenager ein totes Tier nicht einmal angefasst. Die Mädchen seiner Zivilisation wussten oft gar nicht woher das Fleisch stammte, das sie kleingehexelt und kurzgeschnippelt n einem Imbiss verzehrten. Jagen, die Beute ausnehmen, zerwirken und aus der Decke schlagen, waren Dinge, die sie schlichtweg als ekelerregend empfanden. Entgegen diesem Gebaren verzehrte die pro Kopf Bevölkerung in seiner Welt verhältnismäßig viel Fleisch.
Es war ja auch so einfach: Man ging in einen Supermarkt; dort lag das Fleisch gut portioniert, bratfertig und in Folie verpackt in den Kühlregalen und Eistruhen. Es war immer da. Niemand musste sich darüber Gedanken machen, welches Fleisch gerade verfügbar war, weil nur eine bestimmte Wildsorte im Revier zu finden war. Niemand machte sich die Mühe in frühen Morgenstunden aus dem Lager zu kriechen, mit Waffen behangen nach Fährten zu suchen, um schließlich dem späteren Genuss aufzulauern, ihn zu erlegen, zu töten, und zu verarbeiten, und ihn möglicherweise noch an einen mächtigeren Fressfeind zu verlieren.
Und gut erinnerte Basti sich an seine Ankunft in Antaronas Welt. Als er von Högi Balmers Alm fortgegangen war, sind es ein par erbärmliche Fische, und anschließend das Krähenmädchen gewesen, die ihn vor dem Verhungern bewahrt haben. Er war in der Wildnis ohne Kühlregal verloren gewesen. Nun musste er darüber lächeln. Durch Antarona, und das Leben in dieser Welt war ihm die Jagd, die tägliche Beschaffung der Nahrung in Fleisch und Blut übergegangen. Er hatte einen bewussteren, respektvolleren Bezug zu Pflanzen und Tieren bekommen, die er verzehrte.
Er wusste: Wer essen wollte, musste töten. Er musste alle die unattraktiven Dinge tun, die dazu gehörten, bis ein Stück Fleisch über dem Feuer briet. Und er hatte durch die Îval eine ganz neue Dankbarkeit für seine Nahrung entwickelt. Er achtete jedes Wesen vor seinem Schöpfer, ob Beutetier, oder gefährliches Wild.
Auf dem Talgrund der Passhöhe warteten sie auf den anderen Jagdtrupp. Sie setzten sich zur Rast in den Schatten eines mächtigen Felsblocks, und streckten die Beine aus. Die Beutetiere hängten sie mit Schnüren aus Fasern in den Felsen. Während Antarona auf die Suche nach jenen Kräutern war, die Insekten vom Fleisch fern hielten, gingen die anderen abwechselnd zum Bach hinüber, um zu trinken.
Wasserbehälter hatten sie noch keine. Die Blasen der Beutetiere würden einmal als gute, haltbare Wasserblasen ihren Nutzen finden. Im Augenblick jedoch musste der Gang zum Wildbach genügen. Antarona kam Freude strahlend zum Rastplatz zurück.
»Die Kräuter wachsen am Waldrand in größerer Zahl und Größe, als unten in den Wäldern«, berichtete sie begeistert. Dann hielt sie Basti einen Stein hin, den sie offenbar gefunden hatte.
»Schaut, Ba - shtie, das hat Sonnenherz dort drüben, bei den schwarzen Felsen gefunden.« Dabei deutete sie zu den gegenüberliegenden Felsen hin, die von der anderen Seite der Berge in Pfeilern und Graten im Passboden fußten. Sebastian staunte nicht schlecht.
»Es sind Steine, wie das Licht des beginnenden Sonnenlaufs«, dokumentierte sie ihren Fund, »doch sie riechen wie Eier, welche alt und faulig sind.« Basti wusste, was sie gefunden hatte. Schwefel! Augenblicklich stand er auf den Beinen.
»Wo genau hast du die gefunden?« wollte er wissen. Antarona, verblüfft, dass ihre Entdeckung so eine Reaktion bei ihrem Mann mit den Zeichen der Götter auslöste, antwortete:
»Dort, wo der Einschnitt zwischen den Felsen ist, Ba - shtie, dort, wo die Steine schwarz und verbrannt sind«, erklärte sie und wies zu der Stelle. Sebastian machte sich sofort auf den Weg, die Stelle zu suchen. Kopfschüttelnd blickte Antarona ihm nach. Männer! Sie fand lebenswichtige Kräuter, doch die interessierten ihn nicht. Aber ein Stein, der nur schön aussah, jedoch dermaßen stank, dass es ihr die Tränen in die Augen trieb, der begeisterte ihn.
Achselzuckend machte sich das Krähenmädchen daran, die Kräuter zu zerstampfen, um damit die Öffnungen im Balg der Beutetiere einzureiben. Der intensive Geruch, der nicht unbedingt ekelig zu nennen war, hinderte Insekten daran, im rohen Fleisch ihre Eier abzulegen, die beim Genuss des Fleisches einen "bösen Bauch" gemacht hätten.
Sebastian steuerte unterdessen den von Antarona bezeichneten Einschnitt an. Schwefel zwischen Kalkfelsen. Das war schon ungewöhnlich. Zumindest hatte Basti noch nie von so einer geologischen Konstellation gehört. Als er den Fuß der Grate erreichte, fiel ihm sofort das andersfarbige Gestein auf, das zwischen den Pfeilern aus dem Boden zu wachsen schien. Wie ein Brunnen waren schwarze Steinkegel im Kreis angeordnet, fest mit dem Kalkfels verbunden, und doch wie eine eigene Einheit. Der schwarze Stein zog sich in der Struktur des weißen Kalksteins wie eine Säule ein gutes Stück weit in den Grat hinauf, verlor sich dann aber im Gewirr der Risse, Zacken und Spalten.
Um die kreisförmig angeordneten schwarzen Felsen hatten sich knollenartig wie ein Wall, die gelben Kristalle gebildet. Schwefel, daran bestand nicht der geringste Zweifel. Der schwarze Fels war eindeutig Lava. Wie alt das Zeug war, konnte Basti nicht sagen. Doch er vermutete, dass es sich um die dunkleren Einschlüsse im Kalkfels um einen erkalteten vulkanischen Schlot handelte. Wieso sich dieser inmitten einer Kalkschicht befand, mochte er nur vermuten. Möglicherweise war dies alles einmal der Meeresboden gewesen, der sich durch geologische Auffaltung so weit gehoben hatte. Der Schlot mochte zu einem unterseeischen Vulkansystem gehört haben.
Doch wie konnten die Schwefelkristalle so eine lange Zeit in so guter Form erhalten bleiben? Über geologische Erosionsprozesse wusste Basti nicht viel. Er hatte immer geglaubt, dass so sauber ausgebildete Schwefelkristalle eine aktive vulkanische Tätigkeit voraussetzte. Aber etwas anderes gewann in seinen Gedanken Priorität.
Schwefel bot die Möglichkeit zur Herstellung von Schwarzpulver. In der Kultur der Îval war so ein Explosionsstoff nicht bekannt. Wären sie tatsächlich in der Lage, Schwarzpulver herzustellen, so wären sie, selbst in der Unterzahl, den Truppen Torbuks deutlich überlegen. Dieser Vorteil mochte in einer Schlacht die Entscheidung zu ihren Gunsten bringen.
Angestrengt überlegte Basti. Hätte er in der Schule beim Chemieunterricht doch bloß besser aufgepasst. Schwefel, Salpeter und Holzkohle brauchte man zur Herstellung von Pulver. Doch in welcher Menge und Zusammensetzung, das wusste er nicht. Nun, Schwefel war schon einmal verfügbar. Salpeter gab es auch. Antarona hatte es schon einige Male an Felswänden gesammelt, um das Fleisch damit zu salzen. Und Holzkohle konnte man herstellen. Doch auch dabei fehlten Basti die nötigen Kenntnisse. Er würde viel experimentieren müssen.
Allein die Vorstellung, Torbuks Truppen überraschend mit explodierenden Granaten einzuheizen, beflügelte seinen Erfindergeist. Wer es nicht versuchte, würde nie herausbekommen, ob es möglich war! Basti nahm einen schafkantigen Stein, und versuchte, größere Kristalle aus dem Ring abzuschlagen, der die schwarzen Felsen umgab. Es stank fürchterlich nach der windigen Emission aus dem südlichen Ende eines nach Norden gehenden Menschen.
Zuerst platzten nur kleine Stücke aus dem abgelagerten Steingürtel, doch dann löste Basti immer größere Stücke. Er legte sie auf einen Haufen, wusste aber nicht, wie er sie transportieren sollte. Und je länger er darüber nachdachte, desto irrwitziger wurde sein Vorhaben.
Es war nicht möglich, fertiges Schwarzpulver von diesem Ort ins Val Mentiér zu bringen. Selbst der Transport allein des Schwefels dorthin würde eine für hiesige Verhältnisse gigantische Logistik erfordern. Das Gestein müsste nach Falméra gebracht, von dort zum Festland verschifft, und an Torbuks Truppen vorbei in die Täler transportiert werden. Je mehr Sebastian klar wurde, wie unlösbar dieses Problem war, desto betrübter wurde er.
Schließlich warf er die großen Kristalle achtlos auf einen Haufen und ging zu den anderen zurück. Doch bereits beim Rückweg erinnerte er sich an eine Begebenheit, die er beinahe schon vergessen hatte. Schon einmal hatten sie Schwefel gefunden, als sie auf dem Weg vom Val Mentiér nach Falméra waren. Dieser Schwefel lagerte sich aktiv durch eindeutig vulkanische Tätigkeit an mehreren Felsspalten ab. Schwefeldämpfe, die aus mehreren Rissen und Klüften austraten, ließen große Kristallablagerungen entstehen.
Basti musste diese Stelle, eine wahrscheinlich ständige Schwefelquelle, wiederfinden, sobald sie wieder in den Tälern waren. Wenn es ihm gelang, Schwarzpulver in explosiver Mischung herzustellen, so veränderte dies das Kräfteverhältnis zwischen Torbuks Einheiten und der freiwilligen Wehr deutlich.
Einen großen Schaden vermochte einfaches Pulver ohne Geschütze nicht anzurichten, doch die schwarzen Reiter, die wilden Horden, waren auf ein Feuerwerk kaum vorbereitet. Es musste ihnen erscheinen, wie eine Waffe aus der Welt der Dämonen.
»Wozu sind die gelben Steine wichtig, Ba - shtie?« fragte Antarona, als er zur Gruppe zurückkehrte. »Sie sehen wunderschön aus, doch sie stinken, wenn man an ihnen reibt.«
»Wir werden wohl damit Torbuks Armee die Luft zum Atmen nehmen«, warf Tiskaja scherzhaft ein, »dann müssen sie sich zurückziehen, wenn wir sie mit den gelben Steinen bewerfen.« Die Mädchen lachten, bis ihnen die Tränen über die Wangen kullerten, als sie sich diese Szene bildhaft vorstellten.
Auch Basti ließ sich von der Heiterkeit anstecken, die wohl eher dem Jagdglück zuzusprechen war, als der Phantasie mit dem stinkenden Schwefel. Sebastian wurde wieder ernst und erklärte:
»Mit diesen gelben Steinen kann man eine wirkungsvolle Waffe herstellen.«
»Ja, indem man sie den wilden Horden unter die Nasen reibt«, versuchte Tiskaja erneut sich über die Kristalle lustig zu machen.
»Nein«, entgegnete Basti geduldig, »indem man sie zu Pulver zerstößt. Dieses Pulver mischt man mit jenem Pulver, das weiß an den Felsen hängt und salzig schmeckt, und dem Staub aus verkohltem Holz. Die Mischung in einem ganz bestimmten Verhältnis lässt das Pulver dann so heftig brennen, dass es mit großer Wucht auseinander fliegt, wenn man es beispielsweise mit Leder, oder Baumrinde umwickelt. Man kann damit Feuer und fürchterliche Blitze machen. Die Götter benutzten diese Waffe in jenen Tagen, da sie noch auf der Erde wandelten.«
Sebastian wusste nicht, wie er den Mädchen den Fortschritt in Sachen Explosivstoffe in seiner Welt anders erklären sollte. Angesichts der Eigenschaft von Frauen, alles ergründen zu wollen, geriet er dabei alsbald in Erklärungsnot.
»Glaubt ihr, dass ihr das könnt, Ba - shtie?« fragte Antarona zweifelnd. Sie blickte ihn skeptisch an und bohrte intensiv weiter:
»Die Blitze, diese Waffe von den Göttern, könnt ihr die mit den Steinen und den Pulvern machen?« Er merkte, dass ihr die Vorstellung gefiel, die gegnerischen Heerscharen mit Blitzen zu beschießen. Basti hob unschlüssig die Schultern und sagte dünn:
»Na ja, wenn ich das ganze Zeug zusammenbekomme, und Zeit genug habe, verschiedene Mischungen auszuprobieren... Ja, ich glaube, dass ich das machen kann. Es braucht nur Zeit für einige Versuche, bis man die richtige Zusammensetzung der Pulver herausgefunden hat.« Antarona sah ihn interessiert an, und er spürte, dass es in ihrem kleinen Köpfchen zu arbeiten begann. Prompt kam die nächste Frage.
»Ihr seid im Reich der Götter gewesen, Ba - shtie. Warum ist es so schwierig, das Blitzpulver zu machen, wenn es die Götter zum Kampf benutzen?« Sebastian wurde unsicher.
»Weil die Götter dieses Pulver schon lange nicht mehr benutzen. Sie haben inzwischen bessere Waffen. Sie benutzen mittlerweile ein Zeug, dass so starke Blitze macht, dass sie damit ganze Häuser zerstören, und mit einem einzigen Blitz eine ganze Kohorte töten können. Sie nennen es Dynamit. Und sie können einen Blitz machen, der ganze Städte in Schutt und Asche zu legen vermag, was sie Atombombe nennen.« Antaronas Augen begannen zu funkeln.
»Könnt ihr auch so ein Dünn-a-mit und so ein Atohm-bomm-be machen, Ba - shtie?« Ihre Frage hatte er mehr oder weniger erwartet, wusste aber nicht so recht, wie er darauf antworten sollte.
»Weißt du, eine Atombombe ist hier nicht zu machen, und diese Waffe wäre auch für uns selbst sehr gefährlich. Aber Dynamit, ich weiß nicht, vielleicht...« Antarona unterbrach ihn aufgeregt.
»Warum kann man so ein Ding hier nicht machen, und wieso ist es für jene gefährlich, welche es gegen den Feind richten?« Basti zog die Augenbrauen hoch, und sah sie etwas hilflos an. Seine Erklärungsnot stand ihm in den Blick geschrieben.
»Also das ist sehr schwer zu erklären«, begann er umständlich. »Diese Atombombe macht einen Blitz viel heller als Talris selbst. Dann macht sie einen Wind, stärker als der Sturm, den wir erlebt haben. Und anschließend macht sie viele kleine, tödliche Strahlen, die man nicht sehen, riechen, oder hören kann. Das macht sie so gefährlich, denn man bemerkt nicht, wenn man diese tückischen Blitze selbst abbekommt.« Antarona gab sich mit der Erklärung noch lange nicht zufrieden.
»Aber warum machen die Götter so eine Atohm-bomm-be, wenn die auch für sie selbst so gefährlich ist?« wollte sie nun wissen. In Gedanken verdrehte Basti die Augen. Doch er antwortete tapfer:
»Ja, das mein Engelchen, das habe ich auch nie verstanden. Weißt du, wir Menschenwesen begreifen nicht alles, was die Götter tun. Und die verraten uns auch nicht alles, was sie vorhaben.«
Sebastian musste heimlich in sich hinein grinsen. Er hatte nicht einmal gelogen. Tatsächlich gebärdeten sich Politiker und mächtige, einflussreiche Vertreter der oberen Zehntausend in seiner Zivilisation wie allmächtige Götter, die mit ihrer Macht reine Willkür verbreiteten. Doch die ganze Wahrheit konnte er diesem klugen, aber naiven Naturkind nicht erzählen. Antarona, die Îval, und die Jo-lie glaubten, dass die Götter nach Jahrhunderte alten, traditionellen Regeln handelten und wirkten, und diese auch den Menschenwesen abverlangten. Jede anders lautende Darstellung würden sie nicht glauben, oder das Schloss ihres Glaubens und ihrer Weltanschauung zum Einsturz bringen.
Nur für Antarona war dieses Thema noch längst nicht beendet. Wenn Basti glaubte, sie hätte es dabei belassen, so hatte er sich getäuscht.
»Könnt ihr so ein Dünn-a-mit machen, Ba - shtie? Was benötigt ihr dazu? ganz gleich, was ihr dazu verlangt, die Îval werden es euch beschaffen«, drängte sie ihn zu einer verbindlichen Aussage.
Sebastian versuchte sich sein Schulwissen in Erinnerung zu rufen. Viel war es nicht, was ihm zu diesem Thema einfiel. Er wusste noch, dass Dynamit aus sechzig bis fünfundsiebzig Prozent Nitro-Glycerin und vierzig bis fünfunddreißig Prozent Infusorienerde bestand. Nitro-Glycerin wiederum war ein Produkt aus konzentrierter Schwefelsäure und Salpetersäure. Doch wo man in seiner Welt diese Bestandteile in einer Apotheke, oder einem Baumarkt kaufen konnte, so waren sie in der Welt der Îval kaum einfach mal so erhältlich. Man musste sie herstellen.
Wäre Basti seinem Unterricht in der Schule nur aufmerksamer gefolgt! Er vermochte sich gerade noch daran zu erinnern, dass Schwefelsäure irgendwie beim Verbrennen von Schwefel entstand, und Salpetersäure etwas mit dem Erhitzen von Salpeter-Salzen und Schwefelsäure zu tun hatte. Doch wie man dabei verfuhr, und wie man letztlich diese Stoffe separierte, das würde ihm ohne Fachliteratur verborgen bleiben. Und es war kaum anzunehmen, dass die Bibliothek in der Burg Falméra solches Wissen offenbarte, wenn nicht bereits vor ihm jemand aus seiner Zivilisation in die Welt der Îval geraten war, der davon Kenntnis besaß.
Es musste schon mit viel Glück und einem dummen Zufall einhergehen, wenn es ihm gelingen würde, die Grundstoffe, und letztlich den legendären Nobel-Sprengstoff herzustellen. Wissenschaftler aus dem vergangenen Jahrhundert hatten in seiner Welt ein halbes Leben damit zugebracht, dieses Zeug zu entwickeln, und einigen waren die gefährlichen Mischungen zum Verhängnis geworden. Basti hatte nicht vor, an solchen Projekten herumzuexperimentieren. Ging dabei etwas schief, so würde man die Landkarten des Val Mentiér neu zeichnen müssen, und Torbuk konnte sich dann einen teuren Feldzug sparen.
»Weißt du, mein Engelchen«, versuchte er nach einer Weile seiner Frau zu erklären, »die Götter verraten ihre Geheimnisse nicht den Menschenwesen, die zu ihnen kommen. Viele Sommer und Winter lang müsste ich mit dem versuchen und ausprobieren, was ich abgeschaut habe. Steine zermahlen und kochen, stinkende Wasser mischen, trocknen und mit anderen Pulvern vermengen. Und dennoch könnte ich nicht sicher sagen, ob es mir gelänge, diesen Dynamit zu machen. Es ist sehr schwierig und aufwendig, und ich weiß viel zu wenig über die Zutaten. Es ist so, als würdest du versuchen, ein Brot zu backen, ohne genau zu wissen, was alles in den Teig hinein gegeben werden muss.«
Antarona nickte mit niedergeschlagenem Blick. Ihre Enttäuschung war ihr deutlich anzumerken. Sie hatte sich eine geheime Waffe erhofft, eine heimliche Macht von den Göttern selbst, die Torbuk hätte vernichtend schlagen können.
Statt dessen hatte Basti nur falsche Hoffnungen in ihr geweckt. Trotzdem ließ ihn selbst der Gedanke nicht mehr los, zumindest Schwarzpulver zusammenmischen zu können, das unter Zugabe von kleinen Steinchen in eine halbfeste Hülle gepresst, und gezündet, eine verheerende Wirkung auf die nähere Umgebung haben musste. Er dachte dabei an die Kartätschenladungen von Drehbassen auf den Segelkriegsschiffen des 18. Jahrhunderts seiner Welt. Dieses sogenannte Schrapnell war eine wirkungsvolle Waffe gegen eine Vielzahl von Gegnern.
Auf die zweite Hälfte ihrer Jagdgesellschaft warteten sie lange vergeblich. Auch in Rücksicht auf das nicht frischer werdende Fleisch, beschlossen sie endlich, ohne die anderen ins Lager zurückzukehren. Dort angekommen, musste Basti feststellen, dass die Jo-lie ein kleines Mehi-o-ratea errichtet hatten.
»Die sind ja schneller, als die Ná-chins, die Bienen«, gab er anerkennend zu. Und tatsächlich hatten die Jo-lie wahre Wunder vollbracht. Neben jeder Moos bedeckten Schlafhöhle war eine kleine, einer Halbkugel ähnliche Hütte aus Ästen, Zweigen, und Grassoden entstanden. Die kleinen Bauwerke erinnerten Basti an die Behausungen der Indianer Nordamerikas, vor der Zeit der europäischen Invasion.
Oben, in das Dach war ein kleines Loch eingelassen, aus dem sich aus so mancher Hütte der Rauch eines Feuers in den Himmel kräuselte. Die kleinen Schlafhöhlen wurden nun als geschützter Lagerplatz für das Hab und Gut genutzt, das die Jo-lie gar nicht mehr hatten. Dafür, dass sie nur noch ihre Waffen besaßen, und ein Stück Fell oder Leder um die Hüfte, hatten sie sich sehr schnell wieder häuslich niedergelassen.
Im Gegensatz zu den Menschen in den Dörfern und in Falméra, die feste Stein- oder Holzhäuser erbauten, waren die Jo-lie Nomaden. Sie siedelten, wo die Natur es ihnen ermöglichte, und investierten nicht viel Mühe in ihre Unterkünfte. Das freie Leben, der Gegensatz zu den Traditionen ihrer Eltern, das Aufbegehren gegen Gesetze und Gebote erschien ihnen wertvoller.
Die Zivilisationen glichen sich, nur die Namen und Zeiten änderten sich, stellte Basti fest. Die Jo-lie waren so etwas, wie die Gemeinschaft der Blumenkinder, der Friedensbewegung und jugendlichen Revolution in den fünfziger Jahren seiner Welt. Freiheit und Selbstbestimmung waren die treibenden Begehrlichkeiten. Der Drang nach Freiheit gab ihnen die Kraft, den Mut, und die Befähigung, überall und nur mit den Gaben der Natur ausgestattet, eine neue Siedlungsgemeinschaft zu gründen, in der ihre Werte im Vordergrund standen.
Der kleine Jagdtrupp wurde begeistert umjubelt, als er in das neue Dorf Einzug hielt. Sofort nahmen die Mädchen ihnen die Beute ab, und machten sich daran, die Antilopen zu häuten, und das Fleisch zu verarbeiten. Flink errichteten einige Burschen eine Räucherhütte, hackten Späne, sammelten Steine für den festen Grund, und als die Mädchen die ersten Fleischstreifen geschnitten hatten, konnten diese in die fertige Räucherkammer gehängt werden, um das Fleisch haltbar zu machen.
Sebastian kannte inzwischen das aufwändige Prozedere der Rauchfleischherstellung. Zuerst wurde das Fleisch gründlich mit Salz eingerieben. Dann wurden die Streifen und Stücke, diese durften nicht dicker als drei Zentimeter sein, auf Bänder oder Bastfasern gefädelt und in die Rauchhütte gehängt.
Geräuchert wurde mit dem frischen Spanholz bestimmter Bäume. Das Material durfte nicht zu trocken sein, damit es nicht wegbrannte, aber auch nicht zu feucht, damit es keine giftigen Rauchgase entwickelte. Irgendwo dazwischen. Basti blieb unergründlich, wie dieses irgendwo dazwischen anzuordnen war, und wie die Jo-lie es optimal abpassten.
Nach dem ersten Rauchgang, der zwei bis drei Tage in Anspruch nahm, wobei man die Glut immer wieder ausgehen ließ, und neu entzündete, wurde das Fleisch auf Felsen in die Sonne gelegt. Ein Dörrprozess, der den Stücken und Streifen das meiste Wasser entzog, und das Fett glänzend zu Tage treten ließ. Dieses Dörren dauerte bei starker Sonne einen Tag, bei schlechterem Wetter bis zu drei Tagen. Danach wurde das Fleisch wieder in die Räucherhütte gehängt, zwischendurch erneut mit Salz und Kräutern eingerieben, je nach gewolltem Geschmack.
Diese Vorgänge wurden so oft wiederholt, bis sich das Fleisch in knüppelharte, trockene, dünne und gebogene Streifen und Stücke verwandelt hatte. Diese ließen sich einfach lagern, oder ebenso problemlos transportieren, wenn die Jo-lie auf Wanderschaft waren.
Gegessen wurde das Dörrfleisch nicht im Sinne einer zeitlich begrenzten Mahlzeit. Vielmehr wurde es nebenbei gekaut, beim Arbeiten, beim Gehen, oder einfach nur beim abendlichen Beisammensein am Lagerfeuer. Es wurde so lange auf den Streifen herumgekaut, bis sie die Flüssigkeit des Speichels aufnahmen, aufquollen, weich wurden, und geschluckt werden konnten. Besonders gut, so fand Basti, mundete das harte Zeug zu Mestas, der ein wenig nach dem Whiskey in seiner Welt schmeckte.
Gut geräuchert und gedörrt war das Fleisch einen Sommer und einen Winter lang haltbar, solange es nahezu trocken gelagert wurde. Zerkleinert und aufgekocht, verlieh es zum Beispiel einer Suppe, oder einer Mahlzeit aus Getreide ein kleines Geschmackswunder. Auch die noch so fadeste Brühe wurde durch Beigabe von Dörrfleisch zu einer würzigen Suppe. In langen Wintern eine unverzichtbare Bereicherung für jedes Zelt und für jede Hütte.
Noch während die Frauen damit beschäftigt waren, das Fleisch zu zerlegen, und andere bereits die Häute auf Astrahmen spannten, kam der zweite Teil des Jagdzuges in das Dorf zurück. Auch sie hatten üppig Beute gemacht. Sie waren bis zur halben Höhe in das Tal jenseits des Passes hinabgestiegen, und hatten im Wald einen Xebron überrascht, der sich an den jungen Blättern und Trieben der Bäume gütlich tat.
Die Gruppe brachte neben neuen Erkenntnissen über das Gelände ein großes Fell mit, und reichlich Fleisch. Allerdings hatten sie eine Hinterkeule ihres Beutetieres eingebüßt. Antarona, Sebastian, und die anderen hörten mit Erstaunen die Geschichte dazu.
Sie hatten oberhalb des Waldes eine Sammelstelle für die Beutestücke ausgewählt, wohin sie das Fleisch des Xebron schleppten. Einen Jungen hatten sie als Wache zurückgelassen. Zwei Stunden nahm es in Anspruch, die schweren Fleischstücke durch den Waldhang dort hinauf zu tragen. Als sie das dritte, oder vierte Mal zum Sammellager zurückkehrten, saß der Junge, ein vorzüglicher Schütze mit Pfeil und Bogen, ängstlich zitternd hinter einem Baum, und wagte sich nur zögerlich hervor.
Eine große Felsenkatze, so berichtete er, sei plötzlich aus dem Gewirr von Felsblöcken, und habe sich das beste Stück aus dem Haufen von Fleischstücken herausgezerrt, und es fortgeschleppt. Ausgerechnet die Hinterkeule, die gutes Muskelfleisch besaß. Der Junge hatte das einzig richtige getan, und sich mit schussbereitem Bogen in den Schutz des Waldes zurückgezogen. Auch als guter Schütze hätte er kaum eine Chance gegen dieses Monster gehabt.
»Na sieh mal einer an«, unkte Basti nach dem Bericht der Jäger, »das ausgekochte Biest lässt sich unsere Jagd in seinem Revier gut bezahlen. Eine Antilope und eine Xebronkeule. Ein stolzer Preis, muss ich schon sagen.«
Die Mädchen berichteten den anderen ausführlich, wie sich der Bro-wan bereits an ihrer Beute bedient hatte. Empört rief ein Junge aus der zweiten Jagdgruppe:
»Der ist ja unersättlich! Der wird sich noch einen von uns holen, wenn er mit der gestohlenen Beute fertig ist. Wir sollten ihn jagen und erlegen, bevor er es mit uns tut. Sonst wird er einen nach dem anderen von uns holen, bis keiner von uns mehr übrig ist!« Da trat Antarona vor, und zu aller Verwunderung sagte sie:
»Nein, das sollten wir nicht, denn er wird uns in Ruhe lassen. Außerdem ist er eine sie, und sie hat vier Junge zu versorgen. Sie wird uns nicht angreifen, wenn wir ihren Jungen nicht zu nahe kommen. Und sie wird nicht mehr nehmen, als ihr nach dem Gesetz der Wälder zukommt.« Der Junge, der eben noch den Vorschlag gemacht hatte, den Bro-wan zu töten, fragte skeptisch:
»Woher willst du das alles wissen? Oder kannst du auch mit dem Bro-wan reden?« Natürlich hatte er von den Legenden Sonnenherz gehört, dem Krähenmädchen, das mit den Tieren spricht. Doch wie die meisten hielt auch er die Geschichten zum Teil für eine Mär.
»Sonnenherz vermochte ihre Sinne zu lesen«, erklärte sie ruhig und sachlich, »sie wird die Îval und Jo-lie in Ruhe lassen. Doch wenn die Menschenwesen in ihrem Reich jagen, und ihr die Beute nehmen, so wird sie ihren Teil fordern. Das ist nur gerecht, denn dieses Land gehört nicht den Menschenwesen allein.« Damit wandte sie sich ab, und half den Frauen weiter beim Verarbeiten des Fleisches.
Bei der reichlichen Jagdausbeute war kaum anzunehmen, dass es Sebastian in den nächsten Tagen gelingen würde, die Jo-lie zum Weitermarschieren zu bewegen. Hier oben, auf dem von der Natur üppig ausgestatteten Pass, fühlten sie sich wohl. Die Ängste und Sorgen um eine Invasion Torbuks waren in scheinbar weite Ferne gerückt. Auch an die Brüder und Schwestern auf dem Festland, in den Tälern unter dem ewigen Eis, waren aus ihren Gedanken verdrängt. Und hatte Basti bereits angenommen, Antarona hätte sich von der Bequemlichkeit der Jo-lie anstecken lassen, so irrte er sich.
Das Krähenmädchen sah eine Weile zu ihm hinüber, wie er die Jo-lie bei ihrer Geschäftigkeit wie sinnesverloren verfolgte. Schließlich ließ sie ihre Arbeit liegen, trat zu ihm, und legte ihm beruhigend die Hand auf seinen Arm, den er auf sein Schwert gestützt hatte.
»Sonnenherz hat nicht vergessen, weshalb sie und Glanzauge Mehi-o-ratea verlassen haben. Sie denkt in jeder Zentare an die Brüder und Schwestern, welche unter Karek und Torbuk und ihren Wilden Horden leiden. Gönnt den Jo-lie ein par Tage Ruhe, Ba - shtie, sie haben viel durchgemacht.« Sebastian musste leise in sich hinein lachen.
Diese Frau war faszinierend. Er konnte nichts, nicht einmal einen Gedanken vor ihr verbergen. Sie wusste zu jeder Stunde, in jeder Minute, was in ihm vorging. Er nickte, und deutete mit dem Ellenbogen zu der Hütte hinüber, die Daffel und Ravid mit ihren Geliebten Èliza und Fiala bewohnten. Die beiden Windreiter dichteten die Wände mit Moos ab, während die beiden Mädchen Streifen von Fleisch zum Trocknen aufhängten.
»Na ich weiß nicht«, kommentierte Basti seine Beobachtungen, »es sieht so aus, als ob die beiden Krieger dort auch schon vergessen haben, auf welchem Pfad wir uns befinden. Einer gemütlichen Hütte und einer liebevollen, verführerischen Frau scheinen sie doch sehr viel mehr zugetan, als dem entbehrungsreichen Leben des Kriegers voller Gefahren. Die weiblichen Freuden sind eben doch stärker, als der ungewisse Kampf um das Land. Und ehrlich gesagt, ich kann die beiden verstehen.«
Dabei sah er Antarona mit schmachtenden, verzehrenden Blicken an. Nur mit ihrem knappen, bunt bestickten Ra-li bekleidet stand sie vor ihm, ihre bronzene, duftende Haut lockte seine Sinne, ihre Anmut, ihre wilde Schönheit nahm ihn gefangen, und unter seinem dünnen Ra-li zeichnete sich ein deutliches Interesse für ihre sinnlichen Reize ab. Dem Krähenmädchen blieb seine Gefühlswelt nicht verborgen.
Neckisch sah sie ihn an, berührte wie zufällig mit ihrem kaum bedeckten Po seinen Oberschenkel und fragte scheinheilig:
»So, ihr könnt die beiden verstehen? Wie meint ihr denn das?« Basti merkte sofort, dass sie ihn bewusst provozierte. So ein kleines, raffiniertes Biest! Er ließ sich nur allzu gerne auf das Katz und Maus Spiel ein. Nur wer letztlich Katze und wer Maus war, blieb offen. Hintergründig erwiderte er:
»O, ich kann dir zeigen, wie ich das meine.« Gleichzeitig nahm er ihr den Schabstein aus der Hand, mit dem sie die Antilopenhaut bearbeitet hatte, und warf ihn neben ihren Arbeitsplatz.
»Das brauchst du dazu nicht«, stellte er bestimmt fest, packte das sonnengebräunte Mädchen in den Hüften und zog sie an sich.
Ungeniert ob der anderen Jo-lie küssten sie sich wild und nacheinander verzehrend, als hätten sie sich Monate lang nicht gesehen. Doch mehr Intimsphäre wollten sie ihren Hüttennachbarn nicht offenbaren. Sie gingen außen am Lager entlang, um sich den Blicken der Jo-lie zu entziehen. Antarona drängte Basti zum See hinüber, und als sie sein Ufer erreicht hatten, stürzte sie sich Kopf über hinein. Mit langen Zügen durchschwamm sie ihn, kroch am anderen Ufer halb die Böschung hinauf, und räkelte sich lasziv und aufreizend in der Sonne.
Sebastian überlegte, ob er ihr folgen, oder den See trockenen Fußes umrunden sollte. Kurz entschlossen tat er es ihr nach, und schwamm seinem lohnenden Ziel entgegen.
Doch als er sich vor ihr aus dem Wasser hob, drehte sie sich blitzschnell um, sprang auf, und rannte auf das kleine, angrenzende Wäldchen zu. Ihr Ra-li und ihre langen, schwarzen Haare spritzten glitzernde Wassertropfen in die Luft, und es sah so aus, als würden funkelnde Diamanten um sie herum fliegen. Basti folgte ihr, und ignorierte ein anderes Paar, das Hand in Hand zwischen den Blöcken einer Felsengruppe hervorkam, und ihn frech angrinste. Also waren sie nicht die einzigen, die ihrem Verlangen nach Zweisamkeit nachgaben.
Bemüht, sich nicht schmutzig zu machen, zwängte sich Basti durch das Unterholz, immer schemenhaft Antaronas bronzene Gestalt vor Augen. Zweige peitschten ihm ins Gesicht, und Dornen zupften an seinem Ra-li, der nass an seiner Haut klebte, und kaum noch verbarg, was sich in seinem Kopf abspielte.
Auf einer kleinen Lichtung, umgeben von hohen Bäumen und wie in einem Kreis hingewürfelten Steinblöcken war Antarona stehen geblieben. Ihre kleinen Füße betasteten das Moospolster, das überall zwischen den Gräsern den Boden bedeckte. Es schien, als war sie sich nicht schlüssig, wohin sie sich wenden sollte, ob sie weiterlaufen, oder auf ihn warten sollte. Basti jedoch zögerte nicht. Diese kleine, wilde Gazelle sollte ihm nicht noch einmal davonspringen!
Ohne Hast näherte er sich ihr, als er feststellte, dass sie keine Anstalten machte, ihm erneut davonzulaufen. Seine Arme schlangen sich von hinten Besitz ergreifend um ihre Taille, sein Mund wühlte sich durch ihre wilde Mähne, und er küsste sie zärtlich in den Nacken. Antarona hielt still, als hätte sie nur darauf gewartet. Die nächsten Zentaren blieben ihr Geheimnis, das sie nur mit den Bäumen, den Felszinnen über ihnen, und mit der Sonne teilten...
Ein warmer Wind streichelte über ihre nackten Körper, der Duft von frisch gemähtem und getrocknetem Gras lag in der Luft. Er drehte seinen Kopf und sah das schlafende Krähenmädchen neben sich. Im Sonnenlicht sah sie aus wie ein bronzefarbener Engel. Ganz leicht nur hob sich ihre Brust beim Atmen. An ihrem nackten Körper konnte er sich nie satt sehen, er entdeckte immer etwas Neues an ihr, was er noch nicht kannte.
Ein kleiner brauner Punkt unter ihrem Brustansatz weckte seine Neugier; ganz dicht kam er mit seinem Gesicht. Antarona verströmte stets einen anregenden Duft. Er brauchte nur ihr Aroma einatmen und schon vergaß er alles um sich herum. Wie konnte ein Mensch, der in der Wildnis lebte, nur so gut riechen? Der kleine Punkt war vergessen. Basti fand sich über Antarona gebeugt wieder. Seine Lippen schwebten über ihrem warmen Körper, nur ganz leicht leckte er ihre Haut. Sie schmeckte leicht salzig.
Später wanderten sie Hand in Hand über den langgezogenen Rücken der Passhöhe bis hin zum Wald, der den Pass von den Land einwärts gelegenen Tälern trennte. Zwischen dem Wald und dem Fuß der Felsenberge entdeckten sie einen weiteren See. Vermutlich wurde er von den Bächen gespeist, die aus den Schluchten, Scharten, und kleinen Tälern zwischen den Bergen hervortraten.
Das Wasser war glasklar, eiskalt, und schimmerte blaugrün, wie an manchen Stellen das Meer. Sie kühlten sich im Wasser ab, indem sie ihr Pfeile-Spiel begannen. Doch das eisige Wasser kühlte sie so schnell aus, dass es sie bereits nach ein par Minuten schmerzte, und sie dankbar waren, an das von der Sonne verwöhnte Ufer zu krabbeln.
Bast machte rasch ein kleines Lagerfeuer am Ufer des Sees. Die Wärme der Flammen wurde von zwei großen Felsblöcken zurückgestrahlt, so dass sie sich aufwärmen konnten, wie in einer kleinen Jaen-tè. Weil sie bereits etwas gegessen hatten, und in Aussicht stand, dass sie keinen Hunger mehr leiden mussten, beschlossen sie spontan, an dieser Stelle die Nacht zu verbringen. Im Grunde wollten sie die Gelegenheit nutzen, für sich allein zu sein. Die Jo-lie hatten einen guten Lagerplatz beinahe zu einem Dorf ausgebaut; sie würden ihnen nicht davonlaufen.
Sie kuschelten sich aneinander, blickten verträumt den Funken nach, die aus dem Feuer aufstiegen, und sich scheinbar zu den Sternen gesellten, und dort verglühten. Die Dämmerung brach herein, und ein glühendes Augenpaar beobachteten aus der Deckung der Felsen heraus die beiden Menschenwesen, die sich am Lagerfeuer unbekümmert ihrer Zweisamkeit hingaben...
Basti drückte seinen Körper enger an seine Frau, und legte seinen Arm unter ihren Nacken. Eng umschlungen genossen sie sich, umschlossen von der dunklen, warmen Welt im Schein des Lagerfeuers. Die friedlichen Geräusche einer Sommernacht umgaben sie; vertraute Stimmen, wie ein leises Orchester, das eine monotone Hintergrundmelodie spielte.
Das Rauschen des Windes in den Bäumen, das leise Plätschern des Wassers, wenn die durch den Wind angefachten, kleinen Wellen gegen Steine stießen. Das beruhigende, gleichmütige Zirpen der Zikaden, das Rascheln, wenn ein neugieriges Mäuslein seine Nase aus dem Unterholz streckte. Es hüllte sie ein, wie ein selbstverständlicher Mantel aus gewohnten Klängen, die Zufriedenheit und Geborgenheit ausdrückten.
Doch alles um sie herum wurde unwichtig, nur dieser Moment Zweisamkeit zählte. Ihren Körper auf seinem zu spüren, ihr Gewicht, ihre Wärme, ihr bloßes Dasein. Ganz langsam legte Basti die Hände auf ihren Rücken, mit den Fingerspitzen zeichnete er ihre Wirbelsäule nach. Antarona war es, nur sie hat so schöne Wirbel, nur sie durfte sich auf ihn legen. Er berührte sie vorsichtig, fast flüchtig, aus Angst sie zu zerbrechen. Sie lag schon oft nackt auf ihm, wie eine Decke aus süß duftendem Samt berührte ihre Haut die seine. Sebastian war süchtig nach ihrer Haut, nach ihrem Duft, der aus jeder einzelnen Pore kam.
Jedes Mal, wenn sie sich draußen geliebt hatten, lagen sie danach stundenlang nebeneinander und beobachteten abwechselnd sich und den Himmel, der ihnen des Nachts Sterne und am tag die wundersamsten Wolken bescherte. Ihre Körper erkundeten sie mit ihren Augen, mit ihren Fingern, mit ihren Lippen. Sebastian liebte es, ihre Haut zu küssen. Immer wieder drückte er seine Nase tief in ihre lange Mähne, besonders gerne mochte er den Duft ihrer frisch gewaschenen, nassen Haare, die langsam trockneten.
Wenn sie sich genug beobachtet und beschnuppert hatten, ertranken sie in einer engen, klammernden Umarmung. Sie wurden dann zu einem Körper, verschmolzen zu einem Wesen aus Liebe und Leidenschaft, wurden sie Eins, wie Antarona es auszudrücken wusste. Wenn Antarona vor Glück stöhnte, ihren Atem in sein Gesicht hauchte, dann kam Basti mit seinem Mund zärtlich über ihre Lippen. Sie atmeten sich, vereinten ihre Seelen zu einer einzigen. Jede Sekunde, die sie so zusammen verbrachten war wie ein Leben lang, eine scheinbare Unendlichkeit ihrer Liebe, und sie konnten nie genug davon bekommen.
Zwischen dem Feuer und der Felswand, welche die Wärme der Flammen speicherte, schliefen sie schließlich sichtlich erschöpft, und eng aneinander gekuschelt ein. Doch irgendwann, es war noch finstere Nacht, wachten sie auf. Das Feuer war verloschen, und der kühle Wind, der von der See her über den Pass fuhr, hatte nicht nur die Felsen, sondern auch ihre Körper ausgekühlt.
Außer ihren Ra-lis und den Waffen trugen sie nichts bei sich. Ihre Bündel lagen immer noch in der kleinen Erdhütte. Sie hatten es noch nicht einmal geschafft, ihre wenigen Habseligkeiten in die größere Reisighütte zu schaffen, welche die Jo-lie ihnen gebaut hatten, während sie auf Jagd waren. Eigentlich hatten sie ihre neue Schlafstatt noch nicht einmal in Augenschein genommen.
Die Kälte zwang sie nun zurück ins Lager, und wäre Antarona nicht bei ihm gewesen, so hätte Basti sich im Dunkeln hoffnungslos verlaufen. Das Krähenmädchen aber ahnte ihren Weg mehr, als dass sie ihn sah. Schon nach kurzer Zeit konnten sie sich an den Feuern orientieren, die überall im Lager verstreut leuchteten. Einige waren bereits heruntergebrannt, und ließen nur noch ihre Glut rot scheinen. An anderen Feuern saßen noch Jo-lie, die sich leise unterhielten.
Als Antarona und Sebastian ihre alte, kleine Erdhütte erreichten, und ihre Bündel aus dem niedrigen Loch hervorzogen, überraschte sie Tiskajas Stimme. Lautlos war sie hinter die beiden getreten, als ob sie auf ihre Rückkehr gewartet hätte.
»Die Hütte neben unserer, neben dem Plon-tà-Clan, ist eure«, erklärte sie. »Die Jo-lie haben sie euch gemacht. Und wenn sie es vermocht hätten, so würden sie euch einen Palast gebaut haben.« Basti und Antarona sahen das Mädchen im Schein der Feuer erstaunt an. Trotz der Dunkelheit erkannte Tiskaja die fragenden Gesichter.
»Die Jo-lie werden für Areos und Sonnenherz alles tun, so lange, bis diese Welt vergeht. Die Dankbarkeit, dass ihr ihnen das Leben erhalten habt, wird grenzenlos sein, und bis in alle Zentaren andauern«, versicherte sie ihnen.
»Dann erweist uns bitte die Güte, und führt uns in unser neues Heim, teure Tiskaja«, erwiderte Basti dankbar. »Niemandem sonst, als euch, die mit dem Plon-tà-Clan stets an unserer Seite weilt, gebührt diese Ehre.« Und Antarona fügte beinahe schüchtern hinzu:
»Wir haben bei den Jo-lie bereits mehr Freunde gewonnen, als in den Tälern, wo Sonnenherz aufgewachsen war. Ihr alle werdet stets einen besonderen Platz in unseren Herzen euer Eigen nennen dürfen.« Tiskaja lächelte ein wenig beschämt.
»Wollt ihr nun eure Jaen-tè sehen, oder in der schlafenden Sonne erfrieren?« fragte sie, um die gegenseitigen Dankesbekundungen zu beenden. Dabei fiel Basti auf, dass ihre Nachbarin bereits ein Oberteil aus Fell trug, das sie wärmte. Wie rasch die Jo-lie aus nichts, als der Natur, ein neues Leben aufbauten, erinnerte ihn an die Plains-Indianer Nordamerikas, über die er viel gelesen hatte.
Was seine eigene, vergangene und hoch technisierte Zivilisation niemals zustande gebracht hätte, diese einfachen Menschenwesen waren dazu in der Lage. Im Grunde waren sie Nomaden, die beinahe überall siedeln konnten, und sie begnügten sich damit, was das Land ihnen bot.
Tiskaja schlug die kleine Tür aus Geflecht von Zweigen und Blätter zurück, und machte eine einladende Bewegung. Neugierig krochen Basti und Antarona in die Reisighütte, die ihnen sehr geräumig vorkam. Das Lager war zwar nicht mit Fellen und Decken ausgelegt, denn die hatten sie ja noch nicht in genügender Zahl, dafür aber war die Schlafstatt mit langen, getrockneten Gräsern gepolstert, die sich weich und gemütlich anfühlten.
»Tiskaja lässt die zwei Verliebten nun allein, sie hat sich schließlich um einen ganzen Clan zu kümmern«, verkündete die Nachbarin mit gespieltem Vorwurf. Sie ließ die leichte Tür zufallen, und Basti hörte, wie sie sich leise entfernte. Er glaubte noch leises Kichern zu hören, aber es mochte auch der Wind gewesen sein.
Antarona legte sich wie zum Test auf das neue Lager, das nach frischen Heu duftete. Es war warm und weich, und stand einem Fell in nichts nach. Sebastian legte sich neben sie, umarmte sie von hinten und schmiegte sich dicht an
sie. Antarona streichelte seine Arme und war einfach nur glücklich.
»Wir können die neue Hütte ja gleich etwas einweihen, oder?« flüsterte Basti lachend. Dann vergaßen sie, dass draußen noch einige Jo-lie an den Feuern saßen, dass möglicherweise in diesem Augenblick eine gefährliche Raubkatze durch das Lager schlich, und dass die Wände ihrer neuen Behausung so durchlässig waren, dass jedes Geräusch nach außen dringen konnte.

Der Morgen hatte einige Wolkenfetzen vom Meer zum Pass heraufgejagt, die gespenstisch an den Bergflanken entlanggezogen waren, oder sich durch die Arven und Tannen schlichen, sich durch die Felsen schoben, oder über das Gras und den See huschten.
Sebastian hatte tief und fest geschlafen, und erst der Wind, der durch die Ritzen und Löcher ihrer provisorischen Behausung drang, hatte ihn geweckt. Er hatte frische Luft mitgebracht, die seinen Oberkörper hatte frieren lassen. Antarona hatte sich wie ein Wasel unter das wärmende Gras gegraben, und schlief seelenruhig weiter. Sie lag warm und geschützt, wie in einem weichen Nest.
Als Basti ging, häufte er noch das verbliebene Gras über ihren schlanken, schimmernden Körper, um sie vor der morgendlichen Frische zu schützen. Dann hatte er sein Bündel in einer Ecke der Reisighütte vergraben, hatte sein Schwert und sein Bowiemesser genommen, und war hinausgeschlichen.
Als er aufrecht stand, was in der niedrigen Hütte nicht möglich war, streckte er sich ausgiebig in der erfrischenden Luft des Morgens, als wollte er sich von einer großen Beengtheit befreien. Tatsächlich genoss er die abkühlende Brise, die vom Meer heraufwehte. Von der Hitze des Tages, die unter der flimmernden Sonne auf der weitläufigen Passhöhe lastete, war zu dieser Zentare noch nichts zu spüren.
An den Seitenbändern seines Ra-li band er das schwere Messer fest. Dann, in einem kurzen Sprint, lief Basti zum See hinüber, ließ im Laufen sein Schwert am Ufer fallen, und stürzte sich Kopf über in das kalte Bergwasser. Mit kräftigen Zügen schwamm er ein par Mal hin und her, wusch sich den angetrockneten Schweiß vom Körper, und entstieg schließlich wieder dem Morgenbad.
Er stellte sich aufrecht in den Wind, der ihm nach der Abkühlung im eiskalten Wasser schmeichelnd und warm vorkam. Als hätte ihm jemand einen Eimer Wasser über den Kopf gegossen, und er wüsste nicht, was er nun tun sollte, blieb er regungslos am Ufer stehen, ließ die Rinnsale und Tropfen an seinem Körper herablaufen, die sich an den zerschlissenen Zipfeln seines Ra-li sammelten, und zu Boden flossen.
Bewegungslos stand er im Wind, und genoss es, wie der Luftzug seinen Körper trocknete. So eisig kalt war das Wasser gewesen, dass er die Luft auf seiner nassen Haut als angenehm empfand. Minuten lang lauschte er den Geräuschen der Natur. Die erhabene Stille, die jeden Sonnenaufgang begleitete, ob in seiner Welt, oder in diesem Land, hatte für Sebastian Lauknitz schon immer etwas Sakrales.
Nachdem der Wind seinen Körper getrocknet hatte, entschied sich Basti dazu, der Sonne entgegen zu gehen. Er spürte die kühle Nässe zwischen den Beinen, denn der Ra-li trocknete nicht so rasch wie seine Haut. Doch es störte ihn nicht. Im Gegenteil. Es gab ihm das Gefühl von Freiheit, von Abenteuer und Ursprünglichkeit.
Er spürte, wie das schwere Messer an seiner Seite baumelte, und im Rhythmus der Schritte gegen seinen Oberschenkel klatschte. Das Schwert wog er im Gehen in der Hand, balancierte es schließlich ausgewogen in der Mitte. Seine nackten Füße strichen durch das trockene, spröde Gras, das an ein par Stellen mit Tau benetzt war. Wild und unabhängig fühlte er sich, und neuer Tatendrang wuchs in seinem Herzen.
Sebastian schritt auf den flachen, begrünten Grat zu, der dem Lager am nächsten war, und in der Höhe einen guten Ausblick auf die Bucht, die Küste und das Meer versprach. Einige Felsaufschwünge überkletterte er mit Leichtigkeit, als würde er über sie hinweg fliegen. Vor etlichen Monaten hätte er eine solche Stufe nicht ohne feste Bergschuhe in Angriff genommen. Nun erschien es ihm lächerlich, dabei mehr zu tragen, als diesen schmalen Fetzen nassen Leders um die Lenden. Seine bloßen Füße fühlten den Fels viel besser und intensiver, erfassten seine Struktur, seinen Charakter, als mit einer dicken, profilierten Sohle, die jede Kante, jeden Riss, und jede Spitze zu einer sicheren, immer gleichen Fläche verklärte.
Beim Sichhinaufhangeln über den Grat geriet Basti leicht ins Schwitzen. Doch der Schweiß, der ihm sonst unangenehm das Hemd an den Körper klebte, trocknete sofort im Wind, und er fühlte sich unbeschwert und befreit. Er kletterte über eine weitere Felsstufe, und war erstaunt, wie gut seine nackten Füße mit dem zerrissenen, rauen Fels umgehen konnten.
Was er zu Anfang seines Aufenthalts in dieser Welt an Antarona bestaunt hatte, war auch ihm zueigen geworden. Die Motorik seiner Füße hatte sich derbem Schuhwerk entwöhnt, und an einen natürlichen Untergrund angepasst. Würde er jemals wieder in seine Welt zurückkehren, musste es eine enorme Umstellung sein, sich wieder an glatte Sohlen und ebenen Asphalt zu gewöhnen.
Sebastian Lauknitz, der in seiner Kindheit gebannt vor dem Fernseher gehockt, und Tarzans Abenteuer gefolgt war, ist selbst zu einem Tarzan geworden. Ein wenig fühlte er sich auch so, und ein Betrachter aus seiner Welt würde ihn dafür halten, würde ihm kopfschüttelnd zuschauen, wie er nur mit einem Lederschurz und einem Messer bekleidet über Felsen kletterte.
An einem Felsenturm musste er sich über Risse und Kanten hinaufziehen. Trotz ständiger Bewegung, unregelmäßigem Essen, und einer enormen Entwicklung seiner Muskeln, tat er sich schwer damit. Der Bergsteiger Lauknitz war etwas aus der Übung gekommen. Dafür hatte er gelernt, seine Zehen einzusetzen, sich wie eine Katze im Fels zu verkrallen, und mit weniger Gewicht zu klettern.
Unwillkürlich dachte er an seinen Rucksack, der immer noch am Strand des Festlands vergraben lag. Würde der genauso das Relikt eines Gestrandeten werden, wie die Dinge, die er in der Höhle unten an der Küste gefunden hatte, und die dem geheimnisvollen Toten gehört hatten?
Basti musste still lächeln. Er war ebenso ein Gestrandeter in dieser Welt. Er dachte an seine Kassette mit den Goldmünzen, die er sicher in einem Winkel in Antaronas Höhle am See zwischen Zumweyer und Fallwasser versteckt hatte. Wer würde sie eines Tages finden, und darüber rätseln, mit welchem Schicksal sie wohl dorthin gelangt war?
Über eine zerklüftete Kante gelangte Basti auf eine mäßig steil ansteigende Terrasse, die von durchgehenden, beinahe ebenen Grasbändern und schmalen Felsriegeln geprägt war. Deutlich erkannte man die verschiedenen Schichten der Erdgeschichte, die sich in diesen Bergen abgelagert hatten, und durch Erosion wieder freigesetzt worden waren. Er wusste, dass durch Auffaltung tektonischer Platten Gebirge entstanden waren. An dieser Stelle wurde dieser Prozess augenfällig.
An einer Stelle fand er ein Fossil wie ein Relief in die Felswand eingelassen. Mehr war es ein Abdruck, als fremdes Material. Das, was sich dort abgeformt hatte, war eines der schneckenartigen, Teller großen Tiere, die einst die Urmeere der Erde bevölkerten. Der in den Fels gegrabene Beweis, dass er sich immer noch auf Mutter Erde befand, und nicht auf einem fernen Planeten irgendwo im Weltall.
Das brachte ihn wieder zu den lange Zeit verdrängten Fragen, wohin, in was für ein Land er nach seinem Sturz geraten war. Schlüssig wäre die unwahrscheinliche, wenn nicht gar unmögliche Erklärung, dass er sich zwar auf dem Planeten Erde, jedoch zu einer völlig anderen Zeit befand. Dem Entwicklungsstand der Menschen, denen er bisher begegnete, musste er mehr als dreihundert Jahre in der Zeit zurückgereist sein. Dennoch war die Entwicklungsstufe und Lebensweise der Îval mit keiner Kultur zu vergleichen, die er jemals im Geschichtsunterricht beleuchtet hatte. Sie waren keine Maya, keine Inka, und auch mit keiner der europäischen, oder asiatischen Kulturen vergleichbar.
Sie waren Îval. Sie besaßen die Kenntnis, Burgen mit verglasten Fenstern zu bauen, lebten aber in ländlichen Gegenden wie zur Zeit der Wikinger. Krasse Entwicklungsunterschiede zwischen Stadt und Land waren nur allzu deutlich. Sie glaubten an Götter, hatten ihnen aber keine Kirchen, Stätten, oder Gebäude errichtet, um sie zu ehren, oder in ihnen zu beten. Sie riefen ihre Götter dort an, wo sie ihre Hilfe gerade benötigten. Die Menschen hatten offensichtlich das Land erobert, dennoch gab es Tiere, welche seit Jahrtausenden ausgestorben waren.
Je mehr Basti darüber nachdachte, desto wahrscheinlicher kam es ihm vor, als hätte die Erdgeschichte in einem frühen Stadium eine völlig andere Wendung genommen, als der Wissenschaft seiner Welt bekannt war. Seine Gedanken verfolgten diese Möglichkeit. Wie würde dieser Planet wohl aussehen, wenn kein Meteor auf der Halbinsel Yukatan aufgeschlagen wäre, und die Saurier hätte aussterben lassen?
Was, wenn sich die tektonischen Platten anders als bekannt bewegt hätten? Könnte die Erde dann eine Kultur und ein Land wie Volossoda, Falméra und das Val Mentiér hervorgebracht haben? Doch wie passte die Tatsache in das gedanklich gemalte Bild, dass die Îval sich einer Sprache bedienten, die dem mitteleuropäischen Sprachraum so ähnlich war? Veränderten Gestrandete aus anderen Zeiten und Kulturen die Entwicklung, die Evolution dieser Welt, und prägten sie entscheidend mit?
Mögliche Erklärungen geisterten durch Bastis Kopf, die herkömmliche Evolutionstheorien revolutionieren würden, und alles infrage stellten, was seine eigene Kultur über die Erdgeschichte zu wissen glaubte. Hatte er etwas entdeckt, was man als eine neue Wahrheit bezeichnen musste?
Wie wahrscheinlich war es, dass sich zwei oder mehrere Zeitschienen auf einen Planeten, oder ein Sonnensystem, oder eine Galaxie bezogen parallel bewegten, sich verschieden entwickelten, und geheimnisvolle Tore Zugänge zwischen den Zeiten ermöglichten. Nach dem Wissensstand seiner eigenen Kultur war dies so gut wie unmöglich. Die bekannte Astrophysik ließ solche Möglichkeiten im Universum nur theoretisch zu.
Während er über das Sein oder Nichtsein solcher Theorien nachdachte, war Basti immer höher geklettert. Er hatte sich um Grattürme und Spitzen gehangelt, war über Stufen und Platten gestiegen, und hatte schließlich einen nur wenig geneigten Hang erreicht, der mehr einem kleinen, mit Gras bewachsen Plateau glich. Ein par von Wind und Wetter zerzauste Arven bevölkerten die Platte, hinter der sich weitere Felstürme in den Himmel reckten.
Die Höhe gab den Blick frei für ein großartiges Panorama. Auf der einen Seite schaute Basti hinunter in den vom Tsunami verwüsteten Talkessel und weiter zum Strand und der nun steil abfallenden Küste. Friedlich schimmerte in der Ferne Blau und silbrig glänzend das Meer, so wie er es von den griechischen Inseln her kannte.
Auf der anderen Seite blickte er in ein scheinbar enges Tal, das aber tatsächlich die Passhöhe zwischen den Bergen war. Deutlich konnte er in der Tiefe die kleinen Hütten der Jo-lie ausmachen. Dazwischen kräuselten sich hier und dort noch die Rauchfähnchen der ausglimmenden Feuer. Mit dem Blick aus dieser Höhe wurde Basti erst bewusst, wie ausgedehnt dieser Pass eigentlich war. Im Grunde war er ein Hochtal, das lediglich zu beiden Seiten hin, in weitere tiefe Täler abfiel. Eine echte Wasserscheide.
Weiter drüben lag der Wald, der den Pass jenseits begrenzte. Er zog sich weiter hinab, war jedoch unterbrochen von Hängen, die mit Wildweide bewachsen war, und Basti glaubte sogar kleine, schimmernde Seen zu erkennen. Für ein verstecktes Dorf, das man darauf errichtete, war der Pass optimal gelegen. Es gab Wasser, Weiden, Wald und Meer. Mit ein par angelegten Wegen erschlossen, musste es sich an diesem Ort sicher und bequem leben lassen.
Sebastian Lauknitz ließ sich in einer vom Wind geschützten, und von der Sonne bedachten Einbuchtung im Fels nieder, streckte seine Glieder über das trockene, kurze Gras aus, verschränkte die Arme vor der Brust, und ließ seinen Blick über das Meer schweifen. Blaugrau, wie eine schimmernde Platte lag es da.
In diesem Moment wurde ihm bewusst, dass er nicht viel von diesem Land kannte, und noch viel weniger über dessen Beschaffenheit bescheid wusste. Doch er hatte inzwischen akzeptiert, an diesem Ort zu leben, und er begehrte nicht mehr gegen die Tatsache auf, dass er seine eigene Zivilisation, seine eigene Lebensart, und seine gewohnte Umgebung aufgeben musste.
Das annehmliche, wilde Leben, das so viel weniger gesellschaftliche Zwänge besaß, als sein vorheriges, sowie seine wunderschöne, liebreizende Frau, begünstigten diese Akzeptanz. Mehr noch; er konnte sich mittlerweile nicht mehr vorstellen, irgendwann in sein früheres Leben zurückzukehren. Ein Leben ohne Antarona war für ihn undenkbar geworden. Dieses sinnliche und temperamentvolle Geschöpf hatte ihn erobert, und er war regelrecht süchtig nach ihr.
Bastis Blick wanderte vom ruhigen Meer die Klippen und chaotischen Hänge hinauf, die der Tsunami anstelle des weißen Strandes geschaffen hatte. Mit der Zeit würden weitere Stürme das Meer gegen die Küste anbranden lassen, Material aus den Hängen waschen, die letzten Trümmer der Katastrophe auf die See hinaus tragen, und einen neuen Strand bilden.
Dort, wo die Flutwelle nicht hingelangen konnte, und wo der Sturm keine Angriffsfläche gefunden hatte, dehnten sich grüne Weiden und üppige Wälder aus, die sich zu den Felszinnen der nicht sehr hohen, aber steilen Bergen hinaufzogen. Sebastian verfolgte die verschiedenen Landschaftsabschnitte mit ruhigem Blick, als etwas seine Aufmerksamkeit am Horizont des Meeres weckte.
Zunächst war es nur ein dunkler Punkt, der die Linie der beiden hellen, aneinander stoßenden Flächen von Himmel und Meer störte. Eine Insel, die ihm vorher nicht aufgefallen war? Eine vorspringende Landzunge vom Festland, die in geringerer Höhe nicht auszumachen war? Bastis Augenmerk fixierte sich auf den Abstand des winzigen Objekts zur Küste, deren Verlauf er bis zu einer Felskante verfolgen konnte.
Das Objekt veränderte seine Position. Langsam nur, aber es bewegte sich. Er starrte auf den Punkt, bis seine Augen tränten. Ein Wasserwagen; vielleicht von Bental selbst gesandt, um nach Überlebenden des Tsunami zu suchen? Viele bei Hofe einflussreiche Bürger Falméras wussten ihre Kinder in Mehi-o-ratea. Nach der Springflut mussten sie dem König die Türen eingerannt haben, um zu erreichen, dass er Soldaten zur Suche abstellte.
Als Sebastian aber sich die Strömungsverhältnisse in Erinnerung rief, musste er zugeben, dass ein Schiff von Falméra die Insel umrundet hätte, und die Küste von Süden heraufgefahren wäre. Es musste also ein Wasserwagen vom Festland sein. Ein neuer Invasionsversuch Torbuks?
Abschätzend glitt Bastis Blick hinunter auf den Pass. Die ersten Jo-lie hatten sich ein Feuer gemacht. Kleine Rauchsäulen kräuselten sich in den klaren Himmel hinauf, wurden in der Höhe vom leichten Wind erfasst, auseinandergeweht, und fortgeblasen. Der Abstand zur Aufstiegskante war nicht sehr groß. Konnte man den Rauch von unten, von der Küste her erkennen?
Selbst wenn. Würde sich eine Invasionstruppe den unsicheren Geröllhang hinaufquälen? Wohl kaum. Eher würden sie feststellen, dass jenes Dorf mit den jungen Îval zerstört war, und einen anderen Plan verfolgen. Entweder zogen sie unverrichteter Dinge wieder ab, oder errichteten irgendwo in unbewohntem Gebiet, von Bental schwer zu kontrollierendem Gebiet einen Brückenkopf, um Falméra bei einem Angriff von See her in den Rücken zu fallen.
Letzteres würde bedeuten, dass ein Angriff unmittelbar bevor stand. Wie rasch Torbuk seine Flotte von Wasserwagen fertiggestellt haben konnte, blieb Basti indes unergründlich. Jede Überlegung in dieser Hinsicht blieb Spekulation.
Inzwischen war der Punkt zu einem kleinen Fleck gewachsen. Nun erkannte Basti deutlich die Umrisse eines Wasserwagens. Erfahrene Seeleute mussten ihn steuern, denn die Strömungen zwischen Falméra und dem Festland waren tückisch. Trotz bester Winde mochte ein Wasserfahrzeug hoffnungslos an der Insel vorübertreiben, wenn es auf ungünstiger Höhe vom warmen Strom, der nach Norden zog, erfasst wurde.
Nun konnte Sebastian das Schiff erkennen. Es war die Bauart, jener Wasserwagen, welche die Truppen in den Sümpfen Mehi-o-rateas liegen hatten. Leichte Transporter, die dicht unter Land fahren, und sogar einen Fluss hinaufsegeln konnten. Sie waren nicht für eine raue See gebaut, und konnten vermutlich nur bei ruhigem Wetter eingesetzt werden. Dafür waren sie in der Lage, ein Riff zu überfahren, oder an flacher Küste Truppen anzulanden.
Nur langsam näherte sich der Wasserwagen der Küste, und hielt auf den Abschnitt zu, wo die Jo-lie von dem Gor attackiert worden waren. Offenbar manövrierte der Wasserwagenführer sehr vorsichtig. Die gesamte Küste bot ein völlig anderes Bild, als vor dem Tsunami. Kapitän und Steuermann kannten die neuen Verhältnisse nicht, und wollten nicht riskieren, auf Grund zu laufen.
Ein Stück weit entfernt von jener Stelle, wo die Jo-lie in der Höhle Schutz gesucht hatten, holte der Wasserwagen ein par Steinwürfe von der Uferlinie die Segel ein, und warf ein Netz mit Steinen, was oft als billiger Anker genutzt wurde, über Bord. Das Schiff legte sich in der Strömung quer zur Küste, und als es sich stabil ausgerichtet hatte, ließ die Besatzung ein Boot zu Wasser.
Aus dieser Höhe vermochte Basti keine Personen zu erkennen. Ein Trupp von etwa zehn Personen ruderten an Land. Sie schwärmten aus, und untersuchten den Küstenstreifen. Einige versuchten die Hänge hinaufzuklettern, gaben jedoch nach ein par Metern auf. Was sie vorfanden, musste ihnen ernüchternd vorkommen. Der idyllische, weiße Sandstrand, an dem man prima ein Lager hätte aufschlagen können, war verschwunden.
Statt dessen sahen sie sich mit einer feindlichen, unwirtlichen Küste konfrontiert. Basti beobachtete den Landungstrupp weiter, und betete, dass niemand von den Jo-lie in diesem Augenblick auf die glorreiche Idee kam, sich zur Küste aufzumachen, um ein par Fische zu fangen. Solange sie unentdeckt blieben, mussten die Besucher davon ausgehen, dass alle Bewohner von Mehi-o-ratea ein Opfer der Springflut geworden waren. Möglicherweise zogen sie nach dieser Erkenntnis alsbald wieder ab.
Nachdem der Landungstrupp die Küste hinauf und herunter untersucht hatte, sammelten sie sich wieder beim Boot. Basti konnte erkennen, wie sie auf einem Fleck standen, und offenbar berieten. Dann löste sich eine Figur aus der Gruppe, und versuchte einen Hang zu erklimmen.
Die Person stellte sich aber so ungeschickt an, dass sie dabei eine Gerölllawine lostrat, von der die anderen beinahe begraben wurden. Das aus den Hängen abgerutschte Material war noch so labil und ungefestigt, dass ein unbedachter Schritt genügte, um einen ganzen Hang in Bewegung zu setzen.
Diese Erfahrung genügte, um die Gelandeten wieder auf ihren Wasserwagen zurückzutreiben. Sie lagen noch eine Weile vor der Küste, und Basti stellte sich vor, wie sie darüber diskutierten, ob sie ihre Mission abbrechen, oder an anderer Stelle fortführen sollten.
Sein Fernglas wäre ihm in diesem Moment von großem Nutzen gewesen. Sein Blick war durch das Leben in dieser Welt wohl geschult worden, doch er hätte Vieles darum gegeben, mehr Einzelheiten auf dem vor der Küste liegenden Schiff zu erkennen. Er sah einige Personen an Deck, mehr als für die Schiffsführung nötig. Doch was genau sie taten, blieb ihm verborgen.
Nach etwa einer Stunde setzte der Wasserwagen seine Segel, und fuhr in gerader Linie auf die See hinaus. Unten im Lager der Jo-lie regte sich inzwischen das alltägliche Leben. Die Frauen und Mädchen beschäftigten sich mit den erbeuteten Häuten und Fellen, oder sammelten Holz, Wurzeln, oder Beeren. Die jungen Männer pflegten ihre Waffen, bauten neue Hütten, oder versammelten sich zu Jagdausflügen.
Für Sebastian gewöhnten sie sich viel zu schnell an ein unbekümmertes, sesshaftes Leben. Und sogar er selbst war immer öfter versucht, die Anstrengungen, sich gegen Torbuks Bedrohung zu rüsten, gegen ein bequemes Siedlerleben einzutauschen. Solange die Gefahr scheinbar weit weg war, schien sie nach und nach niemanden mehr zu interessieren. Selbst Antarona hatte einiges von ihrem feurigen Drag eingebüßt, den Îval im Val Mentiér so rasch wie möglich zu Hilfe zu eilen.
Von dem kundschaftenden Wasserwagen hatte niemand etwas mitbekommen. Nun bedauerte Basti es beinahe, dass die Jo-lie unentdeckt geblieben waren. Eine neue Konfrontation mit der Kriegsmacht Torbuks hätte sie vermutlich wieder aufgerüttelt, und ihnen die Gefahr erneut vor Augen geführt. Sie wären dann leichter dazu zu bewegen gewesen, aufzubrechen.
Sie hatten ihr Überleben soweit gesichert, dass sie den Marsch nach Falméra ohne weiteres wagen konnten. Aber warum sollten sie in einen Krieg ziehen, der weit weg war? Der so weit entfernt war, dass sie unbehelligt auf dem neuen Grund siedeln konnten? Dass die Unterdrückung und Knechtschaft durch Karek und Torbuk auch hier eines Tages ankommen musste, realisierte niemand.
Sebastian wollte für sich und seine künftige Familie ein friedliches, glückliches Leben ohne diese ewig lauernde Bedrohung. Er dachte langfristig. Und dafür musste das Böse ein für allemal beseitigt werden. Er musste es den Jo-lie klar machen, bevor sie sich in diesem Hochtal festsetzten, und irgendwann keinen Sinn mehr darin sahen, weiterzuziehen. Möglicherweise hätte er das Risiko, ihre Sicherheit zu verlieren, eingehen, und der Besatzung des Wasserwagens ein Zeichen geben sollen.
Unter einer direkt erfahrenen Gefahr wäre es ihm ein Leichtes gewesen, die Jo-lie zum Aufbruch zu bewegen. Nun würde es schwerer werden, sie davon zu überzeugen, dass ihre Mission lebenswichtig für die Freiheit aller Îval war. Während seines Abstiegs überlegte er, mit welchen Argumenten er der Sorglosigkeit der Jo-lie, die sich zu manifestieren drohte, begegnen konnte.
Als er den Talboden des Passes erreichte, kam ihm ein erster Jagdtrupp entgegen, angeführt von Daffel und Ravid. Sie wollten den Wald umgehen, und die Antilopen auf die Passhöhe treiben, wo sie leichter zu erlegen waren. Für den Weg nach Falméra sollte noch einiges Trocken- und Räucherfleisch hergestellt werden. Außerdem brauchten die Frauen noch einige Oberteile, nachdem die bisher erbeuteten Häute fast alle für neue Ra-lis und Wasserbeutel aufgebraucht waren.
Aha, dachte Basti, hatten sie also ihr Ziel doch noch nicht ganz vergessen? Aufmerksam hierhin und dorthin spähend schlenderte er durch das neue Dorf, das eher anmutete, wie ein großer Haufen Indianerzelte. Für einen längeren Aufenthalt war hier tatsächlich nichts angelegt.
Die Gestelle für das Bearbeiten der Tierhäute und das Trocknen des Fleisches waren nicht so stabil, wie er es in Mehi-o-ratea gesehen hatte. Eher von jener Struktur, die der erste kräftige Wind auseinander blies. Auch bemühte sich niemand, die zugigen, löcherigen Hütten zu verbessern. Die Mädchen fertigten Tragebeutel anstelle von Regalen, die Burschen bauten kleine Tragegestelle, die von ihnen selbst gezogen werden konnten.
Mit Wohlwollen betrachtete Basti die Geschäftigkeit, die ihn wiederum verwunderte. Doch anscheinend brauchten selbst die Jo-lie, die sich allen Zwängen und Regeln der Alten entsagten, ein erklärtes Ziel. Er vermutete jedoch, dass ihre Beweggründe der Ruhm und die Ehre des Schlachtfeldes waren. Das Abenteuer des Kampfes. Sie hatten das Gefühl erfahren, in der Gemeinschaft zu siegen, Macht auszuüben, sich beweisen zu können. Möglicherweise dachten einige daran, mit großen Heldentaten die sesshaften Bürger Falméras, ihre Eltern, zu beeindrucken.
Basti kam an einem Platz unweit seiner eigenen Hütte vorbei, wo einige Jungen mit Stöcken verbissen gegeneinander fochten. Er war froh, dass sie dazu nicht ihre echten Waffen einsetzten, sonst hätten sie schon jetzt erste Opfer zu beklagen. Doch es war kein spielerisches Messen der Kräfte. Sie trainierten ernsthaft für die Konfrontation mit einem gefährlichen Gegner!
Antarona saß mit Isane, Vesgarina, Te-itika und Tiskaja vor den Hütten und nähte. Antaronas und Bastis Behausung bildete mit den beiden Hütten des Plon-tà Clans ein für sich stehendes Dreieck mit einer Feuerstelle in der Mitte. Die Mädchen fertigten neue Ra-lis und reißfeste Hüftbänder aus Antilopenhaar und Hautstreifen. Sie waren so sehr in ihre Arbeit vertieft, dass sie scheinbar gar nicht bemerkten, wie er hinter sie trat. Er freute sich schon, die Mädchen überrascht zu haben und sagte:
»Die Jungs dort drüben, die legen sich ja mächtig ins Zeug. Als müssten sie noch heute Torbuks Reiter aus dem Land werfen.« Basti hatte erwartet, die Mädchen müssten nun erschrocken zusammenfahren, und sich überrascht zu ihm umdrehen. Statt dessen antwortete Antarona ruhig und ohne aufzusehen:
»Das geht schon den ganzen Sonnenlauf so, Ba - shtie. Die standen schon ganz früh vor unserer Hütte, und wollten, dass Sonnenherz sie den Schwertkampf lehrt. Doch ein Kadim, Sohn des Bathan von Turu genügt Sonnenherz für einen Sommer.«
Ihre gelangweilt klingende Antwort erzählte ihm, dass sie ihn längst wahrgenommen hatte, als er noch ein par Zentaren entfernt gewesen war. Tatsächlich hatte Antarona ihren Gefährtinnen wie ganz nebenbei zugeraunt, Glanzauge ist zurück, als er noch gar nicht in Sichtweite gewesen war. Sie fühlte ihn; sie empfand seine Stimmung, seine Erregtheit, und seine Absicht, sie zu überraschen.
Basti ließ sich nichts von seiner leichten Enttäuschung anmerken, wusste aber, dass Antarona sie fühlte. Doch spontane Gedanken vermochte sie nicht zu lesen. Daher sagte er fast emotionslos:
»Wenn wir aufbrechen, sollten wir wissen, wohin wir gehen. Mit dem ganzen Volk im Nachzug einen Weg suchen, ist nicht vorteilhaft. Besser wir sehen uns jetzt schon mal um, oder?« Das war eine deutliche Aufforderung. Basti war es so sehr gewohnt, in dieser Welt nur mit Antarona durch das Land zu streifen, dass er gar nicht auf den Gedanken gekommen war, einen der jungen Burschen mitzunehmen.
Spätestens nach dieser Frage fühlte Antarona sich überrumpelt. Seit den frühen Morgenstunden, als Basti die kleine Hütte verlassen hatte, spürte sie ein leichtes Ziehen im Unterleib. Kaum etwas Weltbewegendes; so etwas hatte sie seit ihrer Jugend immer wieder gehabt. Doch es war unangenehm, sie war nicht so konzentriert wie sonst, fühlte sich etwas müde, und war deutlich unzufrieden, wenn sie das Gefühl hatte, dass ihr Körper nicht perfekt funktionierte.
Sie war froh gewesen, im Kreis ihrer Freundinnen eine leichte Handarbeit ausführen, und ihren Gedanken nachhängen zu können, obwohl sie auch dazu keine allzu große Lust verspürte. Sie war eben einfach einmal schlecht gelaunt, wohl auch, weil sich die Dinge nicht so entwickelten, wie sie es sich gern gewünscht hätte.
Im Grunde hatte sie Heimweh. Sie musste zugeben, dass sie mehr und mehr Sehnsucht nach dem Val Mentiér verspürte. Nach dem Holzhof ihres Vaters, nach den Seen in den schmalen Tälern, nach ihrer Höhle, einfach nach ihrer seit Zentaren gewohnten Umgebung. An diesem Morgen war ihr klar geworden, dass sie schon viel zu lange unterwegs waren. Die Mission, den Tälern die Entscheidungsfreiheit unabhängig von der Krone zu bringen, war in jeder Hinsicht viel zu weit ausgeufert.
Sie spürte eine innere Unruhe, die sie nicht mehr abschütteln konnte. Immer mehr empfand sie sich als überflüssig, und hatte das Gefühl, untätig auf Falméra hin und her zu wandern, während ihre Heimat in Blut und Tränen versank. Vielleicht auch deshalb, weil Ba - shtie den Drang mit ihr teilte, endlich etwas zu tun, übergab sie ihre Tierhaut, an der sie genäht hatte, Vesgarina, und stand auf.
Wie zur eigenen Bestätigung streckte sie sich, und ließ das Blut in ihre Glieder zurückströmen. Sebastian beobachtete sie fasziniert. Eine Göttin, makellos und verführerisch. Jung, biegsam, und wunderschön. Ihre gebräunte Haut glänzte in der Sonne, die Sehnen ihrer langen Beine spannten sich elegant und demonstrierten ihm ihre Rundungen, die perfekt ausgestaltet waren, wie die Skulptur eines verliebten Bildhauers.
Sie trug ihren geschmückten Ra-li, der bereits geflickt war. Die neuen Ra-lis waren noch in Arbeit. Bast sah an sich herunter, denn sein eigener Ra-li hing ihm ausgetragen und zäh um die Hüften. Das Leder war dünn geworden, und er konnte nicht verbergen, wie sehr Antaronas Reize ihn gefangen nahmen. Die anderen Mädchen kicherten verhalten, als sie die deutliche Ausbuchtung unter seinem Hüftschurz bemerkten.
Antarona kroch in ihre Hütte und holte ihre Waffen heraus. Basti sah ihr nach und verschlang, was ihr Ra-li nur spärlich bedeckte, mit seinen verlangenden Blicken. Das Krähenmädchen band sich noch im Gehen die Perlenschnüre mit den Federn ins Haar, und folgte ihm aus dem Dorf hinaus.
Nun, da sie wieder den Boden mit dem spröden Gras unter ihren nackten Füßen spürte, und der Wind sanft um ihren Körper strich, fühlte sie sich auf einem Mal besser. Mit der Leichtigkeit der trainierten Jägerin und Kriegerin schritt sie neben Sebastian her, fiel in ihren gewohnten Trott einer Fortbewegung zwischen Gehen und Laufen.
Plötzlich wusste sie, dass ihr Unmut nur durch ihre Untätigkeit ausgelöst worden war. Mit dem Beobachten des Geländes verflog ihre Müdigkeit und Passivität wie fortgeblasen. Ihre Sinne banden sich in die Landschaft ein, registrierten wie gewohnt jede Bewegung, jeden Laut, jeden Geruch. Sie war wieder die Waldläuferin, die mit ihren Sinnen alles unter Kontrolle hatte. Ohne dass es ihr selbst bewusst wurde, übernahm sie die Führung, und Basti hatte Mühe, ihr im rauen Gelände zu folgen.
Aber er genoss es, hinter ihr zu gehen. Ihre geschmeidigen Bewegungen, die ihren fast nackten Körper in jeder seiner Fasern zur Schau stellten, erregten ihn. Alles an ihr schürte seine Phantasien. Ihre locker herabfließenden Haare, die wie eine schwarze Fahre um ihre bloßen Schultern wehten, ihr gerader Rücken, dessen Narben ihn noch anziehender für ihn machten, die gebräunten, glatten Rundungen ihres Pos, der sich ohne ein Gramm zuviel unter dem knappen Ra-li bewegte.
Sie verführte ihn mit ihren kleinen, festen Brüsten, die bei jedem Schritt leicht auf und ab wippten, und mit ihren schlanken, kräftigen Schenkeln, die sich bei jedem Sprung, bei jeder Drehung spannten. Selbst ihre kleinen Füße, die flink ihren Weg suchten, und die Zehen wie Krallen in den Borden gruben, um ihr bei jedem Schritt Halt zu geben, betörten seine Blicke.
Basti wusste, dass Antarona seine Reaktion auf ihren Anblick spürte. Sie kannte genau die Wirkung ihrer Reize auf ihn, und wusste, dass er sich bei jeder ihrer Regungen mit seinen Blicken nach ihr verzehrte. Sie erkannte es nicht nur an seinen Reaktionen, sie spürte es, sie las es in seinen Gedanken. Und obwohl sie auf diese Weise erfuhr, dass er in ständiger Sehnsucht nach ihr lebte, und sie sich als Frau begehrt fühlte, provozierte sie ihn oft so lange, bis er ihr sein Verlangen nach ihr in Worten gestand.
An diesem warmen Tag musste er sich mehr als sonst beherrschen, um sie nicht einfach zu packen, und ins weiche Gras zu werfen. Hinter ihr herzulaufen, sie zu betrachten, und sie doch nicht anzurühren, kam einer Selbstgeißelung gleich. Seine Gedanken verschwendeten sich nicht mehr an die Umgebung, sondern streichelten und liebkosten jeden Zentimeter ihrer glatten, bronzenen Haut, bis eine ordinärer Stein seinen Träumen ein jähes Ende setzte.
Sebastian stolperte, schlug sich den Zeh an, und flog der Länge nach hin. Sein Schwert klapperte laut gegen einen kleinen Felsen, der aus dem Boden ragte, und wären in diesem Augenblick Feinde in der Nähe gewesen, so hätte er sie nicht deutlicher warnen können. Antarona drehte sich breit grinsend nach ihm um.
»Ist der große Krieger bereits müde?« belustigte sie sich, und stupste ihn mit ihren Zehen an. Diese kleine Geste forderte seine Begierde noch mehr heraus, und er musste sich mächtig zusammenreißen, seine Konzentration wieder auf die Landschaft zu konzentrieren.
Antarona hingegen hoffte darauf, dass er den Verstand verlor, und ihrer Weiblichkeit erlag. Der Stups mit den Zehen war die pure Absicht, ihm eine Gelegenheit zu geben. Der Ort, wo sie sich von ihm in Besitz nehmen lassen wollte, war ihr gleich. Wenn er ihr nur seine Männlichkeit bewies. Doch handeln sollte er! Sie wollte, dass er sie eroberte, dass er ihren Widerstand brach, dass er ihr zeigte, dass er Mann war.
Als sie spürte, dass Basti gegen seinen eigenen Trieb aufbegehrte, sich zur Zurückhaltung zwang, begann für sie das Spielchen erst recht interessant zu werden. Sie lächelte still in sich hinein, und ersann die nächste Provokation seines Begehrens. Sie wusste: Am Ende würde sie Siegerin bleiben, und bekommen, was sie sich wünschte.
So folgten sie dem unsichtbaren Weg über den Pass, und in den Wald, und auf eine Lichtung, schließlich auf freie Wildweiden, in die eingebettet einige Seen lagen, die irgendwann durch Bergstürze entstanden waren. Antarona unterließ es auf dem ganzen Weg nicht, ihm immer wieder wie zufällig zu präsentieren, was er sich ersehnte.
Einmal blieb sie stehen, scheinbar um sich neu zu orientieren, und hob, wie in Gedanken verloren, ihren Ra-li höher, indem sie mit den Daumen hinter das Band fuhr, es hin und her vom Körper weg zog und Stück für Stück höher zog, bis das dünne Leder so eng anlag, dass es mehr offenbarte, als verbarg. Dabei bewegte sie schlangengleich Beine und Hüfte, um das Höherziehen zu unterstützen. Tatsächlich war es die blanke Herausforderung, die Basti beinahe die Sinne schwinden ließ.
Ein anderes Mal provozierte sie ihn, als sie im Dickicht ein kleines Rudel Antilopen entdeckten. Antarona kroch beim Anpirschen vor ihm her durch das Gebüsch. Sie ließ keine Gelegenheit aus, ihm durch die Bewegungen ihres Beckens in Erinnerung zu rufen, was sie zu bieten hatte. Im Grunde gab es gar keinen Grund sich anzuschleichen, denn sie konnten keine Beute auf ihrem Erkundungsgang mitnehmen.
Zuletzt erreichten sie auf einer tiefer gelegenen Lichtung, die in eine ausgedehnte Weide mündete, einen Bergsee. Er hatte einen kleinen Bach als Zu- und Ablauf, und schien nicht mehr zu sein, als eine Mulde, die von der letzten Eiszeit zurückgelassen, und mit der Zeit vollgelaufen war. Der See mochte nicht sehr tief sein, doch er war in seiner Ausdehnung immerhin so groß, dass man die Identität einer Person am gegenüber liegenden Ufer nicht mehr erkennen konnte.
»Sonneherz ist heiß, sie muss sich abkühlen.« Mit dieser nüchternen Ankündigung ließ sie ihre Waffen am Ufer fallen, und warf sich in das klare, grünblau schimmernde Wasser. Als sie wieder auftauchte, hatte sich das Leder ihres Ra-li vollgesogen und klebte ihr wie eine zweite, glänzende Haut tief auf ihrem Schoß. Ihr glänzender Körper, nass und von der Sonne beschienen, schimmerte einladend, als auch Basti Schwert und Bogen ablegte.
Tropfend stand Antarona bis zu den Oberschenkeln im Wasser, und lächelte ihn süß an. Basti sprang der Länge nach in den See, schoss auf sie zu, und umfasste ihre Beine, womit er sie zu Fall brachte. Sie ruderte mit den Armen, und tauchte im nächsten Moment im Wasser unter. Sebastian hatte sie aber nicht losgelassen, denn er wusste, dass sie ihm im nassen Element deutlich überlegen war.
Seine kräftigen Arme hoben sie aus den Fluten, und trugen sie zum Ufer, wo eine alte, bizarr geformte Wurzel eines großen Baumes der natürlichen Verrottung wiederstanden hatte. Er legte seine Frau in das weiche Ufergras, und sie ließ es wehrlos geschehen. Dieses Mal gab es keine neugierigen Zeugen, als Basti sich über sie beugte. Die Abgeschiedenheit von allen Menschen, ließ nur die Laute der wenigen Vögel, des schwachen Windes, und das Rauschen ihres eigenen Herzschlags an ihre Ohren dringen, als sie sich den Verlockungen ihrer Liebe hingaben...
Danach empfingen ihre Sinne wieder nach und nach die Geräusche der Umgebung. Dass die Tiere des nahen Waldes, ja sogar die Insekten für einen kurzen Augenblick verstummt waren, hatten sie gar nicht mitbekommen. Es war, als hätte die Welt den Atem angehalten, als sie sich einander hingaben. Andächtiges Schweigen der Natur, welche ihre ureigensten Triebe zur Bewahrung des Lebens mit einem bedächtigen Gedanken ehrte.
Gemeinsam rollten sie sich ins Wasser, und schwammen ruhig im See umher, um ihren Schweiß von den Körpern zu waschen. Anschließend legten sie sich ins Gras, und ließen sich von der Sonne trocknen. Sebastian hängte ihre Ra-lis über die verzweigte Wurzel am Ufer, damit das Wasser abtropfen konnte. Ganz trocknen würden die Lederschürze nur an ihren Körpern, wenn sie sich bewegten. Nur wenn sie beim Tragen trockneten, würden sie weich und geschmeidig bleiben, und nicht als brettharte Schalen enden.
Es war bereits Nachmittag, als Antarona und Basti sich auf das besannen, weswegen sie eigentlich losgezogen waren. Sie legten ihre Ra-lis an, hängten sich die Waffen um, und folgten der Schneise, in die der stille und entlegene See eingebettet lag, talwärts.
Wie weit sie an diesem Tag noch kommen würden war ungewiss. Sebastian war das einerlei. Er hatte seine geliebte Frau wieder einmal sehr intensiv erlebt; das genügte ihm. Und im Grunde, so musste er sich heimlich eingestehen, war das sein eigentliches Ziel gewesen. Die Erkundung des weiteren Weges war ihm nur eingefallen, um mit Antarona allein zu sein, um sich mit ihr ohne Rücksicht auf die Jo-lie ihrer Liebe hinzugeben.
Ein schlechtes Gewissen plagte ihn deshalb nicht. Im Gegenteil. Er war glücklich und zufrieden. Diese Stunden vermochte ihnen niemand mehr zu nehmen. Er konnte nicht einmal ahnen, wie viel Zeit ihnen noch bleiben würde, wenn sie erst einmal Falméra erreicht hatten. Möglicherweise mussten sie die erste beste Gelegenheit nutzen, um sich zum Festland einzuschiffen. Und wann sie sich danach wiedersehen würden, war noch ungewisser. Er wollte Antaronas Liebe solange auskosten, wie möglich, und keinen Tag, keine Stunde mehr verschwenden.
Die Schneise, die sich immer mehr dem Tal zuneigte, schmaler wurde, und schließlich ganz in den dichten Wald überging, fingen sie an, sich schneller zu bewegen. Der Wald, er bestand nun aus immer mehr Laubbäumen, war schattig und kühl. Der gefühlte Temperaturunterschied zu den sonnigen Alpweiden mochte gut sechs Grad oder mehr betragen.
Beinahe lautlos schlichen sie durch die mächtigen Baumriesen hindurch, von denen einige geschätzte Zweihundert Jahre alt sein mochten. Wurzeln, so dick wie Schiffsmasten, Moos bewachsen, schlängelten sich über den Boden, und waren im Zweifelsfall von einem großen Sis-tà-wàn im Dämmerlicht kaum zu unterscheiden. Wo die Bäume genügend Raum ließen, besetzte undurchdringliches Unterholz die freien Stellen.
Antarona führte Basti deshalb stets dicht an den säulenartigen Stämmen vorbei. Die Gefahr, dass sie sich an Dornen und Zweigen die Haut in Fetzen rissen, war damit zwar nicht gebannt, aber deutlich reduziert. Sie mieden die Abschnitte, in denen vermehrt kleine Bäume standen, und umgingen so die dichteste Vegetation.
Als sie einen zu Tal sprühenden Bergbach fanden, versuchten sie in seinem Bett das dichteste Dornengestrüpp zu umgehen. Doch das klare Wasser war so kalt, dass sie bereits nach einigen Metern kein Gefühl mehr in den Füßen hatten. An einigen Stellen gelang es ihnen, von Stein zu Stein zu springen, doch das ging nur soweit gut, als die nassen Steine nicht mit Moos behaftet waren. Algen und Moos machten sie zu glatten, rutschigen Fallen, in denen man sich leicht einen Fuß, oder ein Unterbein brechen konnte.
In der groben Richtung aber folgten sie dem Bach. Wenn sie mit den Jo-lie zu Tal gingen, würden sie so stets frisches Wasser haben. Außerdem wies ihnen der Lauf des Wildwassers den sicheren Weg hinab, sowie wahrscheinlich zu einem größeren Fluss, der vielleicht nach Norden führte, auf jene Route, auf der sie nach Mehi-o-ratea gekommen waren.
Einmal blieb Antarona unvermittelt stehen, ging in die Hocke, und hob eine Hand zum Zeichen, dass auch Basti in Deckung gehen sollte. Sofort folgte er ihrem Beispiel, und sah angestrengt in die Richtung, in welche Antarona stumm zeigte. Doch er vermochte nichts zu sehen, seine Augen konnten das dichte Gewirr der Zweige und Blätter nicht durchdringen. Er blickte auf eine Wand aus grünen, gelben, und braunen Blättern, die sich kaum im Wind bewegten.
Irgendetwas aber musste das Krähenmädchen erspäht haben. Basti hob fragend die Schultern. Noch einmal deutete Antarona auf die starre Kulisse des Waldes, die sich vor ihm wie das detaillierte Bühnenbild eines Theaters auftat. Doch er sah nur, was sie seit Stunden sahen: Äste, Blätter, Zweige, dazwischen, wie versteckt, Baumstämme, die sich im Chaos der Vielfalt auflösten.
Da! plötzlich schien sich ein Hintergrund aus dem Bild herauszulösen, und sich zu bewegen. Es war, als verwandelte sich das Bild von einer zweidimensionalen in eine dreidimensionalen Ansicht. Bewegte sich der Hintergrund nicht, so verschwommen beide Ebenen zu einer einzigen. Doch immer wieder schien sich eine hintere Ebene zu verschieben, stets in eine Richtung.
Auf einem Mal schob sich ein mächtiger Kopf, mit Hörnern besetzt, hinter der Blätterfassade hervor, und sofort zeichnete sich ein riesiges Wesen hinter dem scheinbar starren Bild ab. Ein Xebron bewegte sich schwerfällig durch die Vegetation. Ein mächtiger Bulle, der den Wald auf der Suche nach seinen bevorzugten Leckerbissen, die Blätter bestimmter Bäume, durchstreifte. Sein dickes, zotteliges Fell bot eine perfekte Tarnung im Blätterdickicht, obwohl das große Tier so gut wie keine Feinde zu fürchten hatte.
Der Anblick des urzeitlich anmutenden Riesen war beeindruckend, und Basti hielt den Atem an. Sie mussten sich mucksmäuschenstill verhalten. Wurde der Xebronbulle auf sie aufmerksam, würde er sie angreifen, und einfach platt trampeln. Xebrons, so hatte ihm Antarona erklärt, mochten keine anderen, erdgebundenen Wesen in ihrer Nähe. Diese Scheu, die oft in einem nicht zu stoppenden Angriff münden konnte, diente dem Schutz der kleinen Kälber, die leichte Beute für einen Felsenbären, für einen Bro-wan, die Felsenkatze und anderes Raubzeug werden konnte.
Dieser Bulle hatte möglicherweise gerade seine Kuh verloren, jene, die der zweite Jagdtrupp am Tag zuvor erlegt hatte. Sebastian wäre an seiner Stelle ebenfalls zurecht sauer, und würde alles angreifen, was seinen Weg kreuzte. Deshalb blieben er und Antarona wie versteinert in Deckung sitzen und rührten sich nicht. Nur ihre Augen verfolgten das riesige Tier.
Diesen Bullen zu erlegen, war eine große Versuchung. Sein Fell würde ein neues Schlaffell und Zelt in einem bedeuten. Sein Fleisch mochte den Jo-lie einen Mond lang reichen. Doch zu zweit, nur mit Pfeil und Bogen bewaffnet, gegen einen solchen Giganten anzutreten, kam einem Selbstmord gleich, oder hätte in Bastis Welt bedeutet, einen Panzer mit einer Pistole anzugreifen. Außerdem hätten sie das Fleisch und die Decke nicht allein den Berg hinaufschleppen können.
Also verhielten sie sich ruhig, bis das gewaltige Tier, das Basti für ein überlebtes Relikt aus der Epoche der Saurier hielt, vorübergezogen war. Vor solch einem Ungetüm musste sich sogar ein Gor in Acht nehmen. Vorsichtig tasteten sie sich weiter am Bach entlang, stets bereit, wieder im unüberschaubaren Unterholz zu versinken, sollte der Xebron noch einmal auftauchen.
Noch etwa eine halbe Stunde folgten sie dem Wildwasser, dann ergoss sich der Bergquell in einen Fluss. Antarona blieb stehen und musterte das vor ihnen liegende Waldgelände mit aufmerksamen Blicken. Jenseits des Flusses stieg der Wald zu einem flachen Hügel an, der sich bis zu einer Bergkante hinzog, die aus der Ferne herüberleuchtete, inzwischen von der Nachmittagssonne angestrahlt.
»Ba - shtie, seht dort, der hohe Baum dort drüben«, Antarona wies über den Fluss, »dort ist etwas, auf der Höhe des Waldes, seht ihr es?« Er gab sich Mühe, konnte jedoch nur einen Baum entdecken, der ein wenig über die anderen hinausragte, und ungewöhnlich große Blätter hatte. Das Krähenmädchen stieß ihn an, als wollte er nicht begreifen.
»Dieser Baum dort, solche Blätter wachsen nur auf dem Boden, nicht in dieser Höhe«, klärte sie ihn auf. »Lasst uns hinüberschwimmen, und sehen, was es damit zu tun hat«, schlug sie vor. Sebastian verstand nicht recht.
»Schwimmen? Jetzt, dort hinüber? Über den Fluss?« Seine übertriebene Frage, die Antarona dazu bewegen sollte, ihren Vorschlag zu überdenken, vermochte sie nicht von der Idee abzuhalten. Sie war bereits fest entschlossen.
»Ja, natürlich, Ba - shtie, jetzt, über diesen Fluss, oder seht noch einen anderen?« Sie schwenkte ihren Arm in Richtung zu diesem ungewöhnlichen Baum, den er gar nicht so ungewöhnlich fand.
»Kommt schon, ein wenig Wasser wird euch nicht umbringen. Das Bad im See zählt nicht« schob sie schnell noch nach, um seinem möglichen Einwand zu begegnen.
Und schon setzte sie sich in Bewegung. Basti murmelte noch etwas von gefährlichen Tieren im Fluss, welche sie überraschen konnten, doch Antarona war bereits ins Wasser gestiegen, und watete auf die Flussmitte zu. Warum mussten Frauen immer so einen Dickschädel haben, und alles sofort haben wollen? Kopfschüttelnd schob er sich ihr durch das Wasser nach, stemmte sich gegen die Strömung, und rätselte, warum das zierliche Krähenmädchen vom Strom nicht einfach umgerissen wurde.
Überraschenderweise war der Fluss nicht sehr tief, und erstaunlich warm, als würde er von einer unterirdischen Thermalquelle gespeist. Das Wasser ging ihnen bis knapp über die Brust, die Waffen mussten sie über ihre Köpfe halten, und schneller als gedacht, konnten sie das jenseitige Ufer erklimmen. Wieder klebte der Ra-li beim Gehen zwischen den Schenkeln. Basti hasste das Gefühl, als hätte er nicht mehr an sich halten können, und hätte das Leder genässt. Doch der Wind trocknete das einzige Kleidungsstück, das sie beide am Leib trugen, binnen Minuten.
Der Baum, der Antaronas Interesse geweckt hatte, war aus dieser Perspektive nicht mehr zu sehen. Dennoch stieg sie zielstrebig durch den dichten Wald den leicht geneigten Hang hinauf. Und tatsächlich entdeckten sie im Unterholz Sträucher, eine Art Gummibaum, die so große Blätter besaßen, wie jene, die man aus der Ferne am Baum erkennen konnte.
Antarona ahnte ihren Weg. Basti hatte noch nicht herausgefunden, wie sie das machte, doch sie vermochte zu einem Ziel zu gelangen, das man weder sehen konnte, noch dass ein Weg zu ihm hinführen würde. Sie besaß den Orientierungssinn eines Tieres, antrainiert während Jahrelanger, einsamer Streifzüge durch die Wildnis Val Mentiérs.
Eine halbe Stunde später standen sie auf einem lichten Platz im Wald, nahe einem kleinen See. Die Bäume standen nicht so dicht, wie bisher, Strauchwerk gab es nur wenig, und der Boden schien plattgetreten, wie von den Füßen einiger Menschenwesen.
»Erkennt ihr diesen Ort nicht?« fragte Antarona beinahe vorwurfsvoll, und schwenkte ihren Arm herum, als wollte sie ihm den sie umgebenden Reichtum der Natur darbieten. Basti kam der Platz bekannt vor, doch erst als sich Antarona vor ihm her, durch die Büsche mit den riesigen Blättern zum See einen Weg bahnte, wusste er, wo sie sich befanden.
Er blickte sich suchend um, dann erkannte er den hohen Baum. Es war jener Baum, auf dem sie sich während eines Unwetters häuslich eingerichtet hatten, als sie sich auf dem Weg von Falméra nach Mehi-o-ratea befanden. Ganz oben, in den mächtigen Ästen, war noch die Konstruktion zu erkennen, in welche sie die großen Blätter geflochten hatten, die ihnen Schutz vor dem strömenden Regen geboten hatten. Einige der Blätter waren noch erhalten geblieben, so sah der Baum aus der Ferne aus, als sei er so gewachsen. Sie waren also ihrer Route vom Hinweg näher, als sie gedacht hatten.
Bis zum Abend durchstreiften sie die nähere Umgebung, um festzustellen, ob etwas darauf schließen ließ, dass inzwischen andere Menschenwesen diesen Ort aufgesucht hatten. Dabei fanden sie das Skelett des Xebron, den sie seinerzeit erlegt hatten. Die Tiere des Waldes hatten es fein säuberlich abgenagt. Bleich lag nun der riesige Schädel und der Brustkorb, so groß wie eine Hütte, im Gebüsch. Der Anblick erinnerte Basti an manchen Urzeit-Abenteuerfilm aus dem Fernsehen. Doch in der Realität wirkte die ganze Kulisse etwas ernüchternd.
Bevor es zu dämmern begann, schlugen sie einige Stapel Blätter und gerade gewachsene Zweige aus den Sträuchern, sowie einige dünne Ranken von den Bäumen. Das ganze Material schafften sie auf den Baum hinauf, und setzten ihr Blätterdach wieder instand, um die Nacht hoch über dem Boden zu verbringen. Doch gegen die nächtliche Kälte hatten sie keinen wirksamen Schutz.
Um nicht erbärmlich frieren zu müssen, knüpfte Antarona einige der größten Blätter mit den Ranken so zusammen, dass sie eine Art Kokon ergaben, eine spitz zulaufende Röhre, in der kaum zwei Menschen Platz hatten. Diese Blätterhülle würde verhindern, dass ihre Körperwärme entwich, und mochte auch den Wind abhalten. Sie platzierten die labil wirkende Röhre auf der geräumigsten Astgabel, und Antarona befestigte das ganze Konstrukt mir weiteren Ranken und Lianen. Das Ganze ergab einen unter den gegebenen Umständen passablen Schutz vor Wind und Wetter.
Als auch die Wände des alten Blätterschutzes ausgebessert waren, leuchteten bereits die ersten Sterne vom Himmel. Die schmale Sichel des Mondes spendete ein bescheidenes Licht, als Basti und Antarona ihre Waffen in die Äste hängten, und umständlich in die nicht sehr stabile Röhre krochen. Ein im Schlaf Herumwälzen mussten sie sich verkneifen. Ebenfalls das körperliche Interesse aneinander.
Die monotonen Stimmen der Nacht, das Zirpen der Insekten, das Rufen der Nachtvögel, und das Rascheln der Blätter im Wind, ließen sie alsbald eng aneinander gekuschelt in einen tiefen Schlaf sinken.
  Wichtiger Hinweis: Die Texte des Autors Frank Adlung, insbesondere die des Romans "Das Geheimnis von Val Mentiér", sind durch notarielle Hinterlegung urheberrechtlich geschützt. Ein Herunterladen und Ausdrucken ist nur für den privaten Zweck des Lesens gestattet. Kommerzielle Nutzung, öffentlicher Vortrag, oder Vervielfältigung und Verfälschung des Inhalts, sowie öffentliche Verbreitung ohne Genehmigung des Autors sind untersagt und werden zur Anzeige gebracht.
 
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