Berge zur Selbsterkenntnis
 
Herbsttag
Anschauung
 
inst wird der Tag kommen, da sitze ich scheinbar sehnsuchtsvoll vor irgendeiner Hütte, allein, weil die meisten meiner Freunde im Laufe der Zeit an irgendwelchen Bergen geblieben sind. Es wird dann aber nicht wirklich Sehnsucht sein, die mich an diesem Tag die Gipfel ringsum betrachten läßt.
Es werden Erinnerungen sein, denen ich nachhängen werde. Erinnerungen an heute, wo ich vor der Hütte noch nicht stillsitzen kann, wo ich noch jeden Berg ersteigen, und jede Wand bezwingen will.
Es ist noch Sommer. Der Sommer eines Bergsteigerlebens, in dem einzig und allein die Routen der oberen Schwierigkeitsgrade und die Anzahl der erstiegenen Viertausender zählen.
Schon heute bemerke ich zuweilen die zarten Blumen am Wegesrand, und die bizarr geformten Steine. Immer öfter nehme ich das Zirpen der Grillen wahr, und den Hauch des Windes in herbstlich gelben Arven. Immer mehr schenke ich all dieser Schönheit der Natur Beachtung.
Auf dem Wege zum Herbsttag kommt mir nicht mehr nur diese Wand im fünften Grad in den Sinn; längst ist der Zustieg zu ihr nicht mehr nur ein lästiger Weg.
Noch ist Sommer, doch vielleicht brauche ich irgendwann eine oder mehrere Stunden länger, bis ich mein Ziel erreiche. Doch das Tempo, das ich auch im Herbst noch vorzulegen weiß, werde ich dann immer noch durchhalten können. Und ich werde sicher auch dann noch eine Reihe von jungen Schnellstartern auf halbem Weg einholen, wenn diese mich auch zu Beginn einer Tour weit hinter sich lassen. Es wird mir dann der Triumph vergönnt sein, die Ausdauer und Erfahrung vieler Westalpenjahre auszuspielen.
Gewiß wird dann Vieles nicht mehr so intakt sein, wie heute. Meine Augen werden vielleicht vor den kontinuierlichen Kalkangriffen kapituliert haben, Vielleicht ist bis dahin mein Tennisarm steif geworden, oder es sind die Wehwehchen, die alle Alpinisten kennen, die den Herbsttag genießen, wie Rückenschmerzen, von unzähligen Nächten in eiskalten Biwaks und feuchten Clubhütten. Und von schweren Rucksäcken, die es im Sommer, aber oft auch im Winter den Berg hinauf und hinunter zu schleppen galt.
Das wird der Preis sein, für das freie, wilde Leben, das ich heute in vollen Zügen genieße. Im Herbst werde ich dann andere, jüngere Berggänger um ihre Unbekümmertheit beneiden. Wahrscheinlich werde ich sie aber nicht mehr beneiden um die kalten, schlaflosen Nächte im Freibiwak, die endlosen, angstvollen Minuten bei Steinschlag, der surrend die Wand durchfegt, oder um unberechenbare Gewitter und Wetterstürze, die jeden Weg zum Spießrutenlaufen werden lassen.
Eines schönen Herbsttages werde ich vor der Hütte sitzen. Ich werde den Wunsch verspüren, über den luftigen Grat zum Gipfel vorzudringen, und oben zu stehen. Meine Panzerglasbrille wird dem Verlauf der Führe folgen, und ich werde beginnen zu überlegen. Und im Spätherbst werde ich nicht einmal mehr überlegen. Ich werde vor der Hütte sitzen, Steigeisen und Pickel extra im Tal gelassen. Ich werde bewußt die Schönheit der Landschaft wahrnehmen, werde mich über die Stille der Bergwelt und die wärmenden Strahlen der Sonne freuen. Ich werde mich an viele schöne Tage hier oben in meinen Bergen erinnern, auch an erfüllte Tage, sowie an treue Gefährten, von denen die meisten dann schon nicht mehr zu meinem Leben gehören werden.
Und dann werde ich wohl den Alten verstehen, der heute mit der Seilbahn zum Gletscher heraufgefahren ist, der auf seinen Handstock gestützt, mit Tränen in den Augen seinen Blick über die hohen Gipfel schweifen läßt, und sich mit der knorrigen Hand über das faltige Gesicht fährt.
Ich sehe ihn, und begreife, wie nahe Sommermorgen und Herbsttag beieinanderliegen...
 
 
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