Berge zur Selbsterkenntnis
 
Die Katastrophe (August 1980)
 
ergsteigen ist ja so leicht! Ein Viertausender ist für mich keine unüberwindbare Anforderung mehr! Wieder einmal bin ich in den Walliser Alpen, allein, doch mutig genug und voller Tatendrang. Sicher, die große Erfahrung eines Reinhold Messner, Walter Bonatti, oder Hans Kammerlander habe ich freilich nicht, aber wozu auch?
Seit Mitte Juli bin ich schon in Zermatt, habe, als mir Plattenhorn, Mettelhorn, Breithorn und die Rothörner zu leicht und wie Spatziergänge vorgekommen waren, die großen Touren mit Erfolg und Leichtigkeit gemacht: Den Liskamm mit den beiden Gipfeln und das Matterhorn zusammen mit Hans. Das Obergabelhorn in Verbindung mit der Wellenkuppe allein, und mit Hans, Ueli, Toni, Peter und Röby sogar als Seilerster den Dent d' Hérens.
Doch die ganz großen habe ich noch auf dem Programm, wie Dom, Dufourspitze, Walliser Weißhorn und wenn die Zeit reicht, vielleicht noch den Biancograt am Bernina.
Ich scheine eine Naturbegabung zu besitzen, was das Bergsteigen anbelangt. Ohne Bergsteigerschule und ohne aufwendiges Akklimatisationstraining schaffe ich es spielend leicht auf die Viertausender der Alpen, wo Andere längst ein Opfer ihrer nicht vorhandenen Kondition geworden sind.
Janine wird stolz auf mich sein können, wenn ich mit Viertausendergipfeln gekrönt nach Braunschweig zurückkehre. Und erst die Arbeitskollegen! Diese im Alltagstrott dahinschlurfenden, unkreativen armen Menschen werden erst noch sehen und staunen, wenn sie in der Zeitung über mich lesen: "Braunschweiger Handwerker bezwang alle Viertausender der Westalpen". Aber vorerst steht noch ein leichterer Viertausender auf meiner Wunschliste: Die Felsenpyramide des Dt. Blanche. Ich habe mich bereit erklärt, Hans, Ueli, Toni, Peter und Röby noch einmal mitzunehmen.
Gestern waren wir mit Hans seinem Kleinbus nach Zinal ins Val d' Anniviers heraufgekommen und haben uns gleich an den Aufstieg zur Mountethütte gemacht. Glücklicherweise bei bestem Spätsommerwetter. Radio TRS 1 verspricht für die nächsten Tage ein stabiles Hoch.
Der Fastsechskilometeranstieg zur Hütte, noch dazu in der Sonne des Tages macht Toni und Hans etwas zu schaffen. Besorgt frage ich mich, ob sie den Gipfel jemals erreichen werden, wenn sie schon hier, einer Dampflock gleich, schwitzen und schnaufen.
Wir erreichen den Einstieg in den Glaciér de Zinal, auf dem noch der Neuschnee von der letzten Schlechtwetterperiode liegt. Da Hans diese Führe nicht genau kennt, obwohl er doch im Vispamattertal beheimatet ist, und wohl von uns allen die meisten Berge hier im Wallis erstiegen hat, ergreife ich die Initiative und spure.
Wenn ich das erst Janine erzähle: Führer einer Sechserseilschaft! Sie hatte es leider absolut nicht verstanden, dass ich ins Gebirge fahren wollte. Aber schließlich kann ich dahingehend von ihr als Frau nicht sehr viel Verständnis erwarten. Für sie bedeuten diese hohen Regionen nur Gefahr. Für mich hingegen sind diese Berge so etwas wie eine Zukunftsvision. Ich spüre: Sie sind meine Zukunft, eben der Weg zu Ruhm und Erfolg, Ziele, die sich in meinem Job niemals erreichen lassen. Janine wollte mit mir viel lieber nach Paris fahren. Ich habe ihr jedoch unmißverständlich klar gemacht, dass ich einmal im Jahr die Freiheit des Abenteuers in den Bergen brauche, jedenfalls mehr, als das stundenlange Herumwühlen und Schnökern in den Auslagen der Boutiquen und Souvenierläden einer Weltstadtmetropole. Janine war daraufhin ziemlich gekränkt, als ich mich von ihr verabschiedete und meine konsquente Haltung ihrem Wunsch gegenüber tat mir auch gleich schon wieder leid. Doch wenn ich erst einmal mit den Gipfelsiegen vor ihrer Tür stehe, wird sie sich schon wieder besinnen und beruhigen!
Joseph, Hüttenwart auf der Mountethütte, ein besserwisserischer, eigenbrödlerischer Wichtigtuer und Spießer ist mir von Anfang an höchst unsympathisch. Begonnen bei seinem herablassenden Blick mir gegenüber bei unserer Ankunft, dann seine unablässigen, schlauen Belehrungen über die angeblich schlechten Verhältnisse am Berg. Nicht zuletzt sein ständiges Miesmachen unseres Vorhabens. In Bezug auf unsere Ausrüstung muss ich ihm allerdings ein gewisses Mass an Sachverstand einräumen. Die alten Holzeispickel von Peter und Toni sind nicht gerade das, was man den neuesten Stand einer guten Ausrüstung nennen kann. Aber wir sind uns ja einig, dass ich die Führung übernehmen werde, und dabei denke ich stets ein wachsames Auge auf meine beiden Kameraden zu haben.

Um vier Uhr früh gibt es Tagwache. Prächtiges Wetter kündigt sich an, denn kein Wölkchen ist am Himmel zu sehen. Es ist mir schon klar, dass wir diese Schönwetterphase nutzen müssen, wenn wir den Gipfelangriff auf einen Viertausender wagen wollen. Die Ausrüstung hatten wir bereits gestern klariert. Unsere Rucksäcke standen bereit. Immer wieder hatten wir sie gestern Abend aus und wieder eingepackt. Ein Kilo zu viel kann den Erfolg kosten, eine Kleinigkeit zu wenig ebenfalls! Letzteres könnte mitunter sogar fatale Folgen haben.
Die Kälte, beim Heraustreten aus der gut beheizten Hütte reißt mich aus meinen Gedanken an Janine, die sich in Braunschweig sicher noch ins warme Bett kuschelt. - Zeit zum Aufbruch! Sicher führe ich meine Gruppe hinunter zum Gletschereintritt und wir queren über den Glaciér de Zinal nach SW zum ersten Abbruch des hier einmündenden Glaciér du Grd. Corniér, den wir dann in der relativ spaltenarmen Mitte aufwärts steigen.
Der Gletscher ist noch recht ruhig. Die Bäche, die tagsüber unter Sonneneinstrahlung durch die Spalten gurgeln, über Eiswälle springen und Eissümpfe bilden, sind jetzt noch gefroren. Die Lawinenrinnen sind noch ungefährlich, die Séracwände und Hängegletscher der Dt. Blanche Nordwand fest wie betonierte Mauern. Keine Eistürmchen, die abbrechen, ohne, das wir sie berühren.
Die einzigen Geräusche, die wir verursachen, als wir den ersten Eisbruch durchsteigen, sind das leise Knirschen unserer steigeisengeschirrten Schuhsohlen auf dem festgefrorenen Eis, ebenso das Zischen, wenn die mit Nylongamaschen geschützten Waden aneinanderreiben, sowie das verhaltene Klirren, mal bei dem einen, mal bei dem anderen: Unsere Haken und Eisschrauben.
Alle Spalten liegen trotz des vielen Schnees offen, ein Relikt des letzten Wettersturzes. Ich kenn die Routenführe von der Karte her so genau, dass wir es in diesem noch ungefährlichen Terrain wagen können, vorerst ohne Seil zu steigen. Röby bildet die Nachhut. Ich spure voraus und achte peinlichst genau darauf, den richtigen, am Vorabend in der Hütte zurecht gelegten Weg nicht zu verlieren. Dieser soll uns scharf unter der Dt. Blanche Nordwand hindurchführen, um die beiden oberen, wild zerrissenen Eisbrüche zu meiden. Dann durch den Firnkessel zum Col de la Dent Blanche- Biwak hinauf.
Ich blicke zu den Sternen empor, die meistenteils schon verblasst sind, von denen einige aber noch kalt funkeln. Sie verraten einen klaren, schönen und sonnenwarmen Tag. Bald weicht die Morgendämmerung einem glasigen, blauen Licht, und die Grate des Dt. Blanche und des Grd. Corniér zeigen sogleich eine wärmere Färbung. Langsam kündigt sich der Sonnenaufgang an.
Wir marschieren noch unbeschwert, obwohl unsere Rucksäcke, voll mit Haken, Seilen, Eisschrauben, Proviant und Schlafsäcken mehr als zwanzig Kilo pro Mann schwer sind. Wir sprechen kaum miteinander und ich empfinde das Schweigen der frühen Stunde beruhigend, die Stille des kalten Morgens als einen Teil von mir selbst. Das Gefühl der leichten Angst, das Hemmnis vor dem Unbekannten, das mich beim Aufbruch einige Male befallen hat, ist von mir gewichen und hat meinem Tatendrang, dem Streben nach dem Gipfel, meiner Abenteuerlust, Platz gemacht, die mich stets mit Beginn von vorangegangenen großen Viertausendertouren erfüllte.
Ich fühle jetzt die Kraft und den Elan einer großen Neugier in mir, und wenn ich mich über eine Steilstufe im Gletscher zur nächsten hinaufschwinge, oder wenn ich Gletscherspalten überspringe, spüre ich mein Selbstbewusstsein, das für mich als Seilschaftsführer so wichtig ist. Meine Beine überwinden mühelos jeden Aufschwung und greifen auf den kleinen Eisplateaus weiter aus. Ich fühle mich außerordentlich befreit von allen Zwängen, fühle mich einfach gut, wenn der eisige Morgenwind leicht in mein Gesicht bläst und empfinde nicht einmal mehr meinen Rucksack als störend.
Die Anderen folgen stillschweigend, sind sichtlich überwältigt von der grandiosen Kulisse, die uns im Halbdunkel umgibt: Rechts die drei- bis vierhundert Meter hohe Felsbarriére des Col de la Dt. Blanche mit der riesigen, düsteren Felsmauer der G.rd Corniér Südflanke, und vor uns die fast tausend Meter hohe Nordwand des Dent Blanche.
Alle steigen schweigend. Stille. Nur das Klirren und Knirschen, das unser Steigen verursacht, ist hörbar.
Stets achte ich darauf, dass die Seilabstände einigermaßen eingehalten werden. Vor dem oberen Abbruch, in Höhe des Einstiegspunktes zum Viereselgrat rate ich dazu, nun erst den Sonnenaufgang abzuwarten, um die weitere Führe besser voraussehen zu können, was dankbar von Allen akzeptiert wird.
Obwohl sie es uns anderen, und wohl auch sich selbst nicht gerne eingestehen wollen, kommt für Peter und Röby der Verschnaufer ganz gelegen. Sie tun sich von uns allen mit der Akklimatisation am schwersten und ich habe sie stellenweise ganz schön asten gehört. Deshalb schlage ich vor, dass Röby seine Nachhutposition an Toni abgibt, da es in der Seilmitte, im Einklang mit den Anderen leichter zu steigen ist.
Hoch oben, auf dem First, dem obersten Punkt des Dent Blanche, entfacht sich plötzlich ein Feuer, lässt die Firnspitze des Berges vor dem grau- schwarzblauen Firmament wie ein glühendes Schwertende erstrahlen und kurze Zeit später ewrglüht der ganze Gipfelaufbau wie eine fremde Sonne. Sehr langsam, aber gut zu beobachten, kriecht der helle Lichtschein an der Eisflanke herab, fließt über die Eisflächen, Rinnen und Coloirs. Dann schießen feine, gebündelte Lichtstrahlen von den obersten Zinnen der jetzt noch düster scheinenden Südflanke des Grand Corniér herab und treffen wie Lasergeschosse auf den Gletscherkessel, der gleichzeitig mit der Dt. Blanche Eiswand zu leuchten beginnt.
Dieses immer wiederkehrende Naturschauspiel, das auch jedesmal wieder einzigartig ist, habe ich nun schon einige Male erlebt, doch nie war es so ergreifend schön, so überwältigend wie hier, zwischen zwei Walliser Eisriesen. Die andächtige Stille, die sich auch unter meinen Kameraden breit gemacht hat, zeigt mir, dass auch sie so empfinden.
Und mit einfallendem Licht erwacht auch der Berg selbst. Da gibt es jetzt Geräusche, die vorher nicht da waren: Kollern vom Stein- und Eisschlag oben aus den Séracs, ächzendes Knarren und Knacken beim Aufreißen neuer Gletscherspalten, und echoendes Krachen und Schmettern beim Insichzusammenstürzen einiger labiler Eistürme. Geräusche, die mich in eine heroisch schöne Stimulanz versetzen, bei meinen Kameraden jedoch nervöse Aufbruchstimmung hervorrufen.
Ich breche die Pause ab, die mich in schöne, einfache Empfindungen des Sonnenaufgangs entführt hat und mache Anstalten, den Aufstieg fortzusetzen - für die Anderen das verbindliche Zeichen.
Minuten später sind wir wieder am Steigen, bemüht, den alten Rhytmus wiederzufinden. Ohne nochmals zu rasten, überklettern wir einige steile Eisstufen und erreichen bald ein kleines Eisplateau inmitten des oberen Eisbruchs. Hinter der jetzt folgenden, zerrissenen Eisbarriére zieht der Gletscher gleichmäßig ansteigend, wenig steil in den Firnkessel hinein, links und rechts begrenzt von den mächtigen Fels- und Eiswänden.
Wenige Meter unterhalb des zweiten Gletscherbruchteils durchzieht eine lange, breite Spalte den Eisstrom: Das erste ernst zu nehmende Hindernis an diesem Morgen. Wir nehmen das Seil auf zehn Meter und queren an der einem Bergschrund ähnelnden Spalte nach Süden in Richtung auf den Aréte des Quatre Ânes. Erst kurz unter dem Viereselgrat verengt sich die Gletscherkluft so weit, dass wir ein Überspringen wagen können. Vor dem in einzeln, unangeseilt geplanten Sprung, teilen wir die mitgeführten Haken und Eisschrauben gleichmäßig untereinander auf, so dass ein jedermann sich selbst aus einer Spaltengefahr befreien kann, sollte er dazu gezwungen sein. Erst auf Hans seinen energischen Einwand hin, entscheiden wir uns dann kurzentschlossen doch noch für eine ausreichende Seilsicherung.
Inzwischen ist es neun Uhr geworden. Die Sonne fällt an diesem glasklaren Morgen wie ein riesiger Keil über Roc Noir auf den Glaciér du Grd. Corniér. Dabei bestreicht sie nun in gleichmäßiger Intensität die Dt. Blanche Nordwand und Teile der Grd. Corniér Flanke. Dieses Fließlicht stellt die Konturen der Blanche- Eiswand mit überdeutlichen Kontrasten heraus. Drohend scheinen die Séracs jetzt von oben auf uns herabzublicken. Es dauert auch nicht lange, da beginnen die ersten Eisschläge aus dem Gipfelaufbau heraus durch die Flanke zu donnern.
Jeder von uns zögert einen Augenblick, bevor er den Sprung über die hier immer noch zwei Meter breite Gletscherspalte wagt .Jeder wird einzeln von Hans und mir gesichert. Ich stehe direkt an der Kluft, um im Notfall rasch reagieren zu können, Hnans indes hat sich vorsichtshalber etwas vom Spaltenrand entfernt, seinen Pickel in den hartgefrorenen Firn gerammt, und versprochen, das Seil im Sprungmoment freizugeben, keinesfalls jedoch gänzlich loszulassen.
Wir springen in bedächtigen Abständen. Erst Röby, dann Peter, Toni als nächster. Und mit dem Elan und Mut meiner Jugend lasse ich Hans den Vortritt, nachdem ich seine Stelle in der Sicherung übernommen habe. Toni sichert jetzt von drüben, von Ueli hilfreich unterstützt.
Nachdem nun alle bereits ihren Hopser mit Bravour vollführt haben, ist die Reihe an mir, überzusetzen. Schon im Augenblick, in dem ich den, von den anderen bereits aufgefurchten, gegenüberliegenden Spaltenrand berühre, lasse ich mich nach vorn fallen, so dass ich mit der Schaufel des Pickels sofort Halt finde. Zudem greift Hans schnell zu und läßt ein Abrutschen erst gar nicht eskalieren. Aber sicherlich hätte ich mich mit dem Pickel auch dann noch selbst halten können, wenn der Sprung nicht ganz gereicht hätte.
Die Spalte scheint endlos in die Tiefe zu gehen. Brüchiges Eis, teils in Zapfen, hängt an ihren Wänden, und auf meinem Rücken bildet sich unfreiwillig eine Hühnerhaut, als ich mich vorbeuge, um hinunterzuschauen. Der Gedanke an "Was wäre passiert, wenn...?" behagt mir absolut nicht.
Wir marschieren weiter aufwärts, mittlerweile in der Sonne, die respektabel wärmt. Jetzt unter der Sonneneinstrahlung wird dieser Gletscher hinterhältig und gefährlich. Da tun sich plötzlich neue Spalten auf, Eistürme brechen zusammen, oder kippen einfach um, und auch die Spurarbeit istunangenehm härter als in den frühen Morgenstunden. Solange die Sonne den Firn nicht ganz aufweicht, ist das Steigen keine Schinderei. Nur hier und dort sinken wir bisweilen knöcheltief ein. Meist aber ist der Harsch so hart gefroren, dass nur die Sohlen mit den Steigeisen einen schwachen Abdruck hinterlassen.
Jetzt, schon mit Sonnenbrillen, spuren wir zwischen der Dent Blanche Nordwand und den letzten Spalten in Richtung zum Col auf. Diese Nordwand, unter der wir uns jetzt befinden, ist erschreckend steil; so steil etwa, wie die Matterhorn Nordwand. Wenn ich daran denke, dass ich dort oben am Grat vielleicht brüchiges, vereistes Gestein vorfinde, bin ich mir nicht mehr ganz so sicher, ob mein Mut letztendlich ausreichen wird, mit meinen Kameraden darüber hinwegzuklettern.
Obwohl die Sonne die vorspringenden Séracs der Blanche Nordwand schon reichlich angetaut hat, und immer noch großzügig mit Licht belegt, bleiben die Rinnen und Eiscoloirs relativ ruhig. Noch brausen keine nennenswerten Lawinen zu Tal, so dass wir uns vor Eisschlag sicher fühlen. Lediglich während wir vorhin die Aréte des Quatre Ânes umgingen, sprangen einzeln einige Eisbrocken über die Wand und schlugen zischend wie Meteoriten im Schnee unterhalb des Bergschrunds ein.
Die nun vor uns liegende Schneefläche des Gletscherkessels erstreckt sich ohne erwähnenswerte Spalten, so dass wir sie ungehindert begehen können. Bislang drücken unsere Steigeisen den Firn nur wenige Millimeter ein, trotz der Sonne des frühen Vormittags, die alles in Bewegung bringt.
Jetzt geht es die vorerst letzten par Meter aufwärts, zwischen den letzten Spalten und der Eisflanke hindurch. Etwas mühsamer noch steigen steigen wir die zwanzig Meter zum Beginn des Kessels auf. Keuchend wird ein Eisbuckel bewältigt, mit langsamen Bewegungen, fas unnatürlich anmutend, als wären wir Roboter. Einige Male halten wir, um richtig durchzuatmen. Trotzdem geht es mir gut, den Kameraden anscheinend ebenfalls, und diese Tour erfüllt mich mit Begeisterung und Freude. Dennoch, irgendetwas in meinem Innern schürt ein klein wenig Unruhe. Ist es diese Bedrohung, die über uns wie ein Ungeheuer in der Wand hängt, das jeden Augenblick erwachen kann? Jedenfalls ist mir, als fühle ich eine starke Spannung in dem blauen Hang über uns. Eine plötzliche, unerklärbare Befangenheit überfällt mich. Ich empfinde mit einem Mal Scheu davor, in meiner Kleinheit allzu gewagt unter diesen ungeheuren Séracs herumzutanzen. Die Anderen sind sichtlich in ihre eigenen Gedanken versunken. Das monotone Gletschersteigen in der Sonne raubt jedem zeitweise die nötige Aufmerksamkeit für die Route. Fühlen meine Kameraden im Moment ebenso wie ich? Maße ich mir nicht zu viel an? Wie oft werde ich meine Freunde noch auf unsicheren Führen dieser Tour durch solche Gefahrenzonen leiten müssen? Aber wenn wir diesen Gletscherkessel erst einmal hinter uns wissen, kann uns die Eiswand nichts mehr anhaben. Sobald wir auf dem Col sind, bedeutet diese Nordwand keine potentielle Gefahr mehr. Eigentlich sieht die Wand zu steil aus, als dass sich dort Schnee und labiles Eis ansammeln könnte. Sie sieht so steil aus, dass sie im Grunde sicher sein müsste. Wenn nur diese Séracs dort oben nicht...
Und noch in dem Moment, in dem ich darüber nachdenke, ist ein knackendes, knallendes Geräusch das erste, das mich aus meinen Gedanken herausreißt. Es erschallt ein donnerndes Dröhnen, und fieberhaft irren meine Blicke umher, bis ich die Ursache erkenne: Ich sehe, dass oben im Hängegletscher eine etwa hundertfünfzig Meter breite und halb so hohe Eiswand sich langsam vornüberzuneigen beginnt. Mir ist, als dauert es Minuten, obwohl ich sicher bin, dass es nur eine Sache von Sekunden ist, bis die riesige Wand in sich zusammenbricht und als gigantische Eislawine mit der Energie eines plötzlich brechenden Staudamms auf uns zurast. Gewaltige Eismasen, die Stücke so groß, wie Einfamilienhäuser und Unmengen von Neuschnee stürzen da heran, um alles auf ihrem Weg zu zermalmen!
Als die Lawine am Bergschrund aufschlägt, springt sie in einer explosionsartigen Bewegung vorwärts und schießt zwanzig bis dreißig Meter empor, wie eine Tsunami. Vor Schreck und Entsetzen bin ich wie gelähmt, kann meinen Gefährten nicht einmal eine Warnung zurufen, bin zu keiner Reaktion fähig, starre nur hinauf, der weißen Vernichtung entgegen.
Der Aufprall der Lawinentrümmer wirbelt einen Vorhang von Schnee- und Eisstücken empor, der sich mit unglaublicher Schnelligkeit zu einer breiten, senkrechten Wand ausdehnt. Ich renne, mit wenig Hoffnung auf ein Entkommen, vorwärts, vergesse aber, dass wir ja angeseilt sind. Das Seil reißt mich zurück. Irgendeiner der Kameraden schreit entsetzlich, fast hysterisch, ein zweiter fällt mit ein, Schreie, wie ich sie nie zuvor bei einem menschen gehört habe.
Es ist ein fürchterliches Gefühl, als mich die Druckwelle erfasst und einfach umreißt. Ich falle, hebe instinktiv die Arme vors Gesicht. Wieder dieses Schreien, nacktes Entsetzen, Angst und Hilflosigkeit ausdrückend, das aber abrupt im Tosen der Elemente untergeht. Auch ich will schreien, bringe aber keinen Ton heraus, schnappe nur wie ein ertrinkender nach Luft. Das Brausen und Toben um mich herum ist entsetzlich. Ich liege im Schnee, in Eisstaub gehüllt und erwarte den Tod, da erfasst mich von neuem eine ungeheure, mächtige Gewalt. Alles dreht sich, unten ist oben, oben ist unten, eine Gewalt, gegen die Wiederstand zwecklos ist. Sie schleudert mich, trägt mich fort, dreht mich, will mir den Atem nehmen. Mein Mund ist voll Schnee, ich spucke ihn aus, oder ich versuche es nur, denn schon drückt er wieder nach, scheint mich ersticken zu wollen. Ich strample in wilder Panik, bekomme einen Augenblick lang Luft, gleichzeitig wieder den Mund voll Schnee. Noch einmal kann ich kurze Zeit Luft holen, doch schon fühle ich mich wieder tief im eisigen Griff. Das ist das Ende! Panik! Verzweifelt schlage ich um mich, nein, ich versuche es nur! Irgendetwas hält mich in fester Umklammerung. Wieder einen Moment Luft im wahnsinnigen Wirbel aus Schneestaub und tanzenden Eistrümmern. Ich spüre kurz meinen Rucksack, dann wieder Schnee. Ich glaube zu ertrinken, bekomme immer weniger Luft, nur Schnee, Schnee und nochmal Schnee. Zwischendurch Drehen, Überschlag, aber keine Luft zum Atmen mehr! Und keine Kraft mehr zum Ummichschlagen, nur Schnee und Nebel. Übelkeit steigt in mir hoch, ich kämpfe dagegen an, doch vergeblich. Nebelschwaden umgeben mich, nehmen mich auf und tragen mich sanft fort...
...Das Kletterseil zieht! Das ist das erste, das ich wahrnehme, als mein Kopf beginnt wieder klarer zu werden. Nein, das Seil zieht nicht, es ist nur straff gespannt! Sein Ende verschwindet irgendwo im Chaos der Schnee- und Eistrümmer. Wo sind die Kameraden? Eine Gestalt liegt regungslos auf dem Rücken, etwas bergab zwischen den Lawinenbrocken, die Arme von sich gestreckt, den Kopf nach unten. Das Gesicht kann ich nicht erkennen. Nur eine rote Jacke. Es ist Hans! Himmel, laß ihn nicht tot sein! Ich rufe ihn. Warten,... Dann höre ich seine Stimme. Er lebt! Aber wo sind die Anderen? Sie werden doch nicht...?
Ich befreie mich aus grundlosem Schnee und muss erst mit Erstaunen begreifen, dass ich nicht wesentlich verletzt bin. Nur die par Kratzer auf der Haut und eine kleine blutende Wunde an der Stirn? Doch beim Aufrappeln jagt mir ein viehisch stechender Schmerz durch die linke Brustkorbhälfte. Shit! Aber es muss gehen! Mit Mühe und Zusammenreißen erreiche ich meinen Freund Hans. Er hat einen leichten Schock und wie es scheint, reichlich Prellungen. Ich helfe ihm, sich gegen einen Eisblock zu setzen. Jetzt die Anderen suchen! Aber wo? Ziellos krebse ich über Eisblöcke und Schneetrümmer, ganz vorsichtig, dass ich ja nicht noch den labilen Lawinenkegel aufs neue lostrete.Ich suche in vermeintlicher Lawinenlaufrichtung. Dort! Ein Rucksack! Ich glaube, er gehört Peter. Ja sicher, es ist seiner! Und etwas weiter finde ich meinen Kameraden, halb bedeckt mit lockerem Schnee. Er bewegt sich, sagt, er hat starke Schmerzen in der Brustgegend. Den gefundenen Rucksack lasse ich bei ihm und setze meine Suche fort.
Weiter links, hinter einem Eisklotz sitzt Röby, er hat sich bereits selbst aus Schnee und Eis herausgewühlt. Er blutet an verschiedenen Stellen und hat kein Gefühl mehr im rechten Arm. Wahrscheinlich ist der Arm gebrochen. Das Blut an seiner Jacke stammt aus mehreren Platzwunden. Mit den Mitteln aus dem gefundenen Rucksack verbinde ich ihn notdürftig. Dann weitersuchen! Toni und Ueli fehlen noch!
Doch solange ich in diesem Chaos aus zerborstenem Eis auch umherirre, finden kann ich nichts mehr, nur noch schweigendes Weiß. Ich brauche Hilfe! Richtig, ich muss Hilfe holen! Aber ohne Ausrüstung, mit nur einem verbliebenen Steigeisen? Also muss ich hinüber zur anderen Gletscherseite, muss versuchen, in Richtung nach der Hütte Zeichen zu geben! Der Joseph hat die Lawine gewiß beobachtet und wird auf mögliche Zeichen achten.
Bevor ich loshumple, informiere ich kurz die anderen drei. Wie lange ich dann benötige, um den zerrissenen Gletscher zu queren, registriere ich nicht. Als ich aber die Hütte weit entfernt ausmachen kann, beginne ich wie wild mit meine Jacke zu winken. Eine Ewigkeit lang bin ich am wedeln, hin und wieder eine kurze Pause, dann weiter. An das alpine Notsignal denke ich gar nicht, jedenfalls nicht in dieser angespannten Situation.
Irgendwann, es scheinen Stunden vergangen zu sein, höre ich etwas, das wie ein Antwortsignal klingt. Es hört sich an, wie ein Hornsignal der alten Wickinger. Doch es kommt vermeintlich von der Mountethütte, scheint also nicht meiner Einbildung entsprungen zu sein. Dann, kurz danach höre ich das wummernde Geräusch eines Helikopters. In fast hysterischer Hast stolpere ich zurück zu den Kameraden. Ein roter Helikopter kreist bereits über der Unglücksstelle, als ich mit derben Schmerzen in den Rippen zurückgehumpelt komme. Jemand wird an einer Seilwinde aus dem Hubschrauber herabgelassen, ein Engel mit Rotorblättern, anstelle Flügeln. Wir sind gerettet!
Ein Arzt und ein Helfer kümmern sich sofort professionell um meine verletzten Kameraden. Peter und Röby werden in ein horizontal unter den Helikopter gehängtes Netz verfrachtet, das einer Hängematte stark ähnelt und zunächst zur Hütte hinüber geflogen. Hans und ich, wir sind die nächsten.
Die Alouette, so erklärt man uns, wird zunächst benötigt, um eine Rettungs- und Suchmannschaft nebst Material und Lawinenhunden auf den Gletscher zu fliegen. Dann wird man uns ins Tal fliegen, zur weiteren Behandlung im Spital.

Bis in den späten Abend hinein sitzen wir in der Wartehalle des Spitals Sitten und warten. Ich, mit einem fürchterlich einschnürenden Verband um den Brustkorb, Peter mit ebensolchem Gewickel, Hans weitesthehend unverletzt, und Röby mit Heftpflastern übersät und seinen rechten Arm in einem dicken Gipsverband tragend. Wir bieten ein Bild geschlagener Ritter, die noch nicht begriffen haben, dass die Schlacht verloren ist.
Drüben, bei einer Sitzgruppe im modern ausgestatteten Aufenthaltsraum sitzt Tonis Frau Marliese, übernächtigt, mit rotgeränderten Augen, angespannt, im Arm ihre kleine, schlafende Tochter. Wir alle warten. Es ist schon seit geraumer Zeit dunkel. Doch Toni und Ueli fehlen noch immer. Auch bleibt bislang eine positive Nachricht aus. Ob die Suchmannschaft sie noch finden wird, jetzt in der Dunkelheit? Diese bange Frage stelle ich mir seit Stunden. Die Anderen denken sicher das Gleiche. Außer gelegentlich dahingemurmelten Selbstvorwürfen von uns vieren, wird seit beinahe fünf Stunden nichts gesprochen. Es herrscht eine zum zerreißen aufgeladene Stimmung, eine unerträgliche Atmosphäre. Jeder von uns sieht betreten auf den Boden, wagt nicht, dort hinüberzuschauen, zu Marliese. Tonis Frau starrt nur geistesabwesend vor sich hin.
Dann, spät in der Nacht, bringen sie Ueli und Toni. Ich habe erwartet, dass Tonis Frau voll letzter Hoffnung aufspringt, so, wie ich es in Spielfilmen oft gesehen hatte, doch sie steht nur ganz langsam auf, geht scheinbar ruhig auf die zwei bedeckten Rolltragen zu, als wüsste sie schon vorher, wie das Schicksal entschieden hat. Einer der Krankenhelfer hält sie zurück. Da dreht sie sich um, sieht uns vier an und beginnt heftig zu weinen, das inzwischen aufgewachte Kind noch im Arm. Die Kleine weint auch, vielleicht nur, weil die Mutter ihre Tränen nicht mehr zurückhalten kann? Kann das Kind schon verstehen, dass sein Vater niemals mehr zurückkommt? Ich weiß nicht, ob ein zweijähriges Kind das schon begreifen kann.
Dieser Anblick jedoch, wie Mutter und Kind um Mann und Vater weinen, würgt meinen Hals zu einem harten Klumpen zusammen, der sich nicht mehr lösen will. Ich möchte Marliese etwas sagen, Worte des Trostes, dass es mir leid tut, doch ich bekomme keinen Ton heraus, stehe nur dumm da, spüre selbst Tränen in meinem Gesicht. Mein Gott, was haben wir da bloß getan? Was habe ich getan? Ich war der Seilerste, ich habe geführt! Ich habe zwei Menschen in den Tod geführt! Die Anderen können nichts dafür. sie alle sind mir nur gefolgt. Es war meine Aufgabe, zu erkennen, wo die Gefahren sind! Meine Unachtsamkeit allein war es, die meinen beiden Kameraden das Leben kostete und diesen beiden weinenden Menschen dort drüben das Liebste aus ihrer Mitte riß!
Damit werde ich jetzt leben müssen! Warum hatte ich nicht auch nur einen einzigen beschissenen Augenblick die Gefahr oben in der Wand erkannt? Ich hätte es doch sehen müssen! Plötzlich fühle ich mich so dreckig, so mies und verachtenswürdig schlecht und voller Schuld. Werde ich das Geschehene jemals wieder gut machen können? Kann man das überhaupt? Und wie? Ich kann Ueli und Toni nicht wieder zum Leben erwecken.

Ich sitze im Hôtel Breithorn in meinem Zimmer. Alles ist still geworden um mich herum. Aber schlafen kann ich dennoch nicht. Immer wieder stelle ich mir diese Frage: Warum gerade diese beiden? Wofür? Was wollten wir uns beweisen, das dieses große Opfer wert wr? Marliese sah mir in die Augen. Ich sagte ihr, es tut mir so leid. Doch was sind schon diese par Worte? Was wiegt schon mein ehrliches Mitleid gegen die Tatsache, dass ich mit meinem Leichtsinn das Glück von zwei Familien zerstört habe?
 
 
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