Berge zur Selbsterkenntnis
 
Unter strahlender Mischabelsonne (August 1986)
 
s ist saukalt, dafür aber sternenklar, alsich, noch nicht ganz wach, fröstelnd vor die Tür der Domhütte trete. In der Linken den Eispickel, Fellgamaschen und leise aneinander klirrende Steigeisen. In der Rechten Teleskopstöcke und Zwanzigkilorucksack.
Gestern, am Nationalfeiertag, war ich mit der sich verabschiedenden Sonne den schmalen Steig zur Domhütte heraufgekommen. Es hatte mir gefallen, im orange-goldenen Abendlicht, das noch angenehm wärmte, gemächlich aufzusteigen. In der heimeligen Anmut der langen Schatten, bei leichtem Föhn, ließ ich mir reichlich Zeit für den Aufstieg. Mehr wandelte ich hinauf, im wohlbekannten Kontrast er goldgelben Lärchen und Arven, der graubraunen bis gelblichgrünen Matten, überlagert vom strahlenden Weiß des Festigletschers und des tiefazuren Himmels. Freilich auch in der Vorfreude, den franz, Hüttenwart auf der Domhütte wiederzusehen. Seit einigen Jahren komme ich immer wieder hierher auf diese Hütte. Mit Siegfried, Peter und Doc Walther hatte ich in der Vergangenheit so manche Flasche Visperterminer auf Franz Hütte geleert. Und so hat es mir gestern Abend gefallen, bei Franz wieder einmal drei Flaschen dieses edlen Getränks aus meinem geheimen Rucksackdepot zu genießen. Natürlich in Erinnerung der "alten Zeiten"! Möglicherweise war auch noch eine Flasche Fendant dabei. Jedenfalls hatte ich gestern kräftigen Durst vom langen Anstieg und das Bedürfnis, ihn zu löschen, frei nach dem Wahlspruch: "Vive le vin, auf, dass die Tonneau de l' Evéque nie leer wird.
Ich schätze den Walliser Wein ganz besonders, gehört er doch zu den Spitzensorten auf der Welt. Dieser Wein ist nicht gerade günstig zu erstehen, wird kaum exportiert, zählt aber zu den Köstlichkeiten des Wallis, wie Raclette oder Käsefondue, die Feste und Feiern in den kleinen Dörfern vergolden. Ein großes, volles Fass, aus dem Wein fließt, solange man mag. Das war seit je her der Wunschtraum der Walliser. Schon der heilige Theodul, der erste Bischof des Landes, soll ein solches Fass besessen haben, aus dem jeder trinken konnte, soviel er nur wollte, roten oder weißen Wein, ganz nach Belieben. Doch wollten Neugierige das Geheimnis ergründen und öffneten das Fass. Sie fanden im Innern eine riesige Traube, die aber sogleich zu Staub zerfiel. Und fortan blieb das Fass für immer leer! Im Bürgerkeller von Grimentz steht noch heute das große, volle Fass "Le Tonneau de l' Eveque", das nur einmal im Jahr, am Theodulstag angezapft wird.
Ich zapfte bei Franz gestern. Und nicht zu knapp! Und als Franz mich heute morgen um 2.30 Uhr weckte, spürte ich noch leicht den Wein, der mich wieder in den Schlaf ziehen wollte und es mir nicht leicht machte, gegen die Müdigkeit anzukämpfen. Doch mit Franzens Hüttenkaffee schlug ich dann meine Schlacht gegen den Kater.
Jetzt aber, da mich die beißende, klare Luft und Kälte umweht, mir in die Nase zwickt, durchströmt mich ein Gefühl der Spannung, ja fast von Übermut. Oder ist es das Coffein aus dem Hüttenkaffee, das mich nun derart antreibt? Der Franz gibt mir noch ein "Bhüet Gott" mit auf den Weg, als ich meinen schweren Rucksack schultere. Dann steige ich in Richtung Gletscher davon, hinaus in die dunkle Nacht.
Von jetzt an heißt es: Konzentrieren! Auf den Berg, auf seine Route und seine Gefahren. Als Alleingänger muss ich nicht nur auf Lawinenrinnen achten, ich muss auch ohne Seil heil über die tückischen Gletscherspalten gelangen. Zwischen Eistürmen, Spalten und Schründen hindurch eine sichere Aufstiegsführe zu finden, setzt schon einige Erfahrungen voraus, es gehört eine Art Orientierungsinstinkt dazu. In der Vergangenheit hatte ich Gelegenheit, meine Erfahrungen mit Gletscherspalten zu machen. Diese Erlebnisse wirkten nachhaltig.
Mir einen Alleinaufstieg auf den Dom auszureden, hat Franz erst gar nicht versucht, wohl, weil er vermutete, dass dies bei mir ohnehin nicht gefruchtet hätte. Er weiß von Doc Walther wohl aber auch, dass ich seit unserem Unfall am Dent Blanche viel über die gefahren am Berg gelernt habe und dass ich seither mit mehr bedacht und Vorsicht in den Eisregionen der Alpen herumsteige.
Mein Unternehmen heute ist ein wortwörtlicher Alleingang, ohne verbindende Brücke zwischen mir in der höheren Eisdimension und der grünen Welt des Lebens unten, eben ohne die helfende Hand, die mir im Notfall zu Hilfe käme. Wie schnell ich heute morgen steige! Geradezu leichtfüßig marschiere ich über den nördlichen Moränenwall zum Gletschereinstieg unter dem Festigrat hinauf. Das liegt sicher auch daran, dass mich die diesjährigen, vorangegangenen Eistouren im Berner Oberland, die ich zumeist mit Peter gegangen war, gut trainiert haben. Sie haben mich zudem noch hervorragend akklimatisiert.
Stetig traversiere ich am linken Gletscherufer unter dem Festi-Felsgrat aufwärts. Der hier beginnende Firn auf dem Eisrücken ist so hart, dass nur die Zacken der Steigeisen ein paar Millimeter eindringen und ein zierliches Muster auf der Oberfläche hinterlassen. Ruhiges und gleichmäßiges Steigen, die Teleskopstöcke als Balancehilfe wie ein zweites Paar Beine nutzend. Hier oben, auf ca. 3500 Meter hat es noch Unmengen von Neuschnee der vergangenen Wochen. Zu meinem Vorteil ist er inzwischen zusammen gesackt und fest. Erst als ich zum Festijocheinstieg hinauf spure, lege ich eine Pause ein, Gelegenheit, die Teleskopstöcke zu verschieben, sie für den Aufstieg zum Festijoch kürzer einzustellen. Den Eispickel schiebe ich mir noch zusätzlich in den Ledergürtel.
Die sich ankündigende Sonne verdrängt langsam die Dunkelheit der Nacht. Ich genieße die kurze Rast, die Ruhe hier auf erhöhter Warte und ich empfinde wohlige Müdigkeit im Kopf. Der Visperterminer vom Vorabend!
Nichts desto trotz Einstieg in schneeverwehten Fels, schweißtreibendes Japsen bis hinauf aufs Joch! Die Lungen jagen etwas, wohl durch die mittlerweile erreichte Höhe von 3640 Metern. Ich entscheide mich dafür, hier am Einstieg zum Grat erst einmal den Sonnenaufgang abzuwarten, um bei hellerem Licht ein Versteigen auszuschließen. Natürlich auch, weil ich stets diese Minuten des farbenprächtigen Naturschauspiels genieße und weil es schon fast Tradition hat, anzuhalten und zuzuschauen, wenn ein neuer Tag erwacht. Erst tiefrot, dann blassrosa, orange bis hellgelb beginnen die Gipfelfirne zu leuchten. Vom Matterhorn, über Obergabelhorn bis zum Weißhorn kündigt die Sonne einen bevorstehenden, herrlichen Sommertag an. Zeit um einzusteigen!
Durch die noch eiskalte, fünfzig Meter hohe Felsbarriére steige ich auf und stehe eine halbe Stunde später auf dem sonnenüberfluteten Nordwestgrat. Nur links, weiter oben, in der Eisflanke, wird das Sonnenlicht von den Schatten der verschiedenen großen Séracbänke unterbrochen.
Noch brennt die Morgensonne nicht sehr heiß. Obwohl sie hoch über einem Wolkenstreifen im Osten thront und schräg auf die steil geneigte Eisfläche trifft, bleibt die Luft frisch. Wenn sich das Wetter so hält, werde ich bald oben sein. Jetzt mit einem Teleskopstock in der Linken und mit dem Eispickel in der rechten Hand, schwitze ich auf klassischer Führe dem Domgipfel entgegen: Einem immer wieder gehegten Bergtraum. Ich spüre die Anspannung in mir und muss viel Selbstbeherrschung aufbringen, um nicht vor Überschwänglichkeit einfach gipfelwärts loszustürmen. Ich zwinge mich dazu, ruhig zu steigen. Einige Male schaue ich mich nach dem Wetter um, das mir jedes Mal einen Postkartentag verheißt. Es ist einfach zu schön: Hoch über mir prunkt der Dom-Gipfel mit gleißender Firnflanke im Kontrast des beinahe noch nachtblauen Himmels.
Ich bin einwandfrei gut im Training, führe jede Bewegung meines Steigens instinktiv so exakt aus, wie in einem einstudierten tanz. Leicht fühle ich mich, fast schwerelos hier obenauf dem luftigen Firngrat, inzwischen auf beinahe viertausend Metern. Niemals zuvor hatte ich die Höhenmeter zur Viertausendergrenze so leicht bewältigt.
Bald gelange ich an die Höhe einer kleinen Séracbarriére, die sich auch bis zu meinem Grat herüber zieht. Diese nach links in die steile Nordeisflanke zu umgehen, erkenne ich als die einzige Möglichkeit. Die Flanke ist zwar hoch verschneit, doch eine Alternative sehe ich nicht. Nebenan, im Firn der Festiseite hat es ebenso viele Séracs und noch mehr Schnee, was mir die Entscheidung erleichtert.
Ganz vorsichtig quere ich, Gesicht zum Grat nach links, wo sich meine Führe befindet, die aus den Augen zu verlieren ich Angst habe. Meine Füße suchen immer wieder neuen Halt, abwechselnd tastend, im teilweise lockeren Pulverschnee. Dann schräg nach rechts oben spuren, dass ich ja rasch wieder auf dem Grat stehe. Jetzt habe ich nur noch freien Firn über mir, frei von jeglichen Hindernissen. Bis hinauf zum Gipfel! Ich schaue hinauf und dann auf meinen Zeitmesser: Kurz vor elf Uhr. Also habe ich die Zeit, ganz gemütlich und bedächtig zu steigen. Um die Aussicht zu genießen, halte ich oft, bin nicht mehr so zeitempfindlich auf den Gipfel fixiert, wie noch am Morgen beim Aufbruch an der Hütte.
Selbst in dieser Höhe hat sich der Neuschnee von vor Wochen schon stellenweise gefestigt. Allerdings ist das, worauf ich jetzt steige, kein beinharter Firn mehr, wie weiter unten. Vielmehr herrscht hier flacher Bruchharsch vor. Mit jedem Schritt durchstoße ich splitternde Krusten und sinke einige Zentimeter tief ein.
Gelegentlich habe ich auch einen Blick für dort Unten, Festigletscher abwärts, wo ich die Domhütte hinter den Moränenwall geduckt ausmachen kann. Dabei überlege ich, ob franz hin und wieder Zeit findet, mit dem Fernglas meine Eisgratwanderung zu beobachten. An Tagen mit einem solchen Super-Bergwetter werden die alpinen Clubhütten in der Regel von Touristenscharen, zumeist Tagesbesuchern umlagert, die von der Hütte aus das Panorama genießen und darauf hoffen, vom Hüttenwart ihr mitgebrachtes Tütensüppchen gekocht zu bekommen. Bis zu hundert und mehr Besucher an so sonnigen Tagen sind da keine Seltenheit. Die Mischabelsonne lockt sie alle herauf! Der dabei für den Hüttenwart anfallende Stress ist für Outsider kaum nachvollziehbar. So etwas kann nur von einem Hüttenwart selbst beschrieben werden.
In gleichmäßiger Steigung zieht sich meine Route zum ersehnten höchsten Punkt unter der Mischabelsonne hinauf. Die Nordflanke glitzert jetzt in der extrem einfallenden Sonne unnatürlich, fast metallisch. Endlose Firnmassen, die in Séracs überhängen, scheinen durch die Lichteinstrahlung belebt zu werden. Ihre Schatten färben den Schnee blau und die Konturen wandern, im intensiven Licht größer werdend, über den Firn bis zum Grat herüber. Hier blitzen und blinken die Schnee- und Eiskristalle wie Diamanten.
Unbeschwert steige ich heute. Es sind aber nicht nur die idealen Schneeverhältnisse, die mich so leichtfüßig hinaufschreiten lassen. Es ist auch meine gute Stimmung! Diese frohe Empfindung, mal wieder fünf Wochen der dröhnenden, stinkenden Verputzmaschine, diesem großen, nie kleiner werdenden, muffig riechenden Kalkhaufen und dem engstirnigen, unwürdigen Gerede der Kollegen entflohen zu sein. Fünf Wochen lang mal nicht diese endlosen, grauen Wände sehen, fünf Wochen ohne winddurchzogene, feuchtkalte Rohbauten, fünf Wochen lang kein Meister, der einem mit seiner Willkür ohnmächtigem Frust nahe bringt und die besondere Gabe besitzt, einem unmissverständlich klar macht, dass man eben nur der kleine, miese, rechtlose Schmierverputzer ist. Es ist die Hochstimmung, die entsteht, wenn man sich vom grauen, mutlosen und angstvollen Alltagstrott der materialistischen Zivilisationsmaschinerie losgelöst hat und in sich blickend nach Höherem streben kann. In Momenten wie diesen spüre ich, wie ich alles hasse. Ich hasse mein unkreatives, unbedeutendes und hoffnungsloses Dasein im kalten Mörtelschlamm. Ich hasse meinen Vorgesetzten, der von Begriffen wie "Gerechtigkeit", "Menschlichkeit" und "Verständnis" nichts weiß und mir mein Leben zur Hölle macht. Und ich hasse manchmal meine kleine Wohnung am Rebenring, in die ich mich am Wochenende verkrieche, um Muskelkater und Migräne von der körperlich harten, belastenden Arbeit auszukurieren. Aber vor allem hasse ich es nicht zu wissen, wofür ich dies alles durchstehe.
Doch es gibt auch Lichtblicke:In ein paar Tagen hat Siegfried dienstfrei, dann wollen wir zusammen wieder einmal zu einer schönen Wochenendtour starten. Ich freue mich schon darauf, mit einem Freund zu steigen, mich mit jemandem gut unterhalten zu können, etwas anderes zu sehen.
Jetzt nurmehr hundert Meter, der Dom-Gipfel rückt langsam näher. Ich bin gut gestiegen, auch wenn mir nun langsam die Höhe bewusst wird, indem ich beim Steigen schwitze. Das Blau des Himmels wird intensiver - eine erregend herrliche Farbe! Ihr steige ich entgegen!
Dann ist da nur noch aufgespannter Himmel. Ich bin da! 4545,4 Meter, der Gipfel des höchsten Schweizer Berges! Über mir nur noch die Mischabelsonne. Ich atme tief durch! Es ist völlig still, als ich mich zur Rast am Gipfel niederlasse. Nur leiser, fast warmer Wind fächert in mein Ohr. Unter der strahlenden Sonne sitzend, herrabblickend auf die niederen Berge, komme ich mir vor, wie in die Dimension einer fern- fremden Traumwelt entrückt. Ringsum unter mir die anderen Walliser Viertausender, von denen ich viele in den letzten Jahren kennen gelernt habe. Fast sind sie alle schon so etwas wie eine Heimat für mich. An jedem von ihnen hängt ein Stück von mir, so, wie ich ein Stück von ihnen geworden bin.
Diese Gipfelmomente sind genauso wiederkehrende Augenblicke eines warmen Glücksgefühls, wie das neu Verlieben. Mein heutiges Geschenk, dieser wunderbar klare Ausblick auf die wolkenlos und endlos aufragenden Gipfel, auf dieses bestechende Panorama, erhöht dieses Gefühl noch. Und die Aussicht darauf, bald wieder in der warmen Gaststube bei Anthamattens zu sitzen, bei Schwyzerörgelimusik, Raclette und Dôle, bringt mir innere Zufriedenheit.
Lange verbleibe ich auf dem Gipfel, so lange, wie nie zuvor auf der höchsten Spitze eines Alpenviertausenders. Erst spät, zuletzt sogar im purpurnen Licht des Alpenglühens mache ich mich an den Abstieg, aufgetankt mit regenerierter psychischer Kraft. Dieses innere Wohlgefühl, diese neue Ausgeglichenheit, die ich in der letzten Zeit immer seltener verspürt hatte, ließ diesen Aufstieg heute unter der strahlenden Mischabelsonne zu einer meiner schönsten Touren überhaupt werden.

Epilog
Die Natur spricht zu mir. Der Wind trägt ihre Stimme über das Land. Das Wasser flüstert ihre Worte. Die Natur hat mir viel zu erzählen. Ich muss anfangen ihr zuzuhören. Jetzt erkenne ich, dass jedes Tier, jeder Baum und jeder Stein ein Geheimnis trägt. Ich sehe, dass die natur ein Künstler ist. Wie ein Meister hilft sie mir und lässt mich selbst zum Künstler werden. Und ich kann viel von ihr lernen.
Wenn ich ihr zuhöre, dann schenkt sie mir Flügel. Ich fliege hoch!
 
 
 
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