Berge zur Selbsterkenntnis
 
Tortouren am Viertausender-Duo (Juli 1987)
 
ommer haben wir. Und was für einen! Da schreckt uns auch dieser Bergname nicht mehr. Wir wollen eine große Tour als Überschreitung ab Gaagg, über den Südwestgrat, den Lauteraarhorn-Gipfel, den Verbindungsgrat, über das Grathörnli und wiederum über den Südwestgrat auf den Schreckhorn-Gipfel und zurück über die Westsüdwest-Flanke und Schrecksattel auf den Schreckfirn wagen.
Eigentlich wollte ja nur Peter diese Wahnsinns-Tour. Mir liegt statt der öden Felskletterei eher das Eisgehen. "Aber wenn man den Berichten Anderer glauben darf, sind die Felsen dort oben oft vereist, das ist dann wohl auch Eisgehen". Mit dieser bissigen Bemerkung versuche ich Peter daran zu erinnern, dass ich diese Tour eigentlich nur ihm zum Gefallen mitmache. Er schimpft über meinen Sarkasmus...
Grindelwald begrüßt uns dann tatsächlich mit weißen Hörnern: Die Eigernordwand weiß, wie eine Firnflanke, das Wetterhorn wie ein Dom aus Eissäulen, Wellhorn und Fiescherhörner ebenfalls in weißen Gewändern. Auf dem unteren Grindelwaldgletscher, dem unteren und oberen Ischmeer hat es Neuschnee.
Im Laufe der Jahre habe ich es mir zur Gewohnheit gemacht, jedesmal, bevor ich in die Berge steige, erst einmal einen kritischen Blick in die Eigernordwand zu werfen. Von den vorherrschenden Verhältnissen im "Wändli" habe ich dann jeweils auf die Bedingungen an den anderen Bergen geschlossen, eine Methode, die in der Vergangenheit durch ihre erstaunliche Zuverlässigkeit bestach. Peter indes behauptet stets, das hat nichts zu bedeuten und fast immer quittiere ich seine zweifelnden Äußerungen mit dem überlegenen Blick eines erfahrenen Wetterbauern
Auch diesmal möchte ich unser Vorhaben am liebsten aufgeben, nachdem mir diese Wand nicht ganz hervorragend gute Verhältnisse prophezeiht. Und hervorragend gute Bedingungen brauchen wir schon für den schwierigsten Berner Gipfel. Doch Peter denkt gar nicht daran, wieder nach Hause zu fahren. Er will unbedingt hinauf und verkündet mit trotziger Mine:
"Dann werd ich halt allein gehen, glaub Du in Deiner Einfältigkeit nur an Dein hellseherisches Eigernordwandorakel!"
Jetzt ist er sarkastisch! Aber was soll ich machen? Meinen zuverlässigsten Bergkameraden allein gehen lassen? Peter bringt es fertig, und steigt tatsächlich allein dort hinauf. Nein, ich muss mit! Einen Kameraden im Stich gelassen zu haben, das soll man mir nun doch nicht nachsagen können!
Der Weg von Grindelwald durch die Gletscherkluse, den Ischmeeren entgegen, entpuppt sich als Eingewöhnungsmarsch, wie man ihn sich gewaltiger nicht denken kann: Siebeneinhalb Kilometer steiniger, teilweise leicht verschneiter Bergpfad, bei über tausendfünfhundert zu bewältigenden Höhenmetern. Allmählich bleibt der Trubel der Eigerwandbeschauer hinter uns zurück, die Touristen werden seltener, die hier schon fast winterlich anmutende Stille gewinnt Raum. Wir hängen jeder unseren Gedanken nach. Ich denke an unsere Route, die wir gehen wollen, an die Führe auf die zwei Gipfel, die seit unserer Umrundung des Bäniseggrates langsam über uns empor wachsen. Schreckhorn und Lauterraarhorn, sie scheinen zunehmend Macht über Peter zu gewinnen. Und wie zur Bestätigung meiner Gedanken höre ich meinen Kameraden lobsingen:
"Mann, das ist ein Viertausenderduo! Ist doch wahnsinnig überwältigend, dieser Anblick, oder?"
Als wahnsinnig empfinde ich unser Vorhaben schon, aber ich behalte meine Meinung lieber für mich, sonst wirft mir Peter wieder Sarkasmus vor. Und trotzdem sich das Schreckhorn wie ein riesiger, drohender Finger aus Stein vor uns aus dem Eis in die Höhe streckt, betrachte ich es nur mit der kühlen Abschätzung eines objektiven Zuschauers. Es ist eben Peters Traumberg, wie auch das Finsteraarhorn sein Traumberg ist, das scheinbar gleich nebenan aufzuragen scheint, nur in der Basis verdeckt von der Spitze des Agassizhorns. Peters Dreigestirn!
Doch was soll's, auch ich habe meine Lieblingsgipfel, auf die Peter bereitwillig mitgestiegen ist. Also mache ich ihm die Freude und steige mit Elan und zeige auch etwas mehr Begeisterung. An sich bin ich ruhig. Diese Tour regt mich diesmal nicht auf, eher ein klein wenig Bedenken und Angst ist da. Angst vor diesen himmelhohen Felsmonstern, die Peter glaubt, im Sprung bezwingen zu können.
Einsamkeitsgefühl macht sich in mir breit, beim Anblick dieser eng um den Gletscher zusammengerückten Eis- und Felsriesen. Irgend so eine in mich kriechende Kälte, die ich im Wallis nie so deutlich empfunden habe, die mich auf der Alpennordseite aber jedes mal bedrückt. Auch der Abend und die Nacht in der Schreckhornhütte behalten die gleiche unangenehme Atmosphäre. Lediglich drei andere Berggänger teilen mit uns die Hütte. Sie waren am Finsteraarhorn, haben ihre Tour aber wegen der Vereisung am Fels abgebrochen, ebenso, wie wir im letzten Jahr. Sie wollen morgen wieder zu Tal. So wie es ausschaut, werden wir morgen wohl die einzigen Alpinisten in der Region der Eismeere sein...

Meine Weckuhr reißt uns aus den Decken. Es ist 06.00 Uhr, Tagwache und irgendwie beneide ich die drei anderen Bergsteiger, die noch lange schlafen können, weil sie ja absteigen. Verschlafenes Tappen in der unbeleuchteten Hütte. Wir bemühen uns krampfhaft leise zu sein, um die anderen nicht zu wecken. Selbst Hans, der Hüttenwart, schläft noch fest. Er geht wohl davon aus, dass niemand so verrückt ist, sich bei diesen Verhältnissen an seinen Hausbergen zu versuchen...
Dann, unter der Last unser Biwakutensilien in den Rucksäcken, noch steifes, unkontrolliertes Stolpern auf den Geröllhängen der Lawinencoloirs am orografisch rechten Rand des Obers Ischmeers, dem Einstieg entgegen. Das Wetter scheint jetzt schöner zu werden, auch wenn sich hin und wieder kleine Wolken von Westen her gegen die erwachende Sonne schieben, als wollten sie ihr Aufgehen verhindern.
Unter dem Südwestgrat des Strahlegghorns steigen wir in das breite Gaagg-Eiscoloir ein. Der Sonne steigen wir entgegen, obwohl es sicher noch Stunden dauert, bis wir uns auf dem Grat an ihr erwärmen können. Peter führt nach rechts, dem Strahleggpass zu. Und ganz entgegen meiner düsteren Vorahnung, finden wir günstige Steigverhältnisse vor. Ab und zu bietet ein aus dem verschneiten Firn ragender Felsblock eine prima Standsicherung. So erreichen wir über abwärts geschupptes Eis verhältnismäßig rasch den Pass und stehen unvermittelt in der Sonne. Niemals hätte ich geglaubt, den Strahleggpass auf 3350 Metern schon kurz nach Sonnenaufgang zu erreichen.
Kurze Rast. Morgendliches Licht umspielt die Nordostflanke des Finsteraarhorns. Peter ist fasziniert von dem Anblick und auch ich kann meine Blicke und Gedanken diesem Naturschauspiel nicht entziehen. Trotz der großzügigen Morgensonne wird es langsam kalt und wir beschließen weiter zu steigen. Die Schlosserei wird klariert und ab geht's!
Die Gratfelsen sind nur teilweise leicht vereist und Neuschnee hat sich auf diesem sturmumtobten Grat nicht viel halten können. Also verschwinden unsere Steigeisen vorerst im Rucksack. Zu Anfang klettern wir leicht über relativ flach ansteigenden Fels. Peter führt. Aber schon, da der Gipfel zum Greifen nahe scheint, verliert sich unsere Route in den Felsen der Westwand, die zudem noch zunehmend steiler werden. Peter wollte nur einen Felsaufschwung von beträchtlicher Größe umgehen, querte etwas in die Westwand hinein. Doch zu weit verleitet uns das leicht verschneite und vereiste Band unter den Fuß der riesigen, felsigen Gipfelwand. Das Band wird kontinuierlich schmaler, je weiter Peter auf ihm vordringt. Verstiegen, Mit verdammter!
Nun, Fluchen hilft uns auch nicht weiter. Wir müssen zurück, notfalls über den Aufschwung, der selbst eine anständige Felswand darstellt. Aber wozu haben wir eigentlich die ganze Schlosserei mitgenommen? Ich frage mich, ob wir für solche exponierte Kletterei schon zu bequem geworden sind. Oder hat Peter im Ansatz nicht die richtige Führe erwischt? Nebenbei gewinne ich immer mehr den Eindruck, Peter ist zu unkonzentriert, aber ich sage nichts. Ist es wegen seiner Monika? Er hat da vor einigen Tagen etwas angedeutet, ganz nebenbei, fast belanglos. Auf irgend eine Weise hat sie ihm wohl ziemlich zugesetzt. Wahrscheinlich dahingehend, dass er seine Bergsteigerei aufgeben soll. Ist es diese Krise zwischen den beiden, die ihm hier seine Aufmerksamkeit raubt? Das würde erklären, warum er mit Gewalt diese beiden Viertausender bezwingen will.
Aber ich kann auch seine Freundin verstehen. Sicher kann und will sie nicht mehr mit der Angst leben, Peter könnte einmal nicht mehr vom Berg zurück kommen. Jede Frau hat diese Angst, wenn der Mann, den sie liebt, mit seinem leben Roulette spielt. Kann es sein, dass auch Janine diese Angst hatte? Das sie mir deshalb riet nicht in den bergen nach unserer verlorenen Liebe zu suchen, weil sie ahnte, dass diese hohe Welt hier oben zu meinem Fluchtpunkt werden würde? Mein Bergkamerad begeht nun vielleicht genau den selben Fehler, mit dem Unterschied, dass seine Freundin ihn noch davor bewahren kann.
Bei der Vorbereitung zur Rücktraversierung und beim klarieren des Seils ist die Gelegenheit günstig und ich versuche Peter zu helfen:
"Peter, Monika hat einfach Angst um Dich, Du solltest das als Ausdruck Eurer Liebe akzeptieren. Dass sie Dich liebt und Angst um Dich hat, ist etwas sehr wertvolle. Wirf es nicht weg! Kein Berg auf dieser Welt ist das wert!"
Peter sieht mich an und in dem Moment weiß ich, dass er sich im Grunde längst für seine Monika entschieden hat, und dass diese Tour eine Art Abschied für ihn ist. Eben ein Abschied von der Bergsteigerei. Ich erkenne, dass es ihm nicht leicht fällt. Dennoch hat er den Mut, sein Hobby, für das er bislang lebte, aufzugeben. Ich bewundere ihn dafür.
Wir queren zurück zu der kleinen Einsattlung, von wo aus wir uns zu falscher Führe verleiten ließen. Unter uns sechshundert Meter Felswand! Mir ist nicht recht wohl bei dem Gedanken, dass Peter eventuell durch Unaufmerksamkeit auf dem schmalen Felsband ausrutscht und ich, mit nur hin und wieder einem Felshaken gesichert, in dieser luftigen Wand die ganze Last und Fallwucht eines möglichen Sturzes auffangen muss.
Aber dann stehen wir wieder wohlbehalten vor unserem Felsaufwurf. Er ist aus einem Filigran aus dünnen Eisschilden überzogen. Wie zierliche Glaskunstwerke wirken diese, wie Laubbaumblätter aus hauchdünnem Bleikristall gefertigt. Wie zum Beweis ihrer Zerbrechlichkeit, fällt von der hohen Schulter eines der labilen Eisschildchen herab, zersplittert im Aufschwung zu kleinen Stückchen, die klirrend über uns hinweg in die Wand hinabhüpfen.
Es ist Mittag, als wir nach zeit- und kraftraubender, kraxlerischer Kleinarbeit endlich die Schulter, fünfzig Meter unter dem Gipfel erreichen. Die Sonne brennt und mittlerweile steigen wir nur noch hemdsärmelig. Geneigte Platten, im Wechsel mit schroffen Felsspitzen leiten jetzt über verhältnismäßig leichtes Terrain zum Gipfel hin. Aber gerade hier oben liegt wieder etwas verharschter Schnee zwischen den Felsnadeln, machen die Griffigkeit unserer Sohlen heikler und halten auf. Aus gründen der Zeitersparnis versuchen wir es ohne Steigeisen und entwickeln dabei eine ganz neue, eigene Eiertanzkreation.
Doch dann sind wir oben! Peter strahlt endlich wieder übers ganze Gesicht wie ein Honigkuchenpferd mit der Sonne um die Wette. Soll er! Er hat es sich auch redlich verdient. Eigentlich muss ich an dieser Stelle an den Mann denken, der aus dem zehnten Stock eines Hochhauses sprang und der an jeder Etage, an der er vorüber flog, sagte: So weit ging's gut!
Die Sonne glüht vom Zenit herab und lässt uns auf den vorgewärmten Felsen des Gipfels bequem rasten. Ein paar Wolken ziehen jetzt von Westen heran. "Werden schon wieder abziehen", meint Peter und ich bete, dass er Recht behält. Wenn uns hier ein Wettersturz überrascht, ist es so gut wie aus mit uns. Unwillkürlich muss ich an meine Eisnacht am Dent Blanche vor vier Jahren denken. Damals hatte ich weit mehr als nur Glück.
Wir rasten noch eine Weile, genießen den herrlichen Rundumblick und gehen dann weiter. Die Traversierung zum Schrecksattel und gleichzeitig zu unserem Biwakplatz für diese Nacht, eskaliert in luftiger Firstkletterei, Seillänge um Seillänge. Diese exponierte Verbindungsgratkletterei ist die Hauptschwierigkeit auf der Führe zum Schrecksattel. Und dennoch: Im milden Licht der Abendsonne werden es für mich aber auch genussvolle Seillängen.
Hier oben auf diesem First hat sich nicht viel Schnee gehalten, lediglich an einigen Platten behindert er uns. Hinderlicher sind die Wassereisstreifen, die eine Reibung unserer Sohlen auf dem Fels nahezu aufheben. Sie sind jederzeit bereit, uns in die Nordost- oder Südwestflanke hinab zu schleudern.
Peter ist jetzt wieder etwas konzentrierter, der erste Gipfel scheint ihn etwas aufgebaut zu haben. Es macht ihm sichtlich Spaß, dieses Gratbalancieren. Hat er seine Monika endlich für ein paar Stunden vergessen? Ich nehme ihm die Sache von heute morgen freilich nicht übel, ganz im Gegenteil. Nur zu gut weiß ich aus eigener Erfahrung, wie schwer so etwas zu verdrängen ist. Nach Janines Tod war ich in ähnlicher Situation, nur mit dem Unterschied, dass es Trauer war, die ich nicht verwinden konnte.
Wir versuchen noch so weit wie möglich auf dem Verbindungsgrat höher zu gelangen, bevor die Dunkelheit der einbrechenden Nacht ein Weiterklettern unmöglich macht. In den Felsen des Einstiegs zum Schreckhorn Südostgrat richten wir uns für die Nacht ein, in dem Gefühl, auch den höheren Partner des Lauteraarhorns schon in der Tasche zu haben. Nur noch einige Seillängen steilen Felses, glauben wir.
Die Nacht unter dem aus Zeltplane und vierzehn Felshaken konstruierten Planendach bringt mir Wettersorgen. Wird er halten, der große Hochdruckkeil? Ich sehe zu Peter hinüber. Er schläft schon fest. Nur seine Nasenspitze lugt aus seinem Schlafsack hervor. Sicher war er todmüde, hat er doch schon beim Kochen der Maggi-Suppe seine Augen verdreht.
Ich schaue wieder hinauf zum Firmament. Sterne sind ja zu sehen, aber auch Wolken. Und erbärmlich kalt ist es geworden. Gut, dass ich den Extremschlafsack mitgenommen habe. In ihm schwitze ich fast. Wieder sehe ich unter der Verdachung hervor und suche die vereinzelt ziehenden Wolken. Ich zwinge mich, sie zu beobachten, ob sie größer werden, oder abnehmen. Selbst bei dunklem Himmel kann ich erkennen, wie sie sich im Wind verformen, durcheinandergewirbelt werden, eine andere Gestalt annehmen, um beim nächsten Windstoß erneut zerrissen zu werden. Und wieder drängen sie sich zu Wolkenbastionen zusammen. Sie türmen sich auf, es entstehen regelrechte Wolkentürme, formen sich zu Erkern, Portalen, Zwischengebäuden, ja zu einem riesigen, weißen Schloss mit Zinnen und Dächern, wie im Märchen. Ich schwebe jetzt direkt hinein in diese Wolkenburg, gleite auf die Portalbrücke zu. Rechts und links von dieser gigantischen Eisbrücke, über die ich da wandle, ist helles Nichts, blendende Luft! Ich schreite über viele, solch luftiger Schnee- und Eisbrücken, geradewegs auf das Eingangsportal des Schlosses zu. Es ist mir, als fliege ich entlang an zerfaserten, langsam abdriftenden Wolken mit Lichtsäumen und Schatten.
Eine fremde, sanfte Macht schiebt mich durch das helle, freundliche Portal, flankiert von zinnen- und spitzenbesetzten weißen Türmen. Zwischen Wolkenfetzen hindurch schwebe ich über den Schlosshof zu einer weißen, breiten Treppe, die gläsern wirkt. Dann das Haupthaus, als Glaspalast, wolkenumwogt. Durch prunkvoll eingerichtete Räume in Bleikristallvertäfelung, Marmor und Eis wandere ich, gelange durch säulengestützte, helle und hohe Säle, sowie durch mit Edelsteinverzierungen reich ausgestattete Kämmer. Ich betrete einen Raum, der einer Eishöhle nachempfunden ist, mit Nieschen, Grotten, Stalagmiten und Stalagtiten aus kristallenem Eis. In ihm stehen von hellem Nebel umwaberte offene Kisten, von einem seltsamen Glanz eingehüllt. Die schönsten und seltensten Goldmünzen, die ich jemals sah, blinken mir aus ihren Schreinen entgegen. Ein herrliches Gefunkel strahlt auf mich ein, dem ich mich nicht entziehen kann. Ich stopfe mir in aller Hast die Taschen voll mit dieser goldenen Pracht, immer voller, immer noch mehr, unersättlich!
Doch meine Taschen können dem Gewicht des Schatzes nicht stand halten. Sie reißen aus und die Goldmünzen springen neben mir auf den gläsernen Boden, rollen, kollern, hüpfen und tanzen davon. Verzweifelt versuche ich sie fest zu halten, aber sie entspringen immer wieder meinen Händen, hüpfen, springen immer höher, schlagen gegen die Höhlendecke und fallen auf mich herab. Immer mehr prasseln da auf mich nieder, ein wahrer Regen von Goldmünzen. Ich schlage um mich, um sie abzuwehren, doch immer wieder werde ich schmerzhaft getroffen...
Ich wache auf und begreife langsamer, als gut für mich ist, dass dieses Prasseln Realität ist. Nur leider keine Goldstücke, sonder Stein- und Eisstücke vom Schreckhorn Südostgrat. Steinschlag! Sofort wecke ich Peter, reiße ihn in panischer Angst fast aus seinem Schlafsack heraus. Benommen, wie er noch ist, drücke ich ihn neben mir an den schützenden Felsüberhang. Kollernd und klackernd fegt der Steinschlag neben unserem Biwak in die Südwestflanke hinunter. Von dem großen Segen haben wir tatsächlich nur ein paar harmlose Krümel abbekommen. Aber es hat völlig genügt, uns einen Riesenschreck einzujagen. Und ich verstehe jetzt: Das Schreckhorn trägt seinen Namen zu Recht!
Ein Blick auf die Uhr sagt uns, dass wir noch gut fünf Stunden schlafen können. Erleichtert, noch mal mit dem Schrecken des Horns davon gekommen zu sein, krabbeln wir wieder in unsere Cocons. Dabei hoffe ich auf die Richtigkeit von Siegfrieds einmal geäußerten Weißheit, dass es Nachts höchst selten und schon gar nicht zweimal an der gleichen Stelle einen Steinschlag gibt.
Als ich dann wieder aufwache, kitzeln mich bereits die ersten Sonnenstrahlen. Peter ist schon wach und emsig beim Tütenkaffee kochen, eine Tatsache, die mir die Überwindung erleichtert, aus dem noch so schnuckelig warmen Schlafsack heraus zu krabbeln. Eine sofort in mich kriechende, beißende Kälte schlägt mir entgegen und ich wundere mich, mit welchem Geheimrezept Peter es bewerkstelligt, schon so aktiv und locker herum zu hantieren. Mir dagegen tun alle Knochen weh und die im Laufe der Zeit angeknacksten und verbogenen noch etwas mehr.
Peter kann schon wieder kalauern, ein Zeichen, dass seine Gedanken an seine Monika in weite Ferne gerückt sind:
"Mensch Frank, Du schleichst aus Deinem Schlafsack, wie ein altersschwacher Sherpa mit dreifachem Expeditionsgewicht!"
Ganz so Unrecht hat Peter wohl nicht, denke ich, kontere aber:
"Manche Teile brauchen eben etwas länger zum Aufwachen, als andere!"
Peter lacht und beginnt schon an unserer Zeltplane zu hantieren. Sein Aufstiegsfieber ist ihm schon wieder anzumerken. Fehlt mir etwa schon dieser gewisse Elan, der für Alpinisten so wichtig sein kann? Habe ich ihn schon verloren? Bin ich schon zu sehr ein alpinistischer Routinier geworden, den die Erwartungsspannung eines bevorstehenden Aufstiegs nicht mehr hinter dem Ofen hervor lockt? Ich gebe mich damit zufrieden, dass es wohl doch die knisternde Kälte sein muss und dass gewisse Teile in mir eben eine etwas längere zeit brauchen, um wach zu werden. Gegen die steife, benommene Reaktionsträgheit gibt es ein energisches Mittel: Dieses schwarze, bittere, undefinierbar duftende, heiße Gesöff, das Peter voller Stolz Kaffee nennt. Es bedarf hiervon nur zwei kräftiger Schlucke und ich befinde mich unmittelbar am Rande einer Herzattacke.
Beim schlürfen des anregenden Getränks, dem auch eine gehörige Portion Pflümli beigemischt scheint, wird mir bewusst, dass dunkler Fels vor strahlendem Azurblau steht. Hat es also doch aufgeklart, in der Nacht. Nur im Westen ziehen noch vereinzelt hartnäckige Wölkchen, in Auflösung begriffen.
Nach einer halben Stunde Frühstück in gelinde ausgedrückt morgendlicher Frische, steigen wir auf dem Grat weiter. Doch dieser überrascht uns mit unerwarteten Schwierigkeiten: Glatte, überfrorene Platten und Unklarheit unsererseits über den genauen Routenverlauf. Ich versuche es, steige vor, aber irgendwie verpasse die beste Führe und gelange zu weit in die Nordostwand hinaus. Fünfhundert Meter geht es hinab, wenn ich mich hier nicht halten kann! Ich versuche wieder auf die Gratschneide zurück zu gelangen und komme dadurch auf einem vereisten, schrägen band in arge Bedrängnis, habe auch keinen Sicherungshaken angebracht, rette mich aus einer ausweglosen Position in die nächste und bin ziemlich abgekämpft, als ich nach einigen Zick-Zack-Querungen wieder auf dem Gratfirst stehe. Das Seil muss fast ausgegangen sein!
Ich kann Peter nicht mehr sehen, rucke am Seil und brülle: "Nachkommen!" Peter findet nicht gleich meine komplizierte Führe, weil ich mit Rücksicht auf die noch vor uns liegende Höhe mit Sicherungen und Haken gespart habe. Aber irgendwann schiebt er sich doch von unten herauf in mein Blickfeld.
Jetzt versucht sich Peter wieder im Vorsteigen. Im Fels ist er ohnehin besser. Ich sehe ihn mit brüchigen Schrofen kämpfen, die ausbrechen und ihn wie eine reife Pflaume über dem Abgrund an einer Griffkerbe hängen lassen. Er rudert mit den Beinen, sucht Halt. Schnell schiebe ich die Spitze meines Pickels unter seine rechte Schuhsohle und dirigiere ihn zu einem möglichen Standtritt. Dieser hält. Gott sei Dank, denn was ich unternommen hätte, wäre auch dieser tritt ausgebrochen, weiß ich nicht.
Peter verschnauft kurz, dann geht es weiter. Die Sonne meint es inzwischen gut und lässt uns im eigenen Saft dünsten. Dafür wird der Fels plötzlich immer besser. Gut griffiger Gneis dominiert. Allerdings nimmt auch der Schnee in Windschattenstellen und auf Bändern erheblich zu. Tritte und Griffe müssen wir teilweise erst frei hacken.
In schöner Kletterei verbringen wir den Vormittag bei gut griffigem Fels, der uns aber nicht darüber hinweg zu täuschen vermag, dass unsere Kräfte bei dieser Tortour stündlich mehr und mehr schwinden. Öfter als geplant müssen wir Pausen einlegen. Doch dann stehen wir unversehens auf dem Vorgipfel. Über einige böse Wächten traversieren wir jetzt in luftigem Balanceakt zum Hauptgipfel hinüber. Peter hat auf "seinem" Berg natürlich den Vortritt, hat er doch auch das Wesentliche an Spurarbeit geleistet!
Er geht die kleine Gipfelwächte an, zerstört mit dem Pickel eine Reihe glitzernder Eiszapfen, etwas, das mich ärgert, weil es mit suggestiert, als entweihe er etwas Heiliges an diesem Berg. Nun setzt er eine letzte Eisschraube, blickt herab, ob ich ihm auch ja zuschaue und schwingt sich auf den Gipfel, 4078 Meter hoch. Jetzt gebe ich mir einen Ruck, ramme den Pickel ein, Peter hilft und wir stehen zusammen oben!
Wieder einmal ein Gipfel! Wieder einmal hat dieses unerklärbare Verlangen ein Ende gefunden. Unterschiedliches Verlangen? Sicher, hinauf wollten wir beide irgendwie, aber aus den selben Beweggründen? Wo es mir selbst nach acht Jahren Hochtouren noch nicht ganz gelungen ist, Klarheit darüber zu gewinnen, warum genau ich auf die Berge steige, meine ich, den Grund bei Peter zu kennen. Es sind viele Kleinigkeiten, die sich zum Ganzen fügen und offenbaren, dass er es aus sportlichem Ehrgeiz heraus tut. Ob er sich bei unseren unzähligen, gemeinsamen Touren auch schon Gedanken darüber gemacht hat? Gesprochen haben wir seltsamerweise nie über dieses Thema. Und ich glaube, Peter ist auch gar nicht der Typ Mensch, der über so etwas nachdenkt. Eher schätze ich ihn als jemanden ein, der vermehrt dem Erlebnismoment frönt. Vielleicht bewältigt er dadurch viele Situationen des Lebens leichter? Ist es das, was mir oft fehlt, diese lebensbejahende Einstellung ohne Zukunftsängste? Denke ich zuviel? Verbaue ich mir meine scheinbar fertigen Antworten nicht immer wieder mit neuen Fragen und Gedankengängen? Kann ich so überhaupt jemals eine Antwort finden, eine Erkenntnis über mich, über mein Leben und den Sinn darin?
Peter reißt mich aus meinen Gedanken. Er hat die bis zuletzt aufgesparten Landjäger hervor gekramt und beginnt, genüsslich darauf herum zu kauen. Und als könnte er in mich hineinsehen, meint er jetzt und seine Äußerung hat einen Klang zwischen Vorwurf und Feststellung: "Frank, Du denkst zuviel! Manchmal kommst Du mir vor, als wärst Du wer weiß wie alt. Du lebst heute, vergiss das nicht! Spürt er etwa, was mich bewegt? So viel Einblick hatte ich ihm gar nicht zugetraut.
Gegen zwei Uhr mittags machen wir uns wieder an den Abstieg. Wir beide mit bedächtiger bis bedrückter Mine. Die haben wir jedes mal, wenn ein Gipfel hinter uns liegt. Ob Peter dem Erlebnis "Kampf des Aufstiegs" mehr nachtrauert, als dem Gipfelmoment selbst?
Die Route vom Schrecksattel durch das schmale Eiscoloir und anfangs über die Felsrippe finden wir ziemlich sicher, so dass wir bereits gegen 17.30 Uhr auf dem Schreckfirn stehen. Und das ist gut so! Denn dieser Firn ist so zerrissen, dass es uns noch einmal ernsthafte Mühe bereiten wird, einen einigermaßen sicheren weg zwischen den Abbrüchen und dem Lauteraar-Südwestgrat hindurch zu suchen.
Am Fuße der Ausstiegsfelsen beim Coloir unter dem Schrecksattel finden wir zufällig eine geöffnete Mineralkluft. Wunderschöne, tiefrot bis bordeaux gefärbte, mehrflächig, fast kugelig geformte Kristalle zwischen großen Bergkristallspitzen glitzern uns an. Vielleicht Granat? Gibt es den hier überhaupt? ich stecke ein paar kleinere, lose Teile davon in meine Tasche, halte aber gleich inne, weil ich an meinen Traum der letzten nacht denken muss. Peter will sich gerade mit seiner Eishaue an der Kluft zu schaffen machen. Ich schreie ihn an, unfreundlicher, als ich eigentlich wollte und weiß, er wird mich nicht verstehen:
"Das würd' ich lassen! Peter, bei allem, was Dir heilig ist, lass die Dinger für heute in Frieden, ich hab mir ein paar davon in die Tasche gesteckt, die kannst Du haben, aber bitte, lass die Finger von dem Kram!"
Peter sieht mich an, als hätte ich mich in die heilige von Lourdes verwandelt: "Spinnst Du jetzt total? Das hier ist mindestens n' paar tausend franken wert!"
Ich kann meinen freund ja verstehen, doch es ist da irgend etwas, das mich warnt, die Kluft heute auszubeuten. Unerklärbar, aber intensiv und deutlich. Hängt es mit meinem allzu deutlichen Traum in der Nacht zusammen? Kann man etwas auf solche Vorahnungen geben? Bis jetzt hatten mir solche Intuitionen stets geholfen und mich oft auch vor Negativem bewahrt. Aber wie soll ich das meinem Kameraden erklären? Ich versuche es mit überzeugender Ruhe:
"Peter, ich weiß, dass es Dir schwer fällt, so einen wertvollen Fund einfach hier liegen zu lassen, aber tue es heute bitte. Wenn Du willst, decken wir die Kluse mit Steinen ab und ich verspreche Dir, in der nächsten Woche mitzukommen, um die Kristalle zu holen. Ich kann es Dir jetzt nicht erklären, aber denk daran, dass uns meine Launen einige Male den Arsch gerettet haben."
Ich habe nicht damit gerechnet, aber Peter lässt sich erweichen, legt eine Steinschuppe über die Kluft und wir gehen weiter. Was mag er jetzt denken? Sicher glaubt er, dass mir die Sonne des Tages nicht bekommen ist. Soll er! Und ich stehe ohnehin auf dem Standpunkt, die Berge um jeden Preis wieder so zu verlassen, wie ich sie vorgefunden habe, ohne in ihnen herum zu hacken, wenn das bloße Überleben dies nicht erfordert.
Nun aber haben wir uns darauf zu konzentrieren, den spaltenreichen Schreckfirn hinunter zu steigen. Peter spurt wieder und die letzten Seilmeter zum Gaagg sind lästig lang, wohl auch deshalb, weil das, was man in frostigen Morgenstunden als Firn bezeichnet, sich nun am frühen Abend als knöcheltiefer Sulz ausnimmt.
Am Gaagg, unterhalb des Strahleggpasses, wo wir unseren Tourenkreis schließen, halten wir noch mal, um die in der Abendsonne schimmernden Felsen ein letztes Mal zu grüßen. Und wie zur Erwiderung des Grußes sendet unser Viertausenderduo einen leichten Stein und Eisschlag vom Grathorn durch die Coloirs und Rinnen seiner Südwestflanke. Es vergeht eine Weile mit verzücktem Schauen, bis uns beiden klar wird, dass dieser steinige Gruß von oben genau durch unsere Abstiegsführe fegt, auf der wir vorhin noch kletterten. Und mit etwas noch bleicheren Gesichtern stellen wir ernüchtert fest, dass sich der Aufschlagpunkt des Steinschlags genau dort befinden muss, wo Peter seine Kristallkluse abgedeckt hat.
Peter sagt nichts, sieht nur verwundert abwechselnd auf den Berg und mich. Er braucht auch nichts zu sagen. Seinem Blick entnehme ich, dass er sehr wohl erkannt hat, was geschehen wäre, wenn er sich noch eine Stunde mit seinem Fund beschäftigt hätte. Es war nur ein kleiner Steinschlag, unbedeutend im Hinblick auf einen solchen Felsriesen, doch für uns zwei Menschlein hätte es gereicht!
Über das Gaagg geht es noch einmal richtig zur Sache. Aufgeweichter Firn lässt uns mehr abwärts rutschen, als steigen. Ausgelaugt und erledigt erreichen wir dennoch im letzten tageslicht wohlbehalten die Schreckhornhütte. Erleichterung ist zu spüren und Peter meint: "Na ja, da sind wir ja wieder zu Hause!"
Die Anstrengungen der letzten zwei Tage spüren wir erst, nachdem wir ein paar Minuten gesessen haben und uns dann wieder erheben, um von Hans eine heiße Hüttenbuillon entgegen zu nehmen. Sämtliche Knochen protestieren. So fertig war ich nicht oft von einem Berg zurück gekommen. Und doch sind wir noch mit besten Bedingungen gestiegen! In der Geborgenheit der Hütte, mit warmer Suppe im Bauch, sinken wir bald in einen Tiefschlaf.
Morgen hat uns die durcheinander quirlende Zivilisation wieder. Und übermorgen unser Job. Peter am zeichnungsüberhäuften Aufsichtstisch am Fließband des VW-Werks und ich an der kalkverkrusteten, lauten Verputzmaschine meines väterlichen Betriebes...

Le sommet - le but de chaque course, mais pas la fin! Der Gipfel - erreichtes Ziel, doch nicht immer Ende einer Tour!
 
 
 
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