Berge zur Selbsterkenntnis
 
Im Reich der Giganten (August 1987)
 
iguille Verte. Schon lange regte sich in mir der Wunsch, auf diesem Berg zu stehen und nach Nordwesten ins Chamonixer Tal hinunter zu sehen. Stets jedoch hatten schlechte Verhältnisse, oder unzulängliche Tourenplanung einen Aufstieg verhindert. Erst Peter gibt mir wieder den nötigen Auftrieb für einen erneuten Versuch.
Wir wollen es von Norden her versuchen. Zum einen, weil das Couturiercoloir als relativ leichte Führe gilt, zum anderen, weil ich diese Route von meinem letzten Versuch noch im Sinn habe. Der Fernseher verspricht für das Wochenende herrlichstes Alpensommerwetter.
Herrlich ist es dann auch, als Peter mich Donnerstag früh in Braunschweig abholt. Allerdings mehr herrlich bewölkt!
"Wird schon werden, gewiss gilt das nur für den Alpenraum." Peters Zuversicht ist unerschütterlich.
Tatsächlich stehen wir dann, zehn Stunden später, unter sengender Sonne auf dem Dorfplatz von Chamonix. Wir wollen noch etwas einkaufen, ohne jedoch auf das Auto verzichten zu müssen, denn schleppen dürfen wir unseren Proviant noch weit genug. Die Gemeindeväter von Chamonix machen es uns schwer! Wo wir bei unserem letzten Besuch noch ungehindert parken durften, zieren nun bunte Verbotsschilder das Stadtbild. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als vom Zeltplatz aus zu Fuß zum Shopping zu wandern.
Das Problem, einen Stellplatz für unser Kuppelzelt zu bekommen, erwächst sich jetzt eher, als die Frage nach dem Proviant. So überfüllt habe ich Chamonix selten gesehen. Wenn die alle auf die Berge hinauf wollen, wird unsere Tour vermutlich an der Überbevölkerung unserer Führe scheitern.
Auf dem Campingplatz "Mer de Glace", bei Les Pratz haben wir Glück, allerdings auch nur, weil ich den Aufseher vom letzten Mal her kenne und um seine Empfänglichkeit für Banknoten weiß. Dafür haben wir dann noch einen mehr als tausend Meter langen Marsch zum Einkaufen. Mit dem Rucksack als Shopping-Bag ziehen wir durchs menschenüberlaufene Chamonix. "Wie Räuber Hotzenplotz..." meint Peter ironisch.
Drei Stunden später packen wir die Rucksäcke erneut. Manche Leckerei muss da einer Eisschraube oder einer zusätzlichen Gletscherbrille weichen. Wir müssen gut abwägen zwischen Ausrüstung und Proviant. Wozu haben wir eigentlich sechs Becher Joghurt gekauft? Die zermatschen doch zwischen Seil und Steigeisen... Jetzt wissen wir, was es zum Abendessen gibt! Es ist schwer, wenn man sich zwischen Räucherschinken und einer Ersatzeishaue entscheiden muss. Magen und Verstand sprechen in dieser Hinsicht zweierlei Sprache. Von beidem erfordert es so viel, wie nötig, doch so wenig, wie möglich. Wir wollen schließlich nicht mitten in der Wand, ohne Sicherung und mit über tausend Meter Luft unter uns unseren Bauch vollschlagen. Ebenso wenig macht es Sinn die Eisschrauben mit knurrendem Magen zu setzen. Die abnervende Beschäftigung des Aus- und wieder Einpackens zieht sich bis in den Nachmittag hin. Wir betreiben sie mit Hingabe! Bis wir glauben: Perfekter geht es nicht!

Tagwache. Um sechs Uhr treibt uns mein kleiner goldener Wecker aus den Schlafsäcken. Müde schieben wir unsere anfahrtsgestressten Körper in die Sommerfrische. Eine nicht ganz ernst gemeinte Katzenwäsche, dann schultern wir unsere Rucksäcke und ziehen los. Ich mit einer gewissen Steifigkeit im Rücken, eine Erinnerung an meinen persönlichen Krieg mit meiner Verputzmaschine in Braunschweig. Wenigstens traktiert mich heute Morgen kein Migräneanfall.
Entlang der Wasserleitungen Wald von Les Bois wandern wir der Gletscherzunge des Mer de Glace entgegen. Der friedliche Morgen besticht durch seine Himmelsbläue und durch die Klarheit seiner Ausblicke. Der gestrige Nachmittagsdunst ist verschwunden, die Luft scheint wie frisch gewaschen. Klar und rein im ersten Sonnenglanz schimmern die Felsketten der Les Aiguilles Rouges durch den Arvenwald und bieten immer wieder beeindruckende Aussichten.
Teils über karge Matten, teils durch urwüchsigen Bannwald marschieren wir zur Seilbahnkonkordiation "Lognan". Bahnen und Lifte strecken sich wie die Fangarme eines Kraken gegen die bizarre Flanke des Aiguille Verte. Bis zu einer Höhe von 3200 Metern greifen sie hinauf.
08.00 Uhr. Entlang dem Strom des Glaciér de Argentière folgen wir einem ausgeprägten Fels- und Geröllband, bis es sich am Fuße der Nordostflanke des Aig. Verte im Schnee und Eis des Gletschers verliert. Vor dem Gletschereinstieg halten wir noch mal Rast und schauen beeindruckt hinauf zu dem Berg, den wir morgen bezwingen wollen. Die gigantische Flanke von rotbraunen Türmen und Graten, von schattenblauem ewigem Schnee, drohend und abweisend, ohne Sonne, steht kalt unter dem blauen Himmel.
Und wer da meint, wir dürften nach so und so vielen Alpenviertausendern über diesen Berg kein staunendes Bewundern mehr an den Tag legen, der irrt! Denn er weiß nichts von den tiefen Beweggründen, die uns mit mächtigem Drang immer wieder hier herauf locken. Wohl sind diese Gründe bei jedem Berggänger verschieden gelagert, aber nur, wer gegen die Naturgewalten um sein und anderer Leben gekämpft hat, wird sie je verstehen können, weil er Einblick bekommt, in die Urkraft der Schöpfung schlechthin und weil er sieht, wie überheblich und verletzlich der Mensch doch ist, der sich ohne technische Hilfsmittel in ihre Gewalt begibt. Der ergreifende Anblick des mächtigen Gebildes Aig. Verte überzeugt uns wieder einmal von der eigentlichen Unterlegenheit des Menschen, der Natur gegenüber, die hier trotz Staudämme, Lawinenverbauungen und wohl konstruierter Seilbahnmasten zu Tage tritt. Nur geistige Stärke bekommt hier noch eine Chance, wenn der Schneesturm die scharfgezackten Grate umtobt.
Wir folgen der westlichen Mittelmoräne des Gletschers, bis zu einer kleinen Felsinsel am Fuß des G.de Rocheuse- Nordostgrates. Diese Felsinsel wird morgen einer der optischen Fixpunkte unserer Führe sein. Einen optischen Fakt fixieren wir bereits jetzt: Es hat mächtig viel Schnee und Eis dort oben, an einer der spektakulärsten Sommerrouten über Chamonix.
Ab hier queren wir den Gletscher und steigen auf der gegenüberliegenden Seite an der nicht weniger beeindruckenden Flanke des Aiguille d' Argentière über Geröllhänge zur gleichnamigen Hütte auf 2771 Metern empor.
In wärmender Sommersonne hocken wir vor der vollen Hütte und sehen mit zusammengekniffenen Augen zur Flanke des Aig. Verte hinüber. Obwohl schon August ist, liegt die Nordostflanke noch in den Banden des Schnees. Es scheint, als stünde dort drüben ein letztes Bollwerk des vergangenen Winters, gegen das der Sommer immer noch vergeblich Sturm läuft.
Allen Schnees zum Trotz vermitteln die alpinen Clubhütten den Anblick von unzähligen, neu eingetroffenen Bewerbern, die diesen Grat, oder diese Wand dort meistern wollen. Man hört vor allem die deutsche und englische Sprache auf den hochgelegenen Gebirgshütten.
Der herrliche Sonnenuntergang, der dann auf den Firnen vom Le Tour Noir bis zum Mont Dolent loht, verspricht für morgen ein super Viertausenderwetter. In dieser Voraussicht krabbeln wir zufrieden in unsere Schlafsäcke. Wie stets in überfüllten Hütten, finden wir auch hier nicht die nötige Ruhe vor einem Viertausenderangriff. Nun sind ja die hochalpinen Schutzhütten ausnahmslos, wie jeder weiß, gerade zum Nächtigen da, damit man andern Tags ausgeruht und früher am Einstieg das verkrangelte Seil entwirren kann. Doch mit dem "Nächtigen" ist das so eine Sache... Denn nächtigen mag ja noch längst nicht bedeuten, dass man auch schläft. Mal vorausgesetzt, man hat sich nicht in einer dieser schnuckelig- kuscheligen Räume einquartiert, die hauptsächlich den Sektionsmitgliedern vorbehalten sind, falls diese zufällig mal "ihrer" Hütte einen Pflichtbesuch abstatten. Otto Normalbergsteiger nächtigt in der Regel in einem stickig- überfüllten Schlafraum, der eben besser Nächtigungsraum heißen müsste.
Es ist doch immer wieder erhebend, wenn man staunenden Blickes erlebt, wie viele Berggänger da heringsgleich, wie in einer frühzeitlichen Sklavengaleere auf einer geringen Quadratmeterfläche aneinandergequetscht werden können. Und kaum ist es dem müden Alpinisten gelungen, sich unter energischer Zuhilfenahme eines Bergstiefels, oder einer duftenden Socke so zu betten, wie er bis zum Morgengrauen zu verbleiben gedenkt, beginnt das einzigartige Schlafraumkonzert. Die Overtüre zur Hüttennacht. Ein Outsider mag nicht glauben, zu welchen Geräuschen schlafende Menschen fähig sind und welch feine Nuancen dabei auftreten können. Angefangen beim vulgären Rasseln und Stöhnen über tonleiterhaftes Gepfeife und von lautstarkem Gedröhne mit geschickt rhythmisch eingeworfenen Erholungsphasen, bis hin zum Monumental-Orchester der Posaunen von Jericho oder dem steigenden Krescendo beim Finale von Ravels Bolero, ist alles hörbar vertreten. Oropax ist da oft die einzige Chance, etwas Schlaf zu bekommen.
Ein Oropax, beziehungsweise Nasopax für den gestressten Riechkolben gibt es meines Wissens noch nicht. Nämlicher täte jedoch dringend not. Gegen die außerordentlich abwechslungsreichen Wohlgerüche in einem überbelegten Schlafraum hilft bislang einzig eine Wäscheklammer, die sich der jeweils Methangasgepeinigte auf die empfindsamen Flügel seines Gesichtserkers zwackt. Arge Windgänge rauschen da durch die gequälte Hüttenluft. Winde aus menschlichem Dickdarmkompressor, versetzt mit herbem Sauerkrautgeruch und scharfem Gulaschduft, fein mit Knoblauch abgerundet, angereichert mit Hüttenbuillon und Obstler zu wahrer himmelsstinkender Komposition gewürzt und verfeinert. Diese Kreation, vermischt mit den aktivitätsbedingten Körperausdünstungen, insbesondere denen, der unteren Gliedmaßen, ergibt dann die viel gepriesene romantische Hüttenatmosphäre, deretwegen ja Viele hier herauf steigen.
Äußerst phantasievoll und ergiebig, bezüglich der Wortschatzerweiterung, sind auch die oftmals nicht gerade dezent ausgetragenen Wortgefechte, ob denn nun das einzige Butzenfenster geöffnet werden darf, oder nicht. Zumeist gewinnen die Verfechter jener einleuchtenden Quanten- oder Käsemaukentheorie, dass so mancher schon erfroren, aber noch niemand erstunken ist. Die Vokabeln "Ersticken" oder "Vergasen" sind den Anhängern dieser Theorie wohl weniger geläufig.
Auf Sitte wird da in den Hütten der zumeist katholisch regierten Alpenländer mehr Wert gelegt. Zwangsläufig stellt man fest, dass auf den Hütten oft äußerst kompromisslos gegen den zeitbedingt drohenden Sittenverfall vorgegangen wird. Manchmal sogar mittels eines ungehobelten Brettes, welches zwischen den Lagern platziert wird, wenn man nicht sogleich geschlechtergetrennte Schlafsäle parat hat. Nirgendwo sonst ist man derart um das sittliche Wohl der bergbegeisterten Jugend besorgt, wie auf den Alpenvereinshütten, wobei die "Jugendlichen" erstaunlicherweise nirgends näher definiert werden. Es sind halt schlichtweg alle unverheirateten Personen, ungeachtet ihres Alters, was als Info leicht jedem Alpenclubausweis zu entnehmen ist. Nun, einer Destabilisation des Sittenparagraphen möchte man keinesfalls unnötig Vorschub leisten. Folglich gibt es nahkampfverhindernde, spießige Hüttenwarte jeglicher Verständniskathegorie und es bedarf zuweilen schon eines phantasievollen Maßes an Geschicklichkeit, um diese Wächter der Hüttenmoral zu täuschen. Und sollten sich dennoch zwei sympathische Seelen draußen vor der Hütte zwischen pieksendem Latschengestrüpp auf drückendem Felsboden näher kommen, kann wenigstens wegen eventueller Spätfolgen nicht die hüttenbesitzende Sektion in Regress genommen werden...

Der Wecker unterbricht gnadenlos einen schönen Traum und rüttelt uns in die eiskalte Realität zurück. 03.00 Uhr, Tagwache. Verräterische Gedanken spielen mit der Möglichkeit, die Tour einfach sausen zu lassen und statt dessen gemütlich aus zu schlafen. Aber nach der erfahrungsgemäßen Einsicht, dass nach der ersten Überwindung der Tag schon seinen Lauf nehmen wird, schälen wir uns dann doch wacker aus unseren Nächtigungshüllen.
Die Triebsamkeit der anderen Bergsteiger erfasst uns, reißt uns mit. Wir stolpern verschlafen und ungelenk der Entstehung eines neuen, harten Abenteuers entgegen. Noch wird uns das nicht bewusst. Greifbarer erscheint es uns dann schon mehr, als wir nach einem hastig hinunter gewürgten Hüttenfrühstück vor das Clubhaus treten und auf der anderen Gletscherseite drüben, noch im nächtlichen Schatten, unser Ziel aufragen sehen. Wir schultern unsere Lasten und steigen los. Zwar ist der Abstieg hinab zum Gletscher auf gerölligem Boden nicht sehr angenehm, dennoch fühle ich mich bestens. Ich habe geschlafen, getrunken und gegessen, mir ist nicht zu warm, nicht zu kalt und ich darf befreit aufrecht durch meine Berge gehen.
Eine gewisse Anstrengung lässt sich bei diesem Tun nicht leugnen, doch ich nehme sie gern auf mich, ohne irgend welchen psychischen Druck, ohne zwingende Abhängigkeit. Schweigend gehen wir hintereinander, genießen beide die klare, frische Bergluft, die Lunge und Herz, sowie den Geist zu reinigen vermag.
Wir steigen auf dem Glaciér de Argentière. Das harte Eis knirscht wie Glasscherben unter den Sohlen unserer Bergstiefel. Es ist windstill und unser Atem hängt als weißes Wölkchen vor himmelhoher Kulisse. Sterne funkeln über uns und der nicht ganz volle Mond ersetzt zuverlässig die unbequemen Stirnlampen, die ohnehin nur ein begrenztes Sichtfeld geliefert hätten. Außer unseren eigenen Steiggeräuschen dringt lediglich hin und wieder das Klickern von Stein und Eisstückchen in den Eisschlünden an unser Ohr. Dieser Morgen hat etwas märchenhaft friedliches, etwas verzaubertes an sich. Man kann die Stille förmlich sehen.
In geheimnisvoll anmutender Gletscherwanderung queren wir den Eisstrom nach Westsüdwest zur kleinen Felsinsel, die uns bereits gestern beim Aufstieg zur Hütte aufgefallen war. Zwischen ihr und dem Fuß des G.de Rocheuse Nordostgrates steigen wir nach Nordwesten auf den Glaciér de Rognons. Das große Eiscoloir, in dem unsere Führe verläuft, steht nun hoch über uns. Auf dem jetzt merklich aufsteilenden Firn steigen wir ihm entgegen.
Am Bergschrund dürfen wir uns gleich erst einmal austoben. Für das Schneekleid an diesem Berg ist er verhältnismäßig aper. Er zwingt uns, beim Durchstieg extra zu sichern. Mit beinahe 45° Grad Steigung beginnt jetzt der eigentliche Aufstieg. Wir steigen auf relativ gutem Firn. Lediglich vierzig, bisweilen fünfzig Zentimeter Pulverschnee umspült unsere Gamaschen. In diesem Wettersturzrelikt waten wir langsam aufwärts. Dabei halten wir uns nahe an den rechten Begrenzungsfelsen, um nicht noch direkt in der Lawinenrinne auf Séracgrüße von oben zu warten.
Unser Einstieg liegt schon ein ganzes Stück unter uns, da erhebt sich vor unserer Stirn die Bruchkante eines weiteren Bergschrunds. Und jenseits davon scheint das Coloir noch weiter an Steilheit zuzunehmen. Diese Tatsache verspricht aber auch, dass sich dort oben sicher nicht so viel Schnee hat halten können und dass damit auch das Steigen leichter fällt. Die Frontzacken der Steigeisen werden besser greifen.
Peter macht Stand, sichert und ich wühle mich hinauf, in einen Teil des Coloirs, der von Firnrinnen durchzogen wird und der tatsächlich aperer ist, als die untere Passage. Ich überlege, welche Bahn wohl später abgehende Lawinen einschlagen werden und orientiere mich noch mehr zu den Felsen. Zwar drohen auch hier kleine Schneerutsche aus den im Fels eingelagerten Terrassen, die nehme ich jedoch lieber in Kauf, als eine ausgewachsene Lawine, die durch den engen Eisschlauch brummt.
Mittlerweile zieht die Sonne über den Zinnen der Aiguille Rouges du Mont Dolent auf. Zielstrebig beginnt sie ihre tägliche Bahn. Ist unser Eiscoloir eben noch lichtdurchflutet, so wird der strahlende Glanz bald kühlerem Schatten weichen. Dennoch wird uns die Eisschulter oben mit einer Kanonade von Eisstücken eindecken, sobald sich der Gipfelfirn mit Sonnenwärme aufgeheizt hat.
Peter ist guter Dinge. Trotzdem ihm ein solches Eiscoloir, respektive ein Eisanstieg nie besonders behagte, steigt er heute mit sichtlicher Begeisterung. Ich denke, er ist froh, überhaupt hier oben sein zu dürfen. Seine Freundin Monika hat ihm in der letzten Zeit arg zugesetzt und ihn vor die Entscheidung gestellt: "Deine Berge, oder ich!" Dass Peter hier mit mir zu den weißen Spitzen der Aiguille Verte unterwegs ist, zeigt mir, dass er sich wohl einen Teil seiner Freiheit bewahrt hat. Bergsteiger stehen und das weiß ich aus Erfahrung, mehrmals im Leben vor der Entscheidung zwischen ihren Bergen und einer Frau. Sicher mag man liebenden Frauen das recht einer gewissen Angst wohl einräumen. Der Angst, sie könnte das, was sie lieben, an die Berge verlieren. Vor einigen Jahren erlebte ich selbst, was eine junge Frau durchmacht, wenn der Berg ihre Liebe zerstört hat. Dennoch glaube ich heute: Ein Alpinist kann zugunsten seiner Partnerin seine Berge aufgeben, jedoch vergessen kann er sie nicht! Entweder wird die Sehnsucht, der Drang, dort oben hinauf zu steigen, irgendwann aus ihm hervorbrechen und er wird wieder im ewigen Eis unterwegs sein, oder das tiefe Fernweh nach den Firnen und Gipfeln bleibt verdrängt in einer verborgenen Ecke der Seele ungeweckt liegen.
Wir Bergsteiger sind wie freie Adler, streifen stets über die Berge, die uns Ausgleich geben, das stressige Dasein erträglicher machen, es wird uns zu Sinn und Zweck unseres Lebens. Mancher Alpinist, der mit den Gletschern und Graten verwachsen ist, geht jämmerlich zugrunde, wenn man ihm die Freiheit nimmt, auf seine Berge zu steigen. Es ist, als ob man einem Adler die Flügel beschneidet, oder einem Plainsindianer die weite Prärie wegnimmt. Nimmt man uns die Berge, so nimmt man uns Stolz und Kraft, so zerstört man in uns die Hoffnung, die Grundlage des Lebens, dann sind wir tot.
Dass Peter noch nicht ganz vom Zwang der häuslichen Sesshaftigkeit befallen ist, verrät mir sein lästerliches, unfeines Gefluche, das wie immer klingt, als sich in den Felsen über uns ein kleiner Schneesturz löst und sich unaufhaltsam in seinen ungeschützten Kragen auf verschwitzten Nacken ergießt.
Mittlerweile im Schatten und ziemlich hundert Meter höher, befinden wir uns jetzt am Beginn einer größeren, ausgeprägten Lawinenrinne, die bis zum Einstieg in die sogenannte "Stofervariante" hinaufzieht. Inzwischen kocht die am azurblauen Himmel prangende Sonne die Séracs auf der Schulter oben weich. Es ist nicht gerade einberuhigendes Gefühl, gerade jetzt in ihrer Schusslinie so quälend langsam höher zu steigen.
Am vierten Neuntel des Coloirs, also beinahe in der Mitte unserer Führe, legen wir eine kurze Rast ein. Dazu queren wir etwas weiter gegen die Begrenzungsfelsen, um dem möglichst geringsten Risiko ausgesetzt zu sein. Mühsam hacken wir ein paar größere Stufen in die Coloirwand, um unsere Beine während der Rast etwas zu entlasten.
Peter macht Tee und ich lese den kopierten Auszug des Clubführers. Zum wievielten Mal falte ich das Blatt auseinander? Stets habe ich in dieser Bizarrität das unangenehme Gefühl, mich nicht genau auf der Führe zu bewegen. Mein Routenzettel klärt mich darüber auf, dass dies nur Einbildung ist. Nebenbei stelle ich anhand des Fotos auf der Rückseite fest, dass wir uns ungefähr am Punkt des besten Zustiegswinkels zur Stofervariante befinden müssten. Vorsichtshalber diskutiere ich mit Peter die Möglichkeit einer Variante zwischen den Felsen. Aber er ist wie ich der Meinung, dass wir unserer geraden Linie durch das Coloir folgen sollten, da wissen wir wenigstens, was uns erwartet und über der Stofervariante drohen ebenso mächtige Eisabbrüche, wie oben über der Schulter.
Wir zwingen uns, auf unserem Frühstück herum zu kauen und schauen auf bergspitzenbegrenztes Panorama. Drüben im Nordosten in der du Tour-Kette erheben sich die Felsbastionen des Fastviertausenderduos Aiguille du Chardonnet und Aiguille d' Argentière. Peter sinniert in Zukunftsträumen: Das wären noch mal 'n paar schöne Touren, oder? Vielleicht auch mal die Le Tour Noir..."
"Den", verbessere ich meinen Freund beiläufig. "Aber die Idee ist gut, es heißt, man genießt dort drüben eine herrliche Aussicht in's Val Ferret."
Nebenbei stelle ich Mutmaßungen darüber an, ob wir schon eine Höhe erreicht haben, die es uns gestattet, bei einem dreitausendachthundert Meter hohen Berg von "dort drüben" zu sprechen, oder ob man vielmehr "dort oben" sagen müsste. Nun, schließlich steigen wir an einem wirklichen Viertausender.
Der Tiefblick, den unsere Rast bietet, ist von perspektivischer Verwirrtheit: Die scheinbar unten zusammenlaufenden Firnrippen in diesem Felskessel vermitteln einen riesigen Schlauch, der unten zerfasert und sich im Strom des Gletschers verliert. Nur seine Linie löst sich nicht auf. Sie ist aus der Entfernung und ihrem Gesamtbild stets ersichtlich und schwingt sich als nicht sehr ausgeprägte Moräne in elegantem Bogen in den Gletscherfluss ein. Wie ein plötzlich zu Eis erstarrter Lavastrom windet sich der Glaciér de Argentière talwärts. Wenn man auf seinem glasharten Eispanzer dort unten wandert, mag man nicht vermuten, wie elegant geschwungen, wie lebendig, scheinbar zähfließend er von erhöhter Warte aus betrachtet anmutet.
"Was guckst 'n so." Peter reißt mich aus meinen Gedanken. Ich versuche ihn an meiner Welt teilhaben zu lassen:
"Guck mal, diese Kurven und Linien zwischen der abgehackten Bizarrität der Grate..., ist das nicht ein wunderbarer Anblick?"
Peter schaut ziemlich verständnislos und schüttelt dann resigniert den Kopf: "Mann, Du hast wirklich Deinen Beruf verfehlt. Anstatt mit Deinem Putzmatsch herum zu schmieren, solltest Du lieber Philosophie studieren..., an Dir ist so was wie ein Dichter verloren gegangen!"
Nun, wenn Philosophie aus bloßem betrachten und Sehen, aus Erkennen und Beschreiben besteht, dann bin ich bereits ein Philosoph! Aber bedarf es da erst eines studierten gelehrten, der die kleinen Wunder dieser Welt entdeckt, um ihre Schönheit und Einmaligkeit für die weniger intensiv betrachtenden Menschen hervor zu heben? Ich glaube, etwas mehr Achtung vor der Natur Schöpfung, vor dem Leben und mit etwas mehr Verständnis für die Schönheit, die man auch dem Unbedeutendsten abgewinnen kann, würde da schon genügen.
08.30 Uhr. Wir seilen wieder neu ein, fixieren den weiteren Verlauf unserer Führe und steigen weiter. Zuletzt wurde es beim passiven Hinabschauen doch empfindlich kühl. Über unseren Köpfen ragt nun eine senkrecht angeordnete Galerie von Felsen aus dem Firn, wiederum darüber erhebt sich eine steile Felskante beinahe bis zum Gipfel empor. Unser Coloir zieht sich nach rechts, in eine auffächernde Firnflanke hinein, über in direkter Linie die Séracs prangen, stets bereit, uns aus dem Coloir weg zu wischen. Wir folgen parallel zur Stofer-Variante den rechten, vereisten Felsen, respektive der ebenfalls direkten Linie neben ihnen. Der Berg verliert indes an Monumentalität, wird für uns berechenbarer, behält jedoch seine ganz besondere Anziehungskraft auf uns. Je höher wir an ihm steigen, desto geheimnisvoller geben sich seine wildzackig gegliederten Pfeiler und Grate, die selbst aus der Vogelperspektive betrachtet, nichts von ihrer Exklusivität einbüßen.
Drei Wadenkrämpfe und vier Mal Armkribbeln habe ich hinter mir, als die schmale Eisflanke sich langsam etwas zu neigen beginnt, das Gelände an Schneereichtum zunimmt und wir an einer feinen Gratkante anlangen, die uns zwischen den noch vor Stunden so gefürchteten Séracs hindurch auf die Eisschulter leitet. Nun haben wir den Gipfel in der Tasche, glauben wir. Doch die zunehmende Menge aufliegenden Schnees, die gewonnene, enorme Höhe und einige nicht einfache Eisschründe belehren uns rasch dahingehend, dass wir wohl etwas zu voreilig waren, mit unserer Frohlockung. Bereits die ersten beiden Seillängen auf der Schulter erscheinen uns um ein vielfaches mühevoller, als das monotone Steigen im Steileis der Coloirwand. Die Enttäuschung darüber, dass der Gipfel wohl noch zweihundert Meter weiter himmelwärts auf uns wartet, kostet konditionellen Auftrieb.
11.00 Uhr. Noch einmal Pause. Die Sonne steht hoch am Zenit und wärmt angenehm. Noch unterbricht keine Wolke das unendliche Blau. Und der Wind beschränkt sich auf strichweisen, minder kräftigen Zug über den Grat. Ich sehe hinab, wo sich unsere Spur in den Linien der Rinnen des Coloirs verliert. Wie, wenn eine Eintagsfliege sich zu der Kirsche auf der Sahnetorte hinaufquält! Bei dem Gedanken, dass ich Peter meine Betrachtungsweise kaum offenbaren kann, ohne dass er mich wieder verständnislos mit seinen Kuhaugen anschaut, lässt mich still vor mich hin schmunzeln. Peter sieht halt nicht hinter die Objektivität der Dinge. Für mich aber verlieren viele Betrachtungen ihre Sterilisation, wenn ich mich ihnen mit mehr Phantasie nähere. Vieles Nebensächliche, glaube ich, wird durch meine Art der Anschauung zu einer Hauptsache erhoben. Wenn ich mich zuweilen dabei auch in Details verliere, so befriedigt es mich doch, auch das Nebensächliche ergründet und psychisch erarbeitet zu haben. Es ist halt meine kleine Welt und manchmal habe ich das drängende Bedürfnis, mich aus dieser kleinen Welt heraus mitzuteilen. Enttäuscht stelle ich dann jeweils fest, dass niemand da ist, der die Dinge ebenfalls mit meinen Augen sieht. Meine Betrachtungsweise findet nirgendwo weder Verständnis und schon gar nicht irgend welche Geister, die ihr folgen können. Und ebenso oft, wie es mich enttäuscht, dass ich diese, meine kleine Welt mit niemandem teilen kann, schwelge ich im Hochgefühl, in der Erhabenheit, allen Anderen in diesem Hinblick weit überlegen zu sein. Es ist die stille Macht, geistig über einer Norm zu stehen und das primitive Treiben belächelnd sich selbst zu überlassen.
Ein Blick hinauf verrät mir, dass nun wohl unser Endspurt beginnt, unser Finale an diesem Berg, der uns heute in Frieden auf seinem Haupt geduldet hat. Zumindest bis jetzt! Es macht mir plötzlich Angst, dass in mir der trügerische Gedanke reift, diesem Berg bereits überlegen zu sein. Wie anmaßend! Habe ich den Abstieg, der ja zwangsläufig folgen muss, vergessen? Der Berg ließ uns bislang in Ruhe. Aber muss er das auch bis zum Ende unserer Bergfahrt tun? Mir geht so langsam auf, dass wir Bergsteiger niemals Sieger über einen Berg sein können. So lange die Natur der Berge immer noch Überraschungen, wie Lawinen, Steinschläge und Wetterstürze für uns parat hält, so lange werden die Gipfel immer die stillen Gewinner sein, die uns zwar in dem Glauben lassen, die größten zu sein, dass sie in Wahrheit jedoch jederzeit ihre Willkür an uns austoben können. Wir sind halt nur Gäste im Reich der Giganten.
Ein Bergsteiger mag wohl viele Schlachten an den Firnen und Graten hier oben gewinnen, doch aus der lebenslangen Herausforderung, die er sich aufgezwungen hat, wird er nie als Sieger hervor gehen. Die Berge werden noch stolz und hoch in das Blau des Himmels ragen, wenn die Namen ihrer Besteiger längst vergessen sind. Und waren es auch Bezwinger, diese anmaßenden, vergänglichen Individuen, die auf ihren Gipfeln standen, sich beglückwünschten und stolz von der höchsten Spitze herab sahen? Vielmehr sind wir Alpinisten wohl nur von den bergen, von der Natur, auf ihrem Rücken geduldete Parasiten!
Über den jetzt wieder stark aufsteilenden Firngrat steigen wir den eigentlichen Gipfelaufbau an. Aus der nun völlig neu gewonnenen Perspektive erwacht die langsame Erkenntnis, dass wir uns eigentlich eher an der Flanke des Grande Rocheuse, als an der Aiguille Verte bewegt haben. Erst im letzten Abschnitt haben wir einen deutlichen Bogen nach dem Aig. Verte Gipfel hin gezogen. Wenn uns auch während des gesamten Aufstiegs im Coloir die Séracs der Aiguille Verte bedrohten, so dominierten doch stets die felsaufwürfe des Grande Rocheuse, für uns zwar eher unmerklich, doch aus der Sicht eines entfernten Beobachters nichts desto deutlicher.
Der letzte Steilfirn wird noch mal zur Stätte böser Flüche und Verwünschungen. Meter um Meter quälen wir uns hinauf, dehnen unsere Kondition immer noch ein Stückchen, erkämpfen uns mit jedem Atemschnaufer ein weiteres, klitzekleines Strichlein auf dem Höhenmesser. Immer öfter halten wir kurz, blicken erwartungsvoll hinauf, aber immer ist da noch ein Stück weiße Gratkante zwischen uns und der blauen Weite. Bis es plötzlich nicht mehr weiter geht!
Ebenso steil, wie wir bislang aufstiegen, geht es unverhofft wieder hinunter. Über uns ist nichts mehr. Wir sind oben! Wir brauchen einen Augenblick um zu begreifen, dass wir auf dem Gipfel stehen, dann folgt einem ausgelassenen Jauchzer erleichtertes Ausatmen. Es ist geschafft! Wir stehen 4121 Meter hoch über der Welt!
Wir atmen befreit und lassen uns zur Gipfelrast nieder. Der Ausblick ins grüne Tal von Chamonix fasziniert am meisten, gefolgt vom Anblick nach Süden. Dort schlängeln sich Glaciér du Tacul, Glaciér de Leschaux und mer de Glace ins Tal. Ganz hinten glänzt das weite Eisfeld des Glaciér du Geant, gestaffelt überlagert von den Vasallen Mont Blanc du Tacul, Mont Maudit und ihrem Herrscher Mont Blanc, der seine weiße Kuppel hoch in die Bläue hinaufstreckt.
Im Südosten ragt düster das Felsmassiv des Grandes Jorasses aus dem Malletgletscher auf, das sich bis zum Glaciér du Geant hinzieht und mit dem stolzen, eleganten Felsfinger Aiguille du Geant endigt. Nach Nordwesten hin, verliert sich der Blick in einer endlosen Aneinanderreihung mattengrüner Hügelkämme und bewaldeten Tälern, das haute Savoie. Direkt vor uns im Westen und zum Greifen nahe erhebt sich das felsige, berühmte Kletterschloss Aiguille du Dru. Peters Blick verrät mir, dass er sich schon längst in eine der begehrten Führen an diesem doppelgipfeligen Berg verliebt hat. Als seine begeisterte Stimme die Gipfelruhe stört, weiß ich, dass ich richtig vermutet habe: "Sag mal, kennst Du eigentlich die andere Seite vom Dru?"
Ich vergesse ganz sicher nicht den Anblick, den diese gigantische Felsspitze vom Montenverswald aus bietet, versuche aber meinem Freund den Wind aus den Segeln zu nehmen: "Kenne ich..., aber an dieser Klamotte wirst Du Dir die Zähne ausbeißen!"
Mehr zu sich selbst sagt er jetzt: "Na ja, die Westwand, die Amerikanerführe, würd' ich schon gern mal versuchen."
Seine Bemerkung zum Detail des Routennamens sagt mir, dass er sich wohl schon eine ganze Weile mit der Möglichkeit beschäftigt, dort zu steigen.
"Aber das ist doch alles schlichtweg im fünften Schwierigkeitsgrad", werfe ich ein.
Peter sinnt eine Weile auf meinen Einwand, dann bekomme ich zu hören, was ich an seiner Stelle wahrscheinlich selbst geantwortet hätte:
"Du weißt doch, das kommt auch viel auf die Verhältnisse am Berg an!"
Wir schauen noch eine Weile ins Land, dann kommt der Aspekt des Abstiegs mehr zum tragen. Aus Zeitgründen erwägen wir bald, über die Normalführe, den Südwest Moinegrat abzuseilen und im Biwak de la Charpoua zu nächtigen. Aber letzteren Gedanken schlagen wir uns nach reiflicher Überlegung gleich wieder aus dem Kopf. Eine von der Führe abweichende Variante zum Biwak kann ungeahnte Überraschungen bringen. Und der Einfall, halt einfach zur Couverclehütte abzusteigen, bekommt ganz plötzlich ebenfalls einen bitteren Beigeschmack: Die heute ersten Begeher der Normalroute kommen als lautstarke Kolonne herauf. reichlich spät und wir hatten uns schon gewundert, über diese trügerische Einsamkeit an diesem Berg. Die heraufkommenden Seilschaften berichten von hoffnungslos überfüllten Berghütten im gesamten gebiet des Mer de Glace.
Nun, viele Alternativen haben wir nicht. Unsere Aufstiegsführe liegt inzwischen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit unter ständigem Beschuss der Gipfelséracs, ebenso die Nant Blanc-Flanke. Die weniger frequentierten Aufstiege erweisen sich voraussichtlich als zu lang und zu schwierig. Es bliebe noch das "Coloir en Y", also die Südwestwand. Die jedoch ist jetzt total der Nachmittagssonne ausgesetzt und hat sich sicher schon mit Eis- und Steinschlag belegt.
Es hat also ganz den Anschein, dass wir uns mit zig anderen Berggängern die Normalführe teilen müssen. Eine nicht gerade bezaubernde Vorstellung. Wohl wären wir die ersten im Abstieg, weil ja die Aufsteigenden gerade erst herauf kommen, doch der Gedanke an losgetretene Steine über unseren Köpfen entbehrt sicher keiner Dramatik. Als kleineres Übel müssen wir das wohl hinnehmen. Als der Gipfel wegen der himmelstrebenden Bergbegeisterten allmählich zu eng zu werden droht, starten wir unsere Flucht nach unten, denn die erträumte Bergeinsamkeit ist hier einem bloßen Wunsch gewichen.
Auf engstem Firnflecken, im Gipfelglück und unter den neugierigen Blicken anderer Berggänger kramen wir aus der Tiefe unserer Rucksäcke Felshaken hervor, die wir eigentlich gar nicht einsetzen wollten. Beim Herausfischen der einzelnen Haken wünsche ich mir einen dieser neuen Rucksäcke her, die von oben und unten gleichermaßen per Reißverschluss zugänglich sind. Das Seil wird neu aufgenommen und dann sind wir auch schon unterwegs. Wieder einer dieser schlaflosen Nächte im "Heringslager" entgegen.
Gleich zu Beginn, auf dem ersten Gratstück wird unser Abstieg zum sprichwörtlichen Tanz auf dem Vulkan. Die heraufkommenden, erschöpften Mitalpinisten zwingen uns immer wieder zu waghalsigen Vorbeilassmanövern, die an Gefährlichkeit einer der anderen Abstiegsvarianten in nichts nachstehen.
Peter meckert: "Da hätten wir ja gleich übers Eiscoloir zurück rutschen können, wär' auch nicht beschissener gegangen!"
Und erst recht eng wird es in einem kurzen Kamin, der laut Führer zu einem Gratturm leiten soll. Wir kollidieren mit Aufsteigenden, entschuldigen uns mit wutverzerrter Mine, rangeln uns aneinander vorbei und ringen uns noch ein "Guten Weg!" ab.
Dem Gratturm wollen wir ausweichen und steigen schlauerweise etwas in die Südost-Talèfre-Flanke ein. Diese Idee haben auch die aufsteigenden Gruppen. Erneut warten wir mit Ungeduld, bis alle vorbei geschlichen sind, dann hasten wir auf Felsbändern um den Gendarmen herum, um ja nicht noch inmitten 3600 Meter hoher Exponiertheit auf entgegenkommende Bergsteiger zu treffen. Aber da kommt nun eine ganze Weile gar nichts mehr! Erst bei einem weiteren Gratturm, inzwischen haben wir gutes Stück Grat zwischen uns und den Gipfel gebracht, kommt uns noch eine letzte, ziemlich mitgenommene Seilschaft, bestehend aus drei Klagenfurter Bergkameraden, entgegen.
Eine kurze, freundliche Begrüßung klärt den Sachverhalt: Sie haben ihre Kraft und die Schwierigkeit der Route einfach falsch eingeschätzt. Wir raten ihnen eindringlich zur Umkehr, aber erst mit viel Überredungskunst gelingt es uns, diese Seilschaft dazu zu bewegen, mit uns gemeinsam abzusteigen. Unsere neuen Bergkameraden steigen voran. Erstens, weil sie die Führe ja bereits vom Heraufsteigen kennen, zum zweiten, weil es sinnvoll ist, die langsamer steigenden stets voran gehen zu lassen. Eine gewisse Erfahrung möchten wir der Gastseilschaft jedoch nicht absprechen, denn die Routenwahl, die sie ausgesucht hatten, war vernünftig gesteckt.
Nach links geht es nun in eine markante Scharte hinab, ohne sie jedoch gänzlich zu durchsteigen. Unsere Kameraden mögen konditionell ziemlich angeschlagen sein, so führen sie uns dennoch sicher auf dem Gletscher hinab. Über den mäßig aperen Glaciér de Talèfre gelangen wir binnen zwei Stunden zur Couvercle-Hütte am Südostgrat der Aiguille du Moine auf 2687 Meter gelegen. Hier müssen wir wie vorausgesehen feststellen, dass die Hochgebirgsherberge hoffnungslos überfüllt ist. Die aufgestiegenen Seilschaften haben sich ihren Nächtigungsplatz bereits beim Aufbruch zum Gipfel gesichert, auch unsere Abstiegsseilgefährten waren so klug. Uns bietet der Hüttenwart eine Lagerstatt im Vorraum an; auf eiskaltem Steinboden. In Aussicht auf eine halbe Lungenentzündung lehnen wir dankend ab, legen eine kurze Pause ein und rüsten uns dann für den weiteren Abstieg.
Wir trauen uns zu, in abendlichem Gewaltmarsch das Mer de Glace zu bewältigen, um dann hoffentlich im Hôtel Montenvers einen für unsere Tourenleistung angemessenen Schlafplatz zu ergattern. Wir verabschieden uns von unseren neu gewonnenen Tourenfreunden, versprechen uns gegenseitig zu schreiben, vielleicht zu besuchen und brechen dann auf, um über einen in goldenes Abendlicht getauchten Gletscher dem Tal zuzusteigen.
Zunächst über teilweise mit Schutt bedecktes Eis, anschließend über der Tête du Couvercle Südflanke traversieren wir hinab zum Zusammenfluss des Glaciér de Leschaux und des Glaciér du Tacul, dem Gebrutspunkt des Mer de Glace. Auf geneigter Mittelmoräne folgen wir dem konkordiationsplatz in Linie talwärts. "Les Moulins" heißt das Eis, auf dem wir uns hier bewegen, was so viel bedeutet, wie: "in den-" oder "bei den Gletschermühlen". Aber so sehr wir auch das Gelände beobachten, eine oder gar mehrere Gletschermühlen können wir nicht entdecken.
"Vielleicht waren da früher mal welche", meint Peter gleichgültig. Ihm ist wohl der Gedanke an ein sicheres Nachtlager wichtiger, als irgend welche Relikte von Naturspielzeugen. Und mittlerweile wird der Gesichtspunkt eines Unterkommens für die Nacht dringend gegenständlich. Der Gletscher schimmert in orangener Farbe, als die Sonne drüben hinter dem Brévent verschwindet. Wie Schuppen aus glühenden Mandarinenschalen leuchtet der Eispanzer. Nur auf den hohen Spitzen der umliegenden Viertausender strahlt noch pralles Sonnenlicht. Wie nicht zu dieser Welt gehörig stehen die himmelsnahen Eisbastionen über den bereits dunkelnden Talgründen. Ein herrlicher Tag vergeht und treibt mit kalter Nacht alle Alpinisten von den Firnen hinab in die schützenden Hütten.
18.00 Uhr. Ebenso hoffnungslos vollgequetscht wie die Couverclehütte, finden wir das Hôtel Montenvers vor. Die unzähligen Besucher belegen bereits jetzt ihre Nächtigungsplätze, um ja nicht bis zum Schlafengehen noch von irgend einem anderen um den jeweils besseren Platz geprellt zu werden. Das unüberschaubare Gewühle, das hier herrscht, erinnert mich eindrücklich an das Foyer der Stadthalle in Braunschweig, als einmal bei Bauarbeiten eine Weltkriegsbombe gefunden wurde und die Menschen der größeren Umgebung dorthin evakuiert wurden.
Es bedarf keiner ausgeprägten Diskussion, um festzustellen, dass es für uns das Beste ist, nun auch noch den langen Marsch nach Chamonix anzugehen, um schließlich im eigenen Biwakzelt zu schlafen. Ein letztes Mal schauen wir zu der hinter dem Dru hervorschimmernden Firnspitze empor. Im zarten Rot leuchtet sie jetzt. Dort oben im Coloir waren wir für ein paar Stunden den Massen entrückt. Aber wie lange noch werden wir dazu die Möglichkeit haben? Eines schönen Tages werden die Bergsteiger wohl wie Kletten zu tausenden und abertausenden an den Graten und Pfeilern eines solchen Berge kleben. Wie lange wird die Natur uns Menschen hier oben noch dulden, bis sie wirklich hart zurück schlägt?
Auf den befirnten Bergspitzen loht ein rubinrotes Feuer, als wir in den nachtdunklen Bannwald eintauchen und schon wieder die unverkennbaren Gerüche der Westalpenmetropole Chamonix wahrnehmen. Auf zerlatschten Waldwegen stolpern wir talwärts. Unsere Knochen schmerzen und unsere Körper fühlen sich schlaff und müde an. Bei einer letzten Rast auf erhöhter Warte mit Blick auf die Stadt, die keineswegs Nachtruhe findet, schlafe ich fast im Sitzen ein. Unter uns beginnt das Nachtleben eines berühmten Ferienortes, der so gar nicht mehr hineinpassen mag in diese entrückte Welt der bis ins Tal vorstoßenden Gletscher. Aber schon jetzt verzeichnet man hier und dort den Rückzug der einst bis tief in die Arvenwälder hineinleckenden Gletscherzungen. Es scheint, als fliehen sie vor den Menschen immer höher hinauf in das Reich der Giganten, in den ewigen Schnee, der wohl so ewig gar nicht ist.
Die letzten Meter gehen wir zusammen mit vielen anderen Alpinisten. Die hatten wir alle nicht getroffen, dennoch kommen sie auch von dort oben, vom Aiguille du Midi, oder vom Jorasses, vom Petit Dru, oder vom König Mont Blanc selbst. Hier auf den Zeltplätzen und Massenlagern Chamonix's laufen alle Spuren zusammen, werden Erlebnisse und Erfahrungen ausgetauscht und Rucksäcke für den morgendlichen Aufstieg gepackt, so, wie wir selber vor vierundzwanzig Stunden!
Und wir sind dankbar für die Stunden, die uns die Natur Zugang gewährt hat und wieder friedlich und heil entlassen hat, aus ihrem steinreichen, eisigen Reich der Giganten.
 
 
 
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