Daveidon und die schöne Nixe Ola

 

Ein Märchen von Frank Adlung,

nach einer Idee von Hellas Adlung

 

s war einmal vor langer, langer Zeit, als es auf der Erde noch Könige und Fürsten gab, als es noch Feen, Hexen und Zauberer gab, und Kobolde, Zwerge und Drachen, da lag ein stolzes Königreich auf dem Lande, das grenzte im Süden an ein weites, blaues Meer. Nicht weit davon stand das prächtige Schloss des Königs und seiner Frau.
Sie lebten dort glücklich und zufrieden, und nannten ihren einzigen Sohn ihren ganzen Stolz. Der junge Prinz war auf den Namen David getauft worden, nach dem Vorbild des klugen und mutigen Königs aus dem Wüstenlande weit im Süden, hinter dem Meer.
Als nun das Königspaar immer mehr in die Jahre kam, und David zu einem stattlichen Manne heranwuchs, der mit seiner jugendlichen Kraft bereits die Ritter beeindruckte, befanden der König und seine Frau es an der Zeit, ihren Sohn zu verheiraten, damit das Königreich fortbestehen sollte.
So lud das Königshaus immer wieder zu Tanzvergnügen und wohl ausgestatteten Bällen ein, in der Hoffnung, David würde sich in das eine oder andere Töchterlein der benachbarten Königreiche und Fürstentümer verlieben. Doch dem jungen Prinzen stand der Sinn eher nach Jagd- und Reitausflügen und anderen leichten Abenteuern, die er mit seinen Freunden gar allzu großzügig auslebte.
Der Schule der Regentschaft, der Lehre des Rechnens, der Kunst des Schreibens und des Lesens sowie dem Zeremoniell von höfischer Sitte und Anstand, versuchte er stets geschickt auszuweichen. Und nach schnippischen, herausgeputzten Burgfräulein stand ihm noch weniger der Sinn.
Als nun alle rauschenden Bälle und musikalischen Festivitäten erfolglos blieben, den Prinzen für eine Prinzessin zu begeistern, begannen der König und die Königin sich ernsthaft Sorgen zu machen. Und so ersannen sie einen listigen Plan.
Sie wollten den Prinzen als Abgesandten über das weite Meer zu allen Königreichen und Fürstentümern mit einer vermeintlichen Botschaft entsenden. Insgeheim hofften sie, dass er bei dieser Gelegenheit von einer der zahlreichen Töchter der anderen Landesherren bezaubert, und eine Braut mit nach Hause bringen würde.
Und so schiffte sich Prinz David an einem wunderschönen Sommertag ein. Das Meer leuchtete blau und der Prinz war angesichts eines neuen Abenteuers guter Dinge.
Bald darauf befand sich das Schiff inmitten des weiten Meeres. Kein Land war mehr zu erblicken. Da wurde der Prinz, der unter Deck geschlafen hatte, von einem lieblichen, traurigen und wehmütigem Singen geweckt. Die Klänge waren so bezaubernd, dass er ihnen gebannt lauschte und sich nicht von ihnen lösen konnte. Schließlich ging er an Deck und berichtete dem Kapitän des Schiffes von seiner Entdeckung.
Dieser beruhigte den Prinzen und erklärte ihm, dass es die Sirenen, die Meereshexen seien, die im Wasser so schön singen, um Matrosen anzulocken und sie ins Verderben zu führen. Der Prinz hörte dies, doch er zweifelte an der Aussage des Kapitäns. Wer so wunderschön und lieblich zu singen vermochte, konnte nicht böse sein!
Einige Stunden später, es war bereits Nacht geworden, zog ein fürchterlicher Sturm auf. Er rüttelte und schüttelte das Schiff, warf es auf den Wellen hin und her, und ließ die Segel in Fetzen gehen. Es heulte, fauchte und fegte gar schauerlich. Als die Rahen und Masten barsten und sich das Schiff immer mehr auf die Seite legte, kam eine gigantische Woge daher und riss alles an Bord, das sich bewegte, oder nicht festgezurrt war, ins dunkle, tiefe Meer hinab.
Der Prinz war ein guter Schwimmer, doch der aufgepeitschten See und den übermächtigen Wellen war er nicht gewachsen. Das Brausen und Toben wollte kein Ende nehmen, und schließlich verließen den Prinzen seine Kräfte. Mit einem Stossgebet zu Gott versank er in den aufgewühlten Fluten.
Unter Wasser hingegen schien die Welt ruhig, ja sogar friedlich zu sein. Und da, im düsteren Nichts, hörte er wieder das liebliche Singen. So traurig und wehmütig klang es, gleichzeitig so wunderschön, dass es dem Prinzen in seinen letzten Lebenszügen selbst unter Wasser die Tränen in die Augen trieb. Das Singen lockte ihn, führte ihn, und er tauchte mit letzter Kraft diesen wunderschönen Tönen entgegen in die schwarze Tiefe hinab. Da versagten dem Prinzen alle Sinne und er meinte Gott habe ihn bereits von dieser Welt abberufen.
Aber der Prinz war keineswegs vor die Himmelstür getreten. Und als er erwachte, blickte er in das schönste, lieblichste Antlitz, in das er jemals gesehen hatte. Ein wunderschönes Mädchen lächelte ihn an, und ihr Anblick verzauberte augenblicklich seine Sinne. Ihr verführerisches Lächeln wurde von einer wallenden Pracht langer, gelbroter Haare umrahmt.
»Nun seid ihr wieder unter den Lebenden, junger Herr«, sprach das schöne Mädchen mit der lieblichen Stimme, in welcher der Prinz sofort den Klang der wundersamen Gesänge erkannte.
»Wo bin ich, meiner Treu?« fragte der Prinz und sah sich erstaunt um. Er lag auf einem wunderschönen, weichen Bett aus einem Geflecht aus den feinsten Algen. Über sich erblickte er eine große gläserne, blau schimmernde Kuppel, über der es von Fischen und anderem Meeresgetier nur so wimmelte. Große Säulen trugen das Gewölbe und hinter riesigen Fenstern schwammen Fische, Haie und Schildkröten vorbei, die der Prinz niemals zuvor so schön und elegant zu sehen bekam.
Schließlich blickte er wieder zu dem wunderschönen Mädchen hin und erschrak. Sie trug nicht, wie andere junge Frauen ein seidenes oder samtenes Kleid, sondern Fischschuppen. Ihr ganzer, in allen Farben schillernder Unterleib war der eines Fisches, sowohl mit Flossen als auch mit einem großen Fischschwanz versehen.
»Wer bist du, O schöne Maid mit dem Teil eines Fisches?« wollte er wissen. Das Mädchen spürte seine Verwunderung und sprach:
»Ich bin die Meerjungfrau Ola. Und ihr seid an einem sicheren Ort. Doch war ich nicht immer ein Teil Mensch, ein Teil Fisch. Einst war ich ein ganz normales Mädchen, ein Mensch, wie du! Und mein Name war Viola. Eines Tages erlitt ich Schiffbruch, ebenso wie du. Da ich mich schon tot glaubte, wurde ich von einem Kraken gerettet, welcher diesen Teil des Meeres beherrscht.
Er gab mir Kiemen, um unter Wasser zu atmen, und den hinteren Teil eines Fisches, damit ich mich unter Wasser bewegen konnte. Dafür musste ich versprechen, ihm ein Leben lang zu Diensten zu sein. Dabei strich sich Ola die Haare nach hinten und David sah vier Schlitze hinter ihrem Ohr, die sich im Rhythmus ihres Herzens bewegten. Dann wurde Ola traurig und fuhr fort:
»Der Krake hatte mich gerettet, und ich bin ihm zu tiefstem Dank verpflichtet, doch ist es sehr einsam hier. Die meiste Zeit muss ich dem Kraken dienen, für ihn Putzen, seine Mahlzeiten bereiten, und seine Grotte in Ordnung halten. Und wenn es einmal nichts zu tun gibt, so komme ich heimlich hierher, in diese versunkene Stadt, die mich daran erinnert, dass ich einmal ein Mensch war. Der Krake weiß nichts von diesem Ort, und manchmal verstecke ich mich hier und tröste mich mit meinem Gesang.«
David hatte Ola fasziniert zugehört, und er musste sich eingestehen, dass er sich augenblicklich und hoffnungslos in sie verliebt hatte. Er nahm Olas Hand und sagte feierlich:
»So steht mein Entschluss fest; ich werde bei dir bleiben und hier mit dir leben!« Da begann Ola zu weinen, und sagte schluchzend:
»Das wird uns der Krake niemals gestatten. Und du kannst hier unter Wasser nicht leben, denn du hast keinen Teil eines Fisches und auch keine Kiemen. Willst du immer unter dieser Kuppel in der versunkenen Stadt bleiben, wo die wenige Luft zum Atmen verblieben ist?« David sah Ola fest in die Augen und sagte entschlossen:
»Ich will dich nicht mehr missen, liebste Ola. Und wenn es die einzige Möglichkeit ist, bei dir zu sein, so will ich sie gerne mit Freuden annehmen, ganz gleich wie beschwerlich es sein mag!«
Auf Olas Gesicht entstand ein Strahlen, das sie noch hübscher aussehen ließ. Und sie sprach voller Freude:
»Oh Liebster, ich hatte es nicht zu hoffen gewagt. Auch ich mag ohne dich nicht mehr leben. So wollen wir zum Kraken gehen und ihn bitten, auch dich in sein Reich aufzunehmen.«
Und so geschah es. Ola brachte David zum Kraken und bat ihn um die Errettung ihres Liebsten, sodass er im Wasserreich leben konnte. Der Krake musterte den jungen Prinzen eingehend, und sagte:
»Wenn ich es mir recht überlege, so kann ich ein par kräftige Hände wohl brauchen. Wenn du bereit bist, mir ein Leben lang zu dienen, so will ich der Bitte der Meerjungfrau folgen.«
Damit gab er David neue Kiemen und einen Hinterleib, wie ihn die Fische haben. Dann sprach er in herrschendem Ton:
»Von nun an sollst du in den Korallenbänken und auf den Algenfeldern arbeiten, auf dass meine Ernte gut gedeihe. Dein Name wird von jetzt an Daveidon sein. Arbeite gut, so wird es dir in meinem Reich an Nahrung und Wohlstand nicht fehlen. Stellst du dich jedoch gegen mich, so werde ich dir Kiemen und Fischschwanz wieder fortnehmen, und du musst jämmerlich ertrinken!«
Voller Hoffnung, von nun an mit Ola ein glückliches Leben führen zu können, stimmte Daveidon den Bedingungen zu.
Und so lebten Daveidon und Ola im Wasserreich des Kraken und Anfangs war alles gut. Daveidon arbeitete fleißig auf des Kraken Felder und Ola sorgte für das Wohl ihres Gebieters. Allabendlich saßen sie eng umschlungen am Rande des Korallenriffs und schauten glücklich in die Weite und Tiefe des Meeres hinaus.
Doch die Glückseeligkeit der beiden missfiel dem Kraken sehr. Alsbald wurde er eifersüchtig, und überlegte eine List, wie er die beiden Verliebten trennen konnte. Immer häufiger ließ er sie bis tief in die Nacht hinein arbeiten, sodass sie sich nicht sehen konnten. Mal war es die Ernte, welche eingebracht werden musste, ein anderes Mal waren es Gäste, für die des Kraken Grotte hergerichtet werden sollte. Dies ging so fort, bis sich Ola und Daveidon gar nicht mehr zu Gesicht bekamen.
In ihrem Kummer gingen sie zum Kraken und beklagten diesen Umstand. Der Krake aber lächelte kalt und hinterlistig und sprach:
»Welch undankbare Geschöpfe ihr doch seid! Ich nahm euch auf, um euer Leben zu erhalten, und wie dankt ihr es mir? Habt ihr euren Eid schon vergessen, mir zu dienen bis an euer Lebensende! Ansonsten muss ich euch Kiemen und Fisch wieder nehmen, und euch dem unerbittlichen Meer überlassen.«
Die beiden fügten sich zunächst in ihr Schicksal, und vermissten einander sehr. Der Krake jedoch nutzte seine Überlegenheit noch mehr aus, und ließ Ola und Daveidon gar nicht mehr zusammenkommen. Da begann Ola wieder ihre traurigen Lieder anzustimmen. So herzzerreißend und wehmütig durchzog ihr Gesang das Meer, dass selbst die Haie vor Trauer ihre Tränen vergossen.
Für Daveidon wurde es eine unerträgliche Qual, seine Braut so leiden zu hören, ohne ihr Trost spenden zu können. In ihrem Kummer verschmähten beide Speise und Trank, und sie waren nur mehr ein Schatten ihrer selbst. Das allerdings stachelte den Kraken noch mehr an, ihnen seelisches Leid zuzufügen, denn mittlerweile ergötzte er sich an ihrem Trübsal, den er mit seiner Macht zu fügen und zu lenken vermochte, wie es ihm beliebte.
In ihrer Verzweiflung schwammen Daveidon und Ola zum großen weißen Hai, der für seine Schläue und seine listigen Schliche bekannt war, und dem sich sonst niemand anvertraute, der nicht Gefahr laufen wollte, gefressen zu werden. So groß war ihre Hoffnungslosigkeit geworden, dass sie sich an einen noch gefährlicheren Räuber wandten, als es der Krake war.
Der Hai aber war ob der wehmütigen Gesänge Olas erstaunlich milde gestimmt, und gab ihnen den Rat:
»Wendet euch an die Schildkröten. Wenn irgend jemand euch raten oder helfen kann, dann sind es die Schildkröten, die alles Böse und Hinterhältige zu überwinden wissen.« Damit schwamm der Hai sogleich davon, um nicht doch noch in Versuchung zu geraten, die beiden zu verschlingen.
Ola und Daveidon aber gingen zu den Meeresschildkröten und fragten diese um Rat. Eine sehr alte und weise Schildkröte, die bereits mehrere hundert Jahre die Meere und Ozeane durchwandert hatte, nickte bedächtig mit ihrem Kopf und sprach langsam und ruhig:
»Hmmm, ja... Ihr seid nicht von dieser Welt und nicht mehr von jener Welt der Menschen. Das ist schwierig. Wollt ihr bei den Menschen leben, oder soll euer Zuhause der Ozean sein?«
»Wir wollen zurück zu den Menschen!« antworteten beide beinahe gleichzeitig. Die alte Schildkröte wiegte wieder ihren Kopf hin und her und sprach:
»So will ich sehen, was ich für euch tun kann.« Sie überlegte lange und gründlich, bis sie schließlich sagte:
»Es gibt nur einen Weg, den Zauber des Kraken zu brechen, und euch wieder vollständig Mensch werden zu lassen. Ihr müsst mit dem Strom der Liebe schwimmen. Er wird euch an einen einsamen Strand tragen, dorthin, wo unsere Kinder zur Welt kommen. Es ist ein sehr langer und beschwerlicher Weg, doch wenn ihr bereit seid, diesen auf euch zu nehmen, so kann der Bann gebrochen werden, und ihr seid wieder Menschen.«
Daveidon und Ola bekundeten einhellig, diesen Weg gehen zu wollen, denn noch länger beim Kraken zu bleiben empfanden sie als unerträglich. Die Schildkröte sprach weiter:
»Nun gut. Ihr müsst euch zum nächsten Vollmond am Rande des Riffs einfinden. Dort werde ich euch erwarten. Aber ich warne euch: Ihr dürft während der ganzen Reise nicht vom Wege abweichen und den Strom der Liebe nicht verlassen; ansonsten seid ihr hoffnungslos verloren, sowohl für diese Welt, als auch für die Welt der Menschen!«
Ola und Daveidon bedankten sich bei der Schildkröte und kehrten rasch wieder zu ihrem Frohndienst zurück, um beim Kraken keinen Verdacht zu erwecken. Ungeduldig fieberten sie der Nacht des Vollmonds entgegen. Als es endlich soweit war, flohen sie aus der Grotte des Kraken und schwammen zum Rande des Riffs. Dort wurden sie bereits von der alten Schildkröte erwartet. Doch was war das..?
Nicht nur die alte Schildkröte wartete dort auf sie. Nein, Hunderte, nein, Tausende Meeresschildkröten hatten sich am Rande des Riffs versammelt. So dicht tummelten sie sich, dass kein Auge in den Schwarm hineinsehen konnte.
Die alte Schildkröte wünschte den beiden eine gute Reise und viel Glück. Dann wurden sie von den vielen anderen Schildkröten in ihre Mitte genommen, und die Alte setzte sich an die Spitze des Schwarms. Dann begann die Reise in das unbekannte, weite, blaue Meer.
Im Schwarm der dicht gedrängten Schildkröten schwammen sie eine halbe Nacht und einen halben Tag lang in Richtung des Mondes. Dann, ganz plötzlich wurden sie von einer heftigen Strömung erfasst, die sie mit sich fortriss. Das war der Strom der Liebe, der die Meeresschildkröten aller Meere und Ozeane zu der Stätte ihrer Geburt und der Geburt ihrer Kinder brachte. Sie brauchten nur leicht ihre Flossen bewegen, um im Strom zu bleiben, der kräftige Sog allein zog sie allesamt durch den Ozean.

Als der Krake am Morgen erwachte, und die Arbeitsstätte sowie seine Grotte leer vorfand, geriet er außer sich vor Zorn. Wütend schwamm er zum Ende des Riffs, und sah gerade noch die letzten Schildkröten an sich vorüberziehen. Er ahnte, was geschehen war und folgte den Schildkröten eine Weile. Doch im dichten Gedränge der gepanzerten Leiber war es ihm unmöglich die beiden Geflüchteten auszumachen. Da begann der Krake zu wüten und zu toben, blies seine Tinte über das Riff und zerschlug im Zorn mit seinen Tentakeln die jungen Triebe der Korallen. Plötzlich tauchte vor ihm ein mächtiger Schatten auf.
Es war Potti der große, dicke Wal, der nichts so sehr liebte, wie den Frieden im stillen Reich des Ozeans. Drohend baute er sich vor dem Kraken auf und sprach mahnend:
»Mäßige dich, du Unhold! Es geschieht dir ganz recht; viel zu lange hast du die beiden gefangen gehalten und ihrer Freiheit beraubt! Nun gib endlich Ruhe, sonst bringe ich dir ein für allemal Manieren bei!« Da trollte sich der Krake und zog sich grollend und murrend in seine Grotte zurück.

Ola und Daveidon aber zogen mit den Meeresschildkröten um den halben Erdball, durch Meere und Ozeane, bis es wieder Vollmond war. Im hellen Licht des Mondes erreichten sie einen einsamen Strand aus feinstem Korallenstaub. Während die Schildkröten mühsam auf den Strand krochen, stiegen Ola und Daveidon ganz unbeschwert an Land.
Wie durch ein Wunder hatten sie beide plötzlich wieder Beine anstelle des Fischschwanzes. Und auch die Kiemen hinter ihren Ohren waren auf wundersame Weise verschwunden. Da sprach die alte Schildkröte lächelnd:
»Seht ihr, der Drang nach Freiheit, eure Beharrlichkeit und die Kraft eurer Liebe haben euch geholfen! Jetzt seid ihr nicht länger Ola und Daveidon; ihr seid wieder Viola und David. Nun geht zu den Menschen zurück und tut Kunde davon, dass in den Meeren auch gute und rechtschaffende Wesen leben, die ein Teil dieser wundervollen Welt sind!« Sie wünschte den beiden viel Glück und schenkte ihnen zum Abschied eine Truhe voller Schätze aus der versunkenen Stadt, zur Erinnerung und für einen glücklichen Anfang für Violas und Davids neues Leben als Menschen und Brautpaar. Dann wandte sich die alte Schildkröte wieder ihren Schwestern zu, die eine gute Stelle für ihre Nester finden mussten.
Der Prinz und seine geliebte Viola gingen zum nächsten Hafen und bestiegen ein Schiff, das sie an die heimatliche Küste brachte. Was war das für eine eine Freude, als der König und die Königin ihren geliebten Sohn wiedersahen, der ihnen noch dazu eine wunderschöne Braut in die heimatliche Burg trug. Viola wurde auf das herzlichste umarmt, und vom König und der Königin wie eine Tochter im Schloss aufgenommen.
Alsbald wurde Hochzeit gehalten, und das ganze Königreich war vor Freude auf den Beinen. Prinz David wurde zum König gekrönt und regierte mit seiner Königin Viola lange Zeit in Weisheit und Güte.
Das Königreich führte seit diesem Tage eine Meereschschildkröte in seinem Wappen, und das Töten der Schildkröten wurde verboten sowie der Fischfang auf ein sehr geringes Maß reduziert. So lebten sie glücklich und zufrieden bis an ihr Lebensende.
Noch oft sah man später den König mit seiner Königin eng umschlungen am Strande nahe des Schlosses sitzen und wehmütig auf das weite Meer hinausblicken. Wahrscheinlich erinnerten sie sich daran, wie sie zueinander fanden und sich verliebten und mit Hoffnung und Liebe in die Freiheit gelangten.

Nun mag man diese Geschichte für wahr ansehen, oder sie für eine alte, einfältige Mär halten. Das darf ein jeder für sich entscheiden. An dieser Stelle sei aber angemerkt, dass es noch immer einsame Strände auf der Welt gibt, an denen in Vollmondnächten Tausende von Meeresschildkröten aus dem Meer an Land gehen, um ihre Eier für das künftige Leben ihrer Art im Sand abzulegen. Und mancher Seefahrer will gesehen haben, wie ein Menschenpaar mit den Schildkröten aus den Fluten gestiegen ist.
Das mag Seemannsgarn sein, oder auch nicht. Das liegt im Auge des Betrachters. Doch die Salomonen-Inseln tragen noch heute die Seeschildkröte in ihrem Wappen. Und in Polynesien sowie bei einigen Stämmen der nordamerikanischen Indianer gilt der uralte Glaube, dass die Meeresschildkröte den ersten Menschen aus der Weite des Meeres an Land gebracht hat.


- Ende -


Diese Geschichte ist eine frei erfundene Mär, und meinem Stiefsohn und seiner Frau
an ihrem Tage der Hochzeit zur Widmung gereicht.
Diese Geschichte mag tatsächlich so geschehen sein, oder nicht. Es ist nicht von
Bedeutung. Allein den Sinn, welcher aus ihr spricht, mag sich mancher Fischer und
Seefahrer, mancher Autokrat und Politiker der heutigen Zeit anheim führen, so er
diese Welt ein Stück GOtt gefälliger, erträglicher und lebenswerter mache.

In gutem Gedanke, der Verfasser



© Alle Rechte an dieser Geschichte bei Frank Adlung, Braunschweig

 
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