s war einmal vor
langer, langer Zeit, als es auf der Erde noch Könige und
Fürsten gab, als es noch Feen, Hexen und Zauberer gab,
und Kobolde, Zwerge und Drachen, da lag ein stolzes
Königreich auf dem Lande, das grenzte im Süden an ein
weites, blaues Meer. Nicht weit davon stand das
prächtige Schloss des Königs und seiner Frau.
Sie lebten dort glücklich und zufrieden, und nannten
ihren einzigen Sohn ihren ganzen Stolz. Der junge Prinz
war auf den Namen David getauft worden, nach dem Vorbild
des klugen und mutigen Königs aus dem Wüstenlande weit
im Süden, hinter dem Meer.
Als nun das Königspaar immer mehr in die Jahre kam, und
David zu einem stattlichen Manne heranwuchs, der mit
seiner jugendlichen Kraft bereits die Ritter
beeindruckte, befanden der König und seine Frau es an
der Zeit, ihren Sohn zu verheiraten, damit das
Königreich fortbestehen sollte.
So lud das Königshaus immer wieder zu Tanzvergnügen und
wohl ausgestatteten Bällen ein, in der Hoffnung, David
würde sich in das eine oder andere Töchterlein der
benachbarten Königreiche und Fürstentümer verlieben.
Doch dem jungen Prinzen stand der Sinn eher nach Jagd-
und Reitausflügen und anderen leichten Abenteuern, die
er mit seinen Freunden gar allzu großzügig auslebte.
Der Schule der Regentschaft, der Lehre des Rechnens, der
Kunst des Schreibens und des Lesens sowie dem Zeremoniell
von höfischer Sitte und Anstand, versuchte er stets
geschickt auszuweichen. Und nach schnippischen,
herausgeputzten Burgfräulein stand ihm noch weniger der
Sinn.
Als nun alle rauschenden Bälle und musikalischen
Festivitäten erfolglos blieben, den Prinzen für eine
Prinzessin zu begeistern, begannen der König und die
Königin sich ernsthaft Sorgen zu machen. Und so ersannen
sie einen listigen Plan.
Sie wollten den Prinzen als Abgesandten über das weite
Meer zu allen Königreichen und Fürstentümern mit einer
vermeintlichen Botschaft entsenden. Insgeheim hofften
sie, dass er bei dieser Gelegenheit von einer der
zahlreichen Töchter der anderen Landesherren bezaubert,
und eine Braut mit nach Hause bringen würde.
Und so schiffte sich Prinz David an einem wunderschönen
Sommertag ein. Das Meer leuchtete blau und der Prinz war
angesichts eines neuen Abenteuers guter Dinge.
Bald darauf befand sich das Schiff inmitten des weiten
Meeres. Kein Land war mehr zu erblicken. Da wurde der
Prinz, der unter Deck geschlafen hatte, von einem
lieblichen, traurigen und wehmütigem Singen geweckt. Die
Klänge waren so bezaubernd, dass er ihnen gebannt
lauschte und sich nicht von ihnen lösen konnte.
Schließlich ging er an Deck und berichtete dem Kapitän
des Schiffes von seiner Entdeckung.
Dieser beruhigte den Prinzen und erklärte ihm, dass es
die Sirenen, die Meereshexen seien, die im Wasser so
schön singen, um Matrosen anzulocken und sie ins
Verderben zu führen. Der Prinz hörte dies, doch er
zweifelte an der Aussage des Kapitäns. Wer so
wunderschön und lieblich zu singen vermochte, konnte
nicht böse sein!
Einige Stunden später, es war bereits Nacht geworden,
zog ein fürchterlicher Sturm auf. Er rüttelte und
schüttelte das Schiff, warf es auf den Wellen hin und
her, und ließ die Segel in Fetzen gehen. Es heulte,
fauchte und fegte gar schauerlich. Als die Rahen und
Masten barsten und sich das Schiff immer mehr auf die
Seite legte, kam eine gigantische Woge daher und riss
alles an Bord, das sich bewegte, oder nicht festgezurrt
war, ins dunkle, tiefe Meer hinab.
Der Prinz war ein guter Schwimmer, doch der
aufgepeitschten See und den übermächtigen Wellen war er
nicht gewachsen. Das Brausen und Toben wollte kein Ende
nehmen, und schließlich verließen den Prinzen seine
Kräfte. Mit einem Stossgebet zu Gott versank er in den
aufgewühlten Fluten.
Unter Wasser hingegen schien die Welt ruhig, ja sogar
friedlich zu sein. Und da, im düsteren Nichts, hörte er
wieder das liebliche Singen. So traurig und wehmütig
klang es, gleichzeitig so wunderschön, dass es dem
Prinzen in seinen letzten Lebenszügen selbst unter
Wasser die Tränen in die Augen trieb. Das Singen lockte
ihn, führte ihn, und er tauchte mit letzter Kraft diesen
wunderschönen Tönen entgegen in die schwarze Tiefe
hinab. Da versagten dem Prinzen alle Sinne und er meinte
Gott habe ihn bereits von dieser Welt abberufen.
Aber der Prinz war keineswegs vor die Himmelstür
getreten. Und als er erwachte, blickte er in das
schönste, lieblichste Antlitz, in das er jemals gesehen
hatte. Ein wunderschönes Mädchen lächelte ihn an, und
ihr Anblick verzauberte augenblicklich seine Sinne. Ihr
verführerisches Lächeln wurde von einer wallenden
Pracht langer, gelbroter Haare umrahmt.
»Nun seid ihr wieder unter den Lebenden, junger Herr«,
sprach das schöne Mädchen mit der lieblichen Stimme, in
welcher der Prinz sofort den Klang der wundersamen
Gesänge erkannte.
»Wo bin ich, meiner Treu?« fragte der Prinz und sah
sich erstaunt um. Er lag auf einem wunderschönen,
weichen Bett aus einem Geflecht aus den feinsten Algen.
Über sich erblickte er eine große gläserne, blau
schimmernde Kuppel, über der es von Fischen und anderem
Meeresgetier nur so wimmelte. Große Säulen trugen das
Gewölbe und hinter riesigen Fenstern schwammen Fische,
Haie und Schildkröten vorbei, die der Prinz niemals
zuvor so schön und elegant zu sehen bekam.
Schließlich blickte er wieder zu dem wunderschönen
Mädchen hin und erschrak. Sie trug nicht, wie andere
junge Frauen ein seidenes oder samtenes Kleid, sondern
Fischschuppen. Ihr ganzer, in allen Farben schillernder
Unterleib war der eines Fisches, sowohl mit Flossen als
auch mit einem großen Fischschwanz versehen.
»Wer bist du, O schöne Maid mit dem Teil eines
Fisches?« wollte er wissen. Das Mädchen spürte seine
Verwunderung und sprach:
»Ich bin die Meerjungfrau Ola. Und ihr seid an einem
sicheren Ort. Doch war ich nicht immer ein Teil Mensch,
ein Teil Fisch. Einst war ich ein ganz normales Mädchen,
ein Mensch, wie du! Und mein Name war Viola. Eines Tages
erlitt ich Schiffbruch, ebenso wie du. Da ich mich schon
tot glaubte, wurde ich von einem Kraken gerettet, welcher
diesen Teil des Meeres beherrscht.
Er gab mir Kiemen, um unter Wasser zu atmen, und den
hinteren Teil eines Fisches, damit ich mich unter Wasser
bewegen konnte. Dafür musste ich versprechen, ihm ein
Leben lang zu Diensten zu sein. Dabei strich sich Ola die
Haare nach hinten und David sah vier Schlitze hinter
ihrem Ohr, die sich im Rhythmus ihres Herzens bewegten.
Dann wurde Ola traurig und fuhr fort:
»Der Krake hatte mich gerettet, und ich bin ihm zu
tiefstem Dank verpflichtet, doch ist es sehr einsam hier.
Die meiste Zeit muss ich dem Kraken dienen, für ihn
Putzen, seine Mahlzeiten bereiten, und seine Grotte in
Ordnung halten. Und wenn es einmal nichts zu tun gibt, so
komme ich heimlich hierher, in diese versunkene Stadt,
die mich daran erinnert, dass ich einmal ein Mensch war.
Der Krake weiß nichts von diesem Ort, und manchmal
verstecke ich mich hier und tröste mich mit meinem
Gesang.«
David hatte Ola fasziniert zugehört, und er musste sich
eingestehen, dass er sich augenblicklich und hoffnungslos
in sie verliebt hatte. Er nahm Olas Hand und sagte
feierlich:
»So steht mein Entschluss fest; ich werde bei dir
bleiben und hier mit dir leben!« Da begann Ola zu
weinen, und sagte schluchzend:
»Das wird uns der Krake niemals gestatten. Und du kannst
hier unter Wasser nicht leben, denn du hast keinen Teil
eines Fisches und auch keine Kiemen. Willst du immer
unter dieser Kuppel in der versunkenen Stadt bleiben, wo
die wenige Luft zum Atmen verblieben ist?« David sah Ola
fest in die Augen und sagte entschlossen:
»Ich will dich nicht mehr missen, liebste Ola. Und wenn
es die einzige Möglichkeit ist, bei dir zu sein, so will
ich sie gerne mit Freuden annehmen, ganz gleich wie
beschwerlich es sein mag!«
Auf Olas Gesicht entstand ein Strahlen, das sie noch
hübscher aussehen ließ. Und sie sprach voller Freude:
»Oh Liebster, ich hatte es nicht zu hoffen gewagt. Auch
ich mag ohne dich nicht mehr leben. So wollen wir zum
Kraken gehen und ihn bitten, auch dich in sein Reich
aufzunehmen.«
Und so geschah es. Ola brachte David zum Kraken und bat
ihn um die Errettung ihres Liebsten, sodass er im
Wasserreich leben konnte. Der Krake musterte den jungen
Prinzen eingehend, und sagte:
»Wenn ich es mir recht überlege, so kann ich ein par
kräftige Hände wohl brauchen. Wenn du bereit bist, mir
ein Leben lang zu dienen, so will ich der Bitte der
Meerjungfrau folgen.«
Damit gab er David neue Kiemen und einen Hinterleib, wie
ihn die Fische haben. Dann sprach er in herrschendem Ton:
»Von nun an sollst du in den Korallenbänken und auf den
Algenfeldern arbeiten, auf dass meine Ernte gut gedeihe.
Dein Name wird von jetzt an Daveidon sein. Arbeite gut,
so wird es dir in meinem Reich an Nahrung und Wohlstand
nicht fehlen. Stellst du dich jedoch gegen mich, so werde
ich dir Kiemen und Fischschwanz wieder fortnehmen, und du
musst jämmerlich ertrinken!«
Voller Hoffnung, von nun an mit Ola ein glückliches
Leben führen zu können, stimmte Daveidon den
Bedingungen zu.
Und so lebten Daveidon und Ola im Wasserreich des Kraken
und Anfangs war alles gut. Daveidon arbeitete fleißig
auf des Kraken Felder und Ola sorgte für das Wohl ihres
Gebieters. Allabendlich saßen sie eng umschlungen am
Rande des Korallenriffs und schauten glücklich in die
Weite und Tiefe des Meeres hinaus.
Doch die Glückseeligkeit der beiden missfiel dem Kraken
sehr. Alsbald wurde er eifersüchtig, und überlegte eine
List, wie er die beiden Verliebten trennen konnte. Immer
häufiger ließ er sie bis tief in die Nacht hinein
arbeiten, sodass sie sich nicht sehen konnten. Mal war es
die Ernte, welche eingebracht werden musste, ein anderes
Mal waren es Gäste, für die des Kraken Grotte
hergerichtet werden sollte. Dies ging so fort, bis sich
Ola und Daveidon gar nicht mehr zu Gesicht bekamen.
In ihrem Kummer gingen sie zum Kraken und beklagten
diesen Umstand. Der Krake aber lächelte kalt und
hinterlistig und sprach:
»Welch undankbare Geschöpfe ihr doch seid! Ich nahm
euch auf, um euer Leben zu erhalten, und wie dankt ihr es
mir? Habt ihr euren Eid schon vergessen, mir zu dienen
bis an euer Lebensende! Ansonsten muss ich euch Kiemen
und Fisch wieder nehmen, und euch dem unerbittlichen Meer
überlassen.«
Die beiden fügten sich zunächst in ihr Schicksal, und
vermissten einander sehr. Der Krake jedoch nutzte seine
Überlegenheit noch mehr aus, und ließ Ola und Daveidon
gar nicht mehr zusammenkommen. Da begann Ola wieder ihre
traurigen Lieder anzustimmen. So herzzerreißend und
wehmütig durchzog ihr Gesang das Meer, dass selbst die
Haie vor Trauer ihre Tränen vergossen.
Für Daveidon wurde es eine unerträgliche Qual, seine
Braut so leiden zu hören, ohne ihr Trost spenden zu
können. In ihrem Kummer verschmähten beide Speise und
Trank, und sie waren nur mehr ein Schatten ihrer selbst.
Das allerdings stachelte den Kraken noch mehr an, ihnen
seelisches Leid zuzufügen, denn mittlerweile ergötzte
er sich an ihrem Trübsal, den er mit seiner Macht zu
fügen und zu lenken vermochte, wie es ihm beliebte.
In ihrer Verzweiflung schwammen Daveidon und Ola zum
großen weißen Hai, der für seine Schläue und seine
listigen Schliche bekannt war, und dem sich sonst niemand
anvertraute, der nicht Gefahr laufen wollte, gefressen zu
werden. So groß war ihre Hoffnungslosigkeit geworden,
dass sie sich an einen noch gefährlicheren Räuber
wandten, als es der Krake war.
Der Hai aber war ob der wehmütigen Gesänge Olas
erstaunlich milde gestimmt, und gab ihnen den Rat:
»Wendet euch an die Schildkröten. Wenn irgend jemand
euch raten oder helfen kann, dann sind es die
Schildkröten, die alles Böse und Hinterhältige zu
überwinden wissen.« Damit schwamm der Hai sogleich
davon, um nicht doch noch in Versuchung zu geraten, die
beiden zu verschlingen.
Ola und Daveidon aber gingen zu den Meeresschildkröten
und fragten diese um Rat. Eine sehr alte und weise
Schildkröte, die bereits mehrere hundert Jahre die Meere
und Ozeane durchwandert hatte, nickte bedächtig mit
ihrem Kopf und sprach langsam und ruhig:
»Hmmm, ja... Ihr seid nicht von dieser Welt und nicht
mehr von jener Welt der Menschen. Das ist schwierig.
Wollt ihr bei den Menschen leben, oder soll euer Zuhause
der Ozean sein?«
»Wir wollen zurück zu den Menschen!« antworteten beide
beinahe gleichzeitig. Die alte Schildkröte wiegte wieder
ihren Kopf hin und her und sprach:
»So will ich sehen, was ich für euch tun kann.« Sie
überlegte lange und gründlich, bis sie schließlich
sagte:
»Es gibt nur einen Weg, den Zauber des Kraken zu
brechen, und euch wieder vollständig Mensch werden zu
lassen. Ihr müsst mit dem Strom der Liebe schwimmen. Er
wird euch an einen einsamen Strand tragen, dorthin, wo
unsere Kinder zur Welt kommen. Es ist ein sehr langer und
beschwerlicher Weg, doch wenn ihr bereit seid, diesen auf
euch zu nehmen, so kann der Bann gebrochen werden, und
ihr seid wieder Menschen.«
Daveidon und Ola bekundeten einhellig, diesen Weg gehen
zu wollen, denn noch länger beim Kraken zu bleiben
empfanden sie als unerträglich. Die Schildkröte sprach
weiter:
»Nun gut. Ihr müsst euch zum nächsten Vollmond am
Rande des Riffs einfinden. Dort werde ich euch erwarten.
Aber ich warne euch: Ihr dürft während der ganzen Reise
nicht vom Wege abweichen und den Strom der Liebe nicht
verlassen; ansonsten seid ihr hoffnungslos verloren,
sowohl für diese Welt, als auch für die Welt der
Menschen!«
Ola und Daveidon bedankten sich bei der Schildkröte und
kehrten rasch wieder zu ihrem Frohndienst zurück, um
beim Kraken keinen Verdacht zu erwecken. Ungeduldig
fieberten sie der Nacht des Vollmonds entgegen. Als es
endlich soweit war, flohen sie aus der Grotte des Kraken
und schwammen zum Rande des Riffs. Dort wurden sie
bereits von der alten Schildkröte erwartet. Doch was war
das..?
Nicht nur die alte Schildkröte wartete dort auf sie.
Nein, Hunderte, nein, Tausende Meeresschildkröten hatten
sich am Rande des Riffs versammelt. So dicht tummelten
sie sich, dass kein Auge in den Schwarm hineinsehen
konnte.
Die alte Schildkröte wünschte den beiden eine gute
Reise und viel Glück. Dann wurden sie von den vielen
anderen Schildkröten in ihre Mitte genommen, und die
Alte setzte sich an die Spitze des Schwarms. Dann begann
die Reise in das unbekannte, weite, blaue Meer.
Im Schwarm der dicht gedrängten Schildkröten schwammen
sie eine halbe Nacht und einen halben Tag lang in
Richtung des Mondes. Dann, ganz plötzlich wurden sie von
einer heftigen Strömung erfasst, die sie mit sich
fortriss. Das war der Strom der Liebe, der die
Meeresschildkröten aller Meere und Ozeane zu der Stätte
ihrer Geburt und der Geburt ihrer Kinder brachte. Sie
brauchten nur leicht ihre Flossen bewegen, um im Strom zu
bleiben, der kräftige Sog allein zog sie allesamt durch
den Ozean.
Als der Krake am Morgen erwachte, und die Arbeitsstätte
sowie seine Grotte leer vorfand, geriet er außer sich
vor Zorn. Wütend schwamm er zum Ende des Riffs, und sah
gerade noch die letzten Schildkröten an sich
vorüberziehen. Er ahnte, was geschehen war und folgte
den Schildkröten eine Weile. Doch im dichten Gedränge
der gepanzerten Leiber war es ihm unmöglich die beiden
Geflüchteten auszumachen. Da begann der Krake zu wüten
und zu toben, blies seine Tinte über das Riff und
zerschlug im Zorn mit seinen Tentakeln die jungen Triebe
der Korallen. Plötzlich tauchte vor ihm ein mächtiger
Schatten auf.
Es war Potti der große, dicke Wal, der nichts so sehr
liebte, wie den Frieden im stillen Reich des Ozeans.
Drohend baute er sich vor dem Kraken auf und sprach
mahnend:
»Mäßige dich, du Unhold! Es geschieht dir ganz recht;
viel zu lange hast du die beiden gefangen gehalten und
ihrer Freiheit beraubt! Nun gib endlich Ruhe, sonst
bringe ich dir ein für allemal Manieren bei!« Da
trollte sich der Krake und zog sich grollend und murrend
in seine Grotte zurück.
Ola und Daveidon aber zogen mit den Meeresschildkröten
um den halben Erdball, durch Meere und Ozeane, bis es
wieder Vollmond war. Im hellen Licht des Mondes
erreichten sie einen einsamen Strand aus feinstem
Korallenstaub. Während die Schildkröten mühsam auf den
Strand krochen, stiegen Ola und Daveidon ganz unbeschwert
an Land.
Wie durch ein Wunder hatten sie beide plötzlich wieder
Beine anstelle des Fischschwanzes. Und auch die Kiemen
hinter ihren Ohren waren auf wundersame Weise
verschwunden. Da sprach die alte Schildkröte lächelnd:
»Seht ihr, der Drang nach Freiheit, eure Beharrlichkeit
und die Kraft eurer Liebe haben euch geholfen! Jetzt seid
ihr nicht länger Ola und Daveidon; ihr seid wieder Viola
und David. Nun geht zu den Menschen zurück und tut Kunde
davon, dass in den Meeren auch gute und rechtschaffende
Wesen leben, die ein Teil dieser wundervollen Welt
sind!« Sie wünschte den beiden viel Glück und schenkte
ihnen zum Abschied eine Truhe voller Schätze aus der
versunkenen Stadt, zur Erinnerung und für einen
glücklichen Anfang für Violas und Davids neues Leben
als Menschen und Brautpaar. Dann wandte sich die alte
Schildkröte wieder ihren Schwestern zu, die eine gute
Stelle für ihre Nester finden mussten.
Der Prinz und seine geliebte Viola gingen zum nächsten
Hafen und bestiegen ein Schiff, das sie an die
heimatliche Küste brachte. Was war das für eine eine
Freude, als der König und die Königin ihren geliebten
Sohn wiedersahen, der ihnen noch dazu eine wunderschöne
Braut in die heimatliche Burg trug. Viola wurde auf das
herzlichste umarmt, und vom König und der Königin wie
eine Tochter im Schloss aufgenommen.
Alsbald wurde Hochzeit gehalten, und das ganze
Königreich war vor Freude auf den Beinen. Prinz David
wurde zum König gekrönt und regierte mit seiner
Königin Viola lange Zeit in Weisheit und Güte.
Das Königreich führte seit diesem Tage eine
Meereschschildkröte in seinem Wappen, und das Töten der
Schildkröten wurde verboten sowie der Fischfang auf ein
sehr geringes Maß reduziert. So lebten sie glücklich
und zufrieden bis an ihr Lebensende.
Noch oft sah man später den König mit seiner Königin
eng umschlungen am Strande nahe des Schlosses sitzen und
wehmütig auf das weite Meer hinausblicken.
Wahrscheinlich erinnerten sie sich daran, wie sie
zueinander fanden und sich verliebten und mit Hoffnung
und Liebe in die Freiheit gelangten.
Nun mag man diese Geschichte für wahr ansehen, oder sie
für eine alte, einfältige Mär halten. Das darf ein
jeder für sich entscheiden. An dieser Stelle sei aber
angemerkt, dass es noch immer einsame Strände auf der
Welt gibt, an denen in Vollmondnächten Tausende von
Meeresschildkröten aus dem Meer an Land gehen, um ihre
Eier für das künftige Leben ihrer Art im Sand
abzulegen. Und mancher Seefahrer will gesehen haben, wie
ein Menschenpaar mit den Schildkröten aus den Fluten
gestiegen ist.
Das mag Seemannsgarn sein, oder auch nicht. Das liegt im
Auge des Betrachters. Doch die Salomonen-Inseln tragen
noch heute die Seeschildkröte in ihrem Wappen. Und in
Polynesien sowie bei einigen Stämmen der
nordamerikanischen Indianer gilt der uralte Glaube, dass
die Meeresschildkröte den ersten Menschen aus der Weite
des Meeres an Land gebracht hat.
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