Das Geheimnis von Val Mentiér
 
4. Kapitel
 
Seltsame Begegnung
 
ald ließ Sebastian Lauknitz die Absteigenden weit hinter sich zurück. Als er die Autos wieder erreichte, hörte und sah er nichts mehr von der Kolonne. Er marschierte einfach talabwärts und überlegte, wo er sein Biwak aufschlagen könnte. Dabei erinnerte sich Basti an die Stelle, an der er mit Janine biwakierte, als sie ihre letzten gemeinsamen Tage verlebten.
Von Zwischbergen aus führte ein Pfad in ein kleines, verstecktes Seitental. In Alpweiden eingelagert befanden sich dort mehrere kleine Bergseen. Der größte von ihnen war auf der Landkarte mit Tschawinasee bezeichnet. Diesen einsamen Ort hatte Basti in romantischer Erinnerung. Wenn das Wetter hielt, konnte er noch einen Tag dort bleiben, bis er seinen Weg nach Saas Fee fortsetzen würde.
Mit dem neuen Ziel vor Augen schritt Sebastian leichtfüßig neben dem Großen Wasser zurück. Es verging nicht viel Zeit, da hörte er hinter sich Motorengeräusch. Die Autos kamen herabgefahren. Lauknitz hatte kein großes Interesse daran, gesehen zu werden, also duckte er sich hinter einen Felsblock und ließ die Fahrzeugkolonne vorüberrollen. Die fuhren nicht gerade zimperlich und hüllten ihn für Sekunden in Staub.
Dann wurde es still in den Bergen. Sebastian glaubte, sein Abenteuer wäre damit beendet. Er hatte sein Gold, würde noch einen Tag lang in dem kleinen, verschwiegenen Tal von Vergangenem träumen und dann wieder seinem Alltag und seiner Baustelle entgegenfahren. Er konnte nicht wissen, dass sein Abenteuer nun erst beginnen würde...
Die Sonne wurde golden. Eine Alpendohle krächzte in den Felsen und ihr rauher Ruf verebbte schallend. Von irgendwo her trug der Wind das leise Läuten von Herdenglocken. Der Arvenwald, durch den Basti Lauknitz stieg, ließ nicht mehr viel vom abendlichen Licht durch seine Zweige. Ein stiller Pfad führte hinauf, steil und steinig. Einige Male stolperte er über eine Wurzel. Allmählich trat Müdigkeit an die Stelle seiner anfänglichen Euphorie. Ihm wurde bewusst, dass er ja seit dem Vormittag über zwanzig Kilometer und zweitausend Höhenmeter bewältigt hatte.
Jetzt wollte Basti nur noch zu seinem Biwakplatz, etwas essen und schlafen. Ab und zu führte ihn der Weg über eine Lichtung, von der aus er das Tal hinab fast bis nach Gondo sehen konnte. Dort unten lag die Welt schon im Schatten. Nur die nahen Felsgipfel an der zwei Kilometer entfernten Grenze zu Italien lagen noch im goldenen Licht. Bald würden sie sich rötlich färben. Sebastian liebte diese Augenblicke, in der sich die Sonne vom Tag verabschiedete.
Der Talkessel von Tschawina mit seinen sonnenverbrannten Alpweiden lag still und friedlich im Abendlicht, als Lauknitz aus dem Wald trat und zum See hinaufstieg. Kleine Waldraine und Felsstufen durchsetzten die steile Almlandschaft. Der Grat im Osten, die Grenzlinie zwischen der Schweiz und Italien, lag noch im Abendsonnenschein. Eine Gruppe Steinböcke zog friedlich an ihm entlang. Es hätte alles so schön sein können...
Der Schritt über die letzte Felsstufe an den See ernüchterte Sebastian auf der Stelle. Auf der anderen Seite des Sees, wo sich eine weite Grassenke hinzog, stand ein Zelt. Ein einsames, verlassenes Kuppelzelt, ähnlich dem seinen, nur größer. Also campierte hier schon jemand! Dieser Gedanke schoss ihm wie ein Blitz durch den Kopf.
Basti wollte aber lieber alleine sein und überlegte, was er jetzt tun sollte. Mit dem Gedanken, dass die Alpe groß genug für zwei Wanderer war, beruhigte er sich zunächst. Das fremde Zelt stand in der Senke, doch er wusste, dass sich ein Stück weiter oben noch ein weiterer, kleinerer See befand, wo er einst mit Janine zeltete. Sebastian beschloss sich dorthin zurückzuziehen.
Vor dem einsamen Zelt blieb er einen Augenblick lang stehen. Es war geschlossen. Davor stand ein nicht gerade sauberer Topf und eine halb mit Wasser gefüllte Blechschüssel. Ein paar im Kreis angeordnete Steine hatten ein kleines Feuer im Zaum gehalten. Ein kleiner Klappstuhl aus Metallrohr und Tuch lag daneben.
So sehr er seine Augen auch anstrengte und umherspähte, Lauknitz konnte keinen Menschen weit und breit entdecken. Vielleicht gehörte das Zelt zu der kleinen Almwirtschaft »Waira« drüben am Hang? Sebastian betrachtete die Feuerstelle genauer. Es befand sich keine lose Asche darin. Es war auch nicht sehr windig gewesen. Also konnte es gut und gerne zwei Tage her sein, als das Feuer seinen Besitzer gewärmt hatte.
Basti beließ es dabei, stieg zu dem kleineren See hinauf und begann sein Kuppelzelt zwischen zwei Felsen aufzuschlagen. Die Öffnung richtete er nach Osten zum Bergschatten hin aus.
Im letzten Licht der Sonne schob er seinen Rucksack ins Zeltinnere und kramte eine Konserve Mexikanischer Bohnensuppe, Brot und Esbit- Brennstoff heraus. Ausgedörrtes Wurzelholz für ein Lagerfeuer fand er reichlich zweihundert Meter tiefer auf dem Almboden. Für die Feuerstelle hatte Sebastian eine Riesenauswahl an Steinen: Runde, kantige und flache. Er baute sich rasch einen richtigen kleinen Herd, auf dem dann seine Dosensuppe dampfte.
Es ging Sebastian richtig gut. Er hatte sein Gold zurück, saß in seinen Wollponcho gehüllt auf einem Steinblock vor seinem Zelt, eine Steinschuppe mit den Bohnen auf den Beinen und löffelte genüsslich vor sich hin. Die Grillen, die zum Sonnenuntergang schwiegen, begannen erneut ihr aufdringliches Konzert. Die ersten Sterne sahen ihm neidisch beim Essen zu.
Plötzlich verebbte das Zirpen der Grillen. Ungewöhnlich. Nur der leise säuselnde Wind war noch zu vernehmen. Stille ringsum. Oder doch nicht? Hatte er nicht gerade rechts ein Rascheln gehört? Sebastian sah angestrengt über sein Feuer hinweg in die Dämmerung. Schemenhaft zeichneten sich hinter der silbernen Wasserfläche des Sees Felsblöcke ab. Darüber düster die Felsen des Cima Verosso.
Basti starrte in die zunehmende Dunkelheit. Vielleicht waren es die Steinböcke, die er bei seiner Ankunft oben am Grat gesehen hatte? Sicher zogen sie in der Dämmerung in geschützteres Gelände...
»Sie sollten das essen, solange es noch heiß ist..!« Die mächtige Stimme schlug neben Sebastian ein, wie ein Blitz. Er sprang auf, die Steinschuppe polterte zu Boden, nur die Dose und den Löffel hielt er noch in den Händen. Neben seinem Zelt stand ein großer, kräftiger Mann, von den tanzenden Flammen des kleinen Feuers schemenhaft beleuchtet. »Oh, ich habe sie erschreckt, verzeihen sie mir, ich habe keine Manieren.«
Langsam ging der Mann ohne Manieren um Bastis Feuer herum, suchte den Boden nach etwas ab, auf das er sich setzen konnte und pflanzte sich schließlich mit verschränkten Beinen ihm gegenüber an das Lagerfeuer. »Ambühel. Bruno Ambühel, mein Name.« Seine Stimme mit Schweizer Dialekt dröhnte in die Stille der Nacht.
Lauknitz stand immer noch da, wie vom Blitz berührt. Was dachte sich dieser Kerl? Schlich sich von hinten an, jagte ihm einen Heidenschreck ein und besaß dann noch die Frechheit sich einfach an seinem Feuer den Hintern zu wärmen. Verkniffene Augen mit buschigen, kantigen Augenbrauen blickten Basti aus einem ernsthaften Gesicht an. Die mächtige Nase seines ungebetenen Gastes saß über einem breiten, zusammengepressten Mund. Seine Mundwinkel hatten sich als Grand Canyon in sein Gesicht gegraben, das von kurzen, schon lichten Haaren umrahmt war. Mit seinem großen, aber keineswegs übergewichtigen Körperbau sah Sebastians Gegenüber wie ein mürrischer Bauarbeiter aus.
»Ich glaube ihr Essen wird kalt.« Seine volumöse Stimme klang plötzlich gelangweilt. »Ich habe ihren Feuerschein gesehen. Dort unten, das ist mein Zelt.«, fuhr er fort, während er mit einem Daumen hinter sich wies und mit der anderen Hand seine Taschen abklopfte und offensichtlich etwas suchte.
»Das dachte ich mir!«, erwiderte Sebastian langsam betont, fast vorwurfsvoll. Er hatte inzwischen seinen Schreck verdaut und war bereit, dem Eindringling die Zähne zu zeigen. Er rechnete sich aber wenig Chancen aus, sollte ihm dieser Fremde an die Krawatte wollen. »Guten Abend!«, fügte Basti nach einer Weile hinzu, als Bruno ohne Manieren schwieg und immer noch seine Taschen durchstöberte. Die Grillen begannen erneut zu musizieren.
»Sind sie Strahlgänger?«, warf Bruno einen Augenblick später völlig zusammenhanglos in die Nacht und als Sebastian nicht gleich antwortete: »Ich meine, haben sie Kristalle gesucht, dort oben am Tällihorn?«
Lauknitz ahnte plötzlich, dass ihn dieser Mann schon länger beobachtet hatte, viel länger, als er glaubte, vielleicht sogar..? Nein, das konnte nicht sein! Es war keine Menschenseele zu sehen, als er seine Kassette aus der Felsnische holte. Vielleicht war er in der Kolonne, die von der archäologischen Fundstätte herabkam? Auf einem Mal fühlte sich Sebastian ertappt. Er sah Bruno Ambühel an, dass er ihm sowieso nicht glauben würde und dass er seine Unsicherheit längst spürte.
Ambühel hatte endlich gefunden, was er gesucht hatte, zauberte aus einer seiner Taschen ein Päckchen Zigaretten hervor und steckte sich eine davon zwischen die breiten Lippen, die zu grinsen begannen. »Da oben gibt es keine Kristalle.« Erneut suchte er in seinen Taschen, wahrscheinlich nach Feuer. »Ich hab' sie gesehen, drüben vom Abbruch aus, sie haben die Arbeiten am Fuße des Passes beobachtet?« Diese Feststellung ließ er wohl nur aus Höflichkeit wie eine Frage klingen.
»Ich wollte über das Tällijoch ins Laggintal«, antwortete Lauknitz etwas barscher, als beabsichtigt, »habe aber den Übergang nicht gefunden«, fügte er noch rasch hinzu.
Bruno Ambühel gab seine verzweifelte Suche nach Streichhölzern auf und angelte sich einen brennenden Zweig aus dem Lagerfeuer. »So, so, Tällijoch...« Er zündete die Zigarette an, paffte einmal genüsslich in die Luft und beugte sich zu Basti hinüber, dass sein Gesicht im Schein der Flammen wie das eines zuckenden Teufels aussah. Mit überlegenem Blick stellte er ungewöhnlich leise fest: »Ein Joch liegt aber auf einem Grat oder einem Kamm, aber nicht am Fuße einer Felswand...«
»Soll das ein Verhör werden, oder was soll das?«, fragte Sebastian, inzwischen mit deutlich genervtem Akzent.
Bruno lehnte sich abrupt wieder zurück und sein Gesicht wurde im Schatten wieder friedlicher. »Oh, entschuldigen sie«, seine Stimme klang jetzt freundlicher, »das passiert mir oft, ist bei mir wohl eine berufliche Angewohnheit. Ich bin bei der Polizei in Bern.«, fügte er lächelnd hinzu.
Lauknitz starrte ihn einen Moment lang an, als hätte sich die Apokalypse bestätigt. Was machte ein Cop auf einer einsamen Alm, gerade zu der Zeit, wo er sein Gold aus seinem Versteck holte? Das konnte doch kein Zufall sein, oder? Was wusste dieser Bruno Ambühel? Hieß er wirklich so, oder war das nur ein Vorwand?
Ambühel schien seine Gedanken zu erraten: »Da haben sie mal keine Angst. In der Schweiz wird niemand verhaftet, nur weil er den Übergang über einen Pass dort gesucht hat, wo es keinen geben kann.«
Das klang so sarkastisch, dass Sebastian ihm nun kein Wort mehr glaubte, egal, was er noch sagen würde. Bruno saß ihm gegenüber, starrte ihn mit durchdringenden Augen an und rauchte. Er war sich offenbar darüber bewusst, welchen Eindruck seine Ausstrahlung auf Basti machte. Sein Selbstbewusstsein schien unerschütterlich. Und wie zur Bestätigung ließ er nun die Katze aus dem Sack, die er bislang um den heißen Brei herumreden ließ: »Sie wissen, was dort oben auf dem Gletscher gefunden wurde?«
Seine durchdringende Art war Sebastian unheimlich. »Ja, ich habe es in der Zeitung gelesen«, gab er zu, »aber deshalb bin ich nicht hier, ich wollte, wie ich schon sagte, übers...«
»Ja, ja, ich weiß schon, über das Tällijoch in das Laggintal, das sagten sie bereits.«, unterbrach ihn Bruno ungeduldig. Sebastian spürte genau, dass Ambühel ihm kein einziges Wort glaubte. Bruno sah ihn wieder schweigend an und rauchte. Er sah Basti nur an und er bekam ein schlechtes Gewissen.
»Welches Interesse sollte ich wohl als Deutscher an einem Haufen dämlicher, vergammelter Schweizer Knochen haben?«, fragte Lauknitz aufgebracht und hoffte, Bruno damit zu noch weiteren Informationen zu provozieren.
Doch Ambühel sah ihn nur weiter mit bohrendem Blick an, wie man eine Heuschrecke ansieht, die gerade von einer Tarantel verspeist wird. »Das weiß ich noch nicht.«, stellte er leise, mehr für sich selbst fest. Er resümierte weiter: »Wieso wandert ein Tourist aus Deutschland im langweiligsten Tal der Schweiz zum langweiligsten Berg im Tal, an seine langweiligste Felswand...« Er ließ mit einer Pause seine Worte wirken, wartete aber gar nicht auf eine Antwort von ihm: »Ja, den Übergang nicht gefunden...«, er hob beschwichtigend die Hände, »Ok, bitte schön, nichts für ungut, wir freuen uns natürlich über jedes touristisches Interesse an unseren Bergen. Vielleicht haben sie ja doch auch nur nach Mineralien gesucht?« Er ließ diese Frage einfach als Vorwurf stehen.
Allmählich platzte Sebastian Lauknitz der Kragen. Was wollte der von ihm? Wollte er sein Gold, dann verstand er nicht, warum der es sich nicht einfach nahm, denn körperlich konnte Basti ihm ja nicht viel entgegensetzen. Beabsichtigte Bruno andererseits nur ihn auszufragen, warum kam er dann nicht endlich auf den Punkt? Oder hatte es mehr mit den Knochenfunden zu tun, über die Basti ohnehin nur das wusste, was in der Zeitung stand?
»Hören sie«, versuchte es Lauknitz ein letztes Mal, »ich wandere gern allein über die Berge, ich genieße die Natur, die Ruhe und gelegentlich schreibe ich darüber Gedichte und ich wollte wirklich nichts weiter, als hinüber ins Laggintal. Von ihren Knochenfunden weiß ich nichts weiter, als bei uns in Norddeutschland in der Zeitung stand«, Sebastian redete sich richtig in Fahrt, »und ihre bescheuerten Knochen interessieren mich ehrlich gesagt einen Dreck! Ich bin weder ein Reporter, noch ein verkappter Archäologe, noch sonst irgendetwas! Ich bin ein Stuckateur, der einfach mal in der Natur ausspannen will, Ok? Ist das jetzt bei ihnen angekommen?«
Ambühel zog die Augenbrauen hoch, erstaunt, einen solchen Redeschwall zu hören. Ihm wurde offenbar klar, dass er keinen Schwerverbrecher vor sich hatte, der sich in den Bergen versteckte. Plötzlich wurde er umgänglicher: »Ich hatte mich lediglich gewundert, wieso ein Tourist acht Kilometer talaufwärts zurücklegt, anschließend wieder acht talabwärts, um sich dann in einem Seitental zu verstecken.«
Sebastian beruhigte sich wieder und erklärte: »Ich kenne diesen romantischen, stillen Platz von früheren Touren her und wollte...«
»Ach, sie waren schon häufiger in diesem Tal?«, unterbrach ihn Ambühel. »Tut mir leid, ich wollte sie nicht unterbrechen, aber...« Nun unterbrach er sich selbst. Es schien, als wüsste er zunächst nicht, was er sagen sollte. Dann holte er tief Luft, warf seine Zigarettenkippe mit einer ausholenden Bewegung in das Feuer und erklärte Sebastian in vertraulichem, geheimnisvollen Tonfall: »Also, das ist seltsam, das mit den Knochen. Wir haben insgesamt 36 komplette Skelette gefunden...« Er ließ diese Information eine Weile wirken.
»Was ist an einer historischen Begräbnisstätte mit 36 Skeletten so seltsam?«, fragte Basti, neugierig geworden.
Er riss Ambühel mit seiner Frage aus dessen Gedanken und der antwortete knapp: »Dass es eben keine Begräbnisstätte ist, das genau ist seltsam daran!«. Bruno zündete sich eine neue Zigarette an. »Die Gebeine lagen so verstreut, als hätte man sie punktgenau, wie eine Bombe aus einem Flugzeug geworfen!«
»Ja und..?«, drängte Sebastian ihn weiter zu erzählen, »wo ist das Problem? Vielleicht haben die damals die Leichenteile auseinandergepflückt, um sie besser transportieren zu können?«
Ambühel sah Basti nachdenklich an und erwiderte: »Ja, schon möglich. Einer der Archäologen hat eine ähnliche Theorie...« Bruno zog bedächtig an seiner Zigarette, als musste er sich die nächsten Worte erst überlegen. »Die Grenze zu Italien ist dort drüben.«, er nickte mit dem Kopf hinüber zum Grat, der inzwischen nur noch eine Silhouette war und fuhr dann fort. »Italien war im dritten Reich Deutschlands Verbündeter. Viele Flüchtlinge versuchten damals hier und anderswo über die Grenze in die neutrale Schweiz zu gelangen.« Er machte eine kurze Pause. »Viele versuchten das: Juden, Kommunisten, alliierte Kriegsgefangene, die entkommen waren, oder Piloten, die von den Deutschen abgeschossen wurden. Es wurde natürlich versucht, das zu verhindern.«
Lauknitz kombinierte in lauten Gedanken weiter: »Sie glauben, man hat sie abgefangen, drüben in Italien ermordet, hierher transportiert und hier abgeladen? Glauben sie das wirklich? Ich dachte immer, die Schweiz sei damals so gut bewacht gewesen?«
»War sie auch«, klärte Ambühel ihn auf, »wäre trotzdem möglich gewesen, vielleicht um die Schweizarmee eines Verbrechens zu beschuldigen und um politischen Druck auszuüben, wer weiß...« Er schwieg eine Weile. Dann sah ihn Bruno ernst an und Basti wusste, dass er ihm immer noch misstraute und noch nicht alles erzählt hatte: »Da ist aber noch etwas...«
»Was jetzt noch, sind ihre Skelette etwa wieder zum Leben erwacht?« Sebastian versuchte witzig zu sein. Doch Bruno Ambühels todernste Miene erdrückte jeden weiteren Humor.
»Einige der Gebeine sind älter als der erste Weltkrieg.« Er nickte gewichtig, bevor er hinzufügte: »Sehr viel älter, einige so alt, wie das Römerreich. Und wir glauben, dass in tieferen Schichten noch mehr Gebeine liegen.«
Nun verstand Lauknitz gar nichts mehr. »Aber das beweist doch, dass die Knochen von einer Begräbnisstätte stammen, die Menschen seit langer Zeit benutzt haben, oder?«, warf er unsicher ein.
»Schon«, entgegnete Ambühel, »aber noch vor zwei Monaten?« Er sah Basti fragend an.
»Heißt das etwa...«, Sebastian traute sich nicht, den Gedanken zuende auszusprechen.
»...Dass einige der Knochen erst zwei Monate alt sind, ja. Manche auch ein halbes Jahr, einige zwei Jahre.«, gab Bruno mit verzweifeltem Gesicht zu.
»Das heißt, sie ermitteln in einem oder mehreren Mordfällen, ja?«, fragte Basti neugierig.
Bruno Ambühel sah ihn an, wie ein Kind, dass sein Einmaleins nicht begriffen hatte. »Nein, tun wir nicht, das heißt...«, er machte eine kurze Pause, »eigentlich doch, ach ich weiß es nicht. Man kann ja verrückt werden dabei, so verzwickt ist das!«
»Was?«, fragte Sebastian drängend.
»Nach unseren Untersuchungen«, fuhr Bruno nüchterner als zuvor fort, »sind nur einige der Leichen an fremder Gewalteinwirkung gestorben. Meist die älteren.« Ambühel zündete sich an der halb aufgerauchten Zigarette schon wieder eine neue an. »Wir sind noch mitten in den Untersuchungen, aber soviel können wir schon sagen... Das bleibt aber unter uns!« Er sah Lauknitz eindringlich und warnend an. »Ich weiß nicht, wie die das heute machen, mit irgendwelchen Strahlenmessungen, oder so.., ist ja auch egal. Aber diese Archäologen haben herausgefunden, dass einige der Skelettierten erst vor kurzem eines natürlichen Todes, beziehungsweise einige an der Pest gestorben sind.«
Sebastian sah eine Weile ungläubig zu ihm hinüber. Sollte das ein schlechter Witz sein? Die Pest galt in Europa seit langem als ausgestorben! Irgendwie glaubte er Ambühel nicht. »Aber wir leben im zwanzigsten Jahrhundert! Da setzt sich niemand auf einen alten, stinkigen Knochenhaufen, um zu sterben, selbst, wenn er die Pest hat.«, gab Sebastian zu bedenken.
Ambühel nickte bedächtig. »Das ist es ja gerade!«
»Also doch Mord.«, warf Basti ein und sah den Berner Polizisten erwartungsvoll an.
Dieser erwiderte Sebastians Blick und hatte seinen beherrschten Gesichtsausdruck zurückgewonnen. »Das eben versuche ich herauszufinden!« Einen Augenblick später setzte er hinzu: »Dann läuft mir ausgerechnet im verstecktesten Winkel der Schweiz ein deutscher Tourist über den Weg, der wiederum ausgerechnet in der Nähe des Fundorts, an einer tristen Felswand einen Pass sucht und angeblich nicht findet, den selbst ein Halbblinder mit bloßem Auge erkennen würde. Und diesen Touristen treffe ich dann später und noch mal ausgerechnet bei meinem Zelt wieder.« Bruno wartete einen Moment die Wirkung seiner Worte ab, bevor er seine Gedanken fortsetzte. »Sie müssen zugeben, dass dies schon eine sehr seltsame Konstellation ist, oder?«
Lauknitz war ziemlich irritiert. Dieser Typ klagte ihn schon wieder an! Was hatte er eigentlich mit diesen beschissenen Knochen zu tun? »Glauben sie etwa, ich habe vor zwei Monaten einen Pestkranken hier heraufgeführt, ihn auf den Knochenhaufen gesetzt, ihn festgehalten und gewartet, bis er abgekratzt ist, und komme jetzt wieder hierher zurück, nachdem die Sache in jeder Zeitung stand? Das kann doch wohl nicht ihr Ernst sein, oder?« Mittlerweile war Sebastian ein wenig wütend geworden.
Ambühel zuckte mit den Schultern. »Ich glaube gar nichts! Ich muss herausfinden, was da vor sich geht und untersuche alles, was mir verdächtig erscheint. Auch sie!« Missmutig beförderte er seine Kippe in das Feuer und fügte ruhiger hinzu: »Nehmen sie’s nicht persönlich!«
Na der hatte vielleicht Nerven! Der Polizist verdächtigte Sebastian, einen Pestpatienten im Hochgebirge auf einem Haufen Knochen sterben gelassen zu haben, doch er sollte es nicht persönlich nehmen! Lauknitz fehlten die Worte. Andererseits war er beruhigt, dass Ambühel offensichtlich nichts von seiner Bergführerkasse wusste.
Plötzlich stand Bruno auf. Seine Gestalt warf einen mächtigen Schatten im schräg einfallenden Mondlicht. »Wo werden sie morgen hingehen?« Sebastian konnte das Lauernde in seiner Frage nicht überhören.
»Weiß ich noch nicht, ich habe ein paar Tage Urlaub und möchte die Natur genießen«, gab er unbestimmt zurück.
Ambühel wandte sich schon um und im Gehen rief er noch über seine breite Schulter: »Wir sehen uns morgen, gute Nacht!« Dann verschmolz er mit der Dunkelheit. Basti wurde plötzlich kalt, obwohl er kurz zuvor noch geschwitzt hatte. Es viel ihm schwer, die letzte Stunde gedanklich nachzuvollziehen. Lauknitz war hier heraufgestiegen, um seine Goldmünzen zu holen und plötzlich war er ein Verdächtiger in einem Mordfall, der aber eigentlich gar keiner zu sein schien.
Mit einem Mal wollte Sebastian nur noch eines: Schleunigst nach Hause zurückfahren und wieder an seine alltägliche Arbeit gehen. Doch um gleich aufzubrechen, war er zu müde. Der Tag heute hatte seine Spuren hinterlassen. Innerlich noch lange nicht beruhigt, kroch Lauknitz in sein Zelt und stellte seinen Taschenwecker im Licht der Taschenlampe auf drei Uhr früh. Er wollte hier verschwinden, bevor dieser eigenartige Polizist aus seinem Zelt kroch. Noch bevor die Archäologenkolonne wieder heraufkam, konnte Basti am Zwischbergenpass sein und nach Saas Fee absteigen. Er würde nicht mehr versuchen, ein Schließfach bei irgendeiner Bank zu mieten, sondern auf dem kürzesten Weg die Heimreise antreten!
Angestrengt lauschte er noch auf verdächtige Geräusche, bis ihn die Müdigkeit ins Reich der Träume entführte. Sein Kopf ruhte in dieser Nacht auf dreißigtausend Schweizer Franken.
  Wichtiger Hinweis: Die Texte des Autors Frank Adlung, insbesondere die des Romans "Das Geheimnis von Val Mentiér", sind durch notarielle Hinterlegung urheberrechtlich geschützt. Ein Herunterladen und Ausdrucken ist nur für den privaten Zweck des Lesens gestattet. Kommerzielle Nutzung, öffentlicher Vortrag, oder Vervielfältigung und Verfälschung des Inhalts, sowie öffentliche Verbreitung ohne Genehmigung des Autors sind untersagt und werden zur Anzeige gebracht.
 
 
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