Das Geheimnis von Val Mentiér
 
11. Kapitel
 
Krähenmädchen
 
or Sebastian Lauknitz öffnete sich ein weiter Talkessel nach Süden, der sich im Osten etwas verengte und das Tal in diese Richtung fortsetzte. Weite, ausgedehnte Wiesen grenzten an kleine Nadelwaldgürtel, hinter denen neue, himmelhohe und schneebedeckte Berge direkt aus dem Talboden aufwuchteten. Gipfel an Gipfel reihten sich dahinter, die nur noch vom intensiven Blau des Himmels abgelöst wurden. Ferne, hohe Eisfelder und Firne glänzten in der Sonne und blendeten seine Augen.
Wie eine gigantische Mauer aus Fels und Eis rahmten die Berge das beinahe verspielt aussehende Tal ein, das viel ausgedehnter war, als das hinter ihm liegende. Die gigantischen Berge, die den Talschluss begrenzten, täuschten jedoch den Blick. Alles in ihrem Schoß ließen sie winzig und unbedeutend erscheinen, selbst das Dorf, das im Zentrum der Senke lag und wesentlich größer war, als jene, die er bereits passiert hatte.
Ringsum entsprangen Bäche den steilen Felsen und stürzten zum Teil in weit auseinanderfächernden Wasserfällen in den Talgrund, wo sie sich nahe dem Dorf mit dem kleinen Fluss vereinten, der aus der Schlucht austrat, die Sebastian soeben verlassen hatte.
Kein Touristenort lag zu seinen Füßen, keine Lärmkulisse von unzähligen, Parkplatz suchenden Autos erfüllte den Talboden. Keine Hotels, keine Restaurants, Seilbahnen, oder Skilifte! Nichts! Nur wieder ein Dorf, Wiesen, Wälder und Berge, wohin das Auge reichte. Berge und nichts als Berge! Ein gigantisches Meer von weißen Zinnen ohne Namen. Gipfel, von denen Sebastian nie einen Menschen hatte erzählen hören.
Noch vor einem halben Jahr hätte er sich nichts sehnlicher gewünscht, als an einem Ort wie diesem Urlaub machen zu können, in einer abgeschiedenen Bergwelt, die nie ein Mensch zuvor betreten hatte... Nun, zum Teil hatte sich sein Wunsch erfüllt und er musste nicht einmal ein teures Hotel bezahlen!
Ganz plötzlich wurde ihm klar, dass er sich solcherlei Abenteuer stets nur auf Zeit herbei gesehnt hatte. Die Extreme, die reine, nackte Natur, die er so liebte und so oft herbeisehnte, sollte ihn nur so lange bezaubern, bis sie begann unbequem zu werden. Dann wollte er sich wieder in die vielen Vorzüge seiner technisierten, heilen Welt der Zivilisation zurückziehen. Welch eine Selbstlüge!
Doch diesmal war sie nicht so einfach, die Flucht in seine verwöhnte, sichere Welt, in der ihn höchstens mal ein Stromausfall bedrohte. Irgendwie fand Sebastian nicht mehr zurück aus seinem Abenteuer, dass ihm längst viel zu abenteuerlich, gefährlich und unbequem geworden war. Mit dieser grauenvollen Erkenntnis rief sich auch der Hunger wieder unmissverständlich in Erinnerung.
Dadurch trat der Gedanke, wie er überhaupt in diese Gegend geraten war, immer mehr in den Hintergrund und machte der Frage Platz, wie Sebastian diese einsamen Täler schleunigst wieder verlassen konnte und woher er etwas zu Essen bekommen würde.
Verzweifelt saß er auf seinem Baumstamm in der Sonne und verfolgte mit seinem Blick den Weg, der talwärts bis in das Dorf führte. Ein Zwei- Stunden- Marsch mochte es bis in die Ansiedlung sein. Doch was würde ihn dort erwarten? Wieder nur Ablehnung und Feindseligkeit?
Was aber, wenn er auch diesen Ort oberhalb der Wiesen umging? Wohin kam er dann, wieder in ein Dorf und in noch eines und so weiter? Ohne Essen kam er nicht einmal mehr über den nächsten größeren Hügel. Sebastians Körper war jetzt schon so geschwächt, dass er regelmäßig gegen aufkommenden Schwindel ankämpfen musste. Aber einen anderen Weg, als hinunter, gab es nicht!
Wie er das Land zu seinen Füßen so betrachtete, kam ihm noch ein letzter rettender Einfall, wenngleich er auch sehr zweifelhafter Natur war. In dem relativ breiten Fluss des Talgrunds musste es doch Fische geben! Für gewöhnlich lebten in solchen Gewässern Forellen, Barsche und Zander, in manchen Gegenden dieses Planeten auch Lachse.
Bei der Vorstellung von gebratenem Fisch krampfte sich sein Magen schmerzhaft zusammen und der letzte Speichel in ihm versammelte sich in seinem Mund zu einer Anti- Hunger- Kundgebung. Aber um Fische zu fangen, brauchte er einen Speer! Das hatte Sebastian im Fernsehen gesehen und auch selbst schon ausprobiert... Speerfischen funktionierte tatsächlich, wenn man viel Geduld und eine ruhige Hand mitbrachte.
Zwischen Aufgeben und neuer Hoffnung suchte er nach einem Haselnussstrauch. Die langen, kurz über dem Boden, steil nach oben wachsenden Zweige eigneten sich am ehesten als Speer. Ebenso geeignet waren die Spitzen von Arven, die vom Sturm geknickt wurden. Diese Erfahrung hatte Sebastian als Alpinist selbst gemacht. Das Holz sollte nicht zu trocken, aber auch nicht zu feucht sein, eben nach dem Fall des Baumes nicht zu jung oder zu alt.
Haselnuss fand er nicht. Dafür aber jede Menge umgeworfener Arven und Tannen. Das Gewitter der letzten Nacht hatte ganz schön gewütet! Doch auch gefällte Bäume früherer Unwetter lagen auf dem Waldboden. Ich diesem Moment dachte er kurz an Väterchen Balmer. Hoffentlich hatten er und sein Vieh das Unwetter gesund überstanden. Plötzlich regten sich in ihm neben dem Hunger auch noch Schuldgefühle, weil er den Alten einfach in einer Nacht- und Nebelaktion verlassen hatte. Ärgerlich wischte Sebastian diese Gedanken fort. Högi Balmer war auf seiner Alm sicher versorgt, redete er sich ein.
Sebastian suchte eine gerade gewachsene Baumspitze aus und schnitt sie so tief ab, dass ihm nach Ausschneiden der weichen Spitze gut zwei Meter Speer blieben. Dann nahm er aus dem Rucksack ein altes T- Shirt und wickelte es sich um die linke Hand. Diese Bäume setzten großzügige Mengen klebrigen Harzes frei und er wollte ja nicht mit schwarzen, verklebten Händen einen Fisch genießen.
Den künftigen Speer in der linken umwickelten Hand, sein Bowiemesser in der rechten, so marschierte Sebastian los. Den Speer konnte er auch im Gehen bearbeiten. So sparte er einerseits Zeit, andererseits war er von seiner derzeit größten Geißel abgelenkt: Dem Hunger!
Beinahe im Takt seines Schrittes schlug Sebastian zunächst die kleinen Zweige von der erbeuteten Spitze. Anschließend ritzte er die Rinde des Speers der Länge nach mit der Messerspitze ein und begann an einem Ende damit, die Borke abzuschälen. Ein gutes Stück Weg hatte er bereits hinter sich gebracht, als er den nackten Wurfspieß in fast weißem Holz in den Händen hielt. Sebastian wohnte der Geburt eines Speeres bei und er war die Hebamme.
Ebenso, wie ein Neugeborenes war der Stab mit einem glitschigen Film überzogen, der in der Sonne jedoch schnell antrocknete. Dort, wo die Schmiere getrocknet war, bekam Bastis neue Waffe eine gelbliche Färbung. Der Speer durfte allerdings auch nicht zu schnell austrocknen, sonst verlor er seine Elastizität und brach bei der ersten Belastung entzwei. Kurzentschlossen rieb er ihn mit Sonnenöl aus seinem Rucksack ein.
Bei der Gelegenheit wurde ihm bewusst, wie gut es die Sonne an diesem Tage meinte. Sengend heiß brannte sie vom tiefblauen, wolkenlosen Himmel, dass man meinen konnte, sie wollte wegen des Unwetters etwas wiedergutmachen. Eine kleine Rast konnte nicht schaden. Also setzte sich Sebastian etwas abseits des Weges in das hohe Gras der Wiese.
Der warme Wind fächelte ihm das entfernte Rauschen eines Wasserfalls als Hintergrundklang zu und die Insekten und Vögel verwöhnten sein Ohr mit ihrer Ouvertüre aus tausenden, harmonisch abgerundeten Solostimmen. Sebastian entkleidete sich bis auf seine lederne Jeanshose und rieb abwechselnd sich und den Speer mit Sonnenöl ein. Wäre da nicht die Revolution in seinem Magen gewesen, er hätte den Tag durchaus genießen können.
Hunger und eine innere Unruhe trieben ihn bald weiter. Seine Oberbekleidung verschwand angesichts des heißen Tages im Rucksack. Lediglich ein T- Shirt legte er sich über den Nacken, damit ihm der glühende Himmelsball nicht noch einen schmerzhaften Sonnenbrand bescherte.
Neben dem unentwegten Marschieren bearbeitete er seinen Speer. Sebastian wog ihn in der Hand, drehte ihn, ließ ihn durch die Finger gleiten, bis er wusste, was noch daran zu tun war. Die kleinen Knubbel aus härterem Holz, an denen sich die Zweige befunden hatten, galt es nun zu glätten. Zwischendurch bekam sein Fischfanggerät immer wieder eine Ölung mit Sonnenschutzmittel.
Ein paar Mal kamen Sebastian Leute entgegen, meist Bauern, die mit Heurechen und Sense bewaffnet auf die höheren Weisen zogen. Er ging ihnen aus dem Weg. Rechtzeitig legte er sich in einer kleinen Senke oder hinter einem Felsen in das hohe Gras und ließ die Menschen ihres Weges ziehen.
Bald verließ Sebastian den Weg und wanderte über die Wiesen oberhalb des Dorfes weiter. Unter einer Baumgruppe setzte er sich in den kühlenden Schatten und beobachtete den Ort, der beinahe zu seinen Füßen lag. Geschäftiges Treiben beherrschte die sandigen Straßen und Gassen. Von seiner erhöhten Warte aus konnte er sich den Vergleich mit einem Ameisenhaufen nicht ganz verkneifen. Dieses Dorf besaß ebenso wie die anderen keine Kirche, was insofern sofort auffiel, da es dort auch keine höheren Häuser gab. Die Hütten waren bis auf wenige Ausnahmen durchweg aus Holz gebaut und bestenfalls zweistöckig.
Doch diese Ansiedlung war wesentlich größer, als jene, die Sebastian auf der anderen Seite der Schlucht kennen gelernt hatte. Im Zentrum dominierte wiederum eine Art Marktplatz mit einem Brunnen. Um diesen zentralen Punkt herum entdeckte er auch hier diese seltsamen Steinquader, rings um den Brunnen herum angeordnet, deren Bedeutung ihm nicht in den Sinn kommen wollte.
Große Teile des Dorfrandes waren von einem hohen, stabilen Zaun eingefasst, der so massiv aussah, dass er wohl bei entsprechender Verteidigung einem Angreifer sein Vorhaben verleiden konnte. Um das Dorf herum verteilt lagen einige blaue Seen, teils von kleineren Baumgruppen bewacht. Soweit Sebastian das erkennen konnte, hatten diese Gewässer einen oder mehrere Bäche als Zu- und Ablauf.
In der näheren und weiteren Umgebung der Siedlung befanden sich unzählige einzeln stehende Hütten, die anscheinend als Erntespeicher dienten.
Zwischen ihm und dem Ort zog der kleine Fluss sein blausilbernes Band durch die Wiesen. Einige Stellen an seinem Ufer wurden offensichtlich als Waschplatz benutzt, denn eine Schar von Frauen ging dort mit vielerlei Stoffzeug baden.
Sie standen mit nackten Beinen auf einer Kiesbank, ihre groben Röcke hoch gerefft, oder um die Hüften gebunden. Einige, wohl die jüngeren, unverheirateten Frauen und Mädchen, waren nur mit dem knappen Nichts eines Stückes braunem Stoff, oder Leder bekleidet, und hielten es auch nicht für nötig, ihre teils üppigen Brüste zu bedecken. Diese, für einen männlichen Betrachter augenscheinlich schöne Tatsache verriet ihm, dass es sich bei diesem Völkchen kaum um Amishleute handeln konnte, wie er anfangs vermutet hatte.
Als galt es einen Wettbewerb zu gewinnen, wuschen und spülten die laut plappernden und lachenden Frauen ihre Röcke, Hemden, Hosen und Tücher, die sie zwischen ihren Beinen eingeklemmt hielten, um sie nicht der Strömung zu überlassen. Fertig gewaschene Stücke warfen sie mit viel Geschick und unter lautem Beifall ihrer Freundinnen zielsicher in einen Holztrog am Ufer. Die Arbeit bereitete ihnen offensichtlich großen Spaß. Basti wurde schon übel bei dem Gedanken, in seiner Stadtwohnung die Waschmaschine zu befüllen.
Weiter rechts, im Osten des Tales, begrenzte dichter Wald die Wiesenlandschaft. Der Fluss verschwand dort unter dem dichten Blätterdach der Bäume. Was hinter dem Wald lag, entzog sich seinen Blicken.
Zunächst dachte Sebastian daran, in diesem Wald auf einer Lichtung zu biwakieren. Doch in Erinnerung an die letzte Nacht und den unheimlichen Besucher verwarf er diese Idee sofort wieder. Wohingegen ihm die Aussicht, wiederum in einem Heustadel zu nächtigen, sehr gefiel. Doch erst einmal galt es, den Fischen im Fluss nachzustellen.
Kurz vor dem Wald erreichte er wieder den Weg, der allerdings durch den Fluss von ihm getrennt war. Um sich nicht hoffnungslos im Dickicht zu verfransen, musste Sebastian den Fluss durchwaten, um auf die feste Sandstraße zu gelangen. In Anbetracht der flirrenden Hitze ein angenehmer Gedanke!
Umständlich zog er seine Stiefel aus, band sie an den Schnürsenkeln aneinander und hängte sie sich um den Hals. Vorsichtig fühlte er mit einem Fuß vor. Sofort holte Sebastian tief Luft und hielt den Atem an. Das Wasser war eisig kalt! Seine gequälten, überhitzten Füße wurden augenblicklich gefühllos, als sie bis zu den Knien in die Strömung tauchten. Sebastian biss die Zähne zusammen, ballte seine Hände zu Fäusten, bis die Knöchel weiß hervortraten und watete wie ein ungelenker Storch an das andere Ufer.
Dankbar, dort ohne Ausrutscher angekommen zu sein, fragte er sich, wie die Wäsche waschenden Frauen das eiskalte Wasser aushielten. Vermutlich waren sie durch das entbehrungsreiche Leben hier so abgehärtet, dass sie die Kälte kaum mehr spürten.
Um seine Füße zu trocknen, folgte er dem Weg ein paar Meter weit ohne Socken und Schuhe. Doch schon nach kurzer Zeit rieb der grobe Sand zwischen seinen Zehen und kleine Steine machten pieksend und stechend auf sich aufmerksam. Seine Füße wanderten wieder in die Stiefel und diese marschierten geradewegs in den Wald hinein.
Der Schatten der Bäume war in der Mittagshitze angenehm. Ein dichtes Firmament aus leise raschelnden Blättern ließ nur wenige Sonnenstrahlen zum Boden durchdringen und hüllte die Welt in ein gelbgrünes Licht. Zu seiner Linken, irgendwo hinter dem undurchdringbaren Dickicht aus Gräsern, Sträuchern und umgestürzten Bäumen rauschte das Wasser des Flusses.
Der Drang, einen Fisch zu fangen und zu grillen, weil er sonst verhungern musste, wurde zu einer Phobie. Das Hungergefühl löste in Sebastian bisweilen schon Übelkeit aus. Ständig stolperte er auf dem ebenen Weg, denn allmählich versagten ihm die Beine den zuverlässigen Dienst.
Verzweifelt suchte Basti die nördliche Waldseite nach einem Durchgang zum Fluss ab. Hier im dichten Grün konnte er in Ruhe eine Mahlzeit zubereiten, ohne ständig vor irgendwelchen Dorfbewohnern auf der Flucht zu sein. Doch die grüne Mauer des Urwalds gewährte ihm keinen Zugang zu den vermeintlichen Fischgründen.
Eineinhalb Stunden marschierte Sebastian in stoischer Apathie versunken vor sich hin. Einen Fuß vor den anderen setzend, nicht mehr darüber nachdenkend, wie es weitergehen sollte. Mittlerweile akzeptierte er es, immer weiter zu gehen, Schritt für Schritt, Kilometer um Kilometer, bis er vor Entkräftung einfach irgendwo umfallen würde. Das war es dann, der große Bergführer Sebastian Lauknitz, gescheitert an seinen eigenen heimlichen Wünschen und Träumen, die wahr wurden, als er nicht darauf vorbereitet war!
So latschte sein übermüdeter Körper dahin. Sein Geist hatte bereits abgeschaltet, beschränkte sich nur noch auf die Aufgabe, zu kontrollieren, dass Sebastian auf dem Weg blieb, ansonsten zogen sich seine Sinne in einen inneren Frieden zurück.
Plötzlich wurde dieser Frieden gestört. Ein gewaltiges Tosen drang an sein Gehör, und verschaffte sich Zugang zu seinem müden Geist. Der Wald lichtete sich, überließ erst einer Felskante, dann einem schmalen Wiesengürtel den Raum.
Der Weg führte in vielen Wegkehren über die Felskante nach unten. Links, wo ein Chaos aus Felsen und Bäumen die Sicht versperrte, zogen gewaltige Nebelwolken aus der Tiefe herauf, warfen einen ständigen Regenbogen und lösten sich auf. Je nach Windrichtung und -stärke trieben die Nebel zu Sebastian herüber und hüllten ihn ein, um ihn Augenblicke später wieder der sommerlichen Hitze zu überlassen.
Die Neugier weckte seinen Geist aufs Neue. Erwartungsvoll trat er an die Felskante, die wie ein langgezogenes Podest aus dem Wald ragte. Der Anblick, der sich ihm bot, raubte ihm den Atem! Vor ihm breitete sich ein weites Tal aus, das nur noch wenig Weideflächen aufwies, dafür aber fast völlig mit Wald bewachsen war. Eingebettet in den dunkelgrünen Waldteppich lag ein großer See. Bastis Schätzung nach musste die Ausdehnung des Gewässers vier bis fünf Kilometer in der Länge, sowie ein bis eineinhalb Kilometer in seiner weitesten Breite betragen. Wie ein Türkis schimmerte seine Wasseroberfläche in der Mittagssonne.
Sebastian stieg über die Felskante ab, vielleicht hundert Meter in der Höhe und fand sich auf dem engen Wiesengürtel wieder, der den See an der schmaleren, nach Westen zugewandten Seiten umrahmte. Der Fluss, der oberhalb der Kante friedlich durch den Wald rauschte, stürzte sich donnernd im freien Fall in den See hinab, wo die Sprühwassernebel stetig aufstiegen, als wollten sie nachschauen, ob auch wirklich alles Wasser in die Tiefe fiel.
Die Felsen hinter und seitlich des Wasserfalls glitzerten nass und sahen aus, als wären sie von Adern reinen Goldes durchzogen. Sie fußten in dem Wiesengürtel, der sich stellenweise mit einem regelrechten Sandstrand abwechselte. Dieser Sandstrand, mal schmaler, mal breiter, hier und dort mit spärlichem Gras bewachsen, zog sich, soweit Sebastian das erkennen konnte, um den ganzen See herum.
Das Naturschauspiel, das sich ihm hier bot, ließ Sebastian beinahe alle ertragenen Strapazen vergessen. Aber eben nur beinahe! Gevatter Kohldampf rief sich in Erinnerung, sobald sich Bastis erste Euphorie des Erstaunens gelegt hatte.
Den aufmerksamen Blick auf die Wasserfläche geheftet, wanderte Sebastian am Ufer des Sees entlang. Überall sah er in dem kristallklaren Wasser Fische hin und her flitzen. Es waren Forellen! Seine Freude war so groß, dass er in Gedanken Purzelbäume schlug. Nun musste er nur noch eine Stelle finden, an der sich diese Fische im seichten, von der Sonne gewärmten Wasser tummelten...
Bald fand er einen Platz, der ihm geeignet schien. Wie eine kleine Bucht mit feinem Sand lag der flache Strand eingefasst vom Wald in der Sonne. Kleine bis mannshohe Felsen verhinderten das Vordringen des Waldes bis zum Seeufer. Das Wasser war noch in drei Metern Entfernung vom Ufer gerade mal hüfttief. Zu Bastis Freude schwammen unzählige Forellen in einem Schwarm in Ufernähe herum und warteten nur darauf, von ihm gefangen zu werden.
Er setzte seinen Rucksack ab und zog sich bis auf die Unterhose aus. Dann spitzte er rasch das dickere Ende seines Speers an. Damit bewaffnet watete er ungefähr zwei Meter weit in den leidlich kalten See. Zuerst schnappte Sebastian nach Luft, als ihn das kühle Nass umflutete, doch nach kurzer Zeit hatte er sich an die Erfrischung gewöhnt
Vorsichtig senkte Basti den Speer in das klare Wasser und rührte sich nicht mehr. Bewegungslos wartete er auf den ersten Fisch, der dumm genug war, vor seinen Speer zu schwimmen. Da! Ein ganz fetter Brocken schwebte dicht an Bastis Speerspitze vorbei. Blitzschnell stieß er zu! Doch als er seine Fangwaffe aus den Fluten zog, war die Spitze leer. Ungläubig starrte er ins Wasser. Den konnte er doch gar nicht verfehlt haben! Waren diese Biester so flink?
Erneut tauchte er den Spieß in das flimmernde Nass. Diesmal hielt Sebastian die Waffe etwas flacher, um seine Beute mehr in der Flanke zu erwischen. Wieder wartete er geduldig, indem seine Beine immer mehr auskühlten. Was er bisher im Fernsehen, zumeist in Spielfilmen über Speerfischen gesehen hatte, ließ sich leider nicht mit dem vergleichen, was er hier tat. Dort war alles viel einfacher:
Ein vor Kraft strotzender Naturbursche mit Dreitagebart und gestyltem Haar stieß eine selbst geschnitzte Harpune in das Wasser und zog prompt einen Barsch von beträchtlicher Größe aus der Tiefe. Diesen beförderte er dann in einem eleganten Bogen auf den Strand, um den nächsten zu erlegen.
Auf den Einfall, dass sich ein Mann müde, ausgehungert und mit völlig verfilzten Haaren von unzähligen Übernachtungen im Freien aus der Not heraus einen Fisch angeln musste und dass er dabei bis zum Gesäß in eiskaltem Wasser ausharren und auf dem Rücken einen mörderischen Sonnenbrand hinnehmen musste, kamen die intelligenten Filmemacher anscheinend nicht.
Nun lernte Sebastian Lauknitz die Realität kennen und ihm kamen ganz ketzerische Gedanken in Bezug auf die Abenteuerfilme, die er so liebte. Vielleicht sollte er künftig nicht mehr alles so ernst nehmen, wie es ihm vorgegaukelt wurde!
Gerade nahm er die nächste Forelle ins Visier, da gewahrte er hinter sich eine Bewegung. Erschrocken blickte er sich um, sah zum Strand und war einigermaßen überrascht. Auf dem Felsen, an den er seinen Rucksack gelehnt hatte, saß ein pechschwarzer Vogel. Er saß einfach nur da, sah ihn an und wartete. Kleiner als ein Kolkrabe, wohl aber etwas größer, als eine Saatkrähe, glänzte sein schwarzes Gefieder bläulich in der Sonne. Interessiert schaute ihm der Vogel zu. Na wenigstens hatte der Vertrauen in seine Fähigkeiten!
Noch einmal versuchte sich Sebastian auf die Fische vor seiner Speerspitze zu konzentrieren. Aber diese Krähe lenkte ihn ab. Was geschah, wenn er einen Fisch, mühsam harpuniert, ans Ufer warf? Würde sich der Vogel auf sein Essen stürzen und in aller Seelenruhe damit fortfliegen? Wartete der auf genau diese Chance?
Sein Blick durchbohrte wieder die Wasseroberfläche und taxierte die Fische. Der Vogel in seinem Rücken ließ ihm aber keine Ruhe mehr. Mit dem Federvieh im Nacken fiel es Sebastian schwer, sich auf seine verschwommene Beute zu konzentrieren. Ein weiteres Mal stieß er zu, als sich eine Gelegenheit bot... Wieder daneben! Wütend auf die blöde Krähe, der Basti nun die Schuld an seinem Versagen gab, drehte er sich zum Ufer und wollte aus dem Wasser stürmen, um den lästigen Vogel zu verjagen. Doch mitten in der Bewegung hielt Sebastian inne...
Was sein Auge dort am Strand erblickte, versetzte ihm einen Schlag. Zu keiner Bewegung mehr fähig und völlig ungläubig starrte er zum Ufer hinüber. Ein eiskalter Schauer lief ihm über den Rücken und er wusste nicht, ob er um Luft ringen, oder den Atem anhalten sollte. Von allen Unbegreiflichkeiten, die er seit seinem Aufbruch ins Zwischbergental erlebt hatte, war dies die Unglaublichste! Hatte er bereits Halluzinationen, als Folge tagelanger Entbehrungen und Entkräftung? Konnte das, was Sebastian dort sah, überhaupt sein?
Auf dem Sandstrand, neben dem Felsen, auf dem immer noch die Krähe saß und sich ihr Gefieder putzte, stand, wie plötzlich aus dem Boden gewachsen, Janine. Verwirrt kniff Sebastian die Augen zusammen und sah noch einmal hin. Es war und blieb Janine, die Frau, die er mehr geliebt hatte, als sein eigenes Leben und an deren Sterbebett er vor dreizehn Jahren gesessen und deren Hand er gehalten hatte, als sie, von ihrer Krankheit besiegt, ihren letzten Atemzug tat, um diese Welt für immer zu verlassen...
Jetzt stand sie leibhaftig vor ihm, in ihrer ganzen Schönheit, am Ufer dieses Sees, so, wie an dem Tag vor fünfzehn Jahren, als sie sich kennen lernten. Janine hatte nichts von ihrer Jugend eingebüßt, sie sah noch genau so aus, wie Sebastian ihr Antlitz in Erinnerung behalten hatte. Aber das war nicht möglich!
Völlig verunsichert ließ er den Speer ins Wasser fallen, sank auf die Knie und tauchte seinen Oberkörper und Kopf in die kalte Flut. Dann wischte er sich die Tropfen aus dem Gesicht und sah noch einmal zum Ufer, in der Hoffnung, wieder klar zu sehen. Sebastian sah völlig klar! Janine stand noch immer neben dem Felsen und sah genau so ratlos und verunsichert aus, wie er sich fühlte.
Sie war, wie die jungen Frauen, die Basti am Waschplatz oben im Tal beobachtet hatte, mit dem winzigen Nichts eines sandfarbenen, dünnen Lederschurzes bekleidet, der von einem schnurartigen, ausgefransten Lederband gehalten wurde, das sie sich um die schlanke Taille gewunden und mit einer Schleife zugeknotet hatte. Darüber trug sie einen breiten Gürtel aus Fellresten, der locker auf ihrer schmalen Hüfte saß und wohl kaum einem anderen Zweck diente, als dem Betrachter ihrer Gestalt zu suggerieren, sie sei bekleidet.
Ihr Oberteil bestand aus einem ebenso schmalen, wie dünnen Lederstreifen, der über Kreuz gelegt, gerade eben ihre Brüste bedeckte und seitlich verknotet war. Das Ganze besaß den Charakter eines ausgefallenen Bikini- Designs, wofür jedoch das Leder nicht ganz gereicht hatte. Dort, wo die Lederschnur ihres Schurzes seitlich an ihrer Hüfte verknotet war, baumelten kleine Lederbeutelchen auf ihrer nackten Haut.
An den Füßen trug sie eine Art weiche Beinlinge, ähnlich hochschäftigen Mokkasinstiefel, die mit Fell und wunderschönen, bunten Stickereien besetzt, sowie mit Bussardfedern behangen waren. Ihr rechter Oberschenkel war mit einem Jagdmesser verziert, das sie sich mit einer langen Lederschnur in vielen Windungen auf die nackte Haut gebunden hatte.
Eine kräftige Lederkordel hielt eine Waffe auf ihrem Rücken, etwas, das wie ein Schwert aus einem Fantasy- Film aussah. Sie hatte sich die blitzende, bläulich schimmernde Metallklinge einfach offen über den Rücken gehängt, wobei die Klinge im unteren Fünftel ein breites Loch in der Schneide aufwies, wo die Kordel befestigt war. Daneben hing an der gleichen Kordel ein lederner Köcher mit Jagdpfeilen.
Den Bogen in ihrer Hand nahm Sebastian nur noch am Rande wahr, denn er sah ihr erstaunt in die Augen, die als große, tiefe, dunkle Seen in ihrem feinen Gesicht als etwas Geheimnisvolles und Mystisches ruhten. Diese Augen, die Basti schon damals so fasziniert hatten, rundeten das Bild ihrer harmonischen, ja fast kindlichen Gesichtszüge ab.
Das lange, schwarze Haar fiel ihr unbändig lose und leicht verfilzt über die Schultern und verlieh ihr im Einklang mit ihrer leicht gebräunten Haut ein wildes und ungezähmtes Aussehen. Mehrere Adler- und Krähenfedern hatte sie sich mit perlenbesetzten Lederschnüren ins Haar gebunden. Dazu saß eine große Krähe auf ihrer Schulter und wer nicht genau hinsah, konnte den Vogel selbst für ihre Haare halten.
Der Wind strich ihr durch Haare und Federn, so dass man annehmen konnte, als seien diese das einzige an ihr, das Leben besaß, denn sie stand da, wie eine Götterstatue, bewegungslos, den Blick auf ihn gerichtet. Hätte er Janine nicht sofort wieder erkannt, so hätte Sebastian annehmen müssen, eine wilde, aber ungewöhnlich gut aussehende Indianerin vor sich zu haben.
Schweigend standen sie sich gegenüber. Sebastian im hüfthohen Wasser, vor Nässe triefend, sie am Strand, wie eine urzeitliche Kriegerin auf einem Schlachtfeld. Überrascht und überwältigt von der plötzlichen Situation, seiner vor Jahren verstorbenen großen Liebe zu begegnen, war Sebastian zu keiner Regung fähig. Er stand nur da, sah sie an, wie eine Göttin, die gerade vom Himmel herabgestiegen war.
Janine beobachtete ihn mit ähnlichem Erstaunen, das er für die gleiche Überraschtheit hielt, wie bei ihm selbst. Doch in den nächsten Minuten sollte er eines Besseren belehrt werden...
Als Janine nur dastand und ihn mit dem Interesse eines neugierigen Kindes beobachtete, wollte er die Initiative ergreifen und ihr entgegen gehen. Sebastian kam genau drei unbeholfene Schritte weit... Janine wich einen Schritt zurück, ihr Arm schoss nach hinten, und wie von Zauberhand gelenkt, lag ein Pfeil an der gespannten Sehne ihres Bogens und zielte genau auf seine Brust. Vor Schreck ruderte er mit den Armen und hatte Mühe, sich auf dem sandigen Grund des Sees zu halten.
Die Krähe, die auf ihrer Schulter gesessen hatte, war mit einem ärgerlichen Krächzen zu ihrer Artgenossin auf dem Felsen hinüber geflattert und trat von einem Bein auf das andere, bis sie eine bequeme Position eingenommen hatte.
Basti sah Janine ungläubig an und streckte seine Handflächen vor, um ihr zu zeigen, dass er keine böse Einbildung war, sondern der friedliche Basti Lauknitz, den sie einmal sehr geliebt hatte. Sofort setzte sie eine energische Mine auf, hob den Bogen demonstrativ etwas an und sprach zu ihm in dieser Sprache, die er nicht verstehen konnte, die hier offenbar die Landessprache war.
Diese Geste aber verstand Sebastian schon. Er sollte ihr nicht zu nahe kommen! Doch als er ihre Stimme vernahm, die seit dreizehn Jahren in seiner Erinnerung weiter geklungen hatte und die er nie vergessen konnte, diese sanfte, hohe Stimme, die für ihn immer wie das Flüstern eines Engels geklungen hatte, da traf es ihn wie eine Keule in den Bauch. Ja, dort stand keine Posse seines übernächtigten Geistes und entkräfteten Körpers, sondern wahrhaftig seine Janine!
»Hey, Janine, ich verstehe dich nicht«, sprach Sebastian sie ganz offen an, »erkennst du mich nicht? Ich bin es, Sebastian Lauknitz.., dein Basti! Ich habe dich nicht vergessen und jeden Tag, den ich ohne dich leben musste, war ich in Gedanken bei dir. Und jetzt bin ich überglücklich und fassungslos, dich hier zu sehen, dich wieder zu haben, hier, direkt vor mir.., wo kommst du denn her..?«
Ein ungläubiges Staunen legte sich auf Janines Antlitz. Langsam, wie in Zeitlupe, ließ sie den Bogen sinken und entspannte die Sehne. Dann warf sie Bogen und Pfeil in den Ufersand und zog in einer einzigen blitzartigen Bewegung das Schwert über ihren Kopf. Sie zupfte kurz an der Lederkordel und wie von Geisterhand lösten sich die Knoten. Das Band fiel zu Boden. Mit der Geschicklichkeit einer Entfesselungskünstlerin streifte sie sich die Beinlinge ab, die ihre schlanken Beine der Sonne preisgaben. An beiden Beinen trug sie zwischen Knien und Waden eine perlenbesetzte Lederschnur, an der kleine, bunte Federn baumelten.
Janine streckte ihren Arm aus und sagte ein Wort, das etwa so klang, wie Aha - ja - tee. Augenblicklich hoben die beiden Krähen vom Felsen ab, flogen auf Sebastian zu, umrundeten ihn, so dass er seinen Kopf einziehen musste und landeten anschließen sanft auf ihren Schultern.
Einen Flügelschlag danach hob Janine das Schwert, das einiges wiegen musste, wenn es denn aus Metall war, mühelos an. Die Spitze zeigte auf seine Brust und sie hielt dieses Mordsinstrument permanent auf ihn gerichtet, während sie langsam auf ihn zu ging. Es kostete sie nicht einmal ein Augenzwinkern, in das kalte Wasser zu steigen und bis zu den Hüften nass zu werden.
Unsicher machte Sebastian auf dem unbefestigten Grund einen Schritt rückwärts und verlor prompt den Halt. Prustend und nach Luft schnappend tauchte er aus dem kalten Nass auf und ehe er sich versah, schwebte die Spitze von Janines Schwert direkt vor seiner Nase. Wie ein festgenagelter, nasser Pudel stand er vor ihr, glotzte sie ungläubig an und wartete.
Janine drehte die blank polierte Klinge etwas hin und her, so dass ihm die Reflektionen der Sonne vom glatten Stahl in die Augen sprangen. Nun war Sebastian nicht nur triefnass, sondern auch noch Blind! Janine stand immer noch stumm vor ihm und musterte jeden Zentimeter an ihm, als wollte sie ihn auf einem Sklavenmarkt käuflich erwerben.
Ungefähr fünf Minuten lang hielt sie Sebastian mit ihrer Waffe in Schach und betrachtete ihn. Es mögen auch nur zwei Minuten gewesen sein, denn in solchen Situationen vergehen Minuten gewöhnlich wie Stunden. In dieser Zeit überschlugen sich seine Gedanken.
Wie kam die Frau, die er geliebt hatte, die er zu Grabe getragen und um die er beinahe zehn Jahre getrauert hatte, hier her, in diese Welt, von der er nicht einmal wusste, wo sie geografisch lag? Wieso trug sie Fetzen von Kleidern, die eher in die Kreidezeit passten? Weshalb führte sie ein Waffenarsenal wie für einen mittelalterlichen Krieg mit sich und erkannte ihren Sebastian nicht mehr? Warum...
Plötzlich berührte Janines Schwertspitze seine Brust und hob die Kette mit der Anstecknadel des Schweizer Alpen Club, die Sebastian um den Hals trug, mit der scharfen Klinge an. Sie nahm die in der Sonne glitzernde Kette und das rotweiße Wappen genau in Augenschein.
Dann senkte sie das Schwert in ihrer Hand, trat einen Schritt auf Sebastian zu, lächelte schüchtern und berührte mit einer vorsichtigen, ja fast ehrfürchtigen Bewegung seinen Arm. Behutsam und warm strich ihre feingliedrige Hand die Wassertropfen von seiner Tätowierung und befühlte seinen Oberarm an der Stelle, wo die Nadel vor langer Zeit die Farben unter Sebastians Haut getrieben hatte. Das gleiche Ritual vollzog Janine mit seinem anderen Arm.
Ihre Berührung, die er noch genau so in Erinnerung hatte, elektrisierte ihn auf eine sonderbare Weise und in seinem Bauch entstand plötzlich ein Durcheinander, als wühlte jemand mit den Händen darin herum. Er kannte dieses Gefühl und wusste sogleich, dass seine Liebe für Janine selbst nach ihrem Tod nie erloschen war.
Fasziniert aber gleichzeitig Respektvoll bestaunte dieses Krähenmädchen, das von seinem Gefühl offenbar nichts ahnte, die Sonnenkachina und den roten Bären, die sich Sebastian einst auf die Oberarme tätowieren ließ. Sie betrachtete die Bilder mit dem gleichen Interesse, wie es Högi Balmer tat, als er die Tattoos zum ersten Mal erblickte. Die beiden Krähen auf ihren Schultern hüpften nervös hin und her, unschlüssig darüber, sitzen zu bleiben, oder auf den Felsen zurück zu fliegen.
»Mann im Wasser.., ihr sprecht die Zunge aus dem Reich der Toten und tragt die Zeichen der Götter... Euer Auge ist glänzend und ehrlich... Sag mir, ob ihr der seid, auf den alle rechtschaffenden Menschen warten... Seid ihr der, welcher kommen soll, das Volk zu befreien? Sagt mir die Wahrheit.., oder ich muss euch töten...«
Einen Moment lang stand Sebastian verwirrt da. Janine hatte zu ihm gesprochen... In seiner Sprache! Ihr Akzent klang ein wenig mit Einschlag ins französische, wie bei Falméras Medicus, doch er konnte sie ausgezeichnet verstehen. Selbstsicher lächelte er sie jetzt an, so wie früher, wenn er einen seiner ironischen Scherze mit ihr gemacht hatte. Gleichzeitig wollte Sebastian ihre Hand nehmen. Seine Geste blieb jedoch mitten in der Bewegung stecken...
Abrupt trat Janine einen Schritt zurück, so heftig, dass ihr das Wasser um Hüfte und Bauch spritzte. Fast gleichzeitig flog ihr Schwert wieder mit einer erstaunlichen Leichtigkeit hoch und berührte mit seiner Spitze erneut Sebastians Brustbein. Ihr Ton wurde energischer und verunsicherte ihn von neuem, obwohl er sie früher liebte, wenn sie ärgerlich wurde, weil sie bei allem zur Schau getragenen Zorn dennoch nicht böse genug aussehen konnte, um einem wirklich ernsthaft Angst zu machen. Auch dieser Wesenszug hatte sich an ihr nicht verändert.
Der drohende Unterton in ihrer Stimme jedoch mahnte Sebastian zur Vorsicht:
»Wagt es nicht, über Sonnenherz zu lachen, oder ihr bekommt mein Schwert zu spüren! Sagt mir, ob ihr der seid, den uns die Prophezeihung angekündigt hat. Antwortet ehrlich und ihr dürft am Leben bleiben. Wenn ihr Sonnenherz belügt, werdet ihr unter den Augen des Volkes sterben!«
Sie sagte das mit einer so überzeugenden Inbrünstigkeit, die keinen Zweifel daran ließ, dass sie ihre Drohung wahr machen würde. Erkannte sie ihn nicht mehr, ihn, ihren Basti Lauknitz, der am Tag ihres Todes sein Leben für sie gegeben hätte, um sie zu retten? Sebastian verstand die Welt nicht mehr! Diese Frau war eindeutig seine Janine! Zwar fehlte diesem Krähenmädchen das kleine Seepferdchen, das Janine als Tätowierung an ihrem Bein getragen hatte und die kleine Narbe schräg unter ihrem Bauchnabel war auch nicht vorhanden. Außerdem nannte sie sich jetzt Sonnenherz...
Plötzlich fiel Sebastian wieder die Geschichte ein, die Väterchen Balmer und der Doktor erzählten, als sie am Abend vor seiner Begegnung mit dem Gor mehr Mestas tranken, als sie vertragen konnten. Von einem Krähenmädchen namens Sonnenherz war die Rede gewesen, von einer jungen, faszinierend schönen Frau, die mit den Tieren sprechen konnte und auf Meeresungeheuern ritt...
Dennoch erkannte er in dieser Krähenfrau seine Janine! Das Wesen, ihre grazile, schlanke Figur, ihr Gesicht, ihre feinfühligen Hände... Alles passte. Selbst ihre Stimme erkannte Sebastian wieder! Vor allem gab es so kräftiges, tiefschwarzes, langes Haar nur einmal auf der Welt. Mochte sie sich inzwischen nennen, wie sie wollte und konnte sie sich auch nicht an ihn erinnern, so war sie dennoch die Frau, die eineinhalb Jahre lang seine große, unvergessene Liebe gewesen war und die er noch immer liebte!
In der Überzeugung, dass sie sich früher oder später an ihn erinnern würde, antwortete Sebastian zunächst etwas zurückhaltender. Dabei sah er ihr fest in die Augen.
»Nein, ich denke nicht, dass ich der bin, auf den ihr hofft. Ich glaube nicht, dass ihr auf einen Mann wartet, der sich in Unterhosen von einer Frau mit einem Schwert in Schach halten lässt. Und wie könnte ich euch wohl mit meinen bescheidenen Fähigkeiten helfen?«
Sebastian ließ seine Worte eine Weile wirken und wollte gerade fortfahren, als Janine nun endgültig ihr Schwert senkte und wieder zwei Schritte auf ihn zu durch das Wasser watete. Fast berührten sich ihre nassen Körper, so dicht trat sie an ihn heran und ihm schwirrte der Kopf. Nicht etwa, weil Sebastian nach wie vor ausgehungert war und weil ihr Körper nach einer Mischung aus Anis und Weihrauch duftete, sondern weil ihre plötzliche Nähe seine alte Sehnsucht nach ihr weckte, die er bis zu diesem Tag in einer Kammer des schlafenden Verlangens tief in seinem Herzen verborgen, ständig mit sich getragen hatte. Dieses Verlangen erwachte nun zu neuem Leben und Sebastian wünschte sich nichts sehnlicher, als sie zu umarmen, sie an sich zu ziehen und sie ganz fest halten. Doch solange Janine, oder Sonnenherz, ihn nicht erkannte und seine Gefühle erwiderte, musste er damit rechnen, mit ihrem Schwert Bekanntschaft zu machen. Und das Ding sah echt gefährlich aus!
»Mann, mit den Zeichen der Götter..«, begann das Mädchen mit den flatternden Krähen zu sprechen und ihre Stimme klang sanft und beruhigend, wie der Wind einer warmen Sommernacht. »Die Bescheidenheit eurer Zunge macht euch zu dem, den wir erwarten. Ihr tragt die Zeichen, die uns prophezeit sind... Die Zeichen, die das Wasser nicht löschen kann...«
Ihre Hände glitten erneut und wie beschützend über Sebastians Tätowierungen und ihm schwanden fast die Sinne vor neu entbrannter Verliebtheit. Er musste sich derart zusammenreißen, dass er nur eine stammelnde Antwort hervor brachte:
»Sebastian..., so heiße ich... Erkennt ihr mich nicht mehr? Ich bin es, dein Basti Lauknitz! Und diese Zeichen der Götter, wie ihr.., wie du sie nennst, sind ganz normale Tätowierungen, die ich mir aus Kummer um dich, um euch, habe machen lassen, um mit dem Schmerz an den Armen den Schmerz des Herzens zu besiegen..!«
Janine sah ihm tief in die Augen und ihre Hand legte sich behütend auf die Zeichen seines Armes. Für ein paar Sekunden glaubte Sebastian zu spüren, dass sie eine unbekannte, unsichtbare Macht verband und ihre beider Sinne wie einer werden ließ. Sein Herz raste, als wollte es seine eigene Taktfrequenz überholen. Vorsichtig legte er seine Hand an Janines unbekleidete Taille, um ihr seine neu erwachte Zuneigung zu zeigen.
Sie erschrak so sehr, dass sie einen Satz nach hinten machte und den Halt im See verlor. Die beiden Krähen, die bislang geduldig auf ihren Schultern ausgeharrt hatten, flogen ängstlich auf und flatterten schimpfend zu den Felsen am Ufer zurück. Janine riss ihre Hand hoch und indem sie rücklings ins Wasser sank, schlug sie Sebastian mit ihrem Schwert beinahe ungewollt die Hand ab. Neben seinem eigenen Schreck schoss ihm die kurze Frage durch den Kopf, welcher Narr dieser Frau eigentlich eine solch gefährliche Waffe in die Hand gedrückt hatte.
Wie ein Delfin, so elegant schoss sie wieder aus den Fluten und sah Sebastian mit weiten Augen an. Aber sie erhob nicht mehr ihr Schwert gegen ihn. Sie stand nur da und sah ihn an, überrascht und vor Nässe triefend. Ihre spärliche Lederbekleidung klebte wie eine zweite Haut an ihrem Körper und setzte ihre weiblichen Formen mehr als deutlich in Szene, was wiederum Sebastian außer Gefecht setzte.
Er sah Sonnenherz an, wie sie so dastand und indem ihr kleine Wasserbäche aus den Haaren rannen und in glitzernden Bahnen über ihre Brüste und den flachen Bauch zogen, wirkte sie plötzlich so verletzlich, dass es ihm leid tat, sie so erschreckt zu haben.
»Es tut mir leid«, versicherte ihr Sebastian mit ruhiger Stimme, »...ich wollte dich, ...äh, euch, nicht erschrecken. Erinnerst du dich nicht an mich, an Basti Lauknitz? Wir zwei waren einmal wie zwei Herzen vereint in einem...« Verzweifelt versuchte er ihr ihre gemeinsame Vergangenheit in ihrem Sprachgebrauch in Erinnerung zu rufen. Anscheinend hatte sie alles völlig vergessen, was sie beide so innig verbunden hatte.
»Ba - shtie - laug - nids...«, begann sie, »...Mann mit den Zeichen der Götter.., wenn nicht der Glanz der Wahrheit in euren Augen strahlte, so würdet ihr jetzt nicht mehr leben!« Ganz ohne Zweifel hatte sie ihre Sicherheit zurückgewonnen und Sebastian spürte, dass sie genau das sagte, was sie meinte.
Ihr Blick hatte sich verdüstert. Wahrscheinlich hatte sie in den letzten dreizehn Jahren nicht die besten Erfahrungen mit Männern gemacht. ...Das war völliger Blödsinn. Janine dürfte gar nicht leben! Sebastian hielt ihre Hand, als sie starb... Wie konnte so etwas möglich sein? War Sonnenherz eben doch nicht Janine? Gab es nur diese verblüffende, ja geradezu perfekte Ähnlichkeit?
»Janine, kannst du mir verzeihen, ich wollte dir nichts tun, glaub’ mir! Es ist einfach nur so, dass ich immer noch in dich verliebt bin, auch, wenn so viel Zeit vergangen ist...« Hilflos stammelte Sebastian eine Erklärung und Entschuldigung in einem zusammen.
»Weißt du...«, fuhr er fort, »...wenn ich geahnt hätte, dass du noch lebst, dann hätte ich jede Stunde nach dir gesucht und...«
Sie unterbrach ihn, indem sich ihre Mine wieder ein wenig aufhellte:
»Ba - shtie - laug - nids mit den Zeichen der Götter, ihr seid dumm! Mein Name ist nicht Jan - in. Mein Vater gab mir den Namen Antarona. Das Volk nennt mich Sonnenherz. Euer Name ist Ba - shtie.., ich werde euch Glanzauge nennen. So wird man auch in der Nacht am Feuer wissen, euer Herz ist rein.« Sonnenherz beschrieb mit ihrem Schwert eine abschließende Geste und sagte dann:
»Ba - shtie.., ihr habt mich nicht gesucht..! Ich habe euch gesucht.., ich habe euch gefunden!« Antarona wandte sich dem Ufer zu, drehte sich aber noch einmal kurz um: »Kommt aus dem Wasser, Ba - shtie von den Göttern, wir müssen gehen!«
Allmählich verlor sich Sebastians Unsicherheit, seine Verwirrtheit und er war wieder in der Lage, halbwegs rational zu denken. Und diese kommandierende, arrogante Art von einer Frau, der er einmal sein Herz zu Füßen gelegt hatte, ging ihm auf die Nerven. Entsprechend barsch klang auch seine Stimme, als er umständlich aus dem kalten See watete:
»Moment mal, Antarona.., ich möchte dir noch etwas sagen! Ich weiß, dass wir einmal im Herzen verbunden waren.., ich weiß es und ich fühle es. Wenn du das vergessen hast... Ist okay.., aber spürst du das nicht auch.., das zwischen uns, oder was zwischen uns gewesen war? Und was soll das überhaupt heißen, du hast mich gefunden? Im übrigen bin ich nicht euer Götterbote...!« Sebastian kam ganz außer Atem und erreichte nach Luft ringend das Ufer.
Antarona lachte ihn auf einem Mal an... Nein! Sie lachte ihn aus! Und wie zur Bestätigung sagte sie altklug und überlegen:
»Ihr.., du, Ba - shtie, ihr bewegt euch wie von den Bergen rutschender Schnee im Winter. Es war leicht, eurer Fährte zu folgen. Sonnenherz folgte der Spur des Bären. Dann sah sie die Fährte von Ba - shtie. Der Felsenbär macht eine kleinere Spur, als ihr, Ba - shtie Glanzauge! Er zieht keine Fährte, die jeder Krieger erkennen kann. Sogar die schwarzen Reiter, die mit Blindheit geschlagenen Krieger Torbuks und Kareks können eurer Spur ohne Mühe folgen!«
Sie hielt inne und ihre großen Augen blitzten Sebastian herausfordernd an. Dann wollte sie sich dem Waldrand zuwenden. Es war kaum miss zu verstehen, dass sie sich über seinen Marsch durch die Täler lustig machte, doch was sollte das mit den schwarzen Reitern..?
»...Aber von den Phantasiegestalten Torbuk und Karek hat ja schon Vater Balmer gequasselt.« Diese Worte sprach er mehr für sich selbst, allerdings noch so laut, um Antarona damit einen kleinen Stich zu versetzen.
Janine, die jetzt Antarona Sonnenherz sein wollte, drehte sich bei dem Wort Balmer plötzlich um und sah Sebastian überrascht ins Gesicht:
»Ihr, Ba - shtie, wisst von Vater Balmer..?« Sie starrte ihn so erstaunt an, wie ein Kind, das zum ersten Mal einen Weihnachtsbaum oder einen Elefanten erblickte. In ihrem hübschen Kopf arbeitete es fieberhaft. Er konnte in ihren Augen erkennen, wie sich das komplizierte Räderwerk eines gedanklichen Mechanismus umständlich in Gang setzte. Antarona brauchte scheinbar eine Weile, um sich selbst Klarheit zu verschaffen.
»Ihr seid der Mann, der aus dem Reich der Toten zurückgekehrt ist.«, sickerte die Erkenntnis nach und nach aus ihr hervor. Dann zitierte sie gedankenverloren irgendwelche Verse: »...der aus dem Reich der Toten kommt und die Zeichen der Götter trägt.., die Prophezeihung.., der Befreier.., er steht vor den Toren der Städte Falméra, Quaronas und Zarollon und ergreift das Schwert Tálinos...«
Das Krähenmädchen schien wie in Trance, als hätte sie eine Botschaft des Himmels selbst empfangen. Sebastian für seinen Teil verstand gar nichts mehr. Nur, dass Högi Balmer ein ähnliches Zeug geredet hatte. Das alles überforderte ihn und hin und her gerissen zwischen seinen Gefühlen zu Antarona, oder Janine, oder wer sie auch immer sein mochte und der Ungewissheit, was hier eigentlich geschah, war sein Geist kurz davor, zu resignieren.
»Ihr seid es, Ba - shtie..«, hörte er plötzlich Antaronas ehrfürchtige Stimme. Sie kam auf Sebastian zu, geradezu unterwürfig, fiel vor ihm auf die Knie und legte ihm ihr Schwert vor die Füße. Dann sagte sie feierlich, als wollte sie ein Gelübde ablegen:
»Glanzauge.., Ba - shtie, die Hand, welche mein Schwert führt, die Augen, die mich sehen lassen und mein Herz, das zum Kampf bereit ist, sie werden euch dienen, so lange, bis der letzte Wind aus meiner Brust verweht ist...«
Selten war Lauknitz so perplex. Aber selten befand er sich auch in einer Situation, in der ihm die Frau, die er über alles liebte gerade eben erst ein rasierklingenscharfes Schwert durch die Brust rammen wollte, um ihm im nächsten Moment ihre Untertänigkeit zu bezeugen. Für den einfach gestrickten Bauarbeiter Sebastian Lauknitz war das alles ein wenig zu viel Wechselbad der Gefühle. Kopfschüttelnd zog er Antarona an den Armen zu sich hoch und sah ihr tief in die Augen, die seinen Blick wie grundlose tiefe Seen aufsogen.
Plötzlich spürte Sebastian trotz all der Skepsis, die sie sich noch entgegen brachten, ein tiefes Vertrauen zwischen ihnen, wie ein unsichtbares Band, das seit uralter Zeit ihrer beider Seelen vereinte, unerklärlich und mysteriös, wie ihre ganze Begegnung an diesem See.
Wie von selbst glitten Sebastians Hände über Antaronas glatte Haut zu ihren Hüften hinab und zogen sie an ihn heran. Er spürte ihre Wärme, atmete ihren Duft und musste sich energisch zwingen, ihren Reizen nicht vollständig zu verfallen und sie fest an sich zu reißen. Auf gar keinen Fall wollte Sebastian diese Frau jemals wieder verlieren und erst recht nicht, indem er sie verschreckte, oder ihr gerade erst entstehendes Vertrauen zu ihm missbrauchte. Behutsam küsste er sie auf die Stirn, während seine Hände noch immer auf ihrer schmalen Hüfte ruhten. Sie ließ es geschehen. Jedoch nur für diesen einen wundervollen Augenblick...
Als wurde ihr plötzlich bewusst, worauf sie sich möglicherweise eingelassen hatte, schob sie sich mit energischen Händen von ihm fort, hob ihr Schwert und die Lederkordel auf und knüpfte beides wieder zusammen. Während Basti noch benommen und berauscht von ihr dastand, zog sie sich ihre Beinlinge an, hängte sie sich ihre Waffe um und verschwand mit den geschmeidigen Bewegungen einer Raubkatze im Wald.
Laut klatschend schlug sich Sebastian mit der flachen Hand auf den Oberschenkel, um wieder klar denken zu können. Hatte er das alles geträumt? Nein, denn auf dem Felsen saßen noch immer die beiden Krähen und im Sand lagen Antaronas Pfeil und Bogen. Träume hinterließen für gewöhnlich keine greifbaren Dinge, wie schwarze Vögel und Waffen!
Noch bevor Sebastian den Gedanken zuende führen konnte, schälte sich Antarona wieder aus dem Blätterdickicht des Waldes heraus, ein großes Fellbündel unter dem Arm und einen mit bunten Stickereien reich verzierten Lederbeutel in der Hand. An dem Beutel, der eher einer Tasche glich, baumelte eine Lederkordel, ähnlich jener, welche Antaronas Schwert auf ihrem Rücken festhielt.
Wieder vernahm er das schon bekannte Aha - ja - tee aus ihrem Mund und auf Kommando flatterten die beiden Krähen auf und ließen sich erneut auf ihren Schultern nieder. Zu Sebastian gewandt sagte sie bestimmt:
»Kommt, Ba - shtie.., wir gehen.., es ist Zeit!«
Na die Frau hatte vielleicht Nerven! Tauchte hier plötzlich nach dreizehn Jahren als verwildertes, halbnacktes und bis an die Zähne bewaffnetes Krähenmädchen auf, brachte seine gesamte Gefühlswelt komplett durcheinander, stellte mit ihrem Erscheinen all sein Glauben und Wissen über die Naturgesetze in Frage, um dann wie beiläufig nüchtern zu sagen: Komm, wir gehen! Das schlug nun allem den Boden aus!
Diese Spontanität an ihr kannte Sebastian ja bereits von früher und heimlich bewunderte er sie dafür, doch im Augenblick hielt er das für reichlich unangebracht, zumal er noch immer nichts gegessen hatte. Diesmal wollte er sich weigern:
»Nein Antarona! Es ist nicht so, dass ich nicht mit dir kommen will.., das will ich ganz gewiss und ich möchte dich auch nicht wieder verlieren, nachdem ich dich endlich wieder gefunden habe, aber..« Sebastian unterbrach seine Rede kurz, um seine Gedanken zu sammeln und erklärte dann weiter:
»Sieh mal, ich war vier Tage lang von Högi Balmers Berg bis hierher unterwegs, ohne etwas zu Essen. Wenn ich jetzt nichts zu Essen bekomme, dann kannst du euren Götterboten gleich hier neben dem Felsen in der Erde verscharren.., dann bin ich schlicht - weg ver - hun - gert! Verstehst du das?« Den letzten Satz sprach er langsam, laut und deutlich, um ihr seine Ernsthaftigkeit bewusst zu machen.
Antarona sah ihn fragend an, überlegte kurz und griff dann zielstrebig in ihren Lederbeutel. Sie zog ein handgroßes Blätterkneuel und ein Viertel eines großen, grauen Fladenbrotes hervor und hielt es Sebastian lächelnd entgegen.
»Esst, Ba - shtie, dann kommt mit Sonnenherz. Die Sonne wandert und wird Sonnenherz nicht mehr sehen lassen, was sie sehen will, wenn sie zögert.«
Sebastian verstand von ihrem Gerede rein gar nichts, aber es war ihr wohl wichtig, zu einem bestimmten Ort zu gelangen. Heißhungrig biss er in das Brot und er konnte schwören, dass ihm niemals zuvor ein Brot so gut geschmeckt hatte. Nachdem er noch seine Hose anzog, nach seinem Rucksack und seinem nass gewordenen T- Shirt griff, setzten sie sich in Bewegung. Nebenbei wickelte Sebastian das Blätterkneuel aus und fand darin eine gegarte, kalte Geflügelkeule. Wenn er von dem Brot schon begeistert war, so war er geradezu verzückt von diesem Leckerbissen.
Sie folgten dem Ufer des Sees in die Richtung, aus der Sebastian zuvor gekommen war. Antarona ging voran und sein Blick heftete sich mehr an ihre kaum von dem knappen Lederschurz bedeckten Rundungen, als auf den Boden, auf dem sie gingen. Das ging so weit gut, bis ihm eine hinterlistige Baumwurzel ein Bein stellte und er in hohem Bogen auf dem Bauch landete.
Antarona drehte sich verwundert nach ihm um, und setzte eine erstaunte Mine auf. Doch Sebastian glaubte, dass ihre Verwunderung gespielt war und ahnte, dass sie sehr genau wusste, weshalb er an der aus dem Boden ragenden Wurzel hängen blieb. Ihr Blick verriet ihm, dass sie sich sehr wohl ihrer anziehenden Wirkung auf ihn bewusst war.
Bei jeder anderen Frau hätte er seine Empfindungen einfach abschalten können, wäre sie auch noch so aufreizend vor ihm herumstolziert, denn mehr als einmal im Leben wurde Sebastian gezwungen zu lernen, wie man Gefühle rationell kontrolliert und steuert.
Diesem Krähenmädchen jedoch gehörte seit langer Zeit sein Herz und er musste sie für Jahre entbehren und seine Sehnsucht nach ihr unter meterdicker Selbstbeherrschung begraben. Ihr war Sebastian hoffnungslos verfallen. Das schien sie freilich nicht zu vermuten und ebenso wenig konnte sie wissen, dass er sie aus einer tiefen, vertrauten Liebe heraus begehrte, die so stark war, dass sie mit ihrem bohrenden Schmerz sein Hungergefühl ablöste.
Wie ein treuer Hund lief er hinter Antarona her, die wie eine Elfe über das unebene Gelände sprang. Irgendwie gelang es Sebastian, stur dorthin zu sehen, wohin er trat. Schlagartig wurde ihm klar, dass er sich an einem Wendepunkt seines Weges befand.
Eigentlich wollte Basti dem Weg talwärts folgen, bis er nach Hause finden würde. Doch nun folgte er Antarona, die wie eine Reinkarnation Janines wieder in sein Leben getreten war. Und er wollte diese Frau, ob Antarona, Sonnenherz, oder Janine kein zweites Mal verlieren, egal auf welche Weise! Dabei konnte sich Basti nicht einmal erklären, auf welche Weise ihm das Schicksal seine große Liebe wiedergegeben hatte...
Plötzlich kam er auf einen Gedanken, der ihm so absurd und phantastisch zugleich vorkam, dass er ihn sofort wieder verwerfen wollte. Es war allerdings die einzige irrationale Erklärung, die ihm einfiel. Eine rationale Erkenntnis für das, was er in den letzten Wochen erlebt hatte, gab es ohnehin nicht.
Sebastian fragte sich insgeheim, ob es ein Leben nach dem Tod gibt. Gab es so etwas wie das Paradies, einen Himmel, ein Nirvana, Shakareh, oder so etwas wie die ewigen Jagdgründe, wohin man nach dem irdischen Tod ging? Wenn Janine nach ihrem Tod vor dreizehn Jahren an einen solchen Ort gelangt war, wo waren sie dann bitteschön jetzt und hier? War Sebastian ihr in das Leben nach dem Tod gefolgt, nachdem er an den Folgen seines Sturzes am Zwischbergenpass gestorben war? War nach dreizehn Jahren sein Wunsch in Erfüllung gegangen, ihr in die Welt zu folgen, in die sie hinübergewechselt war, als sie ihn verließ? Bei solchen Überlegungen bekam Sebastian eine Gänsehaut! Das überstieg bei weitem seinen kleinen Geist!
Doch je mehr sich seine Vernunft gegen diese Möglichkeit sträubte, desto deutlicher trat sie in sein Bewusstsein als etwas Reales und Greifbares. Als wäre es gerade eben gewesen, konnte er sich noch genau an Janines letzte Worte erinnern:
»Glaube daran.., wir sehen uns wieder.., drüben.., irgendwann. Ich liebe dich!« Dann war sie still von ihm gegangen. Diese Worte sprach sie damals, und das fiel Sebastian erst in diesem Augenblick auf, als wäre sie fest davon überzeugt gewesen, dass sie sich an einem anderen Ort, in einer anderen Welt wiedersehen würden. Wie, wenn sie an der Schwelle zu dieser Welt, in die sie aufgebrochen war, gespürt hatte, dass es einen solchen Ort tatsächlich gibt.
Aber alle Menschen, die glaubten, schon einmal auf dem Weg ins Jenseits gewesen zu sein und die Sebastian davon hatte berichten hören, sprachen von hellen Lichttunneln und körperloser Existenz. Und körperlos war an diesem Ort ganz sicher nichts! Er spürte Schmerzen, Hunger, eiskaltes Wasser und nicht zuletzt das sehnsüchtige, heimliche Verlangen nach Antaronas samtwarm duftender Haut. Wenn das körperlos war, dann wollte er nicht mehr Basti Lauknitz heißen!
Trotzdem! Konnte es nicht sein, dass all diese Personen, die von Nahtod- Erlebnissen berichtet hatten, in Wahrheit gar nichts darüber wussten, weil sie ja das Leben nach dem Tod gar nicht vollständig erreicht hatten? Möglicherweise war alles ganz anders, als es sich die Menschen im irdischen Leben vorstellten. Wer konnte das schon sagen, denn nie war jemand von dort drüben zurückgekehrt!
Dennoch war Janine gegenwärtig, als Antarona zwar, aber real existent. Und da seines Wissens nach nie jemand aus einem Leben nach dem Tod in die irdische Welt zurückgekehrt war, gab es nur die eine, zugegeben sehr phantastische Möglichkeit: Er, Sebastian, war in ihre Welt gelangt, an den Ort, an dem sich angeblich die menschlichen Seelen nach dem irdischen Tod versammelten und wieder fanden.
Nur war diese Welt entgegen anderer Behauptungen nicht körperlos und auf einer übergeordneten Ebene des Geistes angesiedelt, sondern so real, wie die Welt, aus der sie kamen, mit den gleichen Stärken und Schwächen der Menschen und mit den gleichen Entbehrungen und dem selben Empfinden von Liebe, Glück und Schmerz, mit dem Gefühl von Freude, Ärger, Wut und Zufriedenheit. Diese Welt war ebenso eine Herausforderung an den menschlichen Körper und Geist, wie die vorige, eben nur mit einer neuen Chance, sich in ihr zu beweisen und zu bewähren!
War das die Antwort auf alle seine Fragen der letzten Wochen? War er im Hinblick auf sein Leben in Norddeutschland tot? Befand er sich tatsächlich in einem Leben nach dem irdischen Dasein? Sebastian zermarterte sein Gehirn, musste aber zugeben, keine wirkliche Antwort sich auch nur annähernd vorstellen zu können...
Ein donnerndes Rauschen riss ihn aus seiner Philosophie einer ganz neuen Weltanschauung. Sie standen vor dem grandiosen Wasserfall, den er bereits vor zwei Stunden bewundert hatte.
Antarona hielt vor den zerklüfteten, aufgeworfenen Felsen, die wie eine Barriere der Felswand vorgelagert waren, über die das tosende Wasser in den See donnerte. Bis auf das Messer an ihrem Oberschenkel legte sie alle Waffen ab und streckte Sebastian ihr Schwert entgegen:
»Ba - shtie, wartet hier, bis ich gesehen habe, was geschieht. Kommen Reiter, dann verbergt euch in den Felsen...« Dabei wies sie auf die von einer Laune der Natur übereinander geworfenen, von der Erosion rund geschliffenen Granitblöcke. Sebastian nahm ihr das Schwert aus der Hand...
Und ließ es vor Schreck beinahe in den Sand fallen. Ganz naturgemäß war er darauf vorbereitet, eine Klinge von mindestens vier Kilogramm Gewicht in die Hände zu bekommen. Diese Waffe jedoch wog weit weniger. Selbst für ein Material wie Aluminium war sie noch zu leicht. Am reich verzierten Griff gefasst, wog Sebastian die Waffe in seiner Hand und es kam ihm vor, ein Kinderspielzeug aus Plastik, anstelle einer Stahlklinge in den Händen zu halten.
Antarona sah, wie erstaunt er war und wie er mit dem Schwert ein paar Probehiebe durch die Luft versuchte. Ermahnend sprach sie:
»Seid achtsam, Ba - shtie - laug - nids, die Klinge ist scharf und vermag selbst Stein zu schneiden!« Mit diesem Hinweis zog sie sich ihre Beinlinge und das gewickelte Oberteil aus und gab ihre festen Brüste ungeniert seinem Blick preis, als wäre es das Normalste der Welt. Die beiden schwarzen Vögel schwangen sich von ihrer Schulter, breiteten ihre Schwingen aus und segelten gemächlich davon. Ihre Kleidungsstücke ließ Antarona liegen, wo sie hinfielen und sprang unvermittelt mit einem Satz kopfüber in das kalte Wasser des Sees.
Sebastian stand verdutzt da und beobachtete sie, wie sie mit einer ihm unbekannten Schwimmtechnik schnell, wie eine Wettkampfschwimmerin durch das Wasser glitt, geradewegs auf den Wasserfall zu. Kurz vor der Stelle, an der das Wasser des Flusses in den See stürzte und ein weißes, glitzerndes Chaos aus Wirbeln, Strudeln und Spritzern inszenierte, tauchte sie weg.
Als Antarona nach knapp zwei Minuten nicht wieder auftauchte, wurde Sebastian nervös und war nach fünf Minuten völlig verrückt vor Angst. So etwas Durchgeknalltes, dachte er und machte sich klar, dass er selbst gerade mal so gut schwimmen konnte, wie eine bleierne Ente. Es war ganz ausgeschlossen, dass er ihr helfen konnte, wenn sie unter Wasser in Not geriet.
»Aber wer hat eigentlich behauptet, dass Frauen logisch und vernünftig sind«, schimpfte er leise vor sich hin, indem er aufgebracht und halb tot vor Angst am Ufer hin und her lief. Aber das war original Janine, so wie sie schon damals gewesen war. Bereits zu dieser Zeit war Sebastian oft verzweifelt gewesen, weil sie immer wieder etwas völlig Verrücktes tat und sich köstlich amüsierte, wenn er sich darüber aufregte. Das war ihr Wesen, ihr Lebensstil, den sie offensichtlich noch immer in vollen Zügen genoss.
Solange er Antarona, oder Janine kannte, lebte eine ausgeprägte Kindlichkeit in ihrem Charakter, die sie oft zu spontanen Einfällen anregten, die außerhalb jeglichen, vernünftigen Verstandes lagen. Selbst, als sie bereits todkrank war, brachten ihn manche ihrer fixen Ideen, die sie eben mal aus einer Laune heraus in die Tat umsetzte, zum Verzweifeln und Lachen gleichermaßen.
Annähernd eine viertel Stunde lang starrte Sebastian auf die bewegte Wasseroberfläche und büßte vor Angst zehn Jahre seines Lebens ein! Dann.., plötzlich.., tauchte sie ein paar Meter vor dem Ufer wieder auf. Sie schoss förmlich aus dem Wasser und blieb im hüfthohen Nass stehen. Gerade, als ihr Basti seine Empörung über dieses leichtsinnige Verhalten hinüber rufen wollte, gewahrte er etwas seltsames in ihren Händen...
Ihre langen, schwarzen Haare klebten nass auf ihren Schultern und Brüsten und ihr Leib glänzte wie mit Klarlack überzogen, als sie sich dem Zenit zuwandte und der Sonne etwas entgegen hielt, als wollte sie dem himmlischen Feuerball ein Opfer bringen. Der Gegenstand war etwa fußballgroß und sah aus, wie eine transparente, bläulich- türkis schimmernde Kugel. Irgend eine weiße, milchige, aber sehr intensive Strahlung schien von dieser kristallenen, oder gläsernen Kugel auszugehen und schien Antaronas Hände zu durchdringen, wie Röntgenstrahlen.
Wie bei einem Ritual hob sie die Kugel mit ausgestreckten Armen zur Sonne hoch und begann mit ihrer hellen Stimme eine Art Gesang, der so lieblich und verträumt klang, als würde er aus dem Munde eines flüchtigen, filigranen Fabelwesens in den Wind gehaucht und von diesem vielstimmig fort getragen.
Die Kugel in Antaronas Händen schien sich, abrupt dem Sonnenlicht ausgesetzt, zunächst zu verfinstern, ohne jedoch ihre Strahlung einzubüßen, die sie umgab. Dann, allmählich kehrte die hellblaue Transparenz zurück und die Kugel begann zu strahlen und zu flimmern, als sei sie einem intensiven Sankt Elmsfeuer ausgesetzt. Sebastian gewann den Eindruck, die Kugel sog reine Sonnenenergie in ihr Inneres hinein. Plötzlich trübte sich ihr Kern wieder etwas ein und schattenhafte Gebilde bewegten sich in ihr, wie von einer unbekannten Magie gesteuert.
Das alles sah so phantastisch und faszinierend aus, dass er wie angewurzelt dastand, Antaronas Schwert noch in der Hand und mit offenem Mund staunte. An Zauberei glaubte Sebastian freilich nicht, doch wie auch immer dieser Trick funktionierte, er war so sehr beeindruckt, dass es ihm schlichtweg die Sprache verschlug!
Dann senkte Antarona ihre Arme wieder, drückte die Kugel an ihre Brüste und tauchte wieder unter. Wasserringe breiteten sich an der Stelle aus, wo sie verschwand. Sebastian blieb nichts anderes übrig, als erneut zu warten. Diesmal jedoch verging er nicht mehr vor Angst. Antarona schwamm augenscheinlich mit der geübten Sicherheit einer professionellen Perlentaucherin. An diese Begabung konnte er sich bei ihr nicht mehr erinnern.
Während er auf Antaronas Auftauchen wartete, trat ihr Schwert wieder in sein Bewusstsein. Eine solche Waffe hatte er noch nie in den Händen gehalten. Der Griff wog schwer wie Edelstahl. Die Klinge aber, und das war das Faszinierende daran, erinnerte vom Gewicht her an einen Plastik- Hohlkörper. Doch wie er das Schwert auch drehte und wendete, es war definitiv aus einem hellen, bläulich glänzenden Metall. Wenn er die Waffe hob, oder senkte, oder seitlich einen Hieb simulierte, so schien eine unsichtbare Kraft die Führung des Schwertes zu unterstützen. Es fühlte sich an, als ob die Waffe seine Bewegungen vorausahnen und aus eigener Kraft begünstigen konnte.
Nun erklärte sich Sebastian auch, wie Antarona mit ihrer grazilen Gestalt ein solches Schwert führen konnte, als sei es aus Styropor. Er befühlte die Schneide der Klinge und musste wiederum staunen, wie scharf diese geschliffen war. Seine beiden Bowiemesser, beide aus bestem Solingen- Stahl, erreichten selbst bei tagelangem, umsichtigen Schleifen nicht annähernd eine solche Schärfe.
Er erinnerte sich, was Antarona ihm sagte, als sie ihm das Schwert in die Hand gab. Die Klinge vermag selbst Stein zu schneiden! Ungläubig, aber neugierig geworden, legte Basti die Schneide bedächtig an einen Granitfelsen und zog sie mit beträchtlichem Druck nach unten. Der Stein war zwar nicht tief zerschnitten, was ihn auch sehr gewundert hätte, doch war auf der rauhen Oberfläche ein leicht unterbrochener, feiner Schnitt zu erkennen, wie mit einem sehr dünnen Eisensägeblatt beigebracht. Behutsam prüfte er mit dem Daumen die breite Klinge und musste feststellen, dass diese nicht die geringste Spur eines Schadens genommen hatte.
Von einem solchen Material hatte Sebastian nie zuvor gehört. Wenn die Industrie dieses Metall in die Finger bekäme, würde sich die Waffentechnologie der ganzen Welt wohl binnen kürzester Zeit revolutioniert haben. Kampfflugzeuge, Panzer, Gewehre, alles würde mit diesem Stoff effizienter werden und... Mit diesem Metall in den falschen Händen, wieder neue, grausame Kriege entfesseln!
Bei dieser Vorstellung hoffte Sebastian, dass dieses Metall ein unentdecktes Geheimnis dieser verborgen liegenden Täler bleiben würde. Vielleicht war es doch keine so gute Idee, mit seinen Kenntnissen über diese geheime Welt nach seiner Heimkehr schnurstracks zur Presse zu laufen. Man würde ihm auch kaum Glauben schenken. Eine Kugel, die nur mit Sonnenenergie wie ein Fernseher funktionierte...
Völlig überraschend spritzte plötzlich das Wasser im See auf und Antarona erhob sich aus den Fluten und stieg ans Ufer, ganz offensichtlich ziemlich durchgefroren. Ihr nasser Körper zitterte vor Kälte und ihre sinnlichen Lippen waren lila angelaufen.
Wie ganz selbstverständlich ging Sebastian auf sie zu, nahm sie in seine Arme und drückte ihren nassen, kalten Leib fest an sich. Er spürte das Zittern, das durch ihren Körper lief und wünschte sich ein weiches Frottierhandtuch her, um sie besser wärmen zu können. Zärtlich versuchte er ihr die nassen Haare aus dem Gesicht zu streichen. Ihre großen Augen funkelten ihn unter den nassen Strähnen hervor an, dunkel und doch leuchtend, unergründlich und geheimnisvoll.
Dann löste sie sich plötzlich mit der Gewandtheit einer Schlange aus seinen Armen, hob ihr Oberteil vom Boden auf und band es sich wieder vor ihre nassen Brüste. Sie nahm ihm das Schwert ab und hängte es sich mit den anderen Waffen auf den Rücken, über den noch Bäche von Wasser aus ihren Haaren rannen.
Antarona dachte gar nicht daran, sich abzutrocknen und die dünne Tierhaut ihres Hüftschurzes klebte ihr nass und durchscheinend auf der Haut, so dass Sebastian peinlich berührt wegsah, obwohl er eigentlich geneigt war, ihre Formen in diesem Zustand genauer zu betrachten. Sie schien seine sehnsüchtigen Blicke gar nicht wahr zu nehmen, sondern hob ihre Mokkasinstiefel, ihr Fellbündel und den Lederbeutel vom Boden auf und sagte hastig:
»Kommt, Ba - shtie - laug - nids, nehmt euer Bündel und folgt mir. Ihr werdet jetzt schnell sein.., Glanzauge.., sehr schnell...« Damit kletterte sie vor ihm her in die Felsen und nahe an die Felswand heran, über die der Wasserfall hinweg sprühte. Sebastian kam erst gar nicht dazu, sie zu fragen, welche ihrer spleenigen Ideen so plötzlich zur Eile mahnte, sondern schnappte nur seinen Rucksack und sein T- Shirt und folgte ihr blind. Nein, er vertraute ihr blind!
Er, Sebastian Lauknitz, geübter Alpinist mit über fünfzehn Jahren Westalpenerfahrung, hatte Mühe, dieser halbnackten, pitschnassen Krähenfrau im Fels zu folgen! Antarona stieg mit bloßen Füßen und mit der Schnelligkeit und Sicherheit einer Bergziege über die Steinflächen, der Sebastian nicht umhin kam, Bewunderung zu zollen.
Sie zwängten sich zwischen nassen, glitschigen Felsen hindurch, an die hohe Bergwand, die im aufgewühlten Wasser des Sees fußte. Offenbar lag unter der Wasseroberfläche verborgen eine Art von Felspodest, oder Sims, auf dem sie knietief hinter den dichten Vorhang des rauschenden und fallenden Wassers wateten. Von einer Sekunde zur anderen waren sie beide vom Sprühnebel des fallenden Wassers bis auf die Knochen durchnässt, was Antarona freilich nichts mehr ausmachte.
Etwa in der Mitte des breiten Wassersturzes, tat sich überraschend eine drei Meter hohe und ungefähr zwei Meter breite Grotte in der rauhen Felswand auf. Sie lag ungefähr zwei Meter über dem Wasserspiegel. Wie ein Aal glitt Antarona durch die Felsen zur Höhle hinauf und blickte sich, oben angekommen, wartend zu Sebastian um. Völlig aus der Puste stand er kurz darauf neben ihr und blickte ehrfürchtig in eine andere, unterirdische Welt hinein.
Ein großer, fast zehn Meter hoher Raum, von mächtigen Säulen aus weißen und gelben Stalagmiten und Stalaktiten gestützt, breitete sich vor seinen staunenden Augen aus. Das sich im Wasserfall brechende Sonnenlicht flutete schräg herein und erhellte den halben Raum, wie einen Saal. An dessen Rückwand lagerten auf trockenen Felspodesten und in Felsnischen verschiedene, kleine Habseligkeiten, die wohl Antarona gehören mussten. Weiter hinten im Höhlenraum zweigten noch weitere, kleine und dunkle Gänge ab und verschwanden im Nirgendwo.
Noch bevor er Zeit fand, Antarona etwas zu fragen, warf sie ihr Fellbündel zwischen ein paar große, trockene Felsen und gebot ihm das gleiche mit seinem Rucksack zu tun:
»Lasst euer Bündel hier, Ba - shtie«, sagte sie und ihre Stimme klang gehetzt. »Ihr müsst jetzt schnell sein.., kommt mit mir.., Ba - shtie, im Weiler geschieht etwas sehr böses...« Was auch immer sie damit sagen wollte, sie wandte sich sogleich wieder dem Eingang der Grotte zu.
Sebastian zögerte noch, denn er wollte seinen Rucksack mit den Goldmünzen nicht einfach seinem Schicksal und schon gar nicht einem glücklichen, fremden Finder überlassen.
Antarona blickte vorwurfsvoll zurück, als er ihr nicht gleich folgte: »Was ist.., Ba - shtie - laug - nids, ihr müsst euch eilen, mein Volk braucht uns!«
»Aber mein Rucksack...« Er kam nicht dazu, den Satz zu beenden. Antarona kam ungestüm zu ihm zurück, stellte sich auf die Zehenspitzen, schlang ihre nassen Arme um seinen Hals und drückte ihm einen flüchtigen, aber festen Kuss auf den Mund. Das ging so rasch, dass er gar nicht begriff, wie ihm geschah. Ebenso schnell löste sie sich wieder von ihm, sah ihm tief in die Augen und sagte beschwörend, fast flüsternd:
»Seid still! Eurem Rucksack wird nichts geschehen, dieser Ort ist nur Sonnenherz bekannt... Kommt endlich!« Fasziniert spürte Sebastian noch ihren Kuss und eine geheimnisvolle, magische Kraft mit fünf Buchstaben, zog ihn unweigerlich automatisch hinter Antarona her.
Sie kletterten über die nassen Felsen zum Seeufer zurück. Sofort, ohne sich noch einmal umzublicken, begann Antarona ihren leichtfüßigen Aufstieg über die Serpentinen hinauf zum Felsriegel, von wo aus er vor ein paar Stunden erstaunt über das ganze Tal geschaut hatte. Mühsam hetzte Basti hinter ihr her und fragte sich, ob sie schon zu ihrer gemeinsamen Zeit so sportlich gewesen war. Wenn, dann hatte sie es ihm nie gezeigt!
Seine Lungen drohten zu platzen, als Sebastian oben bei ihr ankam. Er musste kurz seine Hände auf die Knie stützen, um wieder zu Atem zu kommen. Und den brauchte er, denn er hatte einige Fragen an seine wunderschöne Begleiterin! Doch ihr schien dieser Gewaltaufstieg nicht im mindesten etwas ausgemacht zu haben.
Noch bevor er den Mund aufmachen und ihr Fragen stellen konnte, ging Antarona los, dem Waldweg folgend, den Sebastian an diesem Tag schon einmal missmutig entlang gelatscht war. Zu seiner vollständigen Verzweiflung fiel Antarona in einen trottartigen Lauf, den sie offenbar beizubehalten gedachte. Basti ging an die äußerste Grenze seiner Belastbarkeit und spie sich fast die Lungenflügel aus dem Hals, als er versuchte, mit ihr Schritt zu halten...
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