Das Geheimnis von Val Mentiér
 
9. Kapitel
 
Geheimnisvolle Entdeckungen
 
ngefähr drei Wochen nach dem Besuch des Doktors begannen jene Ereignisse, die Sebastian Lauknitz schließlich daran zweifeln ließen, dass er jemals wieder in sein wohl bekanntes, bequemes und zivilisiertes Leben würde zurückkehren können...
Der Tag, an dem Andreas sie verließ und der Alte sich wortkarg seiner Herde zuwandte, gestaltete sich träge. Sebastian döste mit Rona und Reno untätig in der Sonne, holte ab und zu Wasser, durchforstete Balmers Hütte nach etwas Essbarem und teilte sich schließlich mit den Hunden drei letzte Streifen von Balmers Trockenfleisch. Irgendwann um die Mittagszeit kam er auf den Gedanken, Tagebuch zu führen. Schon früher schrieb er die Erlebnisse seiner Bergtouren in kleine Chinakladden. Jetzt wollte er ausführlich Tagebuch führen, um bei seiner Rettung einen vollständigen Bericht abgeben zu können. Das in bunte Seide gebundene Büchlein aus seinem Rucksack beherbergte noch unzählige unbeschriebene Blätter, die gefüllt werden wollten. So begann Sebastian seine Aufzeichnungen. Zwischendurch sprach er mit den beiden Hunden, als wären sie verständnisvolle Zuhörer gewesen. Sie sahen ihn mit treuem Blick an und spitzten die Ohren, jedes Mal, wenn er das Wort an sie richtete. Er glaubte, sie spürten die Freundschaft, die er ihnen entgegenbrachte.
Gegen Abend kam Balmer wie gewohnt mit seiner Herde von der Hochalm. Sie verzehrten zusammen die Köstlichkeiten, die er wie gewohnt, seinem Tragegestell entzauberte. Inzwischen zogen von den nördlichen Bergen mächtige, grauviolette Wolkenbänke heran. Allmählich wurde Basti bewusst, dass die Prophezeihung des Väterchens keineswegs nur leeres Geschwätz waren. Da braute sich mächtig etwas zusammen!
Es verging keine Stunde, schon kam Wind auf, der sich von Minute zu Minute steigerte und die Bäume am Waldrand ordentlich durchschüttelte. Gelbe Schwaden von Blütenstaub zogen eilig über die Almwiese und flohen wirbelnd den Gletschern entgegen. Über den Bergen im Norden hing bald eine violettschwarze Kulisse. Die im letzten Sonnenschein davor stehenden, leuchtenden Gipfel strahlten in unnatürlich reinem Weiß. Schon hüllten erste Wolken die hohen Flanken ein. Bald war auch der letzte Berg mit dem herannahenden Wetter zu einem dichten Grau verschmolzen. Blitze zuckten in dem entfernten Gebräu und ließen die Wolken plastisch hervortreten und gespenstisch leuchten.
Auch über Balmers Hausbergen zog nun das Wetter seinen ganzen Unmut zusammen. Die gleißenden Schneefelder verdunkelten sich, gaben schwarzen Wolken nach, die erst die Gletscher, dann den Bannwald eroberten. Immer heftiger fegte der Wind durch die engen Reihen der Arven und Fichten, dass diese sich bis zu ihrer halben Höhe hernieder beugten.
Väterchen Balmer begann alle losen Teile an der Hüttenwand in das Innere seiner Behausung zu verfrachten. Dann trug er Reno in die Hütte. Rona folgte ihm, wie ein Magnet. Selbst den groben, schäbigen Tisch drehte Balmer um und beschwerte ihn mit Steinen. Sebastian fragte sich, ob das nicht doch ein wenig übertrieben war. Als alles gesichert schien, setzte sich Balmer zu ihm auf die Bank und sie warteten auf das Wetter.
Ihre Geduld wurde nicht lange auf die Folter gespannt. Zuerst waren es eine Reihe kurz aufeinander folgender Blitze, die bedenklich nahe in den Wald einschlugen und Sebastian zusammenzucken ließen. Kurz darauf folgte ein Donnern und Krachen, als würde ein Schlachtschiff all seine Geschütze auf einmal abfeuern. Das Echo hallte von den Bergwänden wieder und verstärkte noch den Effekt. Erneut zischten Blitze kreuz und quer durch das Wolkengebräu, gefolgt vom Paukenschlag ihrer dramatischen Begleitmusik.
Dann öffnete der Himmel all seine Schleusen. Wie das Wasser einer überschwappenden Brandungswelle rauschte von einer Sekunde zur anderen ein Platzregen auf die Alm, der den Eingeschlossenen augenblicklich jegliche Sicht nahm. Ihnen blieb nur noch die Flucht in die schützende Hütte. Drinnen öffnete Lauknitz den Fensterladen einen Spalt, um hinaus zu sehen. Doch außer einer grauen, rauschenden Wand konnte er nichts entdecken.
Vater Balmer entzündete zwei Öllampen aus Blech. Sofort verbreitete sich ein warmes, flackerndes Licht. Sie setzten sich auf die kleine Holzbank vor dem gemauerten Ofen und warteten. Reno lag mit seiner treuen Freundin daneben. Außer zum Schlafengehen hatte Basti die Hütte kaum länger als eine Minute lang betreten. In diesem Moment kam sie ihm größer und geräumiger vor, als anfangs angenommen.
Wie stumme Geister standen die verschiedensten Werkzeuge und Geräte in den Ecken und warfen durch das Licht der Lampen Schatten, wie tanzende Gespenster. Ebenso fanden sich Gebrauchsgegenstände an den Wänden, oder als Unterlast an der Hüttendecke, wo sie sich mit einigen getrockneten Lebensmitteln und Kräutern die mächtigen Balken teilten. Sebastian befragte Väterchen Balmer nach Gebrauch und Handhabung aller Gegenstände und der wurde nicht müde, ihm jedes einzelne zu erklären.
Da gab es beispielsweise zwei aneinander fixierte, krumme Knüppel mit einer Eisenspitze am gemeinsamen Ende, welche er als Pflug benutzte. Eine Art Brettersteg mit einseitig hochgezogenen Unterlatten entpuppten sich als ein brauchbarer Schlitten. Ein grober, einfacher Rahmen, aus dessen Hölzern fast zwanzig Zentimeter lange Holzkrallen ragten, diente Balmer als Transportschlitten für Heu. Und neben vielen anderen, durchaus nützlichen Dingen hing an der Wand ein altes verrostetes Schwert. Es war eines jener Schwerter, die Basti oft im Fernsehen in Ritterfilmen bewundern konnte, nicht sehr groß, jedoch ziemlich schwer, so dass berechtigte Zweifel daran aufkommen mussten, ob sein Träger ein normalwüchsiger Mann gewesen war.
Noch bevor er Väterchen Balmer über diese historische Waffe befragen konnte, entstand plötzlich draußen ein Poltern, Krachen und Rumoren. Die Erde begann leicht zu beben und lies einige kleine Gegenstände aus den Regalen zu Boden scheppern. Augenblicklich stand Rona mit gespitzten Ohren im Raum und auch Reno hob angespannt seinen Kopf. Dann drang ein von Sekunde zu Sekunde stärker werdendes Rauschen an ihr Ohr, das sich zum Orkan steigerte.
Fragend sah Basti den Alten an. Der beugte sich vor und sprach beinahe feierlich: »Das Wasser kommt!«
»Wie, das Wasser kommt...?«, fragte Lauknitz kopfschüttelnd. »Meint ihr eine Lawine, oder Mure, oder was kommt da?«
Ängstlich, ja fast schon ehrfürchtig schlug Vater Balmer die Handflächen aneinander, wippte mit dem Oberkörper vor und zurück und sprach: »Es ist das Wasser von den Bergen, Herr... Manchmal nimmt das Wasser etwas von dem mit, was Väterchen Balmer den Bergen genommen hat. Die Götter in den Bergen senden uns den gelben Hauch der Leidenschaften, aber sie fordern auch. Vor zwei Jahren haben sie Högi Balmer zwanzig Stück Vieh genommen!«
An irgendwelche Götter glaubte Sebastian natürlich nicht. Also konnte es sich allenfalls um einen Sturzbach handeln, der durch den heftigen Regen ausgelöst wurde. Dazu hatte wohl der milde Wind mehr als üblich Gletschereis zum abschmelzen gebracht, dessen Wasser rasch die Bäche füllte.
Das wollte er genau wissen. Mit seinen Krücken humpelte er zur Tür. Er musste sich geradezu dagegen stemmen, um sie aufzudrücken, so gewaltig lag der Wind darauf. Unverhofft sprangen ihm Sturm und Regen ins Gesicht. Ein unheimliches, ohrenbetäubendes Rauschen klang drüben von der Almwiese herüber. Doch so sehr sich seine Augen auch bemühten, das Grau der Regenwand zu durchdringen, er konnte nichts erkennen.
Entschlossen humpelte er in die Hütte zurück und durchkramte seinen Rucksack nach dem Regenponcho. Er warf ihn sich über die Schultern und band die Kapuze zu. Als der Alte dies sah, sprang er von seiner Bank auf und hielt ihn am Arm fest:
»Ihr dürft dort nicht hinaus, Herr, das Wasser wird euch mit fortnehmen bis hinunter in das Meer! Hört auf Väterchen Balmer, Herr, bleibt..., so hört doch, es ist gefährlich dort draußen!«
»Ja, ist ja gut«, versuchte Sebastian ihn zu beruhigen, »ich will ja nur mal nachsehen, dass uns das Wasser nicht bedroht, OK?«
Aber Balmer ließ nicht locker: »In Högi Balmers Hütte seid ihr sicher, Herr, glaubt eurem Väterchen..., bitte..., bleibt, hier drinnen seid ihr sicher!«
»Ich gehe nur ein kleines Stückchen... Will mal nachsehen..., nur ein paar Schritte!« Damit ließ Basti den Alten in der Hütte zurück und stapfte hinaus. Sofort wurde er wie von einer unsichtbaren Faust gepackt. Der Sturm griff in seinen Regenponcho und drohte ihn augenblicklich aus dem Stand zu werfen. Mit aller Kraft und der Hilfe seiner Krücken stemmte er sich dagegen. Mühsam schob sich Sebastian auf die Almwiese hinaus, dem Getöse entgegen.
Plötzlich, wie hergezaubert, war der Alte neben ihm. Er griff ihm unter die Arme und sie drückten sich gemeinsam gegen den heftigen Sturm vorwärts. Schnee und Regen peitschte ihnen ins Gesicht und riss Basti fast die Kapuze vom Kopf. Sein Regenponcho wurde zur reinen Dekoration. Die Windböen griffen hinein und schleuderten ihm den nassen Gummistoff um die Ohren und vor das Gesicht, dass ihm Hören und Sehen verging. Im Nu war er trotz des Umhangs völlig durchnässt.
Sie stapften über die Almwiese hinauf, dem Waldrand entgegen, mit zusammengekniffenen Augen und der Hand vor Nase und Mund, um überhaupt atmen zu können. Jäh tauchte ein großer Schatten im Wettergebräu vor ihnen auf und wuchs hoch über ihre Köpfe. Zunächst glaubte Lauknitz an einen mächtigen Felsen, der sich oben über dem Bannwald in der Felswand gelöst hatte. Doch als er ihn berührte, zog er rasch seine Hand zurück! Es war Eis!
Vor ihnen lag ein riesiger Eisblock, wie ein zweistöckiges Haus, so groß! Wo kam der her? Basti blickte bergwärts, doch das war sinnlos. Keine zwei Meter weit konnte er in diesem Höllenwetter sehen. Das Ding konnte nur von den Gletschern oben stammen! Er malte sich im Geiste aus, was es bedeutete, wenn hier unten schon so ein riesiger Eisblock von den Gletschern lag, die er bisher nur in weiter Höhe herabblinken sah. Hier waren offenbar größere Naturgewalten am Werk, als er es sich vorstellen konnte.
Plötzlich, wie zur Bestätigung standen sie abrupt vor einem Abgrund! Aus dem Nichts tauchte er auf! Die Almwiese endete einfach und zu ihren Füßen schäumten und wirbelten schmutziggraue Wassermassen in der Tiefe. Balmer konnte ihn gerade noch zurückreißen, als der weiche Almboden unter ihren Füßen nachgab und in die unbändigen Fluten stürzte. Dort unten wurden Eisblöcke und ganze Baumstämme zu Tal geschwemmt. Eine gewaltige Schlucht hatte das Wasser in den Almboden gegraben. In ihr wälzte sich der Schutt der Berge zu Tal!
Sebastian hatte genug gesehen! »Ihr braucht euch nicht zu ängstigen, Väterchen Balmer, der ganze Mist geht hier durch und an der Hütte vorbei!«, brüllte er den Alten durch den Sturm hindurch an. Balmer nickte nur und zog ihn vom Abgrund weg, zurück in Richtung Hütte.
Pitschnass, aber dankbar schlossen sie wenig später die Hüttentür hinter sich. Die Stille, die sie mit einem Mal umgab, schien Sebastian mehr in den Ohren zu dröhnen, als das Wetter draußen. Freudig wurden sie von Rona und Reno begrüßt, obwohl sie ja nur einige Minuten fort waren.
Noch einen ganzen Tag lang tobte das Wetter. Einige Male hörten sie es noch fürchterlich Rumpeln und Lauknitz glaubte, der Erdrutsch würde die ganze Alm mitsamt der Hütte den Berg hinabspülen. Doch Väterchen Balmers Heimstatt blieb stehen.
Dann beruhigte sich der Himmel. Am Morgen beschlossen sie gemeinsam zum See hinauf zu steigen, um festzustellen, welchen Flurschaden das Unwetter dort oben angerichtet hatte.
Auf dem Weg dorthin dachte Sebastian darüber nach, welche Gebirgsregion dieser Erde von solch schlimmen Wettern überzogen wurde. Solche heftigen Regenfälle waren ihm nur aus Südamerika und Asien bekannt. Dort sprach jedoch kein Volk Deutsch mit Schweizer Akzent! Also blieb die Frage zur Bestimmung seines Aufenthaltsortes weiter ungeklärt.
Als sie den See erreichten, bot sich ihnen ein völlig unbekanntes Bild. Der See war auf das Doppelte seiner ursprünglichen Größe angeschwollen und erreichte mit seinem Ufer beinahe das kleine Toilettenhäuschen. In seinem Wasser trieben mächtige Eisblöcke umher. Sie glitzerten im Licht wie riesige Diamanten. Der Abfluss des Sees hatte den natürlichen Wall des Almbodens durchbrochen und gigantische Felsblöcke freigelegt. Zwischen ihnen hindurch gurgelte nun das Wasser zu Tal. Vor den Felsen stapelte sich gebrochenes und ausgerissenes Baumholz in Massen.
Väterchen Balmer patschte sich freudig auf seinen Schenkel, als er das viele Holz sah: »Seht, Herr, seht doch, wie viel Bauholz die Götter dem alten Balmer geschenkt haben...! Gibt viel Arbeit, Herr, viel Arbeit, das alles. Muss nur alles trocken gelegt werden..., viel Arbeit.«
Mit einem Blick in die Runde versuchte Basti zu klären, welch guter Geist Balmer diese viele Arbeit beschert hatte. Es war wohl der Gott der Zerstörung. Denn oben an der Felskante über dem Bannwald erkannte er einen riesigen Einschnitt, der vorher noch nicht da gewesen war. Ebenso hatte sich das Bachbett unten an der Felsinsel am See verbreitert und war tiefer geworden. Es schien jedoch nicht mehr Wasser zu führen, als zuvor. Die Felsinsel, in der Lauknitz seinen Goldschatz verborgen hatte, stand unversehrt über dem Chaos.
Eine unvorstellbare Lawine aus Eistrümmern, Felsblöcken, Schlamm, Wasser und gerodeten Bäumen musste sich bei dem Unwetter hier durch und an seinem Versteck vorbei gewälzt haben. Sebastian hielt es für ein blankes Wunder, dass Högi Balmers Hütte davon verschont geblieben war. Von Balmers Vieh indes war nichts zu sehen. Wahrscheinlich hatte die Herde irgendwo Schutz gesucht.
»Väterchen Balmer wird nun nach seinem Vieh sehen.« Aha, er wusste also, wohin sich seine Tiere verkrochen, wenn es ungemütlich wurde.
»Nun, dann werde ich Väterchen Balmer begleiten!«, entschied Basti. Der Alte sah ihn teils vorwurfsvoll, teils verständnislos an, sagte aber nichts. Vielleicht war es ihm sogar recht, dass Basti mit ihm ging, konnte er auf diese Weise doch sicher sein, dass er sich nicht selbstständig in der Gegend herumtrieb.
Sie zogen los, zunächst am See entlang, zu der Stelle, an der die aufgetürmten Felsen das Wasser ins Tal entließen. Hier wurde ihm das ganze Ausmaß des Unwetters bewusst. Talwärts hatte sich hier eine ungeheuerliche Schlucht in den Almboden gefressen, in deren Tiefe nun friedlich ein kleines Bächlein murmelte. Dass an dieser Stelle noch vor ein paar Stunden tosende Wassermassen ins Tal stürzten, konnte man kaum vermuten. Bei diesem Anblick hoffte Sebastian nur, dass sich Falméras Medicus rechtzeitig in Sicherheit gebracht hatte. Welche Zerstörungen das Wetter im Tal angerichtet hatte, konnte er angesichts solcher Urgewalt nur erahnen.
Nahe am See überquerten sie den neu ausgewaschenen Bachlauf. Mit seinen Krücken gelangte Basti sicherer hinüber, als der Alte mit seinem Almstab. Am Ende des Sees fanden sie den Kadaver einer Kuh.
»Elsa...«, sprach Balmer leise seufzend, »...war trächtig, die Gute, hätte ein schönes Kälbchen geworfen..., ein schönes Kälbchen..., ja.«
Dass er jedes einzelne Viehzeug mit Namen kannte, wunderte Lauknitz schon nicht mehr. Viel zu lange lebte er offenbar schon mit seinen Tieren hier oben in der Abgeschiedenheit. Allmählich jedoch begann Sebastian diesen alten Kauz zu verstehen. Vielleicht hatte er viel Schlimmes erlebt, bevor er sich hier oben von allem gesellschaftlichen Leben zurückgezogen hatte.
»Sagt einmal, Väterchen, wart ihr niemals verheiratet?«, fragte ihn Sebastian neugierig.
»Was ist das..., ver-hei-ra-tet?«, entgegnete Högi verwundert. Augenblicklich wusste Lauknitz, dass er sich wieder an diesem Punkt befand, wo die Verständigung schwierig oder gar unmöglich wurde. Diesmal jedoch wollte er nicht aufgeben!
»Nun, verheiratet heißt, dass ein Mann und eine Frau, die sich sehr gern haben, ihr Leben miteinander teilen, zusammen leben, Kinder haben und großziehen. Das heißt, dass sie sich zusammen an der Blütenpracht des Frühlings erfreuen und gemeinsam gegen Unwetter kämpfen und dass sie sich ihrer Kinder erfreuen. Verheiratet heißt...«
Der Alte legte ihm seine Hand auf den Arm: »Ja, ja..., Väterchen Balmer weiß schon, was ver-hei-ra-tet bedeutet!«
Daraufhin schwieg er eine ganze Weile. Basti ließ ihn. Er würde ihm davon erzählen, wenn er bereit dazu war. Ihn zu drängen, wäre nicht nur sehr unhöflich gewesen, es hätte wahrscheinlich auch nichts genützt.
Sie erreichten den westlichen Waldrand, von dem aus eine große Schneise weiter bergwärts anstieg. Der Sturm hatte ziemlichen Raubbau an den Arven und Fichten betrieben. Das gab eine riesige Menge Nutzholz! Nur wer sollte das aus dem Wald holen, lagern und bearbeiten? Väterchen Balmer kaum! Der schaffte es ja gerade noch, sich um sein Vieh zu kümmern.
Durch nasses Gras stiegen sie weiter die Schneise hinauf und Sebastian fiel auf, dass der Boden hier wie von einem großen Wildwechsel ausgetreten war. Eine breite Spur zog sich zwischen den Bannwäldern hinauf. Über ansteigendes Gelände folgten sie ihr. An dieser Stelle hatte Lauknitz am Morgen des Gor- Angriffs die Wildherde beobachtet. Er sah kurz zurück und war erstaunt, welche Höhe sie bereits erreicht hatten. Wie ein kleiner, blauer Fleck lag der See unter ihnen, eingebettet in die grüne Alpweide.
»Schön war sie...«, begann der Alte zu reden, »...schön, wie die Königin der Elsiren... Sie war die Schönste im Dorf, meine Marienka..., die kleinste der Trogler- Töchter...« Er machte eine Pause, aber Sebastian unterbrach ihn nicht. Nach einer Weile fuhr er fort:
»...Auf dem Markt traf ich sie zum ersten Mal... Wie die aufgehende Sonne..., so schön. Goldene Haare hatte sie..., wie reine Tränen der Götter... War ein lustiges, fröhliches Ding... Wie ein Herz..., wir waren wie ein Herz...«
Wie ein Herz! Schöner hätte Basti Liebe auch nicht beschreiben können! Er sah Balmer an und bemerkte kleine Tränen auf seinen runzligen Wangen. Seine Gedanken schienen sich in seiner Vergangenheit zu verlieren.
»Ja, Herr, ich war einmal verbunden..., ver-hei-ra-tet! ...Ein schönes Fest war das. Das halbe Tal kam, um sich mit uns zu freuen, um mit uns zu feiern... Viele Menschenkinder und alle waren frohen Sinnes, ...sie sangen, tanzten... Wir waren ein Herz...«
Einige Zeit stiegen sie schweigend nebeneinander her. Sebastian spürte, dass Väterchen Balmer noch mehr im Herzen trug, dass seine Geschichte noch lange nicht zu Ende war. Sollte der Rest so persönlich gewesen sein, dass er ihn für sich behalten wollte? Oder wusste er nicht, wie er sich ausdrücken sollte?
Balmer hielt plötzlich an und stützte sich schwer auf seinen Almstab. Seine Augen waren feucht. Traurig sah er Sebastian an:
»Niemals wieder..., Vater Balmer wollte niemals wieder darüber sprechen...«, begann er. »...Wir waren ein Herz... Wir lebten in einem kleinen Haus im Dorf Mittelau..., nicht lange... Aber wir waren ein Herz...«
Der Alte nickte schwer, ging weiter, nur drei Schritte, dann blieb er wieder stehen. Er begann zu zittern, stützte sich auf seinen Stab und lies sich ächzend ins noch feuchte Almgras sinken. Dann sprach er mit einer gezwungenen Festigkeit in seiner Stimme, die Basti erschreckte:
»Wir waren ein Herz... Und dann kam Torbuk... Er war noch jung..., genau wie ich..., aber schon so böse, wie er noch heute ist... Er kam mit seinen wilden Horden ins Dorf geritten. Haben alles geplündert, was nicht verborgen lag. Er riss Marienka aus Balmers Garten direkt auf sein Pferd. Väterchen Balmer konnte nichts tun..., überall waren Krieger mit Lanzen..., überall schreiende Menschen..., alles ging in Flammen auf..., konnte nichts tun. Sie zogen ab und Väterchen Balmer hörte seine Marienka rufen... Sie rief Högi Balmers Namen, aber Högi Balmer konnte nichts tun. Wir waren ein Herz..., Marienka ruft noch immer nach Balmer... Vater Balmer hört sie jede Nacht..., immer wieder..., jede Nacht.«
»Habt ihr sie nicht befreien können?«, fragte Sebastian den Alten vorsichtig.
»Quaronas..., die Burg von Quaronas..., kein Menschenwesen kommt da hinein, wenn es Torbuk nicht will«, erzählte Väterchen Balmer weiter. »Zehn Tage später..., Högi Balmer war vor Gram schon tot... Marienka kam nach zehn Tagen zurück... Sie war auch tot..., ihr Gesicht war tot, ihr Leib war tot, ihre Augen hatten das Leben verloren. Herr..., sie war ein Geist, glaubt mir..., sie sprach nicht mehr, lachte nicht mehr, sang nicht mehr... Sie konnte schön singen, Troglers Tochter, glaubt mir, Herr, sie konnte singen, wie ein Vogel in der erwachenden Sonne. Aber sie sang niemals mehr wieder.«
Balmer wischte sich mit seinem groben, schmutzigen Ärmel über die Augen. Sein Blick war stumm und seine geröteten Augen sahen in eine weite Ferne. Der Wind spielte mit seinen wenigen verbliebenen Haaren, doch er bemerkte es nicht. Mit ausdruckslosem Gesicht fuhr er fort:
»Herr..., wir waren ein Herz..., aber es war tot. Neues Leben wuchs in ihrem Leib. Sein Leben! ...Torbuks Leben! So wollte er mächtiger werden, als sein Vater Tramon. Alle Frauen des Landes sollten seine Zucht in sich tragen. Es war sein Wille... Sie sollten ihm eine ganzes Volk von ergebenen, starken Kriegern schenken. Alle Frauen..., auch meine Marienka. Viele Frauen waren tot, gute Frauen..., und sie trugen doch Torbuks Leben in sich... Viele Männer waren tot..., viele verbundene Herzen waren tot... Troglers Tochter wollte das Leben nicht, das sie in sich trug. Sie wollte es töten... Jäger haben sie am Fuße des großen Fallwassers gefunden..., sie fand ihren Frieden bei den Göttern der drei Türme...«
Als Balmer geendet hatte, kam Sebastian alles so still vor, dass er meinte, die Felsen flüstern zu hören. Plötzlich sah diese Alm nicht mehr so schön, bunt und romantisch aus. Noch verstand er nicht die Zusammenhänge, doch spürte er instinktiv, dass in Balmers Geschichte mehr Wahrheit steckte, als er es womöglich würde verkraften können. Dazu fühlte er sich völlig verunsichert. Konnte ich dem Alten irgendwie seine Anteilnahme ausdrücken?
»So hört, Väterchen Balmer«, redete er ihm zu, »versucht eure Marienka so im Herzen zu behalten, wie am Tag eurer Verbundenheit. Tut so, als sei sie am Felsen verunglückt...«
»So ist das ganze Volk von Volossoda am Felsen verunglückt«, unterbrach Balmer seine Ansprache. »O, nein! Das Volk dort unten stirbt noch immer..., jeden Tag..., jeden Mond..., über viele Ernten hinweg.«
Väterchen Balmer sah ihm unverhofft mit festem Blick in die Augen: »Torbuk ist alt, nur noch ein grausamer Schatten seiner Selbst. Aber Karek, sein Sohn... Er ist das grauenhafte Abbild seines Vaters. Mit seinen wilden Horden schändet er das Land... Unter seiner Gewalt sterben die Herzen der Menschen..., stirbt das Volk! Keine Tochter ab sechzehn Sommern ist vor seinen Horden sicher. Viele Kinder sind schon Kareks Kinder..., viel zu viele sind seine Brut, die weiter keimt, wächst und aufgeht in böser Erde!«
Langsam, wie von einer unsichtbaren Kraft gezogen, stemmte sich der Alte an seinem Stock hoch, stand schwankend da und blickte über die Almlandschaft hinaus in das Land zu seinen Füßen. Der Wind bewegte leicht seinen alten, ausgefransten Mantel. Leise, mehr zu sich selbst, setzte Väterchen Balmer seine Gedanken fort, als sehe er bereits die Zukunft:
»Doch nun ist die Zeit der Prophezeihung gekommen. Der Befreier steht vor den Toren Quaronas und Falméras und Zarollons. Er wird das Schwert Tálinos ergreifen, das Schwert der Götter und der Könige und wird mit seiner leuchtenden Klinge die Prophezeihung erfüllen. Er wird die Tränen der Götter unter das Volk säen und die Armut und Angst vertreiben. Er wird den Achterrat führen und die Windreiter um sich sammeln und das Böse vernichten. Er wird mit der Macht der drei Türme und der Macht der Götter Frieden und Wohlstand im Land schaffen...«
»Verzeiht, Väterchen Balmer, aber wer ist dieser Befreier? Er erinnert mich an einen Mythos, an den Sohn eines Gottes, an den die Menschen in meinem Kulturkreis glauben und den sie...«
»Dieses hier«, unterbrach der Alte seinen Satz, »dieses Land, Herr, dieses Volk, und die Götter der drei Türme, das ist eure Kultur! Ihr wollt es noch nicht verstehen, aber all dies ist eure Kultur und eure Bestimmung! Und wenn unser Befreier erst geboren ist...«
»Wie, den gibt es noch gar nicht?«, unterbrach Basti erstaunt Balmers Hymne.
Der Alte sah ihn seltsam an und fast umspielte ein Lächeln seine vertrockneten Lippen: »O doch, Herr, es gibt ihn bereits! Er weiß es nur noch nicht. Er ist schon unter uns, aber die Macht der Götter hat ihn noch nicht erreicht. Er muss in seinem Herzen noch geboren werden. Er muss selbst seine Bestimmung finden. Er wird großes Leid erfahren und der Schmerz in seinem Herzen wird ihm zeigen, dass nur er es sein kann, der das Volk befreien wird. Er wird das Schwert Tálinos führen und die Menschen Volossodas werden ihm folgen, wie die Windreiter ihm folgen werden, weil sie die Zeichen der Götter und der Könige an ihm erkennen. Torbuk und Karek werden ihre wilden Horden um sich scharen, weil sie ihn fürchten werden. Sie werden ihre Krieger gegen ihn aussenden, doch sie werden ihn nicht bezwingen, denn die Macht der Götter wird wie eine mächtige Kraft über ihm wachen...«
Behutsam fasste Lauknitz Balmers Arm: »Väterchen, wir sollten weiter gehen...«
Mit Sorge bemerkte er, dass Balmer immer mehr in seine Scheinwelt abdriftete und Sebastian befürchtete, dass er über kurz oder lang nicht mehr in der Lage sein würde, normal zu denken. Auf gar keinen Fall wollte er mit einem Irren durch diese unbekannte Bergwelt stiefeln und nach einer Herde suchen, die sich weiß Gott wo verkrochen hatte.
Basti war nicht recht klar, welche Teile von Högis Geschichte er glauben sollte, und welche nicht. Er war sich sicher, dass dieser seine Erinnerungen mit seinem Glauben und irgendeiner Mythologie vermischte. Das Resultat schien ihm Genugtuung zu geben für das, was er irgendwann einmal erleiden musste und das sein Geist vielleicht nie wirklich verarbeiten konnte. Vielleicht beruhigte sich seine Seele mit dieser Geschichte, dass ein Erlöser kommen wird. Aber was musste dieser alte Mann Schreckliches erlebt haben, um geistig in so ferne Welten abzutreiben? Kriegsheimkehrer, das wusste Lauknitz, zeigten ähnliche Verhaltensweisen.
Ohne ein Wort stiegen sie weiter hinauf, bis sich unvermittelt die Schneise weitete und ein völlig neues Bild frei gab. Vor ihnen öffnete sich ein riesiges, fast ebenes, kurzgrasiges Weideland. Zwischendurch war die Weide von Felsblöcken und größeren Steinen durchsetzt. Wie ein großes Plateau dehnte sich diese Alm nach allen Seiten aus. Ein Paradies für Wildtiere und Herdenvieh.
Der Alte ging weiter, folgte einem unsichtbaren Pfad mitten in die Landschaft, die Sebastian ein wenig an die Winnetou- Filme in seiner Kindheit erinnerte. An einer markanten Felsgruppe schienen sie den Scheitelpunkt der Alm erreicht zu haben. Unerwartet tauchten neue Bergspitzen am Horizont auf. Das Panorama raubte Basti den Atem. Und wusste er bisher nicht, wo auf dieser Welt er sich befand, so war er nun völlig ratlos.
Die mächtigen Bergketten, die vor ihm auftauchten, waren höher und ausgedehnter, als er es sich je hätte vorstellen können. Links, im Süden schlossen sie an Balmers Hausberge an. Dazwischen lagen noch Täler und Almen, wie diese hier.
»Was sind das für Berge, Väterchen?«, fragte er Balmer staunend. Der Alte blieb stehen, wischte sich mit dem Ärmel über die verschwitzte Stirn und holte dann mit seinem Almstock weit aus: »Das sind die Berge der kalten Weite, des ewigen Eises..., ist der Sitz der Götter, dort oben.«
»Aha«, bestätigte Basti knapp, »aber, sagt, Väterchen, was liegt hinter diesen Bergen?« Für Sebastians Verständnis endete jedes Gebirge irgendwo einmal. Dahinter gab es wiederum Täler, in denen Menschen lebten, oder der Ozean begann.
»Dahinter...«, sprach Balmer nachdenklich, ...dahinter..., ja..., dahinter ist nichts mehr..., nur weiter Berge und das ewige Eis.«
»Aber irgendwann, irgendwo muss dieses ewige Eis doch mal enden, oder? Ich meine, was kommt hinter den ewigen Eis? Und auch diese Berge müssen doch Täler haben, oder?« Mit Nachdruck forschte er weiter in den Alten hinein. Ein unendliches Gebirge gab es auf diesem Planeten nicht, das wusste er genau. Allenfalls konnte es sein, dass dieser armselige Mensch nie aus seinem Tal herausgekommen war und tatsächlich nicht wusste, was sich hinter dieser Gebirgskette befand.
»Herr, niemals hat einer das Ende des ewigen Eises gefunden. Nur wenige haben sich bisher dort hinauf gewagt. Einige haben es versucht, haben die drei Türme der Götter finden wollen... Nie ist einer von dort zurückgekehrt. Man kann nicht in das ewige Eis gehen, dort ist das Reich der Toten!« Damit war für Högi Balmer die Sache erledigt. Sebastian konnte weiter bohren, fragen oder Mutmaßungen anstellen, für den Alten endete die Welt dort drüben, wo die Reihen schneeweißer Berge den Horizont begrenzten.
Nun, Lauknitz glaubte fest daran, in nicht allzu ferner Zukunft in einem Flugzeug zu sitzen und über Balmers ewiges Eis hinweg nach Hause zu fliegen. Niemals wäre er auf den Einfall gekommen, dass dieses ewige Eis noch sein Schicksal bestimmen würde...
Sie fanden Balmers Herde an einem Waldrand der gegenüberliegenden Seite der Alm. Die Tiere schienen wohlauf. Nach Balmers Zählung durfte er nicht mehr als die trächtige Kuh und ein Schaf verloren haben. Das Schaf, so hoffte er, mochte sich nur verlaufen haben. Gemeinsam trieben sie das Vieh am Waldrand entlang zurück in Richtung der Schneise. Plötzlich tauchte hinter einer Bodenwelle das Dach einer Hütte auf. Wie angewurzelt blieb Sebastian stehen. Balmer jedoch trieb das Vieh weiter. Er hetzte hinter ihm her:
»Was zum Donnerwetter ist das da vorne, Väterchen?«, fragte er.
»Das ist Högi Balmers Vorratshaus, Herr, unser Essen, Herr!«, war die stolze Antwort.
Je näher sie kamen, desto größer wuchs das Bauwerk aus der Landschaft. Es war nicht nur eine Holzhütte, wie sie Högi Balmer unten am Hang besaß. Was hier immer mehr ins Bild rückte, war ein kleines Dorf! Drei oder vier kleine Hütten konnte Sebastian erkennen. Sie waren ebenso windschief und grob gezimmert, wie Balmers Wohnhütte unten am Hang. Doch in ihrer Mitte, alles überragend, stand ein Haus von der Größe und Höhe einer Lagerhalle. Dieses Gebäude musste wenigstens zweistöckig sein!
Als sie das Haus erreichten, beeindruckte Sebastian allein schon seine Architektur. Der ganze Bau stand auf zehn mächtigen Säulen, aus großen Felsstücken gemauert, fast drei Meter hoch, eineinhalb Meter im Durchmesser. Je vier Säulen reihten sich unter jeder Seite des Hauses und zwei etwas dickere Säulen stützten die Mitte. Auf jeder Säule ruhte eine riesige Steinplatte, wie es Lauknitz von den Häusern im Wallis her kannte. Allerdings waren diese Steinplatten von einer Größe, dass sie kaum drei Mann allein bewegen konnten. Auf diesen Steinplatten lagen schwere Balken, von der Sonne schwarz gebrannt. Die erste Etage war mit Steinmauern und Stützsäulen aus Felsblöcken errichtet. Gerade mal kopfgroße Öffnungen dienten offensichtlich als Fenster und für die Belüftung. Das zweite Geschoss, aus kräftigen Holzbalken gezimmert, mutete an, wie darauf gesetzt. Das Dach war mit großen Steinschuppen bedeckt, die wohl auch der heftigste Sturm nicht aus ihrer Verankerung wehen konnte.
Vier kleinere Hütten und ein kleines Backhäuschen umlagerten das Vorratshaus, wie eine Stadt eine Burg umgab. Geräte und Behältnisse, die an den Hüttenwänden hingen, verrieten deutlich ihren Zweck. Eine Hütte diente Balmer offenbar zur Käseherstellung, während eine andere wohl die Funktion einer großen Räucherkammer erfüllte. Die hintere Hütte schien Werkzeuge und Geräte zu beherbergen. Das letzte Häuschen diente dem Alten vermutlich als Arbeitshaus. In ihm fanden sich zwei Webstühle, ein Arbeitsplatz zur Holzbearbeitung, sowie eine Vorrichtung, die zum Schmieden geeignet schien. Es war völlig unmöglich, das Balmer dies alles allein mit seinen bloßen Händen geschaffen hatte. Um so etwas zu bauen, bedurfte es schon einiger Helfer.
Sebastian war sehr beeindruckt und zeigte das ganz deutlich. Stolz präsentierte ihm Balmer sein kleines Reich. Schlagartig wurde Lauknitz klar: Hier fand das wirkliche Leben und Wirken des Högi Balmer statt! Seine Hütte unten am Hang, in der er schlief, in der er Gäste empfing, war anscheinend nur Fassade, existierte offensichtlich nur, um das Bild eines verarmten, alten Männleins aufrecht zu erhalten. Aber warum das ganze Theater? Diese Frage stellte Basti ihm nun ganz offen.
»Herr, es gibt viel Böses in diesem Land..., sehr viel Böses. Die wilden Horden würden mit einer ganzen Armee hier oben einfallen, wenn sie um dieses Geheimnis wüssten. Sie würden Väterchen Balmer auf den Boden nageln und alles plündern, was ihnen von Wert und Nutzen erscheint.«
»Aber, Väterchen, habt ihr denn gar keine Angst, dass all dies hier doch irgendwann von Jemandem entdeckt wird?«, fragte Sebastian verwundert.
»Wisset, Herr, die Menschen unten in den Tälern haben Angst vor den hohen Bergen und den Gletschern, in denen die Geister der Toten wohnen. Alle fürchten sich vor dieser unwegsamen Welt. Seit vielen Jahren ist niemand mehr hier herauf gekommen. Falméras Medicus und einige wenige andere kennen meine Hütte. Doch nur der Doktor und der Achterrat kennen den Weg. Der Pfad ist viel zu beschwerlich, als dass es jemandem einfallen könnte, Vater Balmer zu besuchen. Die meisten Menschen im Tal wissen nicht einmal, dass Vater Balmer hier oben lebt.«
Augenblicklich wurde Basti einiges klar! Es war also gar kein Hexenwerk, dass er hier oben isoliert war. In einer derart ausgedehnten Hochgebrigslandschaft, die noch dazu so extrem dünn besiedelt war, bedurfte es keines allzu großen Aufwands, einen Menschen verschwinden zu lassen, ohne ihn zu töten. Man musste ihn nur auf ein abgelegenes Grasplateau zu einem unbekannten, verrückten Eremiten verfrachten und konnte beruhigt sein, dass dieser Mensch wie in einem Safe verwahrt war. So war das also! Er hatte nur so rein gar keine Ahnung, wer hinter alledem steckte. Doch so viel verstand er allmählich: Der alte Högi Balmer wurde in dieser Sache wahrscheinlich ebenso benutzt, wie Sebastian selbst. Vermutlich kannte nicht einmal Högi die ganzen Zusammenhänge in Bezug auf Sebastians Person.
Immer fester webte sich sein Entschluss, gesund zu werden und sich aus eigener Kraft aus dieser Situation zu befreien. Na die, wer immer auch die verantwortlichen Macher waren, die würden sich noch gehörig über Sebastian Lauknitz wundern! Einen Basti Lauknitz sperrte man nicht einfach bei einem alten, verwirrten Almöhi in der Einsamkeit der Berge ein! Vermutlich wussten die gar nicht, dass sie einen geschulten und erfahrenen Alpinisten eingefangen hatten. Das sollte denen noch sauer aufstoßen! Von seiner Überlegenheit überzeugter denn je, bekam Sebastian richtig gute Laune! Er stellte eine Krücke an die Wand des Vorratshauses und bot Väterchen Balmer an, ihm zur Hand zu gehen.
Der freute sich über Bastis Interesse und führte ihn in den nächsten Tagen und Wochen in mancherlei alte Handwerkskunst ein, oder zeigte ihm einige alte Techniken bei der Käseherstellung, in der Fellgerbung, bei der Hausschlachtung, sowie in der Schmiedekunst und Holzverarbeitung. In den Wochen seiner Genesung durchlief Sebastian mehrere regelrechte Lehren als Auszubildender und hatte den Eindruck, dass ihn Balmer unbewusst an eines Sohnes statt annahm.
An diesem Tag jedoch begann Lauknitz erst einmal Balmers wirkliche Welt zu entdecken. Das Leben, das Högi hier führte und von dem Sebastian eine ganz falsche Vorstellung hatte, konnte nicht das schlechteste sein. Nur eben einsam! Sehr einsam! Aber es schien ein für Balmer sehr erfülltes Leben zu sein. Sebastians Aufenthalt bei ihm war für ihn sicherlich eine hochwillkommene Abwechslung, keine Frage! Doch nahm er Bastis Gesellschaft freiwillig hin, oder wurde sie ihm aufgezwungen? Jede neue Erkenntnis und Entdeckung warf hier auch neue Fragen auf, die sich jedoch immer wieder in einer einzigen, wichtigen Frage zentralisierten: Wo war Sebastian hier und wie und warum kam er hierher?
Balmer griff sich nach und nach die Kühe aus seiner Herde und begann sie zu melken. Sebastian entleerte die Milch- Eimer in einen großen Kessel in der Käsehütte und entzündete auf Geheiß des Alten ein Feuer in der Feuerstelle, über die der Kessel mittels eines hölzernen Arms geschwenkt werden konnte. Dann half er Balmer, indem er Holz zerkleinerte.
Die Sonne schien inzwischen hinter den Wolken hervor und das Arbeiten machte Spaß. Manche Bewegung schmerzte noch höllisch und einige Tätigkeiten fielen Sebastian sehr schwer. Dennoch hatte er den Eindruck, rasch zu gesunden.
Nach dem Melken zeigte ihm Väterchen Balmer den Zugang zum Vorratshaus. Eine lange, stabile Leiter, unter dem mannshohen Fußboden des Hauses verwahrt, verschaffte ihnen Zugang zum balkonartigen Podest am Giebel und zur kleinen Eingangstür. Ein einfacher Riegel hielt diese verschlossen. Im Innern schlug Basti eine merklich kühlere Luft entgegen, als sie draußen vorherrschte. Hier im Halbdunkel gab es entgegen seiner Vermutung keinerlei Regale oder Schränke. Sämtliche Vorräte baumelten schlicht und einfach von der Decke herab. Einiges war auch in Fässern am Boden untergebracht, doch das wesentliche von Balmers Vorräten hing frei in der Luft, unerreichbar für Mäuse, Ratten und anderes Gezücht. Eine schmale, knarrende Stiege führte in die obere Etage. Auch hier fanden sich alle Vorräte in hängender Weise untergebracht. Eine einfache Leiter gewährleistete den Zugang zum Dachboden, der vollgestopft schien mit duftend frischem Heu.
Gleich neben der Eingangstür im Untergeschoss hing ein breites Regalbrett an zwei Hanfschlaufen frei unter der Decke. Auf diesem standen drei gleiche Blechkannen mit Deckel. Balmer griff die erste mit den Worten: »Dies ist das wichtigste, Herr..., das wichtigste für den Käse..., ohne das gibt es keinen Käse...«
Draußen sah Sebastian in die Kanne und war enttäuscht. Eine leicht weißliche, transparente, unangenehm riechende Brühe schwappte darin. Er sah Balmer fragend an.
»Der Ursaft der Milch, Herr..., Ohne den gibt es von der Milch keinen Käse...« Damit nahm er den ganzen Inhalt und goss ihn in die frische Milch im Kessel, die bereits über dem Feuer erwärmte. »Jetzt dürft ihr rühren, Herr..., immer kräftig, aber langsam und gleichmäßig rühren!«
Dabei drückte er Lauknitz aber keineswegs einen Löffel oder eine Kelle in die Hand, sondern einen Gegenstand, der mehr Ähnlichkeit mit einer Harfe hatte, als mit einem Rührwerkzeug. Wie vom Alten gezeigt, führte Sebastian das Gerät behutsam durch die weiße Flut.
»Achtet darauf, Herr, es darf nicht wärmer werden, als ein Stein in der Sonne..., nicht wärmer, die Milch..., nicht wärmer!«, ermahnte er ihn.
Als die Milch allmählich dicker wurde, sich in winzige Flocken verwandelte und sich eine transparente Brühe bildete, in der sich die Flocken absetzten, geriet Sebastian in Panik. Er glaubte, Balmers ganze Milch des Tages verdorben zu haben. Der kam lachend heran, klopfte ihm anerkennend auf die Schulter und rief fröhlich: »Sorgt euch nicht, Herr..., keine Angst..., das muss so sein..., ihr habt gerade Käse gemacht!«
Lauknitz sah Balmer verblüfft an: »Diese Brühe hier soll Käse sein?«
»Freilich noch nicht ganz fertig, Herr, aber verzagt nicht, der Rest macht sich wie von selbst!«, beruhigte er ihn.
Dann holte er ein großes Leinentuch aus der Ecke der Hütte, schwenkte den Kessel vom Feuer weg und begann das Tuch gleich einem Fischernetz am Kesselrand in die Brühe zu tauchen. Ein Ende des Tuchs hatte er an zwei Ecken verknotet und sich um den Hals gehängt. Die weißen Flocken in der Brühe spielten bei diesem Abenteuer wohl die Fische. Balmer beugte sich tief über den Kessel, zog das Tuch mit entblößten Armen über den Grund des Gefäßes und hob es vor seiner Brust wieder heraus. Alsgleich verknotete er auch diese beiden Ecken, so dass er einen Sack mit gefangenen weißen Flocken in den Händen hielt. An einen zweiten Schwenkarm hängte er diesen Sack und ließ ihn in den Kessel abtropfen.
Mit Bewunderung verfolgte Sebastian Balmers routinierte Handgriffe. Den schweren Kessel mit der blanken Brühe schafften sie ins Freie. Dort befüllte Balmer die Blechkanne mit der Flüssigkeit und bat Basti diese wieder auf das Regal im Vorratshaus zu stellen, wohlgemerkt hinter die anderen beiden Kannen! Anschließend stieß er den Kessel um und ließ die trübe Brühe im Gras der Alm versickern.
In der Hütte ließ der Alte den Sack mit den Flocken in eine runde, flache Holzform gleiten, legte die Tuchenden darüber zusammen und beschwerte alles mit einem Holzdeckel und groben Felsbrocken. An den Seiten lief noch Brühe heraus, doch bald verließ nur hin und wieder noch ein Tropfen Flüssigkeit die Form.
»Was geschieht jetzt damit?«, wollte Sebastian wissen.
»Das, Herr..., das will euch Vater Balmer gern zeigen«, verkündete er stolz und stieg Basti voran in das Vorratshaus. Im hinteren Ende des Hauses, hinter hängenden Säcken und Beuteln, baumelten weitere Regalbretter frei von der Decke. Auf jedem lagen drei in Tücher gewickelte, metergroße runde Teile. Behutsam nahm Balmer ein Teil vom Brett und legte es auf einen kleinen Tisch. Als er das Tuch entfernte, kam ein runder Käse zum Vorschein! Der Alte nahm ein frisches Tuch, trocknete den Käseleib damit ab, griff in einen Topf mit Salz und rieb das runde Ding damit ein. Zuletzt wickelte er das Tuch wieder um den Leib und legte ihn zurück in das Hängeregal. So verfuhr er mit jedem Käse. Rund dreißig Stück dieser Käseräder zählte Lauknitz auf den Hängebrettern.
»Will umsorgt werden, wie ein Kind, der Käse... Brauchen viel Pflege, die guten Stücke..., viel Pflege, sonst verderben sie«, klärte er Sebastian auf.
Er war beeindruckt und stolz zugleich. Er, Sebastian Lauknitz, hatte an diesem Tag zum ersten Mal in seinem Leben einen echten Käse selbst hergestellt! Und das Verfahren schien erschlagend einfach zu sein! Zufrieden, wohl auch ein wenig aus der Puste setzte sich Sebastian vor der Hütte in die Sonne. Dankbar beobachtete er die friedlich grasende Herde des Alten, während dieser den Käsekessel mit frischem Wasser auswusch und zum Trocknen aufhängte.
Balmer hatte an diesem Ort Arbeit, die ihn ein ganzes Leben lang zu jeder Stunde beschäftigen konnte. Dennoch bemerkte Sebastian keinen Stress an diesem Menschen. Keinerlei Hektik bestimmte sein Tun und Erfolgsdruck schien er gar nicht zu kennen. Er verrichtete hier oben freudig seine Arbeit, die genug Früchte trug, um ihn großzügig am Leben zu erhalten. Er war halt nur ständig allein.
Sebastian fragte sich, ob Balmer glücklich war. Plötzlich erinnerte er sich an die Tränen in seinem Gesicht, als er von seiner Marienka erzählte. Vielleicht wünschte er sich gerade sie an seine Seite. Möglicherweise träumte er von spielenden Kindern auf der Alm, die unter seiner Obhut heranwuchsen und von ihm lernten, so, wie Sebastian an diesem Tag von ihm gelernt hatte. Nein, glücklich war er sicher nicht! Vermutlich war er sogar sehr lange unglücklich und einsam gewesen. Doch die Zeit hatte ihn wohl gelehrt, mit seinem Schicksal zufrieden zu sein.
Nachdem sie noch etwas Brennholz zerkleinert und eingelagert hatten, schärften sie gemeinsam noch einige Werkzeuge. Zuletzt schloss Balmer gewissenhaft alle Türen und sie begannen, die Herde talwärts zu treiben. Am See angelangt, stellten sie fest, dass sich das Wasser schon merklich zurückgezogen und einen Streifen aufgeweichten Bodens hinterlassen hatte. An dieser Stelle trieben sie das Vieh auf die andere Seite der neu entstandenen Schlucht.
Balmers Hütte erschien Sebastian wie ein nieder gekauerter Unterschlupf. Der Tag bei seinem Vorratshaus hatte ihm andere Dimensionen gezeigt. Dagegen empfand er diese Wohnstatt plötzlich als eine Erdhöhle. Rona und Reno begrüßten sie stürmisch. Obwohl er Rona anmerkte, dass sie am liebsten mit ihnen gegangen wäre, blieb sie doch beharrlich an Renos Seite.
Wieder wechselte Sebastian Renos Verband und stellte fest, dass er rascher gesundete, als er selbst. Die Wunde war vollständig verkrustet und wies nicht eine eiternde Stelle auf. Der Doktor hatte ganze Arbeit geleistet! Bevor er beiden Hunden ihr Futter und frisches Wasser vor die Nasen stellte, bürstete er ihnen das Fell aus. Sie genossen es mit Hingabe.
»Herr, ihr verwöhnt sie mir noch zu sehr! Die wollen nachher gar nicht mehr mit der Herde ziehen..., viel zu verwöhnt, die beiden...«. Sebastian ignorierte Balmers Mahnung. Schließlich war er den beiden Hunden etwas schuldig. Und diese beiden schienen ihm zur Zeit die einzigen Geschöpfe zu sein, die nicht in irgendwelchen Phantasien lebten. Rona und Reno indes quittierten seine Fürsorge mit Freundschaft und Vertrauen. Immer mehr fiel ihm auf, dass sich Rona mehr zu ihm gesellte, als zu Balmer. Das war ihm peinlich, denn die beiden Hunde waren ja Högis Lieblinge, ja vielleicht sogar so etwas, wie ein Kinderersatz. Väterchen Balmer hingegen schien die Entwicklung nicht zu stören.

Die nächsten Tage glichen sich und brachten wenig Abwechslung, oder Veränderung. Sebastian pflegte sich und die beiden Hunde, während Balmer sein Vieh auf die Hochalm trieb und sich den ganzen Tag an seinem Vorratshaus beschäftigte. Ab und zu begleitete er den Alten und half ihm bei der Verrichtung seiner Arbeit. Genauso oft jedoch gab Basti vor, bei der Hütte bleiben und sich schonen zu wollen. Tatsächlich wartete er nur, bis Balmer mit seinem Vieh außer Sichtweite war. Dann griff er sich seinen Rucksack und die Gehhilfen und erkundete die Umgebung des Sees. Dabei dehnte Sebastian seine Entdeckungsreisen immer weiter aus.
An einem Tag stieg er hinter dem See über die Alm auf, zwischen teils monumentalen Felsbrocken hindurch, bis an den Rand des Bannwaldes. Ihm folgte er in der Richtung, in der nach des Doktors Sandskizze Falméra liegen sollte. Eine verschwiegene, kleine Schneise quälte er sich hinauf und gelangte auf ein kleines, mit kargem Gebüsch bewachsenes Plateau. Den Rand des Plateaus bildete eine gigantische, vorspringende Felsplatte. Sie ragte ins Nichts hinaus. Wie die Zunge aus dem Kopf eines riesigen Tieres, stieß der Felsen aus dem Wald freistehend über den Abgrund und gab den Blick weithin über mindestens zwei Täler frei.
Lange saß Basti auf dieser Felskante und studierte das Land unter ihm. Bald erkannte er, dass sich nicht zwei Täler unter ihm hinzogen, sondern nur eines, welches durch eine fast unüberwindbare Felsenschlucht in zwei Welten geteilt war. Hatte nicht der Doktor von einer Felsbarriere gesprochen? Er versuchte Einzelheiten zu erkennen und verfluchte sich, weil er bei seinem Sturz sein Fernglas verloren hatte.
Weit hinten im Tal glaubte er den Ansatz eines großen Sees erkennen zu können, war sich aber nicht sicher. Doch ein oder zwei Ansammlungen von Hütten glaubte Basti unterscheiden zu können. Er bildete sich sogar ein, dass aus einigen kleine Rauchsäulen in den Himmel stiegen. Die Dimensionen jedoch waren so gewaltig, dass er nicht einmal eine Straße ausmachen konnte. Ein kleines Dorf sah er erst recht nicht!
Dagegen machte ihm der Ausblick schonungslos bewusst, dass er wohl mehrere Tage unterwegs sein würde, wenn er die Alm verließ, um nach Hilfe zu suchen. Zog er seine Unkenntnis über die Geografie dieses Landes mit in Betracht, so würde es vielleicht eine Woche dauern, bis Sebastian die ersten Menschen traf. Von Högi Balmers Alm bis zu der Stelle, wo er ein Dorf vermutete, mochte es schon eine ausgewachsene Drei- Tage- Wanderung sein.
In Anbetracht seiner Fluchtpläne nahm sich Sebastian vor, an einem der nächsten Tage noch einmal hier heraufzukommen, um eine Skizze von dem Tal zu seinen Füßen anzufertigen. Vielleicht hatte er sie noch bitter nötig, wenn er sich dort unten zurechtfinden musste.
An einem anderen Tag kämpfte sich Lauknitz durch den Bannwald hindurch, bis an den Fuß der alles überragenden Felswand, die er vom See aus erkennen konnte. Dort stieg er an den Felsen entlang nach Westen, also in Richtung Högi Balmers Hochalm. Seine Neugier trieb ihn dazu, festzustellen, ob es nicht einen Pfad durch die Felsen hinauf gab. Von der Felskante oben hätte Sebastian leicht bis hin zu Balmers Vorratshaus sehen können. Doch die Felsen erwiesen sich als glatte, abweisende Wand.
Lediglich eine riesige Höhle konnte er entdecken. Sie lag verborgen zwischen zwei kolossalen Felsvorsprüngen, deren Grund bereits der Wald erobert hatte. Fast wäre er am Eingang vorbei gelaufen, so verborgen lag er. Ein kleiner Bach, der aus dem fünf bis sechs Meter hohen und beinahe vier Meter breiten Eingang sprudelte, erweckte sein Interesse. Sebastian vermutete einen Wasserfall und folgte dem Bach aufwärts. Er nahm sich vor, diese Höhle, die wie eine riesige Grotte wirkte, später genauer zu untersuchen. Vielleicht konnte sie ihm noch einmal als Versteck dienen, sollte seine Flucht scheitern.

Dann regnete es zwei Tage lang. Es wurde kalt. Trotzdem zog Väterchen Balmer mit der Herde auf die Hochalm. Am ersten Tag begleitete Basti ihn und machte sich beim Holzhacken nützlich. Den zweiten Tag vergammelte er vor Högis Hütte auf der Bank, schrieb in seinem Tagebuch und beschäftigte sich mit den Hunden. Reno wurde zusehends ungeduldiger und Basti begann mit ihm Laufübungen zu veranstalten. Rona tänzelte dabei neben ihnen her, als wollte sie Reno mit Nachdruck zu mehr Bemühen animieren.
Als einen Tag später wieder die Sonne auf das Land schien, wurde Sebastian rastlos. Er konnte es nicht erwarten, dass der Alte mit seiner Herde davonzog. Kaum war dieser fort, rüstete auch er sich zum Aufbruch. Das Land hinter Balmers Hochalm lockte seine Neugier. Das Gelände dort oben war riesig und da Sebastian wusste, dass Balmer mit seiner Herde nach Nordwesten hin, zu seinem Vorratshaus ziehen würde, konnte er ihm gut aus dem Weg gehen.
Vorsichtig folgte er Balmers frischer Spur. Auf dem vom Regen aufgeweichten Boden konnte er deutlich erkennen, welchen Weg Balmers Herde genommen hatte. Das Väterchen zog mit seinen Tieren schnurgerade auf die Mitte der Alm zu. Also folgte Basti dem Waldrand an der südlichen Begrenzung der Alm.
Die Gehhilfen benutzte er nur noch an heiklen Passagen zur Unterstützung. Mehr und mehr legte er seinen Ehrgeiz in den Versuch, ohne sie auszukommen. Es ging erstaunlich gut. Selbst das Tragen des Rucksacks schmerzte nicht mehr unerträglich. Stets schob er sich bei seinen Ausflügen den Eispickel in den Gürtel. Dabei hatte Sebastian weniger im Sinn, einen der hohen Berge zu besteigen. Nach seiner Erfahrung mit dem Gor fühlte er sich mit einer Waffe einfach sicherer. Zwar glaubte er nicht ernsthaft an Felsenbären, Robrums und anderen Hirngespinsten des Doktors und Balmers, aber er wollte auch kein Risiko eingehen. An die Existenz von Feuer speienden Drachen hatte er ja auch nie geglaubt. Dennoch stand plötzlich einer wahrhaftig vor ihm.
Immer auf der Hut vor irgendwelchem Raubzeug wanderte er drei Stunden lang über unbekanntes Land. Das felsdurchsetzte, ausgedehnte Gelände fiel mit sanfter Neigung ab. Kurzes, von der Sonne gelb gedörrtes Gras bescherte ihm ein angenehmes Gehen, wie auf einem Teppich. Tausende von Insekten ließen ihr beruhigendes Konzert erklingen. Der sich immer wieder neu formende Ausblick malte ein Bild, das friedlicher nicht sein konnte. Grünes bis gelbbraunes Almgras, graue Felsen, zur Linken begrenzt vom Tiefgrün des Fichtenwaldes. Waldbedeckte Hügel und darüber schneebedeckte Berge bildeten den Horizont unter blau aufgespanntem Himmel. Trotzdem spürte Basti eine unsichtbare Spannung, die noch einige Überraschungen verhieß. Es war nicht rational erklärbar, doch irgendetwas Geheimnisvolles lag in der Luft, machte Sebastian unruhig, ließ ihn immer weiter die Gegend erforschen. Dabei achtete er weniger auf die ihm teils unbekannte Flora. Die geologischen und geografischen Eigenschaften dieser unbekannten Welt zogen ihn viel mehr in ihren Bann.
Allmählich fiel das Terrain steiler ab. Immer häufiger bevölkerten Krüppelkiefern die Gegend und der Weg wurde beschwerlicher. Die Vegetation ging in lichten Arvenwald über. Einige der Bäume trugen bereits die gelbe Tracht des Herbstes. Mittlerweile befand sich Sebastian in lockerem Waldbestand auf einem abwärts geneigten Hang. Ein leises Rauschen, das er schon eine ganze Weile im Ohr hatte, wurde stetig lauter. Irgendwo im Tal musste ein großer Bach oder Fluss ins Tal stürzen.
Bald wirkte die ganze Umgebung unheimlich auf ihn. Das mochte daran liegen, dass er von Wald umgeben war, der ihm keine freie Sicht mehr bot. Vielleicht war es auch das Rauschen des unbekannten Wassers, das ihn einschüchterte, weil er kaum noch ein anderes Geräusch wahrnehmen konnte. Jedenfalls beschloss Sebastian gerade den Rückweg anzutreten, als er plötzlich etwas Unnatürliches durch die Bäume hindurch leuchten sah.
Zunächst sah es aus, wie eine große, lehmfarbene Mauer. Vor Aufregung begann er zu schwitzen. Vorsichtig stieg er noch einige Meter durch den Wald, um besser sehen zu können. Dann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen: Dort drüben auf der anderen Hangseite, führte ein Weg vom Tal bergwärts! Der gegenüberliegende Hang war ohne Waldbestand. Felsdurchsetztes Wiesengelände sah Sebastian dort in der Sonne liegen. Deutlich konnte er erkennen, dass es sich nicht um einen schmalen Wildpfad handelte, sondern um einen breiten, von Menschenhand angelegten Weg! Wie versteinert stand er da...
Diesen Weg sollte er ganz sicher nicht finden! Weder Andreas, noch Högi Balmer hatten seine Existenz jemals erwähnt. Doch es gab diesen Weg, der offenbar nicht selten von Menschen benutzt wurde! Dass man ihm diese Tatsache verschwiegen hatte, erzählte ihm wiederum deutlich, dass er auf Balmers Alm festgehalten werden sollte. Jetzt erklärte sich auch, weshalb ihn der Doktor ermahnte, nicht allein in der Gegend herumzulaufen. Wollte er verhindern, dass Sebastian einen Weg zurück in die Zivilisation fand?
Angestrengt dachte er nach. Um an diesem Tag noch etwas Entscheidendes zu unternehmen, war es eindeutig zu spät. Er musste zurück auf Väterchens Alm. Am nächsten Morgen jedoch wollte er gezielt diesen Weg auf der anderen Seite dort drüben erkunden. Sobald es sein Zustand zuließ, konnte er womöglich über ihn ins Tal gelangen!
In Sebastians Kopf entstanden immer deutlichere Fluchtpläne. Dabei überlegte er, was Balmer eigentlich tun konnte, um sein Verschwinden zu verhindern. Er war allein, langsam, behindert und alt. Was würde er tun, wenn er seine Flucht entdeckte? Den Doktor anrufen? Womit?
Mit einem Mal fuhr es ihm wie ein Blitz durch den Kopf: Was, wenn Balmer eines dieser neumodernen Mobiltelefone besaß? Leicht konnte Högi so ein Gerät vor ihm verstecken. Das hätte auch seine Frage beantwortet, weshalb der Alte so genau wissen konnte, wann der Doktor auf seiner Alm erscheinen würde. Mehr und mehr fügte sich ein Teil des großen, geheimnisvollen Puzzels an das andere. Und jede neue Erkenntnis oder Möglichkeit musste Sebastian bei seiner Flucht berücksichtigen. Der Gedanke schoss ihm kurz durch den Kopf, Balmer zu beobachten, ob er heimlich ein Handy oder Funkgerät benutzte. Doch diese Idee verwarf er gleich wieder. Unmöglich konnte er dem Alten den ganzen Tag lang am Rockzipfel kleben. Aber er war gewarnt!
Wenn er die Möglichkeit in Betracht zog, dass Balmer ein geheimes Kommunikationsmittel besaß und vielleicht in der Lage war, ihm bei der Flucht irgendwelche Häscher auf den Pelz zu schicken, so musste er sich äußerst vorsichtig bewegen, um nicht in eine Falle zu tappen. Vor allem musste er seine Entdeckung dieses Weges vor Högi geheim halten. Gleichzeitig würde er jedoch erkunden müssen, wohin ihn dieser Pfad führte.
Ein Blick zum Stand der Sonne klärte die Situation für den Moment. Er musste zurück, sonst lief er Gefahr, dass Balmer seinen Ausflug entdeckte und seine Flucht bereits im Vorfeld vereiteln ließ. Der Rückweg gestaltete sich wesentlich schwieriger, was Basti dem Umstand zuschrieb, dass er nun gegen die Zeit lief.
Gerade mal eine halbe Stunde vor Balmer traf er bei dessen Hütte ein. Dabei war er sich keineswegs sicher, dass der Alte nicht doch seinen Abstieg beobachtet hatte. Fieberhaft verbarg Sebastian die Spuren seines Ausflugs. Den Rucksack verstaute er wieder an seinem Schlaflager, er reinigte seine Stiefel, Brachte Rona und Reno rasch frisches Wasser und breitete sein Tagebuch vor sich aus, als hätte er sich den ganzen Tag damit beschäftigt.
Hegte Väterchen Balmer Argwohn, so zeigte er es nicht. Froh gelaunt stellte er sein Tragegestell neben Sebastian auf der Bank ab und setzte sich. »Für wen schreibt ihr, Herr?«, wollte er wissen.
»Ich schreibe für mich selbst«, entgegnete Lauknitz und der Alte machte ein Gesicht, als hätte er ihn noch nie zuvor gesehen. In seinem Vorstellungsvermögen schien die Option nicht zu existieren, dass jemand etwas für sich selbst notierte. Balmer schüttelte den Kopf, erhob sich und schickte sich an, das Abendessen von seinem Gestell zu binden. Wie nebenbei ließ Sebastian sein Tagebuch verschwinden und half ihm bei seinen Tätigkeiten. Ganz beiläufig fragte er:
»Väterchen, sagt, wie viele Wege gibt es hier eigentlich, die ins Tal führen?«
Balmer überlegte nicht lange: »...Nur der Weg, den der Medicus genommen hat..., sehr beschwerlich, der Pfad, steil und kaum zu finden..., fast unsichtbar und sehr steil..., würdet euch die Knochen brechen, in eurem Zustand!«
Basti war verblüfft. Entweder log der Alte mit schauspielerischer Sicherheit, oder er hatte tatsächlich keine Ahnung von dem Weg, den Sebastian am Nachmittag entdeckt hatte. Jedoch hielt er es für absurd zu glauben, Balmer würde diesen breit angelegten Weg nicht kennen. Er lebte eine Ewigkeit hier oben und soll niemals dort hin gelangt sein? Wahrscheinlicher war wohl, dass er die Aufgabe hatte, ihn ein Weggehen auszureden. Das passte eher zu der Annahme, dass man ihn hier oben festhalten wollte. Die einzige Frage, über die er dennoch immer wieder stolperte, war, weshalb man solch einen Aufwand mit ihm betrieb.
Für ihn stand jedenfalls fest, dass er mit der Vorbereitung seiner Flucht zuerst diesen Weg erkunden wollte. Er musste wissen, wohin dieser führte und woher er kam. Es war nicht unbedingt nötig, dass er mit seiner Bergführerkasse bepackt den Leuten in die Arme lief, die ihn in dieses Naturgefängnis verfrachtet hatten.
In Sebastians Kopf entstand ein Plan. Am nächsten Morgen wollte er wieder mit dem Alten gehen. Wenn er stets bei der Hütte blieb, musste Högi zwangsläufig früher oder später misstrauisch werden. Also würde er ihn bis auf die Hochalm begleiten und plötzlich vorgeben, Schmerzen zu bekommen. Doch anstatt zurück zu gehen, würde er den Bergweg erkunden. Ein gutes Stück Anmarsch hätte er damit bereits geschafft. Die einzigen Sorgen machte ihm sein Zustand. Die heimlichen Ausflüge der letzten Tage gingen nicht spurlos an seiner Verletzung vorüber. So sehr Lauknitz sich auch auf die Gehhilfen stützte, neuerlich auftretende Schmerzen konnten diese nicht verhindern.
Der Abend verging damit, dass er sich um Rona und Reno kümmerte. Beide hatten sich inzwischen daran gewöhnt, dass er ihr Fell bürstete. Schwanzwedelnd zeigten sie ihm ihre Begeisterung, wenn er Balmers alte Holzbürste zur Hand nahm. Es war nur ein grobes Stück Holz, in das jemand wahllos kleine Holzstäbchen hineingetrieben hatte. Ein Sebastian unbekanntes, ziemlich hartes und helles Holz garantierte wohl die solide Qualität dieses Gegenstands.
Mit Väterchen Balmer sprach er nur noch belanglos über das Wetter, die Heuernte und über seine Tiere. Für tief greifende Gespräche mit Högi war er einfach zu müde. Im übrigen wusste er ja, wohin diese führten. Unvermittelt sagte Väterchen Balmer etwas, das dann doch noch seine wache Aufmerksamkeit forderte:
»Habt etwas gefunden, das die beiden mögen, wenn ich nicht irre...« Dabei wies er mit dem Messer in seiner Hand auf Rona und Reno, die Sebastian immer noch unermüdlich bürstete. Als wäre es nur eine lächerliche Nebensache, fuhr er fort:
»Ein Gor ist eben nicht nur etwas, das man fürchten muss..., hat auch sein Gutes, das Tier..., ist nicht alles schlecht an ihm...«
Lauknitz sah den Alten an und war sich nicht sicher, ob der wieder einmal fantasierte, oder eines seiner Geheimnisse preis gab.
»Wie meint ihr denn das, ein Gor hat auch sein Gutes?«, fragte er neugierig. Balmer zeigte auf die Bürste, die Sebastian noch in der Hand hielt und erklärte ihm wie ganz selbstverständlich:
»Ist aus der Rückenplatte eines Gors gemacht, die Kratze... Und seine Zähne stecken drin. Lag vor vielen Wintern unter einer Lawine, das Biest..., konnte wohl nicht schnell genug davon, als der Schnee kam. Väterchen Balmer hat sich daraus eine feine Kratze gemacht..., so ist das!«
Das, was Sebastian für Holz gehalten hatte, war demnach keines. Beim näheren Hinsehen konnte er feststellen, dass dieses Material so gar keine Maserung besaß. Es ähnelte sehr dem ihm bekannten Elfenbein oder Hirschhorn. Etwas belustigt entfernte er die Hundehaare aus der feinen Kratze, wie sie Balmer zu nennen pflegte. Unter fein verstand er allerdings etwas anderes. Doch in Anbetracht der Umgebung und der Umstände konnte man die Bezeichnung durchaus gelten lassen.
Wenn die Schilderung des Alten der Wahrheit entsprach, gab es Gore in diesen Bergen nicht erst seit gestern. Das schwächte nun auch Sebastians Theorie über Genmanipulation. Mit einem neuen Puzzleteilchen, das nicht ins Bild passte, ging er schlafen.

Morgens hörte er Väterchen Balmer schon früh rumoren. Er wühlte im kleinen Anbau der Hütte herum. Sicher suchte er etwas, dass er nicht finden konnte. Bei dem Chaos, das er hier führte, kein Wunder! Die penible Ordnung, die er in seinem Vorratshaus auf der Hochalm hielt stand dazu im krassen Gegensatz.
Stürmisch wurde Sebastian von seinen neuen Freunden Rona und Reno begrüßt. Überrascht stellte er fest, dass Reno wieder vorsichtig umher lief, humpelnd noch und wackelig, aber voller Unternehmungsgeist. Väterchen Balmer fand er wie vermutet im kleinen Anbau. Er kniete vor einem Haufen Gerümpel und bemerkte ihn nicht einmal.
»Gutem Morgen Väterchen«, rief er laut, »wenn jetzt ein Felsenbär daher käme, hätte der aber ein leichtes Spiel mit euch!«
Högi Balmer erschrak dermaßen, dass er aufsprang und mit seinem Kopf krachend an eine aufgehängte Holzwanne schlug. Ebenso schnell, wie er aufgefahren war, saß er wieder auf seinem Hinterteil und rieb sich seine lichten Haare. Dabei machte er ein Gesicht, als hätte er eine pure Zitrone verspeist.
»Wollt ihr den alten Vater Balmer in das Reich der Toten befördern?«, krächzte er, »Einem so einen Schreck einzujagen..., welcher Robrum hat euch nur geritten!« Und mehr zu sich selbst schimpfte er: »Kann einem ja das Essen in die Kleider rutschen, so ein Unflat, so ein...«, und etwas lauter: »Herr, warum schleicht ihr euch an, wenn Väterchen Balmer nicht hinsieht?«
»Es tut mir leid«, lachte Sebastian, »ich dachte nicht, dass ihr so schreckhaft seid, wo ihr doch daran gewöhnt seid, dass so viel Raubzeug bei euch unterwegs ist..., Guten Morgen erst einmal!«
»Weiß nicht, was an so etwas gut ist«, knurrte der Alte fast beleidigt.
Lauknitz ging schmunzelnd auf ihn zu. »Kommt, ich helfe euch auf«, bot er ihm an. Dafür jedoch verfluchte er sich gleich wieder. Balmer strömte wieder einmal einen strengen Duft aus, bei dem er weiß Gott keine Furcht vor einem Raubtier haben musste. Jedem Felsenbären hätte sein Geruch dermaßen die Nase verätzt, dass er schleunigst das Weite gesucht hätte. Allmählich kam Sebastian hinter das Geheimnis, weshalb der Alte nie von einem Gor angegriffen wurde...
»Was sucht ihr schon zu so früher Stunde?«, fragte er Balmer. Der murmelte irgend etwas unverständliches in seinen Stoppelbart und fiel erneut über den Haufen Unrat her, der in der Ecke des Anbaus gestapelt war. Er zerrte an einem Holz, dass sich als Stuhlbein entpuppte. Doch das grob behauene Sitzmöbel hatte sich derart zwischen den anderen Dingen verkeilt, dass es gar nicht daran dachte, sich auch nur einen Zentimeter zu bewegen. Väterchen Balmer riss an dem Holz herum, wie ein Hund, mit dem man um einen Stock streitet. Dabei tanzte er hin und her, hüpfte und fluchte. Sebastian war erstaunt, wie viel Ähnlichkeit der Alte plötzlich mit Rumpelstilzchen besaß, einer Märchenfigur der Brüder Grimm.
Belustigt fragte er ihn: »Väterchen..., wäre es nicht besser, ihr würdet den Gerümpelhaufen von oben abtragen, um an das Gesuchte zu gelangen?«
Högi Balmer hielt in seinem Bemühen inne, seine ganze Hütte am Stück abzureißen und sah ihn nachdenklich an. Dann machte er eine wegwerfende Handbewegung, warf einen großen Metallreif, der auf dem Boden lag auf den Sperrmüllhaufen und sagte in fröhlichem Singsang:
»Ach, Herr, es ist nicht so wichtig. Vater Balmer hat nur nach einem Werkzeug gesucht..., nur nach einem Werkzeug, gar nicht so wichtig..., kann warten!«
Sebastian glaubte ihm nicht ein Wort! Kein Mensch steht morgens früher auf, um ein Werkzeug in einem chaotischen Müllhaufen zu suchen, das er an seinem Arbeitsplatz ohnehin fein säuberlich aufgehängt vorfindet. Forschend fragte ihn Basti:
»Väterchen, wenn ihr möchtet, kann ich den Raum etwas aufräumen, so dass ihr an alles besser heran könnt. Ich habe den ganzen Tag Zeit und könnte mich nebenbei noch mit Rona und Reno beschäftigen. Ich würde alles nach draußen tragen, anschließend auskehren und dann alles wieder...«
»Nein, nein, nein...«, unterbrach ihn Balmer, »das müsst ihr nicht tun, ist nicht nötig, Herr, ruht euch nur aus und erfreut euch des schönen Sonnenscheins!« Damit schob er Sebastian aus dem Schuppen und verriegelte die grobe Tür.
»Väterchen, was suchtet ihr den so verzweifelt?«, fragte er neugierig. Doch Högi Balmer tat so, als hätte er ihn gar nicht gehört. Er schulterte sein Tragegestell, nahm seinen Almstab und war schon im Begriff, loszuziehen.
»Darf ich euch heute wieder begleiten, Väterchen?« Mit dieser Frage hatte er wohl nicht gerechnet. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht und begeistert erwiderte er:
»Aber freilich, Herr, Vater Balmer freut sich, dass ihr mit ihm gehen wollt! Ist gut für euch, die Bewegung, sehr gut für euch. Kommt nur, Herr, kommt und zieht mit der Herde!«
Lauknitz setzte seinen vorbereiteten Rucksack auf, nahm seine Krücken und folgte dem Alten. Sofort erhoben sich Rona und Reno, nahmen schwanzwedelnd den Platz an seiner Seite ein und wollten fast platzen vor Auftrieb. Verwundert stellte er fest, dass sie inzwischen eher ihm folgten, als Balmer! Sie brauchten keinen Befehl, um wie ein Schatten an seiner Seite zu sein. Wie zwei unauffällige Bodyguards folgten sie ihm, wann immer er sich außer Sichtweite entfernte.
»Ihr zwei bleibt heute noch hier!«, befahl Sebastian mit kompromisslosem Klang, »Reno ist noch zu unsicher, für einen Aufstieg und du, Rona, bleibst bei ihm!« Dabei wies er mit dem Finger auf die Hütte. Kopfschüttelnd zweifelte er an seinem eigenen Verstand. Er redete mit den Hunden, als wären sie verständige Menschen. Doch erstaunlicherweise hielten sie inne und sahen ihn mit bettelndem Blick an.
»Ihr beiden bleibt heute bei der Hütte!«, wiederholte er. Prompt machten beide kehrt, trotteten zu ihrem Platz an der Hüttenwand zurück und legten sich in die Sonne.
»Sie gehorchen euch jetzt mehr als Väterchen Balmer, Herr«, stellte der Alte fest. Es war Sebastian peinlich und er hatte das Gefühl, Högi seine beiden Hunde weggenommen zu haben. Doch Balmer betrachtete die Entwicklung mit Freuden. Über das ganze Gesicht strahlend fuhr er fort:
»Habt da zwei treue Gefährten gefunden, denke ich, sind sehr treue Seelen, die beiden..., könnt ihr Väterchen Balmer glauben, Herr, zwei treue Seelen sind das. Väterchen ist froh darüber, dass sie jemanden haben, wenn er einmal in das Reich der Toten hinübergeht. Ihr mögt sie doch, die beiden..., nicht wahr, Herr, sie sind jetzt eure Freunde, treue Seelen, die beiden...«
Eine Weile musste Basti darüber nachdenken, was er darauf antworten sollte. Nun kam es ihm so vor, als wollte ihn der Alte gar nicht bewachen. Eher hatte er jetzt den Eindruck, dass der ihn mehr und mehr wie einen Sohn annahm. Laut seinen Erzählungen hatte er ja keine Kinder, etwas, das ihn offensichtlich sehr traurig stimmte. Mit Basti sah er wohl die Gelegenheit gekommen, einem Sohn sein Lebenswerk anzuvertrauen. Möglicherweise wechselte er unbewusst aus einer Bewacherrolle in eine Vaterrolle. Jetzt tat er ihm leid. Vor allem fühlte Basti sich bei dem Gedanken nicht wohl, ihn eines Tages zwangsläufig enttäuschen zu müssen. Sehr bald schon würde er sich auf den Weg machen, wieder nach Hause zu finden, in seine eigene Welt.
Ein seltsames Empfinden beschlich ihn. Plötzlich empfand er seinen Aufenthalt hier oben nicht mehr so sehr als Gefangener. Eher war er der Tourist, der bald von einem abenteuerlichen Urlaub Abschied nehmen musste, um in seinen monotonen Alltag zurückzukehren. Ein wehes Gefühl in seinem Bauch wehrte sich gegen seinen Verstand, der ihm klar zu machen versuchte, dass er nicht in diese Welt gehörte und zu seinem Leben zurückkehren musste. Es war der Gedanke an den Abschied von unvergesslichen Ferien.
Zu Balmer sagte er: »Väterchen, wir werden Rona und Reno schon wieder daran erinnern, was ihre Aufgabe ist, sobald Reno wieder völlig gesund und fit ist. Schließlich sind sie in erster Linie Hirtenhunde! Sorgt euch also nicht, Väterchen, ich verziehe sie schon nicht zu Schoßhündchen.«
Der Alte nickte beruhigt: »Ist schon recht, Herr, Väterchen Balmer weiß, ihr versteht ihn.« Damit stapfte er los, der Viehherde entgegen, die es bergauf zu treiben galt. Ohne die zwei Hunde war das wohl nur möglich, weil das Vieh den Weg seit Jahr und Tag kannte. Die Kühe, Schafe und Ziegen mussten nur ihrer eigenen täglichen Spur folgen.
Während Högi und Sebastian die breite Schneise hinauf stiegen und hier oder dort ein dummes Stück Vieh auf den rechten Weg zurück wiesen, dachte Basti nach. Im Grunde war dies hier kein schlechtes Leben, ja fast ein besseres, als er es kannte. Hier schrieb einem niemand vor, was man den lieben langen Tag zu tun oder zu lassen hatte. Balmer konnte sich seine Arbeit frei einteilen und ohne Berufsstress für sein Leben sorgen. Er zahlte keine Steuern, war niemandem verantwortlich, als sich selbst und lebte von dem, was die Berge ihm gaben. Er, Sebastian hingegen war stets mit der hoch gelobten Zivilisation im Konflikt.
Sehr schnell wurde ihm bewusst, was ihm Högi Balmer gezeigt hatte: Die Zivilisation, die er in den ersten Tagen auf Högis Alm vermisst hatte und ihm bis dahin Schutz bot, hatte ihn auch jahrelang eingeengt. Balmer engte nichts ein. Er genoss zwar keinen Schutz gegen Raubzeug, Naturgewalt und Unversehrtheit gegen Leib und Leben, doch er war frei! Niemand erwartete von ihm, dass er punkt vier Uhr morgens aufstand, um sich einer bestimmten Tätigkeit zu widmen. Niemand erlegte ihm Regeln auf, in welcher Form er für sein Fortkommen zu sorgen hatte, niemand forderte von ihm eine Leistung ohne Entgelt. Was Högi Balmer gab, gab er gern, von Herzen und ohne Zwang.
Über seine Gedanken verlor Sebastian beinahe sein Ziel aus den Augen: Die Erkundung des entdeckten Weges, der ihn in seine heile, schützende, aber auch fordernde Welt, in sein Zuhause nach Norddeutschland zurückbringen sollte.
Noch bevor sie den Almboden erreichten, begann er zu humpeln. Bei der Wanderung über den Almboden verzog Sebastian schmerzhaft das Gesicht, wenn das Väterchen ihn ansah. Und in der Mitte der Alpweiden, wo die Herde zu Balmers Vorratshaus abschwenkte, blieb er stehen und rieb sich schmerzverzerrt seine angeschlagenen Rippen.
»Ihr habt noch Schmerzen, Herr, nicht wahr?« Väterchen Balmer blieb mit besorgtem Blick stehen. »Ist wohl besser für euch, wenn ihr heute wieder zu Balmer Heimstatt zurückgeht und Ruhe sucht. Habt euch doch zu arg angestrengt, denke ich, viel zu früh angestrengt. Der Medicus wird mit Väterchen Balmer ins Gericht gehen, wenn er hört, dass ihr euch nicht schont..., wird böse sein mit Vater Balmer, der Medicus, richtig böse!«
Als Lauknitz nicht gleich antwortete, fuhr er fort: »Ihr solltet besser zurückgehen, vorsichtig, könnt euch viel Zeit lassen, Väterchen Balmer kommt allein zurecht, Väterchen Balmer kommt immer allein zurecht. Habt also keine Sorge, Väterchen Balmer wünscht, dass ihr bald wieder gesund seid, Herr, sonst nichts. Ihr müsst Väterchen Balmer nicht helfen, ihr seid Vater Balmers Gast und müsst nicht...«
»Ist schon gut, Väterchen«, beruhigte ihn Sebastian, »es sind nur die Schmerzen, ich helfe euch doch gern, ich kann ja auch viel von euch lernen. Ich gehe gern mit euch auf die Alm, ehrlich! Ich fühle mich nur heute nicht ganz wohl, wisst ihr?«
Sebastian staunte über sich selbst und die Gabe so schauspielerisch sicher lügen zu können. Gleichzeitig meldete sich sein Gewissen. Es tat ihm leid, diesen alten, gutherzigen Mann auf so abscheuliche Art belügen zu müssen. Mit Selbstverachtung dachte er daran, was Balmer bereits alles für ihn getan hatte. Er pflegte ihn, gab ihm zu Essen und zu Trinken, gab ihm ein Dach über dem Kopf und sein Vertrauen. Er wollte ihm sicher nichts Böses, möglicherweise war er selbst nur das Opfer eines Plans, den er nicht verstand. Und nun belog Sebastian ihn, um ihn noch dazu sehr bald wieder zu verlassen.
Schäbig kam er sich plötzlich vor. Auch wenn er unfreiwillig hier war, so regten sich doch Zweifel in ihm, ob es der richtige Weg war, sich wie ein Dieb von Högi Balmer und seiner Alm davonzustehlen. Es gab jedoch auch keine Alternative. Also humpelte er mit ehrlich schlechtem Gewissen langsam zurück, allerdings nur so weit, bis Balmer mit seinem Herdenvieh seinen Blicken entschwand. Dann umging er die Herde in einem großen Bogen und trat am anderen Ende der Alm in den lichten Wald ein. Vorsichtig folgte er dem bereits erkundeten Gelände bis zu der Stelle, an der er den Weg auf der anderen Hangseite entdeckt hatte.
Ständig auf der Hut vor neuen Überraschungen schlich er zwischen den Bäumen hindurch bergab. Mit Sorge dachte er daran, dass er den ganzen Weg auch wieder zurück musste. Im Talboden stieß er schließlich auf einen breiten, reißenden Gebirgsbach, den er unmöglich überqueren konnte. Das Wasser hätte Sebastian augenblicklich davon gespült. Ob er wollte, oder nicht, er musste am Ufer entlang steigen, bis sich eine Möglichkeit bot, auf die andere Seite zu gelangen. Missmutig stellte Lauknitz fest, dass die Vegetation am Ufer üppiger und dichter war, als oben im Wald. Sein Vorhaben geriet ins Stocken. Auch den entdeckten Weg konnte Sebastian von hier unten nicht mehr einsehen.
Kurz entschlossen stieg er den Hang wieder so weit hinauf, bis ein Gehen zwischen den Bäumen erträglich war. In der Tiefe rauschte der wilde Bach und er stieg parallel zu ihm tiefer in den Wald. Allmählich fiel ihm auf, dass dieser Wald eine Besonderheit in sich barg. Je weiter er in ihn eindrang, desto höher wurden die Bäume. Die Dichte des Unterholzes nahm dafür ab. Wie verzauberte Riesen standen die hellrotbraunen Stämme auf dem Waldboden. Einige von ihnen besaßen einen Umfang von mehr als zwanzig Metern. Ihre Höhe konnte Sebastian nicht einmal abschätzen, denn sie wuchsen schier in den Himmel, so dass er bis zu ihrer Krone nicht sehen konnte. Der Fuß dieser Bäume erschien ihm wie ein riesiger Felsen.
Lauknitz fühlte sich wie in einem urzeitlichen Wald und hätte ihn plötzlich ein prähistorisches Monster verfolgt, so hätte ihn das nicht mehr gewundert. Es verfolgte ihn kein Saurier! Statt dessen endete der Wald nach einer halben Ewigkeit. Wie abgeschnitten trat er durch die letzten Riesenbäume und stand wieder auf einer grünen Wiese, die von großen Felsbrocken durchsetzt war. Einige normale Arvenbäume säumten den Waldrand, zwanzigfach von ihren großen Brüdern überragt. Vor Sebastian lag ein leicht ansteigendes Almplateau.
Weiter oben sah er das Wildwasser des Bergbaches über Felsen und Steine springen. Dort suchte sich das Wasser seinen Weg durch ebenes Gelände. Jenseits davon wand sich wie ein heller Streifen der geheimnisvolle Weg hinauf. Eine mächtige, graue Felsbarriere schien alle Vegetation zu begrenzen. Darüber warfen sich gigantische, weiß gekleidete Gipfel in das Blau des Firmaments auf. Bläulich schimmernde Eispanzer füllten die Zwischenräume. Himmelhohe Firne glänzten im Sonnenlicht herab.
Parallel zum wild schäumenden Bergbach stieg Lauknitz weiter. Die Sonne heizte ihm mächtig ein und er musste sich rasch einiger Kleider entledigen. Das tosende Brausen des Baches verschluckte jegliches Geräusch. Die Urgewalt der Gletscherwasser bahnte sich unermüdlich und unaufhaltsam ihren Weg ins Tal.
Als Sebastian einmal zurück blickte, erschrak er. Eine mächtige, alles überragende, grüne Wand erstreckte sich zu beiden Seiten des Weidelandes. Erst jetzt wurde ihm so richtig bewusst, wie hoch diese Bäume wirklich waren, durch die er geschritten war. Beinahe zweihundert Meter hohe Baumriesen wiegten sich sanft im Wind, wie friedlich und gemächlich dahinwandelnde Türme. Nie zuvor hatte er von solchen Bäumen gehört, geschweige denn, welche gesehen!
Dieses beeindruckende Bild faszinierte ihn so stark, dass er seinen Rucksack absetzte, sich auf einem Stein niederließ und die Ansicht in seinem Tagebuch festhielt. Die Zeichnung sah anschließend so phantastisch aus, wie das Original: Wie der Einbildung eines Märchens entsprungen.
Nach einer weiteren halben Stunde Aufstiegs erreichte er eine Stelle, an der er den wilden Gebirgsbach überqueren konnte. Ein riesiger Schwemmboden zähmte das Wasser und zwang es in ein nur zehn Zentimeter tiefes und fünfzig Meter breites, sandiges Becken. Ruhig und friedlich floss das milchige Gletscherwasser dahin. Beim durchwaten setzte Sebastian seinen Ehrgeiz dahinein, seinen Fuß auf Felsen zu setzen, die aus dem kalten Nass ragten. Seine Gehhilfen erwiesen sich hierbei als äußerst vorteilhaft.
An einer Stelle, wo das Wasser eine kleine Sandbank im Kiesbett frei ließ, stockte ihm plötzlich der Atem. Deutlich zeichnete sich in dem feinen, vom Bach angeschwemmten Sand eine Spur ab. Nun ist eine Spur im Hochgebirge nicht ungewöhnlich. Doch diese war nicht nur ungewöhnlich. Sie erschreckte ihn! Es schien die Spur eines Menschen zu sein, doch so übergroß, dass der Verursacher mindestens sechs Meter hoch aufrecht gehen musste. Deutlich waren die Fußabdrücke im Sand zu sehen: Ferse, Mittelfuß und Ballen. Der große, innen liegende Zeh war jedoch links wie rechts kleiner, schien wie verkümmert.
Fassungslos starrte er auf die Fährte. Was für ein Riese musste hier durchgelaufen sein? Tief drückten sich die Spuren in den Bachgrund. Das erzählte Basti, dass hier ein Wesen von beträchtlicher Größe und Gewicht die Seiten des Baches gewechselt hatte. Unwillkürlich musste er an die Geschichten über Yetis denken. Affenähnliche, große, zottige Wesen, die man in den unberührten Weiten des Himalaya- Gebirges vermutete. Er persönlich glaubte nie an die Existenz von Yetis. Aber er glaubte ja auch nie an die Existenz von Drachen! Nach seiner Begegnung mit den Ungeheuer auf Balmers Alm hielt Sebastian nichts mehr für ausgeschlossen.
Die Fährte konnte noch nicht sehr alt sein. Vermutlich war das unbekannte Wesen in den frühen Morgenstunden dort unterwegs gewesen. Angesichts der Vorstellung, dass in seiner Nähe etwas unterwegs war, dass, wie der Drache, sein Leben auslöschen konnte, verspürte Basti kaum mehr den Mut, weiterzugehen. Doch er musste feststellen, wo er war und wie er wieder nach Hause kommen konnte. Den Gedanken, Balmer nach der Fährte zu fragen, verwarf er gleich wieder. Was hätte er ihm erzählen sollen, wo er die Spur gefunden hatte? So hätte Sebastian ihm gleich beichten können, dass er sich heimlich in den Bergen herumtrieb.
Fast trockenen Fußes gelangte er auf die andere Seite. Hier musste er wieder etwas absteigen, denn der geheimnisvolle Weg schwenkte weiter unten seitlich ab und verlor sich in der Weite der Alplandschaft. Endlich erreichte er sein Ziel! Dieser Weg, der sein Interesse nicht mehr los ließ, wurde ganz offensichtlich von Menschen benutzt. Er war sehr ausgetreten, was auf eine hohe Frequentierung hinwies.
Eine Zeit lang stand er da, unschlüssig, ob er dem Pfad bergauf, oder bergab folgen sollte. Sebastian entschied sich für aufwärts, da der Weg hinab ins Tal sicher mehr Zeit beanspruchte und er ja auch wieder zurück musste. Aufgeregt und wachsam folgte er der Spur der Zivilisation und stellte fest, dass die den Charakter eines gut angelegten Wanderweges besaß. Monoton wand sich der Weg durch verstreute Felsen über die Alplandschaft, stets parallel zu der mächtigen Felsbarriere, die nicht zu enden schien.
Da blieb ihm fast das Herz stehen! Ahnungslos war er, einer Wegbiegung folgend, um einige Felsen herumgegangen, als ihn urplötzlich etwas anglotzte, das ihm einen Riesenschrecken einjagte. Als wäre er gegen eine unsichtbare Mauer gelaufen, prallte er zurück! Genau neben dem Weg, so, dass man unweigerlich damit konfrontiert wurde, wenn man aus der Deckung der Felsen trat, stand eine fünf bis sechs Meter hohe, düstere Götzenfigur. Auf mehreren, in den Boden gerammten Pfählen, die dicht mit dunklen Tierfellen behangen waren, saß ein mächtiger, hölzerner Kopf. Eine in schrillen Farben bemalte, grob geschnitzte Fratze blickte Sebastian böse an. Der Künstler hatte offenbar sein ganzes Talent darauf verwendet, das Gesicht so teuflisch wie nur möglich aussehen zu lassen. An Stelle der Augen hatte man grobe Löcher in den Holzschädel gebohrt und langes Almgras hineingesteckt, so dass sie aussahen, als wollten auslaufende Augen mit langen Klauen nach dem Betrachter der Figur greifen. Aus der Stirn des Kopfes ragten zwei große, leicht gebogene Hörner, wie Sebastian sie von Watussi- Rindern her kannte.
Schlagartig erinnerte er sich wieder an das Wesen, das er bei seinem Absturz am Zwischbergenpass gesehen hatte. Es trug dieselben Hörner, wie diese Götzenstatue! Nun wusste er, dass er keineswegs geträumt, oder dass ihm seine Phantasie einen Streich gespielt hatte. Der Beweis stand in dreifacher Mannsgröße vor ihm!
Unter dem Kopf waren in einem halben Meter Abstand zwei Querstangen an den Pfählen befestigt, die wie Arme wirkten. Sebastian musste zwei Mal hinsehen, um zu glauben, was er sah: An diesen Stangen hingen wahllos angeordnet menschliche Gebeine! Oberschenkelknochen wechselten mit ganzen Schädeln, die sich gespenstisch im Wind bewegten. Die Unterkiefer waren kunstvoll mit Fasern an den Schädeln festgebunden, damit sie sich nicht lösten und herab fielen.
Wenn der Wind leicht durch die Knochen fuhr, erklang ein durchdringendes Klappern, als wenn Nussschalen eine Treppe hinunter kollerten. Von den Tierfellen hingen lange Fasern herunter, die sich im Wind bewegten und die ganze Figur zum Leben erweckten. Der Anblick dieser ins Nichts gestellten Fratze ließ Lauknitz kalte Schauer über den Rücken laufen.
Wer stellte so etwas, vor allem warum, mitten in eine Almlandschaft? Sollte die Furcht einflößende Figur Fremde davon abhalten, diesen Weg zu benutzen? Oder hatte dieses Ding rituellen Charakter? Sebastian fand keine Antwort auf seine Frage. Statt dessen stellte er bei näherer Untersuchung fest, dass die Knochen und Schädel echt waren. Es handelte sich keineswegs nur um Plastikimitate. Die Gebeine, die man hier aufgehängt hatte, stammten von echten Toten!
Tatsächlich verfehlte das Gebilde seine Wirkung nicht, denn Sebastian zögerte, diesem Weg weiter zu folgen. Wer diese unheimliche Figur aufgestellt hatte, war sicher bereit auch noch andere Mittel einzusetzen, um ungebetene Gäste fern zu halten. Natürlich hatte er nicht das grenzenlose Interesse, festzustellen, wie weit der oder die Aufsteller dieses Götzen noch gehen würden, um Fremden den Weiterweg zu verleiden. Dennoch lockte die Neugier.
Zu wissen, wohin dieser Weg führte, konnte die Antwort auf viele seiner Fragen sein. Im Augenblick schien es jedoch, dass mit jedem Zusammenhang, den er entdeckte, wieder neue Fragen auftauchten. Nach wie vor hatte er das Gefühl, in einem fürchterlichen Alptraum gefangen zu sein, aus dem es kein Entrinnen gab.
Dennoch beschloss er, dem Weg noch ein Stück weit zu folgen. In regelmäßigen Abständen fand Sebastian nun Pflöcke mit Totenschädeln, die am Wegrand in den Boden gerammt waren. Kleine Querstangen, die man mit Naturfasern an die Pflöcke gebunden hatte, verhinderten, dass die Schädel zur Seite, oder nach vorn wegkippten. Schön gerade saßen die Schädel mit dem Kiefer auf den Hölzern. Ab und zu gelangte er auch an neue Götzenfiguren, die der ersten in Sachen Schaurigkeit in nichts nachstanden.
Je weiter er dem Weg folgte, desto karger wurde die Vegetation. Stellenweise hatte das Land schon den Charakter einer Steppe. Irgendwann gelangte er an einen längeren Holzpflock, an dem ein ganzes menschliches Skelett hing. An mehreren Querstangen waren die einzelnen Knochen und Glieder fein säuberlich und anatomisch korrekt mit Fasern oder Lederschnüren angebunden. Zusätzlich hatte man dem Knochenmann eine Fellweste umgeworfen, ein Stück Fell als Haare auf dem Schädel befestigt, sowie ihm kunstgerecht ein altes, verrostetes Schwert zwischen die Finger gesteckt. Aus der Entfernung sah es aus, wie ein skelettierter Krieger, zu neuem Leben erweckt, bereit zu töten, was ihm in den Weg kam.
Gerade, als Sebastian das Schwert näher untersuchen wollte, gewahrte er aus den Augenwinkeln heraus ein entferntes unregelmäßig auftretendes Blinken. Irgend etwas großes Metallisches schien in weiter Entfernung das Sonnenlicht zu reflektieren. Es musste sich nahe am Blockgeröll der Felsbarriere befinden. Entweder gab dort jemand ein Spiegelsignal, oder ein glatter Gegenstand aus Metall bewegte sich im Wind. Von einer zur anderen Minute begann Sebastian zu frieren. Er hatte plötzlich das Gefühl, von etwas Unheimlichem, tiefgründig Bösen umgeben zu sein. Als würde er in ein Reich des Todes eintreten, so erstarb jeder Laut des Lebens. Eine Todesstille umschlich ihn.
Allmählich bemerkte er, dass kein Vogel mehr sang, dass keine Dohle mehr krächzte, ja nicht einmal mehr ein Insekt summte. Allein der Wind ließ noch ein entferntes, klagendes Geräusch hören. Wie der Hauch des Todes kam er unsichtbar und geheimnisvoll daher, berührte ihn, griff nach ihm, verflüchtigte sich wieder.
Stille. Nur das Blinken in der Ferne. Alles andere schien gestorben. Eine fürchterliche Leere umklammerte Sebastian, als wäre alles Leben aus dieser Welt gewichen. Aber da war noch dieses mystische Blinken...
Sebastian beschlich eine innere Furcht, die ihn warnte, weiter zu gehen. Doch diesem geheimnisvollen Lichtsignal wollte er noch auf den Grund gehen. Vorsichtig folgte er weiter dem Weg, stets auf neue Überraschungen gefasst. Dabei nutzte er jede Deckung aus, um sich ungesehen zu nähern. Wie ein Frontsoldat sprang er von Felsen zu Felsen, nutzte jede Bodenwelle oder Senke aus und arbeitete sich geräuschlos vorwärts.
Eine halbe Stunde später durchquerte er etwas abseits des Weges eine staubige Senke. Er hatte sich fast bis auf Sichtweite an das Objekt herangeschlichen, als er endlich aus der Niederung heraus trat, und ihm erneut der Schreck in die Glieder fuhr! Weit vorn, neben dem Weg, bewegte sich eine Person auf der Stelle. Sebastian war noch zu weit entfernt, um Genaueres zu erkennen. Aber es sah so aus, als ob sich dort jemand an einem Felsen zu schaffen machte. War es der heimliche Gestalter der gruseligen Standbilder?
Geduckt schlich sich Lauknitz weiter an. Plötzlich stieß er mit einer seiner Krücken unbedacht gegen einen Stein, der mit lautem Kollern zur Seite fiel. Sofort erstarrte er, denn er wähnte sich schon entdeckt. Gehetzt suchte Sebastian nach einer Deckung, fand aber kein geeignetes Versteck. So tief wie möglich duckte er sich in das Gelände und wartete.
Das Wesen dort vorn jedoch reagierte gar nicht. Es setzte unbeirrt seine Tätigkeit fort. Es bückte sich, drehte sich zur Seite, wandte sich dem Felsen zu und senkte erneut sein Haupt. Es schien, als würde dort jemand mit Hingabe Steine aufstapeln. Vielleicht für eine weitere Gruselstatue? Sebastian war erstaunt! War der dort vorne taub? Bei dieser lastenden Stille musste ihn sein Steinscheppern doch aufgeschreckt haben! Oder verstellte der sich nur, um Lauknitz in Sicherheit zu wiegen?
Sebastian überlegte, ob er einfach auf den einsamen Gesellen zugehen sollte. Er schien nicht bewaffnet zu sein. Doch dieser Schein konnte auch trügen! Da fiel ihm etwas ein, das er oft in Wildwestfilmen gesehen hatte. Ich hob einen handgroßen Stein auf und warf ihn in weitem Bogen auf die andere Seite des Weges. Mit lautem Krachen und Scheppern schlug er auf dem Geröll auf. Sebastian hielt den Atem an...
In rollendem Echo verhallte der inszenierte Lärm. Doch der vermeintliche Arbeiter dort vorn ließ sich nicht aus der Ruhe bringen, ja, er sah nicht einmal auf. Stoisch setzte er seine Tätigkeit fort, als würde er seine Umgebung gar nicht mehr wahrnehmen. Da entschloss sich Basti, ihn einfach mit seiner Anwesenheit zu überraschen. Was sollte schon Schlimmes passieren, das nicht ohnehin schon geschehen war?
Erhobenen Hauptes schritt er auf die Figur zu, die nicht die geringste Notiz von ihm nahm. Als er jedoch näher kam, fand seine Verblüffung an diesem Tag ihren Höhepunkt. Kein Mensch stand dort und verrichtete seine Arbeit! Es war eine neue Götzenstatue, eine weitere Gespensterpuppe, die jedoch ausgeklügelter nicht hätte gebaut werden können. Auf einem Stock saß der schon gewohnte Schädel mit einer Perücke verziert. An einer Querstange unter dem Totenkopf hatte man eine alte Jacke aufgehängt, deren Ärmel sich im Wind hin und her bewegten. Eine weitere Stange, in Hüfthöhe, hielt eine alte Hose, deren Hosenbeine man am Ende mit Steinen beschwert hatte, damit sie nicht wahllos herumflatterten. Zwischen Ober- und Unterkörper war die senkrechte Stange getrennt. Diese Stelle war mit frischen Weidenruten, quasi als Gelenk, versehen und mit Bast umwickelt. Erfasste nun ein Windzug die Jacke, so beugte sich der Oberkörper und drehte sich etwas zur Seite. Ließ der Wind wieder nach, so richtete sich der Geistermann wie von selbst wieder auf. Aus der Entfernung glaubte der Betrachter an einen fleißigen Wegarbeiter.
Doch diese Vogelscheuche allein war nicht der Grund für Sebastians grenzenlose Verwunderung. An diese stummen, grauenvollen Weggefährten hatte er sich ja bereits gewöhnt. Der Anlass seiner Ungläubigkeit war der Felsen, an dem die Statue aufgestellt war. Von weitem sah er aus, wie jeder andere Felsbrocken. Doch diesen hier hatte man bearbeitet. Er war schulterhoch, etwa eineinhalb Meter im Durchmesser und rings herum grob behauen, wie ein Säulenstumpen. Im oberen Drittel aber hatte man ihn schräg abgeschnitten, so dass eine leicht gewölbte Fläche von mehr als einem Quadratmeter entstanden war.
Diese Fläche jedoch war spiegelglatt. Irgendjemand hatte diese Steinfläche als Tafel benutzt. Eine handbreit hohe Keilschrift war sauber in den Stein geschlagen. Diese Schrift war zu modern und viel zu sauber in den Fels gefräst, als dass ein normaler Steinmetz dies hätte bewerkstelligen können.
Selbst die Oberfläche war nicht geschliffen und poliert, sondern regelrecht glasiert, als hätte sie jemand mit enormer Hitze geschmolzen. Genau so sauber war die Keilschrift gleichmäßig tief in den Stein gegraben. Die Lettern waren so perfekt ausgebildet, dass sie wie gedruckt aussahen. Sebastian war weder eine solche moderne Schrift bekannt, noch ein Verfahren, das in der Lage gewesen wäre, einen Felsen so zu bearbeiten. Insgesamt sah das Gebilde aus, wie ein Grabstein, dem man mit einem Schmelzeisen einen Stempel aufgedrückt hatte. Diese Steinplatte war so spiegelblank, dass sich die Sonne ab einer bestimmten Position darin spiegelte und das Licht für wenigstens ein paar Stunden in die Landschaft reflektierte.
Beeindruckt stand Basti vor diesem Felsen, der wohl als Denkmal oder Wegweiser gedacht war. Dieser Stein war für eine Handwerksarbeit viel zu perfekt. Wie um alles in der Welt hatte ein Bildhauer das hinbekommen? Sebastian nahm sich die Zeit und fertigte eine Skizze in seinem Tagebuch an. Besonders diese Schrift hatte es ihm angetan! Sie besaß große, wie auch kleine Buchstaben, die in ihrer Gestalt von erschlagender Einfachheit waren: Gerade Striche, Bogen, Kreise und Punkte in wechselnder Anordnung. Dieser Stein mit seiner Inschrift passte so gar nicht in diese Welt ohne Zivilisation. Wer mochte ihn so bearbeitet haben? Eine weitere Frage, auf die Sebastian vielleicht niemals eine Antwort finden würde!
Ein Blick nach dem Stand der Sonne erzählte ihm, dass es längst an der Zeit war, zurückzukehren. Wenn er vor Balmer an dessen Hütte sein wollte, musste er sich ganz schön beeilen! Dummerweise wusste er noch immer nicht, wohin dieser Weg führte. Er wand sich weiter bergauf, der riesigen Felskante entgegen. Dort verlor er sich in einem Gewirr aus Felsen. Dahinter konnte Sebastian nur noch hohe, schneebedeckte Berge und Gletscher erkennen.
War dieser Weg ein Pass? Führte er etwa über diese Berge, möglicherweise auf die andere Seite dieser Bergkette? Und Balmer wollte diesen Weg nicht kennen? Nun, eher wahrscheinlich war, dass er ihn Lauknitz verschweigen sollte! Den Alten noch einmal danach zu fragen, wollte er vermeiden. Am Ende würde er noch misstrauisch und hätte ihm seine Fluchtpläne vereitelt. Also musste Sebastian selbst herausfinden, woher der Pfad kam und wohin er führte.
Die Entdeckungen dieses Tages ließen Sebastians Gedanken durcheinander schwirren. Diese vielen Eindrücke machten ihn schwindelig. Ein wenig mochte das wohl auch daran liegen, dass er den ganzen Tag unter sengender Sonne unterwegs gewesen war. Wahrscheinlich hatte er auch viel zu wenig Flüssigkeit zu sich genommen. Seine beiden Plastikflaschen, die er am Bach hinter Balmers Hütte gefüllt hatte, waren ausgetrunken. Im Wald der Riesenbäume hatte er einige kleine Bäche bemerkt. Dort konnte er sich erfrischen.
Auf dem Rückweg fertigte er noch zwei Skizzen von den am Wegrand verteilten, abscheulichen Vogelscheuchen an. Doch er ahnte, dass diese Gerippe weniger Vögel, als denn Menschen abschrecken sollten. Aber Menschen waren es, die diesen Weg benutzten! Trotzdem er keine Spuren finden konnte, verriet ihm die offensichtlich sorgsame Instandhaltung der Mahngebilde, dass der Weg nicht gerade selten begangen wurde.
Der Weg zurück über das Wildwasser und durch den Riesenwald war beschwerlich. Die Anstrengungen des Tages machten sich deutlich bemerkbar. Als Sebastian die Hochalm erreicht hatte, musste er feststellen, dass auch Balmer bereits auf dem Heimweg war. Er trieb sein Vieh gerade zur Mitte der Hochalm, als Lauknitz aus dem Wald trat. Rasch schlug er einen Bogen am Waldrand entlang und hetzte die Schneise hinab. Völlig außer Atem erreichte er Balmers Hütte.
Auf die Begrüßung von Rona und Reno konnte er sich kaum einlassen. In Windeseile brachte Sebastian seinen Rucksack ins Haus. Dann setzte er sich mit seinem Tagebuch an den Tisch und wartete auf das Väterchen. Rona und Reno kündigten sein Erscheinen zuverlässig mit freudigem Gebell an. Als Högi sein Tragegestell auf dem Tisch absetzte und ihn frohgelaunt begrüßte, war sich Sebastian sicher, dass er seinen Ausflug nicht bemerkt hatte.
Während Vater Balmer das Essen auf dem Tisch ausbreitete, lief er zum Bach und holte frisches Wasser. Als er schwer beladen mit zwei vollen Eimern zurückkehrte, erschrak er. Balmer stand am Tisch und blätterte in seinem Tagebuch! Das hatte ihm noch gefehlt! Nun musste Högi ganz genau wissen, wo er sich herumgetrieben hatte!
Doch der Alte sah nur kurz auf und sah sich ungeniert weiter Seite für Seite an. Ganz beiläufig bemerkte er:
»Seltsame Dinge schreibt ihr da in euer Buch, Herr..., seltsame Dinge! Die Bäume habt ihr wohl zu groß gemalt..., gibt es doch gar nicht, so hohe Bäume... Und seltsame Figuren habt ihr da gemacht...« Dabei sah er neugierig auf die Skizze des Denkmals, das Sebastian am Nachmittag entdeckt hatte.
Da verstand er gar nichts mehr! Erkannte Balmer nicht die Zeichen, die gerade mal zwei bis drei Wegstunden von seiner Hochalm in den Fels gehauen waren? Und der Wald mit den Riesenbäumen, fast in Sichtweite seiner Arbeitsstätte? War der Alte niemals bis dorthin gelangt? Oder wollte Högi mit dieser Art von Provokation herausfinden, was er noch alles entdeckt hatte?
Seine Spekulationen brachten alle nichts. Sebastian musste ins Tal, dort würden die Antworten auf ihn warten! Er nahm sich vor, schon an einem der nächsten Tage aufzubrechen. Die Gehhilfen wurden allmählich zur Dekoration und er hatte in den letzten Tagen durchaus bewiesen, dass er sich in schwierigem Gelände wieder gut bewegen konnte. So bald wie möglich wollte er den neu entdeckten Weg hinabsteigen. Bei den Dimensionen dieser Gegend war es ziemlich unsinnig, ihn zuvor zu erkunden. Wie weit würde er denn an einem Tag kommen?
Nein! Warten wollte er nicht mehr! Warum etwas planen, wo er nicht einmal wusste, wo er sich befand? Losgehen! Jetzt. Je eher desto besser! Sebastians Entschluss stand fest! Irgendwann würde auch Falméras Medicus wieder heraufgestiegen kommen. Dann würde es ungleich schwerer sein, sich davon zu schleichen. Eigentlich konnte der jederzeit wieder hier aufkreuzen. Hatte er nicht etwas von zwei bis drei Wochen gesagt? Wie viel Zeit war inzwischen vergangen? Eine Woche, oder zwei?
Lauknitz musste zugeben, dass er die Orientierung in der Zeit verloren hatte. Hier oben war Zeit nicht mehr wichtig. Es gab keine Termine oder Verpflichtungen, also gab es auch keine Zeit in dem ihm bekannten Sinne. In Högi Balmers Welt wurde Zeit in Gegebenheiten gemessen: Sonnenaufgang, Mittag, Sonnenuntergang. Das Väterchen benutzte auch Bezeichnungen wie: Zeit der großen Sonne, Mond der fallenden Blätter, oder Monde des kalten Windes und des Schnees. Auch die Himmelsrichtungen schienen hier eine einfachere Darstellung zu besitzen. Land der schlafenden Sonne, Land der großen Sonne... Das war Balmers Art, eine Himmelsrichtung anzugeben. Beinahe erinnerte ihn das an die Orientierung der nordamerikanischen Indianer.
Plötzlich dachte er daran, keine Sonne und keinen Mond mehr zu verlieren. Übermorgen schon wollte er in Richtung der müden Sonne marschieren. Dann würde er dem geheimnisvollen Weg nach der schlummernden Sonne hin folgen, um sich dann, im Tal, der geweckten Sonne zuzuwenden. Seine Goldkassette wollte Sebastian bereits in der nächsten erwachenden Sonne von den Felsen holen, sobald Väterchen Balmer mit seinen Herden losgezogen war. Mit Proviant konnte er sich auf dem Weg über die Hochalm aus Balmers Speicher eindecken. Der Gedanke, dass er den Alten bestehlen würde, kam ihm nun nicht mehr. Schließlich hatte er ihn ja gegen seinen Willen bei sich beherbergt.
Nachdem sie sich an diesem Abend zur Ruhe gelegt hatten, lag Sebastian noch lange wach. Sein Vorhaben, ja, man konnte schon sagen seine Flucht, ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. Wieder und wieder spielte er seinen Plan durch, um mögliche Hindernisse zu erkennen, an denen sein Weggehen scheitern konnte. Die einzige Schwierigkeit sah er darin, genügend Entfernung zwischen sich und Balmer zu bringen, bevor dieser sein Verschwinden bemerken würde und jemanden benachrichtigen konnte. Vielleicht ließ sich der Alte noch eine Weile nach seiner Flucht in die Irre leiten? Mit dieser Überlegung schlief Sebastian endlich ein...

Als er am folgenden Morgen vor die Hütte trat, war Balmer bereits fort. Rona und Reno begrüßten ihn ungestüm und er vermutete, dass sie jeden seiner Schritte überwachen sollten. Doch sie waren schon so sehr auf ihn fixiert, dass es ein Leichtes war, mit einem Befehl dafür zu sorgen, dass sie bei der Hütte blieben. Ohne Gehhilfen stieg Basti mit seinem Rucksack zunächst zu den Felsen am See auf. Ein Blick die Schneise hinauf klärte die Situation. Balmer war nicht mehr zu sehen. Also führte er seine Herde bereits über die Hochalm.
Die Felsnische, in der er seine Goldkassette versteckt hatte, lag unangetastet im Licht der jungen Sonne. Beruhigt stieg er weiter über die felsdurchsetzte Weide. Sein Ziel war die Felsgrotte, die er vor Tagen entdeckt hatte. Sebastian hatte die vage Hoffnung, dass er dort einen Weg auf die hohe Felskante finden würde, von wo aus er einen besseren Blick auf das Tal vermutete. Jede Erkenntnis über das Gelände, über das er am nächsten Tag zu Tal steigen wollte, konnte hilfreich sein.
Den Bannwald erreichte er schnell und problemlos. Doch nach der Grotte musste er wiederum lange suchen. Sie lag so verborgen, dass er große Mühe hatte, ihren Zugang noch einmal zu finden. Vorsichtig stieg Sebastian am Rande des schäumenden Baches in das Dunkel der Höhle. Auf glitschigen, nassen Steinen fanden seine Füße nur schwer Halt. Dann verengte sich der Raum. Zwei große Felsen versperrten links und rechts den Durchstieg. Zwischen ihnen schoss das Wildwasser mit hohem Druck hervor. Der linke, niedrigere Felsriegel bestand aus brüchigem Gestein und war in natürliche Stufen unterteilt. Vier bis fünf Meter galt es zu überklettern. Seine Neugier gebot Lauknitz zu erfahren, was dahinter war.
In der Erwartung, eine undurchdringbare Finsternis vorzufinden, schob er seinen Oberkörper über den nassen Fels. Jenseits dieses Steinriegels empfing ihn erneut eine Überraschung! Keine gähnende Dunkelheit tat sich vor ihm auf! Statt dessen blickte Sebastian in sehr schwachem Licht auf ein Gewirr von nass glänzenden Felsen, zwischen denen der Bach unregelmäßig dahinsprudelte. In weiter Entfernung gewahrte er ein Licht, einen Schimmer nur, der jedoch genügte, den Höhlenraum so weit auszuleuchten, dass er leidlich erkennen konnte, wohin er trat.
Von oben fielen kleine Rinnsale, oder einzelne Tropfen Wasser herab und begannen Sebastian zu durchnässen. Er warf einen ärgerlichen Blick hinauf und stellte fest, dass auch von dort Tageslicht herab schien. Winzige Strahlenkanonen schossen an den Wänden der schwarzen Grotte herab und ließen die fallenden Wassertropfen wie Diamanten blitzen. Diese Höhle musste, zumindest teilweise, nach oben hin offen sein. Dennoch war es nass, dunkel und kalt und es schauderte ihn bei dem Gedanken, hier auszurutschen und sich die Knochen zu brechen. Draußen war Sommer, doch hier in dieser Grotte konnte man ohne weiteres an Unterkühlung sterben.
Dann lichtete sich das Dunkel. Vor ihm eröffnete sich ein Kessel ungefähr drei Meter weit, umgeben von den hoch aufstrebenden Felswänden, die weit oben in einer Kante zu enden schienen. Pflanzen wuchsen über die Kante herab und streckten ihre Wurzeln ins Leere. Ein gigantischer Riss im Fels war es wohl, der dieses Lichtloch in der Höhle geschaffen hatte. Nach einigen Schritten jedoch führte der einzige Weg wieder in die Dunkelheit. Die Grotte machte hier einen starken Knick und Sebastian hatte das Gefühl, dass sie nun beinahe in die entgegengesetzte Richtung führte.
Ohne viel sehen zu können, tappte Lauknitz erneut über glitschige Steine, jederzeit darauf gefasst, für immer in einem unendlichen, feuchten Loch zu verschwinden. Eine Ewigkeit war er in dieser unwirtlichen Klamm unterwegs und nur die Neugier trieb ihn weiter. Es wurde empfindlich kalt und nur ab und zu verirrte sich ein Lichtstrahl in diese tiefe Finsternis. Ein paar winzige Wasserfälle musste Basti erklettern, um weiter vorwärts zu kommen. Bald war er völlig durchnässt und fror fürchterlich. Dennoch hätte es wenig Sinn gemacht, einen Pullover oder eine Jacke überzuziehen. Diese würden im Nu vor Wasser triefen.
Irgendwann nahm das Licht am Ende der Höhle wieder zu und Sebastian trat unvermittelt ins Freie. Ein paar Meter kämpfte er sich noch durch dichtes Gebüsch und Wald, dann stand er da und staunte. Vor ihm erstreckte sich ein kleines Hochtal mit saftigen Wiesen zu beiden Seiten des Baches, dem er durch das Dunkel gefolgt war. Die mächtigen Berge, die er bisher nur von Balmers Alm aus über die Felskante strahlen sah, begrenzten das kleine Tal mit ihren vereisten Mauern. Zu beiden Seiten verdeckte ein breiter Hochwaldgürtel den Fuß der hohen Berge. Ihre Gletscher jedoch drängten an einigen Stellen bis in den Wald hinein, als versuchten ihre Zungen an den saftig grünen Weiden zu lecken. Teilweise ragten die Felswände der Bergriesen so steil auf, dass Sebastian ihre Gipfel erst gar nicht zu Gesicht bekam.
Die Sonne brannte vom Himmel und rasch trockneten seine Kleider, die sich in der Höhle mit Wasser voll gesogen hatten. Fasziniert wanderte er durch die üppigen Wiesen des Tals, immer entlang des Baches, in dem die Gletschermilch aufgewühlt dahin schoss. Rechts und links murmelten kleine Rinnsale von den Felswänden heran. Sie nährten den Bach, der vor ein paar Tagen auf Balmers Alm zum reißenden Strom angewachsen war. Wohin diese Wasser endlich flossen, das wollte Sebastian am nächsten Tag ergründen.
Doch in diesem Augenblick genügte es ihm, an diesem Bach entlang zu wandern, die Sonne zu genießen und sich von den Bildern dieser Natur berauschen zu lassen. Die Wiesen waren übersät mit Blumen in den vielfältigsten Farben und Formen. Und kannte Lauknitz bis dahin Blumen im Gebirge nur als bescheidene, kleine bunte Tupfer, so lehrte ihn die Natur dieses Tals, zu was sie noch fähig war. Edelweiß wuchsen hier in der Größe einer kleinen Untertasse, oder die kräftig rosa schimmernde Blüte des Berghauswurz, die hier eher an eine Blume der Südsee erinnerte. Vergissmeinnicht wuchs an den Sonnenseiten von Felsbrocken in der Größe der ihm bekannten, gezüchteten Stiefmütterchen.
Alle paar Schritte musste er stehen bleiben und staunend seine Augen reiben. Überall entdeckte er neue, ihm unbekannte Wunder der Natur, die selbst seine kühnsten Erwartungen übertrafen. An einigen Felsblöcken in Waldnähe spross Pfefferminze mannshoch empor und verbreitete weithin einen aromatischen, beruhigenden Duft, der dann wieder dem süßlichen Geruch von Waldmeister wich, der ebenso üppig zwischen den Bäumen wuchs. Die Eindrücke dieser Welt begeisterten Sebastian so stark, dass er ganz sein eigentliches Vorhaben vergaß. Der Ausblick von der Felskante war der Faszination dieser einzigartigen Natur gewichen, von der er nie etwas gehört, oder gelesen hatte. Er bewegte sich in einer Welt, die verzauberte!
Je weiter Sebastian das Tal hinauf stieg, desto trockener wurde das Gras. Das Gelände wechselte zur kurzgrasigen Almlandschaft. Latschenkiefern und unzählige Kräuter bestimmten die Duftkulisse. In der Mitte machte das Tal einen Bogen nach Süden. Als sich ihm die Sicht bis zum Talschluss eröffnete, hielt er den Atem an. Dieser Anblick übertrumpfte alle Postkartenansichten, die ihm je untergekommen waren. Harmonisch lichteten sich die Wälder zu kleinen Arvengesellschaften, machten kurzem, gelbgrünem Almgras Platz, bekränzten sich mit dem leuchtenden Grau mächtiger Moränenwälle, in deren Schoß sich eine strahlend weiße, gerippte Gletscherzunge zu Tal schob. Optisch machte es den Eindruck, als wolle das Eis das Grün des Tales einfach überrennen. Dahinter warf sich eine Bastion aus Fels und Eis auf, wie Sebastian sie noch nirgends in den Alpen erblickt hatte. Auf einer Galerie felsiger Säulen, Pfeiler, Kanten und Flanken thronte eine himmelhohe Krone von gleißenden Firnen und Eisspitzen, an denen sich kleine, unermüdliche Wolken festkrallten. So überwältigend stand diese gigantische Kulisse unter dem tiefen Blau des Himmels, dass Lauknitz einfach nur stumm dastand und schaute. Er kannte Fernsehbilder aus dem Himalaya- Gebirge, die ihn schon beeindruckten, doch was seine Augen hier erfassten, war von einer solchen Gewaltigkeit, Schönheit und Harmonie zugleich, dass er dieses Tal am liebsten nie wieder verlassen hätte. Die Sonne übergoss diesen Teil des Tales den ganzen Tag über mit ihrem Licht. Riesige Felswände schützten es vor ungebändigten Wetterlaunen und der Gletscher sandte ein ständig kühles Lüftchen in den Talgrund.
Es fiel Basti schwer, sich von diesem Anblick wieder zu trennen, doch die Zeit drängte zur Rückkehr. Er war in diesem Moment hin und her gerissen zwischen seinem Vorhaben, so schnell wie möglich wieder nach Hause zu kommen und der Versuchung, einfach noch ein paar Tage hier oben zu bleiben, als ob er Urlaub machen würde. Dagegen stand jedoch das Argument, dass er hier einige sehr merkwürdige Dinge gesehen und erlebt hatte, die er aufgeklärt wissen wollte. Denn wie kann man einen unbeschwerten Urlaub genießen, wenn einem Saurier im Nacken saßen, die es eigentlich nicht geben durfte, wenn von wer weiß von wem menschliche Skelette in der Landschaft aufgestellt wurden und man als einzige Gesellschaft mit einem alten, durchgeknallten Almöhi vorlieb nehmen musste. Wenn die Situation irgendwann geklärt war und sich alles als harmlos herausgestellt hatte, würde er sicher viel Spaß an einem Urlaub in dieser Gegend haben... Ja, wenn...!
Sebastian Lauknitz konnte freilich nicht ahnen, dass sich die Ereignisse bereits am nächsten Tag überschlagen sollten und er sich erst am Beginn eines dramatischen Abenteuers befand, das sein Leben völlig verändern sollte und das er bis zum heutigen Tag nicht ganz begriffen hatte...
Auf dem Rückweg hatte Sebastian wesentlich mehr Schwierigkeiten, durch die lang gezogene Grotte zu gelangen. Der Lichteinfall, der ihm noch am Morgen half, den Weg zu finden, hatte deutlich abgenommen. Die sich neigende Sonne fiel nicht mehr von oben in den Felsspalt und erreichte nicht mehr den Boden der Höhle. Mehr rutschte, stolperte und fiel Lauknitz durch die Höhle, als dass er durch sie ging. Eine halbe Ewigkeit später spuckte ihn der Fels wieder aus. Nach dem Tag in diesem Hochtal kam ihm der Wald unwirtlich, ja fast bedrohlich vor. Selbst Högi Balmers Alm, über die er kurz darauf schritt, wirkte bedrückender auf ihn, als das, was er an diesem Tag entdeckt hatte.
Am Waldrand entdeckte Sebastian noch etwas Sonderbares: Unter einem Strauch, der dicke, dunkelrote Beeren trug, lag ein grobes, schmiedeeisernes Gebilde, dass ihn an eine Bärenfalle aus einem Trapperfilm erinnerte. Es war leicht angerostet und das Gras wuchs bereits durch die komplizierte Konstruktion hindurch. Das Gerät musste bereits mindestens einen Sommer lang an dieser Stelle gelegen haben. Er erinnerte sich, dass Balmer und der Medicus Bären erwähnt hatten. Allerdings vermutete Lauknitz die Anwesenheit dieser Tiere nicht so nahe bei der Hütte. Möglicherweise hatte der Alte die Fallen nur vorsorglich ausgelegt, denn er berichtete einmal, dass ein Bär in seine Herde eingefallen war.
Bäume und Felsen warfen bereits lange Schatten, als er sein geheimes Versteck erreichte. Basti stieg zwischen die Felsen, entfernte Gras und Steine von der kleinen Grotte und zog seine Kassette mit den Goldmünzen heraus. Wind und Wetter hatten ihr in diesem Erdloch nichts anhaben können. Vorsichtig verstaute er seinen kleinen Schatz wieder im Rucksack. Das wievielte Mal eigentlich, seit seinem hastigen Aufbruch in Norddeutschland?
Vor Balmers Hütte wurde er stürmisch von Rona und Reno begrüßt. Das wunderte ihn, denn er nahm an, dass sie am Morgen dem Alten auf seine Hochalm gefolgt waren. Die beiden hier anzutreffen, machte Sebastian misstrauisch. Von Balmers Herde und ihm selbst war nichts zu sehen. Hatte er sie zurückgeschickt, um ihn zu bewachen? Lauknitz fiel ein Stein vom Herzen, dass die beiden ihm nicht gefolgt waren. Falls Balmer selbst das Tal nicht kannte, das er an diesem Tag entdeckt hatte, wollte er den Fund geheim halten. Er wusste nicht, was er hier noch alles erleben würde, bis er endlich in die Zivilisation zurück fand. Dieses Hochtal konnte ihm vielleicht noch einmal als geheimer Zufluchtsort dienen. Soweit Sebastian das einschätzen konnte gab es nur diesen einen Zugang durch die Felsklamm. Er lag so versteckt, dass man über ihn stolpern konnte und man würde ihn dennoch nicht entdecken.
Väterchen Balmer erschien eine halbe Stunde nach ihm bei der Hütte. Rona und Reno kündigten ihn bereits an, bevor Sebastian ihn noch sehen oder hören konnte. Die beiden erstarrten plötzlich in der Bewegung, stellten die Ohren auf und stürmten aus dem Stand davon, wie von einer Bogensehne geschnellt. Inzwischen konnte Basti die Zeichen ihrer Verhaltensweisen so gut deuten, dass er sofort wusste ob sich Freund oder Feind näherte.
Der Alte kam freudestrahlend den Almhang herab und stellte stolz sein Tragegestell mit prall gefüllten Beuteln auf den Tisch: »Freuet euch Herr, heute gibt es Gebratenes auf Högi Balmers Tisch! Wenn es euch beliebt, heizt schon mal den Ofen an, Väterchen Balmer bereitet der Weile den Wafan zu. Ist Väterchen Balmer direkt vor die Füße gelaufen, das einfältige Tier..., direkt vor die Füße!«
»Was beim Himmel ist denn nun wieder ein Wafan?«, entfuhr es Sebastian. Neugierig sah er zu, wie der Alte das Zugband eines groben Leinenbeutels zu öffnen begann, der bis zum Bersten gefüllt schien.
Balmer schüttelte unverständlich seinen Zottelkopf und seine Hand vollführte eine gleichgültige Bewegung in Bastis Richtung. Dabei sagte er verwundert und wohl mehr zu sich selbst: »Bei den Göttern von Tálinos..., er weiß es nicht mehr! Hat sie für sein Leben gern verspeist, diese Vögel , aber er weiß es nicht mehr! Hat alles vergessen, drüben, im Reich der Toten..., alles vergessen, als hätte er nie gelebt.«
Er wackelte noch einmal ungläubig sein Haupt hin und her. Dann zog er ein totes Tier aus dem Beutel und erklärte Sebastian beinahe feierlich: »Ein Wafan! Keinen Braten hattet ihr lieber, als den von einem Wafan, Herr. ...Bevor ihr in das Reich der Toten aufgebrochen seid«, fügte er noch rasch hinzu, als er bemerkte, dass Lauknitz etwas sagen wollte.
Der Wafan war offensichtlich ein Vogel. Er hatte Ähnlichkeit mit den Sebastian bekannten Haushühnern, war aber noch wesentlich größer, als ein Truthahn. Sein Federkleid war dunkelbraun bis schwarz, an der Bauchseite jedoch flauschig und hellbeige. Das Tier besaß zwei stämmige, schwarze Beine, dafür aber nur verkümmerte Flügel, die ihm ganz sicher nicht gestatteten, sich in die Lüfte zu erheben. Seinen mächtigen, grauen Schnabel schien das Riesenhuhn dafür zu nutzen, um im harten Gebirgsboden nach Nahrung zu wühlen. Er war kräftig, aber nicht zu lang. Ein wenig erinnerte ihn dieser Vogel an einen riesigen Auerhahn.
»So sprecht, Väterchen Balmer, wieso war ich denn überhaupt in das Reich der Toten aufgebrochen?« Sebastian versuchte den Alten mit dieser Frage zu überrumpeln, vermutete aber, dass er damit keinen Erfolg haben würde und dass dieser ihm wieder nur irgendwelche seiner Fantastereien zum Besten geben würde.
»Herr..., Väterchen Balmer weiß nicht, wie er das sagen soll... Wisset Herr, Väterchen Balmer musste dem Medicus beim Sitz der Götter versprechen, nicht mit euch über diese Dinge zu sprechen...«
Der Alte machte eine längere Pause, als musste er sich seine nächsten Worte ganz genau überlegen. Während dessen band er den Riesenvogel mit einem kräftigen Lederriemen kopfüber an die Hüttenwand. Erst jetzt fiel Sebastian auf, dass der Kopf des Tieres locker hin und her schaukelte. Balmer musste ihm mit brachialer Gewalt das Genick gebrochen haben. Der blutige, eingedrückte Schädel des Vogels bestätigte Bastis Annahme. Väterchen Balmer nahm die Wassereimer und schickte sich an, zum Bach zu humpeln. Sebastian stand auf und folgte ihm. Um keinen Preis wollte er jetzt locker lassen!
»Also, nun redet schon! Warum wollte ich in das Reich der Toten?« Die Frage drängte er Högi förmlich auf. Er spürte, wie unangenehm es dem Alten war. Vermutlich wollte er nur Wasser holen, um ihm nicht antworten zu müssen. Sichtlich gehetzt erreichte er den Bach und füllte die Eimer mit dem klaren Quellwasser. Högi tat dies so umständlich, dass Sebastian augenscheinlich klar wurde, dass er nur Zeit schinden wollte.
»Väterchen Balmer«, begann Lauknitz erneut, »der Medicus ist nicht hier und er braucht nicht zu erfahren, was wir miteinander reden! Also... Was wisst ihr über mich und das Reich der Toten? Warum wollte ich dorthin? Ich kann mich nicht erinnern, jemals von einem Reich der Toten gehört zu haben. Warum sollte ich also dorthin gewollt haben?«
Der Alte verhielt einen Augenblick in seiner Bewegung. »Dort hin gewollt habt ihr ja auch nicht, Herr...« Hastig nahm Balmer die vollen Wassereimer auf und trat erstaunlich behände den Rückweg zur Hütte an. Deutlich sah ihm Sebastian an, dass er sich selbst über seine voreilige Äußerung ärgerte und dass er dieser Situation nur zu gern entfliehen wollte.
Basti hatte Mühe ihm zu folgen, drängte aber nach: »Väterchen, ihr seid mir noch eine Antwort schuldig!« Balmer blieb so abrupt stehen, dass ein Schwall Wasser aus beiden Eimern in das Almgras schwappte. »Herr, Väterchen Balmer hat es dem Medicus versprechen müssen..., der Medicus...«
»Zum Teufel mit dem Medicus!«, unterbrach ihn Lauknitz barsch, »es geht hier um meine Person..., um mich, Väterchen Balmer, nicht um den Medicus Andreas, habt ihr das verstanden? Ich habe allmählich die Nase voll von eurer Geheimniskrämerei, dass das jetzt mal klar ist! Also, Väterchen, habt bitte die Güte und beantwortet mir einfach nur die Frage: Wie kam ich in das Reich der Toten? Das kann doch nicht so schwer sein!«
Das Väterchen hielt an, tat einen großen Seufzer und setzte die beiden Wassereimer auf den Boden. Dann begann er zögerlich zu sprechen, leise, fast flüsternd, als hätte er Angst, der Medicus könnte vom Bruch seines Versprechens hören:
»Herr.., die Wächter des Totenreichs.., freiwillig seid ihr ja nicht dorthin aufgebrochen... Die dunklen Wächter brachten euch vor das Tor in das Reich der Toten. Jeder der sein Leben verliert wird dorthin gebracht...«
»Ihr wollt damit sagen, dass ich tot war, ist es das, was ihr meint?«, fragte Sebastian erstaunt. Insgeheim glaubte er, dass der Alte wieder einmal seiner Phantasie freien Lauf ließ. Doch die sichere Überzeugung, mit der Högi sprach, verunsicherte ihn. Er schien wahrhaftig zu glauben, was er sagte.
»Väterchen, wie erklärt ihr euch dann«, begann er von neuem, »dass ich jetzt ziemlich lebendig vor euch stehe?«
Balmer zog die Falten seiner Stirn noch mehr zusammen und dachte offenbar angestrengt nach. »Das ist es ja, Herr, ihr seid aus dem Reich der Toten zurückgekehrt! Aber euer Geist ist dort geblieben, denn ihr wisst nichts mehr von dem, das euer Leben gewesen war.., nichts mehr, gar nichts mehr wisst ihr.«
»Aber wie kann man denn von den Toten zurückkommen, Väterchen, einmal ganz davon abgesehen, dass ich mich nicht erinnern kann tot gewesen zu sein?« In dieser Frage ließ er schon einen ungeduldigen Klang mitschwingen, denn es wurde ihm langsam leid, mit diesem verrückten Alten über den Tod zu philosophieren.
»Herr, ich weiß das alles nicht.., fragt den Medicus, der weiß sehr viel darüber. Väterchen Balmer kann euch eure schwierigen Fragen nicht beantworten. Nur ein oder zwei Mal ist einer aus dem Reich der Toten zurückgekehrt. Die hatten auch alles vergessen, ihr Leben, woher sie kamen... Die Götter wollten sie noch nicht haben und haben ihre Körper zurück geschickt, in das Leben. Nur ihren Geist haben sie behalten.«
Unsicher sah er Högi Balmer an. Redete er wieder nur wirr, oder gab es ein Stück Realität an dieser Geschichte? Sebastian musste zugeben, er wusste nicht einmal, wie viel Wahrheit in dessen eigener Lebensgeschichte steckte, die er ihm kürzlich auf dem Weg zur Hochalm erzählt hatte.
Lauknitz kniete nieder, schöpfte kühles Wasser aus einem der Eimer und erfrischte sich das Gesicht und die Stirn. Bei solchen Gedanken konnte man ja wahnsinnig werden! Dann stand er auf und sah Balmer tief in die Augen. Schuldbewusst senkte der seinen Blick zu seinen Füßen. Doch nicht so, wie man wegschaut, wenn man jemanden belogen hat, sondern eher in der Weise, wenn man ein streng gehütetes, verbotenes Geheimnis preis gegeben hat. Wahnsinn konnte Sebastian in seinen Augen jedenfalls nicht erkennen. Aber gerade das beunruhigte ihn.
»Sagt, Väterchen«, fing er von neuem an, »kennt ihr denn jemanden persönlich, der schon mal aus dem Reich der Toten wiedergekehrt ist? ...Ich meine jemanden, den ihr auch schon kanntet, bevor er in das Totenreich aufgebrochen war?«
Gedankenverloren schüttelte Balmer sein greises Haupt und sprach wie zu sich selbst: »Nein, die anderen beiden kamen aus dem Reich der Toten wie Fremde, keiner im Tal kannte sie mehr. Sie waren schon vor zu sehr langer Zeit in das Reich der Ewigkeit aufgebrochen. Sie waren die Väter unserer Großväter. Zu lange her.., die kannten wir ja nicht mehr, viele Sommer alt... Dann kamen sie zurück und wussten nichts mehr. Sie wurden als die sehr Alten in die Gemeinschaft der Dörfer aufgenommen.
»Ja, Väterchen, aber sie waren doch Fremde für euch, oder nicht?«, bohrte Basti weiter. Er beobachtete, wie Balmer angestrengt nachdachte. Solche Gedankengänge schienen sein Gehirn allmählich zu überfordern.
»Sie waren keine Fremden, Herr, denn sie kamen ja aus dem Reich der Toten. Sie waren ja einmal durch die Pforte in die Ewigkeit gegangen.., aus unserem Tal, Herr, aus unseren Dörfern.., aus unseren Familien...«
»Na schön, Väterchen«, unterbrach er ihn, »aber was ist mit mir, kanntet ihr mich denn schon, bevor ich in das Reich der Toten aufbrach?«
Balmer runzelte die Stirn und wiegte zweifelnd seinen Kopf hin und her. Sebastian spürte, dass die Wahrheit aus ihm heraussprudeln wollte. Doch irgend ein Zwang befahl ihm zu schweigen. Gerade wollte er die Wassereimer zu seinen Füßen aufnehmen und weiter gehen...
»Herr..., ja, Väterchen Balmer kannte euch bereits, bevor ihr in das Reich der Toten eingetreten seid.« Er schlug sich mit den Fingerknöcheln an den Kopf, als würde er sich selbst dafür bestrafen wollen, ein großes Geheimnis verraten zu haben. Dann schien sein Mitteilungsbedürfnis für eine Weile über sein Schweigegelübde gesiegt zu haben:
»Es ist ja nicht so, Herr, dass ihr nur irgendwer seid... Jedem Mann, jeder Frau und jedem Kind in diesen Tälern seid ihr wohl bekannt, Herr.«
Verwundert sah Lauknitz den Alten an. Entweder tischte er ihm da eine dicke Lüge auf, um die Wahrheit nicht preisgeben zu müssen, oder aber er verfiel wieder einmal in den Wahn seiner Einbildung. Sebastian packte den Alten am Arm und sah ihn durchdringend an:
»Väterchen.., sagt mir ja bloß die Wahrheit! Ich hab’ jetzt echt keinen Nerv mehr auf eure Rätsel, versteht ihr?« Vater Balmer trat erschrocken einen Schritt zurück und sah betreten zu Boden. Dann legte er beschwichtigend seine Hände auf Sebastians Arm:
»Versteht doch, Herr.., Väterchen Balmer musste es dem Medicus versprechen... Nichts sollte ich euch sagen, bis der Medicus vom Hofe Falméras zurück ist.« In seiner bedrängten Lage versuchte der Alte verzweifelt die richtigen Worte zu finden. »Herr, der Medicus besitzt das Vertrauen Falméras und jeder in diesen Tälern achtet ihn. Herr.., vergebt dem alten Vater Balmer.., aber er darf euch nichts sagen, bis der Medicus seinem Gebieter, dem König Bental, Sohn des Tramon berichtet hat, ob ihr sein...« Abrupt hörte Balmer zu sprechen auf und presste verlegen die Lippen zusammen.
»Ob ich sein.., was?« Sebastian drängte Vater Balmer, weiter zu sprechen.
Doch der hob die beiden Wassereimer auf und setzte wankenden Schrittes seinen Weg zur Hütte fort, ohne sich noch einmal umzudrehen. Dabei sprach er mit sich selbst, was so klang, als wollte er sich selbst ermahnen:
»Vater Balmer ist kein Plappermaul.., oh nein, das ist er nicht. Hat sein Versprechen gegeben, zu schweigen, bis Falméras Medicus wieder zurück ist... Vater Balmer ist zu gut, hat schon zu viel gesagt. Högi Balmer, Sohn des Forath Balmer und der Minneha Balmer, aus dem Leibe der Zusäntis, ist kein Schwätzer.., oh nein, das ist er nicht.., bei Talris und den Göttern von Tálinos, Vater Balmer wird nun stumm sein, wie er es versprochen hat!«
Dieses Bekenntnis, treu zu schweigen, wiederholte er, bis sie die Hütte erreichten. Lauknitz trottete hinter ihm her, entmutigt, weil er ihm wieder keine Informationen entlocken konnte und dachte nach. Was meinte der Alte mit: ...bis der Medicus seinem Gebieter, dem König Bental, Sohn des Tramon berichtet hat, ob ihr sein..? Was sollte er für diesen König sein? Ein Feind, jemand auf den er seit langem wartete, ein Helfer in der Not..? Dieser König, wenn er denn nicht nur in Högi Balmers Phantasie existierte, kannte ihn doch gar nicht! Auf das Geschwafel Balmers konnte er sich einfach keinen vernünftigen Reim machen.
Wieso war er nach Balmers Meinung jedem in diesen Tälern bekannt? Niemals zuvor war er in dieser Gegend gewesen und auch sonst kannten nicht viele Leute den Stuckateur Sebastian Lauknitz aus Braunschweig. Was für ein Interesse konnten die Menschen hier an ihm haben? Sebastian besaß keine besonderen Fähigkeiten und war auch mit keinen außergewöhnlichen Begabungen ausgestattet, die auch nur im Entferntesten für jemanden von Nutzen sein konnten. Schließlich kam er zu dem Schluss, dass man ihn mit jemandem verwechselte. Vielleicht begann diese Verwechselung sogar schon, als er dem Schweizer Polizisten Bruno Ambühel begegnete. Überhaupt hatte alles Ungewöhnliche erst durch sein Zusammentreffen mit diesem Berner Gendarmen begonnen...
»Väterchen bereitet euch jetzt den leckersten Wafan, den euer Gaumen je verspürt hat, Herr...« Inzwischen hatten sie die Hütte erreicht und Vater Balmer begann den totgeschlagenen Vogel zuzubereiten. Dabei dokumentierte er jede seiner Handlungen, so dass Sebastian das Gefühl hatte, einem Universitätsprofessor bei seiner Vorlesung zu folgen.
Während Lauknitz den großen Ofen an der Hüttenwand in Gang setzte, begann der Alte das erlegte Tier zu reinigen. Reno und Rona umtänzelten ihn dabei aufdringlich. Offenbar versprachen sie sich einige Leckerbissen, die für sie abfallen würden. Als das Wasser im Kessel kochte, legte Balmer den Vogel auf ein Holzgitter und übergoss ihn mehrmals mit dem siedenden Nass. Augenblicklich stand der Alte in einer mächtigen Dampfwolke, die sich nur langsam verzog. Rona und Reno hielten skeptisch Abstand. Als Balmer mit puterrotem Kopf wieder aus der Wolke auftauchte, sah er selbst aus, wie ein nasses Huhn. Seine wenigen Haare hingen ihm in feuchten Strähnen im Gesicht und sein Umhang fiel schlaff und nass von seinen gebeugten Schultern.
Vorsichtig begann Väterchen Balmer dem Vogel die Federn auszurupfen. Dabei hatte er zwei geflochtene Körbe neben sich stehen. In den einen warf er die kleinen weichen Federn des Wafan, während er die großen, kräftigeren Federn in den anderen Korb sortierte:
»Muss locker in den Körben liegen, das Federkleid, Herr.., ganz locker, damit alles schön trocknet und nicht schimmelt. Werden noch gut gebraucht, die Federn, denkt Herr.., nicht jeden Tag bekommt Väterchen Balmer einen Wafan!«
Anschließend hielt Bastis Gastgeber den riesigen Vogel in die Flammen des Ofens. Er schwenkte ihn darin hin und her und schien dabei Mühe mit seinem Gleichgewicht zu haben. Sebastian wunderte sich, dass er sich dabei nicht die Hände verbrannte, oder sich seine eigenen Haare absengte. Es sah zum Schießen aus! Etwa so, wie wenn ein kleiner Zwerg in einem Höllenfeuer mit einem nackten Monstervogel kämpft. Auf diese Weise versuchte der Alte die letzten stecken gebliebenen Federkiele zu entfernen. Als der Kampf mit dem Monster endlich gewonnen war, warf Balmer das Federvieh krachend auf das Holzgitter zurück.
Dann schärfte er an einem Stein ein spitzes Messer und trennte das Tier vorsichtig vom After bis zum Hals auf. Balmer griff in den geöffneten Brustkorb des Wafan und brach ihn mit einem fürchterlichen Knacken auseinander. Ein nicht gerade angenehmer Duft entwich dem Inneren Balmers Beutetiers. Rona und Reno jedoch schien der Geruch zu gefallen. Sie waren schlicht aus dem Häuschen. Wie kleine tanzende Teufel umkreisten sie den Alten, der mit beiden Händen in den Innereien herumwühlte und beinahe schon mit seinem Oberkörper in dem toten Vogel verschwunden war. Gelegentlich warf Balmer den beiden Hunden etwas zu, das sie akrobatisch im Fluge schnappten und auf der Stelle hinunter schlangen.
Nachdem er den Wafan ausgenommen hatte, steckte Balmer den Vogel auf einen Bratspieß und hängte ihn über das Feuer: »Schön drehen müsst ihr den Braten, Herr.., immer schön drehen und lasst die Flammen nicht zu hoch stehen, eine schöne Glut müsst ihr halten, Herr.., eine schöne Glut!«
Damit ließ er Sebastian und den Riesenvogel allein. Na der war vielleicht witzig! Wie sollte Basti wohl Holz nachlegen, jedoch verhindern, dass Flammen daraus schlugen? Er machte die Erfahrung, dass Braten über offenem Feuer etwas ganz anderes war, als ein paar Dosenwürstchen auf einer elektrischen Kochplatte zu erhitzen. So focht Sebastian einen ungleichen Kampf gegen die Flammen und gegen einen Klumpen Fleisch, der für eine ganze Kompanie ausgehungerter Soldaten gereicht hätte.
Nach einer Weile kam Balmer wieder aus der Hütte, eine Schale unter dem Arm, die er neben dem Ofen absetzte. Eine undefinierbare, beinahe blumig duftende, dicke Brühe befand sich darin. Väterchen Balmer nahm einen langstieligen Holzlöffel, tauchte ihn in die Schale und strich den Braten mit der Tinktur ein. Mit der Hilfe des Alten lernte Sebastian das Holz im Kamin vorsichtig so zu drehen, dass die Flammen niedrig gehalten wurden und die blanke Glut ihren Vogel garte.
Jemand, der noch nie auf diese Weise gekocht hat, wird das wohl nicht glauben, aber das war ihre Beschäftigung der nächsten drei Stunden: Basti drehte den Spieß und Högi Balmer beschmierte den Vogel immer wieder mit seiner Soße. Der Erfolg war freilich sichtbar. Allmählich bildete der Geflügelbraten eine goldbraune, saftige Kruste, deren Wohlgeruch den Weg in ihre Nasen fand und ein unbändiges Hungergefühl auslöste. Sebastian konnte sich nicht erinnern, wann ihm das letzte Mal so stark das Wasser im Munde zusammenlief.
Er verzichtete darauf, Balmer noch einmal mit seinen Fragen bezüglich seiner Person und dem Reich der Toten zu konfrontieren. Statt dessen erkundigte er sich nach der Bärenfalle, die er oben am Rand des Bannwaldes gefunden hatte.
»Sind schlaue Biester, diese Felsenbären, Herr, ganz schlaue Biester. Wo sie einmal böse Erfahrungen gemacht haben, bleiben sie meist weg. Väterchen Balmer hat viele solcher Bärenfänge aufgestellt, Herr, an den Waldgrenzen und Lichtungen. Ihr müsst Acht geben, Herr, wenn ihr unterwegs seid, müsst vorsichtig sein, Herr.., immer schauen, wohin ihr tretet.., sehr vorsichtig! Schlägt einem glatt das Bein ab, Herr, so ein Bärenfang.«
»Und...«, wollte Sebastian wissen, »habt ihr schon einmal einen Felsenbären gefangen, mit euren Bärenfängen?«
Der Alte verzog das Gesicht und schüttelte den Kopf.
»Sind sehr schlau, diese Biester.., sehr schlau, Herr. Einen hatte ich im Fang, vor drei Sommern war das, Herr.., oben auf der Hochalm. Hatte sich selbst den Fuß abgefressen und ist auf und davon, Herr.., versteht ihr? Auf und davon ist er und ward nicht mehr gesehen.., sehr schlau, diese Biester. Väterchen Balmer hat ihn gesucht, bis hinunter zum Bach ist er gelaufen. Im Wasser hörte die Spur einfach auf.., sehr gerissen und schlau, diese Felsenbären!«
Interessiert hörte er Högi zu. Allerdings galt seine Aufmerksamkeit weniger dem Bären, als denn mehr der Tatsache, dass der Alte den Bach kannte, der parallel zu dem von ihm entdeckten Weg verlief. Es war sehr wahrscheinlich, dass Balmer auch den Weg und seine Bedeutung kannte. Doch darüber schwieg er sich aus.
»Wann wart ihr zuletzt an diesem Bach?«, wollte Sebastian nicht ganz ohne Hintergedanken wissen. »Tiere fliehen doch gewöhnlich in die Richtung, aus der sie kamen, oder?« Vielleicht hätte ihm Balmer unbewusst verraten, was sich hinter dem Bach und im Tal befand. Doch er schien ebenso gerissen zu sein, wie sein Felsenbär. Er lenkte Sebastians Frage mit seiner Antwort in eine tote Ecke:
»Ich sagte euch doch, Herr.., die sind schlau, diese Felsenbären.., tun immer etwas anderes, als man denkt. Haben ihren eigenen Kopf diese Biester.., gerade, wenn sie verletzt sind, Herr.., führen sogar gute Hunde in die Irre, glaubt dem alten Balmer, Herr.« Dabei wies er mit einer Handbewegung zu Rona und Reno hinüber, die sich inzwischen vor der Bank zusammengerollt hatten und müde zu ihnen herübersahen.
Entweder war Balmer so naiv und einfach vom Wesen, dass er nicht näher über seine Frage nachdachte, oder er war derart gewitzt, dass er ihn klar durchschaute und bewusst ausspielte. Doch das konnte er an diesem Abend nicht mehr herausfinden. Am nächsten Morgen würde er die Gastfreundschaft Balmers verlassen und selbst herausfinden, wohin dieser Weg führte.
Plötzlich tat ihm der Alte leid. Högi hatte sich stets um ihn bemüht, ihn versorgt und umsorgt. Wie einen eigenen Sohn hatte er ihn behandelt und er kam sich reichlich schäbig vor, weil er ihn ohne Gruß oder ein Wort des Dankes verlassen wollte. Außerdem wollte er an Högis Vorratshaus auf der Hochalm Halt machen und sich von seinen Vorräten bedienen. Er wusste ja nicht, wie lange er unterwegs sein würde, bevor er Hilfe fand. Nie zuvor hatte Sebastian eine Gastfreundschaft derart missbraucht. Für ihn stand jedoch fest, dass er irgendwann einmal zurückkommen würde, um sich bei Högi Balmer großzügig zu bedanken.
Der Wafan, dessen Bräunung Basti skeptisch mitverfolgt hatte, stand zum Sonnenuntergang dampfend auf dem Tisch. Dabei lernte er die Tischsitten des Val Mentiér kennen. Väterchen Balmer tranchierte den Vogel nicht etwa so, wie es Sebastians Vater bei der alljährlich wiederkehrenden Weihnachtsgans tat. Nein, er riss und pflückte das gebratene Tier nach allen Regeln der Kunst mit brachialer Gewalt auseinander. Im Handumdrehen sah ihr Essen aus, als wäre ein Wolfsrudel darüber hergefallen. Bevor er Balmer noch sein Bowiemesser zur Zerteilung anbieten konnte, ruhte eine zerfranste Riesenkeule auf seinem hölzernen Teller.
Sebastian stopfte so viel von dem leckeren Vogel in sich hinein, bis er ernsthaft zu platzen drohte. Proviant, den er im Bauch hatte, würde er nicht tragen müssen, redete er sich ein. Und tatsächlich konnte er zum einen nicht allzu viele Lebensmittel in seinem Rucksack unterbringen. Ebenso wenig wusste er, wie lange sein tragbarer Vorrat würde reichen müssen, bevor er halbwegs zivilisierte Menschen angetroffen hätte, die bereit gewesen wären, ihm weiter zu helfen.
Während des Essens, das beinahe den Charakter eines Abschiedmahls besaß, kreisten seine Gedanken um das Problem, wie er sich in aller Frühe davonstehlen konnte, ohne den Alten aufzuwecken, oder Rona und Reno auf den Plan zu rufen. Väterchen Balmer hatte sich zwar sehr schnell daran gewöhnt, dass Sebastian meist noch vor Sonnenaufgang die Hütte verließ, um ein gewisses Örtchen aufzusuchen, doch wenn er dies plötzlich mit geschultertem Rucksack getan hätte, wäre der Alte sicherlich misstrauisch geworden.
Der rettende Einfall kam ihm beim Blick auf den noch glühenden Kamin: Der kleine Anbau der Hütte, Balmers Rumpelkammer! Mit dem Argument, Platz zu schaffen, wollte er seinen Rucksack dort verstauen. So wäre Balmer bei seinem Verlassen der Hütte nicht misstrauisch geworden. Rona und Reno konnte er mit einem besonders großzügigen Happen des Wafans dazu bewegen, keinen Mucks von sich zu geben. Sie würden sich ohne großes Freudengebell auf die Leckerbissen stürzen, wie ausgehungerte Schießhunde und damit eine Weile beschäftigt sein.
Väterchen Balmer hängte den Rest des Wafans nach dem Mahl am Balken der Hüttendecke auf, genau zwischen zwei Büschel irgend eines undefinierbaren, getrockneten Krauts, dass sehr intensiv duftete.
»Das hält die Fliegen fern, Herr, damit sie keine Eier in das Fleisch legen.., sind sehr lästig, diese Fliegen.., gehen an alles, was nicht geräuchert ist.., sehr lästig, glaubt dem alten Balmer, Herr.«
»Aha«, antwortete Lauknitz interessiert, »und was ist das für ein Kraut, das Ungeziefer abschreckt« Dabei befühlte er die strohigen, länglichen grüngrauen Blättchen, die ähnlich dem Edelweiß einen pelzigen Belag aufwiesen. Der Duft war angenehm, aber mit nichts vergleichbar, das er jemals gerochen hatte.
»Sind die jungen Triebe der schwarzen Elsirenbeere, Herr.., früh im Jahr muss man sie schneiden, sehr früh, Herr.., noch vor der Blüte, damit sie ihren vollen Duft hergeben«, erklärte ihm der Alte. »Vater Balmer holt sie vom Waldrand, dort, wo die Hochalm beginnt. Könnt sie auch kurz mit kochendem Wasser übergießen, Herr.., dann frisches Fleisch damit einreiben. Hält sich dann bis zum Räuchern frei von allen Plagegeistern, das frische Wild, Herr.., mögen den Geruch gar nicht, diese lästigen kleinen Geschöpfe.«
Von Elsirenbeeren hatte Sebastian bis dahin ebenso wenig etwas gehört, wie von Wafans, Gors, Torbuks oder Kareks. Es war ihm inzwischen auch egal. Am Morgen wollte er aufbrechen und diese verrückte Welt des Högi Balmer für immer verlassen. Obwohl er zugeben musste, dass diese Welt an landschaftlichen Reizen alles übertraf, was er bis zu diesem Zeitpunkt kennen gelernt hatte. Dennoch wollte er so rasch als möglich fort von hier. Menschen, die offenbar Gott spielten und mit Genmanipulation Gore und Wafans züchteten, gehörten einfach nicht in Sebastians Weltbild. Außerdem bezweifelte er, dass der Rest dieser Welt von solch ungeheuren Eingriffen in die Natur wusste. Schließlich wurde nie etwas auch nur annähernd Ähnliches in den Nachrichten erwähnt.
Da er eine Antwort nur im Tal finden würde, begann er systematisch und so unauffällig wie möglich seinen Gang zurück in die Zivilisation vorzubereiten. Mit dem Hinweis an Balmer gerichtet, dass er die meisten seiner Dinge im Augenblick kaum brauchte, verfrachtete Sebastian seinen vorbereiteten Rucksack und den Eispickel in den Schuppen hinter der Hütte. Er deponierte ihn gleich hinter der Tür, um ihn mit einem Griff in die Finsternis zu finden. Um Wasser brauchte er mir vorerst keine Gedanken zu machen. Soweit Lauknitz das beurteilen konnte, war dieses Land von einer Vielzahl von klaren Gebirgsbächen durchzogen.
Als Väterchen Balmer noch einmal zum Bach hinüber ging, um frisches Wasser zu holen, nahm Sebastian ein großes Stück des Wafan von seinem Haken und verfrachtete es ebenfalls in den Abstellraum. Dann schlenderte er noch etwas bergauf, nur so, um sich nach dem reichhaltigen Essen die Beine zu vertreten, wie er dem Alten glaubhaft machte.
Doch aus den Augen des Väterchen suchte er sich eine erhöhte Stelle und prägte sich noch einmal den Weg auf die Hochalm ganz genau ein. Am Morgen würde er ihn ja im Dunkeln finden müssen. Vor allem wollte er sich nicht schon beim Übergang über den Bach oben am See die Füße nass machen. Denn die würden ihn noch eine ganze Weile tragen müssen, da war sich Sebastian sicher. Marschblasen würden gerade im Abstieg sehr hinderlich sein.
Wie jeden Abend in den letzten Tagen saßen Högi Balmer und Lauknitz vor der Hütte auf der Bank und beobachteten den Sonnenuntergang, der sich allmählich unter der Decke der Nacht verkroch. Sebastian fragte das Väterchen nach verschiedenen Pflanzen aus, die er an diesem Tag auf seinen Wiesen entdeckt hatte und er verriet ihm bereitwillig ihre Namen, klärte ihn über ihre heilsame Wirkung oder über ihr starkes Gift auf und freute sich, dass er ein so reges Interesse an seiner Welt hatte. Sie redeten über handwerkliche Fähigkeiten, von denen der Alte offenbar mehr als genug besaß und mutmaßten, wie sich das Wetter wohl in den nächsten Tagen entwickeln würde.
Irgendwie nahm Sebastian Abschied von einem Menschen, der ihm so sonderbar erschien, wie kein anderer zuvor. Körperlich empfand er Balmer als so abstoßend, wie kein anderes Geschöpf auf der Erde, den Gor einmal ausgenommen. Seelisch jedoch verabschiedete er sich von einem der gutmütigsten Wesen, die ihm je begegnet waren. Wie ganz selbstverständlich hatte Högi sein Leben, sein Zuhause und seine Speisen mit ihm geteilt, ohne auch nur eine Gegenleistung dafür einzufordern.
Vielleicht sah er Sebastian wie einen Sohn, den er mit seiner Marienka nicht haben durfte. Was würde er empfinden, wenn Basti ihn nun so enttäuschte und einfach grußlos von ihm fort ging? Verbissen überlegte er, wie er ihm seine Anerkennung aussprechen konnte, ohne ihn von seinem Fortgehen in Kenntnis zu setzen. Fast gleichzeitig kam ihm eine Idee, nichts ahnend, was er damit viel später noch auslösen würde. Bevor sich Sebastian zum Schlafen niederlegte, ging noch einmal in Balmers Gerümpelraum an seinen Rucksack, nahm eine Goldmünze aus seiner Kassette und steckte sie sich in die Hosentasche...
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