Das Geheimnis von Val Mentiér
 
15. Kapitel
 
Das Werk der Götter
 
chweigend setzten sie ihren Weg fort. Antarona leichtfüßig und unbeschwert voran, Sebastian unter der Last seines Rucksacks hinterher, seine Augen stets auf die reizvolle Gestalt seiner faszinierenden Weggefährtin geheftet.
Sie ließen den Grat unter sich und betraten eine hohe Landschaft von ausgedehnten, kurzgrasigen Wiesen, die von wilden Felsgruppen und neuen Gratansätzen unterbrochen wurden. Zuweilen wanderten sie an kleinen, türkisblauen Seen entlang, die zur Erfrischung einluden. Sebastian wusste jedoch, dass sie vom Wasser gespeist waren, die hoch oben von den Gletschern kamen und so kalt waren, dass einem der Atem wegblieb, versuchte man in ihnen ein Bad zu nehmen.
Ohne Pause folgten sie dem Stand der Sonne durch die Weite der hohen, Gras bewachsenen Gebirgslandschaft, in der sie sich in ihrer Kleinheit verloren. Auf der gegenüberliegenden Talseite entfalteten sich immer neue, immer noch höhere Bergmassive und gaben den Blick in tiefe Täler, nicht enden wollende Wälder und auf scheinbar unbegrenzte Alpweiden frei. Vor dem Anblick dieser gewaltigen Kulisse fühlte sich Sebastian derart verlassen, dass er glaubte, niemals irgendein Ziel erreichen zu können. Die Dimensionen dieser Welt schienen ihn und Antarona schlichtweg zu verschlucken.
Sonnenherz indes kannte in diesem Land offenbar jeden Baum und jeden Stein mit Namen. Zielstrebig folgte sie mühelos ihrem Weg von einem Geländepunkt zum nächsten. Sie zögerte nicht, hielt nicht an, um sich zu orientieren und sie schien auch keine Pause zu benötigen. Vermutlich war sie sehr viel in diesem weiten und rauen Land unterwegs, so dass sie die rekordverdächtigen Strecken gar nicht mehr bewusst wahr nahm.
Als die Sonne den Scheitelpunkt ihres Tageslaufs erreichte, war Sebastian schon sichtlich abgekämpft. Seine Konzentration ließ nach und er begann über die Wurzeln von Krüppelkiefern, sowie über Grasbuckel und Steine zu stolpern. Als trainierter Alpinist kam ihm seine eigene Situation sehr befremdlich vor. Gewöhnlich machte er nicht einmal dann schlapp, wenn er bereits den halben Grat eines Viertausenders überrannt hatte.
Er kam zu dem Schluss, dass diese Berge hier um einiges höher sein mussten, als seine bekannten Kletterberge in der Schweiz. Unvermittelt blieb er stehen und setzte seinen Rucksack ab. Mit zitternden Fingern begann er nach seinem Höhenmesser zu kramen. Das Krähenmädchen war ein kleines Stück voraus gelaufen und kam verwundert zurück.
»Was tut ihr, Laug - nids, wir schlagen unser Lager erst an der Felsenburg auf... Dort sind wir unter den Sternen ungeschützt...«
»Antarona.., du, ich weiß nichts von einer Felsenburg...«, entgegnete Basti etwas gereizt, »...ich will nur etwas nachsehen... Wie weit ist es denn noch bis zu deiner Felsenburg? Und sag’ mal, welchem Scherzbold ist es denn überhaupt eingefallen, hier oben eine Burg zu bauen? Das ist doch absurd!«
»Es ist eine Burg der Götter.., die haben sie gebaut, vor sehr vielen Sommern, vor unendlichen Zentaren, in der alten Zeit... Die Alten des Volkes berichten über seltsame Dinge, die an diesem Ort geschehen, von Lichtern, welche die Menschenwesen locken und dann verschlingen. Niemals kommt jemand vom Volk hier herauf, sie alle ängstigen sich vor diesem Ort...«
»Ach.., und du hast natürlich keine Furcht, nicht wahr?« Sebastian ließ in seiner Bemerkung einen provokanten Unterton mitschwingen, um Antarona mehr über diese geheimnisvolle Burg zu entlocken.
»Nein, Ba - shtie, wovor sollte ich mich ängstigen?«, kam ihre prompte Antwort. »Ich war oft in den Stunden der aufgehenden Sterne im Schutz dieses Ortes... Es war niemals etwas Böses dort, das ich fürchten musste!« Sebastian nickte beruhigt, innerlich aber angespannt und neugierig auf diese geheimnisvolle Burg, die seine Gefährtin so beiläufig angekündigt hatte, als sei es etwas ganz Nebensächliches. Irgendwie sagte ihm sein Gespür, dass an dieser Felsenburg mehr haftete, als nur ein Schutz vor Nacht und Wetter.
Endlich hatte Basti seinen Höhenmesser gefunden. Viertausenddreihundert Meter zeigte das Gerät an. Sebastian schüttelte ungläubig den Kopf. Das konnte nicht sein! In solcher Höhe gab es keine Vegetation mehr. Er hatte bereits vorher vermutet, dass der Höhenmesser bei seinem Sturz Schaden genommen haben könnte. Entweder hatte er nun die Bestätigung, oder... War es möglich, dass er sich an einem Ort befand, an dem die ihm bekannten physikalischen und biologischen Gesetze keine Gültigkeit hatten?
»Was ist das für ein Ding, Ba - shtie?«, wollte Antarona wissen. Neugierig hockte sie sich neben Sebastian hin und der Wind wehte ihm ihre langen schwarzen Haare ins Gesicht.
»Das...«, erklärte er ihr, die vorwitzigen Haarsträhnen Antaronas ignorierend, »...ist ein Höhenmesser...«
»Was tut ihr damit?«, bohrte sie weiter. Dabei nahm sie Basti das runde Messgerät aus der Hand und betrachtete es fasziniert und ehrfürchtig von allen Seiten, als wäre es etwas Sakrales.
Sebastian versuchte es ihr möglichst verständlich zu erklären: »Dieses Ding sagt mir, wie hoch über dem Tal ich bin...«
Seine Begleiterin sah ihn mit staunenden Zweifeln an und stellte fest: »Sonnenherz weiß, wie hoch wir sind! So hoch, wie die Wolken, wenn das Wasser aus ihnen fällt und höher, als Vater Balmers Haus, und zehnmal so hoch, wie von Quaronas bis zur Grotte am See, so hoch...«
»Es gibt eine bestimmte Länge, etwa so lang wie ein Arm, mit der dieses Ding die Höhe messen kann...«, belehrte er sie primitiv und während er das Barometer wieder im Rucksack verstaute, versuchte er ihr auf einfache und verständliche Weise plausibel zu machen, wie so ein Messinstrument funktioniert.
Antarona saugte solche Informationen auf, die sich ihr scheinbar aus der Welt der Götter offenbarten, wie ein Schwamm das Wasser. Dabei bewies sie eine erstaunlich rasche Auffassungsgabe und Lernfähigkeit, die Sebastian beeindruckte.
Spontan holte er das Messgerät wieder aus der Seitentasche, in die er es gerade geschoben hatte und drückte es Antarona in die Hand. Nachdem es sich als so unzuverlässig erwiesen hatte und wahrscheinlich defekt war, sah er es als keinen allzu großen Verlust an, ihr das Gerät zu schenken.
Antarona nahm es wie einen kleinen Schatz in beide Hände und betrachtete es, als hätte sie gerade eine ihr unbekannte Blume entdeckt. Dann ließ sie das Instrument in einem der Beutelchen verschwinden, die an ihrem Gürtelband hingen. Einen schöneren Platz konnte sich Basti für seinen Höhenmesser nicht vorstellen und war angenehm berührt.
Der weitere Weg führte sie immer wieder über Gratansätze hinweg, durch kleinere Schluchten, die sich weiter unten in ausgedehnten Tälern verloren und über weites Grasland. Letzteres besaß eine Ausdehnung, die Sebastian etwas bescheidener vom Nufenen- oder Simplonpass in der Schweiz her in Erinnerung hatte. Hätten ihn die hohen Berge ringsum nicht eines Besseren belehrt, so wollte er glauben, durch die weite Steppe des Indianerlandes Nordamerikas zu wandern.
Auf ihrem Weg durchquerten sie wahre Teppiche von Blumen, die ihre Farben und Formen änderten, wie in einer floristischen Ausstellung. An den Felsen wuchsen Silberdisteln mit einem Blütendurchmesser, der einer großen Sonnenblume gleichkam. Verschiedenste Kräuter und Heilpflanzen kreuzten ihren Weg, von denen Antarona büschelweise pflückte und sich die Sträußchen an das Lederband ihrer aufreizenden Bekleidung knüpfte.
Einmal entdeckte sie eine hohe Pflanze, die im Schatten eines mächtigen Felsens wuchs, an dem ein kleiner Bach vorübersprudelte. Es war ein grünes Kraut, die Blätter denen des Eichenbaumes nicht unähnlich. Kleine gelbe Blüten leuchteten wie vierblättrige Sterne, die in ihrem Zentrum rote Tupfer zeigten aus denen eine grüne Nadel wuchs.
Sebastian hätte dieser Blume keine Aufmerksamkeit geschenkt, wenn nicht Antarona hocherfreut und ehrfürchtig ihre Blätter gepflückt hätte:
»Diese Blätter, Ba - shtie - laug - nids, werden die Wunde an eurem Fuß heilen.« Rasch hatte sie ihre Hand voll Blätter, während sie die in ihrer Kleinheit wunderschönen Blüten unbeachtet ließ. Sebastian sah dem zu seinen Füßen hockenden Naturkind interessiert zu und fuhr zusammen, als Antarona ihn plötzlich aus seiner Phantasie riss:
»Nun, was ist, Ba - shtie, worauf wartet ihr.., zieht eure Beinkleider aus..!« Sebastian blickte seine Gefährtin verwirrt an, während diese sich die Blätter in den Mund stopfte und wie eine Ziege darauf herum kaute.
»Wie.., jetzt? Hier..? Ich dachte, du machst daraus einen Sud und...« Ungeduldig unterbrach ihn Antarona: »Was ihr so denkt, Mann von den Göttern.., nun macht schon..! Diese Blätter müssen frisch auf die Wunde gelegt werden, dann heilen sie..«, erklärte sie knapp, spie einen grünen Brei in ihre zierliche Hand und präsentierte das eklige Zeug Sebastians skeptischen Blicken.
Basti zog den Bergstiefel aus und betrachtete die geröteten Ränder der Schnittwunde, an denen der derbe Schuh während des Aufstiegs lustig herumgescheuert hatte. Antarona wies mit der Ekel beladenen Hand zum Bach hinüber. »Setzt euch dort hin und wascht die Wunde, Ba - shtie!«
Dann drückte sie den Blätterbrei auf den klaffenden Riss und verteilte ihn sorgsam entlang der Verletzung.
»Gebt mir etwas von eurem leuchtenden Stoff, Ba - shtie...«, forderte sie, »...er ist gut, das Kraut auf der Wunde zu halten. Ihr müsst eine Weile ohne eure groben Beinlinge gehen!«
Kopfschüttelnd sah er sie an: »Das geht nicht.., wie stellst du dir das vor? Ich kann doch nicht in den Bergen barfüßig herumwandern! Dann kannst du gleich einen ganzen Sack voll Blättern sammeln, weil ich mir die Füße schlichtweg...«
Antarona legte sanft ihre Hand auf Bastis Knie, um seinen Redeschwall zu unterbrechen. »Ihr geht heute nur noch auf weichem Gras.., besser ihr zieht eure Beinlinge ganz aus...«, riet sie ihm.
Sebastian tat, was Antarona verlangte, mit einem gewissen Grad an Zweifeln, doch er wusste inzwischen, dass sich dieses Naturkind zumindest in der Fauna und Flora dieses Landes bestens auskannte. Ihm wurde allmählich klar, dass es gesünder war, ihrem Rat zu folgen, sollte er auch noch so irrwitzig klingen.
Als hätte sie in ihrem Leben nie etwas anderes getan, legte Antarona zwei ganze Blätter der geheimnisvollen Pflanze auf die mit der grünen Paste bestrichenen Wunde und begann Sebastians Fuß beinahe professionell mit der Mullbinde zu umwickeln. Erstaunlich! Denn sie hatte ihn ja erst einmal bei dieser Tätigkeit beobachtet. Wieder kam Basti der Gedanke, dass sie einige Fähigkeiten aus der Zeit in Erinnerung behalten hatte, als sie vor Jahren liiert waren und sie auf den Namen Janine hörte.
»So ist es gut...«, bewunderte sie ihren fertigen Verband, »...stellt euch jetzt auf den Fuß, Ba - shtie.., ja.., es ist gut.«, stellte sie zufrieden fest.
In der Tat, schien der Verband perfekt zu sitzen. Nicht zu fest, so dass er Sebastian genügend Bewegungsfreiheit bot und nicht zu locker, als dass er ihn hätte verlieren können.
»Vielen Dank...«, sagte er und sah ihr intensiv in die Augen, »...du bist eine gute Heilerin, Sonnenherz...« Sie blickte leicht beschämt zur Seite und ihr Antlitz bekam etwas mehr Farbe.
»Wir müssen gehen...«, sagte sie nur knapp, um die Schmeichelei zu überspielen, die ihr offenbar unangenehm war, »...und seid nun etwas vorsichtiger, Laug - nids, denn alles vermag Sonnenherz nicht zu heilen.«, setzte sie noch im Gehen hinzu.
Die Sonne neigte sich leicht zu den Gipfeln hinab, besaß aber noch so viel Kraft, um die beiden Wandernden reichlich mit Wärme zu segnen. Antaronas luftige Gestalt flog anmutig vor Sebastian her, der Mühe hatte ihr zu folgen und mächtig schwitzte. Im Gehen entledigte er sich seines Hemdes.
Anscheinend machte es Sinn, dass die jungen Frauen dieser Gegend halbnackt herumliefen. Antarona hatte inzwischen auch ihre Beinlinge ausgezogen und ihre kleinen Füße huschten über das Gras, als berührten sie es gar nicht. Sie federte jeden Schritt ab, als würden ihre Füße den Boden prüfen, bevor sie ihn betrat. Sebastian versuchte sich ihren Schritt anzueignen. Es bedurfte einiger Übung, bevor er annähernd eine Verbesserung verspürte. Mit seinen Bergstiefeln war er gewohnt, sorglos aufzutreten, ungeachtet der Steine und Wurzeln, die einer festen Sohle nichts anhaben konnten.
Antarona hingegen schien jeden Stein, jedes Stöckchen und jedes Insekt vorher zu spüren. Ihre Füße wichen im Sekundenbruchteil allem aus, das ihren Füßen unangenehm werden konnte. Das weiche Leder ihrer Beinlinge hatte sie sich an ihren Leibriemen gehängt, der nun an einer Seite etwas über ihre Hüfte gerutscht war und Sebastians Geist neue Phantasien entlockte. Die wärmende Sonne und der ständige Blick auf die betörende Gestalt seiner Gefährtin schürte in Sebastian unterdrückte Sehnsüchte.
Verbissen zwang er sein Augenmerk auf den Boden. Ihm wurde plötzlich bewusst, dass er sich lächerlich machte. Wie ein unreifer Pennäler hinter seiner bewunderten Lehrerin, so stolperte er hinter dem Krähenmädchen her, das womöglich längst einem andern Mann aus ihrem Volk versprochen war. Aber gerade diese Vorstellung schnürte ihm die Kehle zu.
Um sich aus den Gedanken zu befreien, die ihn umklammert hielten, holte er auf und begann neben Antarona zu gehen. Er spürte, dass er seine gewohnte Sicherheit zurück gewann und sah ihr offen in das Gesicht. Seiner Gefährtin entlockte das ein aufhellendes Strahlen ihrer Augen. Ihre Blicke trafen sich und Sebastian hatte das Gefühl, dass sie beide in dieser Sekunde mehr austauschten, als in allen bisherigen Gesprächen, die er mit ihr führte.
In scheinbar neu gewonnener Eintracht wanderten sie der sich neigenden Sonne entgegen, wie auf einer riesigen Terrasse über der Kulisse der Welt. Einer Galerie ähnlich, führte sie das hohe Grasland um immer neue Grate, Felsaufwürfe und Steinwände herum, bis das Gelände plötzlich den Blick auf etwas freigab, das Sebastian Lauknitz noch nie in seinem Leben gesehen hatte.
Vor seinen Augen wuchsen tatsächlich die Überreste einer Burg aus der Landschaft. Doch waren diese Gemäuer so gewaltig und trotz ihrer verfallenen Struktur noch so imposant und riesenhaft, dass es ihm die Sprache verschlug. Sebastian blieb wie angewurzelt stehen und auch Antarona hielt im Gehen inne.
»Die Felsenburg, Ba - shtie.., in ihrem Schutz können wir den neuen Tag erwarten...« Sie sagte das in einem gleichgültigen Ton, als hätte sie ihm eine neue Pflanze gezeigt. Sebastian aber schüttelte ehrfürchtig seinen Kopf:
»Wer im Namen des Himmels baut so etwas?« Langsam und bedächtig, als brauchte eine Weile um die Dimensionen dieses Gemäuers zu begreifen, ging er weiter, den Blick unablässig auf die Pfeiler, Fluchten und Wände geheftet, die von mächtigen Säulen und Türmen getragen wurden. Selbst im halb verfallenen Zustand erschienen sie Sebastian noch beeindruckender als die Mauern der Hohenzollernburg, Neuschwansteins und der Burg Eltz aufeinander getürmt.
Das ganze Bauwerk schien aus dem eintönigen grauen Fels der Berge zu bestehen, aus dem kleine, düstere Fenster blickten. Von der gegenüberliegenden Talseite aus, also aus der Entfernung, konnte man diese Burg wohl kaum von den Felsen des Berges unterscheiden. Fast schien es so, als hätte man dieses Werk direkt aus dem Fels gemeißelt. Sebastian hatte einmal von einem Shiva- Tempel gehört, der direkt aus dem Stein eines Berges herausgehauen wurde. Doch der war begrenzte dreißig Meter hoch. Was Sebastian hier vor sich sah, maß gute hundertdreißig Meter!
Antarona führte ihn zu einem Vorbau, der anscheinend einst als Tor diente. Ein riesiger Rundbogen tat sich vor ihnen auf, wie ein Gewölbe. Das Tor, das in dieser Öffnung einmal gehangen hatte, war von Menschenhand wohl kaum zu bewegen gewesen.
Doch etwas anderes weckte Sebastians Interesse. Die Wände, außen, wie innen, die Pfeiler und Türme, die Erker, Terrassen und Balkone, sie waren nicht gemauert! Nirgends fand sich ein Stein auf den anderen gesetzt, oder von einer Fuge getrennt. Alles, jedes Bauteil, bestand scheinbar aus einem einzigen Stück Fels. Sämtliche Mauern muteten an, wie in Beton gegossen. Doch es war der Fels dieser Berge!
Noch erstaunlicher war die Tatsache, dass sämtliche Flächen poliert waren. Freilich waren die Wände und Fluchten von Wetter und Erosion im Mitleidenschaft gezogen worden und von dicken und dünnen Rissen durchzogen. Teilweise waren ganze Gebäudeteile in sich zusammengestürzt. Dennoch, dort, wo sich Moose und Flechten noch nicht ausgebreitet hatten und auch das Wasser keine Ablagerungen oder Abtragungen hinterlassen hatte, war der Baukörper glatt. Eine hoch polierte Fläche, wie mit einer Lasur überzogen.
Sebastian hob einen der vielen umher liegenden Trümmer auf und untersuchte ihn. Die Bruchstelle war relativ neu und gab Bastis Gesicht ein erneutes Staunen. Solche Felsen kannte er. Gneis war ihm auf seinen vielen Bergtouren stets begegnet und war ihm geläufig. Die Oberfläche dieses Gneisstücks jedoch war bis zu zwei Zentimeter tief in den Stein hinein geschmolzen. Glasartige Absplitterungen sagten Sebastian, dass hier eine enorme Hitze am Werke gewesen war. Die Struktur des Steinkerns war wiederum so, wie sie sein sollte und wie Sebastian sie kannte. Rau und unregelmäßig gebrochen.
Zu Antaronas Belustigung schüttelte Sebastian immer wieder ungläubig den Kopf. Welche Macht war imstande ein so riesenhaftes Bauwerk regelrecht aus dem Fels zu schmelzen, als wären die Berge aus Wachs? Was für eine Technologie war dazu fähig und wo verbarg sie sich? Bisher konnte Sebastian in diesem Land nur die primitivsten Arbeitsweisen entdecken. Geräte, die so etwas, wie diese Felsenburg aus einem Berg schmelzen konnten, wären nicht zu übersehen gewesen. Es sei denn...
Lauknitz fiel es wie Sand von den Augen. Es sei denn, das Bauwerk war vor einer unbeschreiblich langen Zeit entstanden. In einer Zeit, an die sich selbst Antaronas Vorfahren nicht mehr erinnerten. Sebastian sah sich um: Überall hingen Ranken von abgebrochenen Wänden, kleine Birken wuchsen in Nischen und Fenstersimsen, Gras bedeckte Terrassen und Söller, Moose und Flechten bevölkerten die Wände dort, wo Regen und Sonne gleichermaßen wirkten.
Das, was Sebastian mit seiner Eleganz und Grandiosität so beeindruckte, war alt. Es war sehr alt! Basti musste kein Geologe sein, um zu erahnen, wie viele Jahre nötig waren, um an einem derart glatten Fels solche Verfallsspuren zu hinterlassen. Was er hier vor sich sah, war die geschichtliche Vergangenheit von Antaronas Volk!
Ehrfürchtig schritten sie durch den Torbau in das Innere der Felsenfestung. Jeder Schritt, jedes Steinekollern warf ein vielfaches Echo zurück, wie in einer großräumigen Höhle. Sebastian hatte das Gefühl, dass jedes Knirschen ihrer Fußtritte auf dem zentimeterhoch liegenden Steinschutt so laut war, dass es die Burg zum Einsturz bringen konnte. Vorsichtshalber zog er sich wieder seine Stiefel an.
Sie gelangten in eine große Halle, deren Decke schon lange nicht mehr existierte und die Sebastian an das Gewölbe des Kölner Doms erinnerte. Links und rechts ragten düstere Wände auf, über mehrere Etagen von Fensteröffnungen unterbrochen, durch die jetzt das Licht der untergehenden Sonne einfiel. Schräge, polierte Steinflächen reflektierten das Licht und warfen mit einem Krescendo von goldenen Strahlen um sich. Hoch oben flammten immer wieder angewinkelte Felsflächen auf, wenn das Sonnenlicht auf sie traf.
Diese Lichtreflektionen mussten kilometerweit zu sehen sein! Aber wieso wusste ihrer eigenen Aussage zufolge nur Antarona von diesem Ort? Selbst das Mondlicht musste diese hochglänzenden Flächen über weite Entfernungen hin blinken lassen. Waren das die geheimnisvollen Lichter, von denen Antarona sprach, welche die Leute ihres Volkes abschreckten? Weithin blinkende Lichter in der Höhe der Berge konnten bei einem primitiv denkenden Volk ohne Frage den Glauben an unheimliche Wesen erwecken.
Auf einem Mal erinnerte sich Sebastian wieder daran, dass er selbst fast Opfer einer solchen Spiegelung geworden war. Den blank polierten Sein mit der seltsamen Inschrift, den er bei seinem ersten Ausflug zu dem geheimnisvollen Weg entdeckte, der ihn letztlich zu Tal führte, hatte er beinahe vergessen! Spontan kam ihm ein Gedanke...
Sebastian setzte seinen Rucksack ab, kramte sein Tagebuch heraus und zeigte Antarona die Skizze von nämlichem Stein, in dem Verdacht, dass es irgendeine Verbindung zwischen dem Obelisken und dieser Felsenburg gab. Zu seiner erneuten Überraschung war die Zeichnung im Tagebuch für Antarona keineswegs eine Neuigkeit.
»Antarona kennt diese Zeichen, Ba - shtie, es sind die Zeichen der Götter, ihre Worte, die sie den Menschenwesen des Volkes hinterlassen haben.« Sie blickte Sebastian tiefgründig und zweifelnd in die Augen:
»Ihr seid von den Göttern gesandt und kennt ihre Worte nicht, Ba - shtie? Es ist unsere Sprache, Glanzauge, die Worte, die das Volk von den Götterwesen erhalten hat, damit wir uns mitteilen können. Die Worte im Innern der Felsenburg aber sind zu alt.., Sonnenherz versteht sie nicht... Die Alten erzählen, dass der Talris, die Geschichte unserer Sonnengötter, in den Felsen der Berge verborgen sind...«
»Wie bitte...?«, unterbrach Sebastian seine Gefährtin und hielt sie am Arm fest, »...Heißt das etwa, in diesen Gemäuern gibt es ebenfalls welche von diesen Zeichen?«
»Ja, weiter drinnen, in der Burg und im Berg sind große Höhlen mit den Worten der Götterwesen angefüllt... Sonnenherz hat ihrem Vater und dem Achterrat vor vielen Sommern berichtet, dass sie die Hallen des Talris entdeckt hat...«
»Die Hallen des Talris...?«, fuhr Sebastian erneut aufgeregt dazwischen, »...Was zum Kuckuck sind nun wieder die Hallen des Talris...?« Die Erregung, die Sebastian angesichts der Entdeckung eines großen Geheimnisses durchflutete, wurde ihm gar nicht bewusst. Antarona indes behielt ihre Ruhe, fast schon eine Abgeklärtheit, die man eher bei älteren Frauen vermuten würde.
»Aus den Geschichten, die so alt sind, wie das Volk selbst, erzählen die Alten, welche diese Geschichten bewahren. Sie berichten von den Hallen des Talris, in dem die Wahrheit über die Götterwesen zu finden ist, und wo die wahre Geschichte des Volkes sich befindet. So sagen die Alten, die Hallen von Talris sind aus den Tränen der Götter gemacht und die Worte der Götterwesen erscheinen an den Wänden. Die vielen Zentaren vom Anbeginn der Zeit bis zur Geburt des Volkes sind darin verborgen...« Antarona machte eine kurze Pause und Sebastian hörte sein Herz ungeduldig schlagen. Geheimnisvoll leise setzte das Krähenmädchen seinen Bericht fort:
»In der Zeit, als Sonnenherz oft von ihrem Vater fortlief, um die Stimme ihrer Mutter zu suchen, gewahrte sie in der Nacht die geheimnisvollen Lichter, vor denen sich die Menschenwesen stets fürchteten. Sonnenherz glaubte, ihre Mutter hätte ihr diese Lichter als Zeichen gesandt, um zu ihr zu gelangen und folgte ihnen. Sonnenherz entdeckte den Tempel der Götterwesen, die Felsenburg, und es war nichts Böses daran, wie die Alten dem Volk immer wieder mahnten.
Dann entdeckte Antarona die Hallen des Talris, die Höhlen, welche aus den Tränen der Götterwesen gemacht sind. Und ich sah die Worte der Götterwesen, Ba - shtie, und ich wusste, dass es die Worte waren, welche die Götter dem Volk der Menschenwesen gegeben hatten. Es sind die Worte, welche auch die Alten erzählen, die Geschichte, von der Geburt der Götterwesen und von der Geburt des Volkes, und von den vier Königen und den vier Schwertern des Lichts...«
»Die vier Schwerter des Lichts...?« Aufgeregt warf Sebastian seine Worte in die Erzählung Antaronas und seine Stimme überschlug sich fast vor innerer Erregung.
»...Da steht etwas über die vier Schwerter des Lichts? Antarona.., weißt du eigentlich, was du da sagst? Wenn das wahr ist, dann erfahren wir vielleicht etwas über das Geheimnis deines Schwertes und darüber, wo die zwei anderen Schwerter abgeblieben sind. Vielleicht steht da auch etwas, das uns erklärt, wieso ich hier in deiner Welt bin und wieso wir uns hier wieder begegnet sind, wo ich doch dabei war, als du in das Reich der Toten gegangen warst, möglicherweise...« Diesmal gebot Antarona ihrem Götterboten Einhalt und bremste seinen Enthusiasmus.
»Wartet.., Ba - shtie - laug - nids.., haltet ein! ...Hört mir zu..., ja? Antarona weiß, dass es die Worte sind, die Worte der Götterwesen.., aber ich kann sie nicht deuten! Es sind die alten Zeichen, welche nur noch wenige Menschenwesen des Volkes verstehen. Sonnenherz weiß, was die Worte sind, doch sie kann ihre genaue Bedeutung nicht sagen...«
»Aber wie kannst du sagen, was dort steht, wenn du es nicht lesen kannst, Antarona? Woher weißt du dann, dass es sich um die Hallen von Talris handelt..? Los.., ich will das jetzt sehen.., zeig mir, wo die Worte an den Wänden zu sehen sind, führ mich dorthin.., ja?« Sebastian erfasste Antaronas Handgelenk und wollte sie weiter in die Dunkelheit der Felsenburg hinein ziehen. Das Krähenmädchen wehrte jedoch energisch ab und stieß ihm ihre Hände vor die Brust, um sein allzu rasches Vordringen aufzuhalten.
»Wartet..! Ba - shtie.., jetzt wartet doch..!« Sie schrie es ihm ins Gesicht und ein erschreckter Sebastian Lauknitz erwachte aus seinem Entdeckertraum.
»Ba - shtie.., ihr könnt dort nicht einfach hinein..., wir brauchen Licht.., Feuer.., wir brauchen eine Fackel, versteht ihr? Wir können dort nichts sehen, es ist dunkel dort im Berg! Menschenwesen können sich in den Hallen leicht verirren, Ba - shtie.., wir müssen uns genügend Fackeln mitnehmen.., versteht ihr das?«
Freilich verstand Sebastian, was ihm seine kleine Krähenfrau entgegen schrie. Mit einem Mal wurde er sich bewusst, dass seine Begeisterung mit ihm durchgegangen war. Ihm wurde schlagartig klar, was die großen Entdecker empfunden haben mussten. Antarona brachte ihn zurück zur Vernunft!
»Aber woher wollen wir hier Fackeln nehmen, mein Engelchen, hast du mal darüber nachgedacht..?«, warf er in die Stille der Mauern, als er sich wieder gefasst hatte. Es konnte Tage dauern, bis sie sich so etwas wie Fackeln gebastelt hatten, vorausgesetzt, sie fanden geeignetes Material dazu. Letzteres war in dieser Umgebung eher unwahrscheinlich.
»Kommt, Laug - nids...«, forderte ihn das Krähenmädchen auf, nahm seine Hand und zog ihn durch die dunklen Mauern zurück. Sebastian folgte ihr durch einen Seitengang und weiter in eine neue Halle und in einen angrenzenden Raum, der noch so etwas wie ein Dach besaß. Sie traten ein, in feuchte, finstere Kälte.
Antarona strebte einer Ecke des Raumes zu und es klang, als wühlte sie in einem Haufen Reisig. Stolz kam sie kurz darauf in den Lichtkegel zurück. In den Armen hielt sie ein Bund Fackeln wie ein Blumenbuket. Sie setzte eine gleichgültige Mine auf, als wäre sie eben nur mal Einkaufen gegangen.
Sebastian bemerkte sehr wohl das süße Lächeln hinter der Maske, ihre kleine Schadenfreude, die seiner Verblüffung zollte. Sebastians Herz hüpfte beim Anblick der stolzen Kriegerin, die doch mehr Leidenschaft und Lebensgefühl in sich trug, als sie ihm gegenüber zugab.
Bevor Antarona ihren Feuerstein aus dem Beutel holen konnte, hatte Basti die erste Fackel bereits entzündet. Er musste zugeben, dass sie gut brannte und nur wenig rußte. Die restlichen Fackeln im Arm folgte Lauknitz schließlich seiner Gefährtin in die Dunkelheit des imposanten Bauwerks.
Es war ein Werk von Göttern! Sebastian war sich sicher, dass ein solch monumentales Werk nicht von Menschenhand geschaffen worden sein konnte. Die Pyramiden Ägyptens waren schon überwältigend, doch was er hier durchschritt und was sich hier über ihm erhob, stellte selbst diese noch locker in den Schatten.
Andächtig drangen sie weiter in die vielzähligen Gänge vor. Die sich ständig in alle Richtungen verzweigten. Sie durchschritten kahle Räume, die trostloser nicht sein konnten. Hin und wieder betraten sie einen Raum, in dem sich eine Art einzeln stehender Sarkophag, oder Altar befand. Aus dem gleichen Stein der Wände geschmolzen, wiesen diese Reliquien bloße Inschriften als Verzierung auf. Sebastian erkannte die Zeichen wieder. Es waren die gleichen, die er bereits mit dem Obelisken in sein Tagebuch gezeichnet hatte.
Nachdem sie einige Kammern durchschritten hatten, wurde Sebastian nervös. Wie sollten sie hier je wieder heraus finden, wenn sie sich immer tiefer in das Labyrinth gleich aussehender Wände vor wagten? Antarona hielt und drehte sich zu Sebastian um, als seine Stimme von den Steinfluchten und Decken widerhallte:
»Antarona.., bitte, warte mal..., wie wollen wir hier denn wieder heraus finden? In diesem Loch sieht doch alles gleich aus! Das ist gefährlich, was wir hier tun!« Seine Stimme dröhnte durch das Gemäuer, hallte in vielen Ecken und ebbte schließlich in scheinbar weiter Ferne ab. Sebastian erschrak. Diese Burg wirkte wie ein Megaphon. Was einer nur flüsterte, konnte man laut vernehmen, es schallte durch wer weiß wie viele Hallen.
Das Krähenmädchen kam wie ein flüchtiger Schatten auf ihn zu und legte ihm ihre Fingerspitzen auf den Mund. Ihr mahnender Blick jagte Basti einen weiteren Schrecken ein:
»Schhhhhhhht.., nicht so laut, Ba - shtie.., ihr weckt sonst die Geister der Götterwesen!« Sebastian war verunsichert und sah sie fragend an. Im Schein der Fackel schimmerte ihr Gesicht maskenhaft und geheimnisvoll und erinnerte ihn an das Antlitz einer sehr schönen Ägypterin.
»Aber du hast doch gesagt, hier gibt es nichts Böses...«, flüsterte er aufgeregt zurück, »...also haben wir doch nichts zu befürchten.., oder?« Das Oder entfuhr Sebastians Mund gar nicht mehr so selbstsicher. Antarona setzte ein unschuldiges Gesicht auf und zuckte unwissend mit den Schultern:
»Ich habe euch gesagt, dass Antarona hier nie etwas Böses erfahren hat...«, raunte sie unsicher, »...aber vielleicht erzürnen sich die Geister der Götterwesen darüber, dass die Menschenwesen in ihr Reich eindringen!«
»Na ja.., dann kann ich ihnen als Gesandter der Götter ja immer noch sagen, dass ich eine Botschaft von den lebenden Göttern für sie habe«, versuchte Sebastian sie zu beschwichtigen.
»Ihr macht euch über Sonnenherz lustig, Ba - shtie...«, zischte sie ihn mit drohendem Blick an, »doch die Weisesten des Volkes erzählen von Alters her, dass die Ruhe der Götter niemals gestört werden darf. Von niemandem!« Sebastian sah sie kopfschüttelnd an. Verstehe einer die Logik der Frauen, egal in welchem Land, dachte er. Flüsternd fragte er:
»Du hast doch aber gesagt, du warst bereits in den Hallen von Talris! Also, mein Engelchen, wo liegt nun das Problem? Hast du dort Geister gesehen, oder nicht?« Basti wies mit seiner Fackel in das Dunkel, das sich vor ihnen auftat. »Wenn nicht, wovor hast du jetzt Angst, wo du doch schon allein dort drinnen warst?«
»Sonnenherz betrat die geheiligten Hallen nicht mit Geschrei und Gepolter! Sie betrat die Räume leise und ehrfürchtig, mit geneigtem Haupt und in Demut vor den Götterwesen, so wie es die Menschenwesen taten, als sie noch zu den Göttern gerufen wurden.., vor ewigen Zentaren, in der alten Zeit.« Sie unterbrach kurz ihren Vortrag und flüsterte dann kaum hörbar weiter:
»Wer die Götterwesen herausfordert, weckt ihre Geister.., die Dämonen des Feuerstrahls.., sie verbrennen jeden, der ihren ewigen Frieden stört!«
Sebastian sah die grazile, naive Schönheit interessiert an. Sie glaubte tatsächlich, was sie sagte. Ihre großen, eindringlich warnenden Augen faszinierten ihn selbst im spärlichen, flackernden Schein der Fackeln. Betont leise, als würde ihn sonst sofort eine finstere Bestie anfallen, raunte Basti ihr zu:
»Also, mein Sonnenherz, wie können wir da weiter reingehen, ohne uns zu verlaufen? Deine Götterwesen werden vermutlich ziemlich sauer, wenn wir hier ziellos in ihrer Burg herumstolpern, was?« Er lächelte versöhnlich und ließ die Frage spaßig klingen. Doch Antaronas ernster Blick ernüchterte ihn sofort wieder. Er las zwar keine nackte Angst in ihren Augen, wohl aber einen tiefen Respekt, der so fest in ihr verwurzelt schien, dass er keinen Kompromiss zuließ. Nach seiner bisherigen Einschätzung beurteilte er seine Gefährtin als eine unerschrockene, zielstrebig handelnde Frau, die ihren Mythen und ihrer Religion durchaus mehr mit Neugier und Realismus begegnete, als mit unterwürfigem, ängstlichen Glauben. Dennoch hatte sie offenbar eine tiefe, innere Achtung vor den Traditionen ihres Volkes.
Sebastian überlegte. Der ehrfürchtige Respekt, mit dem Antarona in das Felsensystem eindrang, musste einen anderen, als nur den mystischen Hintergrund haben. Etwas Reales, etwas Greifbares, dass diese sonst so furchtlose Kriegerin dazu veranlasste, übervorsichtig zu sein. Schneller, als ihm lieb war, bekam Sebastian eine Antwort auf diese Frage.
Antarona mahnte Basti noch einmal zur Ruhe und ging dann leichtfüßig und beinahe geräuschlos auf zwei gegenüberliegende Pfeiler zu, die einen weiteren Raum ankündigten. Sie hob ihre Fackel so hoch sie konnte und erleuchtete damit den weiten Raum. An den Pfeilern und auch an der Wand entdeckte Sebastian plötzlich einen weißen Fleck auf dem Dunkelgrau des Steins. Bei näherer Betrachtung entpuppte sich das Zeichen als der Abdruck einer kleinen, schmalen Hand.
Ohne ein Wort legte Antarona demonstrativ ihre Hand auf den Abdruck. Sie passte genau. Sie selbst also hatte die Abdrücke mit ihren Händen an den Wänden angebracht! Sie hatte sich auf diese Weise den Weg markiert. Sebastian schmunzelte still in sich hinein. So aufgeweckt konnten die Geister der Götterwesen gar nicht sein, wenn sie Antaronas Zeichen übersahen! Wenn hier jemand oder irgend etwas den Zugang verhindern wollte, so wären die Handmale längst entfernt worden!
Er nickte Antarona anerkennend zu, trat neben sie und legte wie zufällig sanft seine Hand auf ihre Hüfte. Noch ehe sie zurückweichen konnte, zog er sie näher an sich heran. Halb benommen vom Duft ihrer Nähe flüsterte er ihr ins Ohr:
»Du bist eine kluge Frau, Antarona. Der Mann, der einmal deine Zuneigung empfangen darf, wird der glücklichste und stolzeste Mann des Volkes sein!« Sie mochte eine Kämpferin sein, dennoch war sie eine Frau! Und als diese, so glaubte Basti, war sie empfänglich für solcher Art der Anerkennung. Im Stillen hoffte Sebastian, die Situation für einen Annäherungsversuch ausnutzen zu können. Das Krähenmädchen hatte einen enormen Respekt vor der Ruhe in diesen Mauern und würde es kaum riskieren, ihm eine laute Szene zu machen.
Aber Antarona war auch nicht naiv. Sie durchschaute sehr wohl die eindeutige Absicht! Wie eine Schlange drehte sie sich elegant aus seinem Griff und hielt ihm ihre Fackel so nahe vor das Gesicht, dass Basti erschrocken zurück wich. Seine Gefährtin lächelte ihn süß an und flüsterte:
»Zügelt eure Gefühle, Mann von den Göttern.., ihr seid im Reich eurer Väter! Die Geister wissen die Ruhe ihrer Götterwesen zu schützen..!« Damit drehte sie sich um, schritt durch das Portal zwischen den Pfeilern in den nächsten Raum und senkte die Fackel.
Ahnungslos folgte ihr Sebastian, fuhr aber im nächsten Augenblick zurück! Vor dem Bild, dass sich ihm bot stockte sein Atem. Antarona stand stumm vor ihm und beleuchtete eine Szenerie, die nun auch für ihn real und greifbar genug war. Antaronas Respekt vor der Ruhe und der Geister der Götter war keineswegs bloßer Glaube!
Im Staub zu ihren Füßen lagen die Überreste derer, die anscheinend die Ruhe der Götterwesen gestört hatten. Der gesamte Boden des großen Raumes war mit Skeletten übersät. Es waren jedoch keineswegs nur menschliche Gebeine, die sich in den abartigsten Stellungen Sebastians Blicken offenbarten. Da lagen die Knochen von Hunden, Rindern, Vögeln, Menschen, von Paarhufern, wie Antilopen und Hirschen, oder Elchen, sogar das Skelett eines großen Bären war zu finden.
Sebastian stand fassungslos vor den verteilten Überresten vergangenen Lebens und sein Geist suchte krampfhaft nach einer Erklärung. Wer oder was, um Himmels Willen, hatte hier, vor allem weshalb, so ein derartiges Gemetzel angerichtet? In diesem Raum, der viel höher zu sein schien, als die bisherigen, wurden wahrscheinlich wahllos alle Kreaturen nieder gemacht, die unvorsichtig genug waren, irgendwen oder irgendetwas zu stören! Aber wen oder was?
»Was im Namen der Götter ist hier geschehen?«, entfuhr es Sebastian endlich. Er hauchte es nur in die Stille dieser Gruft und hatte das Gefühl, eine feuchte, gnadenlose Kälte nahm Besitz von seinem Geist und Körper.
»Die Dämonen des Feuerstrahls bestrafen alle Geschöpfe, die es wagen, die Geister der Götterwesen zu erzürnen!«, flüsterte Antarona erklärend. Sie stand wie angewurzelt da und rührte sich nicht. Selten hatte Sebastian etwas so gespenstisch empfunden, wie diesen mit Knochen bedeckten Höhlenboden. Ohne sich zu ihm umzudrehen, hauchte Antarona ähnlich einem heimlichen Luftzug:
»Ihr müsst sehr still sein, Ba - shtie.., so leise, wie eine Schlange und so vorsichtig, wie ein Waldläufer... Weckt ja nicht die Geister der Götter, wenn ihr nicht ebenso enden wollt, wie diese törichten Geschöpfe zu euren Füßen!« Damit wollte sie sich langsam wieder in Bewegung setzen. Basti griff nach ihrem Arm und hielt sie auf.
»Halt.., warte mal.., wie du schon sagst.., lass uns vorsichtig sein, ja?« Damit kniete Sebastian nieder, so behutsam, als stünde er auf den labilen Eisschollen eines reißenden Flusses. Er senkte seine Fackel und betrachtete die herumliegenden Gebeine näher. Alle Kreaturen, die hier den Tod gefunden hatten, wiesen gemeinsam bestimmte Merkmale auf.
Sie lagen wie von einer mächtigen Faust niedergestreckt und so, als wären sie noch meterweit durch die Luft geschleudert worden. Weiter fiel Sebastian auf, dass alle Opfer an verschiedenen Stellen verkohlte Knochen aufwiesen, als wären sie von einem Blitz getroffen worden. Sämtliche Skelette besaßen eine Art zehn Zentimeter große Einschussstelle, die offenbar mit großer Hitze beigebracht worden war.
Doch sie starben nicht alle zur gleichen Zeit! Basti erkannte ebenso verblichene, von Staub überzogene, zerfallene Gebeine, wie auch mumifizierte, oder im Verwesungszustand befindliche Leichen. Ein großer Felsenbär schien erst kürzlich verendet zu sein. Sein Fell war an einer Stelle wie von einer Feuerlanze durchbohrt worden. Versengte Haare und Haut umrahmten ein großes Durchschussloch, als hätte jemand mit einer Panzerfaust auf das Tier geschossen.
Diese Götter, wenn es denn nicht doch Wesen aus Fleisch und Blut waren, reagierten offensichtlich ziemlich sauer und maßlos übertrieben auf ungebetene Gäste! Aber auf welche Weise wüteten sie unter potentiellen Eindringlingen? Eine Antilope, oder ein harmloses Kaninchen konnte wem auch immer kaum so gefährlich werden, dass es ein solches Verhalten rechtfertigte!
Sebastian wagte kaum zu atmen und erhob sich sehr vorsichtig. Er streckte die Fackel in die Höhe und suchte die Wände ab, die von dem spärlichen Licht kaum genug erhellt wurden, um etwas zu erkennen. Bis zu dreißig Zentimeter breite Risse durchzogen hier und dort die Wände, verjüngten sich und endeten in kaum erkennbaren Haarrissen. Die Decke dieses Gewölbes war so hoch, dass sie vom Licht der Fackel nicht mehr erreicht wurde. Wer bewachte diesen Raum, vor allem, wie? Reichte bereits ein falscher Schritt, um zu sterben?
Noch nie zuvor in seinem Leben war sich Sebastian derart unschlüssig darüber, ob er verharren, oder weitergehen sollte. Antarona nahm ihm die Entscheidung ab. Vorsichtig, wie ein Indianer auf der Pirsch setzte sie einen Fuß vor den anderen. Dabei verursachte sie nicht das geringste Geräusch, denn das weiche Leder ihrer Beinlinge schmiegte sich an jede Unebenheit und über jedes Steinchen am Boden.
Basti wollte ihr folgen, doch schon sein erster Schritt rief ein hallendes Knirschen hervor. Es klang, als würden die umliegenden Wände bersten und der hässliche Schall pflanzte sich in dem verzweigten Labyrinth weiter fort. Sebastian erschrak und hielt in der Bewegung inne.
»Bei den Göttern..., Ba - shtie..., wollt ihr in das Reich der Toten wandern? Zieht gefälligst eure harten Beinlinge aus!«, zischte Antarona ihm leise zu, ohne sich ihm auch nur für einen Moment zuzuwenden. Starr hielt sie den Blick auf ihre Füße geheftet, um ja nicht fehl zu treten.
Basti balancierte auf der Stelle und überlegte fieberhaft, wie er sich seiner Bergstiefel entledigen sollte, ohne noch mehr Lärm zu verursachen. Umständlich beugte er sich zu seinen Stiefeln herab, um die Schnürbänder aufzuknoten. Dabei rutschte ihm der Rucksack kopfüber genau auf die Fackel. Fast verlor Basti das Gleichgewicht und ruderte verzweifelt mit den Armen, wobei seine Fackel einen kreisenden Feuerwirbel vollführte.
Wenn die Götter oder ihre Geister in diesem Berg noch am Leben waren, so war dies ganz sicher der Zeitpunkt, an dem sie sich endgültig totlachten! Sebastians Begleiterin fand die Akrobatik nicht ganz so komisch:
»Was tut ihr da, Ba - shtie - laug - nids?«, raunte ihm Antarona gefährlich leise zu, »...seid ihr von allen Sinnen verlassen? Zieht eure Beinlinge aus und kommt endlich!«
Irgendwie schaffte es Sebastian, sich seiner Stiefel zu entledigen. Er band sie zusammen und hängte sie sich um den Hals. Dann versuchte er Antarona zu folgen. Sofort trachteten kleine spitze Steinchen danach, ihm die Fußsohlen zu durchbohren. Nur mit Mühe konnte er lästerliche Flüche aus seinem Mund verhindern. Er biss die Zähne zusammen und stakste hinter seiner Gefährtin her.
Die Fackel immer in Bodennähe, versuchte Basti nicht auf Steinschutt zu treten, was eigentlich unmöglich war, denn der Boden war fast vollständig bedeckt davon! In ungelenken Bewegungen schlich er hinter dem Krähenmädchen her.
In der Mitte des Raumes befanden sich mehrere Altare, oder Grabmäler, als mächtige Steinquader, symmetrisch angeordnet. Zwischen etwa sechs bis acht solcher Felsrechtecke, gut eineinhalb Meter hoch, schlichen sie hindurch und erreichten unbehelligt die rückwärtige Wand der Kammer.
Ein mächtiges Portal entließ sie in einen hohen Gang. Von beiden Seiten war der Durchgang mit Verzierungen behauen, die an Holzschnitzereien erinnerten. Nur waren hier Zeichen und Symbole in den Fels gegraben und auf Hochglanz poliert, als hätte sie jemand mit einem Siegelstempel in flüssiges Gestein geprägt. Die Symbole ähnelten denen, welche Sebastian bereits auf dem skizzierten Obelisken entdeckt hatte.
Sie folgten dem eintönigen Gang, der sie leicht abwärts geneigt immer tiefer in den Berg hinein führte. Zu Bastis Beruhigung war der Boden nicht mehr mit Gebeinen von Toten gepflastert. Dennoch wagte er kaum seine Stimme zu erheben:
»Wie weit ist es denn noch, Antarona.., bist du sicher, dass wir noch auf dem richtigen Weg sind?«, raunte er hinter seiner Führerin her. Die zeigte nur kommentarlos an die Wand, wo einer ihrer Handabdrücke im tanzenden Lichtkegel der Fackel erschien. In regelmäßigen Abständen öffneten sich links und rechts gähnend schwarze, eckige Löcher, Gänge, die ins Irgendwo und Nirgendwo führten.
Sebastian wusste nicht mehr zu sagen, wie lange sie durch diese unendliche Dunkelheit geschlichen waren. Plötzlich standen sie vor einem monumentalen Bogen, der aus dem Nichts empor zu wachsen schien. Er entließ sie in einen großen Saal. Antarona trat vor Sebastian in einen mehrere Stockwerk hohen Raum, dessen Abmessungen im Dunkeln nicht zu erfassen waren. Mächtige, hohe Säulen stützten ein steinernes Gewölbe, das Sebastian über ihren Köpfen nur vermuten konnte. Die Fackeln besaßen nicht genug Leuchtkraft, bis an die Decke vorzudringen. Einfach geformte, glasierte Pfeiler reihten sich unendlich hintereinander und nebeneinander. Sebastian vermutete bereits, was Antarona ihm ehrfürchtig zuflüsterte:
»Die geheiligten Hallen von Talris.., is.., is.., is...« Ihr Flüsterton wurde unzählige Male als Echo hin und her geworfen, bis er schließlich weit entfernt verebbte. Sebastian zündete eine zweite Fackel an und hob die beiden Flammen zur Decke. Wie von Zauberhand glommen an Säulen und dazwischen emporragenden Wänden unregelmäßig angeordnete Streifen auf. Ein mattgelber, kalter Glanz breitete sich in dem riesigen Gewölbe aus und ließ die Dimensionen der Hallen von Talris erahnen. Sie waren unfassbar!
Die schimmernden Streifen, die das spärliche Licht zuckend und vielfach hin und her reflektierten, ähnelten breiten Flüssen in einer riesigen, steinernen Landkarte. Sebastian sah sich staunend um, beeindruckt von der an Unendlichkeit grenzenden Ausdehnung des Raumes.
»Hier fließen die Tränen der Götter, Ba - shtie«, flüsterte Antarona andächtig und zeigte mit ihrer Fackel auf eine der glänzenden Adern im Stein. Wie eine Einlegearbeit schimmerte es ihnen entgegen. Lauknitz betrachtete das Gestein näher.
»Das glaub’ ich jetzt nicht..! Antarona.., das..., was du hier siehst.., das ist Gold.., pures, massives Gold.., verstehst du?« Sebastian traute seinen Augen nicht. Alle Wände, Pfeiler und Säulen waren von üppigen Goldadern durchzogen. Ein unermesslicher Schatz ruhte hier in den dunklen, verborgenen Schächten des Berges. Nun wunderte es Basti gar nicht mehr, dass jemand, wer immer es auch sein mochte, mit allen Mitteln versuchte, dieses Geheimnis zu schützen.
»Was ist das... Gold?« Antarona kannte diesen Begriff offenbar nicht. Sie sah Sebastian fragend an. Der drehte sich vor Aufregung um die eigene Achse und leuchtete wie wild mit den Fackeln in alle Richtungen:
»Gold.., pures Gold, mein Engelchen.., verstehst du denn nicht.., überall ist hier Gold.., diese Hallen sind die reinste Goldmine.., das hier, das ganze Zeug.., das ist Millionen.., ach, was sag’ ich.., Milliarden und Abermilliarden wert.., begreifst du das?«
Nein, Antarona begriff nicht. Für sie war es etwas, das nicht von so großem Wert war, wie ihr Sebastian glauben machen wollte.
»Gold.., Millarden.., Millonen.., was redet ihr da, Ba - shtie! Es sind die Tränen der Götter! Torbuk lässt sie aus den Bergen der schlafenden Sonne herausschlagen, von den Gefangenen aus dem Volk, die er verschleppt hat und die er für sich arbeiten lässt. Es ist nichts Gutes an diesen leuchtenden Steinen, sie bedeuten dem Volk nichts! Torbuk und Karek sind dem Glanz der Tränen verfallen und töten die Menschenwesen des Volkes, um diese Steine zu besitzen. König Bental hat verboten, dass die Brüder und Schwestern des Volkes die Tränen der Götter besitzen. Sie säen Hass und Arglist unter die Menschenwesen des Volkes und bringen Unheil über das Land...!«
Sebastian beruhigte sich wieder und hörte auf, sich begierig nach den Goldflözen umzusehen. Allmählich begriff er, dass Antaronas Volk, ähnlich, wie die Indianer, keine Verwendung für Gold hatte. Dieser König Bental hatte anscheinend bereits in aller Weisheit erkannt, welche Gefahr von der Faszination für dieses Mineral ausging und dass es dem Volk nur Zwietracht und Schaden bringen würde.
Er musste zugeben, dass Antaronas Volk dem Untergang geweiht war, wenn diese verborgenen Schätze unter den westlichen Industrienationen bekannt wurden. Antarona liebte ihr Volk wie es war; seine Vernichtung würde auch ihren Tod bedeuten! Sebastian musste daran denken, dass für die Tränen der Götter bereits ganze Völker ausgerottet wurden.
Sehnsüchtig sah er sich in den Hallen von Talris um, wohl ahnend, dass er mit einem winzigen Bruchteil dieses Goldes für den Rest seines Lebens ausgesorgt hätte. Er wusste aber sofort, dass er um der Liebe zu Antarona willen dieses Geheimnis für sich behalten würde. Ihre Naivität, was den Wert dieses Gesteins anbelangte, beeindruckte ihn mehr, als die Macht des Glanzes, die sich in diesen Höhlen verbarg. Die Reinheit und Jungfräulichkeit ihres Geistes, diese wunderbare Natürlichkeit ihres Wesens schätzte er mehr, als diesen unermesslichen Reichtum!
Erstaunt schüttelte er den Kopf ob seiner Entscheidung. Er musste sich selbst belächeln. Für ein kleines Kästchen voll Gold war er in dieses Abenteuer geschlittert und nun, da er die Chance besaß, als reichster Mensch der Welt wieder nach Hause zurückzukehren, entschied er sich für das Glück einer halbnackten Wilden, deren Herz zu erobern, ihm wichtiger war, jedoch für ihn nach wie vor zweifelhaft blieb. Das war wirklich paradox...
Oder etwa nicht? Er fühlte nun einmal so: Die Liebe steht über allem... Wer fähig ist, die wahre Liebe zu empfinden, der war auch stark genug, dafür allem anderen zu entsagen! Sebastian wusste, wie abgedroschen seine Gedanken als gesprochene Worte klingen würden.
Dennoch, tief in seinem Herzen war ihm das Glück Antaronas wichtiger, als alles Gold der Welt. Auf einem Mal wurde ihm klar, wie lächerlich er sich verhalten hatte! Gehetzt von dem Gedanken, jemand konnte ihm seinen kleinen Goldschatz rauben, schleppte er seine Münzen von einem Versteck zum nächsten.
Doch jetzt, da er das wohl größte Goldvorkommen der Erde praktisch in seinen Händen hielt, erschien es ihm nicht wertvoller, als die heimliche Liebe zu einem wilden, eigensinnigen Krähenmädchen, dessen Zuneigung er vielleicht niemals gewinnen würde! »Sebastian Lauknitz.., du dummer, du größter aller hoffnungslosen Idealisten..!«
»Ba - shtie.., was ist mit euch.., haben die Tränen der Götter euren Geist berührt..?«, hörte er Antarona aus weiter Ferne fragen. Seine Gedanken verflogen. Sebastian Lauknitz.., du größter aller hoffnungslosen Idealisten... Das hatte er in Gedanken laut ausgesprochen. Er überlegte kurz. Es war die Wahrheit!
»Ja, mein Engel.., die Tränen der Götter haben meine Sinne berührt... Aber nur kurz.., bis mir klar geworden ist, wo die wahren Werte des Lebens liegen!« Antarona verstand rein gar nichts, sah ihn nur an, als würde ein Verrückter vor ihr stehen. Basti bemerkte ihren zweifelnden Blick und nahm sie vertrauensvoll bei den Händen:
»Du hast ja so recht.., die Tränen der Götter sind nicht gut für das Volk! Zeig mir lieber die Worte, welche die Götterwesen einst dem Volk gegeben haben, ja?«
Antarona nickte nur stumm, zeigte mit ihrer Fackel in eine Richtung zwischen die mächtigen, dunkelgrauen Säulen und ging voran. Überall fanden sich die Abdrücke ihrer kleinen Hände auf dem Gneis, so dass sich Sebastian fragte, mit wie vielen Eimern Farbe sie einst zu dieser Markierungsorgie aufgebrochen war. Als hätte sie seine Gedanken gelesen, raunte sie in die Stille:
»Sonnenherz hat den Weg zu den Worten der Götter über viele Zentaren gefunden... Jedes Mal war sie ein Stück weiter in die Hallen von Talris vorgedrungen.., jedes Mal hat sie mehr Fackeln mitgebracht.., wenn die Männer des Achterrats einmal ihre Angst verlieren, wird Sonnenherz sie führen, und sie werden stolz sein auf die Tochter des Volkes...«
Sebastian vermutete, dass Antarona die Männer des Achterrats zwar respektierte, diese aber nicht für unbedingt mutig und entschlossen genug hielt. Einerseits ehrte sie diese Gemeinschaft, der offenbar auch ihr Vater angehörte und die wohl eine Art Abgeordnetenversammlung darstellte, doch im Grunde verachtete sie die Unentschlossenheit und die ängstliche Zurückhaltung dieser Männer. Wie bekannt ihm das vorkam!
Sebastian musste sich eingestehen, dass es in seinem eigenen Land, trotz umfassender Gesetze und einer funktionierenden Demokratie oft nicht anders war. Ohnmächtige Wut und Auflehnung gegen die stoische, bequeme Tatenlosigkeit der gewählten Vertreter und der Regierung des Volkes.
Antarona sehnte sich nach einer Führung, die dem Bösen in diesen Tälern, also Torbuk und Karek mit ihrem zügellosen Treiben, ein für alle Mal ein Ende setzte. Möglicherweise hielt sie ihn, den von Göttern gesandten Sebastian Lauknitz, für ihre allerletzte Hoffnung auf Unterstützung in ihrem Kampf gegen diese beiden Mordbrenner und ihre grausamen Schergen.
Stumm und ehrfürchtig führte sie Sebastian durch einen wahren Wald von monströsen Säulen. So hoch waren diese tragenden Segmente, dass man das Gewölbe, das diese trugen, nicht mehr erkennen konnte. Der Schein ihrer Fackeln verschmolz über ihren Köpfen mit der Dunkelheit. Jede einzelne dieser titanenhaften Stützen war wie aus einem Stück Stein geschmolzen. Wäre dieser Fels weißer Marmor, so würde der Vergleich zu einem gigantischen Tempel augenfällig werden!
Jedes noch so geringe Geräusch, dass ihren Bewegungen entfloh, schaukelte sich zu einem Höllenlärm hoch und verlor sich scheinbar in einer Unendlichkeit. Sebastian fiel es schwer, diese Architektur zu begreifen. Wozu baute jemand so riesige Hallen in einen Berg? Wurde hier vielleicht tatsächlich einmal im großen Stil Gold abgebaut? Waren die leeren Räume zwischen den Säulen einst mit Goldadern gefüllt?
Doch wo war dann dieses ganze Gold abgeblieben? Die Menge an gefördertem Gold der ganzen Erde reichte nicht aus, um diese gigantischen Hallen zu füllen! Blieb nur, rein hypothetisch, die Variante, dass hier in der Tat Götter gelebt hatten!
Sebastian schüttelte den Kopf und fasste sich an die Stirn. In welche absurde Phantasie entgleisten seine Gedanken da? Götter, die in einem riesigen, ausgehöhlten Berg hausten... Mit welcher Technik hätten die solche Felsmassen bewegt? Das erste beste Erdbeben hätte denen das Wohnzimmer über den Köpfen zusammenbrechen lassen! Erdbeben..? ...Erdbeben!
»Sag mal, Antarona...«, flüsterte Sebastian, »...kannst du dich daran erinnern, dass in den Tälern deines Volkes einmal die Erde gewackelt hat? Oder kennst du einen Berg, der Feuer speit, wie ein wild gewordener Gor?« Das Krähenmädchen hielt an, wandte sich zu ihm um und schien nachzudenken. Dann schüttelte sie langsam, etwas unsicher, den Kopf.
»Nein, Ba - shtie.., daran kann ich mich nicht erinnern... Nur die reisenden Händler, die in den Tälern der wandernden Sonne waren, berichteten davon. Dort sind Berge, die mit ihren Feuerzungen nach den Dörfern lecken und alles verbrennen, das sich ihnen in den Weg stellt. Wenn sie wütend werden, werfen sie mit Steinen und niemand kann ihnen entkommen...« Sie hielt kurz inne, senkte ihre Fackel und sah Sebastian an, bevor sie weiter sprach:
»Es ist der Zorn der Götter, Ba - shtie.., denn die Völker unter der wandernden Sonne ehren nicht Talris, wie die Völker von Volossoda...«
Sebastian wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Er kannte es ja aus seiner Welt. Die Verachtung und Verurteilung derer, die anderen Glaubens waren. Was sollte er ihr sagen? Dass auch die Götter sich untereinander bekämpften, weil sie verschiedenen Glaubensrichtungen folgten?
Konnte er ihren Glauben, ihre Hoffnung auf die Stärke, Gerechtigkeit und Integrität der Götter erschüttern und das Bauwerk ihres Glaubens zum Einsturz bringen? Basti war versucht, es zu tun. Aus reiner Neugier. Doch was, wenn das Krähenmädchen dadurch auch die Achtung vor ihm verlor, diese heimliche Bewunderung, die sie ihm, dem von den Göttern Gesandten entgegen brachte und die seine einzige Hoffnung war, dieser eigenwilligen Frau, die er so liebte, näher zu kommen? Sebastian musste sich eingestehen, dass er so selbstlos nicht war. Er liebte dieses faszinierende, ungebändigte Geschöpf so sehr, dass er sogar bereit war, ihre gegenseitige Zuneigung auf einem Fundament der Lüge aufzubauen. Wenn er nur erreichte, dass ihm Antarona ihre bedingungslose Liebe schenkte!
Sebastian schämte sich dafür. Doch die Liebe in ihm war stärker, als jedes Ehrgefühl! Er versuchte krampfhaft, diese Vorstellung aus seinem Kopf zu verbannen, denn er hatte das unsichere Gefühl, dass Antarona seine Gedanken lesen konnte.
»Ach so ist das...«, sagte Sebastian rasch, als er bemerkte, dass ihn seine Begleiterin immer noch ansah, »...ja.., also.., die Götter tun das ja nicht aus Spaß.., ich meine.., wie sollen sie sonst alle Völker unter ihrem Schutz vereinen..?« Sebastian saugte sich die Worte aus dem plötzlichen Vakuum in seinem Kopf und hätte sich in diesem Augenblick dafür ohrfeigen können. Was redete er da für einen Blödsinn zusammen? Was sollte Antarona damit anfangen...
»Ba - shtie - laug - nids.., ihr seid von den Götterwesen zu uns gesandt, um die Völker unter dem Zeichen des Friedens und der Hoffnung zu einigen..? Sonnenherz hat es gewusst! Die Mutter der Nacht, welche die Sinne im Schlaf wandern lässt, hat es Sonnenherz berichtet. Und ich habe es im Stein der Wahrheit gesehen! Ihr seid es.., Ba - shtie.., der Befreier des Volkes und der Bote, der allen Völkern das Gute und den Frieden bringt! ...Ba - shtie - laug - nids.., der Mann.., mit den Zeichen der Götter..!«
Antarona strahlte Sebastian ehrfurchtsvoll an, wie ein Teenager, der einen verehrten Rockstar anhimmelte. Basti zog die gedankliche Ohrfeige gegen sich selbst wieder zurück und sonnte sich in dieser unvorhergesehenen glücklichen Fügung. Er ließ sich von ihrer kindlichen Bewunderung einfangen und genoss es.
Dennoch war da ein Grummeln in seinem Bauch, das ihn warnte. Selbst, wenn sich sein größtes Begehren, seine größte Sehnsucht erfüllte... Ihre tiefe Liebe zu ihm...
Was, wenn sein Krähenmädchen eines Tages ernüchterte, wenn sie in schwierigen Situationen, oder im gemeinsamen Alltag feststellen musste, dass er nur ein mittelmäßiger, mit allen menschlichen Schwächen ausgestatteter Mann war, der ihr nichts weiter, als seine Zuneigung geben konnte?
Wie würde sie ihn in der Reife der Jahre sehen, wenn ihr bewusst geworden war, dass er nicht die Macht und die Gunst der Götter besaß? Würde ihre Liebe zu ihm dann noch Bestand haben? Würde sie sich dann von ihm abwenden, ihn vielleicht sogar verachten?
Sebastian hatte Angst. Er fürchtete sich davor, dass dieses glücklichste Gefühl seines Lebens, das gerade in sein Herz einzog, irgendwann einmal wieder aus seiner Brust herausgerissen werden könnte. Eine verzweifelte, kalte Hülle um eine schmerzende Leere würde ihm dann bleiben und ihn von innen heraus zerfressen. Er hatte es bereits erlebt... Damals, als Janine ihn verlassen musste. Er wollte es niemals wieder erleben müssen...
»Ba - shtie.., seht.., kommt schon...«, hörte er Antarona wie aus einer anderen Welt zu ihm sprechen. »...Dort.., Ba - shtie.., die Tafeln von Talris.., so, wie es die Alten und Weisen des Volkes erzählen!«
Sebastian erwachte aus der Gefangenschaft seiner verborgensten Ängste. Antaronas Gestalt stand als anmutiger, flackernder Schatten vor einer golden schimmernden Wand. Sie hielt ihre Fackel in die Höhe und das orangegelbe Licht floss wie ausgegossene Lava über eine sich nach allen Seiten ausdehnende Fläche.
Verzaubert und geblendet betrachtete Sebastian etwas, das den Schein ihrer Fackeln wie ein Spiegel zurück warf. Eine in allen Gelbtönen flammende Wand von wenigstens zwanzig Metern Höhe stand vor ihnen und begrenzte den Raum. Zu beiden Seiten schien sie endlos ins Dunkel zu greifen. Vorsichtig trat Basti an das überwältigende Werk der Götter heran und ließ seine Hand über ein glattes, metallenes Relief gleiten.
Fußgroße Symbole und Zeichen reihten sich abschnittweise aneinander und untereinander. Wie Buchstaben, angeordnet in Kolumnen, ähnlich einer mehrspaltigen Zeitung, waren diese Hieroglyphen über die gesamte Höhe in die Wand gegraben. Die einzelnen Kolumnen waren ellenbreit voneinander getrennt. Sofort erkannte Sebastian die Zeichen, die er auch auf dem Obelisken in der Karstlandschaft jenseits von Högi Balmers Alm gefunden hatte.
Wie mit einem Brandeisen waren die Zeichen als gleichmäßige Rillen in die metallartige Fläche geschmolzen worden. Ergriffen über dieses Wunder an Baukunst ließ Sebastian seine Finger über die spiegelglatt polierte Wand gleiten. Das Feuer seiner Fackel spiegelte sich darin, brach sich in den Vertiefungen der Zeichen, ließ die fremden Buchstaben tanzen.
Basti bückte sich, hob ein Steinchen vom Boden auf und versuchte damit die Wand zu ritzen. Ein feiner Riss grub sich in die Oberfläche, die nicht so hart war, wie er sie vermutet hatte... Gold!
Sebastian fiel es wie Schuppen von den Augen. Was sich hier haushoch und unendlich in beide Richtungen vor ihnen erstreckte, war eine riesige, von Schriften übersäte, massive Mauer aus echtem, schwerem Gold! Tausende von Tonnen reinen Goldes waren wie eine meterdicke, alles überdauernde Tapete auf die Felswände gegossen worden! Fassungslos wich Basti ein paar Schritte zurück, hob die Fackeln an und bestaunte seine Entdeckung.
»Woher kommt das alles.., Antarona... Sag’ mir, dass ich das alles nur träume... Das kann gar nicht wirklich wahr sein! Wer, oder was hat das alles hier gemacht?« Er schüttelte heftig den Kopf, als wollte er aus einem widersinnigen Traum aufwachen. Ungläubig sah er seine Gefährtin an, dann wieder auf die glänzende Wand aus dem Metall, das schon seit Jahrtausenden Menschen hatte irr werden lassen.
»Wer hat so etwas fertig gebracht...«, wiederholte Sebastian, völlig vom Anblick eines solchen Monuments verzaubert.
»Die Tafeln von Talris...«, hauchte Antarona demütig und sank auf die Knie, »...die Worte, welche die Götter uns, den Menschenwesen des Volkes schenkten.., in ewige Seen ihrer Tränen gegossen, damit die Menschenwesen sie nie vergessen und ihnen in alle Ewigkeit Gehör schenken.., so, wie es die Alten berichten...«
Langsam wanderte Sebastian an der nicht enden wollenden Wand entlang, die Fackel erhoben, erblickend, was sein Geist nicht begreifen wollte. Unaufhörlich tastete sich seine Hand über die gegossene, gelb glänzende Wand, von Symbol zu Symbol, von Zeichen zu Zeichen, immer weiter, Meter für Meter...
Erst als er Antaronas Fackel nur noch als zuckenden Lichtpunkt gewahrte, gelangte er an einen dunklen Einschnitt im Fels. Die goldene Tafel endete abrupt in einer geraden, vertikalen Kante, setzte sich aber jenseits der Öffnung wieder fort. In den Einschnitt hinein führte eine Treppe hinauf in die Dunkelheit.
Sebastian kehrte um und fand Antarona immer noch kniend vor. Er kniete sich neben sie, tastete nach ihrer freien Hand und hielt sie fest. Gemeinsam sahen sie zu den Zeichen auf, die im unregelmäßigen Schein der Fackeln lebendig wirkten. Wie ein erleuchtetes Paar im dunklen Nichts, das sich betend vor seinem Schöpfer verneigte...
»Du hast recht, mein Engel... Das kann nur von Göttern gemacht sein...« Sebastian sprach es leise, doch diesmal war kein Echo zu hören. Vermutlich wirkte die goldene Wand mit den vertieften Symbolen wie eine schallschluckende Fläche.
Inzwischen wurde Sebastian klar, wo der Abraum geblieben war, der einmal zwischen den mächtigen, unzähligen Säulen Platz gefunden hatte. Das Gold war der Abraum! Wahrscheinlich wurde es aus dem Gestein gefördert und in diese Tafeln des Talris gegossen. Diese Hallen von Talris mussten einmal eine Mine unbeschreiblichen Ausmaßes gewesen sein. Anscheinend waren diese Götter, oder wer auch immer, so intelligent, dass sie von der Haltbarkeit dieses Metalls gewusst hatten. Ihre Worte in Gold gegossen, das hatten sie offenbar erkannt, würden die Zeit länger überdauern, als jedes andere Material.
Aber noch etwas leuchtete ihm ein. Selbst, wenn er der Versuchung erliegen würde, dieses Gold aus den Felsen zu brechen, um es in der zivilisierten Welt auf den Markt zu bringen, hätte so ein Unternehmen nur wenig Aussicht auf Erfolg. Bei dieser unermesslichen Menge des begehrten Metalls würden die Goldpreise der Weltmärkte einbrechen und ins Bodenlose purzeln. Man würde dann für eine Unze Gold nicht einmal mehr ein altbackenes Brötchen bekommen!
Noch nicht ganz ernüchtert von den Eindrücken dieser geheimnisvollen Unterwelt gelangte Sebastian allmählich zu einer anderen Erkenntnis. Der Wert dieser goldenen Tafeln erwuchs sich eher aus den sich unendlich aneinanderreihenden Inschriften! Er vermutete, dass die Geheimnisse, welche sich hinter den Zeichen und Symbolen verborgen hielten, weitaus spektakulärer waren, als es der Reichtum des Goldes jemals hätte sein können!
Sebastian kam sich genarrt vor. Er entdeckte soeben das größte, der Menschheit bekannte Goldvorkommen, das damit augenblicklich vom Material her wertlos wurde. Wie widersinnig das war! Ganze Völker, Herrscher und Abenteurer kamen und gingen auf dieser Welt, führten Schlachten, Kriege und Intrigen gegeneinander, hegten alle einen Traum, folgten alle einem einzigen Ziel: Den Reichtum von Gold und die sich daraus erwachsende alleinige Macht über die Welt.
Doch in dem Augenblick da die Erde diesem menschlichen Verlangen nachgab, zerfiel dieser Traum sogleich in den Staub einer wertlosen Illusion!
Ganz spontan musste Sebastian lachen. Jahrelang versteckte er sein kleines Kästchen mit Goldmünzen, die ihm wer weiß wie wertvoll erschienen, und nun saß er vor einer millionenfachen Menge von diesem Zeug. Der Wert seines kleinen, über die Jahre hinweg gehegten Schatzes hing auf einem Mal von der Geheimhaltung dieser Entdeckung ab!
»Warum lacht ihr, Ba - shtie«? Antarona unterbrach seine Nachdenklichkeit und sah ihn verwundert an. Wie sollte er ihr das erklären?
»Weißt du, mein Sonnenherz.., ich lache, weil ich dumm bin... Mein halbes Leben lang bin ich einer Sache hinterher gerannt... Und nun, von einem Augenblick zum anderen.., ich meine.., es war alles umsonst, verstehst du? Ich bin einem Hirngespinst gefolgt, das sich in den Köpfen der Menschen festgefressen hat und jetzt plötzlich wertlos geworden ist... Die Tränen der Götter!«
Das Krähenmädchen stierte ihn immer noch aus verständnislosen Augen an. Für sie sprach er in Rätseln, die sie nicht entschlüsseln konnte. Sebastian spürte, dass sie an seinem Verstand zweifelte und versuchte sie mit einer wegwerfenden Handbewegung zu beruhigen:
»Mach dir nichts draus, irgendwann werde ich es dir erklären und dann wirst du es verstehen... Im Augenblick habe ich Mühe, mich selbst zu verstehen.« Er deutete mit seinen Fackeln zur goldenen Mauer hinüber und fuhr fort:
»Was bedeuten diese Zeichen, Antarona? Kannst du sie lesen und mir erzählen, was die Götter dem Volk damit sagen wollten? Ist es so etwas, wie die Geschichte der Menschenwesen, oder sind das Regeln oder Gebote?«
»Sonnenherz vermag nicht, diese Zeichen zu deuten, Ba - shtie.., es sind die Zeichen der alten Zeit, als die Götterwesen noch im ewigen Eis über den Tälern lebten. Nur einige der Alten kennen noch diese Worte. Sie sagen, die Worte der Götter erzählen vom Anbeginn der Zeit, von der Geburt der Götterwesen und der Menschenwesen des Volkes. Die Worte sagen dem Volk, wie es leben soll, was Recht ist und was Unrecht, und sie erzählen von euch, Ba - shtie...«
»Von mir..?« Sebastian blickte ihr entgeistert in die Augen. »Wieso erzählen die Worte von mir? Wie meinst du denn das?« Antarona sah beschämt auf den Boden und Sebastian ahnte, dass er ein Thema angeschnitten hatte, das ihr Überwindung bereitete, darüber zu sprechen.
»Die Prophezeihung, Ba - shtie.., die Prophezeihung steht in den Worten Talris geschrieben.., Antarona kennt sie, mein Vater hat mir oft davon erzählt, wenn ich traurig war und die Stimme meiner Mutter in meinem Kopf hörte...« Sie sprach nicht weiter. Sebastian wurde ungeduldig, ahnte aber schon, was kommen würde.
»Was ist mit dieser Prophezeihung, Antarona...«, bohrte er weiter, »...Was erzählt die Geschichte über mich.., sag’ es mir.., bitte!« Plötzlich sah sie ihm fest in die Augen und deutete gleichzeitig auf die goldenen Schrifttafeln.
»Diese Worte sprechen von euch, Ba - shtie - laug - nids.., sie erzählen davon, dass ihr zu den Menschenwesen kommen werdet, um das Volk von dem Bösen.., von Karek und Torbuk zu befreien! Sonnenherz kann die Worte nicht deuten, aber sie weiß, dass sie so dort stehen, und davon berichten.., von euch.., Ba - shtie...«
»Was genau sagen die Worte der Götter über mich...«, unterbrach er sie. Sebastian platzte beinahe vor Neugier.
»Sie sagen...«, versuchte sich Antarona an den richtigen Wortlaut zu erinnern, »...dass ihr vor den Toren Quaronas stehen werdet und vor Falméra und Zarollon. Ihr werdet...«
»...das Schwert Tálinos ergreifen...«, setzte Sebastian ihren Satz fort, ...»das Schwert der Götter und der Könige, und mit der leuchtenden Klinge die Prophezeihung erfüllen...« Sie war überrascht, als er ihr die Worte voraussagte, die sie kannte, aber nicht lesen konnte:
»...und ich werde die Tränen der Götter unter das Volk säen und die Armut und Angst vertreiben... Ich werde den Achterrat führen und die Windreiter um mich sammeln und das Böse vernichten! Ich werde mit der Macht der drei Türme und der Macht der Götter das Leid besiegen und Frieden und Wohlstand über das Land bringen...« Antarona erstarrte und sah ihn entsetzt an. Sebastian jedoch redete unbeirrt weiter, als wiederholte er eine uralte Weisheit:
»...ich werde großes Leid erfahren und der Schmerz in meinem Herzen wird mir zeigen, dass ich es bin, der das Volk befreien kann. Ich werde das Schwert Tálinos führen und das Volk Volossodas wird mir folgen, wie auch die Windreiter mir folgen werden, weil sie die Zeichen der Götter und der Könige an mir erkennen werden! Torbuk und Karek werden ihre wilden Horden um sich scharen, weil sie mich fürchten und sie werden ihre Krieger gegen mich aussenden, doch sie werden mich nicht bezwingen...« Stille legte sich auf die beiden Geschöpfe vor den goldenen Tafeln in den Hallen von Talris. Eine angespannte, lastende Stille.
»Ihr wisst das alles, Ba - shtie..?«, fragte Antarona verblüfft. »Ihr seid der, auf den das Volk wartet, nicht wahr?« Sie sah ihm erwartungsvoll in die Augen, veränderte dann aber misstrauisch ihren Blick. »Woher wisst ihr von den Windreitern? Kein Mensch des Volkes weiß von ihnen! Nur mein Vater, der Achterrat und Sonnenherz kennen die Reiter, die so schnell wie der Wind sind und dem Volk helfen und die Menschenwesen in den Tälern Val Mentiérs schützen, wo sie erscheinen! Ihr könnt die Zeichen aus der alten Zeit deuten, Ba - shtie, nicht wahr?«
»Nein.., kann ich nicht...«, klärte Sebastian sie auf, »...aber Väterchen Balmer sprach bereits davon... Er erzählte mir von der Prophezeihung.., und von dem, der das Volk befreien soll. Mir ist nun einiges klar geworden...« Sebastian seufzte, holte tief Luft und ließ seinen Gedanken freien Lauf. »...Aber ich kann nicht sagen, dass mir das alles gefällt... Es ist ganz klar, dass du mich verwechselst, aber was soll ich machen? Ich liebe dich nun mal! Und wenn das die einzige Möglichkeit ist, bei dir zu sein und dich zu beschützen.., ja, mein Engelchen.., dann bin ich der, auf den das Volk wartet!«
Antarona steckte ihre Fackel in einen Haufen größerer Steine und schlang ihre Arme um einen verdutzten Sebastian Lauknitz. Sie zog sich so fest an ihn, als wollte sie ihn schlicht erwürgen. Sebastian sog verwirrt den Duft ihres Körpers ein und umfasste sie mit rasendem Herzen. Das Krähenmädchen vergrub ihr Gesicht in seinen Armen. Sie sah sich einmal mehr in ihrem Glauben bestätigt, den Befreier aus der heiligen Prophezeihung gefunden zu haben.
Außerdem fühlte sie sich zu Basti hingezogen. Wenn er in ihre Nähe kam, spürte sie ein seltsames Krabbeln in ihrem Bauch, wie von vielen, kleinen Fischen. Wenn er sie berührte, schlug ihr Herz so schnell, wie das schnellste Pferd und alles in ihr zog sich seltsam zusammen... Aber sie hatte Angst.
War er der Mann, dessen Herz sich mit ihrem verbinden konnte? War dieser Mann von den Göttern der eine, den sie immer an ihrer Seite wollte? Sie hatte die Alten und ihre Freundinnen von dem Gefühl erzählen hören, wenn sich zwei Herzen auf ewig verbinden... Fühlte sie wirklich so.., oder glaubte sie es nur?
Was, wenn sie ein kleines Herz unter dem ihren trug? Konnte sie dann noch gegen Torbuk und Karek kämpfen? Die Frauen des Volkes wurden langsam und schwer, wenn ein kleines Herz in ihnen wuchs. Antarona wusste, wie leicht es war, ein kleines Herz unter ihrem auszulöschen. Aber durfte sie das tun, wenn es aus der Verbindung zweier Herzen kam? Würden die Götter sie dann nicht bestrafen, würde der, den die Götter gesandt hatten, sie dann dafür verachten, oder gar verstoßen?
Würde sie überhaupt noch gegen die wilden Horden kämpfen müssen, wenn nun der Befreier in die Täler gekommen war? Durfte sie dann nicht, wie alle Frauen des Volkes ihr Gewand der Unbekleideten ablegen? Aber es war doch ihr Kampf! Sie hatte sich gewehrt, als die Männer in den Tälern nichts taten und alles Böse erduldeten! Sollte sie das Gewonnene aus all ihren Mühen und Opfern nun dem überlassen, der aus dem Reich der Toten, aus dem Reich der Götter kam und nichts wusste über das Volk und vom Land und von diesem Kampf? Hatte er ihr nicht gerade erst gesagt, es ist ein Krieg, der ihn nichts anging?
Antarona war verwirrt und verstand sich selbst nicht mehr. Sie warf sich dem an den Hals, der vielleicht ihr Volk nicht retten konnte, weil er schwach und unwissend war! Was tat sie da? Sie durfte sich ihm nicht vollständig mit ihren Gefühlen ausliefern und sich ihm bedingungslos hingeben... Noch nicht!
Ohne Vorwarnung befreite sie sich aus Sebastians Armen, der wieder einmal gehofft hatte, ihr endlich näher zu kommen. Er war wie vor den Kopf gestoßen:
»Was ist mir dir, Antarona.., was hast du...?« Antarona wand sich aus seinem Griff, nahm ihre Fackel auf und beleuchtete die goldene Wand. Anscheinend wollte sie versuchen, die uralten Schriftzeichen zu entschlüsseln.
»Es ist nichts, Ba - shtie... Wolltet ihr nicht die Zeichen sehen, ob sie etwas von den vier Schwertern der Götter erzählen..?«
Sebastian war perplex. Eben noch schmiegte sie sich an ihn, wie eine verschmuste, liebesbedürftige Katze und im nächsten Augenblick suchte sie etwas, um seinen Armen wieder entfliehen zu können. Was war mit ihr? Machte er etwas falsch? Zeigte er nicht deutlich genug seine Liebe? Er verstand es nicht...
»...Frauen...«, murmelte er wütend in sich hinein, »...versteh’ die einer wer will.., immer das gleiche Affentheater mit denen!« Antarona indes tat, als hörte sie ihn nicht. Sie wanderte mit plötzlich erwachtem Interesse am scheinbar größten Schatz der Menschheit entlang und betrachtete hoch konzentriert eine Inschrift, die sie wissentlich gar nicht lesen konnte.
Basti nahm die Gelegenheit wahr, zog sein Tagebuch hervor und begann, die Zeichen abzumalen. Dabei war es ihm egal, dass er wahllos in der Mitte der Inschriften begann. Er wollte dieses Vermächtnis auf Papier bannen und mitnehmen. Möglicherweise traf er ja doch jemanden, der imstande war, diese Schrift zu entziffern.
Sehr schnell ging ihm auf, dass es ein hoffnungsloses Unterfangen war, die aneinander gereihten Aufzeichnungen festzuhalten. Ein Symbol an das andere malte er in sein Buch, versuchte so viel davon mitzunehmen, wie er konnte und musste sich dennoch eingestehen, dass es unmöglich war. Diese Tafeln von Talris waren einfach viel zu umfangreich!
Nachdem Sebastian eine halbe Stunde lang intensiv Zeichen und Symbole in sein Tagebuch übertragen hatte, war er dieser Arbeit überdrüssig. Nein halt.., das war es nicht! Er hätte gern alle Tafeln zu Papier gebracht. Er wollte eigentlich nur das gegenseitige Anschweigen beenden, das plötzlich zwischen ihm und dem Krähenmädchen hing, das ihn belastete und das er nicht verstand.
Mit geräuschvoller Wucht ließ er sein Tagebuch zuklappen und machte damit seinem Ärger Luft. Wummernd trug das Echo den Knall durch die schweigenden Hallen. Daran hatte er nicht mehr gedacht! Viel zu sehr beschäftigte ihn das zickige Verhalten Antaronas. Warum machte sie ihm ständig Hoffnung, um ihn dann plötzlich wieder vor den Kopf zu stoßen...?
»Was habt ihr da getan.., wieso weckt ihr die Geister der Götterwesen..?« Antarona kam wie eine wild gewordene Furie angeschnaubt. »Seid ihr so töricht zu glauben, die Geister lassen euch in Frieden ziehen, wenn ihr die Ruhe der Hallen von Talris stört? Glaubt ihr, eure Aufgabe schützt euch vor den Dämonen des Feuers? Ihr seid dumm, Ba - shtie - laug - nids.., mein Herz wird dem euren nie verbunden sein, wenn ihr so ohne Sinn handelt... Denn ihr werdet uns beide vorher töten!«
»Ach, verdammt.., nun hör aber auf, hier ist doch niemand...«, gab Sebastian ärgerlich zurück, »...genauso wenig wie in deiner Höhle und am Strand in der Sonne, als wir...« Der Rest seiner Worte blieb ihm im Hals stecken...
Ein weit entferntes, gedämpftes Rumpeln drang aus den Tiefen des Berges. Kurz und leise nur, aber es ließ den Boden für einen Moment leicht erzittern, wie ein Erdbeben. Dann wieder Stille. Antarona und Sebastian standen sich gegenüber und regten sich nicht. Angestrengt versuchten ihre Ohren die tonlose Dunkelheit zu durchdringen. Nichts. Der Berg blieb ruhig. Fast konnten sie den Fels wachsen hören.
»Die Geister der Götterwesen haben die Feuerdämonen gerufen...«, hauchte Antarona mit weit aufgerissenen, angstvollen Augen. »Jetzt werden sie nach uns greifen.., sie werden uns verbrennen...«
Antarona sah plötzlich ihr Leben, ihre Hoffnungen und Ziele in Sekundenschnelle an sich vorüberziehen. Sie wusste, dass ihr Weg hier zu Ende war. Sie hatte die heiligen Hallen von Talris entweiht und würde nun dafür sterben müssen! Sie nahm den Willen der Götter dankbar hin und erwartete bewegungslos ihr Standgericht.
Sie zitterte. Eine tiefe Angst kroch in ihr hoch. Was würden die Dämonen mit ihr tun? Würde sie den Schmerz ertragen können, wenn ihr die Haut verbrannt wurde.., wenn ihre glatte Haut, auf die sie so stolz war, Blasen bildete und unter der Hitze aufplatzte..? Was war mit ihrem Vater.., würde sie ihre Mutter wiedersehen, oder in den schwarzen Tiefen des Berges für alle Zeiten verschwinden...? Die Dämonen schrieen sie an, rissen sie hin und her und brüllten so laut auf sie ein, dass sie sich die Hände auf die Ohren legte. Sie wollte nichts mehr hören.., die Dämonen sollten sie einfach nur bestrafen, sie töten, ohne sie zu quälen, es war ihr Schicksal, sie wollte einfach nur in Frieden sterben! Doch die erweckten Dämonen ließen nicht von ihr ab, schüttelten sie brutal an den Schultern und riefen immer wieder ihren Namen.., immer wieder und wieder...
Sebastian war verzweifelt. Er konnte mit dem Rumoren aus der tiefen, schwarzen Gruft des Berges nichts anfangen. Ein Erdbeben, das war sein erster Gedanke! Sie mussten schleunigst aus diesen Höhlen heraus, bevor eine noch stärkere Erschütterung diese Gegend traf und das ganze Gold mit zig tausend Tonnen Felsgestein über ihnen zusammenbrach und sie begrub. Doch Antarona rührte sich nicht mehr, stand nur wie versteinert da und murmelte irgend ein unverständliches Zeug. So sehr Sebastian auch auf sie einredete, sie reagierte nicht. Sie nahm ihre Hände, hielt sich die Ohren zu und sah ihn nur wie hypnotisiert mit geweiteten Augen an.
»Antarona..! Wach auf.., komm zu dir.., wir müssen hier raus, bevor der ganze Berg zusammenfällt!« Basti packte ihre Schultern und schüttelte sie so kräftig, dass ihr Kopf hin und her flog und ihr die Haare wirr über das Gesicht hingen. Er schrie sie an und seine Stimme wanderte zwischen den mächtigen Säulen entlang bis in den letzten Winkel der Hallen. Es war Sebastian egal. Er musste Antarona in die Realität zurückholen! Sie kannte den Weg aus dieser Finsternis!
Da! Wieder dieses Geräusch! Lauter, als das erste Mal drang das tiefe Grollen aus unergründlichen Tiefen hervor. Die Erde erzitterte und von oben vielen kleine Steinchen herb, begleitet von rieselnden Staubfahnen. Plötzlich hörte Sebastian ein unheimliches Kreischen, als würde ein riesiges Tor aufgestoßen, das in völlig verrosteten Angeln hing. Der gespenstische Laut drang ihm durch Mark und Bein. Jetzt wurde es aber höchste Zeit!
»Antarona.., Sonnenherz..! Was ist mit dir..? Rede mit mir, verdammt noch mal.., wir müssen hier so schnell wie möglich weg..! Hörst du mich? Irgend etwas wird uns hier gleich ganz gewaltig in den Hintern treten.., verstehst du mich..?« So sehr Sebastian sich auch bemühte, das Krähenmädchen war wie in Trance versunken und machte gar keine Anstalten, sich von der Stelle zu bewegen.
Wieder regte sich der Berg. Ein dumpfer Donnerschlag erfüllte die Hallen mit seinem Echo, die Erde bebte und ließ erneut kleine Steinchen und Staub von der unsichtbaren Decke regnen. Basti musste jetzt schnell handeln. Gehetzt warf er sich seinen Rucksack über, griff sich die zwei Fackeln und schnappte mit der anderen Hand Antaronas Handgelenk...
Noch ein Donnerschlag.., diesmal etwas klarer und lauter. Der Boden zitterte, als stampfte ein gigantischer Elefant mit seinem Fuß auf. Sebastian riss Antarona einfach mit sich. Er musste augenblicklich aus diesem Verlies heraus und er würde Antarona unter gar keinen Umständen in der Dunkelheit ihrem Schicksal überlassen. Er war ihr Schicksal! Entweder kamen sie beide heil hier heraus, oder sie fanden gemeinsam den Tod! Aber Sebastian Lauknitz war noch nicht bereit zum Sterben!
Wieder dieses dumpfe Krachen, lauter und näher! Sebastian zog seine Gefährtin mit aller Gewalt hinter sich her, zwischen die Säulen und suchte verzweifelt nach ihren weißen Handabdrücken. Er musste sie finden, sie waren der einzige Weg aus dieser schwarzen Hölle! Antarona torkelte ihm her wie eine völlig Betrunkene.
Sie knickte in die Knie, fiel hin, ihr Schwert und ihr Fellbündel rutschten ihr vom Rücken. Sebastian achtete nicht mehr darauf, er riss die zierliche Frau einfach hoch und schleifte sie weiter mit sich. Antaronas Waffen hingen an noch irgendwie an ihrem Körper und ratterten hinterdrein über den Boden.
Sebastian sah sich sporadisch um und glaubte nicht, was er sah... Das Schwert seiner Gefährtin, dass sich scheppernd durch den Dreck zog, schimmerte in einem bläulichen Licht, als glühte es wie in einem Sankt Elmsfeuer. Sein Schein pulsierte, als würde die Waffe atmen. Sebastian erinnerte sich, dieses Schimmern schon einmal gesehen zu haben: Am See, bei Antaronas Höhle! Ihre Kristallkugel.., der Stein der Wahrheit.., er besaß den gleichen Schimmer!
Was ging hier vor.., standen sie mitten auf einem Vulkan, der im Begriff war, auszubrechen? Hatte sich durch ihren Lärm eine in der Tiefe schlummernde Magmatasche geöffnet?
Wieder ein Donnern... Es wurde lauter und kam nun in immer kürzeren Intervallen, als verfolgte es die beiden Flüchtenden. Sebastian warf seiner Krähenfrau wiederholt die Waffen über den Rücken und zog sie gnadenlos weiter. Eine panische Angst saß ihm in den Knochen. Als sie erneut in sich zusammensank, zog er sie rücksichtslos hinter sich her, schleifte sie einfach durch den Staub, nur darauf bedacht, endlich den richtigen Weg in die Freiheit zu finden.
Antarona war nur eine zierliche Gestalt, doch schwerer, als Sebastian sich das vorgestellt hatte. Er musste sie stützen.., vielleicht ging es so... Er griff ihr rasch unter die Arme, hob sie hoch, legte ihren linken Arm über seinem Rucksack um die Schulter und griff nach ihrem Handgelenk. Ihr Schwert schlug heftig gegen seinen anderen Arm. Erstaunlicherweise verletzte es ihn nicht, flammte nur weiter im bläulichen Schein auf und ab.
Sebastian stemmte seine willenlose Geliebte hoch und im gleichen Augenblick entdeckte er ihren Händeabdruck an einer der Säulen. Der Abdruck war, anders als beim Hinweg, mit den Fingerspitzen nach unten angebracht. Der Rückweg. Das musste er sein! Im Stillen dankte er Antarona für ihren Einfallsreichtum. Fieberhaft suchte Basti nach dem nächsten Zeichen, versuchte, die Fackeln höher zu halten, was ihm aber wegen seiner schweren Last nicht gelang.
Dort drüben..! Er entdeckte eine weitere Hand.., und weiter hinten noch eine.., und noch eine... Er schleppte sich und Antarona von Zeichen zu Zeichen, bis er plötzlich vor dem Portal stand, das in den dunklen Gang führte. Mit einem Schwung bugsierte er Antaronas kraftlosen Körper über die Steinschwelle hinauf in den Stollen und hastete blind weiter geradeaus, verfolgt von dem unnachgiebig lauter werdenden Donnern, das nach ihnen zu greifen schien.
Sebastian achtete kaum noch auf Hindernisse am Boden, er stürmte einfach nur vorwärts. Selbst die permanente Steigung des Tunnels nahm er nicht mehr wahr. Er wollte nichts anderes, als unter allen Umständen heraus aus diesem Höllenloch! Einmal stolperte er über einen Stein und sie schlugen der Länge nach hin. Aber das hielt ihn nicht auf. Unter Schmerzen rappelte er sich hoch, schulterte erneut seine Angebetete und rannte weiter.
Unendlich schien sich der Stollen hinzuziehen und Sebastian glaubte schon, auf dem falschen Weg zu sein. Nur die Liebe zu Antarona trieb ihn noch vorwärts, ließ ihn sich weiterschleppen, Meter um Meter, mit dem eisernen Willen, seine Geliebte gegen alles zu verteidigen, das sich ihnen in den Weg stellen sollte. Selbst ihren Göttern oder dem Satan persönlich würde er sie nicht ausliefern. Um keinen Preis!
Wie eine Erlösung erschien plötzlich das ersehnte Portal im Schein der Fackeln. Mit neuem Mut raffte sich Basti noch einmal auf und stolperte hindurch. Doch augenblicklich bremste er seinen Schritt...
Der ganze Raum war angefüllt mit einem bläulichen Schimmer, eben diesem sonderbaren Licht, das auch seit geraumer Zeit von Antaronas Schwert Besitz ergriffen hatte. Irgendeine Art Gas, Rauch, oder Dampf lag in der Luft, schien vor sich hin zu wabern und das Leuchten des blauen Schimmerns aufzusaugen.
Die handbreiten Risse im Fels, die Sebastian auf dem Hinweg aufgefallen waren, glühten von innen heraus und waren wahrscheinlich die Ursache für das intensive Leuchten, in dem die umher liegenden Skelette noch gespenstischer wirkten.
Gerade wollte Sebastian zum letzten Sprint ansetzen um seine Gefährtin und sich in Sicherheit zu bringen, als die Risse plötzlich hell aufgleißten. Im selben Augenblick schossen aus ihnen blendend helle Kugeln hervor und sausten wie Blitze unkontrolliert durch den Raum.
Geistesgegenwärtig warf sich Sebastian der Länge nach hin, versuchte noch, Antaronas nackten Körper im letzten Moment mit seinen Armen vor dem Aufprall zu schützen. Hart schlugen sie auf dem Steinchen übersäten Boden auf. Einer der blauen Kugelblitze zischte durch die Luft, wo sie vor dem Bruchteil einer Sekunde noch gestanden hatten. Gleichzeitig bohrte sich ein höllisches Stechen in Sebastians Rücken. Er ignorierte den Schmerz, umfasste Antaronas Leib, robbte vorwärts und versuchte sie zwischen die Steinquader zu zerren, dem einzigen spärlichen Schutz in diesem Raum.
Mehrere Kugelblitze sausten über sie hinweg und Sebastian spürte ihren sengenden Hauch. Er strampelte wie von Sinnen vorwärts und versuchte dabei, Antaronas Körper zu schützen. Endlich gelangte er zwischen zwei der Altare und drückte seine Gefährtin an die niedrige Steinwand. Dann wälzte er sich davor und hielt Ausschau nach ihren Bündeln und den Waffen. Ein Kugelblitz schlug an der Kante des gegenüberliegenden Grabmals ein und zerstieb in einer Wolke aus tausenden Funken. Ein Geruch von Schwefel und Staub breitete sich aus. Basti duckte sich kurz, dann suchten seine Augen weiter...
Antaronas Schwert lugte unter seinem Rucksack hervor und glühte hell in dem blauen Licht, das den ganzen Raum erfüllte. Unbeholfen tastete Sebastian nach dem Griff und versuchte die scharfe Waffe aufzunehmen, ohne den Schutz des Altars zu verlassen.
Die Klinge des Schwertes geriet dabei für einen Augenblick aus der Deckung. Sofort schlugen zwei Kugelblitze in das Metall ein. Es zischte und knallte trocken, die Klinge gleißte kurz auf und in Sebastians Arm tanzten plötzlich zehntausend Ameisen durcheinander, als hätte er in eine Steckdose gefasst. Rasch zog er das Schwert herunter in die Deckung. Die Metallklinge flammte noch einen Lidschlag lang auf, dann glomm sie ruhig vor sich hin, wie zuvor.
Verzweifelt dachte Lauknitz nach. Wie konnte er Antarona aus diesem Inferno herausbringen, ohne, dass sie von einem dieser Blitze durchlöchert wurden? Welche Wirkung diese Strahlen hatten, konnte er unmissverständlich an den umher liegenden Skeletten und Kadavern erkennen.
Einfach hochspringen, Antarona hochreißen und losstolpern...? Das konnte er vergessen! Diese Lichtblitze waren schneller, als sein Auge sehen konnte. Den Rucksack als Schutzschild benutzen..? Blödsinn! Was imstande war, einen ausgewachsenen Bären zu durchlöchern, hatte wohl kein Problem mit einem Wanderrucksack voller dreckiger Wäsche! Wenn er diese Dinger nur ablenken könnte...
Aber hatte er das nicht längst getan? Als er Antaronas Schwert aus der Deckung gehoben hatte, waren zwei dieser Blitze in die Klinge eingeschlagen, wie in einen Blitzableiter... Oder war das nur Zufall?
Plötzlich spürte er eine Bewegung hinter sich. Sein geliebtes Krähenmädchen rührte sich wieder. Kam sie endlich wieder zur Besinnung? Sebastian drehte sich zu ihr um, erkannte aber sofort, dass sie noch nicht wieder bei sich war. Völlig apathisch lag sie im Schutz seines Körpers. Er musste schnell überlegen und sinnvoll handeln!
Der Blitzableiter! Basti griff nach dem Schwert und hielt es aus der Deckung heraus, so hoch er konnte. Augenblicklich verspürte er zwei oder drei Schläge, die Klinge flammte auf und sein Arm wurde beinahe taub. Kaum vermochte er noch das Schwert zu halten. Rasch zog er es zurück. Jedenfalls schien der Blitzableiter zu funktionieren!
Aber hatte er die Garantie, dass die Blitze bei erhobener Waffe auch wirklich nur dort einschlugen und nicht ihre Körper angriffen? Er musste es ausprobieren! Sebastian dachte kurz nach. Schließlich stemmte er seinen Rucksack aus der Deckung. Prompt kam ein Kugelblitz angefaucht und feuerte ohne Mühe durch die Seitentasche. Ein ausgefranstes, qualmendes Loch blieb zurück. Gleichzeitig hob er das Schwert und erwartungsgemäß konzentrierten sich die Blitze darauf und ließen nun den Rucksack unbehelligt.
Zitternd ließ Sebastian seinen mörderischen Versuch sinken. Sein Arm war so gut wie gefühllos geworden. Er hatte nicht einmal mehr die Kraft, seine Hand zu einer Faust zu ballen. Weitere Versuche konnte er sich damit abschminken. Er musste jetzt alles auf eine Karte setzen!
Schwitzend nahm er all seine letzte Kraft zusammen, wand sich in die Träger seines Rucksacks, hängte sich Antaronas Bündel und Waffen um. Dann schob er Antaronas apathischen Leib vor sich und umfasste ihn mit seinem tauben Arm. Kraft besaß er noch darin, nur das Tastgefühl war völlig verloren. Er musste Antaronas Körper fest in die Zange nehmen, um sie nicht zu verlieren!
Sebastian wusste, dass er nur einen Versuch hatte. Sollte er schwächeln, oder stolpern, oder sich einfach verkalkuliert haben, was die Verhaltensmuster der Blitze anging, so würde er es nicht mehr erfahren! Er sah Antarona an, die wie leblos in seinem Arm lag, lächelte kurz und küsste sie.
»Nun sind wir beide so weit gekommen.., ich werde nicht zulassen, dass das alles umsonst war.., ich werde dich hier herausbringen!«, hörte er sich leise sagen. Dann klemmte er ihren Körper fest in seinen Arm, riss die lohende Klinge des Schwertes hoch, sprang mit einem Ruck auf und stolperte los.., dem Ausgang entgegen. Wie ein Wahnsinniger stieß er einen Schrei aus, der ihm letzte Kraftreserven verlieh:
»Kommt doch her, ihr dreckigen Mistviecher aus dem Bauch der Hölle.., ihr könnt uns gar nichts.., wir lachen über euch..!« Er spürte, wie sein bewaffneter Arm unter den Einschlägen der Kugelblitze zuckte und sehr schnell an Kraft verlor. Sebastian biss mit aller Macht die Zähne zusammen, behielt das Schwert fest im Griff und trotzte den lähmenden Attacken. Er brüllte vor Verzweiflung und schleppte Antarona mit einer nie gekannten Verbissenheit an den Grabmalen vorbei, über knirschende Gebeine hinweg bis zum Ausgang des Raumes.
Benommen vor Anstrengung wuchtete er ihren gebrechlichen, geschundenen Körper durch das Portal und fiel auf der anderen Seite auf seine zitternde Knie. Aus Angst, die Blitze könnten ihnen folgen, raffte er sich noch einmal ächzend auf, erhob sich schwankend und trug seine große Liebe mitsamt ihrer Habe und den Waffen auf unsicheren Füßen von einer Kammer zur nächsten, bis er einen frischen Wind auf seinem Gesicht spürte. Er atmete tief durch und fühlte instinktiv, dass sie endlich in Sicherheit waren. In diesem Moment schwanden ihm die Sinne...
  Wichtiger Hinweis: Die Texte des Autors Frank Adlung, insbesondere die des Romans "Das Geheimnis von Val Mentiér", sind durch notarielle Hinterlegung urheberrechtlich geschützt. Ein Herunterladen und Ausdrucken ist nur für den privaten Zweck des Lesens gestattet. Kommerzielle Nutzung, öffentlicher Vortrag, oder Vervielfältigung und Verfälschung des Inhalts, sowie öffentliche Verbreitung ohne Genehmigung des Autors sind untersagt und werden zur Anzeige gebracht.
   
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14. Kapitel     Missverständnisse     Kapitel anzeigen
15. Kapitel     Das Werk der Götter     Kapitel anzeigen
16. Kapitel     Der Holzer     Kapitel anzeigen
17. Kapitel     Der Achterrat     Kapitel anzeigen
18. Kapitel     Das Vermächtnis des Unbekannten     Kapitel anzeigen
19. Kapitel     Der Verrat     Kapitel anzeigen
20. Kapitel     Der Weg nach Falméra     Kapitel anzeigen
21. Kapitel     Jäger des Glücks     Kapitel anzeigen
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24. Kapitel     Verbotene Liebe     Kapitel anzeigen
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